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Schriftenreihe der Hochschule Speyer Band 167
Gemeinwohlgefährdung und Gemeinwohlsicherung Vorträge und Diskussionsbeiträge auf der 71. Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung vom 12. bis 14. März 2003 an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer
Herausgegeben von
Hans Herbert von Arnim und Karl-Peter Sommermann
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Gemeinwohlgefährdung und Gemeinwohlsicherung
Schriftenreihe der Hochschule Speyer Band 167
Gemeinwohlgefährdung und Gemeinwohlsicherung Vorträge und Diskussionsbeiträge auf der 71. Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung vom 12. bis 14. März 2003 an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer
Herausgegeben von
Hans Herbert von Arnim und Karl-Peter Sommermann
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2004 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0561-6271 ISBN 3-428-11567-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Die Gemeinwohlproblematik gewinnt in jüngster Zeit wieder große Aktualität in Politik, Verwaltung, Wissenschaft und Publizistik. Der Reformstau, die Macht der Verbände und anderer „intermediärer Kräfte“, die drohende Verselbstständigung der „politischen Klasse“, Skandale und Fragen des politischen Systems, die Europäisierung und Globalisierung stellen das ewig junge Thema in neue aktuelle Zusammenhänge. Die Anreicherung der herkömmlichen institutionellen Strukturen durch Beauftragte, Regulierungsbehörden, Agenturen und sonstige Gremien führt zu immer stärkerer Ausdifferenzierung der öffentlichen Gemeinwohlsorge, begründet aber auch eine Fragmentierung des Gemeinwohls und eine Diffusion der Verantwortung. Die zunehmende Einbeziehung Privater in die Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben soll den Staat entlasten, seine Effizienz steigern und die Bürgergesellschaft stärken, sie wirft aber auch neue Legitimationsprobleme auf, namentlich wenn sachverständige oder korporatistische Gremien maßgeblichen Einfluss auf die Gemeinwohlkonkretisierung gewinnen. Zugleich macht die Verlagerung von Zuständigkeiten auf die europäische oder globale Ebene es den nationalen Parlamenten und Regierungen immer schwerer, ihrer Verantwortung noch gerecht zu werden. Daher müssen neue Verfahren und Formen der Gemeinwohlkoordinierung entwickelt werden, die zugleich der demokratisch-rechtsstaatlichen Forderung einer klaren Verantwortungszurechnung genügen. Der vorliegende Band ist zentralen Fragen der aktuellen Gemeinwohldiskussion gewidmet. In ihm sind die Beiträge zur 71. Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer versammelt, die in der Zeit vom 12. bis 14. März 2003 unter der wissenschaftlichen Leitung der Herausgeber stattfand. Die Tagung führte die Erkenntnisse und Methoden verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen und die Beobachtungen von Praktikern aus Justiz, Verwaltung und Gesellschaft zu einer interdisziplinären und praxisbezogenen Betrachtung und Bewertung zusammen. Dabei konnte an die Debatte angeknüpft werden, die die Speyerer Hochschule im Jahre 1968 mit der 36. Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung über „Wohl der Allgemeinheit und öffentliche Interessen“ (siehe Band 39 dieser Schriftenreihe) eröffnet hatte. Die Herausgeber danken allen, die zum Gelingen der Tagung und zum Erscheinen dieses Bandes beigetragen haben. Die redaktionelle Betreuung
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Vorwort
lag in den Händen von Frau Assessorin Marion Weschka, Mag. rer. publ., und Herrn Assessor Stefan Kleb, Mag. rer. publ. Beiden gebührt ebenso wie Frau Gabriele Dennhardt und Frau Christa Betz Dank für maßgebliche Unterstützung auch bei der logistischen Vorbereitung der Tagung. Speyer, im November 2003
Hans Herbert von Arnim Karl-Peter Sommermann
Inhaltsverzeichnis Rudolf Fisch Begrüßung und Eröffnung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Karl-Peter Sommermann Einführung in die 71. Staatswissenschaftliche Fortbildungstagung. . . . . . . . . . . . 13 Roman Herzog Pluralistische Gesellschaft und staatliche Gemeinwohlsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Bericht über die Diskussion zum Vortrag von Roman Herzog Von Marion Weschka . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33
Renaissance des Gemeinwohls Stefan Fisch Der Wandel des Gemeinwohlverständnisses in der Geschichte. . . . . . . . . . . . . . . 43 Bericht über die Diskussion zum Vortrag von Stefan Fisch Von Monika John-Koch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Hans Herbert von Arnim Gemeinwohl im modernen Verfassungsstaat am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Bericht über die Diskussion zum Vortrag von Hans Herbert von Arnim Von Stefan Kleb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89
Institutionelle Voraussetzungen der Gemeinwohlverwirklichung Josef Isensee Konkretisierung des Gemeinwohls in der freiheitlichen Demokratie . . . . . . . . . . 95 Bericht über die Diskussion zum Vortrag von Josef Isensee Von Alexandra Unkelbach. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Peter Graf Kielmansegg Gemeinwohl durch politischen Wettbewerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Bericht über die Diskussion zum Vortrag von Peter Graf Kielmansegg Von Stefanie Ritter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135
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Inhaltsverzeichnis
Gregor Thüsing Tarifautonomie und Gemeinwohl. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Bericht über die Diskussion zum Vortrag von Gregor Thüsing Von Burkhard Margies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159
Gemeinwohlverwirklichung im Mehrebenensystem Gerhard Lehmbruch Gemeinwohl und kooperativer Föderalismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Bericht über die Diskussion zum Vortrag von Gerhard Lehmbruch Von Martin Schurig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Karl-Peter Sommermann Nationales und europäisches Gemeinwohl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Bericht über die Diskussion zum Vortrag von Karl-Peter Sommermann Von Petra Kempf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Hans-Georg Wehling Spielräume kommunaler Gemeinwohlsorge. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Bericht über die Diskussion zum Vortrag von Hans-Georg Wehling Von Stefanie Gille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239
Neue Wege der Gemeinwohlverwirklichung Charles B. Blankart Gemeinwohl durch direkte und repräsentative Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Bericht über die Diskussion zum Vortrag von Charles B. Blankart Von Mike Weber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Gunnar Folke Schuppert Möglichkeiten und Grenzen der Privatisierung von Gemeinwohlvorsorge . . . . 269 Bericht über die Diskussion zum Vortrag von Gunnar Folke Schuppert Von Annette Schorr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Podiumsdiskussion: Gemeinwohlgefährdung und Gemeinwohlsicherung vor den Herausforderungen der Globalisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Verzeichnis der Autoren, Diskussionsleiter und Diskussionsberichterstatter . . . . . 333
Begrüßung und Eröffnung1 Von Rudolf Fisch Sehr geehrter Herr Bundespräsident, sehr geehrte Damen und Herren, liebe Gäste: Ich heiße Sie an der DHV Speyer sehr herzlich willkommen. Es ist uns eine besondere Ehre und Freude, Bundespräsident Herzog unter uns zu wissen, den ich hier an seiner Hochschule auch als geachteten Kollegen, langjährigen Lehrer und verdienten Amtsvorgänger als Rektor ganz herzlich begrüße. Bereits vor 35 Jahren, also im Jahr 1968, hat sich die Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer in ihrer damals vielbeachteten 36. Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung mit dem Wohl der Allgemeinheit und dem öffentlichem Interesse auseinandergesetzt. Schon damals war sie als Aus- und Weiterbildungsstätte von Führungskräften in der Beamtenschaft der ideale Platz für eine Veranstaltung zu diesem Thema. Denn wo sonst als an der „Brutstätte“ künftiger Diener und Wächter des Gemeinwohls sollte über dessen Perspektiven diskutiert werden? Dies gilt um so mehr, als der Begriff des Gemeinwohls wohl nur durch eine interdisziplinäre Zugangsweise erfasst werden kann. Dies bedeutet, dass hierzu Methoden der Politikwissenschaft und Historie, der Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften sowie der Philosophie verschränkt werden müssen. Alle genannten Disziplinen beschäftigen sich mit dem Gemeinwohl. Sie alle bilden in ihrer interdisziplinären Verschränkung das wissenschaftliche Grundgerüst unserer Hochschule. Und gerade darin liegt auch ihre besondere Stärke. Seit ihrer Gründung legt sie großen Wert auf diese Arbeitsmethodik, und genau das ist es, was mich hoffen lässt, dass die kommenden Tage für uns alle besonders fruchtbar werden, auch wissenschaftlich. An dieser Stelle wird nun, 35 Jahre nach der damaligen Tagung, erneut die Gemeinwohlproblematik, die wir alle ohnehin täglich im Auge behalten, wieder einmal wissenschaftlich aufgegriffen. Denn ein Blick in die Feuilletons und Akademien zeigt: Das Thema hat gerade wieder Konjunktur. Gemeinwohl gewinnt wieder größere Bedeutung in unserer Gesell1
trag.
Ich danke Herrn Dr. Klauspeter Strohm für seine Mitwirkung an diesem Bei-
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Rudolf Fisch
schaft. Dies umso mehr, als es heute in völlig neuen Zusammenhängen wie zum Beispiel der Europäisierung oder der Globalisierung steht. Dies zeigt aber auch, dass das allgemeine Verständnis von Gemeinwohl in der Dynamik der modernen Welt einem fortlaufenden Modernisierungsprozess zu unterwerfen ist. Das werden die nächsten Tage noch deutlich zeigen. Die Frage nach dem „modernen“ Gemeinwohl ist die Frage danach, was „moderne, plurale, tendenziell fragmentierte Gesellschaften zusammenhält“, schreibt Jürgen Kocka in der Anthologie „Gemeinwohl – Auf der Suche nach Substanz“2. Dabei scheint eine inhaltlich allgemeingültige Definition des Begriffs schwierig, wie sich an dem Versuch erkennen lässt, Gemeinwohl lexikalisch zu umschreiben. Ich zitiere den Großen Brockhaus: „Begriff der Staats- und Sozialphilosophie“, bezeichnet die Gesamtinteressen in einem Gemeinwesen, wobei problematisch ist, wie diese jeweils inhaltlich zu bestimmen sind. „Darüber hinaus ist Gemeinwohl ein unbestimmter Rechtsbegriff, dessen Bedeutung für den konkreten Anwendungsbereich (Rechtsfall) die Gesetzgebung und die Rechtsprechung ermitteln und festlegen.“3 Vielleicht ist die Unbestimmtheit ein wesentliches Merkmal des Begriffs Gemeinwohls. Daher muss eine Bedeutung stets aufs neue aushandelbar und definierbar sein. Gerade in einer pluralistischen Gesellschaft gibt es wohl kein einheitliches Verständnis von Gemeinwohl. Vielmehr existieren unter Umständen viele Vorstellungen von Gemeinwohlbelangen nebeneinander und konkurrieren miteinander. Diese Belange auszumachen und dann mit dazu geeigneten Verfahren zu bewerten, ist ein nur schwer zu befolgendes Gebot der Vernunft. Bewertung setzt Messbarkeit voraus. Und da liegt in unserer spätestens seit Hobbes gerne empirisch argumentierenden Gesellschaft das Problem. Die Bewertung von Gemeinwohl kann zum Beispiel auch nicht über die bewährten Marktmechanismen erfolgen. Denn eine Preis-Nachfrage-Regelung ist nicht gegeben, wenn Gemeinwohl kein individuell zugeteilter Nutzen, sondern ein öffentliches Gut ist. Es fällt schwer, eine geeignete Messlatte zu finden. So erzeugen wir oft Gemeinwohl mit zu hohen Kosten. Ein Schlagwort aus der öffentlichen Diskussion ist hier die „Ineffizienz der öffentlichen Leistungen“. Oder wir vernachlässigen das Gemeinwohl, etwa durch massive Sparzwänge, manches Mal mit fatalen Folgen. 2 Jürgen Kocka, Vorwort, in: Gunnar Folke Schuppert/Friedhelm Neidhardt (Hrsg.), Gemeinwohl – Auf der Suche nach Substanz, WZB-Jahrbuch, Berlin 2002, S. 9, 10. 3 Brockhaus. Die Enzyklopädie in vierundzwanzig Bänden, Band VIII, 20. Aufl., Leipzig, Mannheim 2001.
Begrüßung und Eröffnung
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Beide Extreme – zu hohe Kosten und Sparzwänge – existieren oft nebeneinander. Beide bedrohen die Zukunft der Gesellschaft durch zu viel Bürokratie oder durch zu wenig Investition in Zukunft. Gute Politik wäre demnach ein Balanceakt. Aber leider ist dieser Stein der Weisen besonders in Zeiten rapider und grundlegender Veränderungen bei wirtschaftlicher Krisensituation schwer zu finden. Hinzu kommt dann in unseren Tagen noch ein tief greifender Wertewandel, der den viel beschworenen Ruck durch die Gesellschaft erschwert. Ja, es ist kompliziert geworden. Für Platon genügte es noch, den Göttern Angenehmes zu tun, um das Gemeinwohl ganzer Staaten zu sichern. Machiavelli konnte seinen Gemeinwohlbegriff einer höherrangigen Staatsraison unterordnen und Abbé Sieyes es als Summe individueller Einzelwillen zur Gewährleistung von Sicherheit und Freiheit begreifen. Mit Adam Smiths System der natürlichen Freiheit hielt dann der ökonomisch handelnde Egoismus der Individuen Einzug in den heute noch gängigen Gemeinwohlbegriff im Sinne eines Common Wealth. Alle diese Denker hatten jedoch nicht wie wir mit Problemen wie Klimaschutz, Globalisierung und Entgrenzung zu kämpfen. Hier ergibt sich also ein weites Feld für Diskussionen. Einem Sozialwissenschaftler sei der Hinweis erlaubt, dass auch die Wächter des Gemeinwohls in diesem Zusammenhang Aufmerksamkeit verdienen. Waren dies traditionell die Angehörigen der Exekutiven, der Legislativen und der Judikativen, so wird die Gemeinwohlsorge in der Bürgergesellschaft stärker ausdifferenziert. Verantwortung wird auf neue Verantwortungsträger verteilt und privatisiert. Millenare Legitimationsnormen fallen. Neue Kräfte nehmen Einfluss auf die Gemeinwohlkonkretisierung. Dabei werfen immer wieder Skandale die Frage nach Moral und Ethik dieser Elite auf. Damit wird aber auch das Thema des Umgangs der Gesellschaft mit den Hütern ihres Gemeinwohls berührt. Traditionell wurden diese Wächter honoriert entweder materiell oder durch Sozialprestige. Aber immer schon gab es Utopien, ein Umfeld zu schaffen, in dem der Gemeinsinn des Individuums alleine schon völlig ausreicht, sich idealistisch in das Gemeinwohl einzubringen. Dort würde dann im Sinne des alten Fausts die Spur der Erdentage des Gemeinwohldieners nicht in Äonen untergehen. Und das Wissen um dies höchste Glück wäre dann schon Lohn genug für alle Müh. Jedoch funktionieren, nach allem was wir wissen, der Mensch und seine Gesellschaft wohl anders und jenseits solcher idealistisch geprägten Vorstellungen.
Einführung in die 71. Staatswissenschaftliche Fortbildungstagung Von Karl-Peter Sommermann Herr Bundespräsident, Herr Oberbürgermeister, Magnifizenz, meine sehr geehrten Damen und Herren, zugleich im Namen von Herrn Kollegen Hans Herbert von Arnim darf ich Sie sehr herzlich zur 71. Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer willkommen heißen. Besonders begrüße ich Herrn Bundespräsidenten a. D. Professor Roman Herzog, der am heutigen Nachmittag den Eröffnungsvortrag halten wird. Wir wissen es zu schätzen, sehr verehrter Herr Kollege Herzog, dass Sie trotz Ihrer nach wie vor zahlreichen Verpflichtungen, zu denen seit kurzem auch der Vorsitz in einer Kommission zur Reform der Sozialsysteme gehört, nach Speyer gekommen sind, um uns Ihre Perspektive einer grundlegenden Fragestellung unserer Tagung zu vermitteln. Auch freuen wir uns, dass die Teilnehmer dieser Veranstaltung aus sehr unterschiedlichen Disziplinen und Bereichen von Wissenschaft und Praxis kommen, was anregende Diskussionen verspricht. Ich muss es mir versagen, Anwesende namentlich zu begrüßen, und darf auf die in Ihren Tagungsmappen enthaltene Teilnehmerliste verweisen. Unsere Tagung ist dem Thema „Gemeinwohlgefährdung und Gemeinwohlsicherung“ gewidmet. Die Tatsache, dass heute über dieses Thema nicht nur in der Geschichtswissenschaft, sondern auch von Seiten der Rechts-, Wirtschafts- und Politikwissenschaft sowie der Sozialwissenschaften interdisziplinär diskutiert wird, ist keine Selbstverständlichkeit. Lange schien der Begriff des „Gemeinwohls“ durch naturrechtliche Dogmen und ideologischen Missbrauch zu stark vorbelastet1. Gerade vor dem Hintergrund der jüngeren deutschen Geschichte2 wurde der Gemeinwohlgedanke leicht mit der Durchsetzung kollektivistischer oder totalitärer Positionen 1 Vgl. Hans Herbert von Arnim, Gemeinwohl und Gruppeninteressen. Die Durchsetzungsschwäche allgemeiner Interessen in der pluralistischen Demokratie, Frankfurt a. M. 1977, S. 5 ff. 2 Eingehend dazu Michael Stolleis, Gemeinwohlformeln im nationalsozialistischen Recht, Berlin 1974.
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Karl-Peter Sommermann
und der Marginalisierung individueller Rechte assoziiert. Bis heute werden daher eine Reihe von Gemeinwohlfragen vorzugsweise unter den Stichworten „öffentliches Interesse“ oder auch „öffentliche Interessen“ abgehandelt, wobei mit diesen Begriffen, jedenfalls im Bereich der Rechtswissenschaft, in erster Linie die im positiven Recht radizierte Gemeinwohlkonkretisierung angesprochen wird. Zwei in jüngerer Zeit erschienene Habilitationsschriften3 legen davon Zeugnis ab. Insgesamt lässt sich indes feststellen, dass man mittlerweile zu einem unbefangenen Verhältnis zum Gemeinwohlbegriff zurückgefunden hat und ihn im Sinne des klassischen Verständnisses als nicht hintergehbaren Legitimationsgrund jeder verfassten Gemeinschaft anerkennt. Ohne die Verpflichtung auf gemeinsame Ziele seiner Mitglieder, Ziele, die mehr sind als eine bloße Aggregierung von Partikularinteressen, ist kein Gemeinwesen auf Dauer lebensfähig4. Dass das Gemeinwohl nicht nur kollektivistische Werte, sondern gerade auch die Sicherung der individuellen Freiheit, den Schutz der Menschenrechte zum Ziel haben kann, ist jedenfalls seit den Vordenkern der amerikanischen und der französischen Revolution, in der deutschen Staatstheorie spätestens seit der Eudämonismuskritik von Immanuel Kant5 ein vertrauter Topos. Die Wiederbelebung der Gemeinwohldiskussion bedeutet nicht, dass materielle Gemeinwohlkonzepte heute wieder Konjunktur hätten. Dort, wo man das Gemeinwohl unabhängig vom positiven Recht zu bestimmen sucht, bezieht man sich meist auf bestimmte Werte und Strukturprinzipien, d.h. materielle und prozedurale Elemente des freiheitlichen Verfassungsstaats. Beispielhaft sei insoweit aus jüngerer Zeit auf die Gemeinwohlkonzeption von Winfried Brugger hingewiesen, die er auch in den amerikanischen staatstheoretischen Diskurs eingeführt hat. Im Allgemeinen herrscht weiterhin Skepsis und Zurückhaltung gegenüber rein materiellen Gemein3 Robert Uerpmann, Das öffentliche Interesse. Seine Bedeutung als Tatbestandsmerkmal und als dogmatischer Begriff, Tübingen 1999; Martin Philipp Wyss, Öffentliche Interessen – Interessen der Öffentlichkeit? Das öffentliche Interesse im schweizerischen Staats- und Verwaltungsrecht, Bern 2001. Den Reigen eröffnete die Dissertation von Günter Dürig „Die konstanten Voraussetzungen des Begriffs ‚Öffentliches Interesse‘ “ (München 1949); grundlegend sodann Peter Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, Bad Homburg v.d.H. 1970, der freilich die Begriffe „öffentliches Interesse“ und „Gemeinwohl“ weitgehend synonym gebraucht. 4 Zum Gemeinwohl als „umfassender Integrationsformel“ näher Karl-Peter Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, Tübingen 1997, S. 199 ff., 305 ff. 5 Vgl. Immanuel Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, 1793, Theorie Werkausgabe (hrsg. von W. Weischedel), Bd. 11, S. 125, 154 f.
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wohlkonzepten, und doch wird das Gemeinwohl immer wieder als normativer Begriff, als Maßstab auch des positiven Rechts, als „Vorbild, nicht Abbild des staatlichen Lebens“ (Josef Isensee) verwandt. Das ambivalente Verhältnis zum Gemeinwohl spiegelt sich in dem ironisierenden Titel des von Gunnar Folke Schuppert und Friedhelm Neidhardt herausgegebenen Sammelbandes wider, der im vergangenen Jahr erschienen ist6. Der Titel spricht für sich: „Gemeinwohl – auf der Suche nach Substanz“. Anknüpfend an diese Wortwahl lässt sich jedoch sagen, dass in der Politik- und Rechtswissenschaft nicht die abstrakte Bestimmung der „Substanz“, sondern die „Suche“ im Vordergrund steht, jedenfalls, soweit es um die Generierung letztlich verbindlicher Gemeinwohlziele geht. Ein solches prozedurales Gemeinwohlverständnis versteht den Inhalt des Gemeinwohls als Ergebnis demokratisch-rationaler Meinungsbildungsprozesse und vertraut eher auf die (relative) Richtigkeitsgewähr durch qualifizierte Verfahren. Die Willensbildung des Gemeinwesens muss so organisiert werden, dass sowohl die Festlegung der Gemeinwohlziele, was etwa auf ranghöchster Ebene durch die Verfassunggebung oder Verfassungsänderung geschieht, als auch die Verwirklichung der Gemeinwohlziele bis hin zur Einzelfallregelung einen adäquaten institutionellen und prozeduralen Rahmen finden. Der Rahmen muss so ausgerichtet sein, dass eine Interessenselektivität im Prozess der Gemeinwohlfindung und Gemeinwohlkonkretisierung nach Möglichkeit ausgeschlossen wird. Dies hindert nicht, zur Gemeinwohlverwirklichung selbstregulative Systeme zu schaffen, in denen konfligierende Partikularinteressen nach bestimmten, die Gemeinwohlverträglichkeit sichernden Spielregeln zum Ausgleich gebracht werden. Jedenfalls die Grundaussage, dass der Staat und andere Gemeinwesen ihr Handeln nicht an Partikularinteressen, sondern am Gemeinwohl auszurichten haben, bildet den irreduktiblen Kern der normativen wie heuristischen Dimension des Gemeinwohls. Dass die Gemeinwohlproblematik heute in der wissenschaftlichen und politischen Diskussion wieder eine erstrangige Rolle spielt, ist nicht der zufälligen Konvergenz intellektueller Interessen zuzuschreiben. Ein Blick in die allein im vergangenen Jahr erschienenen Veröffentlichungen ist hier aussagekräftig. Neben dem bereits erwähnten Werk von Schuppert und Neidhardt seien nur die mittlerweile auf vier Bände angewachsenen Forschungsergebnisse der von Herfried Münkler, Harald Bluhm und Karsten Fischer geleiteten interdisziplinären Arbeitsgruppe „Gemeinwohl und Gemeinsinn“7 sowie der von Winfried Brugger, Stefan Kirste und Michael An6 Gunnar Folke Schuppert/Friedhelm Neidhardt (Hrsg.), Gemeinwohl – auf der Suche nach Substanz (= WZB-Jahrbuch 2002), Berlin 2002. 7 Herfried Münkler/Harald Bluhm (Hrsg.), Gemeinwohl und Gemeinsinn, Bd. 1: Historische Semantiken politischer Leitbegriffe, Berlin 2001; Herfried Münkler/ Karsten Fischer (Hrsg.), Gemeinwohl und Gemeinsinn, Bd. 2: Rhetoriken und Per-
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derheiden herausgegebene Band „Gemeinwohl in Deutschland, Europa und der Welt“8 genannt9. In ihnen offenbart sich ein weites Themenspektrum, das einer Vielzahl neuer Herausforderungen an die politischen Gemeinwesen bei der Verwirklichung des – wie es klassisch heißt10 – „guten Lebens“ (bona vita) der in der Gesellschaft vereinigten Bürger Rechnung trägt. Vergleicht man die heutigen Themen mit denen unserer Vorgängertagung, der im Jahr 1968 unter dem Titel „Wohl der Allgemeinheit und öffentliche Interessen“ abgehaltenen 36. Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung11, so werden die neuen Akzente deutlich. Konzentrierte man sich damals vornehmlich auf Fragen des Ausgleichs öffentlicher und privater Interessen in einem vorgegebenen institutionellen Rahmen, so treten heute Gefährdungen des Gemeinwohls durch außerinstitutionelle und institutionelle Veränderungen in den Vordergrund: – Nicht nur im Sinne der Neokorporatismusdebatte wird wieder nach gemeinwohlschädlichem, namentlich reformfeindlichem Einfluss der Verbände und anderer organisierter gesellschaftlicher Kräfte auf den politischen Prozess gefragt. – Kritisch werden die Folgen einer Diversifizierung öffentlicher Akteure der Gemeinwohlsorge betrachtet, wozu neben der Erweiterung der institutionellen Strukturen durch Beauftragte, Regulierungsbehörden und Gremien auch die so genannte Verantwortungsteilung zwischen dem Staat und Privaten bei der öffentlichen Aufgabenerfüllung gehört, Fragen, mit denen sich auch die Staatsrechtslehrervereinigung im Jahr 2002 in St. Gallen schwerpunktmäßig befasst hat12. spektiven, Berlin 2002; Herfried Münkler/Karsten Fischer (Hrsg.), Gemeinwohl und Gemeinsinn, Bd. 3: Gemeinwohl und Gemeinsinn im Recht. Konkretisierung und Realisierung öffentlicher Interessen, Berlin 2002; Herfried Münkler/Harald Bluhm (Hrsg.), Gemeinwohl und Gemeinsinn, Bd. 4: Zwischen Normativität und Faktizität, Berlin 2002. 8 Winfried Brugger/Stephan Kirste/Michael Anderheiden (Hrsg.), Gemeinwohl in Deutschland, Europa und der Welt, Baden-Baden 2002. 9 Von den weiteren Veröffentlichungen aus jüngerer Zeit vgl. etwa Ulrich von Alemann/Rolf G. Heinze/Ulrich Wehrhöfer (Hrsg.), Bürgergesellschaft und Gemeinwohl, Opladen 1999; Heinrich Bußhoff, Gemeinwohl als Wert und Norm. Zur Argumentations- und Kommunikationskultur der Politik, Baden-Baden 2001; Karl-Peter Sommermann (Hrsg.), Gremienwesen und staatliche Gemeinwohlverantwortung, Berlin 2001. 10 Vgl. nur Thomas von Aquin, De regimine principum, Liber I, Cap. 14 u. 15 sowie Liber II, Cap. 3. 11 Wohl der Allgemeinheit und öffentliche Interessen, (= Schriftenreihe der Hochschule Speyer, Bd. 39), Berlin 1968. 12 Vgl. insbesondere die Referate von Markus Heintzen und Andreas Voßkuhle zum Thema „Beteiligung Privater an der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben und staatliche Verantwortung“, in: VVDStRL Bd. 62 (2003), S. 220–265 bzw. S. 266–
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– Ins Blickfeld rücken die Grenzen konsensualen oder kooperativen Staatshandelns, die zu beachten sind, sollen nicht aus Gründen der Konfliktvermeidung gewährte Konzessionen an Partikularinteressen die Gemeinwohlorientierung des Staates als bloße Rhetorik erscheinen lassen. – Erschwert werden Antworten auf diese Fragen durch die Schaffung neuer Ebenen der Gemeinwohlwahrnehmung. Gemeinsame Ziele und Interessen auf europäischer und sogar globaler Ebene treten mit der nationalen und subnationalen Ebene in Wechselwirkung und tragen bei mangelnder Transparenz der Aufgabenteilung zum Verblassen der Konturen des Gemeinwohls und zu einer Verantwortungsdiffusion bei. Vor diesem Hintergrund ist auch die Frage nach dem Gemeinsinn zu bewerten. Der Gemeinsinn ist das subjektive Gegenstück zum Gemeinwohl, d.h. die Erkenntnis, Anerkennung und Förderung der Gemeinwohlziele durch die Bürger13. Ohne Gemeinsinn verliert das Gemeinwohl seine legitimierende Kraft. Die Arbeit am Gemeinwohl, die Schärfung seiner Konturen und der Verantwortlichkeiten, ist daher zumal in Krisenzeiten, wenn Opferbereitschaft gefordert wird und sich die Legitimationsfrage verschärft stellt, unabdingbar. Gemeinsinn kann sich nur entfalten, wenn die Gemeinwohlziele und ihre Zuordnung zu konkreten Gemeinschaften oder Gemeinwesen identifizierbar sind. Diese Erkenntnis liegt nicht zuletzt der seit einigen Jahren auch in Deutschland einflussreichen sozialphilosophischen Strömung des Kommunitarismus zugrunde, die in den achtziger Jahren angesichts sich verschärfender sozialer Probleme von den USA ihren Ausgang nahm14. Der Appell an den Gemeinsinn muss daher mit einer klaren Darlegung der Gemeinwohlziele und der Wege zu ihrer Verwirklichung einhergehen, wenn er Erfolg haben soll. Unter diesem Gesichtspunkt darf man auf die Rede des Bundeskanzlers am 14. März 2003 gespannt sein, in der – wie in der Presse 335. Unter dem Oberthema „Öffentliche Gemeinwohlverantwortung im Wandel“ wurden neben den genannten Referaten auch Vorträge zum Thema „Selbstverwaltung angesichts von Europäisierung und Ökonomisierung“ gehalten, vgl. Janbernd Oebbecke und Martin Burgi, ebd., S. 366–404 bzw. S. 405–456. 13 Aus der Vielzahl von Definitionen des Gemeinsinns vgl. nur Herfried Münkler/Harald Bluhm, Gemeinwohl und Gemeinsinn als politisch-soziale Begriffe, in: dies. (Hrsg.), Gemeinwohl und Gemeinsinn, Bd. 1: Historische Semantiken politischer Leitbegriffe, Berlin 2001, S. 9, 13: „Gemeinsinn kann als eine motivationale Handlungsdisposition von Bürgern und politisch-gesellschaftlichen Akteuren begriffen werden, die eine prinzipiell knappe sozio-moralische Ressource darstellt. Sie bildet die subjektive Seite gemeinwohlorientierten Handelns . . .“. 14 Vgl. nur Amitai Etzioni, The Spirit of Community. Rights, Responsibilities, and the Communitarian Agenda, New York 1993; deutsche Ausgabe: Die Entdeckung des Gemeinwesens. Das Programm des Kommunitarismus, Stuttgart 1995; aus dem deutschen Schrifttum vgl. nur Winfried Brugger, Kommunitarismus als Sozialtheorie und Verfassungstheorie des Grundgesetzes, in: Zeitschrift für Rechtsphilosophie 2002, S. 3–14 m. w. N.
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Karl-Peter Sommermann
verlautete15 – die Reformansätze zu einer Modernisierungspolitik unter dem Begriff des „Gemeinsinns“ gebündelt werden sollen. Heute und an den kommenden beiden Tagen sollen zentrale Fragen der aktuellen Gemeinwohldiskussion Gegenstand der Erörterung sein. Wir freuen uns sehr, dass wir dafür so renommierte Referenten gewinnen konnten. Nach dem Eröffnungsvortrag soll ein erster Themenblock dem Phänomen der zu beobachtenden Renaissance des Gemeinwohls nachgehen. Zunächst wird unser Speyerer Kollege, Herr Professor Stefan Fisch, Inhaber des Lehrstuhls für neuere und neueste Geschichte, insbesondere Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, eine Einordnung der aktuellen Diskussion durch einen Blick auf den Wandel des Gemeinwohlverständnisses in der Geschichte ermöglichen. Sodann wird Herr Kollege von Arnim das Thema im Hinblick auf den modernen Verfassungsstaat ins Auge nehmen. Vielen von ihnen wird bekannt sein, dass er mit seiner Habilitationsschrift „Gemeinwohl und Gruppeninteressen“, die im Jahr 1977 erschienen ist16, als einer der ersten Autoren den nach verbreiteter Ansicht diskreditierten Begriff des Gemeinwohls rehabilitiert und für verschiedene Wissenschaftsdisziplinen wieder anschlussfähig gemacht hat. Der morgige Vormittag ist den institutionellen Voraussetzungen der Gemeinwohlverwirklichung gewidmet. Das Einführungsreferat hält Herr Professor Josef Isensee, einer der profiliertesten Vertreter eines Verfassungsstaatlichen Gemeinwohlkonzepts. Erwähnen möchte ich nur die grundlegende Abhandlung „Gemeinwohl und Staatsaufgaben im Verfassungsstaat“, die in Band 3 des von ihm und Paul Kirchhof herausgegebenen zehnbändigen „Handbuch des Staatsrechts“ erschienen ist. Zum Thema „Gemeinwohl durch politischen Wettbewerb“ wird anschließend Herr Professor Peter Graf Kielmansegg sprechen, der vielen durch seine Veröffentlichungen zur Legitimation politischer Systeme, zur Demokratietheorie, insbesondere dem Parteienstaat und zur vergleichenden Regierungslehre bekannt sein wird. Abgeschlossen wird der Themenkreis „Institutionelle Voraussetzungen“ durch ein Referat aus arbeitsrechtlicher Perspektive von Herrn Professor Gregor Thüsing, Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Arbeits- und Sozialrecht und Rechtsvergleichung an der Bucerius Law School, Hamburg. Am Nachmittag wird die Gemeinwohlverwirklichung im Mehrebenensystem im Mittelpunkt stehen. Zum Thema „Gemeinwohl und kooperativer Föderalismus“ wird Herr Professor Gerhard Lehmbruch sprechen, der einer der herausragenden Politikwissenschaftler auf dem Gebiet der Demokratieund Föderalismusforschung ist. Ich weise nur auf das einflussreiche Werk „Parteienwettbewerb im Bundesstaat“ und das im vergangenen Jahr erschie15 16
Vgl. FAZ Nr. 46 v. 24.2.2003, S. 1. Vgl. den bibliographischen Nachweis in Anm. 1.
Einführung in die 71. Staatswissenschaftliche Fortbildungstagung
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nene Buch „Der unitarische Bundesstaat in Deutschland“ hin. Über „Spielräume kommunaler Gemeinwohlsorge“ wird Professor Hans-Georg Wehling vortragen. Er ist Honorarprofessor für Politikwissenschaft an der Universität Tübingen und war bis vor kurzem Abteilungsleiter der Landeszentrale für Politische Bildung von Baden-Württemberg. Seine mit Hans-Jörg Siewert verfasste empirische Studie zum Bürgermeister in Baden-Württemberg aus dem Jahr 1984 hat maßgeblich zur Verbreitung des Modells der süddeutschen Ratsverfassung mit der Direktwahl des Oberbürgermeisters beigetragen. Die Erörterung neuer Wege der Gemeinwohlverwirklichung ist am Freitagvormittag vorgesehen. Auf den Vortrag von Herrn Professor Charles B. Blankart, Direktor des Instituts für öffentliche Finanzen an der HumboldtUniversität zu Berlin, bin ich deshalb besonders gespannt, da er sich als Finanzwissenschaftler mit Fragen der direkten Demokratie befasst. Seine Schweizer Herkunft wird dafür nicht ohne Bedeutung sein. Ebenfalls von der Humboldt-Universität ist Herr Professor Gunnar Folke Schuppert zu uns gekommen, dessen Arbeiten zum Gemeinwohl ich bereits erwähnte, und der sich in zahlreichen Veröffentlichungen mit der Privatisierung öffentlicher Aufgaben befasst hat, darunter jüngst in einem Gutachten für das Bundesministerium des Innern zum Thema „Public Private Partnerships“. Als Inhaber eines Lehrstuhls für Staats- und Verwaltungswissenschaft zeichnet ihn wie viele Referenten dieser Tagung ein interdisziplinärer Zugang zu den Themen aus. Unsere Tagung wird abgeschlossen durch eine Podiumsdiskussion, in der insbesondere, aber nicht nur, die Herausforderungen an die Gemeinwohlsicherung durch die Globalisierung erörtert werden sollen. Diskutanten werden sein: Herr Professor Winfried Brugger, Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Allgemeine Staatslehre und Rechtsphilosophie an der Universität Heidelberg, der sich, wie erwähnt, in zahlreichen Veröffentlichungen mit der Gemeinwohlproblematik befasst hat, Herr Bundesminister a. D. Dr. Heiner Geißler, der als über Parteigrenzen hinauswirkender konzeptioneller Vordenker der Politik bekannt ist; ferner Frau Professor Marga Pröhl, die sich in der Bertelsmann-Stiftung mit Innovationen in Staat und Verwaltung, zur Zeit im Schwerpunkt mit dem Thema „Demokratie und Bürgergesellschaft“, befasst, sowie schließlich Herr Professor Michael Zürn, der sich durch Veröffentlichungen zu Entgrenzungs- und Globalisierungsphänomenen einen Namen gemacht hat; 1998 erschien sein Buch „Regieren jenseits des Nationalstaates: Globalisierung und Denationalisierung als Chance“. Die Moderation wird bei Herrn Kollegen von Arnim liegen. Neben den Referenten möchte ich schon jetzt den Kollegen danken, die sich bereit erklärt haben, die Diskussion zu den Referaten zu moderieren.
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Heute wird dies Herr Kollege Heinrich Siedentopf sein, Inhaber des Lehrstuhls für Vergleichende Verwaltungswissenschaft und Öffentliches Recht an unserer Hochschule, morgen Vormittag Herr Kollege Winfried Brugger, Universität Heidelberg, morgen Nachmittag Herr Professor Heinrich Amadeus Wolff, Universität München, der sich 1998 in Speyer über „Ungeschriebenes Verfassungsrecht“ in Speyer habilitiert hat, und am Freitag Herr Kollege Klaus König, der bis zum vergangenen Jahr in Speyer den Lehrstuhl für Verwaltungswissenschaft, Regierungslehre und Öffentliches Recht inne hatte. Bevor ich nun Ihnen, sehr verehrter Herr Bundespräsident, das Wort übergebe, erlauben Sie mir noch ein kurzes Wort zu Ihrem Besuch in Speyer. Er ist für Sie zugleich ein Besuch in einer ehemaligen Wirkungsstätte. Von 1969 bis 1972 hatten Sie hier den Lehrstuhl für Staatsrecht und Staatslehre inne und waren in den Jahren 1971 und 1972 Rektor dieser Hochschule. Später, als Vizepräsident und sodann Präsident des Bundesverfassungsgerichts haben Sie in Speyer als Honorarprofessor weiterhin regelmäßig gelehrt. Ihr Kolloquium zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts haben viele Jahrgänge Speyerer Hörer begeistert. In Ihrer frühen Speyerer Zeit vollendeten Sie wohl auch Ihre „Allgemeine Staatslehre“. Als ich diese aus Anlass unserer Tagung wieder zur Hand nahm, stellte ich fest, dass das Thema „Gemeinwohl“ weder in der Gliederung noch im Stichwortverzeichnis auftaucht. Ich glaube nicht, dass dies der Tatsache geschuldet ist, dass damals der Gemeinwohlbegriff von den meisten Autoren jedenfalls als staatstheoretischer Leitbegriff17 gemieden wurde. Sie sind nicht dafür bekannt, den jeweiligen Zeitgeist zum Maßstab Ihrer Position zu machen. Wohl eher erschließt sich die Erklärung aus dem Vorwort Ihrer „Allgemeinen Staatslehre“, in der Sie schreiben: „Wichtig ist nur, dass auch über die bedrängenden Fragen von Staat und Gesellschaft nüchtern nachgedacht wird.“ In diesem Sinne haben Sie sich in Ihrer „Staatslehre“ vorzugsweise den konkreteren Gemeinwohlfragen, wie sie auf der Ebene der Staatsaufgaben und der demokratischen Staatsorganisation erörtert werden, befasst. Ich bin daher sicher, dass Sie auch bei dem Thema „Pluralistische Gesellschaft und staatliche Gemeinwohlsorge“, zu dem wir Sie eingeladen haben, nicht im Bereich der abstrakten Unverbindlichkeit bleiben werden. Wir freuen uns auf Ihren Vortrag. 17 In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts war der Begriff des Gemeinwohls, vorzugsweise in der Verbindung „Gemeinwohlbelange“, von Anfang an sowohl in Anknüpfung an Gemeinwohlklauseln des Grundgesetzes (z. B. Art. 14 Abs. 2 GG) als auch unabhängig davon weiter präsent, vgl. nur Dieter Grimm, Gemeinwohl in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Herfried Münkler/Karsten Fischer (Hrsg.), Gemeinwohl und Gemeinsinn im Recht. Konkretisierung und Realisierung öffentlicher Interessen, Berlin 2002, S. 125–139.
Pluralistische Gesellschaft und staatliche Gemeinwohlsorge Von Roman Herzog Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich muss mit einer Vorbemerkung beginnen, die an Ihre Feststellung, Herr Sommermann, anknüpft, dass damals in der „Staatslehre“ das Wort „Gemeinwohl“ nicht auftauchte. Das werden Sie am Ende meines jetzigen Referats verstehen. Ich weiß einfach nicht, was das ist. Da geht’s mir wie bei den Grundwerten: Das sind Probleme, die ich durch Umschreibungen zu lösen versuche. Es ist überhaupt interessant, dass man in dieser Zeit – es ist bei meinen beiden Vorrednern angeklungen – Vokabeln wieder verwenden darf, die seit Jahrzehnten in einer generellen Ablehnung haben leben müssen. In meiner Jugend durfte man schon das Wort „Staat“ kaum in den Mund nehmen. Man musste, um gelehrt zu erscheinen, „Gesellschaft“ sagen, obwohl das etwas ganz anderes ist. Heute darf man wieder „Staat“ sagen, heute darf man auch wieder das Wort „Nation“ verwenden, ohne dass einem unterstellt wird, man sei einer der ewig Gestrigen. Und jetzt erlauben wir uns also, über Gemeinwohl zu reden. I. Das Thema, das mir gestellt worden ist, habe ich zunächst mit Überzeugung akzeptiert, aber es ist mir bei der Vorbereitung dieses heutigen Vormittags immer mühsamer geworden. „Pluralistische Gesellschaft und staatliche Gemeinwohlsorge“, also nicht Fürsorge, nicht Vorsorge, sondern Gemeinwohlsorge. Und ich weiß nicht, ob sich die beiden Begriffe „pluralistische Gesellschaft“ und „Gemeinwohl“ wirklich auf das gleiche Terrain beziehen oder ob es da nicht doch sich sehr überschneidende Kreise gibt, wobei man dann natürlich sofort nach der Schnittmenge zu fragen beginnt. Die staatliche Gemeinwohlsorge indiziert doch mehr das Äußere im menschlichen Leben, die äußeren Strukturen einer Gesellschaft, vor allen Dingen das Wirtschaftliche, das Ökonomische. Pluralistisch ist unsere Gesellschaft zwar auch, aber nicht primär, weil hier unterschiedliche ökonomische Interessen, Theorien oder Absichten aufeinanderstoßen, sondern deswegen, weil es im Inneren, im Geistigen, im Weltanschaulichen, unter-
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schiedliche Strömungen in unseren modernen Gesellschaften gibt. Der geistige Pluralismus unserer modernen Gesellschaft, jedenfalls der westlichen Gesellschaften, ist eigentlich das, was uns veranlasst, von pluralistischen Gesellschaften zu sprechen, und nicht die Tatsache, dass es auf den Märkten Käufer und Verkäufer, Ärmere und Reichere, Arbeitnehmer und Arbeitgeber gibt. Im Vordergrund steht, dass es ganz unterschiedliche Wirkungsbereiche, Strömungen, Überzeugungen und Lebensformen im geistigen Bereich gibt, im Bereich dessen, was man Weltanschauung und Religion nennt: Wir sind eine pluralistische Gesellschaft, weil bei uns mehrere Religionen existieren. Das wird man angesichts mehrerer Millionen Moslems in einem ursprünglich christlichen Land sagen können. Dies gilt aber selbstverständlich und ursprünglich auch deshalb, weil wir mehrere Konfessionen haben, weil es unterschiedliche Philosophien unter denen gibt, die sich von der Religion und von den christlichen Konfessionen abgewandt haben, weil es sonstige Wertesysteme gibt, die nicht mehr von allen geteilt werden und die infolge dessen im besseren Fall miteinander konkurrieren, im böseren Fall kollidieren. Letzten Endes sind es häufig bloße Lebenshaltungen, die hier aufeinanderstoßen. Deswegen verdient unsere Gesellschaft die Bezeichnung einer pluralistischen Gesellschaft. Wenn in den letzten Jahren das Wort „Spaßgesellschaft“ eine solche Rolle gespielt hat, dann ist das eine vorübergehende Erscheinung, die man gar nicht ernst nehmen soll. Entscheidend ist die Frage, ob unsere Gesellschaft zu individualistisch geworden ist, ob mit anderen Worten Individualismus und Gemeinsinn richtig verteilt sind. Diese Frage hat sich mir auch bei meinen zahlreichen Auslandsreisen aufgedrängt. Man kann sagen, dass die abendländische und die chinesische Philosophie so ungefähr um 500 oder 600 vor Christus weitgehend in dieselbe Richtung gegangen sind. Aber dann trat eine unterschiedliche Entwicklung mit der griechischen Philosophie ein, bis hin zu unseren Denksystemen, die sehr stark individualistisch geprägt sind, während das Kollektive, etwa in den politischen Systemen der Chinesen, eine ganz andere Rolle gespielt hat, auch im Denken der Menschen. Man kann über Freiheit mit diesen Völkern nur auf einer ganz anderen Verständnisebene reden als mit unseren westlichen Völkern, weil sie sich gedanklich so weit auseinander entwickelt haben. Auch das ist ein Pluralismus, der uns im Zusammenhang mit dem Zusammenrücken der Welt noch erheblich beschäftigen wird. In diesem Zusammenhang will ich auch Schwarzafrika kurz erwähnen. Für die Juristen ist es vielleicht am beeindruckendsten, dass die unterschiedliche Sichtweise ganz entscheidend beim Begriff des Eigentums eine Rolle spielt. Wenn ich in Europa „Eigentum“ sage, dann meine ich privates, individuelles Eigentum. Wenn ich in Schwarzafrika das gleiche Wort verwende, dann muss ich hinzusetzen, dass wir das ganz anders sehen als manche hergebrachten Systeme dieser Welt-
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region, in der man, wenn unsere Begrifflichkeit bekannt wäre, von Privateigentum, aber nie von individuellem Eigentum sprechen würde, weil es dort noch sehr viel mehr kollektive Formen des Eigentums gibt. Und so ist es auch in vielen anderen Bereichen. Warum unsere europäischen Gesellschaften pluralistisch geworden sind, lässt sich relativ leicht erklären, gedanklich allerdings sehr viel weniger leicht meistern. Es ist natürlich auf der einen Seite die Gedankenfreiheit, die wir seit mindestens zwei Jahrhunderten genießen. Jeder kann denken und zum großen Teil auch sagen, was er für richtig hält. Und es ist ganz selbstverständlich, dass in dem Augenblick fest gefügte Gedankensysteme, wie wir sie etwa aus den kirchlichen Bereichen kennen, immer mehr in Frage gestellt, immer mehr ausdifferenziert werden. Ich füge aber hinzu – und ich bitte mich deswegen nicht für einen Marxisten zu halten –, dass der zweite Grund, den ich für diese Entwicklung sehe, einfach die Arbeitsteiligkeit unserer Gesellschaft ist. Es klingt zwar möglicherweise marxistisch, aber es ist eben doch richtig, dass ich als Arbeiter am Fließband manche Probleme ganz anders sehe als jemand, der beamteter Philosophieprofessor ist; oder dass ich als Bergmann des 19. Jahrhunderts manche Probleme anders sehen musste als mein Arbeitgeber, der in ganz anderen Dimensionen denken musste und auch gedacht hat. Aus der Arbeitsteiligkeit unserer Gesellschaft und aus der Gedankenfreiheit, die beide ineinander wirken, ergibt sich zwangsläufig in unseren Gesellschaften ein Pluralismus, den wir nicht ändern können. Ich will es auch gar nicht ändern, ich fühle mich in einer pluralistischen Gesellschaft ausgesprochen wohl. Hinzugekommen ist – ich nenne es bewusst erst an dritter Stelle – die Abschwächung der Kraft der herkömmlichen Wertesysteme, ein Topos, der heute in jeder Provinzzeitung verwendet wird. Alle jammern darüber, dass die Wertesysteme immer schwächer werden. Das ist aber, obwohl es einem im Konkreten unter Umständen sehr contre cœur geht, nur die Kehrseite dessen, was ich vorher mit Gedankenfreiheit und arbeitsteiliger Gesellschaft gesagt habe. Aber bitte sehen Sie daneben auch das Vierte: Die Wertesysteme sind nicht nur geschwächt worden, sie sind auch aus sich heraus schwächer geworden. Ich meine jetzt nicht das Versagen der Kirchen in der einen oder anderen Beziehung, sondern etwas ganz anderes. Die Entwicklung unserer Wissenschaften und damit die Entwicklung dessen, was wir über uns selbst und unsere Gesellschaften wissen, wird immer größer, schreitet immer weiter voran. Wir stellen immer präzisere Fragen, und aus jeder neuen Erkenntnis, aus jeder neuen Frage, die beantwortet worden ist, entstehen neue präzisere Fragen. Es kann kein Wunder sein, dass Wertesysteme, die in Bezug auf eine ganz bestimmte, relativ undifferenzierte Gesellschaft vor einigen Jahrhunderten, aber auch auf eine relativ unentwickelte Kenntnis unseres Lebens, unserer Gesellschaft entstanden sind, in der
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weiteren Differenzierung unseres Wissens und damit auch unserer Probleme nicht mehr stark genug sein können, die richtigen Antworten zu geben. Solange man nicht wusste, wie sich das Kind im Mutterleib entwickelt, also bis etwa um den Beginn der Neuzeit herum, da konnte die katholische Kirche oder damals die ungeteilte christliche Kirche es sich leisten zu behaupten, dass der Mensch erst im fünften Schwangerschaftsmonat beseelt wird und damit Mensch wird. Als man das wusste, musste man weiter differenzieren, und man hat sich redlich bemüht, den Anfang und das Ende des Lebens richtig zu definieren, exakt so, dass es handhabbar war, dass man darüber reden konnte. Und heute sind die Dinge so differenziert, heute wissen wir so viel, dass diese alten Regeln, selbst wenn man sich nach einer Diskussion wieder zu ihnen bekennen sollte, jedenfalls neu überlegt und neu begründet werden müssen. Denken Sie an die Debatte über die Stammzellen. Wenn die Stammzelle Leben ist, was ich an sich glaube, warum sind dann die vereinigten Zellen eigentlich kein Leben? Und wie ist es am Ende des Lebens? Welcher Tod ist es? Der Hirntod oder sonst irgendein anderer? In dem Augenblick, wo es möglich wird, dieses zu unterscheiden und auf diese Unterscheidungen auch faktische Verhaltensweisen aufzubauen, zeigen sich zwangsläufig Schwächen dieser Wertesysteme. Und wir haben dann die größten Schwierigkeiten, unter Bezugnahme auf ein wie auch immer geartetes Gemeinwohl darauf die richtigen Antworten zu geben. Es sind Entscheidungen, die uns in dieser Frage abverlangt werden, es sind nicht Deduktionen aus einem bereits vorher vorhandenen, im Grunde durchnormierten Normensystem. Aus diesem Pluralismus, aus dieser Pluralität unserer Gesellschaften ergeben sich ungeahnte Kräfte. Aber es sind nicht nur gute, sondern es sind auch sehr bedenkliche Kräfte. Das muss man sehen. Es gibt auf der einen Seite die Spannung, die eine solche Gesellschaft in sich trägt; sie kann unerhört produktiv sein. Darauf will ich heute nicht eingehen. Sie kann aber natürlich auch Zentrifugalkräfte entwickeln, die allmählich auseinander platzen oder jedenfalls zu einer reduzierten Überlebensfähigkeit der Gesellschaft führen können. Man braucht, um dieses auszugleichen, auch Zentripetalkräfte. Das ist so eine Formel, die ich seit vielen Jahren verwende: Ein Staat, eine Gesellschaft kann nur zusammenhalten, wenn die Summe der Zentripetalkräfte größer ist als die Summe der Zentrifugalkräfte. Bitte nehmen Sie das nicht wörtlich, man kann weder das eine noch das andere quantifizieren. Aber das ist das fünfte Problem in diesem Zusammenhang: Woher kommen die Zentripetalkräfte? Wir brauchen Sie aus den unterschiedlichsten Gründen. Ich nenne nur die, die allgemein bekannt sind: In jeder Demokratie gilt, jedenfalls in den meisten Beziehungen, das Mehrheitsprinzip. Aber was veranlasst eigentlich eine Minderheit, sich den Entscheidungen der Mehrheit zu unterwerfen? Das steht irgendwo im Grundgesetz, natürlich.
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Aber was veranlasst diese Minderheit, sich ans Grundgesetz zu halten? Woher kommt das eigentlich? In jeder Koalition, in unendlich vielen praktischen Fragen müssen Kompromisse geschlossen werden. Warum verlangen wir, mit Recht, wie ich glaube, dass diejenigen, die am Abschluss eines Kompromisses beteiligt waren, sich dann auch an den Kompromiss halten und nicht in der übernächsten Woche schon wieder neue Forderungen aufstellen? Warum erwarten wir, dass Ergebnisse von Diskussionen im Bereich der öffentlichen Meinung oder auch Entwicklungen, die sich in den Formen der Marktwirtschaft abspielen, auch von denen akzeptiert werden, für die sie nicht ganz so günstig sind. Woher kommt diese innere Rechtfertigung? Letzten Endes hängt sie davon ab, ob wir Zentripetalkräfte in ausreichendem Maße haben. Wenn Sie mich zur heutigen Lage fragen, dann werde ich, weil ich ein Optimist bin, antworten, dass die Frage auf der Kippe steht. Andere würden sagen, es ist längst vorbei mit den ausreichenden Zentripetalkräften. Einmal war es das Nationalbewusstsein. Aber selbst wenn man wieder „Nation“ sagen darf, meine Damen und Herren, was spornt uns heute noch an, als Deutsche etwas zu tun? So wie vor 100 oder 120 Jahren, wo man etwas in der Welt darstellen wollte. Wir wollen eigentlich gar nichts in der Welt darstellen, wir wollen, übertrieben formuliert, möglichst viel Freizeit. Unabhängig von allem, was mit dem Nationalbewusstsein an Missbrauch getrieben worden ist, spielt es fast keine motivierende, einende Rolle mehr. Wir hatten 40 Jahre etwas anderes, was uns geeint oder zumindest zusammengehalten hat: Das war die Bedrohung von außen. Ich erinnere mich, dass ich im Jahr 1990 oder 1991 mit dem damaligen Präsidenten des Obersten Sowjet der damals noch bestehenden Sowjetunion gesprochen habe, wie er sich denn die Zukunft dieser Union vorstelle. Er sagte: „Herr Präsident, das ist ganz einfach, ich habe mit den Teilrepubliken gesprochen, die wollen alle eine Reihe von acht oder zehn Aufgaben bei der Union belassen. Ich habe das danebengelegt, was in der Europäischen Gemeinschaft der Gemeinschaft übertragen worden ist. Das sind genau die gleichen Aufgaben und bei Ihnen funktioniert es doch auch.“ Ich habe dann gesagt: „Es gibt einen wesentlichen Unterschied: Wir haben uns 40 Jahre lang vor der Sowjetunion gefürchtet und das hat uns zusammengetrieben.“ Das hat er sofort aufgeschrieben. Konsequenzen sind, wie Sie beobachten konnten, daraus nicht gezogen worden. Man hat dann teilweise etwas zynisch, zum Teil auch in allem Ernst gesagt, dass das, was uns zusammenhält, unser Sozialsystem sei. Also im Grund die Wohlstandspolitik, um es deutlich zu sagen. Ein Sozialsystem, das für jeden sorgt, das jedem seine materielle Sicherheit gibt, das funktioniert, das ist eine von vielen Antragsformularen gebildete Klammer, die das Ganze zusammenhält. Meine Damen und Herren, ich bin nicht ganz sicher, ob das zu der Zeit, als diese Auffassungen entwickelt worden sind, richtig war. Heute droht dieses
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Wohlstandssystem, das immer nur eine gedankliche Krücke war, zusammenzubrechen, und wir werden sehen, wie das in drei oder vier Jahren ausschaut. Was uns wirklich zusammenhalten und motivieren könnte, das wäre für mich immer noch, die Schwierigkeiten, vor denen wir stehen, zu erkennen und dann als Volk zu sagen: „Das wäre doch gelacht, wenn wir damit nicht fertig würden!“ Es sind ja kleine Schwierigkeiten im Vergleich zu dem, was weltweit passiert. Die müssten uns doch eigentlich zusammenschweißen und motivieren zu sagen: „Wir probieren es doch!“ Unsere Voreltern nach dem 30-jährigen Krieg, unsere Eltern und Großeltern nach 1945 waren doch in einer viel schwierigeren Lage. Das wäre doch gelacht, wenn wir das nicht schaffen würden – als eine Art sportlicher Ehrgeiz einer ganzen Nation. Ich finde ihn im Augenblick nicht. Es sind allerdings alle noch in einer Phase, in der sie in den Schützengräben liegen und ihre Köpfe nicht über den Grabenrand heraushalten, und das mag im Augenblick auch vernünftig sein. Aber es kann nicht so weitergehen. Im Grunde müsste von hier die Kraft kommen, die die wesentlichen Lösungen bringt: Lösungen, von denen man sich dann vorstellen könnte, dass sie wirklich so etwas wie Gemeinwohl sind. II. Und damit bin ich beim zweiten Teil, nämlich der Frage nach wirtschaftlichen Interessen und Gemeinwohl. Ich denke, man sollte hier zwei, freilich nicht klar zu trennende Problemphasen unterscheiden: den Ausgleich präsenter Interessen und die Berücksichtigung nicht präsenter Interessen, die ja unser eigentliches Problem ist. Es ist Ihnen allen bekannt, dass man präsente Interessen am besten individualvertraglich regelt, das macht jeder bei jedem Kaufvertrag, den er am Morgen beim Bäcker abschließt. Es ist klar, dass es Kollektivverträge gibt, unter denen die Tarifverträge des Arbeitsrechts die größte Rolle spielen und auch die interessanteste Erscheinung sind, und dass wir andere Interessenausgleiche vornehmen in den Formen der Marktordnung. Den Preis, der sich durch Angebot und Nachfrage regelt, und was damit im Zusammenhang steht, will ich hier beiseite lassen. Ich will den Akzent mehr darauf legen, welche Rolle der Staat in diesem Zusammenhang in den verschiedensten Lehrgebäuden seit etwa 200 Jahren gespielt hat. Natürlich ist es klar, dass dann, wenn die Gesellschaft nicht aus sich heraus ausreichende Lösungen für bestehende Probleme entwickelt, irgendjemand anderer helfen muss. Und ich habe in der vorher erwähnten „Staatslehre“, die 1971 erschienen ist, dem Staat die Hauptaufgabe zugeschrieben, die Korrektur dessen vorzunehmen, was in der Gesellschaft nicht richtig läuft. Dazu braucht er dann eben das, was ich vorher mit Integration
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bezeichnet habe. Da gab es die Idee, dass die Monarchie des ausgehenden 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts diesen Ausgleich am besten leisten könnte. Ich bin nicht ganz so sicher, ob die Bergarbeiter und die landwirtschaftlichen Arbeiter des 19. Jahrhunderts das genauso gesehen haben, wenn sie vielleicht auch ihrem König zugejubelt haben; eher werden vielleicht der Adel und die Militärs geglaubt haben, dass das so ist. Aber nicht einmal in einem System wie dem Napoleons III., der ja auf den Lehren von Lorenz von Stein aufgebaut hat, hat es wirklich funktioniert. Und auch bei Wilhelm II., den ähnliche Gedanken bewegt haben, hat es natürlich nicht funktioniert. Man ist zur parlamentarischen Demokratie übergegangen. Aber ehe ich zu der komme, will ich mit wenigen Worten mit einer zweiten Vorstellung aufräumen, die immer wieder in den Gazetten und auch überwiegend in konservativen Kreisen auftaucht, der Vorstellung, Parlamente etwa durch ständisch zusammengesetzte Räte zu ersetzen oder zu ergänzen. Ich will das nicht im einzelnen ausführen, aber das hat bisher dort, wo es versucht worden ist, nirgends funktioniert, weil man mit unterschiedlichsten Ebenen des Pluralismus rechnen muss. Da gibt es eine weltanschauliche Ebene, eine Arbeitsmarktebene, Kunst und Kultur, mithin ganz unterschiedliche Ebenen. Und wenn man den Kulturschaffenden erst noch über den richtigen Bergarbeiterlohn mitentscheiden lässt, dann tritt das auf, was in solchen Organen immer aufgetreten ist: Die Stimmen werden verkauft. Wenn du nächstes Mal für die Erhöhung der Gehälter der Opernmusiker stimmst, dann stimme ich dieses Mal für die Löhne der Bergarbeiter oder der Maschinenbauarbeiter usw. So hat das immer funktioniert. Es hat im Reichswirtschaftsrat treffliche Beispiele dafür gegeben in der Weimarer Zeit. Einen Bundeswirtschaftsrat in der Bundesrepublik hat uns ein gnädiges Schicksal erspart. Aber wenn Sie sich anschauen, was in den letzten 40 bis 50 Jahren in manchen ähnlich zusammengesetzten Rundfunk- und Fernsehräten alles abgelaufen ist, dann sehen Sie das. Da wird nicht entschieden, welche Ebene nun allein entscheidet, sondern da werden Stimmen ausgehandelt. Das geht im übrigen bis in den Bundesrat hinein. Ich habe es oft genug selbst praktiziert. Die Antwort des 19. Jahrhunderts auf die Zweifel an der Monarchie war auch eine ganz andere, es war der schon erwähnte Parlamentarismus. Aber da haben Sie wieder ein Problem. Entweder funktioniert der Parlamentarismus mit politischen Parteien, dann funktioniert er einigermaßen. Das hat jedoch den Nachteil, dass eine Koalition, die die absolute Mehrheit hat, natürlich die anderen unterbuttern kann. Wenn es keine Parteien gibt, dann freut das zwar den Kollegen von Arnim, aber ich sage Ihnen, ich musste einmal Präsident eines Konvents für Grundrechtsfragen in der Europäischen Union sein. Da hat es keine Parteien gegeben. Aus jedem Land sind zwei
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nationale Parlamentarier gekommen, dann 16 europäische Parlamentarier und schließlich noch 16 Beauftragte der Staats- und Regierungschefs und des Präsidenten der Europäischen Kommission. Da sitzen Sie oben und sind ganz einsam, meine Damen und Herren. Sie haben keinen Ansprechpartner, Sie können nicht fragen, ob sie eine Mehrheit für das oder jenes bekommen, selbst wenn Sie selber nur präsidieren wollen und im konkreten Fall gar kein politisches Durchsetzungsinteresse haben. Ich spreche jetzt von den Dingen, wo ich wirklich aus Überzeugung sagen konnte: „Das kann man so oder so machen, ich möchte nur wissen, wie ihr das wollt.“ Sie haben keine Ansprechpartner, eine ganz unangenehme Situation. Die Vorstellung, die hinter dieser Idee vom sogenannten „Honoratiorenparlament“ steckte, war eine ganz andere. Es war die Vorstellung von der prinzipiellen Vernünftigkeit des menschlichen Wesens, die auf dem Markt zu einem richtigen Preis, in der öffentlichen Auseinandersetzung um politische Fragen zu einer richtigen öffentlichen Meinung und im Parlament zu richtigen vernunftgetragenen Entscheidungen führt. Sie werden mir ersparen zu beweisen, warum das Mystizismus ist und nicht mehr. Deswegen ist das Parlament allein auch keine Garantie mehr. Wir hatten 40 Jahre, wahrscheinlich von 1953, aber ganz sicher von 1957 an, in Westdeutschland eine ganz andere Methode, die Interessen sich nicht völlig gegenseitig überstimmen zu lassen, sie durch das Mehrheitsprinzip durchzuboxen oder unterzubuttern, sondern sie einigermaßen auszugleichen, – und das war das System der Volksparteien. Es gab ja nur zwei Parteien und dann die FDP; aber von der FDP wusste man meistens auf zwölf Jahre hinaus, dass sie immer mit der gleichen Volkspartei im Koalitionsbett liegt. Wenn da gewählt worden ist, dann war am Sonntagabend klar, wer Bundeskanzler wird, wer die Regierung stellt. Es mussten keine schwierigen Koalitionen gebildet werden. Umgekehrt konnten die Parteien von vornherein wissen, dass sie die Chance haben, die absolute Mehrheit zu erreichen. Um die zu erreichen, waren sie gezwungen, kein wirklich bestehendes legitimes Interesse völlig unterzupflügen. Natürlich hat es Unterschiede gegeben: Die einen waren mehr und die anderen weniger für die Arbeiter und dergleichen, mal schwarz mal rot gestrickt. Aber man hatte in sich die Integration der Interessen schon halbwegs – und halbwegs ist in der Politik immer das Ganze – vorgenommen. Das hat 40 Jahre lang funktioniert. Allerdings 40 Jahre, in denen auch der normale Bürger, wenn er das Wort Wirtschaft oder Wirtschaftspolitik hörte, eigentlich gar nicht hinhörte, sondern gleich an Zuwachsrate gedacht hat. Da konnte man leichter Kompromisse und Interessenausgleiche vornehmen. Wenn Sie bedenken, dass der Mensch vielleicht mit 18 bis 20 Jahren allmählich beginnt politisch zu denken, dann heißt das, die heute 60-Jährigen haben die deutsche Wirtschaft nicht anders als mit Zuwachsraten erlebt und sind jetzt aufs Äußerste erstaunt, dass es
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nicht mehr so geht. Weil schon das so genannte Nullwachstum, was schon sprachlich eine Perversion ersten Ranges ist, die Krise erzeugt, sind die Volksparteien in Wirklichkeit in der Bredouille. Und das ist das, was mir Angst macht. Es macht mir Sorge, dass diese Kräfte der Volksparteien doch sehr erlahmt sind. Es macht mir Sorge, dass auch der Mut fehlt, einmal zu sagen: „Mit versprengten Zügeln reiten wir jetzt auf das Problem und auf unser Wahlvolk los und sagen denen, das muss jetzt so sein und da muss der Gürtel enger geschnallt werden, da muss was draufgelegt werden, da muss was weggenommen werden und dergleichen.“ Das geht bei einem Wahlvolk, das so strukturiert ist wie das unsere, immer noch nicht. Auf der einen Seite denkt jeder, der an Wirtschaft denkt, an Zuwachsrate. Und auf der anderen Seite sind die großen politischen Lager in der Bevölkerung (Rot/Grün und CDU/CSU/FDP) fast gleich groß. Da gibt es zwar Ausreißer, so etwa im September 1998 und natürlich jetzt in den augenblicklichen Popularitätskurven usw., aber im Prinzip ist es immer so, und die Wahl ist immer von 100.000, 120.000, 150.000 Wählern letztlich entschieden worden, am 22. September 2002 von 6.287 Wählern, im Verhältnis SPD/ Unionsparteien. In dieser Situation umzuschalten und zu sagen, jetzt wird es nicht mehr mehr, jetzt wird es eher weniger, geht eigentlich nur, wenn es beide großen Lager sagen. Wenn es der eine sagt und der andere nicht, dann ist klar, wer in Zukunft regiert, nämlich der andere. Und wenn es der andere sagt und der eine nicht, dann ist auch klar, dass der eine in Zukunft regiert. Es ist doch ganz selbstverständlich, dass Wähler dabei irre werden. Das haben wir jetzt jahrelang erlebt und deswegen ist es auch nicht richtig zu sagen, die Politiker hätten versagt. Natürlich haben sie versagt bei dieser Integrationsleistung, die letzten Endes auf Gemeinwohl hinausläuft. Die Bevölkerung hat auch versagt. Ob wir den Charismatiker wollen, der das eines Tages einseitig umdrehen könnte – und wir wissen, wozu Charismatiker im übrigen noch imstande sind –, das ist eine offene Frage. Wichtig wäre es, dafür zu sorgen, dass die politische Führung sagt: „Und jetzt wird mit versprengten Zügeln auf das Wählervolk losgeritten!“ Aber das ist eigentlich genauso, wie wenn ich zu einem Politiker sage, er solle politischen Selbstmord verüben. Das hilft auch nicht. Vielleicht gibt es in den nächsten Monaten ein kleines Zeitfenster, das uns die Sache erleichtern könnte. Seit den Februarwahlen dieses Jahres haben wir eine Regierung, die in sich so schwach ist, zahlenmäßig über eine so geringe Mehrheit im Parlament verfügt, dass ihre Anhänger eigentlich gar nicht anders können, als ihr zuzustimmen, selbst wenn das mit aufgeklapptem Messer in der Hosentasche passieren sollte, und eine Opposition, die durch den Bundesrat in die babylonische Gefangenschaft der Regierung gebunden ist, die sich natürlich ein ständiges Zustimmen, aber auch ein ständiges Ablehnen nicht wird erlauben können. Wenn diese Konstellation genutzt wird, dann könnte hier für eine
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vorübergehende Zeit, für ein paar Monate, das eine oder andere gelöst werden. Zumindest unsere Sozialsysteme könnten auf neue Beine gestellt werden. Ich habe bisher immer nur von präsenten Interessen gesprochen, den heutigen Lohninteressen der Arbeiter, den heutigen Ansprüchen der Versicherten usw. Aber das eigentliche Problem ist ein ganz anderes. Es ist die Einbeziehung der Interessen, die noch keiner, insbesondere kein Massenverband, vertritt. Unter den präsenten Problemen sind es die Arbeitslosen. Um die kümmern sich organisatorisch und in der politischen Willensbildung die wenigsten. Die Arbeitnehmervertretungen tun es zumindest nicht. Erinnern Sie sich an das, was in den letzten 25 bis 30 Jahren im Zusammenhang mit Umweltfragen geschehen ist, die auch niemand vertreten hat. Dann ist eine kleine Partei gekommen, die es gemacht hat und alle sind ihr gefolgt. Aber niemand anderer hat es vorher auf den Tisch gebracht, nicht unsere Presse und auch nicht die Kirchen, die für so etwas eigentlich hätten sensibel sein müssen. Sie haben alle ihre Denkschriften verfasst, nachdem das Thema auf dem Tisch war, nach dem Motto, dazu müssen wir doch auch etwas sagen. Aber die Kräfte der Gesellschaft waren dazu zunächst nicht imstande. Und das Letzte ist dann die Verschuldung zukünftiger Generationen, über die im Augenblick auch niemand entscheidet, und wo auch kein Familienwahlrecht nützt. Natürlich kann ich einem Vater und einer Mutter von sechs Kindern noch sechs zusätzliche Stimmen geben, aber es ist überhaupt nicht garantiert, dass sie an die Interessen ihrer Kinder denken. Vielleicht begreifen Sie das gar nicht, vielleicht ist ihnen ihr eigenes Wohlergehen wichtiger als das ihrer Kinder. Solche Eltern soll es ja auch geben. Wie kümmert man sich also um die Interessen zukünftiger Generationen? Auch hier kann die Antwort wieder nur sein: durch den Staat. Die Schwierigkeiten habe ich bereits bei den präsenten Interessen dargestellt, das will ich nicht wiederholen. Aber es kommt noch die Frage hinzu: Was ist denn nun eigentlich das Gemeinwohl, gerade wenn es um die Zukunft geht, um Entwicklungen in die Zukunft hinein? Wie stellt man so etwas fest? Mit der Waage, mit dem Metermaß oder sonst irgendwie? Es ist sehr schwierig. Über die Grundsätze kann man sich leicht einigen. Es muss alles sozial bleiben, und es muss mehr soziale Gerechtigkeit her. Das System muss leistungsfähig bleiben oder leistungsfähig gemacht werden, darüber ist man sich rasch einig. Ich habe vorher einige Beispiele genannt. Aber wie quantifiziert man – und in diesen Bereichen geht es häufig um Quantifizierungen – denn eigentlich? Was bedeutet es, wenn in verfassungsähnlichen Bestimmungen wie im Stabilitäts- und Wachstumsgesetz Vollbeschäftigung steht? Was ist eigentlich Vollbeschäftigung? Das ist noch am leichtesten. Da haben wir uns geeinigt, drei Prozent Arbeitslosigkeit bedeutet Vollbeschäftigung. Aber welche Um-
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welt muss denn eigentlich für die Zukunft angesteuert werden? Ich verstehe von Umweltfragen nicht sehr viel, aber eines weiß ich, die Frage ist nicht leicht zu beantworten. Ich war einmal Minister für Denkmalschutz, und da wurden meine Leute geholt, und es wurde ihnen gesagt: „Hier ist eine alte Kirche, die soll wiederhergestellt werden.“ Und da sagte der Präsident des Denkmalamtes: „Ja wie wollen Sie’s denn?“ „Ja die alte Fassung muss wiederhergestellt werden.“ Dann sagte der immer darauf: „Ja die von 1200, von 1300 oder die von 1400?“ Da müssen wir uns einigen. Und genauso ist es natürlich mit der Umwelt. Denn die Vorstellung, ganz Süddeutschland wieder unter Urwäldern verschwinden zu lassen wie zur Römerzeit, die ist ja auch nicht rational. Wie findet man das denn? Und wie ist die richtige Rate der Verschuldung? Denn klar ist auch, dass man, wenn es im Interesse der künftigen Generationen ist, auch auf ihre Kosten Schulden machen kann. Aber wie rechnet man das, wie entscheidet man das? Es ist unmöglich. Das ist der zweite Grund, warum im Register meiner „Staatslehre“ das Wort „Gemeinwohl“ nicht vorkommt. Mein Vater, der ein intelligenter Mann war, aber ein Spötter, hätte gesagt: „Gemeinwohl, das ist wahrscheinlich eine Mehlspeise zum Umhängen.“ Es ist nichts Handhabbares, aber man muss es immer im Kopf haben. Denn gerade bei der Berücksichtigung künftiger Interessen geht es um Prognosen. Prognosen sind immer unsicher, vor allen Dingen, wenn sie so langfristig sind, wie sie es in diesem Fall sein müssen. Die Maßstäbe werden immer unklarer, das habe ich vorher an einem Beispiel gezeigt. Wenn wir heute sagen, wir wissen nicht und können auch nicht sagen, wo unsere Gesellschaften hingehen müssen, es wird sich vielmehr aus Versuch und Irrtum ergeben: Wie quantifiziert man dann Versuch und Irrtum, wie prognostiziert man Versuch und Irrtum? Ein Widerspruch in sich selbst. Und das gibt es in allen Dingen. Wenn die alten Nationalökonomen mit John Maynard Keynes zusammenstoßen, heute in Gestalt von Oskar Lafontaine, der sagt, Geld muss ausgegeben werden, damit die Wirtschaft angekurbelt wird, so kann man dem zustimmen. Aber dieselben oder mindestens genauso viele Leute sagen, es wird zuviel ausgegeben, es muss gespart werden. Wie machen Sie das, das Defizit bändigen bei einer Sparpolitik? Wir haben doch unsere Erfahrung gemacht. Die Erfahrung war, dass Keynes immer nur zur Hälfte angewendet worden ist. Wenn genug Geld da war, ist es nicht zurückgelegt, sondern ausgegeben worden. Und wenn zu wenig da war und die Wirtschaft Ankurbelung gebraucht hätte, dann hat man diese im Kreditwege oder überwiegend im Kreditwege finanziert, weil man das Geld vorher nämlich nicht gespart hatte. Nur das deficit-spending ist immer berücksichtigt worden. Aber es ist nie berücksichtigt worden, dass man in guten Zeiten auch etwas zurücklegen muss. Der erste Bundesfinanzminister Fritz Schäffer mit seiner Idee eines Juliusturms, nicht zur Finanzierung von
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Kriegen, sondern für diesen Zweck, hat das nur einmal gemacht, dann war er weg. Dann kommt natürlich die Redensart von der öffentlichen Armut. Die öffentliche Armut ist bei uns entsetzlich, das stimmt auch. Nur, meine Damen und Herren, bei einer Staatsquote von 52 Prozent kann doch die Armut nicht so groß sein. Vielleicht haben sie sich zu viel vorgenommen, die Damen und Herren. Sie haben doch wieder nichts in der Hand, weder das Wort „öffentliche Armut“ noch das Wort „Staatsquote“ hilft Ihnen allein weiter. Dann kommen die ganz Schlauen, die sagen: „Wir wissen zwar nicht, was das Gemeinwohl ist, aber wir wissen, was es nicht ist. Das Gemeinwohl ist nicht die Summe der Individualinteressen.“ Ein Gemeinwohl, das nicht auf die legitimen Interessen der Bevölkerung, der einzelnen Menschen abgestellt wird, das ist doch ein Monstrum. Es geht nicht um die Addition; die integrierten Interessen, das wäre das Gemeinwohl. Aber wie schwer das geht, wissen wir alle, und deswegen hätte ich auch hier das Wort „Gemeinwohl“ am liebsten nicht in der Überschrift gehabt. Im Register meiner „Staatslehre“ steht es sowieso nicht, was ich zu entschuldigen bitte. Ich wiederhole es: Vielleicht haben wir, wenn es der liebe Gott mit uns gut meint, ein kleines Zeitfenster, ein paar Monate oder auch ein Jahr, wo wir uns der ganzen Sache wieder etwas nähern könnten. Garantiert ist es nicht, aber es wäre lebensentscheidend.
Bericht über die Diskussion zum Vortrag von Roman Herzog Diskussionsleitung: Heinrich Siedentopf Von Marion Weschka Nach dem Dank des Diskussionsleiters an Prof. Dr. Roman Herzog, Bundespräsident a. D., München, eröffnete Johannes Butscher, Baindt, die Diskussion mit der Frage, ob sich nicht die große Politik in erster Linie zusammenschweißen müsse, bevor sich das Volk zusammenschweißen könne, da die fehlende Einigkeit und Leistungsbereitschaft in der Bevölkerung aus der Verärgerung über die Vorgänge in der Politik resultiere. Prof. Dr. Heinrich Amadeus Wolff, München, nahm Bezug auf die von Herzog angesprochenen Interessen, um die sich niemand kümmere, wie z. B. Arbeitslosigkeit, Verschuldung und die Umwelt, und wies darauf hin, dass sich das Grundgesetz dieser Fragen annehme, da es für die Umwelt die Staatszielbestimmung in Art. 20a GG vorsehe, das Problem der Arbeitslosigkeit im Zusammenhang mit dem gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht in Art. 109 GG berücksichtige und die Staatsverschuldung in Art. 115 GG anspreche. Bezüglich der Staatsverschuldung schlug Wolff vor, die Verfassungsvoraussetzungen für die Staatsverschuldung zu verschärfen, da dies der einfachste Weg sei, um durch einen einmaligen Akt der Verfassungsänderung auch den künftigen Gesetzgeber zu binden. Mit Bezug auf Herzogs Feststellungen, dass das Gemeinwohl nicht vernünftig handhabbar sei, fragte Ferdinand Krause, Bonn, wie er denn als Bürger seinen Beitrag zum Gemeinwohl definieren könne und ob unsere Gesellschaft insoweit als individualistisch bezeichnet werden müsse mit der Folge, dass jeder Bürger selbst definieren könne, was er als Beitrag zum Gemeinwohl leisten wolle bzw. ob er überhaupt einen Beitrag leisten wolle. Ergänzend interessierte ihn, ob es in diesem Sinne ein Staatswohl gebe und ob der Begriff des Staatswohles nicht eventuell leichter zu handhaben sei als der Begriff des Gemeinwohls. Anknüpfend an Herzogs Vorwurf, dass sowohl die Regierung als auch das Volk versagt habe, wollte Helmut Krüger, Kornwestheim, wissen, was denn das Volk falsch gemacht habe und was es besser machen könne.
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Norbert Hiltner, Schwedeneck, ging auf die Berliner Rede des Bundespräsidenten1 im Adlon-Hotel ein und wollte wissen, ob Herzog immer noch der Auffassung sei, dass in Deutschland kein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungsproblem bestehe. Er stelle sich vielmehr die Frage, ob es nicht doch ein Erkenntnisproblem gebe, ob wir uns in Deutschland nicht in einer allgemeinen Führungs- und Vertrauenskrise befänden, ob unsere Eliten das Gemeinwohl womöglich gerade nicht im Auge hätten und ob nicht dies der Grund dafür sei, dass zwischen Bevölkerung und Politik ein immer größer werdender Zwiespalt entstehe, der im Ergebnis zur Politikverdrossenheit führe. Seiner Ansicht nach könne es auch sein, dass die Erkenntnis zwar durchaus bestehe, aber tabuisiert werde. Der frühere Bundespräsident Richard von Weizsäcker habe einmal von der Machtversessenheit und Machtvergessenheit der Parteien gesprochen, wofür er in der Öffentlichkeit sehr kritisiert worden sei. Dies sei jedoch ein guter Anfang gewesen und biete viele Chancen, wenn man diese Aspekte in die öffentliche Diskussion einbringe. Man müsse von allen demokratischen Parteien verlangen, dass sie sich um die Angelegenheiten des Gemeinwohls mehr Gedanken machen. Winfried Scheidt, Vallendar, fragte Herzog, ob er seine derzeitige Tätigkeit als Vorsitzender einer Kommission, die sich mit Fragen des Gemeinwohls befasse, überhaupt für sinnvoll halte, da ja bereits nationale und internationale Analysen über die derzeitigen Probleme der Gemeinwohlvorsorge existierten und auch alle Handlungsparameter bereits gegeben seien, während es nur – wie ja auch von Herzog selbst betont worden sei – an der politischen Durchsetzbarkeit und der Fähigkeit der Parteien fehle, hier wirklich Akzente zu setzen. Prof. Dr. Uwe Volkmann, Mainz, nahm Bezug auf die Beschreibung der Pluralisierungs- und Atomisierungsprozesse in unserer Gesellschaft durch Herzog, der darauf abgestellt habe, dass diesen nur Stand gehalten werden könne, wenn am Ende die zentripetalen Kräfte die zentrifugalen überwögen. Dieser Aussage stimmte Volkmann zu, bezweifelte jedoch, dass das einigende Band, also das, was das Volk zusammenhalte, heute nur durch die Probleme und Herausforderungen, vor denen es stehe, gebildet werde, denn seiner Meinung nach setze die Problemlösung das Bestehen des einigenden Bandes bereits voraus. Nach Volkmanns Ansicht ist das einigende Band vielmehr in einigen gemeinsamen Grundüberzeugungen zu finden: in unseren Freiheiten, den Grundrechten und unseren demokratischen Institutionen. Jedoch würde diesen integrierenden Schlüsselbegriffen von verschie1 Berliner Rede von Bundespräsident Roman Herzog im Hotel Adlon am 26. April 1997, im Internet unter: http://www.bundespraesident.de/top/dokumente/ Rede/ix_15154.htm, recherchiert am 23.12.2003 um 10.35 Uhr.
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denen Seiten Schaden zugefügt. Zum einen verwies Volkmann auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Zeugen Jehovas2, in denen das Bundesverfassungsgericht gesagt habe, die Verfassung mute niemandem zu, die in ihr enthaltenen Überzeugungen zu teilen. Diese Aussage erschien Volkmann im gegebenen Zusammenhang völlig unverständlich. Zum anderen gab er gegenüber den Ausführungen von Herzog zu bedenken, dass mit der Relativierung des Gemeinwohlbegriffs eines der integrierenden Momente zerstört werde. Er stellte die Frage, ob es nicht gerade dann, wenn man von einem Volk von verstreuten Einzelnen ausgehe, besonders wichtig sei, die integrierenden Schlüsselbegriffe zu stärken. Man müsse sich ständig trotz aller Irrtümer, Probleme und Unwägbarkeiten um eine Aktualisierung dieser Begriffe bemühen, um auf diese Weise Einheit in der Differenz zu beweisen. Prof. Dr. Manfred Groser, Bamberg, knüpfte ebenfalls an Herzogs skeptische Einschätzung zur Frage der integrierenden Kraft des Sozialstaates an und kritisierte vor allem dessen Formulierung, dass der Sozialstaat eine Klammer sei, die nur durch Antragsformulare zusammengehalten werde. Dies betone nach Ansicht von Groser zu sehr die bürokratische Hülle und beziehe sich nicht auf die Substanz des Sozialstaates. Er erinnerte daran, dass Lorenz von Stein vor 150 Jahren den sozialen Staat als einen Staat begriffen habe, der vermeide, dass Mitglieder der Gesellschaft aus dieser herausfielen. Diese Vorstellung der Vermeidung von Ausgrenzung und der Ermöglichung von Teilhabe – sei es am Wohlstand, sei es an der Gestaltung bzw. auch der Umgestaltung von Gesellschaften – sei seiner Ansicht nach der Kern des Sozialstaates. Ergänzend wies er darauf hin, dass es mindestens vier Typen von Sozialstaaten bzw. Wohlfahrtsstaaten gebe mit einer gewaltigen Bandbreite von Gestaltungsmöglichkeiten innerhalb dieser Typen, worin die Chance liege, die Rechte und Pflichten so zu adjustieren, dass tatsächlich der Wohlfahrtsstaat bzw. der Sozialstaat die integrierende Kraft wieder entfalten könne, die er zum Teil tatsächlich eingebüßt habe. Im Anschluss an diese Diskussionsrunde nahm Herzog zu den aufgeworfenen Problemen Stellung. Bezüglich der beiden Fragen, die sich mit seinem Vorwurf der Unbeweglichkeit und Verschlafenheit nicht nur gegenüber den Politikern sondern auch gegenüber der Bevölkerung befassten, betonte er erneut, dass er die Schuld beiden, also sowohl den Bürgern als auch den Politikern gebe, denn die Politiker seien nicht in der Lage, das Volk aufzurütteln und dem Volk sei das im Prinzip auch ganz Recht so. Bei bestimmten Fragestellungen zeigten die Umfrageergebnisse zwar eine große Re2 Urteil des Zweiten Senats vom 19. Dezember 2000 – 2 BvR 1500/97, BVerfGE 102, 370.
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form- und Verzichtbereitschaft an, bei anderen Fragestellungen käme aber das Gegenteil heraus, was ihm sehr zweifelhaft erscheine. Außerdem müsse das Volk in dem Bewusstsein, dass generell aber gerade auch im Bereich der Haushaltssanierung sehr viel mehr geschehen müsse, die Politiker wesentlich mehr unter Druck setzen und auch abstrafen. Dass dies nicht geschehe, mache er der Bevölkerung zum Vorwurf, denn die Unbeweglichkeit der einen komme von der Unbeweglichkeit der anderen und umgekehrt. Anknüpfend an den Diskussionsbeitrag von Wolff und die generelle Frage, ob zu den Interessen der künftigen Generationen etwas ins Grundgesetz geschrieben werden sollte, stellte Herzog klar, dass dies nur dann möglich sei, wenn man die Dinge kurz und bündig regeln könne, denn anderenfalls werde das Grundgesetz zu einer Grundbuchordnung degradiert. Eine vergleichbare Kritik gelte für eine zu weit gehende Interpretation dieser Fragestellungen durch das Bundesverfassungsgericht, welche die Entscheidungen aus dem politischen Entscheidungsprozess herausnähmen: In einem solchen Falle könne man das Bundeshaushaltsgesetz nach Ansicht Herzogs auch gleich in Karlsruhe machen lassen. Obwohl Herzog sich dezidiert gegen jede Verfassungsänderung aussprach, die nicht absolut notwendig sei, stimmte er Wolff in Bezug auf die Staatsquote zu: Wenn es richtig sei, dass zwischen Staat und Gesellschaft und vor allem zwischen Staat und Wirtschaft die eigentliche Grenze in den Aufgaben nicht mehr angegeben werden könne, dann gebe es nur noch zwei denkbare Grenzen. Die eine zeige sich bei der Frage, ob der Gesetzgeber über eine bestimmte Anzahl von Rechtsvorschriften nicht hinausgehen dürfe. Diese Frage sei zwar nicht sinnvoll zu beantworten, zeige jedoch das Maß der Unfreiheit sowohl der Wirtschaft als auch der Gesellschaft angesichts von Myriaden von Rechtsnormen auf. Die zweite Grenze bestehe in der ständig zunehmenden Einschränkung der wirtschaftlichen Dispositionsbefugnisse, die durch das ständige Anwachsen der Staatsquote in den letzten Jahren induziert werde. Nach Ansicht Herzogs sei es erforderlich, die Staatsquote in den nächsten Jahren zu reduzieren, z. B. zunächst auf 45% und später auf 42%, denn mittels der Staatsquote werde über die Freiheit – und zwar nicht nur über die Freiheit der Wirtschaft, sondern auch über die Freiheit des einzelnen – entschieden. Die Freiheit, die wir als Privatleute in wirtschaftlicher Hinsicht hätten, bestehe nicht in unserem Brutto- oder Nettoeinkommen, sondern in der Differenz zwischen dem Nettoeinkommen und den monatlichen Fixkosten. Mit dieser Differenz könne man sein Leben nach seinen eigenen Wünschen und Interessen gestalten. Wenn die Staatsquote jedoch beispielsweise um fünf Prozent ansteige, werde bei den meisten Bürgern diese Freiheitsmarge um fünfzig bis sechzig Prozent gekürzt. Aus diesem Grund handele es sich hierbei um eine entscheidende Frage und damit um eine Verfassungsfrage.
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Mit Bezug auf die Frage von Krause, ob der Bürger selbst über seinen Beitrag zum Gemeinwohl entscheiden solle, stellte Herzog klar, dass der Bürger jedenfalls über die Frage der Höhe der Steuern nicht entscheiden solle, wenngleich ein niedrigerer Steuersatz zu begrüßen sei. Ob der Bürger darüber hinaus einen aktiven Beitrag zum Gemeinwohl leisten wolle, werde man seiner eigenen Entscheidung überlassen müssen. Dennoch sei derjenige, der sich nicht engagiere, auf dieses mangelnde Engagement hinzuweisen. Es gebe in Deutschland ca. 12 Millionen Menschen, die sich in irgendeiner Weise ehrenamtlich engagierten. Wenn man von der Gesamteinwohnerzahl Deutschlands von ca. achtzig Millionen alle alten Menschen und alle Kinder abziehe, blieben vielleicht 50 Millionen übrig, die sich ehrenamtlich engagieren könnten. Angesichts der genannten Zahlen müsse man doch berechtigter Weise an die verbleibenden 38 Millionen die Frage richten können, warum sie sich eigentlich nirgends engagierten. Anknüpfend an Hiltners Frage zur Rede im Berliner Adlon-Hotel unterstrich Herzog seine Auffassung, dass es sich nicht um ein Erkenntnis- sondern um ein Umsetzungsproblem handele, denn jeder in der Bundesrepublik wisse, was eigentlich geschehen müsse: Man müsse weniger ausgeben, sorgsamer mit dem Geld umgehen, den Politikern ihre ideologisch oder anderweitig bedingten Steckenpferde, wie z. B. bestimmte Institute, abnehmen, etc. Dies sei alles möglich, so dass man sehr wohl in der Lage sei, sich zu konzentrieren. Jeder wisse das, aber trotzdem geschehe nichts. Die ebenfalls von Hiltner unter Bezugnahme auf von Weizsäcker geäußerte These von der Machtversessenheit und Machtvergessenheit der Parteien wollte der Bundespräsident so undifferenziert nicht stehen lassen. Zwar seien die Parteien machtversessen und hätten sich in alle möglichen Bereiche hineingedrängt, in denen sie besser nichts zu sagen hätten. Andererseits setze ein genereller Angriff auf die Existenz politischer Parteien und den sog. Parteienstaat voraus, dass die Bundesrepublik nicht 80 Millionen Einwohner habe, sondern vielleicht 15 Millionen wie im Jahre 1820. Eine Massendemokratie lasse sich eben nicht ohne bestimmte Organisationen betreiben, die das Ganze vororganisierten, Programme aufstellten und zur Auswahl stellten und auch personelle Alternativen böten. Man könne diese Organisationsformen zwar auch Verbände nennen oder anders bezeichnen, in der Sache bleibe es jedoch das Gleiche – mit allen Versuchungen und allen Verlockungen, die man natürlich so weit wie möglich unterdrücken müsse. Die Idee, dass es auch ohne Parteien gehe, sei eine Altherrenvorstellung, von deren mangelnder Praktikabilität er sich im Europäischen Verfassungskonvent habe überzeugen können. Er habe diesen Konvent geleitet, der ohne parteiliche Strukturierung gearbeitet habe, und sei daher der Überzeugung, dass dieser Konvent nur deswegen funktioniert habe, weil es dort angesichts der Menschenrechte nur um das Gute im Menschen gegangen sei. Ob eine
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solche Konventstätigkeit in anderen kontroverseren Bereichen erfolgversprechend sei, ziehe er jedoch erheblich in Zweifel. Die von Scheidt in Frage gestellte Existenzberechtigung der CDU-Reformkommission rechtfertigte Herzog damit, dass auch die CDU ein Expertengremium brauche, das sie beraten könne, wenn die Regierung Reformvorschläge mache, da es wichtig sei zu wissen, wo man zweckmäßigerweise zustimmen solle und wo nicht. Im Grunde seien sich alle darüber einig, dass weniger ausgegeben werden müsse; in welchen Einzelfällen dies jedoch geschehen solle und in welchen nicht, sei allerdings noch offen. Er habe z. B. zu jedem Sozialversicherungssystem – die Sozialhilfe nicht mitgerechnet – eine Reihe von Kürzungsmöglichkeiten zusammengestellt, die den Bürgern nicht unmittelbar weh tun, und nun müsse darüber entschieden werden, ob man besser die eine oder die andere Kürzung vornehme. Ein weiteres Problem sei z. B. die Bundesanstalt für Arbeit. Man könne die Beamten in diesem aufgeblähten Verwaltungsapparat zwar nicht von heute auf morgen hinauswerfen, müsse jedoch wenigstens den Finger in die Wunde legen und über die Frage entscheiden, ob man nicht vielleicht in den nächsten drei Jahren den Bestand um dreißig Prozent reduzieren möchte oder nicht. Das gleiche gelte in der Frage des Zahnersatzes. Hier müsse man darüber entscheiden, ob sich jeder selbst versichern solle oder nicht. Auch die Frage, ob es eine Möglichkeit gebe, die Pflegeversicherung, die eine immer zentraler werdende Aufgabe sei, auf eine sichere finanzielle Basis zu stellen, müsse beantwortet werden. Hierbei sei ebenfalls problematisch, ob man die eigene Kapitaldeckung, deren Abschaffung erst 1957 als großes Ereignis gefeiert worden sei, während einer anhaltenden Krise überhaupt wieder einführen könne oder nicht. Darüber hinaus stellten auch die Umschulungsmaßnahmen der Bundesanstalt für Arbeit, in denen die Leute etwas lernten, was sie später ohnehin nicht bräuchten, ein Problem dar. Es zeige sich allein an diesen Beispielen, dass für die Existenzberechtigung und die Arbeit der CDU-Kommission genug Stoff vorhanden sei. Anknüpfend an Volkmanns Ausführungen verteidigte sich Herzog gegen den Vorwurf, er habe durch seine Relativierung des Gemeinwohlbegriffs eines der integrierenden Schlüsselmomente zerstört. Er habe vielmehr das Kind nur beim Namen genannt: Der Gemeinwohlbegriff sei einfach nicht mehr greifbar. Natürlich müsse es etwas geben, das über die Einzelinteressen hinausweise. Aber was dies letztlich sei und ob es handfest genug sei, um dafür zu kämpfen, sei eine andere Frage, auf die er habe aufmerksam machen wollen. Unter Bezugnahme auf die Frage nach dem integrierenden Moment und auf Grosers Redebeitrag gab Herzog zu, dass er sich den Sozialstaat als Klammer wünsche. Um diese Funktion erfüllen zu können, müsse der So-
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zialstaat jedoch anders aussehen. Man müsse hier wesentliche Änderungen vornehmen, bürokratische Hürden abbauen und die Dinge näher an die Menschen heran bringen, und hier stellten die komplizierten Formulare eben doch ein wesentliches Problem dar. Dies sei im Steuerrecht genau so. Es sei ein Skandal ersten Ranges, dass es Myriaden von steuerrechtlichen Regelungen gebe, durch die niemand mehr durchblicke. Schon der Bundeskanzler Helmut Schmidt habe gesagt, er könne seinen Steuerbescheid und seine Wasserrechnung nicht mehr lesen. Dies werde zwar als Witz kolportiert, treffe jedoch den Kern der Problematik. Umso erstaunlicher sei es, dass niemand etwas dagegen unternähme. Paul Kirchhof habe vor zwei Jahren den Entwurf eines sehr viel einfacheren Steuerrechts vorgelegt. Es gehe ihm nun nicht darum, den Entwurf, so wie er sei, zwingend umzusetzen. Was ihn jedoch störe, sei, dass er in den deutschen Medien überhaupt nicht angemessen diskutiert worden sei. Ein weiteres Problem des Sozialstaates sei, dass die Bürger mürrisch würden, wenn sie arbeiten und hohe Summen von Steuern und Beiträgen abführen müssten, während andere spazieren gingen, Sozialhilfe bezögen und mit Sozialhilfe und Schwarzarbeit mehr zum Leben hätten als die ordentlich arbeitenden Bürger. Gegen diesen Missstand müsse etwas unternommen werden. Er habe, als er noch amtierender Bundespräsident gewesen sei, mit den Caritas-Verbänden eine Auseinandersetzung gehabt, weil er gesagt habe, dass man etwas unternehmen müsse, wenn es sich angesichts der Sozialhilfe und der bestehenden Mindestlöhne nicht mehr lohne zu arbeiten. Man müsse entweder vom Staat etwas auf die Mindestlöhne draufsatteln oder die Sozialhilfe reduzieren. Auf diesen Vorschlag hin habe er von den Caritas-Verbänden einen empörten Brief bekommen mit dem Hinweis darauf, dass dann die allein erziehende Mutter mit sechs Kindern verhungern müsse. Dieses Argument sei jedoch nicht überzeugend, denn wenn die zweifellos existierenden Sozialhilfeempfänger, die sich vor der Arbeit drückten, nur deswegen nicht zur Rechenschaft gezogen werden dürften, weil die gleiche Vorschrift die allein erziehende Mutter mit sechs Kindern betreffe, müsse man eben zwei unterschiedliche Sozialhilfestränge einrichten: einen für die allein erziehenden Mütter und die Leute, die arbeiten könnten und hier keine Arbeit haben, und einen anderen für diejenigen, die arbeiten könnten, auch eine Arbeit bekämen, sie aber nicht annehmen. Diese Dinge müssten in Angriff genommen werden. Wenn das Sozialhilfesystem wirklich vollkommen neu wäre, könnte es in der Tat seine Klammerfunktion erfüllen, aber nicht so, wie es im Moment aussehe. Nach diesem engagierten Reformplädoyer dankte der Diskussionsleiter Herzog und schloss die Aussprache.
Renaissance des Gemeinwohls
Der Wandel des Gemeinwohlverständnisses in der Geschichte Von Stefan Fisch Meine Damen und Herren, ich möchte Sie zu Beginn meines Beitrags einladen, mit mir auf eine kurze Reise in ein fremdes Land zu gehen. Dieses Land ist uns nicht so ganz fern, denn die Hauptorte seiner Provinzen heißen Paris, Versailles, Vienna, Warsaw, Windsor, New London und New Madrid. Und der Wappenspruch dieses Landes lautet gut ciceronianisch: Salus populi suprema lex esto – Das Wohl des Volkes sei oberstes Gesetz. Sie ahnen alle, dass dieses Land aber nicht im „alten Europa“ liegt, sondern in der neuen Welt. Es ist der nordamerikanische Bundesstaat Missouri, der 1821 als 24. Staat in die Vereinigten Staaten von Amerika aufgenommen wurde. Diese neue Welt teilt mit uns in der alten Welt so manche normative Vorstellung, die bis auf antike Traditionen des Nachdenkens über das Zusammenleben der Menschen in einer Gemeinschaft zurückreicht. Salus populi suprema lex esto – Diese ciceronianische Formel1 hat ihre Ambiguitäten und kann uns gerade deshalb ein Stück begleiten auf dem heute notwendig kursorischen Weg durch die über zweieinhalbtausendjährige Geschichte der Gemeinwohlvorstellungen. Salus populi oder auch salus publica, das ist, auch wenn die Formel es ein wenig verschleiert, keine universale Normvorstellung wie etwa Friede oder Gerechtigkeit oder die Menschenrechte. Die Rede vom Gemeinwohl bezieht sich gerade nicht auf ein abstraktes und alle umfassendes „Menschenwohl“2, sondern vielmehr auf die Verhältnisse in einer konkreten Gemeinschaft – darauf wird zurückzukommen sein. . . . suprema lex esto, damit wird die Spannung zwischen Recht und Wirklichkeit, zwischen Norm und Realität bezeichnet. Es geht im Folgenden nicht nur um den Begriff des Gemeinwohls in verschiedenen Ausprägungen, nicht nur um seine Theorie; sondern auch um seine Verwendung in 1
Cicero, De leg. III 3, 8. Siehe zu diesem Begriff z. B. Meyers Großes Konversations-Lexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens, 20 Bde., 6. Aufl., Leipzig 1905–09, Bd. 7 s.v. „gemeinnützig“. 2
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konkreten geschichtlichen Konfliktlagen, also die alltägliche Realität. Aus dem Repertoire meines Fachs, der Geschichtswissenschaft, werde ich mich daher sowohl begriffsgeschichtlicher als auch realhistorischer Methoden bedienen. I. Zur Entstehung des Begriffs3 In der antiken Tradition Europas erscheinen Gemeinwohlvorstellungen zunächst als theoretische Überlegungen. In der demokratisch verfassten griechischen Polis wurde der Begriff des koinün agaqün von Philosophen geprägt, vor allem von Platon und Aristoteles, und als salus publica oder bonum commune bei den Römern von Cicero und Seneca aufgenommen. In der christlichen Tradition des Mittelalters wurden diese Gemeinwohlvorstellungen überhöht. Thomas von Aquin richtete das bonum commune auf ein universales höchstes Ziel aus, die Anschauung und Verehrung Gottes. Das relativierte die jeweils partikularistischen Gemeinwohlvorstellungen der politischen Gemeinschaften. Zugleich bezog Thomas von Aquin das bonum commune auf jeden Menschen in seiner Einzigartigkeit. Seinen letzten Sinn fand es in der Förderung des von Gott so geschaffenen einzelnen Menschen, damit er zur Anschauung Gottes komme. In der moderneren Sprache der Katholischen Soziallehre heißt das, dass auch ein am Gemeinwohl ausgerichteter Staat kein Wert an sich sei, sondern ein „Dienstwert“4, der auf das eigentliche Ziel des guten und gottgefälligen Lebens des einzelnen Menschen ausgerichtet ist.
3 Eine umfassende Begriffsgeschichte des Bedeutungsfeldes fehlt. Nur spärliche Hinweise findet man bei Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Kosselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, 7 Bde. und 2 Registerbde., Stuttgart 1972–1997; vgl. ersatzweise Jakob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, 33 Bde., Leipzig 1854–1961, Bd. 5 (1897), Sp. 3169–3220 s.v. „gemein“, bes. unter 3) a) e (gemeiner nutz/res publica) und Joachim Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, 12 Bde., Basel 1971 ff., Bd. 3, S. 248–258 s.v. „Gemeinwohl“; rein aufzählenddeskriptiv Peter Hibst, Utilitas publica – Gemeiner Nutz – Gemeinwohl. Untersuchungen zur Idee eines politischen Leitbegriffes von der Antike bis zum späten Mittelalter, Frankfurt 1991. 4 Diesen von Oswald von Nell-Breuning, S.J. geprägten Begriff übernimmt Walter Kerber, Gemeinwohl, in: Walter Kasper u. a. (Hrsg.), Lexikon für Theologie und Kirche, 10 Bde., 3. Aufl., 1993–2001, Bd. 4, S. 439.
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II. Die Realität der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Monarchie Als politische Struktur bestimmte nicht mehr die demokratische Polis, sondern die Monarchie das mittelalterliche und frühneuzeitliche Europa, auch wenn es einzelne Ausnahmen gab wie die Adelsrepublik Venedig, die bäuerlich-städtische Eidgenossenschaft oder die Republik der Niederlande. Sicherstellung des Schutzes nach außen und Wahrung des bestehenden alten Rechtes nach innen waren zunächst die Hauptaufgabe und die Hauptlegitimation des Herrschers über Land und Leute. Das Gemeinwohl zu fördern, das bonum commune, kam erst relativ spät hinzu, als nämlich im hohen Mittelalter die Antike, die aristotelischen Schriften und das Römische Recht wiederentdeckt wurden. In den Fürstenspiegeln als Lehrbücher für künftige Monarchen zeigt sich diese allmähliche Erweiterung des Tugendkatalogs. Die Verpflichtung auf das Gemeinwohl wurde etwa zu dem Zeitpunkt in das theoretische Bild des idealen Fürsten aufgenommen, als die Herrscher in der Praxis begannen, gesetzgeberisch tätig zu werden und alle ihre Untertanen bindende Anordnungen zu treffen. Dieses ordinare in bonum publicum durch herrscherliche Anweisungen zur Umsetzung des gemeinen Besten begann in Oberitalien, der Wiege der Wiederentdeckung des Römischen Rechts, um 1350 und erreichte um 1500 Mitteleuropa5. Den Beginn aktiver Gesetzgebung kennzeichnete auch die Übernahme und Erfüllung selbstgestellter Aufgaben durch die Fürsten, aus denen dann die Vielfalt der heutigen Staatsaufgaben erwuchs. Die Sorge für das Gemeinwohl wurde erst jetzt zum festen Topos des europäischen Herrscherbildes6. Das Gemeinwohl zu fördern, verschaffte dem Herrscher zugleich Legitimation und half ihm so bei der schleichenden Ausweitung seiner Dispositions- und damit Herrscherrechte. Als mein erstes Bildbeispiel möchte ich hier ein Emblem des 17. Jahrhunderts zum Ameisenhaufen anführen. Die Emblematik war eine gelehrte Methode der Visualisierung und Bedeutungsintensivierung im Zusammenspiel von Text und Bild. Die Erscheinungen im Makrokosmos der Natur wurden in Beziehung gesetzt zu dem Mikrokosmos des menschlichen Lebens. Die Ordnung und Einheit im wimmelnden 5 Thomas Simon, Gemeinwohltopik in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Politiktheorie, in: Herfried Münkler/Harald Bluhm (Hrsg.), Gemeinwohl und Gemeinsinn. Historische Semantiken politischer Leitbegriffe, Berlin 2001, S. 129–145, hier S. 131–132. 6 Peter Blickle, Der Gemeine Nutzen. Ein kommunaler Wert und seine politische Karriere, in: Herfried Münkler/Harald Bluhm (Hrsg.), Gemeinwohl, S. 85–107, hier S. 96 hält für das Mittelalter die geringe Bedeutung des Gemeinwohlbezugs fest; Simon, Gemeinwohltopik, S. 132 entnimmt seine Beispiele für das Gegenteil jedoch erst den Fürstenspiegeln des 16. und 17. Jahrhunderts.
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Quelle: Arthur Henkel/Albrecht Schöne: Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts. Ergänzte Neuausgabe. Sp. 931–932. © 1990 (erstmals 1967/1968) J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart
Ameisenhaufen (Mens omnibus una/Alle eines Sinnes) mahnt den Herrscher, dem Gemeinwohl zu nützen, und zwar in Eintracht mit seinen Untertanen7. Das Emblem stammt aus den Emblemata Politica des Jacobus Bruck von Angermunt von 1618; und es erstaunt wenig, dass dieses Buch dem damaligen Kaiser Maximilian II. gewidmet ist. Zwischenergebnis: In der christlich-theologischen Tradition des Mittelalters wurde das antike bonum commune auf die Gottesbindung des einzelnen Menschen ausgerichtet. Im Kontext der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Monarchie wurde es dann re-säkularisiert. Es wurde zur legitimierenden Norm für alle Veränderungen durch die Fürsten, als sie dem zeitlosen guten alten Recht von ihnen selbst gegebene Gesetze hinzufügten. Der Appell, das bonum commune zu beachten und zu fördern, konnte auch fürstenkritisch verstanden werden, er blieb aber weitgehend neutralisiert in dem alle Untertanen umfassende Bestreben nach concordia als Grundlage für die Legitimität monarchischer Herrschaft.
7 Jakob Bruck von Angermunt, Emblemata Politica, Argentinae 1618, Emblem Nr. 13, abgebildet bei Arthur Henkel/Albrecht Schöne (Hrsg.): Emblemata. Handbuch der Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts, Stuttgart 1967, ergänzte Neuausgabe 1990, Sp. 931–932.
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III. Protodemokratische kommunale Strukturen im späten Mittelalter und Früher Neuzeit Eine inhaltliche Konkretisierung von Gemeinwohlgedanken findet man in eher kleinräumigen gemeindlichen Strukturen Mitteleuropas ab der Mitte des 14. Jahrhunderts, freilich mit einer ganz spezifischen Begrifflichkeit. Um für den Gemeinen Mann, das waren Bauern und Bürger, handhabbar zu sein, musste das Konzept volkssprachlich ausgedrückt werden. So wurde der gemeine Nutz zu einem wichtigen Orientierungspunkt neuen politischen Denkens, ja zum „zentralen programmatischen Begriff des spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Staatsdenkens“8. Dies geschah durch eine Umkehrung feudal-lehnsrechtlicher Bindungen. Während im Lehnseid die adeligen Gefolgsleute ihrem Lehnsherrn versprachen, des Herrn N.N. Nutzen und Frommen zu fördern und seinen Schaden zu wenden, wurden in den jetzt entstehenden neuen Eidesformeln Nutzen und Schaden auf eine kommunal organisierte Gemeinschaft bezogen: die Stadt Basel etwa oder das sich selbst von unten organisierende und von den St. Galler Äbten emanzipierende Land Appenzell9. Aus dem Herrennutz wurde in diesen kommunalen Verfassungsstrukturen der gemeine Nutz10. Beispiele für ähnliche Vorgänge findet man auch in Tirol, Frankreich und England, auch hier in städtischen und ländlichen Gemeinden, nicht aber in den Strukturen monarchischer Art im engeren Sinne. Allgemeiner gesagt, setzte damals in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts eine Welle kommunaler Selbstorganisation von unten ein, die knapp zwei Jahrhunderte später im deutschen Bauernkrieg von 1525 herausragende geschichtliche Bedeutung erhielt11 – das große Thema meines Berner Kollegen Peter Blickle. Durch Schwur geeint und gemeinsam politisch handelnd, verwarfen die Bauern und überhaupt der gemeine Mann damals die Abgabenwillkür des Adels und der vor-reformatorischen Kirche. Politisch verlangte der gemeine Mann eine am gemeinen Nutzen ausgerichtete Herrschaft, theologisch baute er auf das reine und unverfälschte Evangelium, wie es Luther und seine Anhänger predigten. Ungefähr zu dieser Zeit wurde der gemeine Nutzen hoffähig. Der erste Kaiser des Heiligen Römi8
Winfried Schulze, Vom Gemeinnutz zum Eigennutz. Über den Normenwandel in der ständischen Gesellschaft der Frühen Neuzeit, in: Historische Zeitschrift 243 (1986), S. 591–626, hier S. 597. 9 Blickle, Der Gemeine Nutzen, S. 86–91; ders., Kommunalismus, Parlamentarismus, Republikanismus, in: Historische Zeitschrift 242 (1986), S. 529–556, hier S. 540–544. 10 Vgl. Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 5, Leipzig 1897, Sp. 3176–3177 unter 3) a) e (gemeiner nutz/res publica) und 3) b) g (gemein gut/res publica). 11 Vgl. Peter Blickle, Die Revolution von 1525, München 1975.
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schen Reiches, dem seine kurfürstlichen Wähler eine Wahlkapitulation auferlegten, war Karl V. im Jahre 1519. Diese verfassungsartige Urkunde verpflichtete den neuen Kaiser auch auf den gemeinen Nutzen12. Die politische Formel des gemeinen Nutzens wurde also in ganz anderen politischen Kontexten gebraucht als die vom bonum commune, nicht in monarchischen, sondern in proto-demokratischen und in oligarchischen (bei den Kurfürsten als Kaiser-Wählern). Die Rede vom gemeinen Nutzen formulierte einen konsensualen Auftrag der Gemeinschaft an ihre Beauftragten, seien es Herrscher oder Amtsträger, und gab zugleich einen Maßstab für deren Verantwortlichkeit. Dieser Konsens war, so essentiell er für das Funktionieren dieser politischen Ordnungen war, doch immer widerspruchsgefährdet. Deshalb war auch und gerade in den frühneuzeitlichen Republiken die stetige Beschwörung der concordia nötig, der Göttin der antiken römischen Republik. Die Eintracht war permanent gefährdet durch unterschiedliche Zielvorstellungen, jedoch nicht so erzwingbar wie in den Monarchien, denen die Strafnorm der Majestätsbeleidigung zur Verfügung stand. Concordia wurde zum Bildthema der Rathäuser deutscher Städte, in Nürnberg etwa oder in Leipzig, und ihre Darstellung beherrschte auch den Sitzungssaal der niederländischen Generalstaaten in Den Haag13. In diesem stärker diskursiven politischen Kontext von Oligarchie und Protodemokratie konnte der Gedanke entstehen, das Konzept des Gemeinwohls ideologiekritisch zu betrachten. Es gab durchaus Fälle, in denen andere einen allgemeinen Nutzen nur vortäuschten, um in Wirklichkeit eigennützige Ziele zu verfolgen. Implizit legte schon Thukydides diese Folgerung nahe, wenn er in seinem „Peloponnesischen Krieg“ die Redner in der innerlich gespaltenen Polis von Kerkyra, ob sie nun für Sparta oder für Athen eintraten, in gleicher Weise auf den Begriff des allgemeinen Wohls zurückkommen ließ14. Für die Frühe Neuzeit möchte ich die Entwicklung solcher kritischer Positionen an meinem zweiten Bildbeispiel illustrieren. Es gibt in der Emblematik eine Darstellung vom Krokodil und der in Symbiose mit ihm leben12 Vorrede zur Wahlkapitulation Karls V. vom 3.7.1519, Abdruck bei Wolfgang Lautemann/Manfred Schlenke (Hrsg.), Geschichte in Quellen, Bd. 3: Renaissance, Glaubenskämpfe, Absolutismus, München 1976, S. 108–112, hier S. 109. 13 Thomas Fröschl, Rathäuser und Regierungspaläste. Die Architektur als Hauptinstrument republikanischer Selbstdarstellung in Europa und Nordamerika vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, in: Dario Gamboni/Georg Germann, (Hrsg.), Zeichen der Freiheit. Das Bild der Republik in der Kunst des 16. bis 20. Jahrhunderts, Ausstellungskatalog Bern 1991, S. 11–28, hier S. 20–21. 14 Guido A. Kirner, Polis und Gemeinwohl. Zum Gemeinwohlbegriff in Athen vom 6. bis 4. Jahrhundert v. Chr., in: Herfried Münkler/Harald Bluhm (Hrsg.), Gemeinwohl, S. 31–63, hier S. 44–45.
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Quelle: Arthur Henkel/Albrecht Schöne: Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts. Ergänzte Neuausgabe. Sp. 671. © 1990 (erstmals 1967/1968) J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart
den Vogelart des Krokodilwächters. Die weise Natur, dies ist die klassische Botschaft dieses Emblems, rächt die Undankbarkeit des Krokodils, das den Vogel frisst, der ihm Gutes tut und die Zähne säubert. Der verschlungene Vogel reißt nämlich dem Krokodil so lange seine Eingeweide von innen auf, bis es ihn wieder ausspuckt15. Dasselbe Bild vom Vogel, der im offenen Rachen des Krokodils ungefährdet seine Nahrung findet, kann jedoch auch ganz anders gedeutet werden, nämlich so: jemand gibt Öffentliches, allen Nützliches nur vor, verfolgt in Wahrheit aber Privates, Egoistisches16. Die unpolitische erste Deutung (Undankbarkeit wird bestraft) stammt vom Botschafter des spanischen Königs am Hofe Kaiser Rudolfs II. in Prag. Die ideologiekritische zweite Deutung (die Behauptung öffentlichen Nutzens kann ein Vorwand sein) stammt von Jacob Cats. Er war Syndikus der Stadt Middelburg in der Provinz Zeeland, damals einer der bedeutendsten niederländischen Städte, und stieg später bis zum Ratspensionär, dem führenden Minister der niederländischen Republik, auf. Zwischenergebnis: Der gemeine Nutzen erwuchs zur Norm in solchen politischen Gemeinschaften des alten Europa, die sich selbst auf einer Basis relativer Gleichheit und relativ offener Diskussion organisierten. Unter die15 Juan de Boria, Empresas Morales a la S.C.R.M. del Rey Don Phelipe, Nuestro Señor, Praga 1581, Emblem 83, abgebildet bei Henkel/Schöne (Hrsg.), Emblemata, Sp. 671. 16 Jacob Cats, Proteus ofte Minne-beelden verandert in Sinne-beelden, Rotterdam 1627, Emblem Nr. 34, 2, ohne Bild bei Henkel/Schöne (Hrsg.), Emblemata, Sp. 672.
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sen Umständen konnte die Berufung anderer auf das Gemeinwohl kritisch gesehen werden, als Verschleierung eigener Interessen. Die Pluralität von legitimen Auffassungen war jedoch noch nicht anerkannt. Concordia war zwar schwerer zu erreichen als in den Monarchien, war aber auch in den Oligarchien und Proto-Demokratien entscheidende politische Tugend. Das Schicksal der weltanschaulichen Minderheiten dieser Zeit zeigt diese NichtAnerkennung von Pluralität ganz deutlich, von den Hugenotten im Königreich Frankreich bis zu den Katholiken in der Republik der Niederlande. IV. Die Staatsraison der absolutistischen Monarchie Wurde die Sorge für das Gemeinwohl im späten Mittelalter unter die Tugenden der Monarchen aufgenommen, als sie begannen, durch ihre Gesetzgebung das gute alte Recht zu ändern, so wurde der Begriff in der Frühen Neuzeit zunehmend gefährlich. In den nicht-monarchisch verfassten Ländern Europas war der gemeine Nutzen ein Thema relativ offener Diskussion gewordenen und in den monarchischen konnte das bonum commune Anlass zu unerwünschter Fürstenkritik geben. Die Intensivierung monarchischer Vollmachten vollzog sich so als planmäßiger Ausbau von Herrschaftsrechten ohne einen Rückgriff auf diese Formen der Gemeinwohl-Begrifflichkeit. Sie steigerte sich zum reinen Absolutismus des 17. Jahrhunderts und zu seiner aufgeklärten Variante im 18. Jahrhundert. Die Person des Fürsten als rechtswahrender Mittler zwischen seinen Untertanen trat zurück und die Funktionen des Monarchen für den modernen Staat rückten in den Vordergrund: Die Aufgabe des Fürsten wurde entsakralisiert zu einem Amt, die staatlichen Apparate in stehendem Heer und sitzender Bürokratie wuchsen und der Aufbau des Gewaltmonopols schritt voran. Zur neuen Legitimationsformel wurde die von Giovanni Botero 1589 formulierte ragione di stato, die Staatsraison. Sie postulierte die Intensivierung von Staatlichkeit unabhängig von einem übergeordneten Gemeinwohl als einen Selbstzweck. So stand sie auch über aller Kritik durch die Untertanen. In diesem geschichtlichen Umfeld verband sich mit der Staatsraison die verkappte Auffassung Machiavellis von der necessitas als alles andere übersteigender Notwendigkeit und als Berechtigung, Ausnahmemaßnahmen gegen alles geltende Recht zu ergreifen. Thema der „normalen“ alltäglichen absolutistischen Politik und Verwaltung wurde in der Sprache der Zeit die gute policey. Das war die gute, auf das Wohl aller Untertanen bedachte Einrichtung der staatlichen Verhältnisse. Aus diesem allein von oben bestimmten Staatsziel ergaben sich in höchst autoritärer Weise die stetig wachsenden Staatsaufgaben, darunter ein Kern moderner Leistungsverwaltung. Der Sorge der Obrigkeit für die Wohl-
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fahrt und später sogar dem Glück der Untertanen entsprach eine Pflicht der Untertanen zum Gehorsam – und die gute policey schlug um in den alles erstickenden „Polizeistaat“17. Zwischenergebnis: Der monarchische Absolutismus griff in der Alltagspraxis seines Handelns nach der Staatsraison inhaltliche Aspekte der durch den Gemeinen Mann als gemeiner Nutzen bezeichneten Gemeinwohlvorstellungen auf. Er bestimmte sie jedoch rein obrigkeitlich. Damit umging er es, auch die Verfahrensseite kommunaler Selbstbestimmung durch Diskussion und Mehrheitsentscheidung zu übernehmen18. V. Vom Wohlfahrtsausschuss zu nationalsozialistischen Gemeinwohlformeln Das Comité du Salut Public der revolutionären Französischen Republik ist bei uns in Deutschland besser bekannt unter dem Namen des Wohlfahrtsausschusses. Eigentlich im Namen des Gemeinwohls verbreiteten Robespierre und andere im Wohlfahrtsausschuss den „großen Schrecken“ eines tendenziell unbegrenzten Terrors gegen die Feinde des Volkes und seiner Revolution. Von dem absolut herrschenden Comité du Salut Public gingen in den wenigen Monaten seiner Diktatur im Jahre 1793 und 1794 u. a. etwa 16.600 Todesurteile ohne jedes geordnete Verfahren aus. Jean Paul Marat legitimierte das, indem er davon sprach, „vorübergehend die Despotie der Freiheit zu errichten, um die Despotie der Könige zu zerschlagen“19. In der Tat wurde damals der absolutistisch-obrigkeitsstaatliche Anspruch, über das Gemeinwohl zu bestimmen, unverändert ins radikal Demokratische gewendet. Die necessitas wurde intensiv zur Rechtfertigung bemüht, indem die Ausnahmesituation der Bedrohung der Republik von außen und von innen beschworen wurde. Wer anderer Auffassung war, wurde verfolgt. Pluralität gab es nicht. „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“ – im Dritten Reich bestimmte diese Forderung aus dem unveränderlichen Parteiprogramm der NSDAP vom 24.2.1920 als Auslegungsprinzip in weitem Umfang die Rechtsanwendung. Die nationalsozialistische Ideologie wirkte als „Konstitutionsprinzip einer ungeschriebenen Verfassung“20: In der Art von „Kuckuckseiern“ dienten 17 Hans Maier, Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre, 2. Aufl., München 1980, S. 73 und 159–163. 18 Vgl. Peter Blickle, Gemeindereformation. Die Menschen des 16. Jahrhunderts auf dem Weg zum Heil, München 1985, S. 200. 19 Denis Richet, Wohlfahrtsausschuss, in: François Furet/Mona Ozouf, Kritisches Wörterbuch der Französischen Revolution, Bd. II: Institutionen und Neuerungen, Ideen, Deutungen und Darstellungen, Frankfurt 1996, S. 936–943, hier S. 939.
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immer neue Generalklauseln mit Gemeinwohlformeln als politische Waffe gegen ideologisch unerwünschtes, aus der Vergangenheit überkommenes Gesetzesrecht21 und gegen alle anders Denkenden, die daran noch festhalten wollten. In beiden Fällen knüpften die Machthaber mit ihrem Verständnis von salut public und „Gemeinwohl“ an die Tradition absolutistischer Staatsraison der Fürsten an. Sie nahmen vorweg, was aus ihrer Sicht das Volk bei optimaler Einsicht in seine Lage und seine Bedürfnisse hätte wollen sollen, anstatt das Volk selbständig seinen Willen bilden zu lassen. Die Machthaber gaben vor, dass der „wahre“ Wille des Volkes durch ihre ideologischen Prinzipien ausgedrückt werde. In solchen Gemeinwohlvorstellungen zeigt sich ein substanzialistisches Verständnis des Begriffs in reiner Form. Zwischenergebnis: Ein substanzialistisches Gemeinwohlverständnis ist ein Vorverständnis bestimmter Art. Damit korrespondierte schon immer die Abwertung von abweichenden Meinungen und von Minderheitenpositionen – das war das unschöne andere Gesicht der mittelalterlich-frühneuzeitlichen Tugend der concordia im Gemeinwesen. Die Diktaturen der Moderne haben diese Abwertung bis zur physischen Vernichtung getrieben. VI. Verfahrensorientiertes Gemeinwohlverständnis Die Alternative dazu war und ist ein verfahrensbezogenes Verständnis von Gemeinwohl. Danach ist das Gemeinwohl stets neu zu finden, gerade unter den Rahmenbedingungen moderner, differenzierter und pluralistischer Gesellschaften. Dies geschieht durch einen Prozess umfassenden Ausgleichs zwischen den verschiedenen organisierten Interessen. Geleitet durch Diskussion, Abwägung und Entscheidung entsteht das, was Ernst Fraenkel in seiner Pluralismustheorie „reflektierten consensus“ nannte22. Dieses Verfahren ist am effizientesten zu gestalten unter den Bedingungen repräsentativer Demokratie. Damit steht dieses verfahrensorientierte Gemeinwohlverständnis der Tradition protodemokratischer Strukturen im Kommunalismus der Bauern und Bürger näher als der anderen Traditionslinie, dem autokratischen Vorwissen des Herrschers über das, was allen nützt, ob das nun im Absolutismus der 20 Michael Stolleis, Gemeinwohlformeln im nationalsozialistischen Recht, Berlin 1974, S. 93. 21 Bernd Rüthers, Entartetes Recht. Rechtslehren und Kronjuristen im Dritten Reich, München 1988, S. 182–183. 22 Ernst Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, in: Ernst Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, Frankfurt 1991, S. 48–67, hier S. 60.
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Monarch oder in seiner aufgeklärten Variante die gebildete Beamtenschaft war. Im Unterschied zu diesen beiden spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Gemeinwohlvorstellungen wird jedoch in der Moderne der Gegenbegriff dazu, der Eigennutz, anders bewertet. Eigennutz und allgemeiner gefasst partikulare Interessen sind nichts Schlechtes mehr; sie werden nicht mehr denunziert als avaritia, als Gier nach Geld, Macht und anderen Ressourcen. Seit Adam Smith erscheint die freie Verfolgung wirtschaftlicher Interessen vielmehr dank des Wirkens der invisible hand als die Grundlage, auf der das für alle beste wirtschaftliche Ergebnis sich im Prinzip von alleine einstellt. Ein Problem bleibt bei einem solchen verfahrensorientierten Gemeinwohlverständnis offen: Es bedarf eines Kerns an gemeinsam anerkannten Wertvorstellungen. Eben diese gemeinsame Basis ist nötig, um auf ihr eine kontroverse, von den einzelnen Interessen geleitete Diskussion über die konkreten Ziele des Staates zu ermöglichen. So weit war auch die Neue Welt noch nicht, als der Staat mit dem alteuropäischen Wahlspruch Salus populi suprema lex esto – Das Wohl des Volkes sei oberstes Gesetz 1821 in die Vereinigten Staaten von Amerika aufgenommen wurde. Missouri war ein Staat, in dem die Sklaverei herrschte und schwarze Menschen als Sache und als freies Eigentum betrachtet wurden. Erst der zweifache Missouri Compromise führte nach vier Jahren des Aushandelns die Zustimmung der Abgeordneten aus den Nordstaaten herbei. Als dieser Kompromiss vom Supreme Court 1857 zugunsten der Sklaverei in Frage gestellt wurde, entwickelte sich daraus der Bürgerkrieg. Grundwerte als gemeinsame Voraussetzungen eines Gemeinwesens sind jedoch ein anderes Thema. Ein inhaltlich gefüllter Gemeinwohlbegriff kann heute nicht mehr dazu gerechnet werden. Das Gemeinwohl anzustreben, ist vielmehr eine regulative Idee. Es wird ausgehandelt im Rahmen von gemeinsamen Werten und Institutionen einerseits und unter Rücksicht auf die partikularen Interessen andererseits. Mit Ernst Fraenkels Worten ist Gemeinwohl konkret ein Resultat, nämlich die „Resultante [. . .] aus dem Parallelogramm der ökonomischen, sozialen, politischen und ideologischen Kräfte einer Nation“, wenn ein gerechter Ausgleich zwischen ihnen angestrebt wird23.
23 Ernst Fraenkel, Historische Vorbelastungen des deutschen Parlamentarismus, in: Fraenkel, Deutschland, S. 23–47, hier S. 34.
Bericht über die Diskussion zum Vortrag von Stefan Fisch Diskussionsleitung: Heinrich Siedentopf Von Monika John-Koch In der sich diesem „Parforce-Ritt durch die Jahrhunderte unter dem Stichwort des Gemeinwohlverständnisses“ (Siedentopf) anschließenden Diskussion schwang implizit zwar auch die Frage nach der Unterscheidung zwischen dem Gemeinwohl als solchem und Gemeinwohl als Summe von Einzelinteressen mit. Im Mittelpunkt stand jedoch die Auseinandersetzung um die Verortung von Gemeinwohl als Ergebnis prozeduraler Entwicklungslinien oder die Akzentuierung eines mehr material geprägten Gemeinwohlverständnisses. I. Auf dem Weg zu einer Re-Materialisierung des Gemeinwohlverständnisses So setzte sich Dr. Michael Anderheiden, Heidelberg, von einem prozeduralen Gemeinwohlverständnis ab und rekurrierte auf eine „behutsame ReMaterialisierung“. Da es unter den Bedingungen einer pluralistischen Gesellschaft nicht möglich sei, Einzelinteressen ausschließlich durch demokratische Verfahren zu einem Gemeininteresse zu verknüpfen – wie es im übrigen für die Ökonomie Kenneth J. Arrow anschaulich gezeigt habe1 –, könnten demokratische Verfahren letztlich nur ein Behelfsmittel sein. Mit nachdrücklichem Bezug auf Ernst Fraenkel 2 habe sich Fisch letztlich für jene Form des Konsenses entschieden, die nicht in einer – punktuellen – demokratischen Abstimmung liege, sondern sich über längere Zeit entwickele. Diese Einigung über bestimmte materiale Bedingungen des gemeinen 1 Kenneth Arrow, Social Choice and Individual Values, New York 1951; zur prozeduralen Bestimmung pluraler Gemeinwohlbelange vgl. aus neuerer Zeit Karsten Fischer, Das öffentliche Interesse am Privatinteresse und die „ausgefranste Gemeinnützigkeit“, in: Gunnar Folke Schuppert/Friedhelm Neidhardt (Hrsg.), Gemeinwohl – Auf der Suche nach Substanz. WZB-Jahrbuch 2002, Berlin 2002, S. 65 ff. (78 ff.). 2 Deutschland und die westlichen Demokratien, 5. Aufl., Stuttgart 1973.
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Wohls spiegele auch das Grundgesetz wider, Anderheiden nannte in diesem Zusammenhang die Ziele des Umweltschutzes, der Vollbeschäftigung, stabiler Haushalte und stabiler Währungen sowie der inneren und äußeren Sicherheit, auf die man sich verfassungsrechtlich geeinigt habe und die außerverfassungsrechtlich bestätigt würden. Wolle man zudem eine Überfrachtung des Grundgesetzes vermeiden und auf eine Aufzählung einzelner materialer Gemeinwohlaspekte verzichten, müsse sich die Verfassung auf ein generalisierendes Gemeinwohlkonzept stützen. Damit eröffne sich aber nach Ansicht von Anderheiden die Möglichkeit, sowohl diskursiven als auch materialen Aspekten Raum zu geben – und letztlich das von Fisch zugunsten eines „protodemokratischen“ Ansatzes weitgehend ausgesparte republikanische Gemeinwohlkonzept zu betonen. II. Vom Aushandeln des Gemeinsinns In einem Punkt stimmte Fisch den Ausführungen von Anderheiden vorbehaltlos zu: der temporalen Ausweitung der Gemeinwohlbestimmung jenseits einer ausschließlich punktuellen Abstimmung. Trotz gewisser struktureller Nachteile gegenüber anderen Systemen, die insbesondere in der Dauer der Entscheidungsfindung lägen, halte auch er Aushandlungs- und Diskussionsprozesse für das ausschlaggebende Moment. Hinsichtlich der materialen Einigung auf Staatsziele und verfassungsrechtliche Vorstellungen als mögliches Gemeinwohlkonzept sei jedoch Zurückhaltung angebracht, da ein Rekurs auf diese Prinzipien in Situationen konkreter Aushandlungsprozesse wie z. B. die Entscheidung für oder gegen den Ausbau einer Straße nur wenig zielführend sei. Fisch hielt des weiteren an der Differenzierung zwischen der von ihm als protodemokratisch bezeichneten Vorstellung von Gemeinsinn und dem von Anderheiden präferierten republikanischen Gemeinwohlkonzept fest. Intention dieser „Reduzierung des Republikanischen“ sei gewesen, die venezianische Republik um 1400 von der bundesrepublikanischen oder französischen Republik abzugrenzen; diese Abgrenzung habe mit dem Begriff des Protodemokratischen, der vor allem den stark oligarchischen Verfassungscharakter betone, verdeutlicht werden sollen. Wie Anderheiden wandte sich auch Prof. Dr. Winfried Brugger, Heidelberg, gegen die Reduzierung auf einen prozeduralen Gemeinwohlbegriff und verband dies mit dem Hinweis, dass sich eine Minderheit nur deshalb dem Mehrheitswillen unterwerfe, weil ein Konsens über bestimmte materiale Voraussetzungen, insbesondere über Umfang und Grenzen der Staatsgewalt bestehe. Statt einem reinen Prozeduralismus das Wort zu reden, bedürfe es eines geregelten Zusammenspiels von „Prozedere und Substanz“.
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Um dieses Zusammenspiel auszuloten, nahm Brugger zunächst das Gemeinwohlverständnis von Hans Ryffel3 zu Hilfe, dem zufolge sich Gemeinwohl und Gerechtigkeit durch etwas Vorgegebenes – die Substanz – und etwas Aufgegebenes als notwendiger Auftrag zur Konkretisierung der Substanz charakterisieren ließen. In ähnliche Richtung weise auch das John Rawls und Ronald Dworkin4 zuzuordnende Begriffspaar der conceptions und intuitions: Obwohl conceptions wie Gemeinwohl oder Gerechtigkeit einen allgemein anerkannten Rahmen darstellten, bestünden in ihrer Ausdeutung durchaus Differenzen. Sofern intuitions als Einzelfälle in den Kontext der conceptions eingeordnet werden könnten, sei die Ausdeutung unproblematisch, andernfalls müsse die erforderliche Konkretisierung durch die Politik oder die verschiedenen wissenschaftlichen bzw. philosophischen Systeme im Sinne der Ryffel’schen Definition des Aufgegebenen vorgenommen werden. Trotz dieser Gemengelage von Prozedere und Substanz halte er den Gemeinwohlbegriff – und das Mehrheitsprinzip – für durchaus funktionsfähig, solange sich eine Gesellschaft hinsichtlich der conceptions, der Substanz, einig sei. III. Concordia und Discordia Schließlich stellte Brugger dem von Fisch verwendeten Begriff der concordia die discordia gegenüber und mahnte angesichts der Verabsolutierung von concordia in der Französischen Revolution und in extremer Form während der nationalsozialistischen Herrschaft einerseits, andererseits angesichts der Gefahr zu starker Zentrifugalkräfte, die in ihrer Konsequenz zu discordia führten, ein ausgewogenes Verhältnis beider Pole an. Beispielhaft verwies er auf die u. a. von John Rawls5 getroffene Unterscheidung zwischen öffentlichen Gütern (primary goods), die insoweit dem Gemeinwohlbegriff zuzuordnen seien und sich durch concordia charakterisieren ließen, und individual goods als spezifischem Ausdruck eines individuellen Lebensentwurfs und Lebensstils, innerhalb derer durchaus auch discordia herrschen könne. In ähnlicher Weise hätten bereits die Federalist Papers zwischen kurzfristigen, mittelfristigen und langfristigen Interessen unterschieden, die von der Politik in Einklang zu bringen seien. Dieser unterschiedliche Zeithorizont spiegele sich z. B. in den Amtszeiten des Repräsen3
Grundprobleme der Rechts- und Staatsphilosophie, Neuwied/Berlin 1969. John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 1991, S. 34 ff., 74 ff. (engl. Ausgabe: A Theory of Justice, Oxford 1971); Ronald Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, Frankfurt a. M. 1984, S. 252 ff. (engl. Ausgabe: Taking Rights seriously, Harvard 1978). 5 Rawls (Fn. 4), S. 557 ff. 4
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tantenhauses (zwei Jahre für kurzfristige Interessen), des Senates (sechs Jahre für mittelfristige Interessen) und des Supreme Court (Richter mit einer lebenslangen Amtszeit für die allgemeinen Menschheitsinteressen) wider. All dies seien Beispiele dafür, dass sich das Gemeinwohl nicht nur in prozeduralen Prozessen entwickele, sondern auch materiale Aspekte von Bedeutung seien. Fisch bezweifelte, dass die Minderheit ihren Minoritätenstatus tatsächlich akzeptiere, vielmehr sei dieser, wie ja auch Brugger feststellte, nur deshalb zu ertragen, weil sich die Minderheit auf die Funktionsfähigkeit des institutionellen Regelwerkes verlassen könne. Doch auch hinsichtlich der Funktionsfähigkeit spielten prozedurale Aspekte eine zentrale Rolle, da sich das Gemeinwohl als verfahrensmäßiges Ergebnis aus dem Parallelogramm der Kräfte ergebe und Bedingungen für einen gerechten Ausgleich schaffe. Der materiale Aspekt des Gemeinwohls beziehe sich seiner Ansicht nach auf die Anforderungen an das Verfahren, nicht jedoch auf das Verfahrensergebnis. Der von Brugger in diesem Kontext übernommene Begriff der discordia, der das concordia-Modell auf moderne pluralistische Gesellschaften übertrage, verdeutliche die Unterscheidung zwischen vormodernen und modernen Gesellschaften: Moderne Gesellschaften zeichneten sich durch die Existenz von discordia und die Frage nach dem Umgang mit discordia aus. Als mögliche Wege zur Lösung des letztgenannten Problems verwies Fisch zum einen auf die bereits erwähnten Extrempositionen im Umgang mit discordia, auf den Wohlfahrtsausschuss in der Französischen Revolution (Comité du salut public), aber auch auf Gemeinwohlformeln im nationalsozialistischen Recht; zum anderen könne durch eine Institutionalisierung von discordia diese beherrscht und durch eine Einigung auf gerechte Verfahren ein Ausgleich geschaffen werden – hier habe sich das Konzept von John Rawls zweifellos als Meilenstein erwiesen. IV. Gesellschaftliches Engagement für Gemeinwohlbelange Dr. Stephan Kirste, Heidelberg, vermisste in dem „sehr facettenreichen Vortrag“ von Fisch allerdings detailliertere Ausführungen zu dem Zeitraum zwischen den Extrempositionen des französischen Wohlfahrtsausschusses und der Herrschaft der NSDAP. Er regte an, diesen zeitlichen Rahmen mit einer gemäßigten Gemeinwohlperspektive zu füllen, die seiner Ansicht nach etwas zu kurz gekommen sei und die sich ihrerseits zwischen den Polen eines materialen, vom Staat zu unrecht verwalteten Gemeinwohls und einer aus Einzelinteressen akkumulierten Gemeinwohlperspektive bewege. Beispielsweise verwies Kirste auf die Gründung zahlreicher Gesellschaften und
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Vereinigungen bereits im 18. Jahrhundert wie etwa die Lesegesellschaften, die sich – zunächst verhalten – für Gemeinwohlbelange einsetzten. Das Gemeinwohlverständnis dieser Gesellschaften beruhte dabei weniger auf der pragmatischen Aggregation von Einzelinteressen, vielmehr sei hier ein bewusster Bezug auf das Wohl zum allgemeinen Besten angeklungen, auch wenn dies in jener durch ein staatliches Gemeinwohl-Monopol gekennzeichneten Ära öffentlich nur schwer möglich gewesen und es im weiteren Verlauf zudem zu durchaus problematischen Konstellationen der Interessenverbände gekommen sei. Kirste sprach sich dafür aus, diese Perspektive stärker zu berücksichtigen, da sie auch für den Selbstverwaltungsgedanken und das Vertrauen, das Freiherr vom Stein Anfang des 19. Jahrhunderts in die Gemeinwohlhervorbringung durch gesellschaftliche Kräfte gelegt habe und worauf seine Konzeption gründe, eine wesentliche Rolle gespielt habe. Fisch bestätigte die Bedeutung dieser Gesellschaften, die sich als private Initiativen für das Gute und Gemeinnützige engagierten und in der kommunalen Tradition z. B. im eidgenössischen Bereich auch heute noch fortbestünden. Er wies aber darauf hin, dass es sich hierbei gerade nicht um staatliche Tätigkeit im engeren Sinne handele, sondern eben um private Gemeinwohlverwirklichung, die auf der anderen Seite des Pols „Gemeinsinn“ anzusiedeln sei und im hiesigem Zusammenhang ausgeklammert werden könne. Doch sei diesen Gesellschaften eine besondere Bedeutung nicht abzusprechen, da ihre Mitglieder von sich aus den Anspruch erhoben, über das Gute und Gemeinnützige nachzudenken und gemeinwohlfördernd zu wirken. Mit solcher Zurückdrängung des staatlichen Gemeinwohlmonopols seien die Gesellschaften in den großen Kontext der Mobilisierung des späten 18., frühen 19. Jahrhunderts einzuordnen, der Forderung nach Partizipation und Teilhabe, die letztlich überall in Europa zu entsprechenden Verfassungsänderungen geführt habe. Mit Blick auf die Gemeinwohlentwicklung im Mittelalter ging Ferdinand Krause, Bonn, historisch noch einen weiteren Schritt zurück. In seinem Vortrag habe Fisch die in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts entstehenden kommunalen Gemeinwesen erwähnt, die dem Prinzip des „gemeinen Nutzens“ folgten und sich insoweit von einem autoritativ bestimmten Gemeinwohlinhalt, von dem das Feudalsystem beherrschenden „Fürstennutz“ abgrenzen ließen6. 6 Siehe hierzu auch Peter Blickle, Kommunalismus – Skizzen einer gesellschaftlichen Organisationsform. Bd. 1: Oberdeutschland, München 2000, S. 87 ff.; ders., Der Gemeine Nutzen. Ein kommunaler Wert und seine politische Karriere, in: Herfried Münkler/Harald Bluhm (Hrsg.), Gemeinwohl und Gemeinsinn. Bd. 1: Historische Semantiken politischer Leitbegriffe, Berlin 2001, S. 85 ff.
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Dies bedeute aber letztlich, dass diese Gemeinwesen sehr stark egalitär geprägt gewesen sein müssten und man sich von der Vorstellung habe leiten lassen, dass der Nutzen für die Gemeinschaft dem Vorteil des Einzelnen entsprochen habe. Als problematisch habe sich die Verfolgung eines einheitlichen Gemeinnutzes jedoch erwiesen, wenn sich die kommunale Gemeinschaft auszudifferenzieren beginne und ihre Mitglieder oder einzelne Gruppen unterschiedliche Interessen verfolgten. Spätestens dann bedürfe es einer Neudefinition des gemeinschaftlichen Nutzens dahingehend, das Gemeinwesen als eigene Entität, letztlich also den Staat und das Gemeinwohl, abzusetzen von ihren Mitgliedern und deren Interessen. Fraglich sei, ob man diese Ausdifferenzierung und Interessendivergenz einerseits und die Herausbildung eines universellen Gemeinwesens andererseits als Entwicklungsprozess auch historisch nachweisen bzw. zeitlich eingrenzen könne. Diese prozessuale Komponente einer Abgrenzung von Individualinteressen und Gemeinsinn spiegelt sich nach Ansicht von Fisch insbesondere bei der coniuratio wider: Die im Rahmen einer Zeremonie abgelegte gegenseitige Verpflichtung, das Gemeinwesen zu fördern und seinen Nutzen zu mehren, lasse sich durchaus als Schritt von der Individualisierung zur Bildung eines Gemeinwesens interpretieren7. Mit einer coniuratio oder Eidesleistung hätten sich z. B. 1525 die in einzelnen Haufen zusammengeschlossenen Bauern aneinander gebunden; auch haben sich schon deutlich institutionalisierte und traditionsreichere Formen herausgebildet und z. T. bis heute erhalten, man denke nur an die sogenannten Schwörtage, anlässlich derer in deutschen Reichsstädten oder Gemeinden der schweizerischen Eidgenossenschaft der Bürgereid jährlich erneuert und die Gemeinschaft durch den Konvent der sie konstituierenden Mitglieder gefestigt worden sei. Bei der von Krause angesprochenen Interessenvielfalt hingegen handele es sich trotz bereits vorliegender Ergebnisse, insbesondere von Peter Blickle, letztlich noch um ein Forschungsdesiderat. Zwar seien etwa die Eidestexte der Bauern von 1525 bekannt, nicht hingegen die Verfahren der Einigung auf diese Eide, da es sich um mündlich vereinbarte Ziele gehandelt habe. Während sich in Ad-Hoc-Gründungen etwa der Bauern dieser für die moderne Pluralismustheorie wichtige Verfahrensaspekt in Ermangelung von Protokollen oder sonstigen schriftlichen Aussagen kaum nachweisen lasse, sei dies in verfestigten, insbesondere kommunalen Strukturen leichter: Auf der Suche nach Interessenvielfalt müsse man hier von einem eindeutig negativen Befund ausgehen; concordia als essentielles Merkmal dieser Gemeinschaften habe vor allem das ideologische Fundament, die Konfession, geprägt, eine Missachtung dieser concordia sei sogar mit der 7 Zur coniuratio auch Peter Blickle, Kommunalismus – Skizzen einer gesellschaftlichen Organisationsform. Bd. 2: Europa, München 2000, S. 150 ff.
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Ausweisung aus der Gemeinschaft, wenn nicht mit schärferer Verfolgung verbunden gewesen. Pointiert hielt Fisch fest, dass erst die modernen Kommunen ab 1750/1800, nicht hingegen die vormodernen Gemeinschaften von einer echten Pluralität und Interessenvielfalt gekennzeichnet gewesen seien.
Gemeinwohl im modernen Verfassungsstaat am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland Von Hans Herbert von Arnim I. Renaissance des Themas Gemeinwohl Das Thema Gemeinwohl hat Hochkonjunktur. Das überrascht, war doch der Begriff „Gemeinwohl“ noch vor fünfzehn Jahren von großen Teilen der Wissenschaft als Ausdruck angeblich „überholten alteuropäischen Denkens“ völlig abgelehnt worden1. Heute beschäftigt sich allein in Deutschland ein Dutzend Wissenschaftlerteams mit dem Thema „Gemeinwohl“2. Ironischerweise sind dies manchmal gerade diejenigen, die den Begriff vorher verworfen hatten. Und so ist 1 Siehe zum Beispiel Ulrich von Alemann, in: Die Woche vom 18.8.1994, S. 8; dazu meine Erwiderung, in: Die Woche vom 15.9.1994, S. 39. Ähnlich die SPDSchatzmeisterin Inge Wettig-Danielmeier, in: Deutscher Bundestag, Stenographischer Bericht der Sitzung vom 12.11.1993, S. 16410: „Der Ruf nach Gemeinwohl kaschiert immer noch den Ruf nach dem Obrigkeitsstaat“. Vgl. auch Arthur Gunlicks, in: Newsletter of the Conference Group on German Politics, March 1994, S. 5: „ ‚The people‘ (Is there really such a thing?) and the ‚common good‘ (How does one define it?)“. 2 Peter Koslowski (Hrsg.), Das Gemeinwohl zwischen Universalismus und Partikularismus, Stuttgart/Bad Cannstatt 1999; Winfried Brugger, Gemeinwohl in Deutschland, Europa und der Welt, Baden-Baden 2002; Heinrich Bußhoff, Gemeinwohl als Wert und Norm. Zur Argumentations- und Kommunikationskultur der Politik, Baden-Baden 2001; Herfried Münkler/Karsten Fischer (Hrsg.), Gemeinwohl und Gemeinsinn (4 Bände mit Beiträgen zahlreicher Autoren), Berlin 2001/2002; Herfried Münkler/Hans Joas/Hasso Hofmann/Birger P. Priddat (Hrsg.), Gemeinwohl und Gemeinsinn. Akademievorlesungen, Berlin 2002; Gunnar Folke Schuppert/Friedhelm Neidhardt (Hrsg.), Gemeinwohl – auf der Suche nach Substanz, Berlin 2002; Ulrich Willems/Thomas von Winter (Hrsg.), Politische Repräsentation schwacher Interessen, Opladen 2000. Siehe auch Monika Jachmann (Hrsg.), Gemeinnützigkeit, Köln 2003; Projektgruppe „Common Goods“: „Law, Politics and Economics“ der Max-Planck-Gesellschaft in Bonn, Report October 1997-April 2000; dies., Report February 2002. Siehe aber auch Josef Isensee, Gemeinwohl und Staatsaufgaben im Verfassungsstaat, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof, HdbStR, Band III, Heidelberg 1988, S. 3 ff.; Karl-Peter Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, Tübingen 1997, S. 199 ff.; Hans Herbert von Arnim/Stefan Brink, Methodik der Rechtsbildung unter dem Grundgesetz. Grundlagen einer verfassungsorientierten Rechtsmethodik, Speyer 2001.
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es nur natürlich, dass sich auch diejenigen wieder zu Wort melden, die Fragen des Gemeinwohls schon immer in den Mittelpunkt ihrer Forschung gestellt haben. Diese Hochschule hat vor 35 Jahren ihre Frühjahrstagung, also eine Vorgängerin unserer heutigen Tagung, genau diesem Thema gewidmet3, und ich selbst habe mich in meiner Habilitationsschrift „Gemeinwohl und Gruppeninteressen“4, und in meiner „Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland“5 ausführlich mit Gemeinwohlfragen befasst. II. Handlungs- und Reformschwäche „der Politik“ Die plötzliche Renaissance des Themas „Gemeinwohl“ dürfte mit einem allgemeinen Unwohlsein zusammenhängen. Besonders in der Bundesrepublik fallen die Anforderungen und die Leistungen des politischen Systems – so eine verbreitete Wahrnehmung – weit auseinander. Es geht um ein Missverhältnis: Die mangelnde Fähigkeit „der Politik“, Reformen durchzusetzen, bei gleichzeitig eklatant zunehmender Dringlichkeit solcher Reformen6. Das Wort „Reformblockade“ war bereits 1997 das „Wort des Jahres“. Und inzwischen dürfte die Handlungs- und Reformschwäche der Politik jedenfalls nicht abgenommen haben. Weitblickende Beobachter wie Werner Weber hatten bereits vor Jahrzehnten vorausgesagt, bestimmte, schon damals im Ansatz vorhandene strukturelle Probleme der Bundesrepublik würden in dem Augenblick aufbrechen, wo das wirtschaftliche Wachstum nachlasse und der Ost-West-Gegensatz wegfalle7. In dieser Lage befinden wir uns heute. Nach dem Sieg der westlichen Demokratie und der westlichen Marktwirtschaft im ideologischen Ringen der Blöcke ist uns das Gegenüber abhanden gekommen. Jetzt reicht es nicht mehr aus, bloß besser zu sein als das zu3 Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer (Hrsg.), Wohl der Allgemeinheit und öffentliche Interessen. Vorträge und Diskussionsbeiträge der 36. Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, Berlin 1968. 4 Hans Herbert von Arnim, Gemeinwohl und Gruppeninteressen, Frankfurt a. M. 1977. 5 Hans Herbert von Arnim, Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland, München 1984. Ferner ders., Wirtschaftlichkeit als Rechtsprinzip, Berlin 1988. 6 Roman Herzog, Aufbruch ins 21. Jahrhundert, in: Bulletin der Bundesregierung 1997, S. 353 (354). Siehe auch Hans Herbert von Arnim, Reformblockade der Politik? Ist unser Staat noch handlungsfähig?, in: ZRP 1998, S. 138 ff. m. w. N.; ders., Vom schönen Schein der Demokratie, Taschenbuch-Ausgabe, München 2002, S. 19 ff. 7 Werner Weber, Diskussionsbeitrag, in: Wilhelm Beutler/Gustav Stein/Hellmuth Wagner (Hrsg.), Der Staat und die Verbände. Gespräch, veranstaltet vom Bundesverband der Deutschen Industrie, Heidelberg 1975, S. 48 (49).
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sammengebrochene kommunistische Regime. Jetzt müssen wir, um eine tragfähige Orientierung zu gewinnen, unser System vielmehr anhand selbst gesetzter Werte beurteilen. Sind die Verhältnisse in unserer realexistierenden Demokratie aber so beschaffen, dass man sie sich aus dem Willen aller Bürger hervorgegangen vorstellen könnte?8 Oder lässt sich diese Frage, die für Philosophen von Immanuel Kant bis John Rawls9 das Kriterium für die Beurteilung des demokratischen Staates und seiner Organisation bildet, kaum noch ohne Zynismus auf unsere bundesrepublikanische Wirklichkeit anwenden? Statt am „Ende der Geschichte“10 stehen wir am Anfang einer grundlegenden Überprüfung der Strukturelemente unserer eigenen Verfassung. III. Unbewältigte Herausforderungen Inzwischen ist vieles an Problemen und Herausforderungen zusammengekommen, auf die die Politik die Antworten zunehmend schuldig bleibt11. Ich will hier nur acht Punkte ansprechen12: 1. Die niedrige Geburtenrate, die die Bevölkerungspyramide umkehrt und allmählich zu einer Vergreisung unserer ganzen Gesellschaft führt. Dies hat gewaltige Auswirkungen. Die offensichtlichste besteht darin, dass die Finanzierung aller unserer Sozialsysteme hochgradig gefährdet ist. 2. Die mangelnde Quantität an jungen Menschen wird auch nicht etwa durch umso größere Qualität ausgeglichen. Wie es um die Fähigkeiten unserer Schüler steht, wissen wir spätestens seit den PISA-Studien – und das im ehemaligen „Land der Dichter und Denker“, das einst so stolz auf seine Schulen und Hochschulen war. 3. Auch die verkrustete Arbeitsmarktverfassung ist reformbedürftig, vom Steuer- und Finanzwesen ganz zu schweigen. Die Mängel spiegeln sich in der hohen und immer noch zunehmenden Arbeitslosigkeit, und das geringe Wachstum verschärft die Probleme noch weiter. 8 Dazu die klassischen, an Kant angelehnten Formulierungen bei Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, 6. Auflage, Stuttgart 1963, S. 152, 244. Grundsätzlich zu den hiermit angesprochenen Fragen auch Karl Albrecht Schachtschneider, Res publica res populi. Grundlegung einer allgemeinen Republiklehre, Berlin 1994. 9 John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 1975, S. 34 ff. 10 Francis Fukuyama, The End of History?, in: The National Interest 16 (1989), S. 3. Vgl. auch ders., Das Ende der Geschichte, München 1992. 11 Robert von Weizsäcker, Staatsverschuldung, Rentenversicherung und Bildung: Zukunftsschwächen der Wettbewerbsdemokratie im Lichte des demographischen Wandels, in: Hans Herbert von Arnim (Hrsg.), Adäquate Institutionen. Voraussetzungen für „gute“ und bürgernahe Politik?, Berlin 1999, S. 103 ff. 12 Vgl. Hans Herbert von Arnim, Vom schönen Schein (Anm. 6), S. 24 f.
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4. Hinzu kommen die Langzeitfolgen schwerer wirtschafts- und sozialpolitischer Fehler bei der deutschen Wiedervereinigung, die dazu beitragen, dass die Produktivitäts- und Beschäftigungsschere zwischen West und Ost sich nicht schließen will. 5. Die Europäisierung und Globalisierung des Wettbewerbs legen die Strukturmängel unserer Verfassung schonungslos offen. So finden wir uns – in mancher Hinsicht – unversehens als Schlusslicht unter allen 15 Ländern der Europäischen Union wieder, eine Erkenntnis, die im ehemaligen „Wirtschaftswunderland“ eigentlich wie ein Schock wirken müsste. 6. Das zunehmende Selbstbewusstsein der Bürger und die „partizipatorische Revolution“13, die durch den sogenannten Wertewandel ausgelöst wurden14, wirkten als eine Art eye-opener und führten dazu, dass die Menschen sich nicht länger ein X für ein U vormachen (und die Mängel sich deshalb nicht mehr schönreden) lassen15. 7. Selbst das Ausland hat den Niedergang der Bundesrepublik – bisweilen nicht ohne Schadenfreude – bemerkt. Vor 25 Jahren sprach alle Welt abfällig von der „englischen Krankheit“. Heute sehen Großbritannien und andere Länder auf uns herab und sprechen, wie zum Beispiel die englische Zeitung „The Guardian“, von der „German disease“. 8. Hinzu kommen neuerdings Terror- und Kriegsgefahren, wobei die älteste und mächtigste Demokratie der Neuzeit – nach dem Zusammenbruch der anderen, früher stets das Gleichgewicht haltenden Supermacht – eine imperialistische Weltordnung unter ihrer Kontrolle anzustreben scheint („Pax americana“). IV. Systemmängel Der in Schul- und Lehrbüchern noch verbreitete Glaube, unsere Demokratie orientiere sich gleichsam automatisch am Wohl des Volkes, ist dahin. Das vorbehaltlose Vertrauen in die Richtigkeit der bestehenden rechtsstaatlich-demokratischen Verfahren und in die Richtigkeit der aus ihnen hervorgegangenen Ergebnisse schwindet16. Das Grundgesetz steht abstrakt zwar noch in hohem Ansehen. Konkret kann es manche unserer Probleme aber 13 Z. B. Wilhelm Bürklin, Gesellschaftlicher Wandel, Wertewandel und politische Betätigung, in: Karl Starzacher/Konrad Schacht/Bernd Friedrich/Thomas Leif (Hrsg.), Protestwähler und Wahlverweigerer. Krise der Demokratie?, Köln 1992, S. 18 ff. 14 Helmut Klages, Werteorientierungen im Wandel, Frankfurt a. M., New York 1984, S. 39 ff. 15 Helmut Klages, Häutungen der Demokratie, Osnabrück 1993, S. 55.
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nicht mehr voll erfassen17. Zentrale Teile sind wörtlich aus früheren Verfassungen übernommen, obwohl sich die Verhältnisse und die Akteure der Politik inzwischen völlig gewandelt haben. Das geschriebene Verfassungsrecht wird heute vom Agieren der politischen Parteien, der Interessenverbände, der Verwaltung und der Medien überlagert18, häufig ohne dass das Grundgesetz wirksame Schranken gegen Machtmissbräuche dieser Kräfte errichtet19. Hinter dem wissenschaftlichen Gemeinwohlboom steckt, häufig unausgesprochen, also ein kritischer Ansatz. Zugleich steckt dahinter wohl auch die Überzeugung, dass man für eine zutreffende Beurteilung das Ganze unseres staatlichen und gesellschaftlichen Gemeinwesens ins Auge fassen muss. Es kommt nicht mehr auf einzelne Schräubchen an, die ganze Maschinerie gehört auf den Prüfstand. Dafür bedarf es zweierlei: einer normativen Grundlegung und einer Gesamtdarstellung politischer und gesellschaftlicher Wirklichkeit. V. Normative Grundlegung einer Gemeinwohllehre 1. Wissenschaftliche Werturteile? Die Gemeinwohlproblematik läuft für den Wissenschaftler zu einem guten Teil auf die Grundfrage hinaus, welche Wertungen er seinen Überlegungen zugrundelegen soll und wie man dies begründen kann. Entscheidend sind die letzten Werte20. Derartige Fragen stellen für viele Disziplinen allerdings ein schier unüberwindliches methodisches Problem dar. Die Sozial16 Vgl. Hans Herbert von Arnim, Das System, München 2001, S. 31 ff.; Martin Greiffenhagen, Politische Legitimität in Deutschland, Bonn 1998, S. 137 ff.; Elmar Wiesendahl, Berufspolitiker zwischen Professionalismus und Karrierismus, in: Hans Herbert von Arnim (Hrsg.), Politische Klasse und Verfassung, Berlin 2001, S. 145 ff. 17 Vgl. jetzt auch Thomas Darnstädt, Die enthauptete Republik. Warum die Verfassung nicht mehr funktioniert, in: Der Spiegel, Heft 20 vom 12.5.2003, S. 34 ff.; ders., Das Prinzip Wettbewerb. Wie der deutsche Föderalismus zu reformieren wäre, in: Der Spiegel, Heft 21 vom 19.5.2003, S. 52 ff.; ders., Republik der Bürger. Warum der Parteien- und Verbändestaat aufgebrochen werden muss, in: Der Spiegel, Heft 22 vom 26.5.2003, S. 56 ff. 18 Die bloße Postulierung der inneren Souveränität des Staates „gegenüber den Kräften der Gesellschaft“ (so Josef Isensee, Verfassungsrecht als „politisches Recht“, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof, HdbStR, Band VII, Heidelberg 1992, S. 103 [S. 146]) klammert die eigentliche Problematik aus der Staatsrechtslehre aus. 19 Grundlegend dazu: Hans Herbert von Arnim, Die Verfassung hinter der Verfassung, in: ZRP 1999, S. 326 ff.; ders., Das System (Anm. 16). 20 von Arnim, Gemeinwohl (Anm. 4), S. 9 ff.; ders., Staatslehre (Anm. 5), S. 15 ff., 127 ff.
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wissenschaften halten sich – seit dem berühmten Werturteilsstreit – dafür nicht für kompetent (was im Übrigen einen Grund für ihre lange Gemeinwohlabstinenz darstellt). Klassisch hat dies Gustav Radbruch in seiner „Rechtsphilosophie“21 dargestellt, die mit Recht ganze Generationen von Juristen beeindruckt hat. Radbruch unterscheidet drei verschiedene Wertsysteme: das „individualistische“, das „überindividualistische“ und das „transpersonale“, denen jeweils unterschiedliche letzte Werte zugrunde liegen: Menschen, Gruppen und Werke22. Je nachdem kommt es zu ganz unterschiedlichen Wertsystemen. Während Radbruch aber noch glaubte, sich zu letzten Werten nur bekennen zu können, ohne dass dieses Bekenntnis allgemeine Geltung beanspruchen dürfe, hat das Grundgesetz eine verbindliche Entscheidung für die „anthropozentrische“ Grundauffassung getroffen23, was in der Terminologie Radbruchs auf die „individualistische Auffassung“ hinaus läuft24.
Die Neue Politische Ökonomie25 sucht das Wertungsproblem dadurch auszuschalten, dass sie allein auf den Volkswillen abstellt, dem Volk also die erforderlichen Wertungen überlässt. Was auf den ersten Blick als urdemokratischer Standpunkt erscheint, versagt aber, wenn der Volkswille nicht zu ermitteln ist und erst recht dann, wenn es daneben auch noch andere Quellen der Richtigkeit gibt. Die Philosophie befasst sich zwar mit Werten. Sie ist aber häufig zu weit weg von der Wirklichkeit. Zudem haben ihre Systementwürfe nur für den Wert, der ihre Prämissen anerkennt, und die kann die Philosophie nicht allgemeinverbindlich bestimmen. Wir Juristen sind zwar daran gewöhnt, mit Begriffen wie „Gemeinwohl“ und „öffentliches Interesse“ umzugehen. Diese Begriffe kommen in der Rechtsordnung ja häufig vor, und im Verfassungsrecht geht es vielfach um Abwägungen etwa zwischen Gemeinwohlbelangen und Grundrechtseingriffen. Die meisten Juristen glauben allerdings, nur innerhalb ihrer Rechtssysteme werten zu dürfen (und zu können), und fühlen sich hilflos, wenn es um die Bewertung von Mängeln eben dieser Systeme geht und um mögliche Systemänderungen.
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Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie (Anm. 8). Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie (Anm. 8), S. 146 ff. 23 von Arnim, Gemeinwohl (Anm. 4), S. 48 ff.; ders., Staatslehre (Anm. 5), S. 192 ff.; ders., Wirtschaftlichkeit (Anm. 5), S. 45 ff. 24 von Arnim/Brink, Methodik der Rechtsbildung (Anm. 2), S. 44 ff. 25 Anthony Downs, Ökonomische Theorie der Demokratie, Tübingen 1968. 22
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2. Die Lincolnsche Formel Bei der Suche nach der erforderlichen übergreifenden normativen Orientierung weist uns die so genannte Lincolnsche Formel die Richtung. Danach liegt das Wesen des demokratisch-rechtsstaatlichen Gemeinwesens in zwei Prinzipien, die gewiss immer nur graduell erreichbar sind und zum Teil auch miteinander in Widerspruch stehen können, die aber gleichwohl anzustrebende letzte Ziele sind: Regierung durch das Volk und für das Volk. Beides hatte der frühere amerikanische Präsident Abraham Lincoln 1883 in seiner berühmten Gettysburger Ansprache26 als Wesen der Demokratie benannt. Regierung durch das Volk verlangt, dass die Bürger Einfluss auf die Politik haben, Regierung für das Volk, dass die Politik den Interessen der Bürger, und zwar möglichst aller Bürger, gerecht wird.27 Darin liegt in Wahrheit auch der normative Kern des Grundgesetzes, wie auch Albert Bleckmann in seinem Staatsorganisationsrecht herausgearbeitet hat28, wenn 26 Abraham Lincoln, Gettysburger Address. Übersetzt und kommentiert von Ekkehard Krippendorf, Hamburg 1994. 27 Zum zweiten Grundprinzip (Regierung für das Volk) gehört das Streben nach inhaltlicher Richtigkeit einschließlich Rechtssicherheit. Dazu: Konrad Hesse, Die verfassungsrechtliche Stellung der politischen Parteien im modernen Staat, in: VVDStRL Band 17 (1959), S. 11 (19 ff.); ders., Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Auflage, Heidelberg 1995, Rdnr. 60 ff.; Martin Kriele, Das demokratische Prinzip im Grundgesetz, in: VVDStRL Band 29 (1971), S. 46 (60); Roman Herzog, in: Theodor Maunz/Günther Dürig/Roman Herzog, Grundgesetz. Kommentar, München 1999, Art. 20 GG, Abschnitt II, Rdnr. 46. Hinsichtlich des ersten Grundprinzips, der Bürgerpartizipation (Regierung durch das Volk), tendieren Rechtsprechung und herrschende Staatsrechtslehre dagegen bisher zu einer formalen Sichtweise: Im deutlichen Kontrast zur ansonsten verbreiteten Materialisierung des Verfassungsverständnisses nehmen sie die Ableitung der Staatsgewalt vom Volk eher formalistisch vor – über rein formal verstandene, beliebig lange so genannte „Legitimationsketten“ (kritisch dazu Ernst-Wolfgang Böckenförde, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof, HdbStR, Band I, Heidelberg 1987, S. 887 [894]). Dabei läge es an sich methodisch nahe, auch das Demokratieprinzip als echtes Prinzip zu verstehen, das in mehr oder weniger großem Ausmaß erfüllt sein kann (vgl. Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, Baden-Baden 1985). Zum Ganzen näher für „den Staat“: von Arnim, Staatslehre (Anm. 4), 1984 passim; Ralf Dreier, Rechtsbegriff und Rechtsidee, Frankfurt a. M. 1986; für die Gemeinden: Hans Herbert von Arnim, Gemeindliche Selbstverwaltung und Demokratie, in: AöR 1988, S. 1 ff.; ders., Möglichkeiten unmittelbarer Demokratie auf Gemeindeebene, in: DÖV 1990, S. 85 (90); Gerhardt Banner, Kommunalverfassungen und Selbstverwaltungsleistungen, in: Dieter Schimanke (Hrsg.), Stadtdirektor oder Bürgermeister. Beiträge zu einer aktuellen Kontroverse, Basel 1989, S. 37 (41 f.). Siehe auch Hans Herbert von Arnim, Staat ohne Diener, München 1993, S. 10 und durchgehend; ders., Demokratie vor neuen Herausforderungen, in: ZRP 1995, S. 340 (340 f. und durchgehend). 28 Albert Bleckmann, Staatsrecht I. Staatsorganisationsrecht, Köln u. a. 1993, S. 141.
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diese Auffassung auch sicher nicht als herrschende Staatsrechtslehre bezeichnet werden kann. In jüngerer Zeit wird die Lincolnsche Formel zunehmend herangezogen und damit ihre Brauchbarkeit als grundlegender zweifacher Bewertungsmaßstab bestätigt29. Die Lincolnsche Formel hilft „auf der Suche nach Substanz“ (Schuppert) des Gemeinwohlbegriffs in mehrfacher Hinsicht: Einmal stellt sie klar, dass der Staat keinen Selbstzweck darstellt, sondern um der Menschen willen da ist: ein Instrument zur Sicherung ihrer Interessen und ihres Willens („anthropozentrische“ Grundauffassung, siehe oben). Zum Zweiten unterscheidet die Lincolnsche Formel deutlich zwischen dem Inhalt gemeinschaftsrelevanter Entscheidungen und dem Verfahren ihres Zustandekommens, zwischen „Output“ und „Input“. Drittens erleichtert sie es, auf die eigentlichen Grundwerte zurückzugehen, deren Optimierung das Gemeinwohlgebot – jedenfalls idealiter – postuliert: Freiheit, Gleichheit und Sicherheit30. Viertens stellt sie klar, dass Bürgerpartizipation einen Eigenwert besitzt31, der im Konfliktfall mit inhaltlichen Werten abgewogen werden muss. Schließlich vermag die Formel auch jenseits der Rechtsdogmatik Leitlinien zu geben und kann damit auch die Rechts- und Verfassungspolitik anleiten. VI. Theorien als Instrumente zur Erfassung der Wirklichkeit Beim zweiten großen Teil einer Gemeinwohllehre geht es darum, die politische und gesellschaftliche Wirklichkeit in den analytischen Blick zu bekommen32. Dies erscheint allerdings nur möglich mit bestimmten Hilfsmitteln, die sozusagen als Brillen fungieren, ohne die wir die Vielfalt der Erscheinungen, die wir meist gar nicht aus eigener Anschauung kennen, nicht einordnen, verarbeiten und beurteilen können. Solche Brillen stellen 29
Siehe – neben einigen der in Anm. 27 Genannten – zum Beispiel auch Fritz W. Scharpf, Regieren in Europa, Frankfurt a. M. 1999, S. 16 ff.; ders., Föderale Politikverflechtung: Was muss man ertragen? Was kann man ändern?, in: Konrad Morath (Hrsg.), Reform des Föderalismus, Bad Homburg 1999, S. 23 ff. Vgl. auch schon ders., Demokratietheorie zwischen Utopie und Anpassung, Konstanz 1970, S. 21 ff. Ferner z. B. Heidrun Abromeit, Wozu braucht man Demokratie?, Opladen 2002, S. 15. 30 von Arnim, Staatslehre (Anm. 4), S. 211 ff.; ders., Wirtschaftlichkeit (Anm. 5), S. 36 f., S. 41 ff. 31 von Arnim, Vom schönen Schein (Anm. 6), S. 191 ff. 32 von Arnim, Staatslehre (Anm. 4); Gemeinwohl (Anm. 5).
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die einschlägigen Theorien dar. Das Thema Gemeinwohl ist mit ihnen schon immer auf das Engste verknüpft. Der Kampf um das richtige Verständnis von Gemeinwohl war im Kern stets auch ein Kampf um die richtige Gemeinwohltheorie oder besser im Plural: um die richtigen Gemeinwohltheorien. Selbst der theoriefeindlichste Praktiker hat, wenn auch unbewusst, regelmäßig irgendeine Theorie im Hinterkopf, bloß ist dies dann meist die Theorie der Väter oder Großväter. Will man den Dingen auf den Grund gehen, muss man also die einschlägigen Theorien durchmustern und prüfen, ob sie auf den relevanten Grundwerten aufbauen und die Wirklichkeit korrekt wiedergeben. Ein Problem besteht allerdings in der Vielzahl der einschlägigen Bereiche und in der noch größeren Vielfalt der Theorien, in der sich nicht zuletzt auch die Zersplitterung der verschiedenen Wissenschaftszweige widerspiegelt. Zudem bieten Theorien immer nur vorläufige Entwürfe zur Erklärung der Wirklichkeit, die der Widerlegung offen stehen. Gleichwohl können sie gewaltigen Einfluss haben auf das Bild, das die Menschen sich von der Wirklichkeit machen. Was für einen Einfluss eine Theorie haben kann, so lange sie Anerkennung genießt, hat zum Beispiel die Parteienstaatstheorie von Gerhard Leibholz gezeigt. Leibholz setzte Parteien, Staat und Volk kurzerhand in eins33 und beherrschte mit dieser merkwürdigen Theorie, die zugleich Norm und Wirklichkeit unentwirrbar ineinander wob, die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in den ersten eineinhalb Jahrzehnten der Bundesrepublik34. Da wir uns unmöglich mit allen Facetten des Themas Gemeinwohl befassen können, wollen wir uns hier auf einige übergreifende Schlüsselfragen konzentrieren. VII. Zwei methodische Hilfsmittel 1. Der negative Ansatz Typisch für das Gemeinwohl ist zunächst, dass es positiv schwer zu umreißen ist. Wohl aber kann man häufig sehr viel eher sagen, wo es – negativ – zu kurz kommt. Es gilt Ähnliches wie bei der Gerechtigkeit, die 33
Gerhard Leibholz, Das Wesen der Repräsentation und der Gestaltwandel der Demokratie im 20. Jahrhundert, 3. Aufl., Berlin 1966, S. 245; ders., Strukturprobleme der modernen Demokratie, Karlsruhe 1958, S. 93 f. Zum Einfluss faschistischen Gedankenguts auf die Konzeption der Theorie durch Leibholz: Susanne Benöhr, Gerhard Leibholz’ Parteienstaatslehre im Spiegel des faschistischen Verfassungsrechts, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 81 (2001), S. 504 ff. 34 Näher dazu von Arnim, Das System (Anm. 16), S. 250 ff.
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schon Aristoteles als Abwesenheit von Ungerechtigkeit definiert hat. Dass bestimmte allgemeine Werte leichter negativ zu umreißen sind, hat Wilhelm Busch in die nur scheinbar scherzhafte Formulierung gegossen: „Das Gute, dieser Satz steht fest, ist stets das Schlechte, das man lässt.“35 So können wir, um ein Beispiel zu nennen, bei der Besetzung von Beamtenstellen oft nur schwer sagen, ob eine bestimmte Auswahlentscheidung richtig ist. Unter den Bewerbern gibt es oft mehrere ziemlich gleichwertige, deren Einstellung alle als „auch noch richtig“ angesehen werden kann. Wird jemand aber aufgrund seines Parteibuchs eingestellt oder befördert, können wir in der Regel sagen, dass dies definitiv unrichtig, also gemeinwohlwidrig, ist. Ein zweites Beispiel aus einem ganz anderen Gebiet: Bei der Gestaltung von Sozialleistungen ist es oft kaum möglich, positiv zu sagen, wie hoch sie bemessen sein sollten. Wenn aber kein Abstand mehr zum Einkommen von Erwerbstätigen besteht, Arbeit sich also finanziell nicht mehr lohnt, ist definitiv etwas faul im Lande. 2. Die Schlüsselrolle von Organisation und Verfahren Daneben ist die Organisation, das Verfahren, sind die Institutionen von zentraler Bedeutung zur Bestimmung dessen, was im Gemeinwohl liegt, beziehungsweise besser: was nicht im Gemeinwohl liegt. Es ist eine alte Weisheit, dass Verfahrensgesichtspunkte um so größeres Gewicht erlangen, je unbestimmter die inhaltlichen Direktiven sind. Diese Erkenntnis machen wir uns hier zunutze – oder besser ihre Kehrseite: Denn Unausgewogenheiten und Mängel des Verfahrens lassen sich im Allgemeinen erheblich leichter feststellen als inhaltliche Defizite. Zum Gemeinwohl gehört fairer Interessenausgleich. Fehlt es daran auf Grund struktureller Eigenheiten des Willensbildungsverfahrens, kann dies – ohne Eingehen auf den Inhalt des in diesem Verfahren zustande kommenden „Produkts“ – kritisiert werden36. Kombiniert man also den negativen Ansatz mit dem verfahrensmäßigen, so erweitert man den Zugriff auf die Gemeinwohlproblematik beträchtlich. Ich möchte dies an vier Beispielen verdeutlichen: – Verträge führen im Allgemeinen zu einem angemessenen Interessenausgleich. Fehlt es aber an der Vertragsparität, besteht also krasse Ungleichheit der Verhandlungsmacht („bargaining power“), so fallen die Vertragsinhalte typischerweise ungerecht aus – zu Lasten des Unterlegenen, dem der „Vertrag“ oktroyiert wird. Große Teile des Arbeits-, Sozial- und Kon35
von Arnim, Staatslehre (Anm. 4), S. 125. Dazu Gunnar Folke Schuppert, Gemeinwohl, das, Oder: Über die Schwierigkeiten, dem Gemeinwohlbegriff Konturen zu verleihen, in: Schuppert/Neidhardt (Hrsg.), Gemeinwohl (Anm. 2), S. 19 (31 ff.). 36 Vgl. dazu ausführlich von Arnim, Gemeinwohl (Anm. 5), S. 81 ff.
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sumentenschutzrechts beruhen auf dem Gedanken, dass der Gesetzgeber (oder hilfsweise die Rechtsprechung) hier gegenhalten muss. So war etwa die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zur Unverfallbarkeit von betrieblichen Ruhegeldansprüchen nötig geworden, weil weder die Arbeitgeber noch die Gewerkschaften den Missstand der unbeschränkten Verfallbarkeit beseitigen wollten und der Gesetzgeber meinte, nichts gegen die beiden großen sozialen Gruppen zugleich ausrichten zu können37. – Dieselbe Herangehensweise gilt auch für kollektive Verträge. So sollte zum Beispiel bei Streikdrohung und Tarifverträgen im öffentlichen Dienst danach gefragt werden, ob wirklich Vertragsparität beider Seiten besteht38. – Liegt die Gestaltung der Politikfinanzierung und des Wahlrechts allein in der Hand der unmittelbar Betroffenen selbst, also in der Hand der Politiker, so kann man erwarten, dass aus derartigen Entscheidungen in eigener Sache systematisch einseitige Regelungen zu Gunsten der Politik resultieren39. Infolgedessen hat das Bundesverfassungsgericht versucht, der politischen Klasse beim Wahlrecht und bei der Politikfinanzierung massiv Grenzen zu ziehen, um Missbräuchen und Deformationen zu begegnen40. – Das letzte Beispiel betrifft die Rekrutierung des politischen Personals. Wenn es stimmt, dass man, um Berufspolitiker zu werden, eine langjährige Ochsentour braucht41 und „Zeitreiche und Immobile“ die besten Chancen haben, diese Ochsentour zu bewältigen und innerhalb der Parteien vorwärts zu kommen42, kann man schon daraus gewisse Schlüsse ziehen, auch ohne dass man die Qualität Einzelner überprüft, die aus diesem Prozess hervorgegangen sind. 37 Hans Herbert von Arnim, Die Verfallbarkeit betrieblicher Ruhegeldanwartschaften, Heidelberg 1970. 38 Josef Isensee, Der Tarifvertrag als Gewerkschaft-Staat-Vertrag, in: Walter Leisner (Hrsg.), Das Berufsbeamtentum im demokratischen Staat, Berlin 1975, S. 23 (38); von Arnim, Gemeinwohl (Anm. 5), S. 109 ff.; ders., Staatslehre (Anm. 4), S. 485. 39 Hans Herbert von Arnim, Die Partei, der Abgeordnete und das Geld, 2. Auflage, München 1996, S. 24 f. 40 Hans Herbert von Arnim, Die Partei (Anm. 39), S. 393 ff. 41 Rolf Paprotny, Der Alltag der niedersächsischen Landtagsabgeordneten, Hannover 1995, S. 105 f.; Anton Andreas Guha, Seiteneinsteiger oder die ungenutzte Chance der Parteien zur Regeneration, Vorgänge 1998, S. 54 ff.; ders., Ochsentour, Seiteneinsteiger oder ungenutzte Chance der Parteien, in: Hans Herbert von Arnim, Reform der Parteiendemokratie, Berlin 2003, S. 31 ff.; Wolfgang Klages, Republik in guten Händen?, Würzburg 2001, S. 34 ff., 50 ff. 42 Ulrich Pfeiffer, Eine Partei der Zeitreichen und Immobilen, Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 1997, S. 392 ff.
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VIII. Fünf Ansätze zur Disziplinierung politischer „Führer“ Es soll nun versucht werden, zwei der bisherigen Thesen zu verbinden, nämlich die zentrale Rolle von Theorien und den organisatorisch-verfahrensmäßigen Ansatz, und beides auf Grundfragen unseres Gemeinwesens anzuwenden. Beim Thema Gemeinwohl geht es ganz wesentlich um die Frage, wie man die „Führer“ von Staaten dazu bringen kann, sich bei ihren Handlungen am Wohl des Volkes auszurichten und nicht an ihren eigenen Interessen an Einfluss, Posten und Reichtum. Das ist die Schlüsselfrage, die Philosophen und Staatsdenker seit der Antike umtreibt. Man kann – in heroischer Vereinfachung – fünf Ansätze unterscheiden. Den einen bezeichnen wir als „Amts-Ansatz“. Hier versuchen Amtsträger, möglichst Richtiges zu ermitteln. Sie analysieren die Situation und stellen fest, was zu tun ist. Zugrundegelegt wird eine gemeinnützige Motivation. Im Gegensatz dazu steht der zweite, der Wahl- und Wettbewerbs-Ansatz. Er unterstellt, dass eigennützig handelnde Akteure durch den Wettbewerb um Wählerstimmen dazu gebracht werden, für die Gemeinschaft Sinnvolles zu tun. Der dritte Ansatz geht davon aus, dass große Gruppen miteinander verhandeln und wichtige Gemeinschaftsentscheidungen absprechen (Pluralismus-Ansatz). Der vierte Ansatz versucht, den Bürgersinn durch Öffentlichkeit zu aktivieren. Der fünfte Ansatz schließlich lässt den Betroffenen die Möglichkeit, unmittelbar selbst die relevanten Entscheidungen zu treffen – im Wege direkter Demokratie. Diese vier Ansätze und ihre jeweilige Leistungsfähigkeit lassen sich wiederum kaum inhaltlich, sondern sinnvollerweise nur von den zu Grunde liegenden institutionellen Voraussetzungen und Verfahren her erfassen und überprüfen. 1. Der Amts-Ansatz a) Darstellung Die vier Ansätze finden sich in verschiedener „Mischung“ in den Verfassungen des Bundes, der Länder und Gemeinden wieder. Im Vordergrund steht – jedenfalls für die Staatsrechtslehre – der Amts-Ansatz43. Er beruft sich darauf, dass die Verfassungen an das Amt und seine Befugnisse eine besondere Pflicht knüpfen, die Pflicht nämlich, die anvertraute Macht nur im Sinne des Gemeinwohls zu gebrauchen. Diese Gemeinwohlverpflichtung wird von der Staatsrechtslehre aus einem ganzen Bündel von grund43 Vgl. dazu Hans Herbert von Arnim, Wer kümmert sich um das Gemeinwohl?, in: ZRP 2002, S. 223 (223 f.)
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gesetzlichen Quellen abgeleitet, die im Ergebnis alle in dieselbe Richtung weisen: – dem Repräsentationsprinzip, – dem treuhänderischen Amtsprinzip, – dem Republikprinzip, – dem Demokratieprinzip, – dem Rechtsstaatsprinzip und – der Dienstfunktion des Staates insgesamt. Auch wenn der Inhalt des Begriffs „Gemeinwohl“ meist undeutlich und vage sein mag, so ist doch klar, welche Motivation hier verlangt wird, eine Motivation nämlich, die das Gegenteil vom Streben nach eigenem Nutzen ist. Angesprochen ist hier vor allem der Typus des Richters, aber auch der des Verwaltungsbeamten. Auch er soll durch Sicherung seines Status, insbesondere seiner Lebenszeitanstellung, „der Anstrengungen der Selbstbehauptung enthoben und damit freigestellt (werden) für den selbstlosen Dienst zugunsten der Allgemeinheit“ (Josef Isensee). Ausprägungen des Amtgedankens sind auch unabhängige Einrichtungen44 wie etwa die (frühere) unabhängige Deutsche Bundesbank, die unabhängigen Bundes- und Landesrechnungshöfe und die Verfassungsgerichte des Bundes und der Länder, Einrichtungen, die alle auch die Europäische Union übernommen und zusätzlich noch durch die unabhängige Europäische Kommission ergänzt hat. Darüber hinaus bezieht die Staatsrechtslehre die Gemeinwohlverpflichtung auch auf Parlamentsabgeordnete45 und Regierungsmitglieder, die ebenfalls Ämter im staatsrechtlichen Sinne innehaben. b) Kritik Es gibt allerdings zwei große Einwände gegen den Amts-Ansatz. Der eine besteht darin, dass er schon in der römischen Republik („salus publica suprema lex“) und im aufgeklärten Absolutismus eines Friedrich des Großen („Ich bin der erste Diener meines Staates“) galt. Der Amts- und der entsprechende Gemeinwohlbegriff sind also von der Staatsform unabhängig. Die genannten unabhängigen Einrichtungen wurden denn auch als „Traditionskompanien Preußens“ in der bundesrepublikanischen Demokratie bezeichnet (so Karl Maria Hettlage46 in durchaus positiver Bewertung). 44
Vgl. dazu von Arnim, Gemeinwohl (Anm. 5), S. 212 ff., 356 ff. Wilhelm Henke, in: Bonner Kommentar, Bearbeitung 1991 des Art. 21, Rn. 322; Isensee (Anm. 2), S. 45 f. 45
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Gerade deshalb halten aber manche andere den Gemeinwohlbegriff für von Grund auf diskreditiert. (Bismarck hatte ihn ja auch in der Tat gegen Bestrebungen der Demokratisierung und Parlamentarisierung ins Feld geführt.) Der zweite Einwand geht dahin, auch Amtsträger wie Abgeordnete und Regierungsmitglieder strebten in Wirklichkeit gerade nicht nach dem Gemeinwohl, sondern folgten im Zweifel ihren eigenen Interessen oder den Interessen ihrer Gruppe. Das ist die übereinstimmende Kernthese einiger jüngerer wirtschafts-, sozial- und verwaltungswissenschaftlicher Ansätze47, die damit sozusagen ein Kontrastprogramm zur Staatsrechtslehre darstellen. Hier wird statt auf normative Gemeinwohlpostulate also ganz bewusst auf die (zunächst einmal behauptete) empirische Realität abgestellt. Ein geistiger Vater der ganzen Konzeption war der Soziologe und Wirtschaftswissenschaftler Joseph Alois Schumpeter48. Er unterstrich, Politiker und Parteien strebten – trotz aller öffentlicher Gemeinwohlrhetorik – nicht wirklich nach dem „allgemeinen Besten“, sondern nach Posten und Macht (eine Auffassung, die übrigens auch Max Weber, der Vater der Soziologie in Deutschland, bereits vertreten hatte49). Schumpeter überträgt damit die wirtschaftswissenschaftliche Modellvorstellung von einem eigennützig handelnden so genannten „homo oeconomicus“ ganz bewusst auf den Bereich der Politik. Ein anderer, vor allem in der Bundesrepublik Deutschland einflussreicher geistiger Vater, der Gemeinwohl schon als Begriff ablehnte, war der Soziologe Niklas Luhmann: Weder könne die Politik gemeinwohlorientiert handeln noch die Verwaltung wirtschaftlich50.
46 Karl Maria Hettlage, Die Finanzverfassung im Rahmen der Staatsverfassung, in: VVDStRL Band 14 (1956), S. 2 (13). 47 Anthony Downs, Ökonomische Theorie (Anm. 25); Niklas Luhmann, Soziale Systeme, 4. Aufl., Frankfurt a. M. 1994, S. 626 f. 48 Joseph Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, Bern 1946, z. B. S. 443, 449. 49 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Halbband 1. Mit textkritischen Erläuterungen herausgegeben von Johannes Winckelmann, 5. rev. Auflage, Tübingen 1972, S. 167: Den Parteien gehe es vor allem um die Erlangung der Macht für ihre Führer und um die Besetzung des Verwaltungsstabs durch ihre aktiven Mitglieder. Bei der Ämterbesetzung zu kurz zu kommen träfe sie im Allgemeinen härter als Abstriche in der sachlichen Programmatik. 50 Niklas Luhmann, Kann die Verwaltung wirtschaftlich handeln?, in: Verwaltungsarchiv 1960, S. 97 ff.
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2. Der Wahl- und Wettbewerbsansatz a) Darstellung Die genannten Einwände gehen an den Nerv, weil sie beide Elemente der Lincolnschen Formel bestreiten: Die Akteure handelten nicht für das Volk, und falls sie es doch tun, fehle es am Handeln durch das Volk. Dieses zweifache Defizit will nun der Wahl- und Wettbewerbsansatz beheben51 und zugleich zwischen beiden Elementen der Formel eine Synthese herstellen. Dabei ist daran zu erinnern, dass auch dem Modell der Martwirtschaft von Anfang an eine Gemeinwohlvorstellung mit zweifacher Ausgleichserwartung zugrunde lag. Das Geheimnis liegt im Wettbewerb. Wenn und soweit er funktioniert, wirkt er ja, wie wir seit Adam Smith’s bahnbrechender Untersuchung über den „Wohlstand der Nationen“ wissen, wie eine „unsichtbare Hand“ und führt dazu, dass die Produzenten sich aus eigenem Interesse nach den Wünschen der Nachfrager richten und möglichst gute und preiswerte Güter anbieten52. Die Summe der Egoismen tendiert dann nicht nur zur „allgemeinen Wohlfahrt“, sondern auch zur „Konsumentensouveränität“. Wer das ökonomische Modell auf die Politik übertragen möchte – und das tun, häufig unausgesprochen, viele –, muss also gleichzeitig fragen, ob auch die Wettbewerbsvorstellung realistischerweise auf die Politik übertragbar ist und aus der Konsumenten- eine Art Wählersouveränität werden kann. Genau dies ist der Kern des Wahl- und Wettbewerbsansatzes. Das entsprechende Modell ist relativ einfach: Politiker und Parteien konkurrieren 51 Vgl. für die Staatslehre: Reinhold Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 13. Auflage, München 1999, § 23 II 5 (S. 187 ff.); Hans Herbert von Arnim, Staatslehre (Anm. 4), S. 108 ff., S. 320 ff. Für die Politikwissenschaft: Wilhelm Hennis, Zur Rechtfertigung und Kritik der Bundestagsarbeit (1967), in: ders., Die missverstandene Demokratie, Freiburg 1973, S. 121 ff.; Winfried Steffani, Parlamentarische Demokratie, in: ders. (Hrsg.), Parlamentarismus ohne Transparenz, Opladen 1971, S. 17 ff.; Gerhard A. Ritter, Die Kontrolle staatlicher Macht in der modernen Demokratie, in: ders. (Hrsg.), Vom Wohlfahrtsausschuss zum Wohlfahrtsstaat, Köln 1973, S. 69 (80 ff.); Franz Lehner, Grenzen des Regierens, Königstein/Ts. 1979, S. 84 ff.; Heidrun Abromeit, Interessenvermittlung zwischen Konkurrenz und Konkordanz, Opladen 1993, S. 58 ff.; Gerhard Lehmbruch, Parteienwettbewerb im Bundesstaat, Opladen 1998, S. 19 ff.; Für die Neue Politische Ökonomie: Joseph Schumpeter, Kapitalismus (Anm. 51); Anthony Downs, Ökonomische Theorie (Anm. 25). 52 Adam Smith, Eine Untersuchung über Natur und Wesen des Reichtums der Nationen, 1776.
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um Wählerstimmen. Werden sie gewählt, haben sie eine Wahlperiode Zeit, ihre Vorstellungen durchzusetzen. Doch danach kommt mit der nächsten Wahl die „Abrechnung“. Je nach Bewertung ihrer Leistungen durch die Wähler werden sie wiedergewählt oder aber abgewählt und die Opposition an die Macht gebracht. Zentrales Merkmal der ganzen Konzeption ist die Verantwortlichkeit der Politiker und ihrer Parteien gegenüber den Wählern.53 Es geht letztlich um die Sicherung der Möglichkeit, „die [schlechte] Regierung ohne Blutvergießen durch eine Abstimmung loszuwerden“ (Popper)54. Unverkennbar liegt auch hier eine bestimmte Gemeinwohlkonzeption zu Grunde. b) Kritik: „Kartell-Parteien“ und „politische Klasse“ Stimmt diese Konstruktion aber mit der Realität überein? Besteht wirklich Wettbewerb? Können die Wähler Politiker und Parteien für schlechte Politik wirklich zur Verantwortung ziehen? Zwei moderne Theorien stellen die Existenz von ausreichendem Wettbewerb55 und damit auch die Verantwortlichkeit der Politik radikal in Frage. So insbesondere die „Kartellparteien-Theorie“ der Politikwissenschaftler Richard Katz und Peter Mair56 und das „politische Klasse-Konzept“57 etwa 53 Bernard Manin, The Principles of Representative Government, Cambridge 1997, S. 234: „Representative institutions aimed to subject those who govern to the verdict of those who are governed. It is the rendering of accounts that has constituted from the beginning the democratic component of representation. And representation today still entails that supreme moment when the electorate passes judgment on the past actions of those in government.“ 54 Karl R. Popper, Über das Problem der Demokratie, in: Manfred Lahnstein/ Hans Matthöfer (Hrsg.), Leidenschaft zur praktischen Vernunft. Festschrift für Helmut Schmidt zum 70. Geburtstag, Berlin 1989, S. 391 (392). 55 Ein Fall von nicht ausreichendem Wettbewerb ist auch das übereinstimmende Nichtaufgreifen von Problemen durch Parteien wegen befürchteter politischer Nachteile (etwa aus Furcht vor der geballten Macht von Interessengruppen) oder auch wegen gemeinsamer politischer Verblendung, hervorgerufen etwa durch Anforderungen einer bisweilen übertriebenen „political correctness“ (dazu Timor Kuran, Private Truths, Public Lies, Cambridge, Massachusetts 1995). Man kann hier – in Anlehnung an die Begriffsbildung von William Fellner für die Wirtschaft – von „Quasi-Kartellen“ sprechen. Dagegen können Außenseiterparteien helfen, die als „Kartellbrecher“ fungieren und dadurch die etablierten Parteien – bei Strafe von Stimmverlusten – zwingen, das bisher gemiedene Thema aufzugreifen. So hat die „Schillpartei“ das bis dahin notleidende Thema der öffentlichen Sicherheit in Hamburg ins rechte politische Licht gerückt. Ebenso haben seinerzeit die „Republikaner“ den massenhaften Asylmissbrauch thematisiert und dadurch indirekt zu seiner Bekämpfung durch die etablierten Parteien beigetragen. – Zu Fällen von übertriebenem Wettbewerb, vergleichbar dem „unlauteren Wettbewerb“ in der Wirtschaft, siehe von Arnim, Staatslehre (Anm. 5), S. 70, 200.
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des Politikwissenschaftlers Klaus von Beyme58. Beide Ansätze, die im jüngeren internationalen Schrifttum heftig diskutiert werden, sehen gerade in 56 Richard S. Katz/Peter Mair, Changing Models of Party Organization and Party Democracy. The Emergence of the Cartel Party, in: Party Politics 1995, S. 5 ff. – Die Thesen von Katz und Mair werden in der Politikwissenschaft intensiv diskutiert. Siehe z. B. Ruud Koole, Cadre, Catch-All or Cartel? A Comment on the Notion of the Cartel Party, in: Party Politics 1996, S. 507 ff.; Katz/Mair, Cadre, Catch-All or Cartel? A Rejoinder, in: Party Politics 1996, S. 525 ff.; Hans Herbert von Arnim, Fetter Bauch regiert nicht gern, Taschenbuch-Ausgabe, München 1999, S. 355 ff.; Klaus von Beyme, Funktionswandel der Parteien in der Entwicklung von der Massenmitgliederpartei zur Partei der Berufspolitiker, in: Oscar W. Gabriel/ Oskar Niedermayer/Richard Stöss (Hrsg.), Parteiendemokratie in Deutschland, Bonn 1997, S. 359 (369 ff.); Elmar Wiesendahl, Die Parteien auf dem Weg zu Kartellparteien?, in: Hans Herbert von Arnim (Hrsg.), Adäquate Institutionen: Voraussetzungen für „gute“ und bürgernahe Politik?, Berlin 1999, S. 49 ff.; Herbert Kitschelt, Citizens, Politicians, and Party Cartellization: Political Representation and State Failure in Post Industrial Democracies, in: European Journal of Political Research 2000, S. 149 ff.; Ludger Helms, Die „Kartellparteien“-These und ihre Kritiker, in: PVS 2001, S. 698 ff.; Wilfried Röhrich, Herrschaft und Emanzipation. Prolegomena einer kritischen Politikwissenschaft, Berlin 2001, S. 443 ff.; Thomas Poguntke, Zur empirischen Evidenz der Kartellparteien-These, in: ZParl 2002, S. 790 ff.; Klaus Detterbeck, Der Wandel politischer Parteien in Westeuropa. Eine vergleichende Untersuchung von Organisationsstrukturen, politischer Rolle und Wettbewerbsverhalten von Großparteien in Dänemark, Deutschland, Großbritannien und der Schweiz, 1960–1999, Opladen 2002; Richard S. Katz/Peter Mair, The Ascendancy of the Party in Public Office: Party Organizational Change in Twentieth-Century Democracies, in: Richard Gunther/José Ramón Montero/Juan J. Linz (ed.), Political Parties. Old Concepts and New Challenges, Oxford 2002, S. 113 ff. – Zur zunehmenden Verkrustung und Kartellierung in der Bundesrepublik siehe jüngst auch den pointierten Beitrag des Journalisten und Politikers Michael Naumann, Erstarrt in alle Ewigkeit, in: Die Zeit vom 13.12.2001. 57 Der schon von Gaetano Mosca, Die herrschende Klasse, 1. Aufl., 1895, hier herangezogen die deutsche Übersetzung der 4. Aufl., 1947, durch Franz Borkenau, München 1950, S. 53 ff., S. 271 ff., S. 321 ff., verwendete Begriff der „politischen Klasse“ erlebt seit etwa einem Jahrzehnt auch im deutschen politikwissenschaftlichen Schrifttum eine Renaissance. Siehe zum Beispiel Christine Landfried, Parteifinanzen und politische Macht, 2. Aufl., Baden-Baden 1994, S. 144 ff., S. 271 ff.; Hans-Dieter Klingemann/Richard Stöss/Bernhard Weßels (Hrsg.), Politische Klasse und politische Institutionen, Opladen 1991; Thomas Leif/Hans-Josef Legrand/Ansgar Klein, Die politische Klasse in Deutschland, Bonn 1992; Klaus von Beyme, Die politische Klasse im Parteienstaat, Frankfurt a. M. 1993, S. 30 ff.; Jens Borchert/Lutz Golsch, Die politische Klasse in westlichen Demokratien: Rekrutierung, Karriereinteressen und institutioneller Wandel, in: PVS 1995, S. 609 (609); Hilke Rebenstorf, Die politische Klasse, Frankfurt a. M. 1995; von Arnim, Fetter Bauch (Anm. 56), Kap. 1 und 2; Danilo Zolo, Die demokratische Fürstenherrschaft, Göttingen 1997; Lutz Golsch, Die politische Klasse im Parlament, Baden-Baden 1998; Jens Borchert (Hrsg.), Politik als Beruf. Die politische Klasse in westlichen Demokratien, Opladen 1999; Röhrich, Herrschaft (Anm. 56), S. 446 ff.; Jens Borchert, Die Professionalisierung der Politik. Zur Notwendigkeit eines Ärgernisses, Frankfurt a. M./New York 2003. 58 von Beyme, Die politische Klasse (Anm. 57).
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der Bundesrepublik ein besonders treffendes Beispiel für Wettbewerbsbeschränkungen und politische Kartelle59. c) Befund: Schwächung der Verantwortlichkeit durch Wahlrecht und Föderalismus Das zentrale Problem scheint mir in der Tat darin zu liegen, dass unser System die Verantwortlichkeit der politischen Akteure gegenüber den Wählern zu einem guten Teil aufhebt60. Das beruht vor allem auf der Ausgestaltung unseres Wahlrechts61 und unseres Föderalismus62. Wir kennen zwei Grundmodelle zur Sicherung politischer Verantwortung in der Wettbewerbsdemokratie. Das eine Modell ist das der verantwortlichen Parteienregierung („responsible party government“)63. Hier wählen die Bürger zwischen alter59 Katz/Mair, Changing models (Anm. 56), S. 17: „We estimate that the process is likely to be most developed in countries such as Austria, Denmark, Germany, Finland, Norway and Sweden, where a tradition of inter-party cooperation combines with a contemporary abundance of state support for parties, and with a privileging of party in relation to patronage appointments, offices and so on.“ – Die Ähnlichkeit der etablierten Parteien Deutschlands mit dem Typ der Kartellpartei betont zum Beispiel auch Thomas Saalfeld, Court and Parties: Evolution and Problems of Political Funding in Germany, in: Robert Williams (ed.), Party Finance and Political Corruption, Basingstoke 2000, S. 89 (111): „The German ‚established parties‘ resemble, at least to some extent, the ideal type of a ‚cartel Party‘ (Katz and Mair) ‚in which colluding parties become agents of the state and employ the resources of the state (the party state) to ensure their own collective survival.‘“. Siehe auch Robert Williams, Conclusion: Problems and Prospects, in: Robert Williams (ed.), Party Finance (in dieser Anm.), S. 199 ff., S. 203: „German parties resemble ‚cartel parties‘ and serve less as links between civil society and the state and more as agents of the state.“. 60 Hans Herbert von Arnim, Institutionalized Political Unacountability and Political Corruption in Germany, in: Eberhard Bohne/Charles F. Bonser/Kenneth M. Spencer, Transatlantic Perspectives on Liberalization and Democratic Governance, Hamburg 2004 (im Erscheinen). 61 Hans Herbert von Arnim, Wählen wir unsere Abgeordneten unmittelbar?, in: JZ 2002, S. 578 ff.; ders., Wahl ohne Auswahl. Die Parteien und nicht die Bürger bestimmen die Abgeordneten, in: Andreas M. Wüst (Hrsg.), Politbarometer, Opladen 2003, S. 125 ff. 62 Vgl. ausführlich dazu von Arnim, Vom schönen Schein (Anm. 6), S. 47 ff. 63 Siehe zum Beispiel Peter Graf Kielmansegg, Helfen gegen den Parteienstaat nur noch Volksentscheide?, in: Konrad Adenauer Stiftung (Hrsg.), Wie viel Bürgerbeteiligung im Parteienstaat?, Sankt Augustin 2000, S. 14, 18: „Für das parlamentarische System ist eine klare Trennung zwischen Regierungs- und Oppositionsfunktion konstitutiv. Die Wähler weisen diese Rollen den konkurrierenden Parteien auf Zeit fest zu. Und sie können beide Akteure, Mehrheit wie Minderheit, dann dafür zur Verantwortung ziehen, wie sie die ihnen zugewiesene Rolle gespielt haben. . . . Demokratie heißt ‚responsible government‘.“
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nativen Parteien, von denen eine die Mehrheit im Parlament besitzt und die Regierung stellt. Sind die Bürger mit ihren Leistungen unzufrieden, so wählen sie die Mehrheitspartei bei den nächsten Parlamentswahlen ab und bringen die Opposition an die Macht. Doch bei uns kann der Bürger nicht, jedenfalls nicht endgültig, darüber entscheiden, wer die Mehrheit bekommt und die Regierung bildet. Denn das hängt nach unserem Wahlsystem meist von Koalitionsabsprachen ab, die häufig erst nach den Wahlen von wenigen politischen „Elefanten“ getroffen werden. Und wenn die Regierung und der meist von der Opposition beherrschte Bundesrat sich auf ein bestimmtes Gesetz einigen, das dem Wähler nicht gefällt, welche Partei will er dann dafür noch verantwortlich machen? Oft kommt es aber zu keinem Konsens. Denn die Opposition, die im Bundesrat die Mehrheit hat, neigt leicht dazu, der Regierung – aus machtpolitischen Gründen – jeden Erfolg zu missgönnen. So droht ganz Deutschland – mangels klarer Verantwortlichkeit – die Falle der Handlungs- und Reformunfähigkeit. Dass es an einem System des „responsible party government“ in der Bundesrepublik fehlt, hat wiederum Karl Popper eindrucksvoll dargelegt.64 Wird es für den Wähler nun aber zunehmend unmöglich (und ganz „systematisch“ auch unmöglich gemacht), zwischen den einzelnen Parteien zu unterscheiden, ihnen eine bestimmte Politik zuzurechnen und sie dafür verantwortlich zu machen, sollten sie zumindest die Personen bestimmen können, die politische Ämter innehaben. Damit sind wir beim zweiten Modell der Wettbewerbsdemokratie: der Regierung verantwortlicher Personen („responsible persons government“). Hier ist es weniger wichtig, für welches Programm die Partei steht als welche Personen zur Wahl stehen.65 Die Verhältniswahl mit starren Listen nimmt dem Bürger die Auswahl der Abgeordneten aus der Hand66. Entscheidend für den Einzug der Kandidaten ins Parlament ist die Nominierung in sicheren Wahlkreisen oder auf sicheren Listenplätzen. So stehen die allermeisten Abgeordneten schon lange vor der Wahl fest, durch die längst getroffene Vorentscheidungen nur noch formal abgenickt werden67. Das dient zwar dem Interesse derer, die parteiin64
Popper (Anm. 54). Auch aus einer Reihe anderer Gründe tritt die Bedeutung der Parteien allmählich zurück und wird die Auswahl der Personen immer wichtiger. Siehe dazu Manin (Anm. 53), p. 218 (221): „Contemporary voters continue to retain the ultimate power they have always had in representative governments, namely, the power to dismiss the representatives whose record they find unsatisfactory. The age of voting on the candidates’ platforms is probably over, but the age of voting on the incumbents’ record may be beginning.“ 66 Zuletzt hierzu Hans Herbert von Arnim, Wählen wir (Anm. 61), S. 578 ff. und ders., Fetter Bauch (Anm. 56), Kapitel 2. 67 Siehe dazu Hans Herbert von Arnim, Wer kümmert sich (Anm. 43); ders., Wahl ohne Auswahl (Anm. 61). 65
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tern die Fäden ziehen und so ihre Wiederwahl sichern, entmachtet aber die Bürger. So konnten die Wähler etwa bei der letzten Bundestagswahl weder Rudolf Scharping abwählen, trotz Hunzinger Affäre, noch Rezzo Schlauch, den Bangkok-Flieger auf Steuerzahlerkosten. Beide waren auf ihren jeweiligen Parteilisten abgesichert. In der Landespolitik ist die Diffusion der Verantwortung fast noch größer. Denn die sechzehn Bundesländer sind dazu übergegangen, ihre Politik in rund tausend länderübergreifenden Gremien, wie zum Beispiel der Kultusministerkonferenz, untereinander und häufig zusätzlich auch mit dem Bund abzustimmen. Das bindet dann faktisch die Regierungen und entmachtet die Landesparlamente, von den Landesbürgern ganz zu schweigen. Alle diese Formen der „Politikverflechtung“68 im deutschen Bundesstaat69 bewirken, dass am Ende niemand mehr weiß, wer für welche Entscheidung überhaupt verantwortlich zu machen ist. Der Wähler kann gute Politik nicht mehr mit dem Stimmzettel belohnen und schlechte Politik nicht bestrafen, wie dies das Konzept der Wettbewerbsdemokratie voraussetzt. Das Berufsrisiko der politischen Klasse wird dadurch stark gemindert, dass für Fehler alle und damit niemand verantwortlich gemacht werden kann. Erfolge rechnet sich jeder zu, für Misserfolge sind dagegen immer die anderen verantwortlich. Was vor kurzem noch als unaussprechliches Tabu galt, wird jetzt allenthalben kritisiert: das System organisierter Unverantwortlichkeit70. Die politische Klasse hat die Verantwortungsscheu zum System gemacht71. Die Folge ist ein Verlust von politischer Handlungs- und Reformfähigkeit und von Bürgermitwirkung, also beider Elemente der Lincolnschen Formel. 68 Fritz Scharpf/Bernd Reissert/Fritz Schnabel, Politikverflechtung, Kronberg/ Ts. 1976; dies., Politikverflechtung II, Kronberg/Ts. 1977. 69 Gerhard Lehmbruch, Parteienwettbewerb im Bundesstaat, 3. Auflage, Wiesbaden 2000; Charles B. Blankart, Öffentliche Finanzen in der Demokratie, 4. Aufl., München 2001, S. 581 ff., 590 ff. 70 In der Analyse und Kritik dieses Zustandes ist man sich inzwischen weitgehend einig. Insofern hat sich die herrschende Meinung von Politik und Wissenschaft in kürzester Zeit vollständig gedreht. So geißeln zum Beispiel die CDU-Politiker Roland Koch und Jürgen Rüttgers in ihrem kürzlich vorgelegten Papier zur Reform des Föderalismus offen die „organisierte Unverantwortlichkeit“ des Systems. Ebenso etwa der frühere Erste Bürgermeister von Hamburg, Klaus von Dohnanyi: „Deutschland ist heute ein System organisierter politischer Verantwortungslosigkeit“ (zitiert nach Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15.11.2003). Dass die institutionellen Fehlentwicklungen ihrerseits aber vielfach auf die Eigeninteressen der politischen Klasse zurückzuführen sind, wird meist noch nicht eingestanden. 71 Ausführlich von Arnim, Vom schönen Schein (Anm. 6), Teil 2; ders., Das System (Anm. 16). Siehe auch schon R. Kent Weaver, The Politics of Blame Avoidance, in: Journal of Public Policy, vol. 6 (1986), S. 371 ff.
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Was zuallererst zu reformieren wäre, sind also das Wahlrecht und die Auswüchse des Föderalismus. Hier stellt sich allerdings die Fundamentalfrage, wer die erforderlichen Reformen vornehmen soll. Wenn diejenigen, die es zu disziplinieren gilt, das Rechtsetzungsverfahren beherrschen, läuft dann das Plädoyer für eine Erneuerung der Verfassung nicht auf die Münchhausen-Empfehlung hinaus, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen? Was Roman Herzog über die Schwierigkeit, Reformen durchzusetzen, gesagt hat, dass nämlich weniger die Erkenntnis als die Umsetzung das Problem sei72, gilt hier, bei der Reform des Wahlrechts und des Föderalismus, erst recht. Ist die Bundesrepublik somit in einer Art Falle gefangen, aus der es – trotz immer größerer Gemeinwohldefizite – aus eigener Kraft kein Entrinnen gibt?73 3. Pluralismus-Ansatz a) Pluralistische Harmonielehre Analog zur Theorie der Parteienkonkurrenz hat sich auch eine Theorie der Verbandskonkurrenz entwickelt: Die sogenannte Pluralismustheorie versteht Politik als Resultante des Drucks der unterschiedlichen Interessengruppen. Dabei ist die Rechtsetzung von Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften durch Tarifverträge nur die offensichtlichste und unmittelbarste Form des Verbandseinflusses, der sich darin aber keineswegs erschöpft. Es geht um bilaterale oder multilaterale Verhandlungen und Absprachen zwischen großen Gruppen. Auch dieser Auffassung, die ihren Ursprung vor allem in amerikanischen Pluralismustheorien hat74, liegt eine bestimmte Gemeinwohlvorstellung zugrunde. Sie geht nämlich davon aus, der Druck der Gruppeninteressen führe per saldo zu halbwegs ausgewogenen und angemessenen Ergebnissen. Drohe ein wichtiges Interesse zu kurz zu kommen, bilde sich eine Gegenmacht, die die Dinge wieder ins Lot bringe (siehe Galbraith’s „Counterveiling Power“). 72
Roman Herzog, Aufbruch (Anm. 6), S. 353 (354). Eine Teil-Antwort wird der Ausgang der geplanten Föderalismusreform ergeben, die die vom Bundestag und vom Bunderat im Herbst 2003 eingesetzte Föderalismus-Kommission vorbereiten soll. Siehe Antrag der Fraktionen SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und FDP zur Einsetzung einer gemeinsamen Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung vom 14.10.2003 (Bundestagsdrucksache 15/1685) und die entsprechenden Beschlüsse des Bundestags vom 16. Oktober und des Bundesrats vom 17. Oktober 2003. 74 Arthur Bentley, The Process of Government, Evanston, Ill. 1959 (Erstausgabe: 1909); David B. Truman, The Governmental Process, New York 1958. 73
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b) Pluralismuskritik Gegen diese Art von Harmonielehre richtet sich die Pluralismuskritik75. Sie nimmt die Kernthese des Pluralismus auf, nur organisierte Interessen seien geschützt, sucht aber gleichzeitig aufzuzeigen, dass bestimmte Interessen sich kaum wirksam organisieren ließen und deshalb typischerweise zu kurz kämen76. Dies seien oft gerade ganz allgemeine und damit besonders wichtige Interessen, wozu auch die Sicherung der Zukunft gehöre. Das ist etwa das Problem von Subventionen, für die sich schlagkräftig organisierte Verbände stark machen, während das allgemeine Interesse der Steuerzahler, die die Subventionen zu bezahlen haben, auf Grund ihrer organisatorischen Schwäche zu kurz kommt. Derselbe schiefe Mechanismus, der Subventionen in Zeiten voller öffentlicher Kassen immer mehr ausgeweitet hat, steht – in Zeiten knapper Kassen – ihrem eigentlich unerlässlichen Abbau entgegen.77 Aus ganz ähnlichen Gründen ist auch eine große Steuerreform, bei der alle Steuervergünstigungen beseitigt und gleichzeitig die Tarife massiv gesenkt werden müssten (was mehr Klarheit und mehr Gerechtigkeit brächte)78, so schwer durchzusetzen. „Die Politik“ muss sich dabei mit allen Partikularverbänden (und deren Funktionären) gleichzeitig anlegen. Diese haben die Vergünstigungen früher einmal dem Gesetzgeber abgerungen und wehren sich jetzt mit Zähnen und Klauen gegen deren Beseitigung. So galt eine große Steuerreform zu versuchen, lange geradezu als „politischer Selbstmord“, weshalb sich – über Jahrzehnte hinweg – keine große Partei ernsthaft dafür stark machte79. Diese Art von „Repräsentationsdefiziten“ hat auch der frühere Bundespräsident Roman Herzog in seiner „Allgemeinen Staatslehre“ recht deutlich beim Namen genannt80. Überhaupt ist die Erkenntnis, dass allgemeine Interessen im Spiel der pluralistischen Kräfte leicht zu kurz kommen, so neu nicht81, mögen große Teile der Politikwissenschaft diesen zentralen Tatbestand durch die szientistische Konstruktion immer neuer Pluralismusmodelle auch eher verdecken: „Neo-Pluralismus“, „Spät-Pluralismus“, „Kor75 Mancur Olson, Die Logik des kollektiven Handelns, Tübingen 1968; von Arnim, Gemeinwohl (Anm. 4), S. 148 ff. 76 von Arnim, Gemeinwohl (Anm. 4), S. 153 ff. 77 Hans Herbert von Arnim, Subventionen, in: Finanzarchiv 1986, S. 81 ff. 78 Siehe schon Karl-Bräuer-Institut des Bundes der Steuerzahler e. V. (Hrsg.), Der Weg zu einem zeitgemäßen Steuersystem (bearbeitet von K. Schelle, H. H. von Arnim, R. Borell, D. Lau, D. Meng), Wiesbaden 1971. 79 Dies ist ein Beispiel für das Nichtaufgreifen von Problemen durch Parteien wegen befürchteter politischer Nachteile im Sinne eines Quasi-Kartells (siehe oben Anm. 55). 80 Roman Herzog, Allgemeine Staatslehre 1971, S. 67 ff. 81 Überblick bei von Arnim, Gemeinwohl (Anm. 4), S. 151 ff.
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poratismus“, „Netzwerk-Pluralismus“ etc.82 Finden Interessen aber desto weniger Berücksichtigung, je größer der Kreis der Betroffenen ist, läuft das letztlich auf einen „Mechanismus umgekehrter Demokratie“ hinaus oder, wenn man so will: auf einen Mechanismus des umgekehrten Gemeinwohls. Gewiss, neben den partikularen Verbänden entwickeln sich auch „public interest groups“ wie zum Beispiel amnesty international, Transparency International, Umweltschutz- und Steuerzahlerverbände83. Die Frage ist nur, ob diese nicht regelmäßig relativ schwach sind und deshalb selbst in den USA, wo sie sehr viel zahlreicher und potenter sind als bei uns, die Unterlegenheit allgemeiner Interessen normalerweise nicht ausgleichen können84. Hinzu kommt, dass viele Verbände keine wirkliche Legitimation ihrer Mitglieder besitzen und oft von der politischen Klasse umarmt und so gezielt entschärft werden. Sie degenerieren dann leicht zu Pfründen für bestimmte Positionsinhaber. Viele Vorstandspositionen sind hochbesoldet und werden praktisch auf Lebenszeit vergeben. Auch beim Pluralismus-Ansatz sind somit beide Anforderungen fraglich: Sowohl das Agieren für das Volk als auch das Agieren durch das Volk. Die für den Pluralismus typischen Verhandlungen zwischen Funktionären großer Gruppen ähneln denen zwischen Gebietskörperschaften. Eine erweiterte Konzeption des Pluralismus fasst deshalb auch föderalistische Verhandlungen und Absprachen etwa zwischen den Ländern oder zwischen Bund und Ländern unter den Begriff. In jedem Fall kommt der Pluralismuskritik, soweit sie zutrifft, heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, ein sehr viel höherer Stellenwert zu als früher. Die Lage ist nämlich eine völlig andere als diejenige, die die amerikanischen Pluralisten seinerzeit noch vor Augen hatten, als sie ihre Konzeption entwarfen. Damals herrschten hohe wirtschaftliche Wachstumsraten, und die staatlichen Aufgaben waren relativ gering, so dass für ihre Befriedigung – trotz der Wünsche von Partikulargruppen – immer noch genügend Mittel 82 Überblick bei Klaus von Beyme, Spätpluralismus: Paradigmawandel der Interessengruppen-Forschung, in: Werner Jann/Klaus König/Christine Landfried/Peter Wordelmann, Politik und Verwaltung auf dem Weg in die transindustrielle Gesellschaft. Carl Böhret zum 65. Geburtstag, Baden-Baden 1998, S. 45 ff. 83 Alfred Roos, Schwache Interessen und hohe Reputation. Die Legitimation moralischer Forderungen und die Mobilisierung für Menschen- und Bürgerrechte, in: Ulrich Willems/Thomas von Winter (Hrsg.), Politische Repräsentation (Anm. 2), S. 241 ff. 84 Das ist das Ergebnis der wichtigen Studie von Heinz Ulrich Brinkmann, Public Interest Groups im politischen System der USA, Opladen 1984, S. 194 ff. Siehe auch Jeffrey M. Berry, Die Vereinigten Staaten im Zeitalter des Postmaterialismus, in: Willems/von Winter (Hrsg.), Politische Repräsentation (Anm. 2), S. 315 ff.
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übrig blieben. Zudem hatten die Funktionäre ihre Macht noch nicht derart etabliert – alles Voraussetzungen, die heute etwa in der Bundesrepublik nicht mehr vorliegen. c) Herrschaft der Funktionäre Typisch für den Pluralismus großer Gruppen und Einheiten ist die „Herrschaft von Funktionären“85. Sie begegnet uns in den Parteien („politische Klasse“), in den Verbänden („Verbandsklasse“), in den Ämtern über die föderalistischen Grenzen hinweg („vertikale Fachbruderschaften“)86 und in allen anderen Großorganisationen bis hin zu wirtschaftlichen Großunternehmen („wirtschaftliche Klasse“)87. Die politische Klasse wird in den letzten Jahren zunehmend untersucht (siehe oben S. 78 ff.). Da sie an den Schalthebeln der Gesetz- und Verfassungsgebung sitzt, verdient sie die Aufmerksamkeit der Politikwissenschaft und der Staatslehre auch in gesteigertem Maße. Darüber hinaus wäre es aber sicher lohnend, den Typus des Funktionärs und seine Rolle einmal generell zu untersuchen, auch die vielen Verquickungen der unterschiedlichen Rollen, die sich etwa in der Verbeamtung der Parteien und Parlamente und – umgekehrt – in der Parteipolitisierung des öffentlichen Dienstes88, aber eben auch in vielen anderen Bereichen zeigen. Dies alles wäre gerade vor dem Hintergrund der Frage zu untersuchen, inwieweit das Vorherrschen dieses Typus und die Dominanz der Eigeninteressen von Funktionären nicht nur für die Abgehobenheit der Politik und ihre eingeschränkte Gemeinwohlkonformität, sondern auch für Mängel der Wirtschaft und anderer wichtiger Bereiche mit ursächlich sind. 4. „Politisierung“ Wie können Reformen dennoch durchgesetzt werden? Ein möglicher Weg könnte, schlagwortartig ausgedrückt, über eine „Politisierung“ zu kurz kommender Themen führen, das heißt, über ihr öffentliches Zur-GeltungBringen. Nehmen wir wieder die Steuern als Beispiel: Wenn und so weit es gelingt, in der Öffentlichkeit deutlich zu machen, dass der Abbau von Steu85
Helmut Schelsky, Funktionäre. Gefährden sie das Gemeinwohl?, Stuttgart-Degerloch 1982; ders., Bürokraten und Funktionäre. Ihre Mentalität gefährdet das Gemeinwohl und den Fortschritt, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28.11.1981, S. 15. 86 Frido Wagener, Der öffentliche Dienst im Staat der Gegenwart, VVDStRL Band 37 (1978), S. 215 (216). 87 Helmut Schmidt, Auf der Suche nach einer öffentlichen Moral, Stuttgart 1998, S. 95 ff. 88 Dazu von Arnim, Fetter Bauch (Anm. 56), Kapitel 4.
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ersubventionen allen zu Gute kommt – in Form von niedrigen Tarifen und mehr Klarheit und Gerechtigkeit –, könnte eine durchgreifende Steuerreform leichter realisierbar werden, ohne dass die Promotoren Nachteile oder gar politischen Selbstmord riskierten. Der „Witz“ einer solchen Strategie der Politisierung läge im Versuch, den Bürger und die Medien unmittelbar anzusprechen, die öffentliche Meinung zu mobilisieren und dadurch die Funktionäre intermediärer Gruppen und ihr Sperrfeuer und zugleich alle anderen interessierten Spezialisten auszumanövrieren. Dabei geht es letztlich um eine Stärkung der relativen Stellung der Generalisten in der Politik durch eine Aktivierung des (dem Allgemeinen zugewendeten) Citoyen89. Eine solche Politisierung ist immerhin in anderen Bereichen mehr oder weniger gelungen, etwa im „Umweltschutz“, den gegen die vereinigte Macht der Unternehmen und Gewerkschaften in Angriff zu nehmen, gleichfalls lange für unrealisierbar gehalten wurde90. Ansätze zu einer Politisierung wichtiger Reformthemen sind in der Bundesrepublik bereits im Gang, nicht zuletzt auch durch die Etablierung von ad-hoc-Gruppierungen, die sich öffentlich zu Wort melden und der Politik „Dampf zu machen“ versuchen. Beispiele sind der von Meinhard Miegel ins Leben gerufene „Bürgerkonvent“, der mit gewaltigen Anzeigenaktionen Reformen zu puschen versucht, oder der „Konvent für Deutschland“, eine Gruppe von „elder statesmen“ unter Vorsitz des Altbundespräsidenten Roman Herzog. Plötzlich scheinen denn auch durchgreifende Reformvorschläge, etwa im Bereich des Steuerrechts, geradezu aus dem Boden zu schießen, so der von Paul Kirchhof 91, mit dem auch die CDU/CSU liebäugelt, der Vorschlag von Friedrich Merz92 und der Vorschlag der FDP93. Alle derartigen Ansätze können der politischen Führung ihre Aufgabe, die Notwendigkeit und die Ziele der Reformen klar herauszustellen und dadurch den Bürgern eine Perspektive zu vermitteln, aber nicht abnehmen. Das zu tun wird allerdings wiederum durch unser politisches System, das die politische Verantwortlichkeit verwischt, erschwert. 89 Rudolf Smend, Bürger und Bourgois im deutschen Staatsrecht, Berlin 1933, durchgehend; Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl., Stuttgart u. a. 1966, durchgehend. 90 Auch gegen Überversorgungen, die Politiker sich in eigener Sache bewilligt hatten, hat öffentliche Kritik, die in solchen Fällen „die einzige wirksame Kontrolle“ darstellt (BVerfGE 40, 296 [328]), immer wieder geholfen. Siehe z. B. von Arnim, Der Staat als Beute, München 1993; ders., Der Staat sind wir, München 1995. 91 Paul Kirchhof (Hrsg.), Einkommensteuergesetzbuch, Heidelberg 2003. 92 Bundesvorstand der Christlich Demokratischen Union Deutschlands, Beschluss vom 3. November 2003, Ein modernes Einkommensteuerrecht für Deutschland, Berlin 2003. 93 Hermann Otto Solms (Hrsg.), Die neue Einkommensteuer, Berlin 2003.
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5. Direkte Demokratie Auf der Suche nach Durchsetzungsmöglichkeiten richtet sich der Blick auch auf Einrichtungen der direkten Demokratie94, die in den letzten Jahren flächendeckend in allen sechzehn Ländern und auch in den Gemeinden eingeführt wurden. Mit ihnen können zumeist auch die Verfassungen geändert werden. Immerhin war die einzige halbwegs gelungene Strukturreform des vergangenen Jahrzehnts, die Reform der Kommunalverfassungen, gegen die widerstrebenden Interessen der Amtsinhaber ganz wesentlich durch Volksbegehren und Volksentscheid durchgesetzt worden – oder durch glaubwürdiges Drohen damit95. Doch auf Bundesebene gibt es bisher praktisch keine Formen der direkten Demokratie. Vielleicht sollte man deshalb auf der Landesebene mit Reformen etwa des Wahlrechts oder auch der Landesverfassung insgesamt beginnen96. Hier fühlt man sich an die Klassiker erinnert, die in der Aktivierung des Volkes schon immer ein wirksames Gegengewicht gegen Machtmissbräuche etwa von Parteien und Verbänden sahen.97 Es stellt sich aber auch die Grundfrage, ob direkt demokratische Entscheidungen nicht ein bestimmtes Maß an Gemeinsinn auf Seiten der Bürger voraussetzen und wie das zu aktivieren ist. Könnte es nicht sein, dass Bürger, wenn richtig angesprochen, eher bereit sind, sich bei Wahlen und Abstimmungen gemeinwohlorientiert zu verhalten als Berufspolitiker, selbst dann, wenn ihre Eigeninteressen damit kollidieren? Dies nicht etwa deshalb, weil Bürger die besseren Menschen wären, sondern weil für sie meist weniger auf dem Spiel steht und sie sich deshalb gemeinwohlorientiertes Verhalten eher leisten können98. Möglicherweise muss aber alles erst noch viel schlimmer kommen, um die nötigen Reformkräfte freizusetzen. Katz und Mair setzen ihre Hoffnung in das Aufkommen neuer Parteien, die aus der Kritik an den Kartellierungstendenzen der Etablierten ihre Wahlkampfmunition gewinnen99. Wäre das aber wirklich wünschenswert – nach aller Erfahrung, die wir mit manchen dieser Parteien in Deutschland und in unseren Nachbarländern gesammelt haben? 94
Dazu etwa von Arnim, Vom schönen Schein (Anm. 6), S. 169 ff. Vgl. zuletzt ausführlich Hans Herbert von Arnim, Die politische Durchsetzung der Kommunalverfassungsreform der neunziger Jahre, in: DÖV 2002, S. 585 ff. 96 Dazu Hans Herbert von Arnim, Systemwechsel durch Direktwahl des Ministerpräsidenten, in: Heinrich Siedentopf/Karl-Peter Sommermann (Hrsg.), Institutionenbildung in Regierung und Verwaltung. Festschrift für Klaus König, Berlin 2004 (im Erscheinen). 97 Auch die vorher erwähnte „Politisierung“ ist, genau genommen, eine Strategie zur Aktivierung des Volkes. 98 von Arnim, Das System (Anm. 16), S. 373 f. mit weiteren Nachweisen. 99 Katz/Mair (Anm. 56), S. 18. 95
Bericht über die Diskussion zum Vortrag von Hans Herbert von Arnim Diskussionsleiter: Heinrich Siedentopf Von Stefan Kleb Der Diskussionsleiter dankte dem Referenten für seinen Beitrag und eröffnete die Diskussion. Dr. Ulrich Naujokat, Eschborn, merkte an, dass sowohl Bürger als auch Politiker für den Reformstau in Deutschland verantwortlich zu machen seien. Regionalinteressen der Bürger im Wahlkreis stünden häufig gegen Allgemeininteressen. Beispiele dafür seien die Subventionierung der Kohleförderung im Ruhrgebiet oder die Förderung der Entwicklung in den neuen Bundesländern mit dem Solidaritätszuschlag. Politiker fühlten sich häufig für die Interessen ihres Wahlkreises oder ihrer Region verantwortlich und verlören dabei die Interessen des ganzen Volkes aus dem Blick. Helmut Krüger, Kornwestheim, fragte, ob nach Auffassung des Referenten die Gefährdung oder der Niedergang des Rechtsstaats schon innerhalb kürzerer Zeit zu befürchten sei. Da Politiker die Macht hätten, sie nicht abgeben wollten und sie sich den Staat zur Beute machten, sehe er den Rechtsstaat schon jetzt als gefährdet an. Jörg Kasper, Dietzenbach, kritisierte die derzeitigen Mechanismen der Parteienfinanzierung. Er befasse sich mit der Gründung einer neuen Partei in der Theorie. Neue Parteien würden zu wenig gefördert. Das Bundesverfassungsgericht weigere sich, eine Finanzierung von sich im Entstehen befindenden Parteien zu befürworten. Solange man keine Finanzierung hätte, könne man aber auch keine Kandidaten anwerben. Bisher könne man die Abgeordneten nicht wirklich abwählen, weil es keine Alternativen gäbe. Um neue Kandidaten zu finden, bräuchte man aber Geld. Jedes neu zu gründende Unternehmen bekäme Beihilfen und eine neu zu gründende Partei sei ja im Prinzip nichts anderes als ein Unternehmen auf einem Spezialgebiet. Niemand innerhalb der Politik, auch nicht das Bundesverfassungsgericht, sei aber an der Förderung von neuen Parteien interessiert, und deshalb käme es auch nicht dazu.
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Dr. Hartwin Vieweg, Neuwied, merkte an, dass Karl Jaspers in seinem Buch „Wohin treibt die Bundesrepublik“ von 1966 die Abschaffung der 5%-Sperrklausel gefordert habe und fragte nach der Auffassung des Referenten hierzu. Dr. Martin Wyss, Bern, dankte Prof. Dr. Stefan Fisch, dass dieser in seinem Referat den in der Schweiz vorherrschenden genossenschaftlichen Gedanken dem monarchischen Prinzip gegenüber gestellt habe. Der genossenschaftliche Gedanke habe in der Schweiz zur starken Ausprägung direktdemokratischer Instrumente geführt. Diese seien weitgehend positiv zu bewerten, wenngleich sie unter anderem auch zu einem übertriebenen Unabhängigkeits- und Neutralitätsbedürfnis geführt hätten. Die Ausführungen von Arnims hätten ihn insoweit nicht ganz überzeugt als dass direkte Demokratie nur als ein Reformmotor für die repräsentative Demokratie bzw. als eine sinnvolle Ergänzung eines defizitären Wahlrechts verstanden würde. Instrumente der direkten Demokratie brächten nach seiner Auffassung aber weitere drei Vorteile: Die Zivilgesellschaft könne zu Sachfragen punktuell Stellung nehmen; die regelmäßige Durchführung und dadurch Einübung direktdemokratischer Beteiligungsmechanismen erzeuge eine demokratische Atmosphäre in der Gesellschaft und schließlich erlaube dieses System, im Gegensatz zu einem konsensualen, verbindliche Antworten auf politische Fragestellungen zu geben. Daher frage er den Referenten, warum dieser direkte Demokratie nur als einen Reformmotor begreife. Das sei nach seiner Auffassung eine Verkürzung und Abwertung. Von Arnim begründete die Erwähnung direktdemokratischer Instrumente nur als Reforminstrumente mit der Kürze der Zeit, die ihm für das Referat zur Verfügung gestanden habe. In der Tat seien aber in einer repräsentativen Demokratie Strukturänderungen besonders schwierig umzusetzen, weil sich die Betroffenen selten am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen wollten und könnten. Direktdemokratische Instrumente stellten das einzige Gegengewicht dar, das Strukturänderungen anregen oder umsetzen könne. So sei es bei der Durchsetzung der Kommunalverfassungsreformen in den Neunziger Jahren gewesen, die durch einen Volksentscheid 1991 in Hessen initiiert wurden. Im Folgenden habe man in den anderen Bundesländern dann nur noch mit einem Volksbegehren drohen müssen um der Reform zum Durchbruch zu verhelfen. In der Tat könne man aber direkte Demokratie nicht auf diese Funktion einengen, was der Referent aber auch in seinem Buch „Vom schönen Schein der Demokratie“, ausführlich dargelegt habe. Die Bemerkung Naujokats über die zu starke Betonung von Regionalinteressen gegenüber allgemeinen Interessen könne er so nicht teilen, weil der Wähler in den meisten Fällen gar nicht die Möglichkeit habe, seinen Abgeordneten zu wählen. Wer in einem sicheren Wahlkreis oder auf einen siche-
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ren Listenplätze nominiert worden sei, käme automatisch ins Parlament, selbst wenn der Wähler ihn abwählen wolle, wie das bei den letzten Bundestagswahlen zum Beispiel bei Rudolf Scharping der Fall gewesen sei, der seinen Wahlkreis verloren habe, aber auf der Liste abgesichert gewesen sei. Bei einer Erhebung seines Lehrstuhls darüber, bei wie vielen Bundestagsabgeordneten man vor der Wahl schon gewusst habe, ob sie nach der Wahl ins Parlament einziehen würden, habe sich herausgestellt, dass z. B. in Bayern vor der Bundestagswahl 2002 etwa 80% der Abgeordneten schon festgestanden hätten, bei der hessischen Landtagswahl habe man bei 76 von 110 Abgeordneten schon vor der Wahl sicher gewusst, dass sie in den Landtag einziehen würden. Nicht die Bürger wählten also die Abgeordneten aus, sondern die Parteien durch ihre Nominierungen. Der Abgeordnete sei dem Wähler daher in geringem Maße verantwortlich, statt dessen bestehe eine Verantwortlichkeit gegenüber der ihn nominierenden Partei. Für diese sei aber die parlamentarische Arbeit des Abgeordneten nicht so wichtig, andere Dinge, das hätten Politikwissenschaftler herausgefunden, seien viel entscheidender. Den Bemerkungen von Krüger und Kasper über die Benachteiligung kleiner Parteien durch die 5%-Klausel und die geltenden Regelungen der Parteienfinanzierung stimmte von Arnim zu. Die 5%-Klausel habe über die 5% hinaus auch Vorwirkungen auf die Wähler, so dass eine Partei mit einem Sympathiepotential von 7–8% in der Gesellschaft in der Regel auch noch an der 5%-Klausel scheitern würde. Die 5%-Klausel habe zu Beginn der Geschichte der Bundesrepublik sicherlich eine wichtige Rolle gespielt, zumal vor den Erfahrungen der Weimarer Republik, in der das Parteienspektrum allerdings nicht nur zersplittert gewesen sei, sondern vor allem das Problem bestand, dass viele der im Parlament vertretenen Parteien den Staat abgelehnt hätten. In heutiger Zeit sei der Sinn der 5%-Klausel allerdings fraglich geworden. Das Bundesverfassungsgericht habe die 5%-Klausel zu Beginn gebilligt und sei von seiner Rechtsprechung bisher nicht abgerückt. Es könne aber sein, dass sich das einmal ändern würde, wie zum Beispiel auf kommunaler Ebene in den letzten Jahren die 5%-Sperrklausel in den meisten Bundesländern aufgehoben oder zumindest abgesenkt worden sei. Die staatliche Parteienfinanzierung benachteilige auch die kleinen Parteien. Zusätzlich würden die kleinen Parteien durch die Umwegfinanzierungen benachteiligt, die eingeführt worden seien, nachdem das Bundesverfassungsgericht 1966 der Parteienfinanzierung Grenzen gesetzt habe. Die Parteien seien dann in die Fraktions- und die Stiftungsfinanzierungen ausgewichen, deren Umfang sich in den letzten Jahrzehnten etwa verdreißigbzw. vervierzigfacht habe. Diesen Umwegfinanzierungen habe das Bundes-
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verfassungsgericht keine Grenzen gezogen, und diese erhielten kleine Parteien gerade nicht. Dadurch vermultipliziere sich die Benachteiligung. Insgesamt könne man sagen, dass die 5%-Klausel und die Parteienfinanzierung zusammen einen versteinernden Effekt auf die Parteienlandschaft ausübten.
Institutionelle Voraussetzungen der Gemeinwohlverwirklichung
Konkretisierung des Gemeinwohls in der freiheitlichen Demokratie Von Josef Isensee I. Dilemma des Gemeinwohls 1. Theoretische Aporie Der Philosoph Joseph Pieper begegnete 1943 in privatem Kreise dem Staatsrechtslehrer Carl Schmitt. „Um gegen seine geschliffenen Thesen anzutreten“, schreibt Pieper in seinen Lebenserinnerungen, „brauchte man einen beträchtlichen Mut zur Banalität. Am ersten Abend schon fragte ich ihn, warum er eigentlich in seiner Schrift über den ‚Begriff des Politischen‘ mit keiner Silbe vom bonum commune spreche, in dessen Verwirklichung doch der Sinn von Politik bestehe. Worauf er scharf erwiderte: ‚Wer bonum commune sagt, will betrügen‘. Das war zwar keine Antwort; aber man war zunächst außer Gefecht gesetzt.“1 Die Anekdote enthält in nuce das Dilemma des Gemeinwohls. Pieper hätte eigentlich dankbar sein müssen, dass Schmitt in ein Bonmot ausgewichen war. Denn die Antwort, hätte er sie erteilt, hätte für den Philosophen peinlich ausfallen können, dahin nämlich, dass er den „Begriff des Politischen“ nicht verstanden habe, weil er eine Aussage erwartet hatte, die jenseits des Themas lag und die ihm schlechthin inkompatibel war, weil es nicht um moralische oder außermoralische Handlungsanweisungen und um ontologische Sinndeutung ging, sondern um die Physiologie des FreundFeind-Verhältnisses. Schmitt variierte einen Aphorismus, der im „Begriff des Politischen“ vorkommt: „Wer Menschheit sagt, will betrügen.“2 Für den betrügerischen Umgang mit dem ehrwürdigen Begriff des Gemeinwohls bot die Praxis des NS-Regimes, mit dem Schmitt im Jahre 1943 längst entzweit war3, Anschauungsmaterial in Überfülle („Gemeinnutz geht vor Eigennutz“)4 – 1
Josef Pieper, Noch wußte es niemand. Autobiographische Aufzeichnungen 1904–1945, 1. Aufl., München 1976, S. 197. 2 Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen (Ausgabe von 1932), Berlin 1963, S. 55 – in Modifikation eines Wortes von Proudhon.
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Grund dafür, dass der Begriff lange Zeit in der Verfassungstheorie als diskreditiert galt. Doch der Erfahrung des totalitären Missbrauchs hätte es gar nicht bedurft. Denn auch in der freiheitlichen Gesellschaft maskieren sich die Gruppenegoismen gerne mit dem bonum commune, um sich einen moralischen Vorteil im politischen Wettbewerb zu ergaunern. Betrug im Namen des Gemeinwohls kann aber auch Selbstbetrug sein bei dem, der glaubt, sicher zu wissen, was das Gemeinwohl erheischt. Eben diese Sicherheit spricht aus der Prämisse des Philosophen, dass der Sinn der Politik in der Verwirklichung des Gemeinwohls bestehe – für ihn so selbstverständlich, dass er ohne weiteres davon ausging, dass sein Gesprächspartner sie teilte, vielleicht auch im stillen Appell an seine katholische Herkunft; immerhin hielt die Kirche seit Thomas von Aquin, unbeirrt durch den Wandel der Zeiten, auch in der Gegenwart an ihm fest5. Pieper selbst bewegte sich im Horizont der aristotelisch-thomasischen Tradition, in der die Ordnungen vorgegeben waren, eine jede ausgerichtet auf ihr inneres Wesensziel, die staatliche aber auf das Gemeinwohl. Das Sollen war angelegt im Sein. Was das Gemeinwohl verlangte, vermochte die Vernunft aus dem Sein abzuleiten. In der politischen Praxis kam das Vernunfturteil den jeweiligen Autoritäten zu. Doch die Einheit von Sein und Sollen ist mit dem Anbruch der Neuzeit zerbrochen. Pieper stand noch jenseits des Grabens, Schmitt diesseits, in der Gesellschaft Machiavellis, Bodins, Hobbes’ und – um einen politischen Denker zu nennen, der nur eine knappe Generation älter war – Max Webers. In der modernen Welt hat der Voluntarismus den Intellektualismus abgelöst. Geschwunden ist der Glaube, dass sich substantielle Allgemeinbegriffe klar und sicher erkennen lassen. Das Gemeinwohl erscheint nunmehr nicht als ewige Wahrheit, die sich der dazu berufenen Autorität erschließt, sondern als Aufgabe, die in der jeweiligen Lage von denen, die sie angeht, angenommen, entschieden und gelöst werden muss. Die Lösung ist nicht a priori vorgegeben, sondern a posteriori zu finden. Die strukturelle Skepsis der Moderne steigert sich zum erkenntnistheoretischen Agnostizismus bei Hans Kelsen, der den dem Gemeinwohl verwandten Begriff der Gerechtigkeit als Leerformel denunziert, als irrationales Ideal: „Vom Standpunkt rationaler Erkenntnis gibt es nur menschliche Interessen und daher Interessenskonflikte. Deren Lösung stehen nur zwei 3 Pieper berichtet Schmitts Äußerung: „Ich kenne sie alle, die braunen Machthaber. Glauben Sie nur ja nicht, dass einem einzigen davon, wenn’s um die Macht geht, die berühmte ‚Weltanschauung‘ einen Pfifferling wert ist!“ (Anm. 1, S. 197). 4 Dazu Michael Stolleis, Gemeinwohlformeln im nationalsozialistischen Recht, Berlin 1974. 5 Exemplarisch: Peter Tischleder, Die Staatslehre Leos XIII., M. Gladbach 1925, S. 137 ff.
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Wege zur Verfügung: entweder das eine auf Kosten des anderen zu befriedigen oder einen Kompromiss zwischen beiden herbeizuführen. Es ist nicht möglich, zu beweisen, dass nur die eine oder die andere Lösung gerecht ist.“6 Schmitt hätte Kelsen vermutlich zugestimmt. Die Frage bleibt jedoch, ob nicht Schmitt seinerseits einer Selbsttäuschung erlag, als er die Frage nach dem Gemeinwohl a limine abwies. Gewiss ist jedenfalls: für den Theoretiker ist es leichter, den Begriff des Gemeinwohls als inhaltsleer darzutun, als seine Sinnhaftigkeit zu erweisen. Das Gemeinwohl also eine Leerformel?7 Wenn es sich als solche erweisen sollte, so erledigte sich das Thema von selbst. Denn eine Leerformel kann man nicht konkretisieren. Man kann sie nicht auslegen, sondern allenfalls ausfüllen, und das mit beliebigem Inhalt. Eine Leerformel bildet kein mögliches Substrat für eine Kompetenz, keinen möglichen Gegenstand für ein Verfahren, kein Thema für den Diskurs. Alles theoretische und praktische Mühen, das Gemeinwohl zu fassen, wäre weiter nichts als ein Windhundrennen nach einem Phantomhasen. 2. Praktische Unentbehrlichkeit Doch allen theoretischen Schwierigkeiten zum Trotz: der Begriff Gemeinwohl erweist sich in der Praxis als unentbehrlich. Jede menschliche Gemeinschaft bedarf der gemeinsamen Ziele, um die Solidarität ihrer Mitglieder zu aktivieren und innere Konsistenz herzustellen. Gesangsvereine wie Universitäten, Aktiengesellschaften wie Gewerkschaften haben je nach 6
Hans Kelsen, Was ist Gerechtigkeit?, Wien 1953, S. 40, 43. Die Abqualifikation des Gemeinwohls zur Leerformel findet sich vielfach im Schrifttum, so bei Walter Hesselbach, Aufgaben der gemeinwirtschaftlichen Unternehmen, in: Adolf Arndt/Horst Ehmke (Hrsg.), Konkretionen politischer Theorie und Praxis. Festschrift für Carlo Schmid, Stuttgart 1972, S. 233 (235 f.); ähnlich Peter Saladin, Wachstumsbegrenzung als Staatsaufgabe, in: Horst Ehmke (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Scheuner zum 70. Geburtstag, Berlin 1973, S. 541 (555 – „Tautologie“); Horst Dreier, in: ders. (Hrsg.), Art. 20 (Republik) Rn. 19 (nicht rechtlich handhabbares „Produkt des pluralen, nicht interessefreien Prozesses der politischen Willensbildung“). – Gegenposition: Hans Herbert von Arnim, Gemeinwohl und Gruppeninteressen, Frankfurt a. M. 1977, S. 55 ff.; ders., Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland, München 1984, S. 124 ff.; Josef Isensee, Gemeinwohl und Staatsaufgaben im Verfassungsstaat, in: ders./Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland (= HStR) Bd. III, 2. Aufl., Heidelberg 1996, § 57 Rn. 32 ff.; Heinz Christoph Link, Staatszwecke im Verfassungsstaat – nach 40 Jahren Grundgesetz, in: VVDStRL 48 (1990), S. 7 (20); Winfried Brugger, Gemeinwohl als Integrationskonzept von Rechtssicherheit, Legitimität und Zweckmäßigkeit, in: ders./Stephan Kirste/Michael Anderheiden (Hrsg.), Gemeinwohl in Deutschland, Europa und der Welt, Baden-Baden 2002, S. 17; Rolf Gröschner, Republik, in: HStR Bd. II, 3. Aufl., Heidelberg 2004, § 23 Rn. 41 ff., 52 ff. 7
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ihrer Art ihr bonum commune, für das die Mitglieder sich einzusetzen und ihre Eigeninteressen zurückzustellen gehalten sind. Vollends ist ein freiheitlich verfasster Staat darauf angewiesen, dass die Bürger sich über die wesentlichen Ziele und Bedingungen ihres Zusammenlebens einig und bereit sind, die dafür notwendigen Leistungen zu erbringen, Einschränkungen der individuellen Freiheit hinzunehmen, Lästiges zu ertragen. Der Staat rechtfertigt sein besonderes Herrschaftsinstrumentarium aus seiner besonderen Verpflichtung für das Wohl der Allgemeinheit, als Mittel zum Zweck. In dieser ethischen Verpflichtung unterscheiden sich Staatsorgane von Parteiorganen, Regierung von Lobby, Parlament von Aufsichtsräten und Gewerkschaftsversammlungen. Der Staat beruft sich auf Erfordernisse des Gemeinwohls und appelliert an den Gemeinsinn der Bürger, wenn er ihnen Opfer zumutet, damit alle eine Notlage durchstehen und das Ganze lebensfähig bleibt. Der Rekurs auf das Gemeinwohl ist die moralische Waffe des Bundeskanzlers, wenn schmerzhafte Eingriffe in soziale Besitzstände unabweislich sind, alle Bemühungen um den Konsens der Gruppen über die Verteilung der Lasten scheitern, wenn die Plätze am Runden Tisch leer bleiben und die Last der Entscheidung allein beim Staat liegt. Das Bundesverfassungsgericht kommt nicht umhin, auf den Begriff zurückzugreifen, wenn es die öffentlichen Belange aufdeckt, um deretwillen die grundrechtliche Selbstbestimmung des Einzelnen eingeschränkt werden darf, oder wenn es die Grenze markiert, die der Satzungsautonomie einer berufsständischen Kammer gegenüber der parlamentarischen Gesetzgebung gezogen wird: der Staat erfülle „durch seine gesetzgebende Gewalt die Aufgabe, Hüter des Gemeinwohls gegenüber Gruppeninteressen zu sein“8. Was in der Theorie nicht richtig sein soll, taugt gleichwohl für die Praxis. Das Dilemma ist perfekt. Gibt es einen Ausweg? II. Scheinbare Auswege aus dem Gemeinwohl-Dilemma 1. Kompetenz und Verfahren statt Inhalt Eine Grundmaxime des modernen Staates geht dahin, dass, wo die Inhalte unbestimmt und umstritten sind, wenigstens Klarheit herzustellen ist über die Instanz, die letztverbindlich über die Inhalte entscheidet. Das historische Trauma, das den modernen Staat geprägt hat, ist die Erfahrung der konfessionellen Bürgerkriege des 16. und 17. Jahrhunderts, die um das richtige Verständnis der ewigen Wahrheit geführt wurden. Die institutionelle Überwindung der Bürgerkriege bestand darin, dass der Staat seinen Wirkungskreis auf innerweltliche Fragen beschränkte, hier aber, soweit ein Be8
BVerfGE 33, 125 (158 f.) – Facharzt.
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darf nach verbindlicher Entscheidung besteht, diese für sich beansprucht und so das Gemeinwesen als Entscheidungs- und Friedenseinheit konstituiert. Was das Gemeinwohl fordert, ist in der Gesellschaft diskutabel, mithin Thema möglichen Streits. Vor die Frage nach dem richtigen Inhalt schiebt sich die Frage nach der Kompetenz. Quis interpretabitur? Quis iudicabit? Das Problem, ob inhaltlich richtig entschieden worden ist, wird abgeschnitten, wenn die Instanz, die entschieden hat, auf der Grundlage und im Rahmen ihrer Zuständigkeit gehandelt hat. Authoritas, non veritas facit legem – das ist der Weg des Rechtspositivismus, den Thomas Hobbes eröffnet hat. Die staatliche Entscheidung beansprucht Verbindlichkeit nicht, weil sie richtig, sondern, weil der Staat befugt ist, zu entscheiden. Die Frage nach dem Inhalt wird abgelöst von der Frage nach der Kompetenz. Der hobbesianische Ansatz der Legitimation aus Kompetenz wird von Niklas Luhmann aufgenommen und fortgesetzt in der Legitimation durch Verfahren: das Verfahren als wirkliches Geschehen suche nicht nach vorgegebener Wahrheit, sondern erzeuge seine eigene formelle Wahrheit, auf die sich die Beteiligten, lernwillig wie sie seien, einrichteten9. In diesen Geleisen laufen die heute landläufigen Strebungen einer Entsubstantialisierung, Kompetenzialisierung und Prozeduralisierung des Gemeinwohls10. Die Tendenzen, die alles andere als neu und originell sind, kommen nicht von ungefähr. Denn das Gemeinwohl ist eine hochabstrakte Idee, die, um operationabel zu werden, der Konkretisierung bedarf. Diese aber erfolgt in der jeweils bestehenden Kompetenz- und Verfahrensordnung. Doch das bedeutet nicht, dass alle Akte, die aus Kompetenz und Verfahren hervorgehen, das Gemeinwohl angemessen konkretisierten oder auch nur mit ihm vereinbar wären. Das hieße, über Kompetenz und Verfahren die Sache zu vernachlässigen, der diese zu dienen bestimmt sind. Die Konkretisierung, wie die Interpretation überhaupt, erneuert, erweitert und vermittelt ihren Gegenstand. Aber sie setzt einen Gegenstand voraus, der ihr unverrückbar vorgegeben ist. Sie ersetzt ihn nicht, und sie ist nicht mit ihm identisch. Ohne ihn griffe sie ins Leere. Die Prozeduralisierung des Gemeinwohls führt in letzter Konsequenz denn auch zu einer Leerformel. Das Gemeinwohl ist ein inhaltlicher Maßstab des Handelns, dem die Ausübung von Kompetenzen und die Durchführung von Verfahren zu folgen hat. Kein Kompetenzinhaber ist vor der Gefahr gefeit, das Gemeinwohl zu gefährden. Kein Verfahren bietet eine materielle Richtigkeitsgewähr11. 9
Niklas Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 2. Aufl., Darmstadt 1975, S. 33 ff. 10 Etwa Gunnar Folke Schuppert, Gemeinwohl, das. Oder: Über die Schwierigkeiten, einem Gemeinwohlbegriff Konturen zu verleihen, in: ders./Friedhelm Neidhart (Hrsg.), Gemeinwohl auf der Suche nach Substanz, Berlin 2002, S. 19 (24 ff., 47 ff.) mit Zitaten.
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2. Identifikation von Gemeinwohl und demokratischer Legitimation Die formalen Lösungsansätze gewinnen verfassungsrechtliche Substanz, wenn sie sich mit dem Prinzip der Demokratie verbinden. In der Demokratie ist Legitimationsursprung des staatlichen Handelns der Wille des Volkes. Aus dieser Quelle fließt Legitimation durch das Leitungssystem der gewaltenteiligen Staatsorganisation und mündet ein in die Akte der Staatsorgane, die nach Maßgabe ihrer Kompetenz- und Verfahrensregeln entscheiden. Als Gemeinwohl soll gelten, „was im verfassungsrechtlich organisierten, kanalisierten und als freiheitlich gewährleisteten Willensbildungsprozess als solches beschlossen worden ist“12. Die demokratische Sicht könnte sich auf Rousseau als philosophischen Paten berufen, für den der allgemeine Wille, so er denn hergestellt, notwendig richtig ist, der in der Entscheidungsprozedur Unterlegene sich eben geirrt hat, dass der („wahre“) Wille der Allgemeinheit identisch ist mit dem Wohl der Allgemeinheit13. Unter diesen Auspizien entspricht staatliches Handeln dem Gemeinwohl, weil es demokratisch legitimiert ist. Diese Vorstellung vom Gemeinwohl braucht den Vorwurf nicht zu fürchten, sie sei nicht operationabel. Das demokratische Prinzip führt dem Gemeinwohl Substanz zu. Doch diese Substanz ist nicht seine eigene, sondern die der im demokratischen Verfahren getroffenen Entscheidung. Das demokratische Verfahren garantiert die Übereinstimmung mit dem Gemeinwohl. Dieses ist lediglich Derivat der Demokratie, eine semantische Zierleiste. Ihm kommt weder eine legitimatorische noch eine kritische Funktion zu. Es ist überflüssig. Die Lehre von der demokratischen Prozeduralisierung hat nicht einen Ausweg aus dem Dilemma des Gemeinwohls gefunden. Vielmehr legt sie 11 In dieser Illusion wiegt sich die arbeitsrechtliche Doktrin, dass der Tarifvertrag die materielle Richtigkeitsgewähr biete (dazu mit Nachw. Franz Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, München 1997, S. 284 ff. mit Nachw.). Die Lehre geht zurück auf Walter Schmidt-Rimpler, der – mit gewissen Vorbehalten – den privatrechtlichen Vertrag im allgemeinen entwickelt hat: Grundfragen einer Erneuerung des Vertragsrechts, in: AcP n. F. 27 (1941), S. 130 (132 ff.); ders., Zum Problem der Geschäftsgrundlage, in: Rolf Dietz (Hrsg.), Festschrift für Hans Carl Nipperdey, München 1955, S. 1 (4 ff.). Kritik: Werner Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Bd. 2, 3. Aufl., Berlin, Heidelberg 1979, S. 8; Josef Isensee, Die verfassungsrechtliche Verankerung der Tarifautonomie, in: Die Zukunft der sozialen Partnerschaft, Veröffentlichungen der Walter Raymond-Stiftung Bd. 24, Köln 1986, S. 159 (177 ff.). – Keine materielle Richtigkeitsgewähr für das Gemeinwohl: Link Staatszwecke im Verfassungsstaat (Anm. 7), S. 23. 12 Schuppert, (Anm. 10), S. 26 f. Ähnlich Dieter Fuchs, Gemeinwohl und Demokratieprinzip, ebd., S. 87 (100, 104). 13 Grundsätzliche Kritik Hans Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 4. Aufl., Göttingen 1962, S. 159 ff.
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dar, dass das Dilemma gar nicht besteht. Dabei macht sie sich die Sache zu einfach: sie verwechselt das Verfahren mit seinem Gegenstand. Das Gemeinwohl als solches ist aber kein Verfahren, sondern ein materieller Maßstab des Handelns. Dass der Inhalt offen und nur nach einem bestimmten Kompetenz- und Verfahrensregime zu bestimmen ist, besagt nicht, dass ihm jedweder Inhalt fehlt. Die Demokratie ist der staatliche Weg, um das Gemeinwohl zu definieren und zu verwirklichen. Das demokratische Prinzip deckt sich also nicht inhaltlich mit dem Gemeinwohl. Es liegt auf völlig anderer Ebene. Die Demokratie bestimmt, wer regiert, nicht aber, zu welchem Zweck regiert wird. Sie betrifft den Legitimationsursprung, den Träger der Staatsgewalt, das Gemeinwohl dagegen das Ziel. Hier geht es um die richtige Ausübung der Staatsgewalt, dort um deren Begründung. Auf das Ziel ist nach aristotelischer Lehre jedwede „gute“ Staatsform ausgerichtet, nicht nur die Demokratie. Der demokratische Charakter einer Entscheidung garantiert nicht die Übereinstimmung mit dem Gemeinwohl. Wie jede andere Staatsform kann die Demokratie ihr Ziel verfehlen und für den Eigennutz der Machthaber missbraucht werden, zur Selbstbedienung von Kader und Klientel entarten14. In ihrer Erscheinungsform als Parteiendemokratie ist sie sogar spezifisch gefährdet, dass die regierende Partei ihr Interesse mit dem der staatlichen Allgemeinheit verwechselt. Das Gemeinwohl wird nicht erfasst vom Begriff der Demokratie, sondern von dem der Republik: res publica res populi15. Die ausschließliche Ausrichtung staatlicher Herrschaft auf das Wohl des Volkes macht das klassische Verständnis von Republik aus; erst im 19. Jahrhundert schrumpfte ihre Bedeutung auf die Absage an das dynastische Prinzip. Die Demokratie als Herrschaft durch das Volk bedarf der Ergänzung durch die Republik als Herrschaft für das Volk16. Gegen diese Unterscheidung mag sich der Einwand erheben, dass heute zum guten Leben des Gemeinwesens auch die demokratische Kompetenzund Verfahrensordnung gehöre. Dem ist im Ansatz zuzustimmen17. Mit dieser These hat sich freilich das Verhältnis des Gemeinwohls zu Kompetenz und Verfahren umgedreht. Das Gemeinwohl erscheint nicht mehr als das (nicht weiter zu befragende) Resultat der Kompetenz- und Verfahrensordnung, diese vielmehr als Konkretisierung des Gemeinwohls. Doch die Idee 14
Vgl. Aristoteles, Politik 1278b-1281a; Thomas von Aquin, De regno I, 3; ders., Summa theologiae II-II, q. 42 a.2 ad 3; Dante Alighieri, Monarchia, Lib. I, Cap. V, 7. 15 Cicero, De re publica, I, 25; III, 1. 16 Dazu Josef Isensee, Republik – Sinnpotential eines Begriffs, in: JZ 1981, S. 1 ff.; Gröschner, Republik (Anm. 7), § 23 Rn. 16 ff., 46 ff., 63 ff. Ablehnend: Ernst-Wolfgang Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: HStR Bd. I, 2. Aufl., Heidelberg 1995, § 22 Rn. 96; Dreier (Anm. 7), Rn. 19. 17 Vgl. Link, Staatszwecke im Verfassungsstaat (Anm. 7), S. 25 f.
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des Gemeinwohls geht über die formellen Kriterien hinaus. Die Erfüllung der Kompetenz- und Verfahrensregeln ist eine notwendige, doch keine hinreichende Bedingung zur Verwirklichung des Gemeinwohls. Das Gemeinwohl ist in erster Linie eine materielle Zielvorstellung, indes die Demokratie den Weg bedeutet, der als solcher zieloffen ist. Für den Verfassungsstaat ist der demokratische Weg der einzig mögliche. Doch der Weg selber ist noch nicht das Ziel. Anders gewendet: die Übereinstimmung staatlichen Handelns mit den formellen Erfordernissen der Demokratie erledigt nicht das Problem, ob es den materiellen Erfordernissen des Gemeinwohls gerecht wird. 3. Verfassung – vollständiges Konzept des Gemeinwohls? Als Ausweg aus den Schwierigkeiten bietet sich an, die Verfassung als Konzept des Gemeinwohls zu deuten18. Damit gewänne der unbestimmte Begriff positivrechtliche Substanz. In der Tat bildet die Verfassung den Plan des guten Lebens des Gemeinwesens. Sie gibt Staatsziele vor, von der Menschenwürde bis zur Sozialen Sicherheit, und sie enthält Staatsaufgaben wie die grundrechtlichen Schutzpflichten19. Sie regelt Kompetenz und Verfahren zu deren Verwirklichung. In ihr sind Strukturen einer guten Ordnung rechtlich verfestigt. Doch das Grundgesetz enthält keinen vollständigen, abgeschlossenen Plan des Gemeinwohls. Es enthält Elemente eines solchen Plans, überaus wichtige sogar. Doch diese ergeben noch kein Ganzes. Ein solches muss sich im Leben der freiheitlichen Demokratie erst herstellen. Die Verfassung erwartet von den Akteuren in Staat und Gesellschaft, dass sie diese Aufgabe erfüllen, indes es selbst nur die Rahmenbedingungen festlegt. Als Rahmenordnung überlässt sie insbesondere dem Gesetzgeber, im politischen Ermessen Ziele zu wählen und über Prioritäten zu entscheiden20. Verfassungsinterpreten neigen freilich dazu, das Ermessen immer mehr rechtlich 18 So etwa der Versuch von Robert Uerpmann, Verfassungsrechtliche Gemeinwohlkriterien, in: Schuppert/Neidhart, Gemeinwohl auf der Suche nach Substanz (Anm. 10), S. 179 ff. Zum Verhältnis Gemeinwohl und Verfassung: Isensee, Gemeinwohl und Staatsaufgaben im Verfassungsstaat (Anm. 7), § 57 Rn. 41 ff., 104 ff.; Link, Staatszwecke im Verfassungsstaat (Anm. 7), S. 20 ff. 19 Zu Staatszielen und Staatsaufgaben: Isensee, Gemeinwohl und Staatsaufgaben im Verfassungsstaat (Anm. 7), § 57 Rn. 115 ff., 132 ff., 170 ff.; Link Staatszwecke im Verfassungsstaat (Anm. 7), S. 27 ff.; Karl-Peter Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, Tübingen 1997, S. 116 ff., 198 ff., 326 ff. 20 Zur Deutung der Verfassung als Rahmenordnung: Josef Isensee, Verfassungsrecht als „politisches“ Recht, in: HStR Bd. VII, 2. Aufl., Heidelberg 1992, § 162 Rn. 43 ff.; Matthias Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, Tübingen 1999, S. 72 ff. (Nachw.).
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zu determinieren, der Verfassung immer dichtere Vorgaben zu entnehmen; insbesondere lagern sich den Verfassungsnormen in wachsendem Umfang richterrechtliche Zugaben an. Das Grundgesetz, so karg es auch ursprünglich gefasst war, wandelt sich zum „juristischen Weltenei, aus dem alles hervorgeht, vom Strafgesetzbuch bis zum Gesetz über die Herstellung von Fieberthermometern“21. Das Bundesverfassungsgericht selbst strapaziert das Grundgesetz, wenn es bei vorbehaltlosen Grundrechten nur verfassungsimmanente Schranken anerkennt, sodann aber den Wortlaut des Grundgesetzes auf Biegen und Brechen auslegt, um verfassungsimmanente Schranken aufzudecken, um im einzelnen Grundrechtskonflikt eben doch noch eine pragmatische Lösung zu finden, die das Rechtsgefühl befriedigt22. Wer meint, im Grundgesetz jederzeit Lösungen für gemeinwohlerhebliche Probleme wie die Finanzierung der Renten- und Sozialversicherung, der Bevölkerungsschrumpfung oder dem Waldsterben finden zu können, muss es zunächst durch Interpretation mit entsprechender Substanz füllen wie die Weihnachtsgans mit Äpfeln und Gewürzen, um diese am Ende zum eigenen Erstaunen wieder herausholen zu können. Das Grundgesetz selbst gibt den fragmentarischen Charakter seines Gemeinwohlkonzepts zu erkennen, wenn es in der Eigentumsgarantie ausdrücklich auf das Wohl der Allgemeinheit verweist, dem das Eigentum zugleich mit seinem privatnützigen Gebrauch dienen soll23. Darüber hinaus entdeckt die Verfassungsinterpretation ungeschriebene Bezüge auf das Gemeinwohl in unabsehbarer Fülle. Diese finden sich vor allem in der Thematik der Grundrechtsschranken. So rechtfertigen „vernünftige Erwägungen des Gemeinwohls“ Eingriffe in die grundrechtliche Berufsfreiheit24. Sonstige benannte und unbenannte Zwecke werden als Gründe für mögliche Grundrechtsbeschränkungen im Rahmen von Gesetzesvorbehalten anerkannt, wenn und soweit diese die geeigneten, erforderlichen und angemessenen Mittel sind, die Zwecke zu verwirklichen25. Diese Zwecke greifen über den Regelungsbereich des Grundgesetzes hinaus. Ihrem normativen 21 Ernst Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft, 2. Aufl., München 1971, S. 144. 22 Zu den verfassungsimmanenten Schranken Peter Lerche, Grundrechtsschranken, in: HStR Bd. V, 2. Aufl., Heidelberg 2000, § 122 Rn. 23 f. 23 Art. 14 Abs. 2 S. 2 GG. 24 Richtungweisend für die Schranken der Berufsausübungsfreiheit BVerfGE 7, 377 (405). 25 Analyse der Zweckformeln Christoph Engel, Das legitime Ziel des Übermaßverbots. Gemeinwohl als Frage der Verfassungsdogmatik, Preprint aus der MaxPlanck-Projektgruppe Recht der Gemeinschaftsgüter, Bonn 2002, S. 7 ff., 30 ff.; ders., Das legitime Ziel als Element des Übermaßverbots, in: Brugger u. a., Gemeinwohl in Deutschland, Europa und der Welt (Anm. 7), S. 103 ff. Schuppert, Gemeinwohl (Anm. 10), S. 35 ff. (Nachw.).
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Rang nach stehen sie aber nicht über ihm. Vielmehr unterliegen sie dem Vorrang der Verfassung. Dagegen besteht kein Vorbehalt der Verfassung für Staatsziele und sonstige Gemeinwohlbelange26. III. Zu Begriff, Inhalt und Geltungsweise des Gemeinwohls Was ist das Gemeinwohl? Die Antwort in Thesen27: 1. Das Gemeinwohl ist das Leitbild vom guten Leben des Gemeinwesens. Es bezieht sich auf das Ganze des Lebens in allen seinen Dimensionen, den physischen und den psychischen, den materiellen und den ideellen, den öffentlichen und den privaten, den politischen und den rechtlichen, den ökonomischen und den kulturellen. 2. In seiner Beziehung auf das Leben des Gemeinwesens, in seiner Komplexität und im Wandel seiner Bedürfnisse und Herausforderungen lässt sich das Gemeinwohl nicht abschließend und nicht endgültig definieren. Es ist offen in der Sache und offen in der Zeit. Freilich gibt es raum- und zeitübergreifende Bedingungen des guten Lebens, die Vernunft und Erfahrung erkennen und in Normen speichern. 3. Es gibt kein freischwebendes Gemeinwohl, sondern nur das Gemeinwohl eines bestimmten Gemeinwesens. Aus ihm bezieht es Inhalt und Geltung. Es wird geprägt durch Land und Leute, geschichtliche Herkunft und geopolitische Lage, Notwendigkeiten und Bedürfnissen. Mit den Worten Hegels: „Das substantielle Wohl des Staates ist sein Wohl als eines besonderen Staates in seinem bestimmten Interesse und Zustande und den ebenso eigentümlichen äußeren Umständen nebst dem besonderen Traktanden-Verhältnisse.“28 4. Gemeinwohl ist nicht das Leben selbst, sondern Richtmaß für das glückende Leben. Der tatsächliche Zustand des Gemeinwesens mag unter günstigen Umständen dem Gemeinwohl entsprechen, doch ist er nicht mit diesem identisch. Denn das Gemeinwohl ist nicht eine empirische Größe, sondern ein ethischer Maßstab. Es lässt sich daher nicht definieren als die 26 Prekär ist die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts, die für vorbehaltlose Grundrechte wie die Freiheit der Kunst nur verfassungsimmanente Schranken gelten lässt, diese aber bei Bedarf durch rabulistische Deduktionen aus dem Verfassungstext ableitet. Kritisch Josef Isensee, Der Vorbehalt der Verfassung, in: Josef Isensee (Hrsg.), Freiheit und Eigentum. Festschrift für Walter Leisner zum 70. Geburtstag, Berlin 1999, S. 359 (388 ff.) mit Nachw. 27 Näher Isensee, Gemeinwohl und Staatsaufgaben im Verfassungsstaat (Anm. 7), § 57 Rn. 1 ff. (Nachw.). 28 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Berlin 1821, § 337.
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Resultante im Parallelogramm der sozialen Kräfte. Ebenso wenig deckt es sich mit dem realen Konsens einer Gesellschaft über ihre Ziele; denn es ist nicht der Konsens, sondern sein Leitbild. 5. Es ist eine regulative Idee, in der alle Ziele, die das gute Leben des Gemeinwesens ausmachen, und alle Belange, von denen es abhängt, als Einheit gedacht werden, in der alle gemeinschaftsbezogenen Normen zusammenfließen: die Regel der Regeln. 6. Die regulative Idee liegt dem positiven Recht voraus: als Direktive und als kritisches Korrektiv. Das heißt jedoch nicht, dass sein Inhalt vorab feststünde, dass man sich nur tief genug in die Idee zu versenken brauchte, um praktische Probleme zu lösen. Vorgegeben ist lediglich die Aufgabe, die Lösung muss auf den Entscheidungswegen des freiheitlichen Gemeinwesens gefunden werden. 7. Als Idee ist das Gemeinwohl kein Bestandteil des positiven Rechts, sondern seine Vorgabe. In ihrer Abstraktion ist sie auf Konkretisierung durch das positive Recht angewiesen. Sie vermag es weder zu ersetzen noch zu verdrängen. Daran ändert sich nichts, wenn die Verfassung, wie die des Freistaates Bayern oder des Landes Rheinland-Pfalz, ein ausdrückliches Bekenntnis zum Gemeinwohl enthält29. Das Bekenntnis hat nur volkskatechetische Bedeutung. Handlungspraktisch sind dagegen konkrete Folgerungen aus der Idee, wie sie sich in den Grundrechten in ihrer Abwehr- und Schutzfunktion verkörpern. 8. Das Gemeinwohl ist ein Optimierungsgebot30. Es lässt sich nicht durch bestimmte Maßnahmen oder Regelungen vollkommen und endgültig realisieren. Seine negative Bedeutung ist in der Lebenswelt klarer erkennbar als die positive. Es ist leichter festzustellen, dass ein Akt oder ein Zustand gemeinschädlich ist, als herauszufinden, welche Lösung unter den gegebenen Umständen optimal ist. 9. In der Abstraktheit seiner Geltung als regulative Idee gleicht das Gemeinwohl der Gerechtigkeit. Inhaltlich unterscheidet es sich von ihr dadurch, dass es sich auf das Ganze des Lebens, zu dem das Recht gehört, 29
„Bayern ist ein Rechts-, Kultur- und Sozialstaat. Er dient dem Gemeinwohl“ (Art. 2 Abs. 2 BayVerf.). „Der Staat hat die Aufgabe, die persönliche Freiheit des Menschen zu schützen sowie das Wohlergehen des einzelnen und der innerstaatlichen Gemeinschaften durch die Verwirklichung des Gemeinwohls zu fördern“ (Art. 1 Abs. 2 RhPfVerf.). Zur geringen rechtlichen Bedeutung verfassungsrechtlicher Gemeinwohlproklamationen Isensee, Gemeinwohl und Staatsaufgaben im Verfassungsstaat (Anm. 7), § 57 Rn. 104 ff. 30 Insofern lässt es sich auch als Prinzip im Sinne von Robert Alexy kategorisieren (Theorie der Grundrechte, Frankfurt a. M. 1985, S. 75 ff.). Zur Optimierung näher von Arnim, Gemeinwohl und Gruppeninteressen (Anm. 7), S. 54 ff.
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bezieht, diese indes nur auf das Recht. Die Gerechtigkeit erfasst auch das Nebeneinander zweier Individuen, die nichts gemeinsam haben, wenn sie ihnen verwehrt, einander Schaden zuzufügen. Das Gemeinwohl aber setzt ein Gemeinwesen voraus. Dieses braucht nicht der Staat zu sein. Jedes Gemeinwesen hat sein Gemeinwohl. Eines Gemeinwesens aber bedarf es. 10. Für den Staat bildet die salus publica den Sinn seiner Existenz, das Ziel seiner Ziele. Er ist entstanden aus Bedürfnissen des Überlebens, und er besteht fort um des guten Lebens willen (Aristoteles)31. „Staat“ ist hier im weiten Sinne zu verstehen als das Gemeinwesen, das Bürger, Verbände, Institutionen zusammenfasst und das sowohl die Gesellschaft als auch den Staat im engeren Sinne (als Herrschaftsorganisation) umgreift. Wenn das Gemeinwohl in der Tradition Ciceros als res populi definiert wird, so ist der populus nicht kongruent mit dem populus als dem Trägerverband der Demokratie. Dieser wird rechtlich klar und egalitär definiert durch die Staatsangehörigkeit, jener aber entspricht eher der Gesellschaft als dem außerrechtlichen Inbegriff der Wirklichkeit der Freiheit; sie ist real ungleich, pluralistisch, offen, beweglich. Die Herrschaft für das Volk kommt auch den gebietszugehörigen Ausländern zugute. 11. Die Belange des staatlichen Gemeinwohls unterscheiden sich von den Eigen- und Sonderbelangen der Individuen, Gruppen, Organisationen, die dem Gemeinwesen angehören. Es kann zu Kollisionen kommen. Aufgabe des Staates ist es, die widerstreitenden Belange gemeinverträglich auszugleichen. Doch besteht kein schlechthinniger Gegensatz in einem individualistisch begründeten Staat, der um seiner Bürger willen, nicht um seiner selbst willen da ist32. Im Gemeinwohl werden die Eigen- und Sonderbelange aufgehoben in der dreifachen Bedeutung des Wortes: – in ihrer ursprünglichen Form außer Kraft gesetzt, – auf eine höhere Ebene gehoben, – aufbewahrt und gesichert. Die Grundrechte, ihrerseits Faktoren des Gemeinwohls, gewährleisten die Entfaltungsmöglichkeiten der Eigen- und Sonderbelange und nennen die Bedingungen, unter denen sie den Belangen der Allgemeinheit weichen müssen33. 31
Aristoteles, Politik, 1252 b. „Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen“ (Art. 1 Abs. 2 Herrenchiemseer Entwurf). 33 Aufschlussreich ist die Wechselwirkungstheorie, die das Bundesverfassungsgericht für die Beschränkung der Meinungs- und Medienfreiheit durch allgemeine Gesetze entwickelt hat: dass diese Gesetze zwar dem Wortlaut nach dem Grundrecht Schranken setzen, ihrerseits aber aus der Erkenntnis der wertsetzenden Bedeutung 32
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12. Das Gemeinwohl ist eine relative ethische Größe. Zeigt sich die salus publica gegenüber den Bürgern als Schranke ihres Eigeninteresses, so stellt sie sich nach außen gegenüber anderen Staaten und supranationalen wie internationalen Organisationen als nationaler Egoismus dar. Die nationalen Egoismen werden freilich heute zunehmend eingebunden in übernationale Solidarpflichten und auf das Gemeinwohl übernationaler Gemeinschaften ausgerichtet. Überdies fungiert der Nationalstaat zunehmend als Treuhänder für übernationale Aufgaben, etwa in der Wahrung des gemeinsamen Natur- und Kulturerbes der Menschheit34. Der universalistischen Idee der Menschenrechte entspricht die Idee eines bonum commune humanitatis35. IV. Arbeitsteilige Verwirklichung des Gemeinwohls durch gesellschaftliche und staatliche Akteure Die Staatsorganisation hat kein Monopol darauf, das Gemeinwohl zu definieren und zu realisieren36. Dazu sind in einer freiheitlichen Verfassung alle berufen, Bürger wie Amtsträger, gesellschaftliche wie staatliche Kräfte. Es geht aus einem offenen, arbeitsteiligen Prozess aller Akteure im Gemeinwesen hervor. Der Einfluss der Bürger vollzieht sich über ihre demokratischen Status-activus-Rechte durch Teilnahme an der politischen Willensbildung im gesellschaftlichen Raum, durch Aktivierung der Bürgerdes Grundrechts im freiheitlichen demokratischen Staat ausgelegt und so in ihrer das Grundrecht begrenzenden Wirkung selbst wieder eingeschränkt werden müssen (BVerfGE 7, 198 [209]). 34 Steuerrechtliche Konsequenzen für die Bestimmung der Gemeinnützigkeit bei transnationalen Zielen Josef Isensee, Gemeinnützigkeit und Europäisches Gemeinschaftsrecht, in Monika Jachmann (Hrsg.), Gemeinnützigkeit, DStJG Bd. 26, Köln 2003, S. 93–131. 35 Richtungweisend Alfred Verdroß, Vom Gemeinwohl der Staatsbürger zum Gemeinwohl der Menschheit (1960), in: Hans Klecatzky/René Marcic/Herbert Schambeck (Hrsg.), Die Wiener Rechtstheoretische Schule, Bd. 1, Wien 1968, S. 811 ff.; ders., Das bonum commune humanitatis in der christlichen Rechtsphilosophie (1963), ebd., S. 861 ff.; Hans Ryffel, Grundprobleme der Rechts- und Staatsphilosophie, Neuwied 1969, S. 227.; Christian Calliess, Gemeinwohl in der europäischen Union – Über den Staaten- und Verfassungsverbund zum Gemeinwohlverbund, in: Brugger u. a., Gemeinwohl in Deutschland, Europa und der Welt (Anm. 7), S. 172 ff.; Stefan Oeter, Gemeinwohl in der Völkerrechtsgemeinschaft, ebd., S. 215 ff.; Bardo Faßbender, Der Schutz der Menschenrechte als zentraler Inhalt des völkerrechtlichen Gemeinwohls, in: EuGRZ 2003, S. 1 ff. (Nachw.). 36 Vgl. Isensee, Gemeinwohl und Staatsaufgaben im Verfassungsstaat (Anm. 7), § 57 Rn. 78 ff.; Schuppert, Gemeinwohl (Anm. 10), S. 26. Ein etatistisches Verständnis, das Gemeinwohl mit Staatsaufgaben identifiziert, findet sich bei Fuchs, Gemeinwohl und Demokratieprinzip (Anm. 11), S. 93.
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rechte zur Einwirkung auf die Staatsorgane. Die demokratische Partizipation richtet sich auf das Handeln des Staates. Die Bürger sind jedoch über die Grundrechte auch berufen, selber Hand anzulegen für die Herstellung des bonum commune. Diese Gemeinwohlkompetenz ist in den Grundrechten als Abwehrrechten enthalten. Die negative Freiheit vom staatlichen Eingriff umschließt die positive Freiheit, eigene Leistungen für das Gemeinwohl zu erbringen, und das gerade auf Wirkungsfeldern, die dem Staat verschlossen oder nur unter bestimmten rechtlichen Bedingungen zugänglich sind: Aufzucht und Erziehung der Kinder, Sittlichkeit und Religion, Kultur und Wissenschaft, Wirtschaft und politische Meinungsbildung. Nach Maßgabe der Grundrechte haben die nichtstaatlichen Potenzen sogar die vorrangige Möglichkeit, das Gemeinwohl nach ihrer Fasson zu fördern. Dem Staat bleibt freilich die Letztverantwortung. Innerhalb seines Wirkungskreises verfügt er über die Kompetenz zu verbindlicher Entscheidung. Ihm obliegt es, im Rahmen seiner rechtlich wie real beschränkten Möglichkeiten, dort gemeinwohlförderliche Leistungen zu erbringen, wo Markt und Gesellschaft versagen, oder diese zu bewegen, ihre grundrechtliche Freiheit gemeinverträglich wahrzunehmen. Als Freiheitsrechte bedeuten die Grundrechte freilich nur Angebote an die Privaten, sich für die Belange der Allgemeinheit zu engagieren. Doch den Freiheitsrechten korrespondieren ungeschriebene, vorrechtliche, nicht staatlich erzwingbare Verfassungserwartungen, dass ihre Inhaber die Optionen ergreifen und gemeindienlich ausüben. Eine vitale Gewähr dafür bieten der grundrechtslegitime Eigennutz und Ehrgeiz der Privaten, der als Vehikel des allgemeinen Nutzens fungiert. So in der Teilnahme des Einzelnen am Erwerbsleben, die, soweit sie erfolgreich ist, den eigenen Lebensbedarf und den der Familie sichert, einer Nachfrage am Markt Genüge tut, zur Wertschöpfung der Volkswirtschaft beiträgt und am Ende dem Staat Steuern zuführt. Das agonale Prinzip, das, grundrechtlich legitimiert, sich im ideellen, wirtschaftlichen und politischen Wettbewerb verwirklicht, setzt Impulse und Energien frei, die das Gemeinwohl fördern, mehr als zentrale Planung und Steuerung des Staates leisten könnte37. Der Steuerstaat verwirklicht eine List des Gemeinwohls, indem er dem Erwerbsstreben der Privaten Raum gibt, um am wirtschaftlichen Erfolg zu partizipieren und auf diese Weise die öffentlichen Aufgaben zu finanzieren, denen der Markt nicht Genüge tut. Das ist die wesentliche praktische Bedeutung der grundgesetzlichen Maxime, dass der Gebrauch des Eigentums zugleich mit seiner privatnützigen Intention dem Wohle der Allgemeinheit diene. Die Grundrechtsordnung mutet dem Privaten nicht den Verzicht auf 37 Näher Josef Isensee, Das Dilemma der Freiheit im Grundrechtsstaat, in: Festschrift für Martin Heckel, Tübingen 1999, S. 739 ff.
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Eigennutz zu; aber sie hält ihm den selbstlosen, unmittelbar gemeinnützigen Gebrauch der Freiheit offen. Den privaten Organisationen, die sich ausschließlich gemeinnützigen Zwecken widmen, bietet der Staat als Ausgleich und Anreiz Steuerverschonungen38. Für die grundrechtsautonomen Leistungen des Gemeinwohls kommt es aber grundsätzlich nicht auf die mehr oder weniger guten Absichten der einzelnen Akteure an, sondern auf den Effekt, der sich im Großen und Ganzen ergibt: das Werk einer für diese unsichtbaren Hand. Diese bedarf in bestimmtem Umfange der Korrektur durch die sichtbare Hand des sozialen Rechts- und Kulturstaates. Gleichwohl bildet sie die unverzichtbare primäre Form der Gemeinwohlverwirklichung nach einer geläufigen Formel der Verfassungstheorie, um die Voraussetzungen, aus der das freiheitliche Gemeinwesen lebt und die der Staat um der Freiheit willen nicht von sich aus erzwingen oder substituieren könnte39, zu gewährleisten. Im Unterschied zu den Privaten ist der Staat ausschließlich auf das Gemeinwohl ausgerichtet. Er hat keine Seperatinteressen, die sich nicht aus dem Wohl der Allgemeinheit ableiten. Die Ausschließlichkeit bezieht sich nicht nur auf den Staat als Organisation, sondern auf alle Personen, die in seinem Namen tätig sind und seine Befugnisse wahrnehmen, die Amtsträger. Die Bedingungen der Möglichkeit, dass er seiner Letztverantwortung für die salus publica genügen kann, sind die rechtsstaatliche Distanz zum Interessenkampf der Gesellschaft40 und die innere Souveränität: die Fähigkeit, seine nach demokratischen Regeln getroffene Entscheidung im Konfliktfall auch gegenüber den mächtigsten gesellschaftlichen Opponenten durchzusetzen.
38 Näher Josef Isensee, Gemeinwohl und Bürgersinn im Steuerstaat des Grundgesetzes, in: Hartmut Maurer (Hrsg.), Das akzeptierte Grundgesetz. Festschrift für Günter Dürig zum 70. Geburtstag, München 1990, S. 33 ff.; ders., Gemeinnützigkeit und Europäisches Gemeinschaftsrecht (Anm. 34), S. 759 f. 39 Ursprung des Topos: Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation (1967), in: ders., Staat – Gesellschaft – Freiheit, 1. Aufl., Frankfurt a. M. 1976, S. 42 (69). 40 „Gemeinwohl kann als Begriff und Zielsetzung nur von einem Standort aus konzipiert werden, der sich außerhalb der Industriegesellschaft und der technischen Realisation befindet“ (Ernst Forsthoff, Wer garantiert das Gemeinwohl?, in: ders., Rechtsstaat im Wandel, 2. Aufl., München 1976, S. 39 [49]).
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V. Der Staat als Garant des Gemeinwohls 1. Das Prinzip des Amtes Das Prinzip des Amtes ist das Medium des Gemeinwohls im staatlichen Sektor. Über das Amt wird das Gemeinwohl zum praktisch fassbaren, handhabbaren Maßstab. Das Amt ist das Segment der Staatstätigkeit, das einer natürlichen Person zur treuhänderischen Wahrnehmung im Dienste der staatlich organisierten Allgemeinheit anvertraut ist: jenes Pensum an Aufgaben, die der Arbeitskraft und der Verantwortungsfähigkeit einer natürlichen Person angemessen sind41. Es bildet den kleinsten Baustein der Staatsorganisation. Im Amt wandelt sich die Staatsgewalt in rechtlich definierte Handlungspflichten. Macht mutiert in Recht. Das Amtsprinzip ist die Bedingung der Möglichkeit für demokratische Legitimation und Gesetzmäßigkeit, für Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit. Der Inhaber des Amtes verantwortet sein Handeln gegenüber den übrigen Ämtern und Organen des Staates sowie gegenüber den handlungebetroffenen Bürgern und der politischen Öffentlichkeit. Er unterliegt staatsinternen wie –externen Kontrollen. Das Amt setzt die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft voraus, zwischen den Amtsträgern, die im Dienste der Allgemeinheit die öffentlichen Belange verbindlich definieren und exekutieren, und den Bürgern, um deren Wohl es sich im Gemeinwohl handelt, zwischen den Regierenden und den Regierten, denen sie Rechenschaft schulden. Diese Polarität besteht nur in einem System der Repräsentation. Die identitäre Demokratie dagegen entscheidet apodiktisch. Der Handelnde schuldet niemandem Erklärung für die Entscheidung und niemandem Verantwortung42. Das Amt ist das Komplementärprinzip zur grundrechtlichen Freiheit, das die Staatsgewalt als Adressatin grundrechtlicher Pflichten, nämlich die Grundrechte zu wahren und zu schützen, möglich macht. Freiheit und Amt schließen einander aus. Die grundrechtliche Freiheit, an der ein Beamter in seinen Rollen als Privater, als Staatsbürger, als Konsument etc. teilhat, darf nicht auf das Amt übergreifen, das ausschließlich dem Wohl der Allgemeinheit gewidmet ist, wie es in den Normen der gewaltenteiligen Demokratie ausformuliert ist. Das Amt wehrt sich gegen seine Instrumentalisierung für private und parti41
Josef Isensee, Das Amt als Medium des Gemeinwohls in der freiheitlichen Demokratie, in: Schuppert/Neidhardt, Gemeinwohl auf der Suche nach Substanz (Anm. 10), S. 241 (242, 248 f.); ders., Transformation von Macht in Recht – das Amt?, in: ZBR 2004, S. 3 ff.; Gröschner, Republik (Anm. 7), § 23 Rn. 52 ff., 61 ff. Vgl. auch Link, Staatszwecke im Verfassungsstaat (Anm. 7), S. 22 f. 42 Näher Josef Isensee Der antiplebiszitäre Zug des Grundgesetzes – Verfassungsrecht im Widerspruch zum Zeitgeist, in: Metin Akyürek u. a. (Hrsg.), Verfassung in Zeiten des Wandels, Symposion für Heinz Schäffer, Wien 2002, S. 53 (70 ff.).
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kulare Zwecke. Daher erlangt es Distanz zu den Interessenkämpfen der Gesellschaft. Was im gesellschaftlichen Raum legitim, ist dem Amt als Typus fremd: Eigennutz, Erwerbsstreben, Wettbewerb, Parteilichkeit. Das Prinzip des Amtes ist in der Staatsorganisation nicht rein und nicht gleichförmig verwirklicht. Es passt sich den Besonderheiten der Staatsfunktionen an und erfährt Modifikationen und Brechungen, die sich auf die jeweils zu leistende Konkretisierung des Gemeinwohls auswirken. 2. Konkurrenzdemokratie und Ämterdemokratie im Parlamentarismus Im Parlament trifft das Prinzip des staatlichen Amtes auf ein gegenläufiges Prinzip: das der Konkurrenz der politischen Parteien43. Dieses stellt sich auf den ersten Blick sogar als das dominierende dar. Die Abgeordneten rekrutieren sich nach den parteipolitischen Präferenzen der Wähler. Deren Entscheidungsmöglichkeiten werden vorab bestimmt durch die Vorschläge der politischen Parteien. Die Konkurrenz greift über auf die Volksvertretung und führt zu ihrer Fraktionierung. Die Fraktionen wiederum sind die wesentlichen Faktoren der parlamentarischen Auseinandersetzung und Einung, der Formierung von Regierungsbündnis und Opposition. Die Konkurrenzdemokratie ist keine Verfallserscheinung eines „wahren“ Parlamentarismus, sondern die reale Voraussetzung seiner Entscheidungs- und Mehrheitsfähigkeit, seiner Fähigkeit zum Dialog mit der Gesellschaft und zur Rückkoppelung mit den Repräsentierten44. Der Wettbewerb um die Macht bezieht sich auch auf die politische Gestaltung. Die Parteien konkurrieren auch in Programmen. Prima facie sind Programme Köder zum Fang von Wählerstimmen, marktschreierische Verheißungen im Bazar der Gefälligkeitsdemokratie, daher vielfach uneinlösbare Versprechungen, die nach dem Wahlsieg unter dem Zwang der Realität zurückgenommen werden. Klientelpolitische Vorhaben lassen sich leicht sozialethisch bemänteln, weil der heutige Sozial- und Interventionsstaat die 43
Klassischer Entwurf des Konkurrenzmodells der Demokratie Joseph A. Schumpeter, Capitalism, Socialism and Democracy, 1924 (dt.: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 2. Aufl., Bern 1950, S. 427 ff.). 44 In diesem Sinne Dieter Grimm, Politische Parteien, in: Ernst Benda (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl., Berlin 1994, S. 599 (602 ff., 613 ff.); Hans Hugo Klein, Die Parteien und der Staat, in: Wolfgang Knies (Hrsg.), Staat, Amt, Verantwortung, Friedrich Karl Fromme zu Ehren, Stuttgart 2002, S. 112 (118 ff.); Lothar Gall, Freies Mandat, Fraktion, Partei: Zu Grundlagen und Begründung des Parlamentarismus, in: 50 Jahre Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, 2002, S. 17 ff. Gegenposition Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 4. Aufl., Berlin 1969, S. 41 ff.
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Belange einer gesellschaftlichen Schicht oder die einer Wirtschaftsbranche häufig als Sache der Allgemeinheit begreift und fördert, so dass die Grenzen zwischen allgemeinen und partikularen Interessen verschwimmen. Die Realanalyse der liberalen Demokratie scheint auf den Befund hinauszulaufen, dass sie weiter nichts hervorbringe als den Parteienstaat45. Diesem aber sind die Kategorien des Gemeinwohls und des Amtes fremd. Dennoch: keine Partei begründet ihre Forderungen mit nackter Parteiraison oder ausschließlich mit klientelpolitischen Absichten. Um im politischen Wettbewerb zu bestehen, muss sie wenigstens darlegen, dass die Gruppeninteressen, deren sie sich annimmt, sich mit den sozial-, wirtschafts- oder regionalpolitischen Interessen der Allgemeinheit decken. Je weiter der Kreis der umworbenen Wähler, desto kräftiger ist der politische Druck, dass die Partei sich auf das Wohl des Ganzen ausrichtet. Der Wettbewerb der Parteien um die Macht löst auch den Wettbewerb der Entwürfe zur Verwirklichung des Gemeinwohls aus. Vollends kommt die parlamentarische Mehrheit nicht umhin, ihre Entscheidungen der Öffentlichkeit als gemeindienlich darzustellen, vor allem dann, wenn sie Gruppen, die ihr politisch fern stehen, Opfer zumutet. Sie kann es sich nicht leisten, eine Maßnahme ungeniert als Akt der Selbst- und Klientelbedienung auszuweisen. Wo politische Scham waltet, gibt es ein politisches Tabu und ein Gesetz des politischen Anstandes. Das aber ist die staatsethische Pflicht der Amtsträger, sich ausschließlich am bonum commune auszurichten. Die Erfüllung dieser Pflicht – oder jedenfalls deren Schein – ist die Bedingung der Möglichkeit, Akzeptanz zu erzielen. Die Akzeptanz ist das politische Korrelat zum rechtlichen Mehrheitsprinzip. In der freiheitlichen Demokratie ist die Mehrheit darauf angewiesen, um Zustimmung zu ihren Gesetzen zu werben, zum einen weil sie fürchten muss, den politischen Rückhalt in der Bevölkerung, das Vertrauen, zu verlieren, zum anderen weil der Rechtsgehorsam, obwohl apriorische Grundpflicht des Bürgers auch in der Demokratie, prekär ist. Im Ergebnis muss die regierende Mehrheit sich besonders bei denen, die sie nicht gewählt haben, um Zustimmung oder wenigstens um Rechtsgehorsam bemühen, so eine rechte Mehrheit bei den Gewerkschaften, eine linke bei den Unternehmern. Unter den Bedingungen der Knappheit kommt keine Mehrheit umhin, auch Erwartungen ihrer eigenen Anhänger zu enttäuschen und zu riskieren, 45 Parteienstaatsdoktrin: Gerhard Leibholz, Der Strukturwandel der modernen Demokratie, in: ders., Strukturprobleme der modernen Demokratie, 3. Aufl., Karlsruhe 1967, S. 78 ff.; Hans-Justus Rinck, Der verfassungsrechtliche Status der politischen Parteien in der Bundesrepublik, in: Karl Dietrich Bracher (Hrsg.), Die moderne Demokratie und ihr Recht. Festschrift für Gerhard Leibholz, Tübingen 1966, S. 305 ff. Kritik: Philip Kunig, Parteien, in: HStR Bd. II, 2. Aufl., Heidelberg 1998, § 33 Rn. 81 ff.; Grimm, Politische Parteien (Anm. 44), S. 613 ff.
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diese ins Lager der Opposition zu treiben. Das deutsche System der ortsund zeitversetzten Wahlen auf vier Ebenen führt zu einem Dauerplebiszit über die jeweilige Mehrheit im Bunde, mit der Folge, dass sie aus Furcht vor Wahlniederlagen von vornherein davor zurückschreckt, lästige Entscheidungen zu treffen, etwa das Leistungsrepertoire der Sozialversicherung zurückzuschneiden, um das System unter veränderten ökonomischen und demographischen Bedingungen überhaupt noch lebensfähig zu halten, kurz: zu verändern, um zu bewahren. Das Gemeinwohl verlangt von seinen staatlichen Akteuren nicht nur Einsicht in die Notwendigkeit, sondern auch Mut, danach zu handeln. Die rechtlichen Voraussetzungen dafür gewährleistet das Repräsentationssystem der Verfassung, das Unabhängigkeit zum Gemeinwohl ermöglicht. Das Grundgesetz setzt an beim Status der einzelnen Abgeordneten, die als Vertreter des ganzen Volkes, nicht an Aufträge ihrer Klientel und Weisungen ihrer Partei- wie Fraktionsführung gebunden, nur ihrem Gewissen verantwortlich sind: Gewissen nicht als Ermächtigung zu autistischer Selbstinszenierung, sondern als Amtsgewissen, ausgerichtet auf das bonum commune nach Maßgabe der Funktionsbedingungen des Kollegialorgans Parlament46. Das Mandat des Abgeordneten erweist sich als öffentliches Amt. Die in ihm liegende Handlungsvollmacht wird freilich mehr durch Verfassungserwartungen determiniert als durch Pflichten, und auch diese sind weniger rechtlicher als ethischer Natur. Die Pflicht zu positiver Ausrichtung am Gemeinwohl lässt sich nicht normativ fassen, wohl aber die Pflicht, bestimmte Handlungen zu unterlassen, welche die innere Unabhängigkeit in Frage stellen können. Rechtlich fassbar ist die Gefahr wirtschaftlicher Abhängigkeit, der das Abgeordnetengesetz und die Verhaltensregeln durch Anzeigegebote und Annahmeverbote Rechnung tragen. Das Parteiengesetz erstreckt die Gefahrenvorsorge auf die Parteien, also in das parlamentarische Vorfeld. Die Öffentlichkeit wacht über die Einhaltung der Amtspflicht, dass Politiker sich selbst oder ihrer Partei keine finanziellen Vorteile verschaffen. Bei einer Regelverletzung oder auch nur dem Schein einer solchen droht der politische Skandal, der ein ärgeres Übel sein kann als die schärfste rechtliche Sanktion. Die Konkurrenzdemokratie, die von den Parteien aus dem gesellschaftlichen Raum in den staatlichen des Parlaments getragen wird, mündet letztlich ein in eine demokratisch legitimierte Ämterordnung47. Die Konkurrenzdemokratie kommt in der parlamentari46
Dazu Erk Volkmar Heyen, Über Gewissen und Vertrauen des Abgeordneten, in: Der Staat 25 (1986), S. 35 ff. (49). 47 Vgl. Wilhelm Hennis, Amtsgedanke und Demokratiebegriff, in: Konrad Hesse (Hrsg.), Staatsverfassung und Kirchenordnung. Festgabe für Rudolf Smend zum 80. Geburtstag, Tübingen 1962, S. 51 ff.; Peter Graf Kielmansegg, „Die Quadratur des Zirkels“, in: Ulrich Matz (Hrsg.), Aktuelle Herausforderungen der repräsentativen
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schen Auseinandersetzung und in der Mehrheitsbildung zur Geltung, im Kampf um Erlangung und Behauptung der Regierungsmacht, in der Bekundung und im Entzug des Vertrauens für die Regierung. Doch die Sachentscheidungen, zumal die Gesetzgebung, müssen sich am Prinzip des Amtes messen lassen. Dass Konkurrenzmentalität in der parlamentarischen Praxis übergeht in Amtsethos und Parteitaktik im Dienst für das Gemeinwohl, ist lediglich eine Verfassungserwartung, für deren Einlösung die Verfassung keine rechtliche Garantie bietet. Um der Offenheit des politischen Prozesses willen ist eine solche Garantie noch nicht einmal wünschbar. Das gilt allerdings nur für die eigentlichen Funktionen des Parlaments, die Gesetzgebung, die Kreation und die Kontrolle der Regierung. Die Grenze seiner legitimen Möglichkeiten wird jedoch überschritten, wenn es gerichtliche Befugnisse ausübt, die der Rechtsstaat an streng amtsrechtliche Voraussetzungen bindet, auf vorgegebene Maßstäbe in Gesetz und Recht verweist; für deren Ausübung er Distanz zur Sache fordert und Parteilichkeit (in jedem Sinne des Wortes) verbietet48. Diesen Anforderungen spottet die heutige Praxis der Untersuchungsausschüsse, die über ihre hergebrachte Aufgabe hinaus, möglichem Fehlverhalten der Exekutive nachzugehen, zu Instrumenten des Kampfes der politischen Parteien gegeneinander geworden sind, mag auch das formelle Untersuchungsthema im Bereich der Regierung oder einer gesellschaftlichen Organisation verankert sein. Untersuchungsausschüsse treten mit dem amtsethischen Anspruch auf, wie ein Gericht auf Wahrheit auszugehen, und dafür ihre strafprozessualen Befugnisse einzusetzen. Das freilich ist nur die Attitüde des Amtsprinzips, in Wirklichkeit aber dessen Perversion. An richterlichen Maßstäben gemessen, wären alle Mitglieder des Untersuchungsausschusses wegen Befangenheit abzulehnen. Ihr Interesse an Aufklärung beschränkt sich auf die Aspekte der Wahrheit, die der eigenen Partei nützen und der gegnerischen schaden. Der Untersuchungsausschuss ist denaturiert zum Instrument des Parteienkampfes. Dabei mögen zuweilen gemeinwohlförderliche Nebenwirkungen eintreten, die Aufklärung eines Missstandes oder heilsame Präventiveffekte. Doch die Befugnis der Mehrheit des Ausschusses, politische Konkurrenten zu vereidigen oder über sie zu verfügen, lässt sich damit nicht rechtfertigen. Das Amtsprinzip ist in der Regierung kräftiger ausgeprägt als im Parlament, auch wenn die parteipolitische Färbung der Regierungsmitglieder unDemokratie, Köln, Berlin, Köln, München 1985, S. 9 (21 ff.); Klein, Die Parteien und der Staat (Anm. 44), S. 124; Gröschner, Republik (Anm. 7), § 23 Rn. 41 ff. 48 Dazu mit Nachw. Josef Isensee, Nemo iudex in causa sua – auch nicht das Parlament?, in: Dieter Dörr (Hrsg.), Die Macht des Geistes. Festschrift für Hartmut Schiedermair, Heidelberg 2001, S. 181 (191 ff.).
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übersehbar ist, die sich wechselweise als Inhaber eines Staatsamtes oder einer Parteifunktion – soeben noch als Parteivorsitzender, nun als Bundeskanzler – präsentieren. Die Regierung ist als grundsätzliche Handlungseinheit und nicht als Forum des parteipolitischen Pluralismus konzipiert. Da sie sich in der Regel nur auf die Mehrheit der Volksvertretung stützt, ist sie in besonderem Maße darauf angewiesen, sich in allen ihren Handlungen auf das Wohl des ganzen Volkes zu berufen. Symbol dessen ist der Amtseid, den die Mitglieder der Regierung zu leisten haben. Das Gesamtbild: Konkurrenzdemokratie und Ämterdemokratie sind zu unterscheiden49. Die Konkurrenzdemokratie kommt zu voller Wirkung im gesellschaftlichen Raum, in dem die Parteien und die sonstigen außerstaatlichen Kräfte sich um Einfluss auf die politische Willensbildung bemühen. sie greift über auf den staatlichen Raum, zunächst auf das Parlament, sodann, abgeschwächt freilich, auf die vom parlamentarischen Vertrauen getragene Regierung, stößt jedoch auf das Gegenprinzip der Ämterdemokratie, die, soweit es um Sachentscheidungen geht, das Konkurrenzprinzip verdrängt. Das Mischregime der beiden Erscheinungsformen der Demokratie beschränkt sich auf den Bereich der politischen Führung. Der Bereich der fachlichen Ausführung, der Verwaltung wie der Rechtsprechung ist dem Zugriff der politischen Parteien von Verfassungs wegen verschlossen. Hier herrscht ausschließlich das Prinzip des Amtes. Eine unmittelbare Einwirkung der Parteien führt zu demokratischer wie rechtsstaatlicher Delegitimation50. Die Unterschiede wirken sich aus auf den Zugang zu den Ämtern. In den Bereichen des Parlaments und der Regierung liegt er in der Wahl als der Bekundung politischen Vertrauens; in den Bereichen de Verwaltung und der Rechtsprechung in der Auslese nach der fachlichen Eignung für das Amt51. Da es um fachliche Ausführung geht, können Ämter auf Lebenszeit übertragen werden. Die politischen Führungsämter des Abgeordneten wie des Regierungsmitglieds werden nur auf Zeit und auf Widerruf übertragen; ihre Inhaber sind abhängig vom politischen Vertrauen der Wählerschaft.
49 Dazu Josef Isensee, Demokratie – verfassungsrechtlich gezähmte Utopie, in: Matz, Aktuelle Herausforderungen der repräsentativen Demokratie (Anm. 47), S. 43 (45 ff.). 50 Dazu Klein, Die Parteien und der Staat (Anm. 44), S. 124 ff. 51 Zu den zwei Idealtypen, dem politischen Führungsamt und dem fachlichen Vollzugsamt: Isensee, Demokratie – verfassungsrechtlich gezähmte Utopie (Anm. 49), S. 45 ff.; ders., Gemeinwohl und Staatsaufgaben im Verfassungsstaat (Anm. 7), § 57 Rn. 103.
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3. Mediatisierung des Gemeinwohls durch Gesetz – Gesetzesvollzug offen zum Gemeinwohl Der Gedanke drängt sich auf, die Anwendung des Gemeinwohlregulativs auf Parlament und Regierung zu beschränken, also auf den Bereich rechtlich offenen Staatshandelns, darüber hinaus dem Gemeinwohl die Anwendbarkeit allenfalls in der gesetzesfreien Verwaltung zuzuerkennen, ihm jedoch die gesetzesakzessorische Verwaltung und die Gerichtsbarkeit zu verschließen. Denn diese Sektoren der Staatstätigkeit unterliegen der Bindung an Gesetz und Recht. Gesetz und Recht, so ließe sich argumentieren, mediatisierten das Gemeinwohl, so dass es überflüssig sei, auf die abstrakte Idee zurückzugreifen, letztlich sogar gefährlich für die Rechtssicherheit. Doch der Gedankengang ist nicht plausibel. Verwaltung und Rechtsprechung haben das Gesetzesrecht anzuwenden. Darin liegt eine schöpferische Rekonstruktion des im Gesetz verkörperten Willens. Dazu bedarf es der eigenen Zutaten des Rechtsanwenders, der Anreicherung durch Konkretisierung. Diese aber darf ihrerseits nicht parteilich und eigennützig erfolgen. Die dienstrechtliche Verpflichtung der Beamten und der Richter, die durch Amtseid bekräftigt wird, auf die gewissenhafte, lautere, ausschließlich gemeinwohlorientierte Amtsführung, macht guten, praktischen Sinn. Die Pflichten des Beamten und des Richters sind rechtlich ausformuliert, bei ersteren auch weisungshierarchisch konkretisiert; gleichwohl bleibt ein erheblicher ethischer Rest, der sich der Verrechtlichung entzieht und erklärt, warum das Amtsrecht an das Gewissen appelliert. Das Amtsprinzip kommt hier von Verfassungs wegen rein zur Geltung. VI. Staatspraxis im Widerspruch zum Gemeinwohl Ein schönes rechtliches Bild – doch zu schön, um wahr zu sein? Die Realität erzeugt Skepsis, und sie liefert ihr stetig neue Nahrung. Die Frage kommt auf, ob und wieweit der Staat überhaupt noch die ethische Potenz und die strukturellen Voraussetzungen hat, sich am Gemeinwohl zu orientieren52. Staats- und Parteistrukturen verfilzen. Die Demokratie gibt immer wieder das Bild der Selbstbedienung der Parteien, die sie regieren53. Das Prinzip des Amtes gilt dem Zeitgeist als überholt. Die verfassungsrechtlich gebotene Auslese für die öffentlichen Ämter nach fachlicher Eignung wird unterlaufen durch Partei- und Gewerkschaftspatronage. 52
Forsthoff, Wer garantiert das Gemeinwohl? (Anm. 40), S. 39 ff. Beispiel einer Philippika, die freilich der differenzierenden Analyse bedarf: Hans Herbert von Arnim, Wer kümmert sich um das Gemeinwohl?, in: ZRP 2002, S. 193 ff. 53
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Die Grenze zwischen Privatwirtschaft und Staatsverwaltung verschwimmt. Die Verwaltung wird zunehmend auf betriebswirtschaftliche Zielvorstellungen verpflichtet, ohne dass der Widerspruch zu ihren hergebrachten amtsrechtlichen Pflichten aufgehoben würde. Der Klinikchef, der sich vom zuständigen Ministerium zu unternehmerischen Initiativen und Aquisitionen ermuntert sieht, wird von der Staatsanwaltschaft der Untreue geziehen, Landesbanken und Stadtwerke erweisen sich als Biotope der Korruption. Das allgemeine Rechtsbewusstsein ist abgestumpft gegen die strukturellen Gemeinwohldefekte des öffentlichen Arbeitsrechts, das dem Tarifpersonal der Verwaltung ermöglicht, auf der Basis der Konkursunfähigkeit des öffentlichen Arbeitgebers und der Sicherheit ihres Arbeitsplatzes ihr Dienstleistungsmonopol auszunutzen, um sich im Arbeitskampf gegen die staatlich organisierte Allgemeinheit günstigere Arbeitsbedingungen, zumal höheres Salär, zu erpressen. Der von Verfassungs wegen als Regel vorgeschriebene Beamtenstatus, der derartige Konflikte ausschließt, gilt als antiquiert54. Besonders heikel ist die Grenze zwischen Richteramt und Parteipräferenz für die Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts, die ihr Amt – Ausnahme von der fachlichen Eignungsauslese – der politischen Wahl nach Parteiproporz verdanken. Die Legitimation des Staatsorgans, dem das Recht des letzten Wortes im Streit um die Auslegung der Verfassung zukommt, steht und fällt aber mit dem Vertrauen in die Sachlichkeit und Fachlichkeit, die ausschließliche Gemeinwohlausrichtung der Entscheidung. Die Öffentlichkeit hat sich an Prognosen gewöhnt, die in politisch aufgeladenen Prozessen einen Ausgang nach Maßgabe der Parteien, auf deren Vorschlag die Richter gewählt wurden, voraussagen. Zum Glück für die Institution des Bundesverfassungsgerichts treffen die Prognosen nicht immer zu. Gleichwohl: die Legitimation bleibt labil. Liefern Phänomene solcher Art einen Grund, das Gemeinwohl als Kategorie des Staatshandelns als Lebenslüge des Verfassungsstaates zu denunzieren und auf sie zu verzichten? Das Gegenteil ist richtig. Es ist notwendiger denn je, den Sinn für das Gemeinwohl in Theorie wie Praxis zu schärfen.
54 Zu diesem Aspekt Wolfgang Loschelder, Amt und Status – oder: warum sollen Professoren Beamte sein?, in: Ingeborg Franke (Hrsg.), Öffentliches Dienstrecht im Wandel. Festschrift für Walther Fürst, Berlin 2002, S. 219 ff.
Bericht über die Diskussion zum Vortrag von Josef Isensee Diskussionsleitung: Winfried Brugger Von Alexandra Unkelbach Die von Prof. Dr. Winfried Brugger, Heidelberg, geleitete Diskussion wurde mit einem Redebeitrag von Ferdinand Krause, Bonn, eröffnet, der die Frage aufwarf, ob die Treuepflicht des Beamten nach Ansicht von Prof. Dr. Josef Isensee eine Möglichkeit darstelle, dem Gemeinwohl ein Einfallstor in die Praxis zu eröffnen. In der juristischen Literatur werde die Treuepflicht nur als eine gesteigerte Gesetzesbindung des Amtsträgers beschrieben. Wenn das aber so sei und auch von namhaften Vertretern der Wissenschaft so gesehen werde, dann stelle sich die Frage, inwieweit die Treuepflicht im realen Dienstleben noch als vom Amtsträger tatsächlich verinnerlicht angesehen werden könne. „Inwieweit ist die Treuepflicht real oder inwieweit handelt es sich um einen reinen Formalismus?“ Im Anschluss hieran fragte Dr. Stephan Kirste, Heidelberg, nach dem formalen Status des Gemeinwohlprinzips in der von Isensee aufgezeigten Konzeption. Isensee habe das Gemeinwohlprinzip unter Zurückweisung aller rechtspositivistischen Auffassungen als eine regulative Idee angesehen, die der Verfassung als Ziel der Ziele vorausliege. Zunächst stelle sich in formaler Hinsicht die Frage, was „der Verfassung vorausliegend“ bedeute. „Lassen wir es da liegen oder soll es normative Pflichten begründen und sind die normativen Pflichten Rechtspflichten, sind es ethische oder moralische Pflichten?“ Isensee rücke die Bemühungen positivistischer Ansätze in die Nähe der Begriffsjurisprudenz, wenn er sage, es werde etwas in die Verfassung hineingepackt, was dann als Segnung des Gemeinwohls wieder herausgeholt werde. Gleichwohl zeige Isensees Konzeption doch gerade, dass man sehr viel aus der Verfassung herausholen könne, was nicht künstlich hineingelegt werde. Kirste unterstrich die Darstellung Isensees, wonach das außerordentlich differenzierte Bild von den freiwilligen Gemeinwohlleistungen des Einzelnen über die freiwilligen Gemeinwohlleistungen der Vereinigungen, der Selbstverwaltung, der Parteien und Kirchen bis hin zur Gemeinwohlverpflichtung der öffentlichen Verwaltung in das Gesamtgemeinwohl eingebunden sei.
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Vielleicht, so Kirste, dürfe man die Ansprüche an die Verfassung nicht zu hoch schrauben. Die Verfassung sei weniger ein Bebauungsplan als vielmehr die Raumplanung des Gemeinwohls. Sie enthalte Grundstrukturen und weil diese Grundstrukturen in der Verfassung verankert seinen, habe das Bundesverfassungsgericht zu Recht ausgeführt, dass der verbleibende Spielraum den Staat in erster Linie zum Hüter des Gemeinwohls mache. All dies lasse sich wunderbar in ein positivistisches Verständnis des Gemeinwohls, welches die Verfassung (ohne sie von außen zu überfrachten) entfalte, einbinden. Dr. Ulrich Mlitzko, Oberursel, bat Isensee um eine Stellungsnahme zum Problem der Fraktionsdisziplin. Isensee habe sehr stark auf das freie Mandat des Abgeordneten (Art. 38 GG) abgestellt. Mlitzko merkte in diesem Zusammenhang an, dass es in der Literatur zunehmend Stimmen gebe, die das freie Mandat ohnehin bereits als obsolet ansähen. Dr. Michael Anderheiden, Heidelberg, knüpfte an die Begriffe des „Amtsprinzips“ und des „Amtsethos“ an. Wenn man auf diese beiden Begriffe abstelle und annehme, diese seien gemeinwohlausgerichtet, dann müsse das Gemeinwohl doch vorher bestimmt sein. Nach Anderheiden könne man das Gemeinwohl nicht als durch das Amtsethos sich entwickelt darstellen, gleichzeitig aber alle Amtsträger auf das Amtsethos verpflichten. Vielmehr müsse bei aller Materialisierung des Gemeinwohls, die Isensee versucht habe, dieses Gemeinwohl materiell noch anders fassbar sein, als nur durch eine Amtspflicht, die über die Gesetzesbindung hinausgehe. Wenn es aber dann bei der Gesetzesbindung bliebe, sei man wieder bei dem theoretischen Dilemma vom Anfang, zu dem Isensee ausgeführt hatte, das Gemeinwohl sei eine „Zierleiste“. „Was also ist das Gemeinwohl dann noch mehr, materiell und rechtlich?“ Ebenfalls an den Begriff des Amtsethos anknüpfend wollte Norbert Hiltner, Schwedeneck, wissen, wie ein Abgeordneter und erst Recht ein Beamter angesichts der heutigen Realitäten der Verfilzung, der Ämterpatronage und dem problematischen Verhältnis zwischen betriebswirtschaftlichen Zielen und Recht gegen die sich hier offenbarende Diskrepanz angehen könne, ohne sich selbst als unglaubwürdig erscheinen zu lassen oder als Querulant zu gelten. Selbst Altbundespräsident von Weizsäcker sei, als er auf Missstände hingewiesen und die Parteien scharf kritisiert habe, mit der Begründung zurechtgewiesen worden, er selbst verdanke den Parteien seine Karriere. Dies allein zeige bereits, dass es für den Abgeordneten oder den Beamten praktisch unmöglich sei, gegen derartige Missstände anzugehen. Welche praktischen Möglichkeit gebe es, nach Isensees Ansicht, die hehren Grundsätze des Amtsethos durchzusetzen. Am Ende der Fragerunde warf Brugger als Diskussionsleiter die Frage auf, welchem Zweck die Verwendung des Begriffs „Gemeinwohl“ diene.
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Wenn das Gemeinwohl auf der Grundrechtsebene sowohl im Schutzbereich zu finden sei (das legitime egoistische Interesse) als auch auf der Schrankenseite (etwa bei der Enteignung zum allgemeinen Wohl), so changiere es hin und her zwischen dem ein und dem anderen Bereich, und daher rühre doch wohl im Wesentlichen der Vorwurf der Manipulierbarkeit und der Beliebigkeit. Könne es nicht so sein, dass das sachverständige Publikum der Verfassungsjuristen ohne den Begriff des Gemeinwohls auskomme, weil diese rechtstechnisch sprächen, in Schutzbereich und Schranken beispielsweise? Sei vielleicht die Berufung auf das Gemeinwohl, wie im übrigen auch die Berufung auf das Menschenbild, über das Fachpublikum hinaus an das allgemeine Publikum gerichtet, um ihm zu sagen: „schau her, wir müssen hier abwägen zwischen Schutzbereich und Schranke“? Brugger fragte, ob es „zwei unterschiedliche Kommunikationen“ gebe, den Sachverständigendiskurs, der nicht unbedingt das Gemeinwohlargument brauche, und den allgemeinen Diskurs, der auf solche Begriffe angewiesen sei, um dem nicht so sachverständigen Publikum die Problematik verständlich zu machen. Isensee nahm zunächst zu der vom Diskussionsleiter aufgeworfenen Frage nach der Möglichkeit des Verzichts auf die allgemeine Idee des Gemeinwohls Stellung. Hierzu zog er „die Schwester der Idee des Gemeinwohls“, die Idee der Gerechtigkeit zum Vergleich heran. Die Gerechtigkeit sei im privaten Umgang und in der politischen Öffentlichkeit ein ständig präsenter Begriff. Professionelle Juristen hingegen hätten größte Scheu vor der Verwendung dieses Begriffs. Sie gingen denkbar vorsichtig und sparsam damit um, es sei denn, dass einmal ein Gerichtsjubiläum zu feiern sei. Diese Vorsicht rühre nicht daher, dass sie die Gerechtigkeit missachteten. Wenn sie überhaupt ein Fach- oder Berufsethos hätten, dann gründe dies in der Gerechtigkeit. Die Scheu bestehe vielmehr darin, dieses Höchste in den Alltag zu nehmen. Statt der Gerechtigkeit werde das positive Recht als normales Argumentationsmittel verwandt. Dann aber stelle sich, in Anlehnung an Bruggers These zur Entbehrlichkeit des Gemeinwohlbegriffs, die Frage, ob das positive Recht die Berufung auf die Gerechtigkeit nicht entbehrlich mache. Dem sei jedoch nicht so. Die Idee der Gerechtigkeit, wie die Idee des Gemeinwohls, würden, so Isensee, notwendig durch das positive Recht mediatisiert, sie könnten damit das positive Recht nicht ersetzen. Umgekehrt sei aber auch die allgemeine Idee des Gemeinwohls nicht entbehrlich. Auch das dichteste und bestimmteste aller Gesetze sei nicht in der Lage, die Gesetzesanwendung festzuschreiben. Isensee verwies darauf, dass jede Gesetzesinterpretation ein schöpferischer Akt sei und jede Gesetzesanwendung Konkretisierung bedeute. Konkretisierung sei Anreicherung. So dass der Interpret durch diesen schöpferischen Akt der Rekonstruktion und Anreicherung seinerseits in bestimmtem Maße in eine Freiheit entlassen werde, die der Gesetzgeber ebenfalls gehabt habe. Dazu bedürfe es der re-
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gulativen Idee, die dann freilich durch die juristische Handwerkskunst und das Amtsethos entsprechend steuernde Wirkung zeitige. Damit ging Isensee zur Frage Anderheidens über. Es sei eine positivistische Selbsttäuschung zu glauben, das geltende Recht sei ein geschlossenes System, das nicht diesen aktiven, tätigen und letztlich freien Akt der Umsetzung erfordere. Damit seien die allgemeinen Steuerungselemente gegeben, die sich am deutlichsten im Verbot äußerten. Im Verbot der eigennützigen, der parteilichen, der durch Befangenheit getrübten Anwendung des Rechts. Sodann ging Isensee auf die Frage von Kirste bezüglich des formalen Status ein. Das Gemeinwohl als solches sei ebenso wenig wie die Gerechtigkeit ein sinnvoller Gegenstand des positiven Rechts, sondern gehe dem als Leitprinzip voraus. Wenn die rheinland-pfälzische Verfassung das Gemeinwohl ausdrücklich formuliere, dann sei das im Kontext einer Verfassung – die eigentlich für praktische Dinge Entscheidungen zu treffen hat – eher ein Gemeinplatz. Hier werde der Eindruck erweckt, es handele sich um eine normale Norm des positiven Rechts. In Wahrheit handele es sich um eine Leitidee, die Regel der Regel, die allem vorausliege, dann aber freilich vermittelt werde, so dass sie nicht das positive Recht beliebig überspiele und verschiebe. Überall dort aber, wo sich Handlungsermächtigungen ergäben, sei damit auch Sinn für diese Idee, die sich jeweils auf ein Gemeinwesen beziehe. Jede Form menschlicher Gemeinschaftsbindung bedürfe – schon um der inneren Konsistenz willen – gemeinsamer Zielvorstellungen. Diese Zielvorstellungen seien jeweils von der Eigenart des jeweiligen Verbandes abhängig, ob es sich um einen Gesangverein, den Staat, die Europäische Gemeinschaft oder die Vereinten Nationen handele. Dennoch sei dieses Moment immer da und gerade daraus ergebe sich, so Isensee, die Relativität jeder Gemeinwohlvorstellung, da die Gemeinwohlvorstellung sich stets auf einen bestimmten Verband beziehe, der seinerseits in anderen Verbänden aufgehe. Die Vorstellung eines universalen menschheitlichen Gemeinwohls entspreche diesem Denken ohne weiteres. Die unitas ordinum – auf die Menschheit bezogen – finde sich bereits bei Thomas von Aquin und sei auch schon in der Stoa angelegt. Insoweit sei das, was heute als jüngste Erkenntnis gelte, weiter nichts als scholastische Tradition, die natürlich in besonderem Maße für Idee des Gemeinwohls offen sei. Zur Frage von Mlitzko bezüglich der Fraktionsdisziplin, der die Abgeordneten unterworfen seien, führte Isensee aus: Der Fraktionszwang, dem der Abgeordnete unterliege, müsse unter Berücksichtigung des Charakters des Parlaments als Ort der Parteienkonkurrenz betrachtet werden. Im Parlament überkreuzten sich Konkurrenzdemokratie und Ämterdemokratie. Jeder dieser beiden Demokratiefaktoren habe seine eigene Legitimation. Die verfas-
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sungsrechtliche Garantie des freien Mandates sichere, dass die Bindungen, die sich aus der politisch notwendigen Realität von Partei und Fraktion ergäben, keine Rechtsbindungen erzeugten und dass damit auch der Zwang, den die Fraktionsräson ausübe, immer mit der Zustimmung des einzelnen Mitgliedes korrespondieren müsse. Anderenfalls zerbreche die Handlungseinheit der Fraktion. In diesem Zusammenhang ging Isensee auch auf die Frage Hiltners ein. Wer die Parteien mit der (ursprünglich von dem Politikwissenschaftler Schwarz geprägten) Formel „von der Machtbesessenheit zur Machtvergessenheit“ kritisiere, ignoriere die Realität der Parteiendemokratie und damit der Demokratie als realer Handlungseinheit. Wer allerdings den Amtscharakter leugne, nehme dem Parlament jeden höheren ethischen Anspruch gerade auch an seine Mitglieder. Als Beispiel eines prekären Falles, in dem diese Mischung sich in der Praxis als geradezu moralisch verheerend erweise, führte Isensee die parlamentarischen Untersuchungsausschüsse an, in denen das Parlament als „Quasi-Gericht“ in Fragen tätig werde, die seine eigenen Angehörigen betreffen. Hier sei jedes Mitglied des Untersuchungsausschusses nach Amtsverständnis quasi Richter. Wenn man aber das Amtsverständnis konsequent – nach richterlichen Maßstäben – anwende, so wäre jeder wegen Befangenheit abzulehnen. Damit sei das Ergebnis derartiger Untersuchungsausschüsse von vorneherein klar und es stelle sich die Frage, ob es nicht eine ungeheure Anmaßung sei, dass ein solcher Ausschuss, der Inkarnation einer gestaltenden Parteilichkeit sei, das Recht habe, Eide abzunehmen. Hier werde ein Amtsanspruch erhoben, der nur dort realisiert werden könne, wo der Parteieinfluss von Rechts wegen völlig abgeschottet sei. In dieser unvermeidlichen Mischung aus zwei Elementen der Polarität, die seine Lebendigkeit und seinen Anspruch begründeten, bedeute der Untersuchungsausschuss, soweit er Angelegenheiten seiner eigenen Mitglieder und deren Parteien betreffe, letztlich eine Perversion des Amtes.
Gemeinwohl durch politischen Wettbewerb1 Von Peter Graf Kielmansegg I. Die Politikwissenschaft hat keinen Adam Smith – will sagen: Wir haben keine Dogmatik, kein Modell, keine Theorie anzubieten, die uns mindestens auf dem Papier verlässlich Auskunft darüber gibt, ob und wie politischer Wettbewerb dem Gemeinwohl dienlich ist. Wir können hinter die Überschrift zunächst einmal nur ein Fragezeichen setzen, nicht ein Ausrufungszeichen, wie das die Wirtschaftswissenschaften ganz selbstverständlich tun. Schon gar nicht können wir wie die Ökonomen – die meisten von ihnen jedenfalls – als Gewissheit verkünden, dass das Streben eines jeden einzelnen nach seinem eigenen Nutzen, einen funktionierenden Markt vorausgesetzt, zum allgemeinen Wohl führen werde. Auch die pluralistische Demokratietheorie, bei der man am ehesten Einsichten in den Zusammenhang zwischen politischem Wettbewerb und Gemeinwohl vermuten würde, lässt uns letztlich im Stich. Das anfängliche naive Vertrauen, dass der geregelte Wettstreit der Partikularinteressen zu einem fairen Ausgleich führen werde, hat der Kritik nicht standgehalten. Auch Ernst Fraenkel, der das pluralistische Verständnis der Demokratie in Deutschland so wirkungsvoll propagiert hat, ist den eigentlichen Fragen ins Formelhafte ausgewichen. Dass die Politikwissenschaft es der Ökonomie nicht gleichtun kann, heißt nicht, dass sie zu diesem Thema nichts zu sagen hätte. In einem ersten Schritt muss freilich genauer bestimmt werden, was unter politischem Wettbewerb verstanden werden soll. Der Begriff ist vieldeutiger, facettenreicher, als es der ökonomische Begriff des Wettbewerbs ist. Politischer Wettbewerb, damit können die öffentlichen Diskurse über die gemeinsamen Angelegenheiten gemeint sein, der Wettbewerb der Ideen und Argumente. Es kann der Wettstreit der organisierten Interessen gemeint sein, den die Pluralismustheorie vor allem im Auge hat. Politischer Wettbewerb, das kann der Wettbewerb der Territorien in einem Bundesstaat sein, eine in der Föderalismusdiskussion höchst aktuelle Thematik. Aber auch der Konkurrenz1
Die Vortragsform ist für das Manuskript beibehalten worden.
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kampf zwischen den Staaten eines Staatensystems. Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Gemeinwohl und Wettbewerb kann für jede dieser Varianten des Themas aufgeworfen werden – übrigens durchaus auch für die letzte. Aber sie stellt sich jedes Mal anders. Im Folgenden soll es ausschließlich um den Wettbewerb der Parteien zur Eroberung von Regierungsmacht, von Parlamentsmandaten und Regierungsämtern also, in der repräsentativ verfassten Demokratie gehen. Diese Zuspitzung der Frage ist sinnvoll, weil der Parteienwettbewerb als schlechthin konstitutiv für die moderne Demokratie angesehen wird. Wenn man schon nicht undifferenziert über politischen Wettbewerb im allgemeinen sprechen kann, dann ist es vernünftig, sich auf den Parteienwettbewerb als Zentrum des komplexen Wettbewerbssystems, als das die moderne Demokratie verstanden werden kann, zu konzentrieren. II. Der nächste Schritt führt uns auf eine Klippe zu. Über die Gemeinwohlwirkungen des demokratischen Parteienwettbewerbs lässt sich nichts aussagen ohne eine demokratiegemäße Gemeinwohlkonzeption. Die zu entwickeln ist eine – alles andere als einfache – Aufgabe für sich, nicht nebenbei zu erledigen in einem halbstündigen Referat, das anderes zu leisten hat. Andererseits zögert man, mit einem unreflektierten common-sense-Verständnis von Gemeinwohl die Aufgabe in Angriff zu nehmen, die das Thema stellt. Ich will es mit einigen wenigen elementaren Überlegungen zu einer demokratiegemäßen Gemeinwohlkonzeption versuchen, bevor ich mich auf diesem – natürlich zu rasch und flüchtig gezimmerten – Podest meinem eigentlichen, eben dem Wettbewerbsthema zuwende. Jede demokratiegemäße Gemeinwohlkonzeption muss aus zwei verschiedenen Individualrechten entwickelt werden, die das Fundament der Demokratie bilden: – dem Recht eines jeden Bürgers, an der Bestimmung dessen, was für alle gelten soll, beteiligt zu sein – und dem Anspruch eines jeden Entscheidungsbetroffenen mit seinem Recht auf Gerechtigkeit in jeder Entscheidung, die ihn mit trifft, Berücksichtigung zu finden. Diese beiden Rechte sind nur auf den ersten Blick ein harmonisches Gespann. Tatsächlich stehen sie in einem Spannungsverhältnis zueinander. Es gibt keine Möglichkeit, das Recht eines jeden Bürgers, an der Bestimmung dessen, was für alle gelten soll, beteiligt zu sein, so in Verfahren der Kollektiventscheidung zu übersetzen, dass dem Anspruch eines jeden Entschei-
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dungsbetroffenen, mit seinem Recht auf Gerechtigkeit in jeder Entscheidung, die ihn trifft, Berücksichtigung zu finden, hinreichend verlässlich und gleichmäßig Rechnung getragen wird. Dieses Dilemma ist in beiden Grundvarianten des demokratischen Abstimmungsverfahrens leicht zu veranschaulichen: Jede Mehrheitsentscheidung kann über legitime Belange der jeweiligen Minderheit hinweg gehen. In jeder einstimmigen Entscheidung, die das ausschließt, kann jeder einzelne mit seinem Veto alle anderen handlungsunfähig machen. Eine Gemeinwohlkonzeption, die sich aus den beiden demokratischen Grundrechten herleitet, nimmt die Spannung, die zwischen ihnen besteht, notwendig in sich auf. Das eine Recht verweist auf eine durch das Verfahren definierte Gemeinwohlvorstellung. In der Tat ist für die Demokratie konstitutiv, dass der Modus der Politik für sich und an sich Gemeinwohlqualität hat. Dass so und nicht anders regiert wird, das macht in einem demokratischen Gemeinwesen zu einem wesentlichen Teil das allgemeine Wohl aus. Das andere Recht verweist auf eine durch die Politikergebnisse definierte Vorstellung von Gemeinwohl. Dass in den Politikergebnissen die Ansprüche aller auf Gerechtigkeit im Maße des Möglichen Berücksichtigung finden, das ist der andere Teil des Gemeinwohls, nach dessen Verwirklichung die Demokratie streben muss. Beide Anforderungen lassen sich nicht völlig zur Deckung bringen. Sie sind aufeinander bezogen, aber sie relativieren sich auch. Der Modus der Politik für sich genommen, gleichgültig was dabei herauskommt, ist nicht alles. Und die Ergebnisse des Politikprozesses für sich genommen, gleichgültig wie sie zustande gekommen sind, sind natürlich auch nicht alles. Die Arbeit am Gemeinwohl ist in der Demokratie ein komplexer Optimierungsprozess, der sich an zwei unterschiedlichen Gemeinwohlstandards, die dennoch ein Ganzes bilden, orientieren muss. Es ergibt sich aus unseren Überlegungen übrigens zwingend, dass Gemeinwohl immer das Gemeinwohl einer bestimmten Gesamtheit von Bürgern ist. Das schafft insbesondere für demokratisch verfasste Mehrebenensysteme, in denen unterschiedlich definierte Bürgergesamtheiten sich als Gemeinwohlsubjekte überlagern, durchaus Schwierigkeiten. III. Nicht dass wir nun präzise wüssten, was Gemeinwohl in der Demokratie ist. Aber wir wissen gerade eben genug, um uns unserem eigentlichen Thema, der Frage nach dem Zusammenhang zwischen Gemeinwohl und Parteienwettbewerb, zuwenden zu können. Wir können diese Frage jetzt so formulieren: Wie wirkt der Parteienwettbewerb auf jenen komplexen, an
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zwei verschiedenen Gemeinwohlstandards zu orientierenden Optimierungsprozess, auf den es bei unserer kurzen Reflexion über eine demokratiegemäße Gemeinwohlkonzeption hinauslief, ein? Die Antwort lautet banal und doch bedeutsam: positiv und negativ! Der demokratische Parteienwettbewerb ist, was seine Gemeinwohlwirkungen angeht, ambivalent. Banal aber nicht trivial ist diese – gleich näher zu konkretisierende – Ausgangsthese, weil sie sich von durchaus gewichtigen Traditionen der Eindeutigkeit absetzt. Da ist es auf der einen Seite zur Gewohnheit geworden, zu einer angesichts der Realitäten der modernen Demokratie durchaus verständlichen Gewohnheit, Demokratie und Parteienwettbewerb in eins zusetzen und die Frage nach den Gemeinwohlwirkungen des Parteienwettbewerbs gar nicht mehr zu stellen. Auf der anderen Seite gibt es das alte Rousseau’sche Verdikt gegen Parteien, das die Frage nach den Gemeinwohlwirkungen des Parteienwettbewerbs gar nicht erst zulässt, weil schon mit der Parteibildung als solcher – so sieht es Rousseau – das Gemeinwohl aus dem Blick gerät. Gegen solche Traditionen der raschen Eindeutigkeit also stellt sich die These, die Gemeinwohlwirkungen des Parteienwettbewerbs seien ambivalent. Worin liegt der Beitrag des Parteienwettbewerbs zur Verwirklichung des Gemeinwohls in der Demokratie? Im Kern darin, dass er die Demokratie in wesentlichen Hinsichten als Demokratie funktionsfähig macht. Das erscheint uns als so selbstverständlich, dass wir es kaum noch registrieren, jedenfalls nicht als Gemeinwohlbeitrag registrieren. Es ist deshalb angebracht, so einfach die Wahrheiten auch sind, um die es hier geht, die elementare Bedeutung des Parteienwettbewerbs für den demokratischen politischen Prozess in Erinnerung zu rufen: Der Parteienwettbewerb hat Schlüsselbedeutung für die Kontrollierbarkeit der Macht, für die Offenheit des politischen Prozesses und für die Rationalität des politischen Prozesses. Alle drei Stichworte bedürfen einer kurzen Erläuterung. Kontrollierbarkeit der Macht: Repräsentative Demokratie ist in ihrer Quintessenz am besten und knappsten auf den Begriff gebracht in der angelsächsischen Formel vom „responsible government“. Repräsentative Demokratie ist responsible government in einem besonderen, eben demokratischen Sinn: vor der Gesamtheit der Bürger zu verantwortendes, von der Gesamtheit der Bürger kontrolliertes Regieren. Der Parteienwettbewerb ist der Hauptmechanismus, durch den die moderne Demokratie das Prinzip des responsible government verwirklicht. Der Parteienwettbewerb ist für die Kontrolle von Macht zum einen natürlich deshalb wesentlich, weil er die Bürger instand setzt, die Regierenden abzuberufen, zu ersetzen. Karl Popper hat Demokratie geradezu definiert
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als eine politische Ordnung, in der die Bürger ein gesichertes Recht hätten, die Regierung abzulösen. Das hebt die zentrale Bedeutung der Vorkehrungen, die dieses Recht ausübbar machen, ins Bewusstsein. Natürlich können auf Zeit gewählte Amtsinhaber als Individuen mit oder ohne das Medium der Partei abgewählt werden. Aber erst über dieses Medium, also durch den Parteienwettbewerb, kann die Gesamtheit der Regierenden (im Sinne des englischen government) als kollektiver Akteur zur Verantwortung gezogen werden. Es bedarf der Reduktion politischer Komplexität durch die Parteien, um dem Bürger Zugriff auf mehr als einen individuellen Amtsträger zu geben. Der Parteienwettbewerb ist ein Mechanismus der Kontrolle von Macht durch die Bürger aber auch in dem weiteren Sinn, dass er als Instrument der inhaltlichen Steuerung des Regierungshandelns durch die Bürger wirkt, der Rückbindung der Regierungsmacht an die Erwartungen und Befürchtungen der Bürger, zumal die vergleichsweise bestimmten, deutlichen. Parteienwettbewerb, um es kurz und mit einem in der Demokratieforschung in Mode gekommenen Begriff zu sagen, erzwingt Responsivität. Auch hier gilt: Parteienwettbewerb ist sicher nicht der einzige Mechanismus, der Responsivität bewirkt. Aber es ist ein Mechanismus, der Einfachheit und Effizienz miteinander verbindet. Offenheit des politischen Prozesses bedeutet im Kern: Für keine der – in modernen Gesellschaften notwendigerweise konkurrierenden – konkreten Antworten auf die Gemeinwohlfrage kann ein Geltungsmonopol dauerhaft etabliert werden. Die strukturelle Voraussetzung dafür ist die Institutionalisierung von Chancen des Machtwechsels. Genau das leistet der Parteienwettbewerb. Er macht den Austausch der Regierenden verlässlich möglich. Man kann es auch so formulieren: Im Parteienwettbewerb sind für das politische System wiederkehrende Chancen der Regeneration und Innovation angelegt. Wie überlebenswichtig das ist, hat sich eindringlich an der Alterserstarrung, der buchstäblichen Vergreisung der marxistisch-leninistischen Parteidiktaturen gezeigt, die – genau umgekehrt – geradezu darauf angelegt waren, den Wechsel zu verhindern. Natürlich hängt es wesentlich von der Struktur des Parteiensystems ab, wie es mit den „Chancen der Regeneration und Innovation“ konkret bestellt ist. In Italien etwa war davon jahrzehntelang wenig zu spüren. Aber das Argument lautet auch nur, dass der Parteienwettbewerb Chancen institutionalisiere. Er garantiert nichts. Schließlich: Rationalität des politischen Prozesses. Wahrscheinlich werden viele Schwierigkeiten haben, Wahlkämpfe, um einen besonders einprägsamen Moment des Parteienwettbewerbs hervorzuheben, mit Rationalität zu assoziieren; vielleicht sich auch schlichtweg weigern, es zu tun. Dem will ich entgegenhalten: Der Ärger über Tonlage, Stil, Intelligenzniveau des
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Parteienstreites in Wahlkämpfen darf uns nicht vergessen machen, dass der Parteienwettbewerb seiner Struktur nach ein höchst rationaler Modus der Austragung von politischen Konflikten ist. Im Vergleich politischer Systeme wird das sofort sichtbar. Im Parteienwettbewerb werden politische Konflikte so ausgetragen, dass unterschiedliche Problemwahrnehmungen und alternative Konzeptionen der Problembearbeitung immer wieder generiert, präsentiert und argumentativ verfochten werden, über die dann eine dritte Instanz, die Wählerschaft, auf Zeit entscheidet. Dieser Modus hat viel mit einem trial-and-error-Prozess zu tun. Das trial-and-error-Verfahren aber hat die Rationalitätstests der jüngeren Geschichte viel, viel besser bestanden als alle Versuche, mit einem holistischen Verständnis von Rationalität Politik zu machen. Die Kontrollierbarkeit der Macht, die Offenheit des politischen Prozesses und die Rationalität des politischen Prozesses als Gemeinwohleffekte dem Parteienwettbewerb zuzurechnen, heißt, um das noch einmal in aller Deutlichkeit zu sagen, natürlich nicht zu behaupten, nur der Parteienwettbewerb könne diese Effekte haben. Über funktionale Äquivalente kann man intensiv und phantasievoll diskutieren. Gesagt ist nur, dass alle modernen Demokratien sich dieses Mechanismus bedienen, um Macht zu kontrollieren, den politischen Prozess offen zu halten und eine Basisrationalität des politischen Prozesses zu gewährleisten. Die Einheitlichkeit, in der die Demokratieentwicklung in der Moderne auf Parteienwettbewerb zugelaufen ist, spricht allerdings dafür, dass dieser Mechanismus Effizienzvorteile gegenüber denkbaren funktionalen Äquivalenten für sich hat. Offenbar, weil er vergleichsweise einfach ist und dabei doch ein vergleichsweise breites Spektrum positiver Wirkungen hat. IV. Und nun die andere Seite der Medaille. Zu unterscheiden ist zwischen negativen Effekten, die wirklich dem Parteienwettbewerb als solchem zuzurechnen sind, und negativen Effekten, die gerade umgekehrt, mit Wettbewerbsdefiziten zu tun haben. Defizite der zweiten Kategorie stehen durchaus im Vordergrund der Parteienkritik, sofern nicht beides, wie es häufig geschieht, miteinander vermengt wird. Negative Effekte von Wettbewerbsdefiziten können und müssen, streng genommen, als Bestätigung der Gemeinwohlbedeutung des Parteienwettbewerbs aufgefasst werden. Unsere These von der Gemeinwohlambivalenz des Parteienwettbewerbs hat hingegen negative Effekte des Wettbewerbs als Wettbewerb im Auge. Gleichwohl soll in wenigen Sätzen auch von der viel diskutierten Problematik der Wettbewerbsdefizite die Rede sein.
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Parteien bilden nicht anders als Unternehmen unter gewissen Voraussetzungen Kartelle. Der wichtige Unterschied ist freilich der, dass es kein politischen Kartellen entgegenstehendes Kartellrecht gibt – die Parteien sind schließlich selbst der Gesetzgeber, wenn man nicht die Verfassung als eine Art von politischem Kartellrecht verstehen will, was wiederum zu der Frage führt, ob Verfassungsgerichte gegenüber Parteienkartellen als Kartellämter fungieren können, eine Frage, die ich hier nur stellen, nicht beantworten kann. Parteien bilden Kartelle vor allem dann, wenn es um die Inanspruchnahme bzw. Absicherung von Vorteilen, die ihnen allen zugute kommen, geht. Ein nachgerade klassischer Bereich der Kartellbildung ist die Parteienfinanzierung, ein anderer sind die Versorgungsregelungen für Politiker, ein dritter ist die Ämterpatronage. In solchen Kartellzonen sind die Parteien zwar noch Konkurrenten um die Macht, aber der Parteienwettbewerb im eigentlichen Sinn ist ausgesetzt. Wenn man, wie wir es eben getan haben, dem Parteienwettbewerb bedeutende positive Gemeinwohleffekte zuschreibt, dann folgt aus dieser Zuschreibung, dass Parteienkartelle gemeinwohlschädlich sind, nicht anders als Unternehmenskartelle. Nur ist ihnen schwerer beizukommen, eben weil die Parteien selbst der Gesetzgeber sind. Darauf wird noch einmal zurückzukommen sein. So wie es zu wenig Wettbewerb geben kann, kann es – jedenfalls in der Politik – auch zuviel Wettbewerb geben. Und eben aus dieser Möglichkeit des Zuviel folgt die Gemeinwohlambivalenz des Parteienwettbewerbs. Der Parteienwettbewerb, und diese Wirkung tritt nicht nur in besonderen Verhältnissen auf, sondern begleitet den Parteienwettbewerb wie sein Schatten, begrenzt den Handlungsspielraum der Politik in der Demokratie auf folgenreiche Weise. Denn im ununterbrochenen Wettstreit der Parteien um Wählerstimmen, der nicht nur, aber doch wesentlich ein Wettstreit um die Zustimmung der Entscheidungsbetroffenen zu Problemdeutungen und Problemlösungsvorschlägen ist, vollzieht sich ein eigentümlicher Selektionsprozess. Nur solche Problemlösungen haben im Parteienwettbewerb eine Chance aufgegriffen und verfochten zu werden, die von den Akteuren als zumindest wettbewerbsneutral wahrgenommen werden. Schon die Thematisierung von Problemen, Aufgaben, Herausforderungen ist schwierig, wenn die Befürchtung besteht, daraus könnten Wettbewerbsnachteile entstehen. Das aber bedeutet: Der Parteienwettbewerb hat als Problemlösungsmechanismus nicht gelegentlich und zufällig sondern systematisch bedingt ganz bestimmte gravierende Schwächen. Es ist eben auch ein Mechanismus, der die Bearbeitung bestimmter Probleme verschleppt, blockiert, verhindert. Eine seiner auffallendsten, meist erörterten und anscheinend doch unüberwindlichen Schwächen ist fraglos die, dass er Lasten systematisch auf die Zukunft überwälzt. Es bedarf keiner Veranschaulichung, jeder hat die Beispiele zur Hand.
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V. Der Punkt ist erreicht, an dem wir von den theoretisch-analytischen Erwägungen zur Empirie übergehen könnten. Das würde freilich den Rahmen dieser Skizze sprengen. Soviel aber kann doch gesagt werden: Trotz aller Schwierigkeiten, die der Gemeinwohlbegriff natürlich bereitet, ist es durchaus möglich, unsere konzeptionellen Überlegungen in der empirischen Forschung aufzunehmen und für die empirische Forschung zu nutzen. Eine Schlüsselfrage lautet: Lassen sich die Selektions- und Bearbeitungsmuster, die für den Parteienwettbewerb als Problemlösungsmechanismus mit seinen spezifischen Stärken und Schwächen charakteristisch sind, genauer bestimmen? Der Hinweis auf die Tendenz zur Verschiebung von Lasten auf die Zukunft war eine erste Antwort auf eben diese Frage. Zu bedenken wäre, wollte man weiterkommen, vor allem, dass es den Parteienwettbewerb in sehr unterschiedlichen Ausprägungen gibt und dass auch nicht Demokratie gleich Demokratie ist. Jedes Parteiensystem schafft seine eigenen, besonderen Wettbewerbsbedingungen, und damit gehen möglicherweise auch Variationen in den Selektions- und Problembearbeitungsmustern einher. Es gibt nicht viele Gemeinsamkeiten zwischen dem schon erwähnten italienischen Parteiensystem der Nachkriegsjahrzehnte bis zum Beginn der neunziger Jahre und dem gleichzeitigen britischen. Die – schwierige – Aufgabe bestünde darin, den offenkundigen Unterschieden Effekte zuzuordnen, die dann wiederum zu unserer Fragestellung in Beziehung gesetzt werden können. Was den Demokratietypus angeht, so liegt die Vermutung nahe, dass die höchst einflussreiche, die Demokratiediskussion der letzten Jahrzehnte bestimmende Unterscheidung Arend Lijpharts zwischen Demokratien, die Parteienwettbewerb intensivieren (Mehrheitsdemokratien), und solchen, die ihn stark dämpfen (Konsensdemokratien), für die uns interessierenden Zusammenhänge bedeutsam ist. Unsere Formel von der Gemeinwohlambivalenz des Parteienwettbewerbs lässt Vermutungen in beide Richtungen zu, sowohl Hypothesen, die Vorteile des intensiveren Parteienwettbewerbs, als auch Hypothesen, die Vorteile des gedämpften Parteienwettbewerbs postulieren. Lijparts eigene These in der zweiten Fassung seiner Demokratietypologie ist die, dass die Konsensdemokratie, also die auf Inklusion angelegte Demokratie mit gedämpftem Parteienwettbewerb, die bessere Gemeinwohlbilanz aufweise2. Aber diese These kann nur der Ausgangspunkt einer Diskussion sein, sie ist sicher nicht ihr Endpunkt.
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Arend Lijpharts, Patterns of Democracy, New Haven 1999, 15. und 16. Kapitel.
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Unser Thema legt es nahe, am Ende auch noch einen Blick auf die Parteienkritik zu werfen. Sie hat seit geraumer Zeit Hochkonjunktur. Aus unserer Analyse ließe sich ein Plädoyer entwickeln, das Kind nicht mit dem Bade auszuschütten. Aber nicht um dieses Plädoyer geht es mir hier, sondern um die Beobachtung, dass die Parteienkritik die analysierten Ambivalenzen des Parteienwettbewerbs durchaus unterschiedlich und in der Regel einseitig wahrnimmt. Die einen sehen die Hauptgefahr in der Kartellbildung, darin also, dass die Parteien den Wettbewerb durch Kollusion zum Zweck der Sicherung gemeinsamer Macht- und Pfründeninteressen partiell aushebeln. Die anderen sehen die Hauptgefahr darin, dass der Parteienwettbewerb gerade als Wettbewerb die Parteien darin hindert, sich bestimmten Aufgaben von großer Zukunftsbedeutsamkeit rechtzeitig zu stellen. Dabei ist es durchaus nicht so, dass die beiden Diagnosen sich notwendigerweise widersprächen. Wenn die eine richtig ist, muss die andere deshalb nicht unrichtig sein. Aber die Antwort auf die Frage, wo mögliche dringliche Aufgaben der Demokratiereform liegen, hängt davon ab, welchen kritischen Akzent man setzt. Im ersten Fall geht es vor allem darum, den Kartellierungstendenzen entgegenzuwirken bzw. sie zu überspielen. Diese Spielart der Parteienkritik hat denn auch große Sympathien für direktdemokratische Entscheidungsverfahren. Sie erscheinen als geeignet, dem Parteienkartell Paroli zu bieten. Und gewinnen, wenn man diesen Gesichtspunkt als den entscheidenden ansieht, ein hohes Maß an Plausibilität. Angesichts der intensiven, alles andere als rationalen Antiparteienaffekte in der Bevölkerung fast aller Demokratien ist der Volksentscheid allerdings eine durchaus gefährliche Waffe. Andererseits: Da der Gesetzgeber – das Parteienparlament – für die Kartellkontrolle weitgehend ausfällt, bleibt als Alternative allenfalls die Verfassungsgerichtsbarkeit. Im zweiten Fall stellt sich eher die Frage, ob nicht bestimmte Aufgaben aus dem Wettbewerbsmechanismus der Demokratie überhaupt herausgenommen werden müssen, wie das in Demokratien mit unabhängigen Notenbanken mit der Aufgabe der Bewahrung der Währungsstabilität geschieht. Legt man den Maßstab der Sorge um das Gemeinwohl an, so sind die Auswirkungen der Kartellierungstendenzen doch wohl als hässliche, aber in ihren schädlichen Konsequenzen begrenzte Nebeneffekte der Parteiendemokratie einzustufen, die beschriebene Begrenztheit der Problemlösungsfähigkeit des Wettbewerbsmechanismus hingegen als ein sehr schwerwiegender, zukunftsbedrohlicher Defekt. Das gilt umso mehr, als diesem Defekt mit institutionellen Reformen, die zugleich auch noch demokratiekompatibel sind, kaum beizukommen zu sein scheint. Was also tun, wenn man in eben dieser Schwäche des Parteienwettbewerbs die eigentliche Gefährdung freiheitlicher Gemeinwesen durch sich
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selbst sieht? Noch einmal: Institutionelle Lösungen, die demokratiekompatibel sind, sind kaum erkennbar. Man kann nicht wesentliche politische Entscheidungen in großem Stil gegen den Wettbewerbsprozess immunisieren, indem man sie unabhängigen Institutionen anvertraut, ohne die Demokratie auszuhöhlen. Das aber heißt: Demokratie ist auf die Hoffnung angewiesen, dass sich im „Trialog“ zwischen Parteien, Wählern und einer aktiven Öffentlichkeit, die Parteien wie Wählern den Spiegel vorhält, auch bisher verschlossene Handlungsspielräume für die Politik öffnen lassen, nicht ein für alle mal, sondern schrittweise immer wieder neu.
Bericht über die Diskussion zum Vortrag von Peter Graf Kielmansegg Diskussionsleitung: Winfried Brugger Von Stefanie Ritter Die von Prof. Dr. Winfried Brugger geleitete Diskussion wurde mit einer Anmerkung von Dr. Heinz Anderwald, Graz, eröffnet, die sich auf die Trias zwischen Parteien, Bürger und Öffentlichkeit bezog. Zum einen gelte die Politik der Kartellgesetzgeber auch für die Medien, andererseits hätten die Medien aber bedeutende Macht, die insoweit auch politisch Maßstäbe setze. Eine der interessantesten Fragen, die sich nach Ansicht von Prof. Dr. Peter Graf Kielmansegg in diesem Zusammenhang stelle, sei die nach einer Gemeinwohlverpflichtung der Medien. Damit tue man sich in einer liberalen Demokratie natürlich außerordentlich schwer, weil die Medien in dem grundrechtlich geschützten Bereich der freien Meinungsäußerung institutionalisiert seien, in dem man gerade nicht auf das Gemeinwohl verpflichtet sei. Man könne sein Recht auf freie Meinungsäußerung nutzen, um extrem gemeinwohlfeindliche Auffassungen zu propagieren. Es stelle sich die Frage, ob sich die Medien in einer anderen Situation befänden und ob sich diese andere Funktion von Medien in irgendeiner Weise rechtlich fassen lasse. Graf Kielmansegg war insoweit der Auffassung, dass die Demokratie tatsächlich an einer Entwicklungsschwelle stehe, die sie noch nicht bewältigt habe. Das Fernsehen habe den demokratischen Prozess fundamentaler verändert als jeder Schritt der Medienentwicklung bis dahin. Auf diese grundlegende Veränderung des demokratischen Prozesses durch ein neues Medium habe die Demokratie bisher noch keine angemessene Antwort gefunden, aber ohne irgendeine Art von Gemeinwohlverpflichtung der Medien werde es auf Dauer schlecht gehen. Fraglich sei, ob man eine solche Rechtspflicht der Medien statuieren könne, die nicht ernsthaft mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung kollidiere. Diese Frage sei jedoch völlig offen. Prof. Dr. Viktor Vanberg, Freiburg, sprach den Referenten auf den gebietskörperschaftlichen Wettbewerb an. Bezogen auf den Wettbewerb in der Politik sei zu differenzieren zwischen dem Wettbewerb um Ämter, dem
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Parteienwettbewerb einerseits, und dem Wettbewerb um Bürger, Standortnutzer andererseits. Insoweit könne der Wettbewerb zwischen Gebietskörperschaften ein durchaus demokratiekompatibler sein, als er die Probleme, die der Referent in Bezug auf den Parteienwettbewerb hervorgehoben habe, kurieren könne. Denn aus ökonomischer Sicht gehe es dabei typischerweise um Kollektivgutprobleme. Ein Beispiel dafür seien die Subventionen für bestimmte Industrien, etwa die Kohlesubventionen, die aus ökonomischer Sicht ein Kollektivgut darstellten, ein konzentriertes Interesse in bestimmten Regionen, dessen Kosten auf die Steuerzahler im gesamten Bund verteilt würden. Mit stärkerem gebietskörperschaftlichen Wettbewerb, mit Fiskalautonomie und Eigenverantwortung der untergeordneten Gebietskörperschaften würden solche Probleme mit geringerer Wahrscheinlichkeit auftreten. So hätten das Saarland und Nordrhein-Westfalen diese Subventionen nicht aus dem eigenen Budget aufbringen können und deswegen bereits früher Korrekturen in diesem Problembereich vorgenommen. Graf Kielmansegg hob zunächst hervor, dass er nicht das gesamte Spektrum des Begriffs „politischer Wettbewerb“ habe darstellen können, sondern nur einen, für ihn zentralen, Aspekt herausgegriffen habe. Den Wettbewerb zwischen Territorien habe er daher nur kurz erwähnt. Es sei in der Diskussion zu unterscheiden zwischen plausiblen Modellüberlegungen über die möglichen Auswirkungen von Wettbewerb zwischen Territorien und der Frage, was auf der Basis einer ganz bestimmten historischen Entwicklung in einem Land wie der Bundesrepublik Deutschland denkbar sei. Vor dem Hintergrund eines halben Jahrhunderts bundesstaatlicher Geschichte seien die eigenen Realitäten nicht frei verfügbar, so wünschenswert der Wettbewerb zwischen Territorien auch sein möge. Bezüglich der Kontrollierbarkeit der Macht und des Parteienwettbewerbs äußerte sich Helmut Krüger, Kornwestheim, skeptisch: Dieser finde seines Erachtens gar nicht statt. Denn der Wähler als „Dritter“ könne in diesem geschlossenen System keinen Einfluss mehr nehmen. Prof Dr. Hans Herbert von Arnim habe ja auch ganz deutlich gesagt, dass dieses System Dritten gegenüber verschlossen sei. Natürlich werde dies noch durch die 5%-Hürde und die Parteienfinanzierung verstärkt. An wirklicher „Demokratie“ mangele es hingegen. Das Grundgesetz an sich sei eine gute Verfassung, aber die von den Parteien und den Mächtigen gelebte Verfassungswirklichkeit weiche erheblich davon ab. Dem trat Graf Kielmansegg mit Nachdruck entgegen unter Hinweis darauf, dass in diesem System Regierungen abgewählt werden könnten und würden, was der Kern der Kontrolle von Macht sei. Das lasse sich daran ablesen, dass Systeme, in denen dies nicht möglich sei, grundsätzlich andere Systeme seien mit Konsequenzen für das Gemeinwohl, die sich nie-
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mand wünschen könne. Man könne nicht ignorieren und beiseite schieben, dass die Bürger die Möglichkeit hätten, sich in einem verfassungsrechtlich gesicherten Akt einer Regierung zu entledigen, denn, was sonst sei eigentlich Kontrolle von Macht? Demgegenüber hob Werner-Hans Böhm, München, hervor, dass dieser „Dritte“, der Bürger, durchaus eine immer stärkere Rolle im politischen Wettbewerb spiele, und zwar im Wege der unmittelbaren Demokratie. Wie am Vortag bereits diskutiert worden sei, gebe es nach den Bürgerentscheiden auf Länderebene nun auch im Bund und im Rahmen der Europäischen Union verstärkt dieses Element. Er wollte wissen, wie nach Einschätzung des Referenten die Einwirkung dieses „dritten Wettbewerbers“ auf das Gemeinwohl zu beurteilen sei. Die direkte Demokratie, so Graf Kielmansegg, sei kein System, das ein klares Wettbewerbsverfahren institutionalisiere und unterscheide sich darin von der repräsentativen Demokratie mit Akteuren, die permanent im Wettbewerbsprozess ständen. Die direkte Demokratie stehe gewissermaßen selbst in einem Wettbewerb zur repräsentativen Demokratie. Fraglich sei insoweit aber die Kompatibilität von zwei so unterschiedlichen Strukturen. Die Diskussion um die Implantation von Verfahren direkter Demokratie in das System der repräsentativen Demokratie müsse diesen Aspekt berücksichtigen. Und dann stelle sich die Frage, ob die parlamentarische Demokratie insoweit in einer anderen Situation sei, was mit dem Funktionsmechanismus von Regierung und Opposition zusammenhänge. Nachdem im Referat die Gefahren eines „Zuviel“ und eines „Zuwenig“ an Wettbewerb herausgearbeitet worden seien, im Rahmen des Wettbewerbsdefizits insbesondere die Probleme der Politikfinanzierung und die Ämterpatronage, zielte die Anmerkung von von Arnim auf Beschränkungen im „Kernbereich“ des Wettbewerbs ab. Die politikwissenschaftliche These von den Kartellparteien sehe ja gerade das Verhältniswahlrecht mit seinen starren Listen als ein Element dieser Wettbewerbsbeschränkung an. Auch die hiesige Ausprägung des Föderalismus führe zu Wettbewerbsbeschränkungen, so etwa bei einer Mehrheit der Opposition im Bundesrat, die faktisch zu einer großen Koalition führe, wenn beide Parteien zusammenwirken müssten, um ein Zustimmungsgesetz zustande zu bringen. Diese sei aber der Inbegriff einer Wettbewerbsbeschränkung. Graf Kielmansegg gab zu, dass ihm das „Kartellproblem“ das weniger gewichtige zu sein scheine in der Abwägung bestehender Wettbewerbsbeschränkungen. Bezüglich der möglichen Wettbewerbsbeschränkungen durch das Wahlrecht sei zu sagen, dass es niemals eine vollständige Kartellierung geben könne. Zwischen Parteien, ob in Regierung oder Opposition, gebe es niemals Interessenidentität. Das habe sich in den sechziger Jahren gezeigt,
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als über die Einführung des Mehrheitswahlrechtes diskutiert wurde und diese Debatte nicht etwa im Wege einer Kartellbildung beigelegt wurde, sondern durch eine streitige Entscheidung zwischen SPD und CDU. Jede Diskussion über Reformen des Wahlsystems zeige, dass es in diesem Bereich kein vollständiges Kartell geben könne. Zwar gebe es Elemente des Wahlsystems, wie die 5%-Klausel, bei denen eine relativ starke Kartellierung der im Parlament vertretenen Parteien denkbar sei, aber diese Kartellierung könne durchbrochen werden, wofür „Die Grünen“ ein Beispiel seien. In Bezug auf den Föderalismus dürfe man nicht verschiedene Dinge vermischen: Institutionelle Konsenszwänge seien etwas völlig anderes als Kartellbildungen unter den Parteien. Die „große Koalition“ zwischen Bundesrat und Bundestag sei doch nicht so etwas wie ein Kartell, das zur Förderung der eigenen Interessen der Akteure bestimmt sei. Ferdinand Krause, Bonn, betrachtete die Vergleichbarkeit zwischen wirtschaftlichem Wettbewerb und dem Parteienwettbewerb eher kritisch. Ein wirtschaftliches Unternehmen müsse schließlich auch in schlechten Zeiten überleben, im Parteienwettstreit gehe es hingegen um „Alles oder Nichts“, nämlich um Regierung oder Opposition. Prof. Dr. Uwe Volkmann, Mainz, unternahm den Versuch einer Anwendung der ökonomischen Theorie auf das Konzept, das der Referent entwickelt hatte. Wettbewerb sei ein wirtschaftlicher Begriff, weshalb er den Parteienwettbewerb aus einer ökonomischen Sichtweise betrachten wolle. Das Recht eines jeden Bürgers, an der Bestimmung des Gemeinwohls mitzuwirken, sei nach der ökonomischen Theorie nicht praktisch umgesetzt. Schon die Umstellung des Wahlverfahrens, etwa in ein Mehrheitswahlrecht, würde zu völlig anderen Ergebnissen führen. Auch das principal-agent-Modell sei problematisch. So habe der Prinzipal, ähnlich wie ein Rechtsanwalt, immer einen Informationsvorsprung vor seinem Mandanten sowie ein Eigeninteresse, weshalb der Mandant dessen Tätigkeit nicht vollständig kontrollieren könne. Von diesem „Recht“ bleibe also in der Praxis wenig übrig. Wolle man dem „Recht auf Gerechtigkeit“ eines jeden Entscheidungsbetroffenen zur Durchsetzung verhelfen, so setze dies voraus, dass diese Entscheidungen rational getroffen werden. Rationale Entscheidungen seien aber in einem Verfahren, das vom Mehrheitsprinzip regiert werde, völlig zufällig. Es gebe also vielmehr nur die Illusion eines Rechts auf Mitbestimmung und Demokratie. Trotzdem sei das Wahlvolk aber relativ zufrieden. Könne man nicht daher diese „Illusion von Demokratie“ als die eigentliche Demokratie begreifen und sie als solche stehen lassen, ohne diese Akzeptanz durch ständige Analyse der Defizite zu untergraben? In seiner Antwort setzte sich Graf Kielmansegg zunächst mit der mangelnden Realitätsnähe der ökonomischen Theorie auseinander. Für den Poli-
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tikwissenschaftler sei ausschlaggebend, dass Systeme, die mit diesen „Illusionen“ arbeiteten, sich in ihren praktischen Auswirkungen grundlegend von anderen unterschieden. Somit könne es sich bei diesen Mechanismen nicht um bloße „illusionäre Zierleisten“ handeln. Die Tatsache, dass Regierungen abberufbar und nur auf Zeit bestellt seien, müsse also offenbar Effekte haben. Es sei daher kein prinzipieller Einwand gegen die Realität und gegen den nichtillusionären Charakter von Demokratie, dass verschiedene Verfahren der Aggregation von Wählerstimmen zu verschiedenen Ergebnissen führten. Praktizierte Demokratie führe immer dazu, dass Regierungen nach Ablauf einer Frist ihre Ämter aufgeben müssten und dies sei ein prinzipieller Unterschied gegenüber Nicht-Demokratien. Das fasse man mit dem Begriff „responsible government“ zusammen. Gleiches gelte für die inhaltliche Seite. Die Tatsache, dass es kein Verfahren der rationalen Aggregation von individuellen Präferenzen gebe, das den Theorie-Ansprüchen genüge, besage nicht, dass Politik deswegen nicht doch responsiv sei. Demokratien machten eine andere Politik als Nicht-Demokratien und diese Andersartigkeit habe etwas damit zu tun, dass Bürger regelmäßig Voten über Regierungspolitik abgeben. Das sei ein banales, empirisches Faktum, das man nicht übersehen könne.
Tarifautonomie und Gemeinwohl Von Gregor Thüsing I. Vom Stellenwert des Gemeinwohls als arbeitsrechtlichem Argument Das Gemeinwohl hat im Arbeitsrecht eine lange Tradition, und so ist es sinnvoll, den bisher gehaltenen und den noch kommenden Referaten einige arbeitsrechtliche Gedanken an die Seite zu stellen. Schon das Reichsarbeitsgericht nahm in ganz verschiedenen Zusammenhängen Bezug auf das Gemeinwohl und eine juris-Abfrage vom gestrigen Tage verzeichnete 282 arbeitsrechtliche Entscheidungen, in denen dieser Begriff verwandt wird1. Auch im kollektiven Arbeitsrecht war die Suche nach der Bedeutung des Gemeinwohls bereits eine Aufgabe vergangener Generationen. So hieß es in § 49 Abs. 1 BetrVG 1952, dass die Zusammenarbeit zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat „zum Wohl des Betriebs und seiner Arbeitnehmer unter Berücksichtigung des Gemeinwohls“ erfolgen müsse, und das gilt der Sache nach auch heute noch2. Gerade im Verhältnis von Arbeitgebern und Gewerkschaften taucht die Tarifautonomie sehr früh als Argument auf, wenn auch in zwei ganz unterschiedlichen Richtungen: Zum einen als Legitimation der Koalitionen, als Untermauerung von Tarifautonomie und Tarifpraxis, zum anderen als Begrenzung dieses Wirkens, als Schranke, die Gewerkschaft und Arbeitgeberverband zu beachten haben. Im Folgenden soll beiden Gedanken nachgegangen werden. Dabei wird das Gemeinwohl weit verstanden, oder doch ohne den Versuch näherer Präzisierung in abstracto benutzt. Den Gegensatz zwischen einem normativ-apriorischen Begriff des Gemeinwohls und aposteriorischer Konzeption herauszuarbeiten, ist nicht Sache des Arbeitsrechtlers; soweit die Arbeitsgerichte den Begriff verwenden, definieren sie ihn nicht, er bleibt sprachliche Matrix für öffentliche Interessen im weitesten Sinne, ähnlich den vernünftigen Gemeinwohlerwägungen, die einen Eingriff in Art. 12 GG rechtfertigen können. Dass damit 1 Im Verwaltungsrecht sind es freilich 1278 Entscheidungen, im Sozialrecht immerhin 482. 2 Siehe Reinhard Richardi/Gregor Thüsing/Georg Annuß, Betriebsverfassungsgesetz mit Wahlordnung, 8. Aufl., München 2002, § 2 Rn. 16; Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung, zu BT-Drucks. VI/2729, S. 18.
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sehr viel Feinzeichnung ausbleibt, sei konzediert, eher aber als eine Lösung im Grundsätzlichen scheint es hilfreich, die Abstraktheit des Begriffs herunterzubrechen auf einzelne Fallgruppen. An diesen mag dann die Diskussion ansetzen. Die Erörterung soll daher schrittweise voranschreiten. Am Anfang sollen die verfassungsrechtlichen Rahmendaten der Tarifautonomie in kurzer Skizze in Erinnerung gebracht werden, und das Gemeinwohl als Rechtfertigung staatlicher Regelung und Beschränkung der Tarifautonomie hinterfragt werden, bevor in einem zweiten Schritt das Gemeinwohl als Ziel der Koalitionsbetätigung beleuchtet wird. Die Fälle, in denen die Interessen von Gemeinschaft und Tarifpartnern kongruent sind und die Bereiche, wo die durch Art. 9 Abs. 3 GG Berechtigten das Gemeinwohl fördern müssen oder doch zumindest aus freier Wahl können, sollen aufgezeigt werden. Hierbei soll insbesondere das beschäftigungspolitische Mandat der Tarifparteien mit einigen Worten bedacht werden. Im Anschluss daran wird das Gemeinwohl als Begrenzung der Tarifautonomie aufgezeigt, ausgehend von der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts und des Bundesverfassungsgerichts zum Arbeitskampf, die bereits eine recht sichere Konkretisierung des Begriffs vorgenommen hat, um dann überzugehen in einen weitaus umstritteneren Bereich: das Verhältnis von Gemeinwohl und Tarifvertrag. Das Ende der Ausführungen ist dann erreicht. Ein kurzes Fazit bildet den Abschluss. II. Das Gemeinwohl als Rechtfertigung staatlicher Eingriffe in die Tarifautonomie Art. 9 Abs. 3 GG garantiert das Recht, Vereinigungen zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu bilden. Über den Wortlaut hinaus ist damit nach ständiger Rechtsprechung nicht nur das Recht zur Bildung der Koalitionen geschützt, sondern ebenso die Koalitionsbetätigungsfreiheit, d.h. das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu wirken. Anfänglich war diese Gewährleistung auf einen Kernbereich der Koalitionsbetätigung beschränkt, spätestens seit der grundlegenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 14.11.19953 sind jedoch sämtliche koalitionsspezifischen Verhaltensweisen geschützt. Die Koalitionsbetätigung steht nicht nur den einzelnen Mitgliedern der Koalition zu, sondern die Koalition wird, ohne dass es eines Rückgriffs auf Art. 19 Abs. 3 GG bedürfte, durch die kollektive Koalitionsfreiheit selbst berechtigt. Art. 9 Abs. 3 GG ist insoweit ein Dop3 BVerfG v. 14.11.1995 – 1 BvR 601/92, BVerfGE 93, S. 352 = AP Nr. 80 zu Art. 9 GG.
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pelgrundrecht, und man mag es auch als ein Zwillingsgrundrecht4 bezeichnen, weil es zwei gegensätzliche Interessenverbände jeweils mit gleichrangigem Schutz ausstattet: Arbeitnehmer und Gewerkschaften auf der einen Seite, Arbeitgeber und Arbeitgeberverband auf der anderen Seite. Hier nun kommt das Gemeinwohl zum ersten Mal ins Gespräch. Dem Wortlaut nach ist Art. 9 Abs. 3 GG ein unbeschränktes Grundrecht. Allgemeiner Grundrechtsdogmatik entsprechend bedarf es dann für einen Eingriff kollidierender Grundrechte oder anderer mit Verfassungsrang ausgestatteter Rechtsgüter5. Nicht abschließend geklärt ist, inwieweit darüber hinaus bereits vernünftige Erwägungen des Gemeinwohls ohne Verfassungsrang als Legitimation zur Begrenzung des Wirkens von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden dienen können. Die jüngeren Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts haben übereinstimmend in der Wortwahl darauf hingewiesen, dass ein Eingriff „jedenfalls“ aufgrund kollidierenden Verfassungsrechts möglich ist und haben dann auch immer ein solches rechtfertigendes Gut gefunden6. Die vorsichtige Wortwahl deutet jedoch darauf hin, dass die Schranke so fest nicht steht und dass vergleichbar Art. 12 GG bereits vernünftige Erwägungen des Gemeinwohls zur Regelung ausreichen können. Wäre dies tatsächlich der richtige Weg, dann bedürfte es auch nicht der Abgrenzung zur Ausgestaltung. Denn es ist anerkannt, dass eine Ausgestaltung der Tarifautonomie nicht den Eingriffsschranken unterliegt und dass sie sich in der Rechtfertigung auch ihrer belastenden Folgen auf jegliche Rechtsgüter und Allgemeininteressen stützen kann, soweit diese nur hinreichend schwer wiegen. Die Abgrenzung aber zwischen Ausgestaltung und Eingriff ist ohne sichere Leitlinie, es fehlt an einer gemeinsamen Perspektive, auf die man sich geeinigt hätte. Jeder Eingriff gestaltet gleichzeitig die Tarifautonomie aus, und jede Ausgestaltung führt in ihrer Festlegung auch zu einer Begrenzung der Tarifautonomie: „to limit is to define it, to define it, is to limit it“7. 4 Begriff nach Herbert Wiedemann (Hrsg.), Tarifvertragsgesetz, 6. Aufl., München 1999, Einleitung Rn. 93. 5 Siehe BVerfG v. 26.5.1970 – 1 BvR 83/69, BVerfGE 28, S. 243; BVerfG v. 24.2.1971 – 1 BvR 435/68, BVerfGE 30, S. 173, 193; BVerfG v. 20.12.1979 – 1 BvR 385/77, BVerfGE 53, S. 30, 56. 6 BVerfG v. 26.6.1991 – 1 BvR 779/85, BVerfGE 84, S. 212, 228; BVerfG v. 27.4.1999 – 1 BvR 2203/93, BVerfGE 100, S. 271, 283; BVerfG v. 3.4.2001 – 1 BvL 32/97, BVerfGE 103, S. 293. 7 Ausführlicher Herbert Wiedemann, Tarifautonomie und staatliches Gesetz, in: Friedhelm Farthmann/Peter Hanau/Udo Isenhardt/Ulrich Preis (Hrsg.), Arbeitsgesetzgebung und Arbeitsrechtsprechung, Festschrift zum 70. Geburtstag von Eugen Stahlhacke, Neuwied 1995, S. 675–692; Roland Schwarze, Die verfassungsrechtliche Garantie des Arbeitskampfes, Anmerkung zu BVerfG, B. v. 26.01.1991, 1 BvR 779/85 = BVerfGE 84, 212, in: JuS 1994, S. 653, 658; Wolfram Höfling, Grundele-
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Es fällt bereits jetzt auf, dass das Bundesverfassungsgericht in der Rechtfertigung einer die Tarifautonomie beschränkenden Regelung recht großzügig in der Anerkennung eines Verfassungsgutes ist. Dies mag unter dogmatischen Gesichtspunkten anzweifelbar sein, weil aber hier die Besonderheit besteht, dass auf der Tatbestandsebene Ausgestaltung und Eingriff fließend ineinander übergreifen und nicht sicher zu unterscheiden sind, scheint auch eine strenge Trennung bei der Rechtfertigung unangebracht. Warum hier manifeste Gründe des Gemeinwohls mehr taugen, wenn man sie recht umständlich nur mittelbar – und dann auch eben angreifbar – auf verfassungsrechtliche Gewährleistungen zurückführen kann, leuchtet so recht nicht ein8. Festzuhalten bleibt bereits hier, dass das Gemeinwohl für den Gesetzgeber ein Grund zur Rechtfertigung sein kann, im Bereich der Tarifautonomie regelnd tätig zu werden und die Interessen der durch das Grundrecht Berechtigten mit den öffentlichen Interessen der außenstehenden, vom Wirken der Koalitionen Betroffenen in Einklang zu bringen. Ob dies auch für den Eingriff gilt, wenn eine verfassungsrechtliche Herleitung des Gemeinwohls nicht möglich sein sollte, ist nach derzeitiger Rechtsprechung nicht ganz klar. Es scheint mir jedoch richtig, soweit es um eine Beschränkung der Koalitionsbetätigungsfreiheit geht. Dass für diese kein gesetzgeberischer Vorbehalt besteht, mag schlichtweg damit erklärt werden, dass sie dem Wortlaut des Art. 9 Abs. 3 GG nach nicht geschützt ist – es wäre verfehlt, gerade für die Beschränkbarkeit auf den Wortlaut abzustellen. III. Das Gemeinwohl als Ziel der Koalitionsbetätigung? Die Perspektive wendet sich, fragt man danach, inwieweit das Gemeinwohl nicht nur Legitimation zum gesetzgeberischen Eingriff in die Koalitionsautonomie ist, sondern auch ihr Ziel darstellt, inwieweit also die Grundrechtsgewährleistung gerade im Interesse des Gemeinwohls besteht.
mente einer Bereichsdogmatik der Koalitionsfreiheit. Kritik und Reformulierung der sog. Kernbereichslehre, in: Rudolf Wendt/Wolfram Höfling/Ulrich Karpen/Martin Oldiges (Hrsg.), Staat – Wirtschaft – Steuern. Festschrift für Karl Heinrich Friauf zum 65. Geburtstag, Heidelberg 1996, S. 378, 384; Thomas Müller/Gregor Thüsing, Entscheidungssammlung zum Arbeitsrecht Nr. 61 zu Art. 9 GG; Gregor Thüsing/ Diana Zacharias, Entscheidungssammlung zum Arbeitsrecht Nr. 75 zu Art. 9 GG; siehe auch Georg Annuß/Gregor Thüsing, Entscheidungssammlung zum Arbeitsrecht Nr. 9 zu § 113. 8 Siehe etwa zum Verfassungsgut „Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit“, BVerfG v. 3.4.2001 – 1 BvL 32/97, BVerfGE 103, S. 293.
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1. Interessenkongruenz von Staat und Tarifpartner Es lassen sich eine ganze Reihe von Bereichen aufzeigen, wo die Tätigkeit der Tarifpartner evident nicht ihnen allein nützt, sondern darüber hinaus ein gesamtgesellschaftliches Plus hiermit verbunden ist. Die Schnittmenge der Interessen von Staat und Tarifpartner zeigt sich nicht nur in so aktuellen Phänomenen wie den Bündnissen für Arbeit, sondern bereits in der historischen Entwicklung des Tarifvertrags und Arbeitsrechts: Viele Gesetze, die heute einen arbeitsrechtlichen Mindestschutz formulieren, haben ihren Vorläufer in tarifvertraglichen Vereinbarungen. Lange bevor es ein Bundesurlaubsgesetz gab, gab es einen Mindesturlaub auf Grund von Tarifverträgen. Das Gleiche gilt für die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall und den Schutz vor Kündigungen. Wie der Gesetzgeber seine Regelungen, mit denen er in die Vertragsautonomie der Arbeitgeberseite eingreift, mit Interessen des Gemeinwohls gerechtfertigt hat, könnten dies nicht anders inhaltsgleiche Tarifverträge für sich in Anspruch nehmen. Darüber hinaus können Tarifverträge ein Mittel staatlicher Grundrechtsgewährleistung sein. Die Handelsvertreter- und Bürgschaftsentscheidungen haben deutlich gemacht, dass es bei strukturell ungleichen Verhandlungslagen eine Kompensation von Funktionsdefiziten formaler Vertragsfreiheit geben muss9. Das Bundesverfassungsgericht hat dies in einer Entscheidung von 1998 auf die Berufsfreiheit des Arbeitnehmers übertragen. Es führte aus, dass es ein Mindestmaß an Kündigungsschutz geben müsse, anderenfalls sei der Berufsfreiheit des Arbeitnehmers nicht hinreichend Rechnung getragen, müsse er doch damit rechnen, seinen Arbeitsplatz jederzeit verlieren zu können10. Muss der Staat nun ein Mindestmaß an Kündigungsschutz schaffen, und wird dieser stellvertretend durch Tarifverträge gewährleistet, so erfüllen die Koalitionen staatliche Aufgaben und dienen damit dem Gemeinwohl. Diese Indienstnahme der Gewerkschaften zur Verfolgung öffentlicher Interessen zeigt sich auch an zahlreichen neueren Gesetzen, durch die Tarifvertragswirkungen über den Bereich der Mitglieder, auf den sie sich nach Art. 3 Abs. 1 TVG regelmäßig beschränken, erstreckt werden. Ältestes Beispiel hierfür ist, zurückreichend bis in die Weimarer Zeit, die Allgemeinver9
BVerfG v. 7.2.1990 – 1 BvR 26/84, BVerfGE 81, S. 242; BVerfG v. 19.10.1993 – 1 BvR 567/89, BVerfGE 89, S. 214, 229 ff = JZ 1994, S. 408 mit Anmerkung Wiedemann. S. auch Gregor Thüsing, Gedanken zur Vertragsautonomie im Arbeitsrecht, in: Holger Fleischer/Kaspar Frey/Heribert Hirte/Gregor Thüsing/ Rolf Wank (Hrsg.), Festschrift für Herbert Wiedemann zum 70. Geburtstag, München 2002, S. 559–585. 10 BVerfG v. 27.1.1998 – 1 BvL 15/87, BVerfGE 97, S. 169; siehe hierzu auch BAG v. 21.2.2001 – 2 AZR 15/00, AP Nr. 12 zu § 242 BGB Kündigung.
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bindlicherklärung nach § 5 TVG. Der Staat kann einen Tarifvertrag im Einvernehmen mit den Koalitionen bindend werden lassen für alle Arbeitgeber und Arbeitnehmer des Geltungsbereichs unabhängig von ihrer Organisationszugehörigkeit, wenn, so § 5 Abs. 1 Nr. 2 TVG, die Allgemeinverbindlicherklärung im öffentlichen Interesse geboten erscheint. Die Verfassungskonformität dieser Regelung auch in Anbetracht der negativen Koalitionsfreiheit hat das Bundesverfassungsgericht bestätigt11. Das Gericht führt aus, das Wirken der Sozialpartner nehme eine Aufgabe im öffentlichen Interesse wahr12. Von dieser Vorstellung geht auch der Gesetzgeber aus, wenn er in jüngerer Zeit dem Tarifvertragssystem vergleichbare Gesamtvereinbarungen nach § 36 UrhG geschaffen hat, um ein angemessenes Entgelt im Verhältnis von Urheber und Werknutzer durchzusetzen, er das Gebot der gleichen Entlohnung der Leiharbeitnehmer gegenüber den Arbeitnehmern des entleihenden Betriebs unter den Vorbehalt abweichender tarifvertraglicher Regelung gestellt hat (§ 9 Nr. 2 AÜG) und er in der vergangenen Legislaturperiode plante, die Vergabe öffentlicher Aufträge im Bereich des ÖPNV und der Bauleistung durch ein Tariftreuegesetz an die Zahlung tariflicher Löhne zu binden. Ein zweites kann also festgehalten werden: Da die Tarifautonomie auf eine angemessene Ordnung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen hingeordnet ist, diese aber auch ein genuines öffentliches Interesse ist, lassen sich Interessenkongruenzen zwischen dem Staat einerseits und den Gewerkschaften und Koalitionen andererseits aufzeigen. Diese werden durch gesetzgeberische Regelungen verdeutlicht, die die Tarifverträge als Früchte der Tarifautonomie auf Nicht-Koalitionsmitglieder ausdehnen. 2. Keine Verpflichtung zur Förderung des Gemeinwohls Mag bis hierhin das meiste noch recht unstreitig sein, so ist doch unklar, inwieweit weitergehend eine Verpflichtung zur Förderung des Gemeinwohls unabhängig von den Interessen der Koalition und ihrer Mitglieder besteht. Es finden sich einige prominente Stimmen im arbeitsrechtlichen Schrifttum, die eine gesamtwirtschaftliche Pflichtenbindung annehmen, die von den Tarifparteien praktisch bei allen Regelungen zu beachten wäre und ihnen etwa bei starken beschäftigungspolitischen Konsequenzen Grenzen setzte13. So gehen Zöllner und Loritz davon aus, dass die Tarifvertragsparteien die Lösungsansätze des Gesetzgebers für den Ausgleich des Konflikts zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite gleichsam verinnerlichen 11
BVerfG v. 24.5.1977 – 2 BvL 11/74, BVerfGE 44, S. 322 ff. BVerfG v. 26.5.1970 – 2 BvR 664/65, BVerfGE 28, S. 295, 304; BVerfG v. 15.7.1980 – 1 BvR 24/74, BVerfGE 55, S. 7, 24. 12
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müssten und auch dort zu realisieren haben, wo das Gesetz sie nicht als zwingend formuliert. Die Tarifautonomie wird damit wenig anders als eine Verordnungsermächtigung verstanden und es gibt prominente Versuche, die eben dies oder zumindest Ähnliches dogmatisch untermauern sollen: Das Zugeständnis der Tarifautonomie und die damit verbundene Delegation zur Rechtsetzung durch Tarifvertrag schließe zugleich die Verpflichtung zu sozialer Selbstverantwortung ein14, und andere verweisen auf einen öffentlichen Status, der sich in der bereits dargestellten staatsentlastenden Funktion manifestiert15. Beide Gedanken wird man so leicht nicht zurückweisen, jedoch scheinen sie mir nicht die weit reichenden Konsequenzen zu stützen, die aus ihnen gezogen werden. Tarifautonomie ist keine Staatsveranstaltung. Die Tarifvertragsparteien sind ermächtigt durch weitreichende Gestaltungsmittel, doch heißt dies nicht, dass diese eo ipso fremdnützig übertragen werden. Ebenso wie die Übertragung rechtsgeschäftlicher Autonomie an Privatrechtsobjekte keine Delegation der Verantwortung für das Ganze enthält, wird man auch die Tarifvertragsparteien nicht per se zur Förderung des Gemeinwohls in die Pflicht nehmen können. Dies gilt selbst dann, wenn man ihnen als Berufsorgan, ähnlich wie den politischen Parteien, einen öffentlichen Status zuweist16, denn auch hier bleibt der grundlegende verfassungsrechtliche Unterschied, dass die Koalitionen auf Grund einer verfassungsrechtlichen Freiheitsgarantie tätig werden, nicht als staatliche Organe. Aus dem öffentlichen Status kann nur eine Pflicht zur Beachtung, nicht aber zur Förderung des Gemeinwohls hergeleitet werden. Das Gemeinwohl ist damit nicht verbindliches Ziel, sondern zwingende Grenze der Tarifautonomie.
13 Siehe etwa Franz Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, München 1997, S. 317 ff.; Wolfgang Zöllner/Karl-Georg Loritz, Arbeitsrecht, 5. Aufl., München 1998, § 38 V. 14 Namentlich Gustav-Adolf Bulla, Soziale Selbstverwaltung der Sozialpartner als Rechtsprinzip, in: Rolf Dietz/Heinz Hubner (Hrsg.), Festschrift für Hans Carl Nipperdey zum 70. Geburtstag, Band II, München 1965, S. 79, 82; ähnl. auch Wolfgang Rüfner, Zur Gemeinwohlbindung der Tarifvertragsparteien, in: RdA 1985, S. 193, 194. 15 In diese Richtung Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I (Anm. 13), S. 479. 16 Siehe hierzu Herbert Wiedemann, Die deutschen Gewerkschaften – Mitgliederverband oder Berufsorgan?, in: RdA 1969, S. 321, 327.
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3. Rechtfertigung durch das Gemeinwohl, insbesondere: Das beschäftigungspolitische Mandat der Tarifvertragsparteien Das Gesagte mündet unmittelbar in eine weitere Frage: Wenn denn die Tarifvertragsparteien nicht auf das Gemeinwohl als Ziel ihres Handelns verpflichtet sind, so kann es doch sein, dass sie von sich aus Gemeinwohlinteressen wahrnehmen wollen, und wo sie das tun, muss geklärt werden, ob eben diese Tätigkeit im Dienste des Gemeinwohls eine Rechtfertigung zur Beschränkung von Rechtspositionen Dritter sein kann. Diese Frage kristallisiert sich an der arbeitsrechtlichen Diskussion zum beschäftigungspolitischen Mandat der Tarifvertragsparteien. Können etwa Arbeitszeitverkürzungen mit dem Willen, das scandalon der Massenarbeitslosigkeit zu bekämpfen, begründet werden, und sind tarifvertragliche Altersgrenzen zulässig, die nicht dem Gesundheitsschutz dienen? Beides wird bestritten17. Mit einem beschäftigungspolitischen Mandat werde in die Gewaltenteilung eingegriffen und auch seien die Tarifvertragsparteien zu sinnvoller Beschäftigungspolitik nicht in der Lage, weil sie stets an der Branche als geschlossener Veranstaltung ansetzten18. Auf der anderen Seite gibt es freilich ebenso viele und wohl noch mehr Stimmen, die ein beschäftigungspolitisches Mandat annehmen. Die Tarifmacht werde nicht von § 1 Abs. 1 TVG beschränkt, erfasse vielmehr gemäß dem Wortlaut der Verfassung alle Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen i. S. d. Art. 9 Abs. 3 GG und dazu gehöre auch die Beschäftigungspolitik19. Die strukturelle Gestaltung der Arbeitsmärkte als ein tarifvertragliches Regelungsziel ergebe sich schon in der historischen Perspektive. Bereits prominente Arbeitsrechtler der Weimarer Zeit legten dar, dass Kollektivgüter als Legitimationsgrund tariflicher Normsetzungsbefugnis anerkannt waren, und bis heute habe sich daran nichts geändert20. In der Tat, dieser zweite Ansatz scheint mir überzeugender, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der neueren Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts. 17
Zu den Altersgrenzen siehe Wolfgang Gitter/Dietmar Boerner, Altersgrenzen in Tarifverträgen, in: RdA 1990, S. 129, 134; zu den Arbeitszeitverkürzungen siehe Wolfgang Zöllner, Die Zulässigkeit einzelvertraglicher Verlängerung der tariflichen Wochenarbeitszeit, in: DB 1989, S. 2121; Volker Rieble, Beschäftigungspolitik durch Tarifvertrag, in: ZTR 1993, S. 54. 18 Siehe etwa auch Eduard Picker, Tarifmacht und tarifvertragliche Arbeitsmarktpolitik. Höchstarbeitszeitregeln als Prüfstand für das Verständnis von Koalitionsfunktion und Tarifautonomie, in: ZfA 1998, S. 573, 712. 19 Siehe Wolfgang Däubler, Der Arbeitsvertrag – ein Mittel zur Verlängerung der Wochenarbeitszeit?, in: DB 1989, S. 2534; Raimund Waltermann, Beschäftigungspolitik durch Tarifvertrag?, in: NZA 1991, S. 754. 20 Otto-Ernst Kempen, Die beschäftigungspolitische Zuständigkeit der Tarifvertragsparteien, in: FFH 1999, S. 529.
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Jüngst hat das Gericht21 entschieden, dass die Tarifvertragsparteien legitimiert sind, Normen zu setzen, die beschäftigungssichernde Auswirkungen auf die Arbeitsverhältnisse der dem Tarifvertrag unterfallenden Arbeitnehmer haben. Das entspricht der jüngeren Diskussion der Arbeitsrechtswissenschaft, in der sich ein allgemeiner Konsens dahin gebildet hat, dass die Verhinderung von Arbeitslosigkeit und die Sicherung der Beschäftigung eine wesentliche, vielleicht eine zentrale Aufgabe des Arbeitsrechts ist22. Den Tarifvertragsparteien ist ein wirkungsvolles Gestaltungsinstrument des Arbeitsrechts an die Hand gegeben und diese Regelungen erschienen als ein Fremdkörper, dürften sich nicht an der Verwirklichung eines wichtigen arbeitsrechtlichen Ziels orientieren. Alles andere widerspräche dem historisch überkommenen Verständnis der Tarifautonomie, deren Anliegen es stets war, Beschäftigung zu sichern23. Mag dies am Anfang auch nur auf die Beschäftigung der einzelnen Gewerkschaftsmitglieder bezogen gewesen sein, so entspricht es der in der weiteren Entwicklung gewachsenen größeren Wirkungsmacht der Koalitionen, sich vom einzelnen Arbeitsverhältnis zu lösen und den Arbeitsmarkt selbst in die Gestaltung der Regelungen mit einzubeziehen24. Dass mit dieser Weichenstellung freilich die entscheidenden Fragen noch nicht beantwortet sind, sei zugegeben. Insbesondere ist ungesagt, inwieweit der Gesetzgeber in der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit eine Einschätzungsprärogative hat, inwieweit sich die Tarifvertragsparteien, verfolgen sie denn ein Gemeinwohlinteresse, an den gesetzgeberischen Wertungen orientieren müssen. Wenn der Gesetzgeber etwa in vernünftigem Vermuten sagt, durch die Anrechnung von Kuren auf Urlaub kann man die Arbeitslosigkeit bekämpfen, müssen sich dann die Tarifvertragsparteien diese Überlegung zu eigen machen und sagen, diese Einschätzung müssen wir teilen und nicht mit unseren Tarifverträgen konterkarieren?25 Ich denke da auch an das Beispiel der Befristungsmöglichkeit bei der Beschäftigung älterer Arbeitnehmer ohne sachlichen Grund nach § 14 Abs. 3 TzBfG. Diese Regelung ist einzig beschäftigungspolitisch motiviert, weil ältere Arbeitnehmer eine Gruppe sind, die typischerweise schwerer einen Arbeitsplatz findet26. Inwieweit 21 BAG v. 28.6.2001 – 6 AZR 114/00, AP Nr. 24 zu § 611 BGB Arbeitszeit; siehe auch Peter Hanau/Gregor Thüsing, Tarifverträge zur Beschäftigungssicherung, in: ZTR 2001, S. 1, 6. 22 Vgl. Peter Hanau, Welche arbeits- und ergänzenden sozialrechtlichen Regelungen empfehlen sich zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit? Gutachten B/C für den 63. Deutschen Juristentag, München 2000. 23 So auch Ulrich Zachert, Beschäftigungssicherung durch Tarifvertrag als Prüfstein für Umfang und Grenzen der Tarifautonomie, in: DB 2001, S. 1198, S. 1199. 24 Siehe auch Gregor Thüsing, in: Otto-Brenner-Stiftung (Hrsg.), Arbeitsmarktpolitik im Spannungsfeld von Gesetzgebung und Tarifautonomie, Frankfurt/Main 2002, S. 126. 25 Siehe Sachverhalt BVerfG 3.4.2001 – 1 BvL 32/97, BVerfGE 103, S. 293.
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können die Tarifvertragsparteien sagen: Wir wirken genau gegensätzlich und argumentieren: Durch das Gesetz wird Arbeitslosigkeit erleichtert, denn jemand, der unbefristet eingestellt wird, der ist länger beschäftigt, als wenn er befristet eingestellt wird. Die beschäftigungspolitischen Erwägungen wäre also genau gegenteilig27. Wäre es zulässig, eine tarifliche Regelung damit zu rechtfertigen, dass man eben dem Arbeitgeber aufgibt, auch solche Arbeitsverhältnisse nur aus sachlichem Grund zu befristen? Die Frage kann hier gestellt werden und zur Diskussion einladen; sie zu beantworten würde den Rahmen dieses Referats sprengen. IV. Das Gemeinwohl als Begrenzung der Koalitionsbetätigung Mit einem letzten Schritt will ich nun eintreten in den Kernbereich der Diskussion um Gemeinwohl und Tarifautonomie. Wie weit reicht die Schranke, die das Gemeinwohl der Betätigung der Koalition zieht? In grober Sichtung lassen sich hier zwei Bereiche unterscheiden, in denen sehr unterschiedliche Antworten gefunden wurden. Im Arbeitskampf ist das Gemeinwohl eine etablierte Größe, die durch die Rechtsprechung konkretisiert zu verschiedenen Beschränkungen der Möglichkeit, durch Streik und Aussperrung einen Tarifvertrag zu erzwingen, geführt hat. Als Begrenzung des Tarifvertrags jedoch ist das Gemeinwohl ein umstrittener Topos, für den sich ein kleinster gemeinsamer Nenner zur Zeit nur schwer benennen lässt. 1. Gemeinwohl und Arbeitskampf Die soziale Verantwortung der Koalition gegenüber der Allgemeinheit manifestiert sich, betrachtet man allein die arbeitsrechtliche Rechtsprechung, am deutlichsten im Arbeitskampf. Sie gebietet Arbeitskämpfe soweit wie möglich zu vermeiden. Streik und Aussperrung sind daher nur zulässig, wenn sie das letzte Mittel zur Erzielung eines Kompromisses sein können: „Arbeitskämpfe müssen . . . unter dem obersten Gebot der Verhältnismäßigkeit stehen. Dabei sind die wirtschaftlichen Gegebenheiten zu berücksichtigen, das Gemeinwohl darf nicht offensichtlich verletzt werden“28, stellte 26 Siehe auch die Begründung der Herabsetzung der Altersschwelle von 58 Jahren auf 52 Jahre im Ersten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 23.12.2002 (BGBl. I S. 4607) BT-Drucks. 15/25, S. 39. 27 Zu den unterschiedlichen Folgen eines Kündigungsschutzes auf die Arbeitslosigkeit siehe Wolfgang Franz, Chancen und Risiken einer Flexibilisierung des Arbeitsrechts aus ökonomischer Sicht, in: ZfA 1994, S. 439, 458; Gregor Thüsing, Arbeitsrechtliche Aspekte des US-amerikanischen Jobwunders, in: ArbuR 2000, S. 325. 28 Siehe BAG v. 21.4.1971 – GS 1/68, AP Nr. 43 zu Art. 9 GG Arbeitskampf.
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der Große Senat des Bundesarbeitsgerichts ausdrücklich fest. Das Bundesverfassungsgericht sagt es nicht minder klar: „Selbstverständlich müssen auch die Gewerkschaften angesichts der Bedeutung ihrer Tätigkeit für die gesamte Wirtschaft und ihres (auch geistigen) Einflusses auf weite Bereiche des öffentlichen Lebens bei allen ihren Aktivitäten das gemeine Wohl berücksichtigen“29. Ebenso wie das Eigentum gegenüber der Gemeinschaft verpflichtet, gibt es eine Sozialbindung der Koalitionen30. Ausfluss dieser Wertung, die sich ähnlich auch in Arbeitskampfordnungen anderer Länder findet31, ist die Pflicht zu Notdienstarbeiten in Betrieben der Daseinsvorsorge. Wird ein Krankenhaus, ein Altersheim oder auch ein Verkehrsbetrieb bestreikt, so muss im Interesse der Allgemeinheit eine Grundversorgung weiterhin gewährleistet sein32. Dementsprechend heißt es in einem Entwurf eines Gesetzes zur Regelung kollektiver Arbeitskonflikte von 1988, der als „Konsens über ein Arbeitskampfgesetz“ trotz divergierender politischer Standorte versucht wurde33 in § 2 Abs. 2: „Arbeitskämpfe und Kampfmaßnahmen, die den Kampfgegner oder die Allgemeinheit unverhältnismäßig belasten, sind unzulässig“, und in § 11 Abs. 1 heißt es dann ergänzend: „Die Kampfparteien haben bei Arbeitskämpfen gemeinsam dafür zu sorgen, dass die zur Befriedigung der elementaren persönlichen, sozialen und staatlichen Bedürfnisse erforderliche Mindestversorgung aufrecht erhalten werden kann“. Zur Konkretisierung dieser Pflichten gibt es inzwischen zahlreiche Entscheidungen auch des Bundesarbeitsgerichts34. Hier mag als weiteres Zwischenfazit festgehalten werden: Die Gemeinwohlbindung im Arbeitskampf ist anerkannter Topos zur richterrechtlichen Fortbildung des Rechts von Streik und Aussperrung. Sie ist Grundlage des ultima ratio-Grundsatzes, 29
BVerfG v. 18.12.1974 – 1 BvR 430/65, BVerfGE 38, S. 281, 307. Diese Parallele sah bereits Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die politische Funktion wirtschaftlich-sozialer Verbände und Interessenträger in der sozialstaatlichen Demokratie. Ein Beitrag zum Problem der „Regierbarkeit“, in: Der Staat 15 (1976), S. 457, 471 ff.; siehe auch Wolfgang Rüfner, Zur Gemeinwohlbindung der Tarifvertragsparteien, in: RdA 1985, S. 193, 194. 31 Siehe hierzu Peter Hanau/Gregor Thüsing, Neue Sensibilisierungen im Arbeitskampfrecht: Der Streik in der Luftfahrt, in: Peter Hanau/Gregor Thüsing (Hrsg.), Tarifautonomie im Wandel, Köln, Berlin, Bonn, München 2003, S. 46 ff. (USA, Frankreich, Italien, Spanien). 32 Siehe für alle Thomas Dieterich, Art. 9 GG Rn. 174 ff. m. w. N., in: Thomas Dieterich/Peter Hanau/Günter Schaub (Hrsg.), Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 4. Aufl., München 2004. 33 Siehe Rolf Birk/Horst Konzen/Manfred Löwisch/Thomas Raiser/Hugo Seiter, Gesetz zur Regelung kollektiver Arbeitskonflikte, Tübingen 1988, S. III. 34 Siehe BAG v. 21.4.1971 – GS 1/68, AP Nr. 43 zu Art. 9 GG Arbeitskampf; BAG v. 30.3.1982 – 1 AZR 265/80, AP Nr. 74 zu Art. 9 GG Arbeitskampf; BAG v. 31.1.1995 – 1 AZR 142/94, AP Nr. 135 zu Art. 9 GG Arbeitskampf. 30
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wonach Streik und Aussperrung auf Grund der die Allgemeinheit belastenden Wirkungen jeglichen Arbeitskampfs nur letztes Mittel sein können, einen Tarifkompromiss zu erreichen, und der Verpflichtung zu Notdiensten in bestreikten Betrieben der Daseinsvorsorge. Der Rechtsprechung ist es in diesem Teilbereich gelungen, aus dem weiten Begriff der Gemeinwohlbindung für die Praxis handhabbare Regeln herzuleiten. 2. Gemeinwohl und Tarifvertrag Bei der Bindung des Tarifvertrags an das Gemeinwohl fehlen diese Judikate und dementsprechend größer ist die Spannbreite der im Schrifttum vertretenen Meinungen hierzu. a) Die Angst vor Tarifzensur und unbestimmten Rechtsbegriffen Die Freiheit der Tarifverträge von der Gemeinwohlbindung hat unlängst die verfassungsrechtlich und arbeitsrechtlich schon gewichtige Stimme Dieterichs deutlich formuliert: Gemeinwohl sei ein rechtspolitisch weit offener Begriff, ein Ideal, das viele Lösungsansätze zulasse. Als Rechtsbegriff sei das Gemeinwohl untauglich. Schon daher könne es als Grenze der Tarifmacht nicht in Dienst genommen werden. Was an Gemeinwohlbindung im Arbeitskampf konkretisiert wurde, seien eng begrenzte Tatbestände, die ohne jede Tarifzensur begründet werden könnten. Sie ändern nichts am Tarifziel; was die Gewerkschaften für eine Forderung gestellt haben, spiele dabei keine Rolle. Berührt werde lediglich die Durchführung, die Modalität des Kampfes und die Schäden für die Allgemeinheit in Grenzen zu halten. Dies könne der Rechtsprechung überantwortet werden. Das Gemeinwohl als Regelungsziel tarifvertraglicher Normsetzung sei jedoch ohne gesetzgeberische Vorgaben nicht justitiabel. Sonst mache der Richter Tarifpolitik und das dürfe er nicht35. Die Argumentation spiegelt die beiden wesentlichen Einwände, die bereits vorher erhoben wurden: zum einen die Unbestimmtheit des Begriffs, zum anderen die Gefahr der Tarifzensur, also der Ermächtigung des Richters zum Eingriff in tarifvertragliche Verhandlungsergebnisse36. 35 Thomas Dieterich, Arbeitsmarktpolitik im Spannungsfeld von Gesetzgebung und Tarifautonomie, in: Otto Brenner Stiftung (Hrsg.), Arbeitsmarktpolitik im Spannungsfeld von Gesetzgebung und Tarifautonomie, Frankfurt/Main 2002, S. 27 f., S. 134 f.; s. bereits ders., RdA 2002, S. 1. 36 Siehe auch Otto-Ernst Kempen/Ulrich Zachert, Tarifvertragsgesetz für die Praxis, 3. Aufl., Köln 1997, Grundlagen Rn. 135; Manfred Löwisch/Volker Rieble, Tarifvertragsgesetz, München 1992, Grundlagen Rn. 36; Eduard Picker, Die Regelung
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b) Mutigere Stimmen Beide Begründungsstränge sind meines Erachtens nicht zwingend, und auch hier weiß ich einige Arbeits- und Verfassungsrechtler auf meiner Seite37. Die Justiziabilität ist ein Problem, das sich allgemein bei ausfüllungsbedürftigen Begriffen stellt. Im Arbeitsrecht sind die Angemessenheit und die Billigkeit geläufige Begriffe, die durch die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts etwa in der Inhaltskontrolle von arbeitsvertraglichen Einheitsregelungen konkretisiert wurden und weiterhin ständig konkretisiert werden38. Solche Generalklauseln beinhalten den Auftrag an die Rechtswissenschaft und insbesondere an die Gerichte, hieraus Fallgruppen zu bilden, die diesen sehr amorphen Begriff handhabbar machen. Sie sind Delegationsnormen zur Detailregelung, die der Gesetzgeber selber hätte vornehmen können, es aber nicht getan hat – ein Auftrag an die Rechtsprechung, Rechtssicherheit zu schaffen, nicht aber die Hände in den Schoß zu legen. Dass die Gemeinwohlbindung im Arbeitskampf zu solchen Ergebnissen geführt hat, zeigt, dass dieser Weg gangbar ist, und ein grundlegender Unterschied zur Ausgrenzung des Tarifvertrags leuchtet mir nicht ein. Auch hier geht es darum, eng umgrenzte Fallgruppen zu umschreiben, in denen eine Gemeinwohlwidrigkeit festgestellt werden kann. Das Gemeinwohl ist nicht politischer als der Begriff der Billigkeit, zumindest wenn man seine bisherige Verwendung im Bereich der arbeitsrechtlichen Rechtsprechung betrachtet. Gewichtiger schon ist der Einwand der Tarifzensur. Auch dieser mahnt aber eher zur Vorsicht als dazu, Fälle evidenter Gemeinwohlwidrigkeit sanktionslos zu lassen. Man mag aus ihm ein Tendenzargument dahingehend herleiten, dass im Zweifel eine Regelung, die im Kompromiss von Arbeitgeberverband und Gewerkschaft gefunden wurde, nicht nur die Interessen der durch sie Repräsentierten angemessenen vertritt, sondern auch in hinreichendem Maße die Interessen der Allgemeinheit schützt; aber auch eine solche Zweifelsregelung kann widerlegt werden. Die Tarifzensur ist nichts anderes als die Folge notwendiger Sanktionierung. Wenn man mit der Bindung der Tarifvertragsparteien an das Gemeinwohl ernst macht – und die oben genannten Erwägungen sprechen nachhaltig dafür – dann muss dies Folgen haben und darf nicht allein zum politischen Lippenbeder „Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“ – Vertragsprinzip oder Kampfprinzip, in: ZfA 1986, S. 199, 229. 37 Siehe Rüfner (Anm. 30), S. 194, 199; Wiedemann, Tarifvertragsgesetz (Anm. 4), Einleitung Rn. 352. 38 Siehe hierzu jüngst Gregor Thüsing, Inhaltskontrolle von Formulararbeitsverträgen nach neuem Recht: Ein Blick auf die grundlegenden Weichenstellungen ein Jahr danach, in: BB 2002, S. 2666.
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kenntnis degradiert werden. Eben dies führt aber zur sehr viel wichtigeren Frage: Wo soll die Kontrolle anfangen, was sind die Parameter, nach denen das Gemeinwohl bestimmt wird und welches sind die möglichen Sanktionen, die aus einer Gemeinwohlwidrigkeit folgen? c) Ein Vorschlag für einen Kompromiss Zur Antwort auf diese Fragen zumindest die Eckdaten eines möglichen Kompromisses zu benennen, will ich zum Schluss meiner Ausführungen versuchen. Ein sehr vorsichtiger Ansatz zur Konkretisierung des Gemeinwohls ist der Vorschlag Wiedemanns, dass sich die Tarifvertragsparteien in ihrer Normsetzung nicht mit der „Politik des Gesetzes“ in Widerspruch setzen dürften. Dazu gehört auch, dass parlamentarisch zunächst umkämpfte Gesetze von Tarifvertragsparteien später nicht ausgehöhlt oder gegenstandslos gemacht werden dürfen39. Wollte man dem folgen, dann wäre damit meine in Bezug auf § 14 Abs. 3 TzBfG gestellte Frage beantwortet. Der Ansatz mag als Minimalkonsens erwägenswert sein, doch scheinen mir selbst hier Einwände möglich: Wenn der Gesetzgeber seine Normen tarifvertragsfest gestalten will, kann er eine nicht tarifdispositive Norm schaffen. Verzichtet er auf die Beschränkung tarifvertraglicher Rechtsetzungsmacht, obwohl es möglich gewesen wäre, anders zu handeln, dann kann dies nicht über den Umweg der Gemeinwohlbindung rückgängig gemacht werden; hätte er aber eine Tarifvertragssperre im Hinblick auf die Koalitionsfreiheit nicht errichten können, so kann die Gemeinwohlbindung zu keinem anderen Ergebnis führen. Hilfreicher, aber doch in der Umschreibung der Gemeinwohlbindung nicht präziser ist die Forderung Wiedemanns, die Auslegung von Tarifvertragsnormen auch unter dem Gesichtspunkt des öffentlichen Interesses vorzunehmen, wenn eine der möglichen Deutungen den Interessen anderer Berufs- oder Bevölkerungsgruppen oder denen der Allgemeinheit widerspricht40. Dies lässt offen, wie denn das Allgemeininteresse zu bestimmen ist, und auch wäre die Gemeinwohlbindung, erschöpfte sie sich in einer solchen Auslegungsregel, ein recht zahnloser Tiger: Hohe Prinzipien werden bemüht, um recht geringfügige Ergebnisse zu begründen.
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Wiedemann, Tarifvertragsgesetz (Anm. 4), Einleitung Rn. 352. Wiedemann, Tarifvertragsgesetz (Anm. 4), Einleitung Rn. 352 im Anschluss an Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht (Anm. 13), S. 320. 40
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aa) Konkretisierung in Fallgruppen Sinnvoll erscheint es daher, ausgehend von der Rechtsprechung zum Arbeitskampf, die dort gezeigten Wertungen vorsichtig auf den Abschluss von Tarifverträgen zu übertragen. Drei Bereich fallen mir ein: die Unternehmen der Daseinsvorsorge, der Öffentliche Dienst und der Flächentarifvertrag. – Unternehmen der Daseinsvorsorge: Ebenso wie die Allgemeinheit ein Interesse daran hat, dass durch einen Arbeitskampf die Dienste eines für das tägliche Leben zentralen Dienstleisters nicht kurzfristig versagt bleiben, hat sie ein Interesse an dessen langfristigem Bestand. Dieser kann durch Tarifverträge, die die Daseinsvorsorge sachlich einschränken oder auch durch überhöhte Tarifabschlüsse, die den Bestand des Dienstleisters auf kurze oder lange Zeit in Frage stellen, beeinträchtigt werden. Für erstere Fallgruppe wäre beispielhaft ein Tarifvertrag zu nennen, der eine ärztliche Regelversorgung in Krankenhäusern am Wochenende nur beschränkt ermöglicht, für die zweitgenannte Fallgruppe käme es auf die Höhe des Abschlusses an: Hier liegt die Gemeinwohlwidrigkeit schlechthin in der Überforderung des Dienstleisters. Was die Allgemeinheit gegenüber dem einzelnen Arbeitgeber noch hinnehmen mag, wird umso problematischer, wo es nicht allein um Arbeitsplätze, sondern gerade um der Allgemeinheit geleistete Dienste geht. Wann freilich ein solcher Vertrag als überhöht anzusehen ist, ist schwer zu bestimmen, und eben hier besteht die Gefahr der Tarifzensur. Bei Krankenhäusern mag man etwa an den durch die Refinanzierung abgesteckten Rahmen denken, der hier eine Obergrenze formuliert, bei allen staatlich bezuschussten Betrieben käme es darauf an, ob die Entgelterhöhung nur durch erhöhte staatliche, also der Gemeinschaft entstandenen Zuschüsse aufgefangen werden kann. Denn dies wäre Tarifpolitik auf Kosten der Gemeinschaft und man könnte dies als gemeinwohlwidrig benennen. Ich weiß nicht, ob letzteres konsensfähig ist, aber für eine solche Argumentation gibt es Beispiele aus der Rechtsprechung der Weimarer Zeit im Hinblick auf die Reichsbahn41 und auch die Cour de cassation hat etwa die Forderung einer Pilotengewerkschaft als unverhältnismäßig und unangemessen bewertet („déraisonnable“), wenn das Luftfahrtunternehmen auf lange Zeit damit überfordert wäre. In concreto ging es um die Beibehaltung von drei Piloten entgegen einer Verordnung, die eine Cockpit-Besetzung mit zwei Piloten gestattete, wenn auch nicht vorgeschrieben hatte42. Beides sind 41 RAG ARS 7, 567, 572; RAG ARS 8, 269; weitere Nachweise Hugo Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, Tübingen 1975, S. 176; siehe auch Hanau/ Thüsing, in: Hanau/Thüsing, Tarifautonomie im Wandel (Anm. 31), S. 67 ff.
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Bereiche, die man im weiteren Sinne der Daseinsvorsorge zurechnen mag, wenn auch dies im Einzelnen ein höchst schillernder Begriff ist43. – Öffentlicher Dienst: Das Gesagte leitet über zu einer zweiten Fallgruppe. Auch überhöhte Tarifvertragsabschlüsse im Öffentlichen Dienst mögen als gemeinwohlwidrig erkannt werden. Tarifvertragsabschlüsse etwa deutlich über dem allgemeinen Niveau begünstigen den Öffentlichen Dienst auf Kosten der Allgemeinheit. Dass dies eine durchaus aktuelle Frage ist, zeigt der Austritt Berlins aus der Tarifgemeinschaft. Tariflohnerhöhungen von 15% im Öffentlichen Dienst, wie sie 1974 abgeschlossen wurden, wurden bereits damals als gemeinwohlwidrig gewertet. Wann der Tarifvertragsabschluss tatsächlich die Grenze überschritten hat, mag im Einzelfall schwierig zu bestimmen sein. Der Vagheit einer willkürlichen Tarifzensur des Arbeitsrichters könnte aber durch konkretisierte Judikate, denen bestimmte Grenzwerte als gegriffene, aber sachlich angemessene Größen zugrunde liegen, gemindert werden. Nicht zufällig verneint die Gesetzgebung der Mehrheit der US-amerikanischen Staaten gänzlich ein Streikrecht im öffentlichen Dienst, auch wenn die Unterschiede zwischen den einzelnen Staaten hier erheblich sind44. – Flächentarifvertrag: Größere Zurückhaltung scheint geboten bei der Frage, wie weit ein Flächentarifvertrag gemeinwohlwidrig sein kann. Bei der Prüfung der Gemeinwohlwidrigkeit ist zu beachten, dass dem Tarifver42
Ass. plén. v. 4.7.1986, D. 1986, S. 477. Grundlegend Ernst Forsthoff, Die Verwaltung als Leistungsträger, Stuttgart, Berlin 1938; Siehe auch ders, Der Staat der Industriegesellschaft, München 1971, S. 75 ff; weiterführend Fritz Ossenbühl, Daseinsvorsorge und Verwaltungsprivatrecht, in: DÖV 1971, S. 513; Hartmut Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 13. Aufl., München 2000, S. 16 f. 44 Ausführlich Kirschner, Labor-Management Relations in the Public Sector: An Introductory Technique, SC29 A.L.I.-A.B.A., S. 229 (1997). Der Autor verweist auf 13 Staaten, die ein durch die einzelstaatliche Verfassung gewährleistetes Streikrecht auch für zumindest einige ihrer im öffentlichen Dienst beschäftigten Arbeitnehmer anerkennen und mindestens 38 Staaten, die keine Streikgesetze haben, a. a. O. S. 246 unter Berufung auf Donald H. Wollett/Don W. Sears, Collective Bargaining in Public Employment, 4. Aufl., Washington D.C. 1993, S. 10. Die wohl strengste AntiStrike Gesetzgebung ist New Yorks’ Taylor Law, mit amtlichem Titel: Public Employees’ Fair Employment Act, N.Y. Civ.Serv.Law, Ch. 7, Art. 14, §§ 200–214. § 210 dieses Gesetzes verbietet Streiks für Staatsbedienstete und Abs. 2 (f) sieht vor, was öfters „Zwei für eins“-Strafe genannt wird: für jeden Tag Streik werden zwei Tage Gehalt abgezogen. Für eine Erläuterung des Acts im Einzelnen Ronald Donovan, Administering the Taylor Law: Public Employee Relations in New York, Ithaca 1990. In Pennsylvania existieren einzelstaatliche Gesetze, die Streiks für einige Arbeitnehmergruppen verbieten, für andere aber erlauben, solange der Streik nicht „creates a clear and present danger or threat to the health, safety or welfare of the public“, Pa.Stat.Ann., Title 43 § 1101.1001 bis 1101.1003. 43
Tarifautonomie und Gemeinwohl
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trag eine Kartellwirkung und eine Ordnungsfunktion zukommt. Ist nur ein einzelnes Unternehmen nicht mehr in der Lage, die branchenangemessenen Tariflöhne zu zahlen, so hat der Tarifvertrag durchaus volkswirtschaftlich die Aufgabe der Markträumung von Grenzbetrieben45. Deshalb scheint mir hier die Gemeinwohlwidrigkeit kein geeignetes Instrument zur Korrektur eines für eine Seite unerwünschten Verhandlungsergebnisses zu sein. Dort, wo der Tarifvertrag für eine Großzahl von Unternehmen innerhalb des Arbeitgeberverbandes unzumutbar wird, mag eine außerordentliche Kündigung möglich sein. Diese beruht dann aber auf der Unzumutbarkeit der Arbeitsbedingungen, nicht auf der Gemeinwohlwidrigkeit. Weil das gebündelte Interesse der Unternehmen am Fortbestand sich hier mit dem Gemeinwohl deckt, braucht nicht der Umweg über das Gemeinwohl gegangen zu werden46. bb) Sanktionen Fälle evidenter Gemeinwohlwidrigkeit werden also selten sein und die richterliche Kontrolldichte darf nicht allzu streng gezogen werden. Ist allerdings die Gemeinwohlwidrigkeit nach den oben dargestellten Beispielsfällen zu bejahen, dann wäre eine mögliche Sanktion, dass die zwingende Wirkung und Unabdingbarkeit der Tarifvertragsnormen entfällt oder auch, dass die außerordentliche Kündigung eines Tarifvertrags möglich ist. Gemeinwohlwidrige Tarifverträge sind jedoch grundsätzlich nicht unwirksam und verpflichten nicht zu Schadensersatz; dementsprechend wies auch der BGH die Schadensersatzklage eines Sparers gegen die Tarifvertragsparteien wegen inflationsfördernder Tarifvertragsabschlüsse ab. Seiner Begründung, Tarifverträge seien auch rechtmäßig, wenn sie ungünstige Auswirkung auf die gesamtwirtschaftliche Lage hätten, ist zuzustimmen47. Wollte man anders entscheiden, würden der Tarifautonomie wohl allzu enge Grenzen gesetzt; zur Sanktionierung der Gemeinwohlwidrigkeit schien es mir auch nicht erforderlich. Diese Sanktionen können sich nur auf die Regelung und ihre Wirksamkeit selbst beziehen. 45 Martin Henssler, Flexibilisierung der Arbeitsmarktordnung – Überlegungen zur Weiterentwicklung der tariflichen Regelungsmacht, in: ZfA 1994, S. 487; Rolf Wank, Empfiehlt es sich, Regelungsbefugnisse der Tarifparteien im Verhältnis zu den Betriebsparteien neu zu ordnen?, in: NJW 1996, S. 2273, 2281; siehe auch Rolf Wank, § 4 Rn. 34, in: Herbert Wiedemann (Hrsg.), Tarifvertragsgesetz (Anm. 4). 46 Siehe hierzu Rolf Wank, § 4 Rn. 26 ff. m. w. N., in: Herbert Wiedemann (Hrsg.), Tarifvertragsgesetz (Anm. 4). 47 BGH v. 14.3.1978 – VI ZR 68/76, NJW 1978, S. 2031, 2032; gleichsinnig BAG v. 20.8.1986 – 4 AZR 272/85, AP Nr. 6 zu § 1 TVG Tarifverträge: Seniorität; siehe auch Wiedemann, Tarifvertragsgesetz (Anm. 4), Einleitung Rn. 353.
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V. Ausblick und Schluss Was bleibt nach diesem Rundgang? Aus der Gemeinwohlbindung der Tarifvertragsparteien können durchaus praktische Konsequenzen folgen, will man denn dem einen oder anderen hier geäußerten Vorschlag folgen, der nicht von der herrschenden Meinung getragen wird. Mir scheint es lohnend, sich einige Schritte weiter vorzuwagen und zu versuchen, die Interessen der Allgemeinheit mit den Partikularinteressen der Koalitionen und ihrer Mitglieder im Kollisionsfall in einen angemessenen Ausgleich zu bringen. Weil Gemeinwohl ein vielschichtiger und deutungsvariabler Begriff ist, muss sich die Rechtsprechung dabei auf das zurückziehen, was konsensfähig ist und kann nur die Fälle offensichtlicher Unvereinbarkeit in den Blick nehmen. Wer diese schwere Aufgabe nicht allein auf die Schultern der Richter legen will, wird ein Tätigwerden des Gesetzgebers erhoffen, der einige dieser Konflikte selber lösen mag. Aber auch wenn sich der wohl zurückhalten wird, bleibt es eine Aufgabe der Rechtswissenschaft, das Bewusstsein zu verankern, dass Tarifautonomie und Gemeinwohl in einer engen Verbindung stehen, dass sie oftmals gleich gerichtet sind, aber in einigen Feldern eben auch in verschiedene Richtungen deuten. Der gescheiterte Metallstreik in Ostdeutschland hat dies noch einmal deutlich vor Augen geführt. Anlass zum Nachdenken gibt es genug.
Bericht über die Diskussion zum Vortrag von Gregor Thüsing Diskussionsleiter: Heinrich Amadeus Wolff Von Burkhard Margies Nach dem Vortrag von Prof. Dr. Gregor Thüsing, Hamburg, meldete sich Prof. Dr. Josef Isensee, Bonn, als erster zu Wort. Er merkte zunächst an, dass die Thematik der Tarifautonomie für das Gemeinwohl eines freiheitlichen Gemeinwesens von zentraler Bedeutung sei, worüber – wie er glaube – zwischen ihm und Thüsing Einigkeit bestehe. Sie sei ein Musterbeispiel dafür, dass in unserer Rechtsordnung die Bestimmung gemeinwohlrelevanter Fragen kein Monopol des Staates sei, da in ihrem Rahmen die Lohnentwicklung als entstaatlichter Faktor in privater Hand liege. Fraglich sei jedoch, ob das Produkt der Tarifautonomie, der Tarifvertrag, dem Gemeinwohl entspreche. Die arbeitsrechtliche Literatur gebe darauf eine simple Antwort: Der Tarifvertrag enthalte die materielle Richtigkeitsgewähr. Dies sei jedoch nicht haltbar. Isensee zog eine Parallele zur Lehre vom gerechten Preis, die auch in ein Nichts hineingeführt habe. Wie dort könnten beim Vertrag die Parteiinteressen angemessene Berücksichtigung finden, wenn gewisse Bedingungen gesichert seien, wie Freiheit auf beiden Seiten, Parität, kein totales Machtübergewicht und ähnliches. Der Tarifvertrag sei aber in einem hohen Maß ein Vertrag zu Lasten Dritter. Er sei zu Lasten – manchmal auch zu Gunsten – nicht organisierter Arbeitnehmer und Arbeitgeber wirksam, er gehe zu Lasten der Konsumenten, insbesondere die Arbeitslosen seien hochgradig betroffen. Dass es mit dem Konsens der Tarifparteien gleichzeitig zu einer gemeinwohlverträglichen Lösung komme, sei nicht gewährleistet. Diese Wertung treffe noch mehr auf die Tarifautonomie im öffentlichen Dienst zu, die schon strukturell deplatziert sei. Der Arbeitskampf im öffentlichen Dienst sei immer gegen die staatlich organisierte Allgemeinheit gerichtet. Er gehe zu Lasten derjenigen Bürger, die von staatlichen Leistungen abhängen. Thüsing entgegnete, er sei der Ansicht, die Richtigkeitsgewähr des Tarifvertrags sei ein Axiom des Arbeitsrechts, das nicht mehr hinterfragt werde. Dem liege die Schmidt-Rimpler’sche These von der Richtigkeitsgewähr des Vertragsschlusses zugrunde, nach der der Vertrag richtig sei, weil beide Par-
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teien von ihm Abstand nehmen könnten. Dies werde auf den Tarifvertrag übertragen. Zwar könnten die Tarifvertragsparteien nicht dauerhaft auf den Vertragsabschluss verzichten, aber durch Streik oder Aussperrung oder die Drohung damit sei ein hinreichendes Kräftegleichgewicht gegeben, das dann am Ende die Einigung auf das Angemessene sicherstelle. Dies zu hinterfragen, würde Fragen der Verfahrensgerechtigkeit und des gerechten Preises aufwerfen, die in Anbetracht der begrenzten Diskussionszeit nicht mehr behandelt werden könnten. Isensee fuhr fort, dass seiner Ansicht nach Tarifautonomie und Arbeitskampf Anomalien in unserer Rechtsordnung seien. Aus Art. 9 Abs. 3 GG lasse sich zwar die Koalitionsbetätigung ohne Weiteres ableiten, nicht aber die spezifischen Mittel Tarifautonomie und Arbeitskampf, die Instrumente auf Kosten Dritter seien. Daher bedürften sie sowohl nach dem Eingriffswie nach dem Wesentlichkeitskriterium einer gesetzlichen Grundlage, die stärker als das bestehende Tarifvertragsgesetz sein müsste. Das Fehlen dieser gesetzlichen Grundlage führte Isensee auf die Scheu des Gesetzgebers vor der Kraftprobe mit Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden zurück. Statt dessen griffe Richterrecht ein. Tarifautonomie und Arbeitskampf seien nur richterrechtliche Ausgestaltungen der Koalitionsfreiheit als institutionellem Überbau. Damit sei ihr Schutzbereich höchst zweifelhaft und folglich greife auch das grundrechtliche Schrankenregime nicht in vollem Maße. Eine Gemeinwohlformel könne daher trotz mangelnder Bestimmtheit eine Schranke für Tarifautonomie und Arbeitskampf sein. Der Arbeitskampf sei ein privater Eingriff in Positionen anderer, und zwar sowohl Privater als auch der Öffentlichkeit. Eine Schranke würde folglich ein Eingriffsrecht begrenzen. Dies polemisch als Tarifzensur zu bezeichnen, sei grotesk. Zensur im Sinne der Verfassung sei immer nur die Vorzensur, er spräche allenfalls von Kontrolle. Auf diese Ausführungen von Isensee merkte Thüsing an, er halte es für illusorisch zu glauben, jede begrenzende Regelung des Arbeitskampfes müsse der Gesetzgeber selber schaffen. Seiner Meinung nach sei, solange der Gesetzgeber aus politischer Vorsicht schweige, der Richter aufgefordert, selber Regelungen zu finden. Dabei solle er sich so weit wie möglich an dem orientieren, was allgemein konsensfähig sei. Dr. Ulrich Mlitzko, Oberursel, sagte, er könne das, was Isensee aus der Sicht der Wissenschaft gesagt habe, als Praktiker nur bestätigen. Der Gesetzgeber habe sich aus seiner Verantwortung verabschiedet und das Thema Gemeinwohl Interessenverbänden auf den Tisch gelegt. Die Folge seien unter anderem 4,7 Millionen Arbeitslose. Das Arbeitsrecht sei für die gesamte Wirtschafts- und Verfassungsordnung inzwischen zu einem Problem geworden. Mlitzko unterstütze die 15 Thesen zur Arbeitsrechtsreform, die Bernd
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Rüthers in der FAZ veröffentlicht habe1. Auch dort werde der Gesetzgeber kritisiert, weil er wichtige Bereiche Verbänden und der Rechtsprechung zur Regelung überlassen habe. Zur Bezugnahme auf Rüthers entgegnete Thüsing, dass er 11 der Thesen zustimme, bei zweien sei er unentschieden und zwei lehne er ab. Er hielte es aber für insgesamt gewinnbringend, würde den Thesen von Rüthers gefolgt. Thüsing unterstrich, dass Arbeitsrecht nicht nur Arbeitnehmerschutzrecht sein dürfe. Diese Diskussion gebe es schon seit der Weimarer Zeit. Das Demobilisierungsarbeitsrecht sei nach dem Ersten Weltkrieg ein sehr starkes Arbeitsrecht gewesen. Seit Anfang der 20er Jahre sei es langsam wieder abgebaut worden mit der Begründung, Arbeitsplätze schaffen zu wollen. Anfang der 30er Jahre hätten mit der gleichen Begründung die Notverordnungen in die Tarifverträge eingegriffen. Das Gemeinwohl umfasse auch die Schaffung einer ausreichenden Zahl von Arbeitsplätzen und er habe sich dafür ausgesprochen, mit der Gemeinwohlbindung etwas ernster zu machen, als das andere tun wollten. Allgemein sei im Arbeitsrecht das Bewusstsein stärker geworden, dass man in der Ausformung des Schutzes einzelner Berufsgruppen darauf Rücksicht nehmen müsse, wie es sich denn auf die andere Seite und auf Außenstehende auswirke, und eben diese allgemeinere Überlegung wolle er in das Tarifvertragsrecht und das Arbeitskampfrecht übertragen. Dr. Sigmund-Schultze, Hannover, fragte nach, ob ein Streik im öffentlichen Dienst nach Thüsings Ansicht gegen das Gemeinwohl verstoße. Er habe sich die Frage so noch nicht gestellt, halte es aber für eine sehr weit reichende Argumentation, entgegnete Thüsing. Pauschal wolle er nicht behaupten, dass die Vorteile, die aus einer angemessenen Lohnfestsetzung im öffentlichen Dienst resultierten, nicht vielleicht im Einzelfall auch die Nachteile, die der Allgemeinheit dadurch drohten, aufwiegen könnten. Man müsse zwar im öffentlichen Dienst viel vorsichtiger sein als in der Privatwirtschaft, weil dort die Mechanismen von Arbeitskampf und Tarifabschluss nicht die gleichen Chancen eines richtigen Funktionierens hätten wie in der freien Wirtschaft, aber für jeden Fall den Arbeitskampf ausschließen zu wollen, hielte er nicht für geboten. Aus dem Staat New York wisse er allerdings, dass dort jedem Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes der Streik verboten sei. Die USA seien jedoch auch ein arbeitsrechtliches Entwicklungsland. Jedenfalls könne das nur durch Gesetz geregelt werden, wogegen es in Deutschland heftige Widerstände geben würde, auch weil im öffentlichen Dienst die Gewerkschaftsquote immer noch am höchsten sei. 1 Bernd Rüthers, Mehr Beschäftigung durch Arbeitsrechtsreform, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25.02.2003.
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Prof. Dr. Heinrich Amadeus Wolff, München, fragte abschließend, ob aus Thüsings Sicht die heutigen knappen Kassen ein ausreichender Grund für einen gesetzlichen Eingriff in die Tarifautonomie sein könnten, nach dem die Gehälter der Beamten und auch der Angestellten im öffentlichen Dienst um einen bestimmten Prozentbetrag gesenkt würden. Er denke dabei an die Brüning’schen Notstandsgesetze, die vorgesehen hätten, die Bezüge der Beamten und Angestellten im öffentlichen Dienst zwischen 17% und 23% zu senken. Thüsing entgegnete, auch Brüning habe damals stark auf das Gemeinwohl abgestellt. Als verfassungswidrig sei ein solcher Vorschlag nicht per se einzuordnen, zumal das BVerfG recht freihändig mit Gemeinwohlerwägungen umgehe. So sei der Eingriff des Gesetzgebers in den tarifvertraglichen Urlaub – ein vergleichbarer Gegenstand – durch das Verfassungsgut Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit gerechtfertigt worden, wobei „Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit“ aus dem Sozialstaatsprinzip hergeleitet worden sei. Dort hätte man genauso gut auch gegenteilig argumentieren können, indem der Schutz des Arbeitnehmers als vornehmste Pflicht aus dem Sozialstaatsprinzip angesehen worden wäre. Statt dem Verfassungsgericht sollte die Frage nach Besoldungsabsenkungen besser der Politik überlassen bleiben. Bei einer Absenkung zwischen 17% und 23%, die sehr erheblich wäre, müsse auch erwogen werden, inwieweit in die Rechtsstellung des einzelnen Arbeitnehmers eingegriffen würde. Aber wenn der Gesetzgeber aus guten Gründen einen Mindestlohn festsetzen könne, was wohl allgemein bejaht werde, dann möge in extremen Situationen auch eine Absenkung durch das Gesetz begründbar sein.
Gemeinwohlverwirklichung im Mehrebenensystem
Gemeinwohl und kooperativer Föderalismus Von Gerhard Lehmbruch I. Gemeinwohlreferenzen im kooperativen Föderalismus der „alten Bundesrepublik“ Ich möchte vorweg sagen, wie ich meine Fragestellung eingrenze. Der Begriff „kooperativer Föderalismus“ ist schillernd und wird in der neueren Diskussion in verschiedenen – engeren und weiteren – Fassungen verwendet. In der weitesten Fassung kann man ihn gleichsetzen mit dem, was wir in der Politikwissenschaft auch als „Verbundföderalismus“ bezeichnen, im Unterschied zu dem Modell eines Trennföderalismus, das heute gerne als eine Art Gegenutopie konstruiert wird. Was seit den sechziger Jahren zunächst in einem engeren Sinne als „kooperativer Föderalismus“ bezeichnet wurde, ist in meiner Sicht eine eigentümliche Fortbildung des hergebrachten Verbundföderalismus, und deshalb will ich mich nicht auf jene engere Fassung des Begriffs beschränken. Als der Begriff „kooperativer Föderalismus“ aufkam, verband sich damit eine eigentümliche Entwicklungsvorstellung, eine typologisch fassbare Abfolge unterscheidbarer Entwicklungsstufen des Bundesstaates. Es handelte sich dabei um eine Anleihe aus der amerikanischen Föderalismusdiskussion1; in die deutsche Staatsrechtslehre und Politikwissenschaft fand der Begriff in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts Eingang2. Dieser 1 Gunter Kisker, Kooperation im Bundesstaat: eine Untersuchung zum kooperativen Föderalismus in der Bundesrepublik Deutschland, Tübingen 1971, S. 1. 2 Am stärksten wurde die Rezeption des Begriffs damals durch den Bericht der Tröger-Kommission gefördert; siehe Kommission für die Finanzreform, Gutachten über die Finanzreform in der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1966, Tz. 73– 77. Vgl. ferner aus dem juristischen Schrifttum Peter Lerche, Föderalismus als nationales Ordnungsprinzip, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 21 (1964), S. 66–100; Ulrich Scheuner, Wandlungen im Föderalismus der Bundesrepublik, in: Die Öffentliche Verwaltung 1966, S. 513 ff. und Wilhelm Kewenig, Kooperativer Föderalismus und bundesstaatliche Ordnung, in: Archiv des öffentlichen Rechts 93 (1968), S. 433 ff.; sowie als frühe politikwissenschaftliche Untersuchung Renate Kunze, Kooperativer Föderalismus in der Bundesrepublik: zur Staatspraxis der Koordinierung von Bund und Ländern, Stuttgart 1968.
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Rezeption verdankte er dann auch jene eigentümlichen entwicklungsgeschichtlichen Konnotationen, mit denen er bei uns lange verwendet wurde. Denn in den USA war zur Zeit des New Deal die Vorstellung aufgekommen, der amerikanische Föderalismus habe sich vom dualen zum kooperativen Föderalismus entwickelt. Morton Grodzins, der einflussreiche amerikanische Föderalismustheoretiker, hatte für dieses Gegensatzpaar die seither sehr beliebte Metapher vom layer cake (Schichttorte) einerseits, dem marble cake (Marmorkuchen) andererseits eingeführt. Grodzins war freilich weit davon entfernt, sich die erwähnte Entwicklungshypothese zu eigen zu machen. Für ihn beruhten vielmehr sowohl das Konstrukt des „dualen“ Föderalismus als auch die Vorstellung von seinem Niedergang auf einer verkürzten Interpretation der Verfassung3. Separative und kooperative Momente seien in der amerikanischen Bundesstaatskonstruktion von Beginn an angelegt. In der neueren politikwissenschaftlichen Föderalismusforschung ist man Grodzins (und seinem Schüler Daniel Elazar) weithin gefolgt und hat argumentiert, dass die amerikanische Politik und Rechtsprechung des Supreme Court gleichsam hin und her pendelt zwischen Phasen, in denen die eine oder die andere Interpretation der Verfassung in den Vordergrund rückt. Und in der Tat ist der Dissens in einer der wichtigsten neueren Entscheidungen des obersten Gerichtshofes (Printz vs. United States von 1997) wieder deutlich zutage getreten4. 3 Morton Grodzins, The American system: A new view of government in the United states, Chicago 1966, S. 17–57. Die Theorie vom dualen Föderalismus, die Grodzins auf die einflussreiche Darstellung des „American Commonwealth“ von James Bryce (James Bryce, The American commonwealth, London, New York 1888) und auf die Entscheidung des Supreme Court in Tarble’s Case von 1871 zurückführte, habe eine entgegenstehende alte Verfassungspraxis ignoriert. Grodzins’ Schüler Daniel J. Elazar hat das in seiner Untersuchung über die kooperativen Momente im frühen amerikanischen Bundesstaat weiter ausgeführt; siehe Daniel Judah Elazar, The American partnership: intergovernmental co-operation in the nineteenth-century United States, Chicago 1962; Elazars Schüler John Kincaid sieht aber inzwischen den cooperative federalism seit den 1960er Jahren durch einen coercive federalism verdrängt, siehe John Kincaid, Federalism in the United States of America: a continual tension between persons and places, in: Arthur Benz/Gerhard Lehmbruch (Hrsg.), Föderalismus. Analysen in entwicklungsgeschichtlicher und vergleichender Perspektive, Wiesbaden 2002, S. 134–156, 142–152. 4 In der Entscheidung Printz v. United States (95-1478), 521 U.S. 98, hatte das Gericht 1997 mit fünf gegen drei Stimmen jene Bestimmungen des Brady Act über die Kontrolle von Handfeuerwaffen als verfassungswidrig verworfen, in denen die Ausführung des Gesetzes durch die örtlichen Polizeibehörden geregelt war. Während Justice Scalia für die Mehrheit das Prinzip der dual sovereignty bekräftigte, berief sich Justice Breyer in seiner dissenting opinion auch auf das Modell des Vollzugsföderalismus in Deutschland, der Schweiz und der EU, von dem er sagte, dass es die unabhängige Autorität der Gliedstaaten stärker respektiere als die Ausführung der Bundesgesetze durch eine Bundesbehörde.
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Eine solche Pendelbewegung nehme ich nun auch in der deutschen Föderalismusdiskussion wahr. Dabei changiert nicht nur der Begriff des kooperativen Föderalismus in eigentümlicher Weise, sondern auch die korrespondierenden Gemeinwohlreferenzen. Das Tröger-Gutachten war seinerzeit von der Diagnose ausgegangen, dass „entscheidend wichtige Probleme mit der überkommenen Form des Föderalismus nicht mehr befriedigend gelöst werden können“5, und strebte eine „bundesstaatliche Kräftekonzentration“ an6, insbesondere in Form der von ihm so genannten „Gemeinschaftsaufgaben“. Hier kam dann der Begriff des kooperativen Föderalismus herein, mit jener aus den USA importierten entwicklungsgeschichtlichen Konnotation, und zudem stark positiv besetzt. „Kooperativer Föderalismus“ war also nicht nur ein deskriptives, sondern auch ein präskriptives Konzept. Er sollte, in der Formulierung der „Kommission für die Finanzreform“, „die erwünschte Vielfalt mit der notwendigen Einheit der bundesstaatlichen Kräfte zum Wohle des Ganzen und seiner Teile“ verbinden7. Das Wohl der „Teile“ war in diesem Zusammenhang offenbar nicht gleichgesetzt mit dem Partikularwohl, denn das steht ja in der geläufigen Gegenüberstellung zum Gemeinwohl in einer Nullsummenbeziehung. Vielmehr schien hier die alte Organismusvorstellung vom Ganzen und den Teilen anzuklingen, die aufeinander angewiesen sind. Indes verbargen sich hinter dieser altväterlichen Rhetorik wohl vor allem die holistischen Steuerungskonzepte jener Zeit, als in den Sozialwissenschaften das Systemdenken triumphierte, und Politiker allenthalben, vom amerikanische Verteidigungsminister McNamara bis zu Walter Ulbricht, die Kybernetik politisch nutzbar machen wollten. Dem korrespondierten damals makroökonomische Konzepte einer „Globalsteuerung“, und die musste unter den institutionellen Bedingungen deutscher Politik so aussehen, dass sowohl der Bund und die Gebietskörperschaften, also alle staatlichen Akteure, als auch die damals so genannten „autonomen „Gruppen“ (also die Interessenverbände) in eine ehrgeizige „konzertierte Aktion“ einbezogen und dort zu „abgestimmtem Handeln“ überredet werden sollten. Das „Wohl des Ganzen und seiner Teile“, um noch einmal das Tröger-Gutachten zu zitieren, sollte sich also aus der Einsicht in die Interdependenz der Interessen ergeben, und die traditionelle Gegenüberstellung von Gemeinwohl und Partikularwohl (oder Eigennutz) musste in dieser holistischen Perspektive letzten Endes als obsolet erscheinen. 5 Kommission für die Finanzreform, Gutachten über die Finanzreform in der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1966, Tz. 25. 6 Kommission für die Finanzreform, Gutachten über die Finanzreform in der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1966, Tz. 77. 7 Kommission für die Finanzreform, Gutachten über die Finanzreform in der Bundesrepublik Deutschland. Stuttgart 1966, Tz. 544.
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Gerhard Lehmbruch
Unser Ausgangspunkt wäre nun also der Umstand, dass dieses technokratische Konzept des „kooperativen Föderalismus“ offenkundig Schiffbruch erlitten hat, und das wirft dann die Frage auf, ob der Bundesstaat nicht eine neue institutionelle Architektur braucht – eine Architektur, der wohl auch ein verändertes Gemeinwohlverständnis korrespondieren müsste. Denn in dem Maße, in dem die Steuerungskonzepte der sechziger Jahre in Frage gestellt wurden, haben sich auch die Konturen jener holistischen Gemeinwohlsemantik zunehmend verwischt. In den siebziger Jahren hatte vor allem die Politikwissenschaft begonnen, die zunächst so euphorische Bewertung der Bundesstaatsreformen der sechziger Jahre zurechtzurücken. Sie begann bekanntlich, die im Anschluss an das Tröger-Gutachten von der großen Koalition eingeleiteten bundesstaatlichen Praktiken unter dem Begriff der „Politikverflechtung“8 kritisch zu erforschen. Das Novum dieser Praktiken sah sie in einer perfektionierten Entscheidungsverflechtung zwischen Bund und Ländergesamtheit, die sich zwangsläufig durch hohe Konsensschwellen auszeichnete. (Darin unterschied sie sich vom „kooperativen Föderalismus“ der USA und auch von den Praktiken, die sich zuvor schon seit den fünfziger Jahren in der Bundesrepublik ausgebildet hatten.) Das Urteil dieser Forschung fiel zwar keineswegs pauschal negativ aus. Aber sie wies auf vielerlei nicht antizipierte Folgewirkungen des neuen Steuerungsmodus hin, beispielsweise auf die der Politikverflechtung eigentümliche vertikale Segmentierung (die berühmten Ressortbruderschaften), aber auch auf das Versagen der horizontalen Koordinierung, die diese Segmentierung eigentlich hatte überbrücken sollen, oder auf das Phänomen der „Überverflechtung“ in wichtigen Politikfeldern, die zu eigentümlichen Fehlallokationseffekten führe. Damit wurde dann der holistisch gewendete Gemeinwohlbeitrag, den die Tröger-Kommission für den kooperativen Föderalismus reklamiert hatte, in seiner Bedeutung erheblich in Frage gestellt. Und solch eine zurückhaltende Bewertung hat sich seither wohl weitgehend durchgesetzt. Inzwischen hat sich aber der Schwerpunkt der kritischen Föderalismusdiskussion weiter verschoben: Seit im Laufe der achtziger Jahre die Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat wieder auseinander fielen9, konzentrierte sich die Kritik nicht mehr primär auf die Gemeinschaftsaufgaben, 8
Fritz W. Scharpf/Bernd Reissert/Fritz Schnabel, Politikverflechtung: Theorie und Empirie des kooperativen Föderalismus in der Bundesrepublik, Kronberg/Ts. 1976. 9 Gerhard Lehmbruch, Parteienwettbewerb im Bundesstaat: Regelsysteme und Spannungslagen im politischen System der Bundesrepublik Deutschland, 3. Aufl., Wiesbaden 2000, S. 162–172.
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sondern in wachsendem Maße auf die Domänenabgrenzung zwischen Bund und Ländern im Gesetzgebungsprozess und die Mitwirkung der Länder an der Bundesgesetzgebung. Zudem setzten im Zeichen knapper werdender Staatsfinanzen die finanzpolitischen Verteilungskonflikte das bundesstaatliche System unter zusätzlichen Stress, und nach der deutschen Vereinigung verschärften sich diese Auseinandersetzungen ganz erheblich. Zwar hatten sich die Basisstrukturen des deutschen Föderalismus kaum verändert, aber angesichts stark gestiegener Problemlasten und rückläufiger Ressourcen erschienen die Problemlösungsfähigkeit ebenso wie die Integrationsfähigkeit der föderativen Institutionen immer problematischer. Das wurde dann zum Ursprung der anhaltenden Diskussion über eine Bundesstaatsreform. In diesem Zusammenhang hat auch die Vokabel „kooperativer Föderalismus“ jene Bedeutungsausweitung erfahren, von der schon die Rede war. Es liegt nahe, sie auch auf den Verbundföderalismus anzuwenden, der sich aus dem Prinzip der Länderexekutive in Zusammenhang mit der Mitwirkung der Länder an der Gesetzgebung des Bundes ergibt. In den Mittelpunkt der Kritik tritt hier zunehmend die fortschreitende Verlagerung der Gesetzgebungstätigkeit von den Ländern auf den Bund. Weil damit aber – wegen der eigentümlichen Austauschlogik des „Beteiligungsföderalismus“ – eine stetige Zunahme des Anteils zustimmungspflichtiger Gesetze verbunden ist, resultiert daraus – so die heute vorherrschende Perzeption – eine zunehmende Blockadegefahr, die für den Immobilismus der deutschen Politik verantwortlich gemacht und als gemeinwohlabträglich gesehen wird. Den Begriff des „kooperativen Föderalismus“ so weit zu fassen, sozusagen synonym mit Verbundföderalismus, ist in meiner Sicht insofern nicht falsch, als die Innovationen der sechziger Jahre in einer eigentümlichen Kontinuität mit dem älteren deutschen Föderalismusmodell standen. Und auch in der holistischen Gemeinwohlrhetorik der Tröger-Kommission meine ich eine verborgene Kontinuität mit jenem Gebrauch des Gemeinwohltopos zu entdecken, wie er uns im älteren deutschen Bundesstaatsdiskurs begegnet. In diesem älteren Sprachgebrauch werden nämlich wie in einem Brennglas die eigentümlichen kulturellen Orientierungen greifbar, die dann auch zu dauerhaften institutionellen Weichenstellungen geführt haben.
II. Die Beharrungskraft unitarischer Gemeinwohlreferenzen im deutschen Bundesstaatsdiskurs Erlauben Sie mir an dieser Stelle, mit einer Zwischenbemerkung die Verbindung zu der neuen Diskussion über Gemeinwohl herzustellen, die sich seit den neunziger Jahren entwickelt hat. In seiner sehr nützlichen Stilisierung hat Markus Jachtenfuchs die Grundpositionen, die hier in mancherlei
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Varianten auftauchen, auf drei unterscheidbare Begriffsverwendungen reduziert: Die erste charakterisiert er als eine „objektivistische Sichtweise, dass der substantielle Gehalt dessen, was unter Gemeinwohl verstanden wird, unabhängig von den Präferenzen der Mitglieder des Gemeinwesens eindeutig und richtig bestimmbar ist“. Es gehört sicher zu den Ergebnissen der laufenden Diskussion, dass ein solcher Gemeinwohlbegriff heute prinzipiell nicht mehr vertreten werden kann. Es bleibt also die Wahl zwischen zwei alternativen „Sichtweisen“: In der einen ist das Gemeinwohl eng an jene individuellen Präferenzen gebunden und stellt sich in der einen oder anderen Weise als ihre „Schnittmenge“ dar. In der anderen sind diese Präferenzen der argumentativen Auseinandersetzung zugänglich und wandelbar. Entscheidend dafür, wie eine solche deliberative Gemeinwohlbestimmung funktioniert, ist der institutionelle Rahmen. Ich gehe hier von einem solchen deliberativen Gemeinwohlbegriff aus, der Gemeinwohl als eine soziale Konstruktion behandelt, die aus gesellschaftlichen Konsensbildungsprozessen hervorgeht10. Unser Problem ist nun, wie dieser gesellschaftliche Konsensbildungsprozess im Bundesstaat organisiert wird. Dabei liegt die Crux meiner Themenstellung darin, dass im deutschen Bundesstaat heute der institutionelle Rahmen nicht mehr unbezweifelt vorgegeben ist. Vielmehr steht ja eben dies zur Diskussion, ob die institutionelle Ordnung des Bundesstaates nicht Fehlentwicklungen erfahren hat, die eine deliberative Konsensbildung über Gemeinwohl nicht mehr ausreichend gestatten. Die jetzt so viel beschworene Gemeinwohlermittlung durch „Prozeduralisierung“ und „Kompetenzialisierung“ mit den ihnen zugeschriebenen Rationalitätsgewinnen11 bringt uns dabei nicht unbedingt weiter. Denn es werden ja gerade die geltenden Prozeduren und Kompetenzzuweisungen unter Gemeinwohlaspekten in Frage gestellt. Unser Problem ist somit die Zuordnung von Gemeinwohlzuständigkeit im deutschen Bundesstaatsdiskurs. Und hier kann man zunächst anknüpfen an die historische Semantik der Gemeinwohlauslegung, derer sich vor allem die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften unter der Federführung von Herfried Münkler angenommen hat12. 10 Markus Jachtenfuchs, Versuch über das Gemeinwohl in der postnationalen Konstellation, in: Gunnar Folke Schuppert/Friedhelm Neidhardt (Hrsg.), Gemeinwohl – Auf der Suche nach der Substanz, WZB-Jahrbuch 2002, Berlin 2002, S. 367–385, 367 f. 11 Gunnar Folke Schuppert, Gemeinwohl, das – Oder: Über die Schwierigkeiten, dem Gemeinwohlbegriff Konturen zu verleihen, in: Gunnar Folke Schuppert/Friedhelm Neidhardt (Hrsg.), Gemeinwohl – Auf der Suche nach der Substanz, WZBJahrbuch 2002, Berlin 2002, S. 19–64, 27. 12 Herfried Münkler/Harald Bluhm (Hrsg.), Gemeinwohl und Gemeinsinn: historische Semantiken politischer Leitbegriffe, Berlin 2002. Herfried Münkler/Karsten
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Wir haben aus dieser Forschung unter anderem gelernt, dass die deutsche Gemeinwohlrhetorik seit dem 19. Jahrhundert eine prononciert etatistische Färbung angenommen hat. Genauer gesagt: Es war in erster Linie der Nationalstaat, der zur Bezugseinheit des Gemeinwohls wurde: Gemeinwohl wird also seit dem 19. Jahrhundert sowohl etatistisch als auch nationalstaatlich definiert. Die Gemeinwohldiskussion der letzten Jahre hat natürlich viel damit zu tun, dass diese früher so selbstverständliche Zuweisung der Gemeinwohlzuständigkeit an den Staat, und zwar den Nationalstaat, heute fragwürdig geworden ist. Doch in der politischen Alltagssprache schlagen die hergebrachten Konnotationen immer noch deutlich durch. So hat Friedhelm Neidhardt in seiner Untersuchung des Sprachgebrauchs der überregionalen deutschen Tagespresse gezeigt, dass die Gemeinwohlzuständigkeit überwiegend immer noch (zu 55%) dem Staat zugeschrieben wird, und dass zugleich überwiegend nationale Gruppierungen als „Benefiziare“ des Gemeinwohls erscheinen13. Diese nationalstaatliche Schlagseite der deutschen Gemeinwohlrhetorik hat nun schon seit dem frühen neunzehnten Jahrhundert eigentümliche Auswirkungen für das Föderalismusverständnis gehabt. In Deutschland hat man die Gemeinwohlzuständigkeit sehr bald dem Gesamtstaat (oder „Zentralstaat“) zugeschrieben, und zwar deutlich im Gegensatz zu den Territorien oder Gliedstaaten. Diese Vorstellung wird schon im Vormärz greifbar, seitdem die deutsche Nationalbewegung die begriffliche Entgegensetzung des Nationalstaates zum so genannten „Partikularismus“ einführte14. Unter Partikularismus verstand man damals das Festhalten der Gliedstaaten des Deutschen Bundes an ihrer politischen Eigenständigkeit, und das war hochgradig negativ besetzt. Das zeigt eigentümliche Legitimitätsdefizite des deutschen Föderalismus an. „Partikularismus“ wurde insbesondere assoziiert mit dynastischer Politik, aber auch mit Bürokratismus (vor allem in bezug auf die kleinen Einzelstaaten), mit der Rheinbundpolitik der napoleonischen Zeit (die als unpatriotisch bewertet wurde), mit Kleinstaaterei. Und in der politischen Sprache des Vormärz war „Partikularismus“ insbesondere ein Antonym zu „Gemeingeist“. Die früheste Definition, die mir begegnet ist, stammt von Carl von Rotteck: „Partikularismus“ verstand er 1838 im Fischer (Hrsg.), 2002: Gemeinwohl und Gemeinsinn: Rhetoriken und Perspektiven sozial-moralischer Orientierung, Berlin 2002. 13 Friedhelm Neidhardt, Öffentlichkeit und Gemeinwohl: Gemeinwohlrhetorik in Pressekommentaren, in: Herfried Münkler/Karsten Fischer (Hrsg.), Gemeinwohl und Gemeinsinn: Rhetoriken und Perspektiven sozial-moralischer Orientierung, Berlin 2002, S. 157–175, 166, 171. 14 Theodor Schieder, Partikularismus und nationales Bewusstsein im Denken des Vormärz, in: Werner Conze (Hrsg.), Staat und Gesellschaft im deutschen Vormärz 1815–1848, Stuttgart 1962, S. 9–38.
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„Staatslexikon“ als „Mangel an Gemeingeist“, und zwar dem Gemeingeist, der den Zusammenhalt von Staatenverbindungen beleben und gewährleisten muss. In C. F. A. Hoffmanns „Vollständigem politischen Taschenwörterbuch“ von 1849 heißt es zu dem Stichwort: „. . . bei der Einigung Deutschlands sucht jede Regierung nur selbstsüchtige Zwecke zu erreichen, während zum Gemeinwohl Niemand Opfer zu bringen sich bereit zeigt“15. Dass dies tendenziell vor allem die territorialen Regierungen auszeichnete, vor allem die Mittelstaaten, aber auch manche Kleinstaaten, war sehr bald die communis opinio der liberalen Einheitsbewegung. Die Entgegensetzung von einzelstaatlichem „Partikularismus“ einerseits und „Gemeinsinn“ andererseits ist bis in die Weimarer Republik ein beliebter Topos der politischen Sprache geblieben16. Nach dem zweiten Weltkrieg ist zwar der Terminus „Partikularismus“ aus dem Sprachgebrauch zunehmend verschwunden, und das korrespondiert offensichtlich einer Aufwertung des Föderalismusbegriffs. Aber mag auch die Vokabel weitgehend außer Gebrauch geraten sein, so hat sich in der Sache der Partikularismustopos und die Zuschreibung der Gemeinwohlzuständigkeit an den Zentralstaat bis in die jüngste Zeit hartnäckig gehalten. Das geschieht insbesondere auf der Ebene der Bundespolitik und wird sehr deutlich durch ein Zitat des Bundeskanzlers Schröder aus dem Jahre 1998 belegt (auf dem Gewerkschaftstag der IG Metall): „Diese Regierung hat nicht die Aufgabe, die einzelnen Forderungen aus den Verbänden zu addieren und durchzusetzen, sondern sie hat die Aufgabe, das Gemeinwohl in Deutschland sozial gerecht 15 C. F. L. Hoffmann, Vollständiges politisches Taschenwörterbuch: ein Handbuch zur leichten Verständigung der Politik, der Staatswissenschaften und Rechtsurkunden, sowie überhaupt eine ausführliche Erklärung aller politischen und socialen Fragen, constitutionellen und staatsrechtlichen Begriffe, Ausdrücke, Parteinamen, und Fremdwörter, Leipzig 1849; Irmline Veit-Brause, Partikularismus, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhard Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Band 4, Stuttgart 1978, S. 735–766. 16 Vor allem während der scharfen Konflikte nach dem ersten Weltkrieg wurde sie mit neuer Schärfe vorgetragen, wie etwa die Polemik eines badischen Publizisten illustriert: „Denn dort (sc. außerhalb von Preußen, GL.) herrscht der Partikularismus, der eifersüchtig das Eigene festhält, . . . der keinen Gemeinsinn kennt und ihn auch gar nicht pflegen will; dem aus diesen und noch vielen anderen, vor allem selbstsüchtigen und allzu selbstgefälligen Gründen der Rivalität gegenüber einem Größeren der unbedingte Sinn für das Nationale fehlt . . .“; siehe Manfred Eimer, Zum Problem des Einheitsstaates, Dresden 1921, S. 80. Und fünf Jahre später meinte der Historiker Johannes Haller zwar, es sei nicht mehr üblich, vor der Gefahr des Partikularismus zu warnen, weil er nicht mehr gefährlich scheine – eine Krankheit werde aber nicht dadurch geheilt, dass man sie verheimliche; der Partikularismus repräsentiere immer noch das „Sonderbewusstsein und Sonderinteresse der deutschen Staaten“; siehe Johannes Haller, Partikularismus und Nationalstaat. Vortrag, gehalten auf der 55. Tagung des Vereins Deutscher Philologen und Schulmänner in Erlangen am 1. Oktober 1925 mit einem Nachwort, Stuttgart 1926, S. 1, 12.
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und wirtschaftlich stark zu organisieren. Das ist der Leitfaden – nicht die Forderungen aus Interessenverbänden, Gemeinden oder einzelnen Bundesländern“17. Bezeichnenderweise scheint diese „anti-partikularistische“ Wendung des Gemeinwohltopos in der öffentlichen Meinung besonders ausgeprägt auf jenen Politikfeldern nachzuwirken, die von den Bundesländern ausdrücklich als ihr Hausgut reklamiert werden. Ganz deutlich wird das dort, wo von der Bildungspolitik die Rede ist. Wer die Tagespresse des letzten halben Jahres durchsieht, wird schnell fündig werden, wo etwa über den „PISA-Schock“, über die Diskussion über „nationale Bildungsstandards“, oder den unlängst angekündigten Ausstieg der „B-Länder“ aus der Bund-Länder-Bildungsplanung berichtet wird. Hier hatten wir es aber schon sehr früh mit einem Kernbereich der Partikularismuskritik zu tun18. Diese überlieferte Gemeinwohlrhetorik hat sich nun seit der Rezeption des Begriffes „kooperativer Föderalismus“ verändert, aber nicht notwendigerweise grundlegend gewandelt. Wenn die Tröger-Kommission „die erwünschte Vielfalt mit der notwendigen Einheit der bundesstaatlichen Kräfte zum Wohle des Ganzen und seiner Teile“ verbinden wollte, dann waren die Akzentsetzungen bezeichnend: Die „Einheit“ wurde als „notwendig“ verstanden, die Vielfalt“ hingegen bloß als „erwünscht“. Natürlich gibt es Nuancen im Sprachgebrauch je nach Position der Akteure. Repräsentanten der Länderpolitik nehmen heute in regelmäßigen Abständen auch für die Länder sehr pointiert eine Gemeinwohlzuständigkeit in Anspruch. Das kann sich bei mancher Gelegenheit so anhören, dass eine Gemeinwohlzuständigkeit von Bund und Ländern gleichsam zur gesamten Hand reklamiert wird, während andererseits das Gemeinwohl dann auch wieder einmal als Summe der „legitimen Interessen des Bundes und der anderen Gliedstaaten“ erscheinen kann19. Solche Formulierungen sind aber offensichtlich defensiv gemeint. 17 Bulletin Nr. 76 des Bundespresseamts vom 10. Dezember 1998, zitiert nach: Karsten Fischer, Das öffentliche Interesse am Privatinteresse und die „ausgefranste Gemeinnützigkeit“: Konjunkturzyklen der politischen Semantik, in: Gunnar Folke Schuppert/Friedhelm Neidhardt (Hrsg.), Gemeinwohl – Auf der Suche nach der Substanz, WZB-Jahrbuch 2002, Berlin 2002, 65–86, 77. 18 Vgl. als Beispiel aus der Reichsgründungszeit die Polemik des Tübinger Altphilologen Johannes Flach (Anon., d. i. Johannes Flach, Culturbilder aus Württemberg/von einem Norddeutschen, 4. Aufl., Leipzig 1886, S. 38), die ich an anderer Stelle ausführlicher zitiert habe; siehe Gerhard Lehmbruch, Parteienwettbewerb im Bundesstaat: Regelsysteme und Spannungslagen im politischen System der Bundesrepublik Deutschland. 3. Aufl., Wiesbaden 2000, S. 98 f. Zu den Randbereichen der Auseinandersetzung scheint dagegen – um ein aktuelles Gegenbeispiel zu nehmen – die Regelungskompetenz für den Ladenschluss zu gehören: Soweit ich sehe, ist auch unter den lautstarken Deregulierungsgegnern niemand auf den Gedanken gekommen, die Forderung nach Übertragung dieser Kompetenz an die Länder als partikularistisch und gemeinwohlabträglich zu brandmarken.
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III. Pfadabhängigkeit und kulturelle Grundorientierungen in der Entwicklung des deutschen Bundesstaates In den unitarischen Konnotationen der Gemeinwohlrhetorik, wie sie uns ein Jahrhundert lang im deutschen Bundesstaatsdiskurs begegnen, tritt ein eigentümliches Föderalismusverständnis zutage, das den deutschen Föderalismus vor allem von den alten demokratischen Bundesstaaten – wie der Schweiz und den USA – deutlich unterscheidet. Dieses Föderalismusverständnis hat nun entscheidende Bedeutung bekommen für die institutionelle Entwicklungslogik, die den deutschen Bundesstaat seit mehr als anderthalb Jahrhunderten (nämlich seit 1848) auszeichnet. Wir müssen aber diese eigentümliche Entwicklungslogik verstehen, wenn wir die Veränderungsspielräume für eine Bundesstaatsreform realistisch einschätzen wollen. In diesem Zusammenhang sollten wir einer alten Einsicht Aufmerksamkeit schenken, die wir Tocqueville verdanken. In „L’Ancien Régime et la Révolution“ hat er dargelegt, dass die Zentralisierung des französischen politischen Systems nicht etwa – wie seine konservativen Zeitgenossen unter dem Einfluss von Edmund Burke und anderen meinten – ein Werk der Revolution gewesen ist, dass die Revolution hier vielmehr nur auf einem Pfad weiterschritt, den das Ancien Régime schon längst eingeschlagen hatte20. Man wird aus diesen Beobachtungen Tocquevilles über den französischen 19 Belege für beides finden sich in den Reden, die die Bundesratspräsidenten bei der Übernahme ihres Amtes zu halten pflegen und in denen ein Anteil der Länder an der Gemeinwohlzuständigkeit gerne demonstrativ hervorgehoben wird. Als Beispiel für die erste Variante mag die Ansprache von Bundesratspräsident Kurt Beck in der 756. Sitzung des Bundesrates am 10. November 2000 dienen: „Zum Zweiten stärkt der Föderalismus die demokratische Legitimation, indem er die Länder in die Ausübung staatlicher Gesamtverantwortung einbezieht und ihnen eine Teilhabe an fast allen bedeutsamen Entscheidungen garantiert. Diese Teilhabe – und das verdient besonders hervorgehoben zu werden – hat die politische Integration der Länderinteressen in das Gemeinwohl nie in Frage gestellt, sondern im Gegenteil den inneren Zusammenhalt auch in schwierigen Zeiten und bei strittigen Fragen stets gefestigt.“ Eine andere Zuspitzung bekam dieser Gemeinwohlbegriff hingegen in der Antrittsrede von Bundesratspräsident Hans Eichel in der Sitzung des Bundesrates am 6. November 1998: „Die plurale Vielfalt im Föderalismus bleibt aber stets dem Gemeinwohl, zu denen (sic! GL.) die legitimen Interessen des Bundes und der anderen (sic!) Gliedstaaten gehören, verpflichtet.“ Interessant ist übrigens auch, wie Eichel hier fortfuhr: „In diesem Sinne ist der Pluralismus staatlicher Gestaltungsformen im Föderalismus etwas anderes als Wettbewerb unter den Ländern. Die Übertragung des aus der Ökonomie stammenden Modells des Wettbewerbs auf das Zusammenleben von Staaten, insbesondere von Gliedstaaten eines Bundes, erschien mir immer als problematisch. Gewiss soll es einen Wettbewerb von Ideen und Gestaltungsmodellen geben, aber das ökonomische Modell des Wettbewerbs kann kein tragendes Prinzip des Föderalismus sein.“ (Pressemitteilung des Bundesrats 185/ 1998 vom 6. November 1998).
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Fall hinaus die weiterreichende Hypothese ableiten können, dass die institutionellen Arrangements für die Verteilung politischer Macht im Raum eine überaus starke Beharrungskraft aufweisen können. In der von Tocqueville beobachteten Kontinuität begegnet uns ein Phänomen, das wir heute als die „Pfadabhängigkeit“ von Entwicklungsprozessen bezeichnen. Damit ist Folgendes gemeint: Institutionelle Konfigurationen wie die Zentralisierung des französischen politischen Systems – oder eben auch die eigentümliche Konstruktion des deutschen Bundesstaates – resultieren aus entwicklungsgeschichtlichen Weichenstellungen, die in bestimmten Entwicklungsabschnitten unter ganz bestimmten Ausgangsbedingungen erfolgt sind, danach aber hohe Persistenz bekommen. Veränderungen sind in der Folge zwar durchaus vorstellbar, aber in der Regel nur insoweit, als sie sich innerhalb eines bestimmten Entwicklungspfades halten – sozusagen eines institutionellen Korridors. Weil ich das an anderer Stelle näher ausgeführt habe21, will ich hier nur in aller Kürze die Grundgedanken referieren, die für unsere Fragestellung wichtig sind. Die Sozialwissenschaft hat den Begriff der „Pfadabhängigkeit“ aus der Wirtschaftsgeschichte übernommen, wo man ihn vor allem verwendet hat, um offenbar irreversibel gewordene technologische Entwicklungspfade sozusagen aus Marktversagen zu erklären. Pfadabhängigkeit soll aber nicht einfach nur heißen, dass Entscheidungen der Vergangenheit Einfluss auf zukünftige Entwicklungen haben22. Gemeint ist vielmehr, dass Technologien, die in einer eigentümlichen historischen Ausgangssituation entstanden sind, dermaßen marktbeherrschend werden, dass technisch überlegene Lösungen nur noch geringe Chancen haben23. Die Resistenz pfadabhängiger Technologien gegen möglicherweise technisch überlegene Lösungen wird in der 20 Die „centralisation administrative“ sei „la seule partie de la constitution politique de l’ancien régime qui ait survécu la Révolution, parce que c’était la seule qui pût s’accommoder de l’état social nouveau que cette Révolution a créé“, siehe Alexis de Tocqueville, L’ancien régime et la révolution. Paris 1952, I, S. 107 – Bekanntlich ist die Zentralisierungsthese dann in der Verfassungsgeschichtsschreibung zu einem zentralen Element des Absolutismusbegriffs geworden. Nun wird zwar das historiographische Konstrukt „Absolutismus“ in der neueren Frühneuzeitforschung zunehmend in Frage gestellt, aber das trifft eher jene historische Stilisierung als den Kern der Tocqueville-These über die Genesis der Zentralisierung als distinktes Merkmal der französischen Verfassungsentwicklung. 21 Gerhard Lehmbruch, Der unitarische Bundesstaat in Deutschland: Pfadabhängigkeit und Wandel, in: Arthur Benz/Gerhard Lehmbruch (Hrsg.), Föderalismus. Analysen in entwicklungsgeschichtlicher und vergleichender Perspektive, Wiesbaden 2002, S. 53–110. 22 Insofern ist der gerne zitierte Satz von Paul David, „history matters“, möglicherweise missverständlich; siehe Paul A. David, Clio and the economics of QWERTY, in: American Economic Review, Papers and Proceedings 75 (1985), S. 332–337.
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mikroökonomischen Theorie der Pfadabhängigkeit unter anderem damit erklärt, dass die Opportunitätskosten des Wechsels – etwa zu einem überlegenen Betriebssystem für den PC – zu hoch sind, weil beispielsweise netzwerkartige Abhängigkeiten von anderen Nutzern vorliegen24. In der sozialwissenschaftlichen Adaption der Theorie spricht man davon, dass pfadabhängige Institutionen, die unter kontingenten Ausgangsbedingungen entstanden sind, sich in der Folge selbst reproduzieren. Das wird dann der Fall sein, wenn die Kosten tief greifender institutioneller Veränderungen zu hoch erscheinen. So können beispielsweise komplexe institutionelle Verflechtungen überaus resistent gegen tiefere Eingriffe sein, weil es nicht nur in einem solchen verflochtenen System zahlreiche „Vetopunkte“ gibt, von denen einzelne Akteure der Veränderung Widerstand leisten können. Allein schon der Koordinationsaufwand kann prohibitiv hoch werden, wenn es um mehr als nur inkrementelle Veränderungen geht. Die Pfadabhängigkeit politischer Institutionen kann zudem stark durch Machtkonstellationen bestimmt sein. So können institutionalisierte Machtgleichgewichte zwischen einer Mehrzahl von Akteuren eine besonders hohe Veränderungsresistenz aufweisen, weil allen Beteiligten die Konfliktkosten zu hoch erscheinen, die bei einer Infragestellung des Gleichgewichts zu erwarten sind25. In der Rezeption der Theorie der Pfadabhängigkeit in Politikwissenschaft und Soziologie wird nun auch auf die stabilisierende Rolle von kognitiven Faktoren und Wertsystemen hingewiesen26. Das ist ohne Zweifel ein wichti23 Das berühmteste Beispiel ist die Schreibmaschinentastatur, ein neueres wäre das PC-Betriebssystem „Windows“. In der mikroökonomischen Fassung der Theorie bei Paul David und Brian Arthur wird bei Pfadabhängigkeit das neoklassische Gesetz fallender Grenzerträge außer Kraft gesetzt; auch relativ ineffiziente Technologien können vielmehr steigende Erträge erwirtschaften. 24 David und Arthur sprechen hier von „Koordinierungseffekten“: Die Individuen ziehen dabei um so höheren Nutzen aus einer bestimmten Tätigkeit, je mehr andere Individuen die selbe Option wählen. Ein Beispiel aus jüngster Zeit waren die Widerstände aus den Abgeordnetenbüros des Deutschen Bundestages gegen das Vorhaben der Bundestagsverwaltung, die Datenverarbeitung des Bundestages von Windows auf Linux umzustellen. Koordinationseffekte begegnen insbesondere bei Technologien, die an eine komplexe Infrastruktur gebunden sind und sich infolgedessen durch positive Netzwerkexternalitäten auszeichnen (zum Beispiel das Telefonnetz). – Eine weitere Möglichkeit sind Lerneffekte: Wenn Akteure gelernt haben, mit einer bestimmten Institution umzugehen, dann nimmt die Effizienz dieser Institution zu. 25 Die Stabilität des Flächentarifvertrags in der alten Bundesrepublik über ein halbes Jahrhundert deutscher Tarifpolitik hinweg ist ein gutes Beispiel. Die Krise dieser Institution in Ostdeutschland lässt sich dagegen nicht ins Feld führen; sie belegt vielmehr nur das Scheitern des Institutionentransfers von West nach Ost, das ich in meinen einschlägigen Arbeiten schon vor Jahren prognostiziert hatte. 26 Paul Pierson, Increasing returns, path dependence and the study of politics, in: American Political Science Review 94 (2) 2000, S. 251–267; James Mahoney, Path
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ger Aspekt, aber so lange Kognitionen und Werte nur als Reproduktionsfaktoren gelten, wird ihre theoretische Relevanz unterschätzt. Vielmehr müssen wir ihrer Rolle im Prozess der Institutionengenese besondere Aufmerksamkeit widmen. Vereinfachend lässt sich das so begründen: Wenn Staaten in ihrer Verfassungsgeschichte sich für ein bestimmtes institutionelles Arrangement entschieden, dann war das nie nur ein sozialtechnologischer Kalkül oder eine Erfindung von politischen Architekten. Solchen institutionellen Grundentscheidungen lagen vielmehr immer auch bestimmte Überzeugungen und Wertungen zugrunde, die sich zu Wirklichkeitsdeutungen verdichtet hatten. Und die Persistenz bestimmter institutioneller Arrangements im deutschen Bundesstaat verdankt sich, wenn man genauer hinschaut, in einem nicht geringen Maße der Dauerhaftigkeit von solchen Wirklichkeitsdeutungen, die den Charakter tief verwurzelter kultureller Orientierungen angenommen haben und als solche oft gar nicht mehr reflektiert werden. Dass die eigentümlichen Merkmale des deutschen Bundesstaates in ganz starkem Maße auf die institutionellen Weichenstellungen der Bundesstaatsgründung im 19. Jahrhundert zurückgehen, ist keine neue Feststellung. Aber in der jüngsten Diskussion taucht oft genug die holzschnittartige Vorstellung auf, dass es da einen Architekten des Bundesstaates gegeben hat, nämlich Bismarck (von dem man zumindest dies weiß, dass er alles andere als ein Demokrat war), und dass es nun darauf ankäme, die Bismarcksche Architektur gründlich umzubauen. Solche Vereinfachungen können aber in die Irre führen. Gewiss hat Bismarck den Bundesstaat begründet und die Verfassungskonstruktion ganz wesentlich bestimmt. Doch das heißt keineswegs, dass er die zentralen institutionellen Weichenstellungen sozusagen im Alleingang vornehmen konnte. Sein Erfolg beruhte vielmehr darauf, dass er mächtige kulturelle Grundorientierungen des deutschen Bürgertums aufgenommen und für die damit verbundene institutionelle Problematik eine überlegene Lösung gefunden hat, die Komponenten unterschiedlicher Herkunft mit einander verband. Die wichtigste dieser kulturellen Grundorientierungen nun, ohne die sich die Entwicklung des deutschen Bundesstaates nicht verstehen lässt, ist die ganz selbstverständlich gewordene Überzeugung, dass Rechtseinheit und Wirtschaftseinheit – beide eng zusammengehörend – gewissermaßen die Basisvoraussetzungen für einen gemeinwohlförderlichen Bundesstaat sind. Diese Überzeugung geht auf die deutsche Nationwerdung im 19. Jahrhundert zurück und bekommt ihre spezifische institutionelle Dynamik aus der Auseinandersetzung der deutschen Einheitsbewegung mit den vorgefundenen institutionellen Restriktionen der Nationalstaatsbildung. Ich möchte das dependence in historical sociology, in: Theory and Society 29 (4) (2000), S. 507– 548.
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hier zunächst kurz umreißen, weil wir bis zu diesen tief verwurzelten kulturellen Orientierungen zurückgehen müssen, wenn wir die Frage nach möglichen Spielräumen einer Bundesstaatsreform fundiert erörtern wollen27. Man kann die Genesis dieser Orientierungen auf den Satz zuspitzen, mit dem Thomas Nipperdey seine „Deutsche Geschichte 1800–1866“ eingeleitet hat: „Am Anfang war Napoleon.“ Nipperdey bezog das zunächst auf die Erfahrungen der Deutschen in den „ersten eineinhalb Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, in denen die Grundlagen eines modernen Deutschland gelegt worden sind“28. Aber diese Erfahrungen hatten ihre Auswirkungen über Jahrzehnte hinweg. Das gilt insbesondere für den großen Einfluss des napoleonischen Staatsmodells, den man heute nicht mehr wird bestreiten können. (Die Sonderwegsvorstellungen, wie sie bis hin zu Ernst Rudolf Huber vertreten worden sind, dürften wohl weitgehend überwunden sein.) Dieser Modellcharakter des napoleonischen Staates hat sich damals zunächst in den neuen Staatsbildungen seit dem Ende des Alten Reiches niedergeschlagen, vor allem in deren ausgeprägter Tendenz zur Zentralisierung und Uniformierung. Aber gewissermaßen im Gegenzug prägte er dann zunehmend auch das Denken der entstehenden nationalen Einheitsbewegung. Gewiss gab es zunächst den „föderativen Nationalismus“, den Dieter Langewiesche in der Geschichte der Turner und Sänger ausgemacht hat29. Aber wo die Einheitsbewegung institutionell-konstruktiv werden wollte, geriet sie in ein Dilemma, das man als das fundamentale institutionelle Dilemma des deutschen Föderalismus im 19. Jahrhundert bezeichnen kann. Dieses Dilemma ergab sich daraus, dass die territoriale Staatsbildung einen deutlichen Zeitvorsprung vor der deutschen Nationalstaatsbildung bekommen hatte. Wem Deutschland als Nationalstaat vorschwebte, der in seiner politischen Leistungsfähigkeit mit dem französischen Modell gleichziehen konnte (und dieses Modell wurde ja zugleich der eine große außenpolitische Konkurrent), der konnte realistischerweise nicht den zentralisierten Einheitsstaat anvisieren, wie das im Ergebnis die italienische Einheitsbewegung getan 27 Stefan Oeter hat den Niederschlag dieser Grundorientierungen in seiner Untersuchung über die Entwicklung der deutschen staatsrechtlichen Bundesstaatstheorien kenntnisreich dargestellt; siehe Stefan Oeter, Integration und Subsidiarität im deutschen Bundesstaatsrecht: Untersuchungen zur Bundesstaatstheorie unter dem Grundgesetz, Tübingen 1998. Er versteht sie allerdings nur als ein „bundesstaatstheoretisches Vorverständnis der deutschen Verfassungsrechtslehre“, das man eben ideologiekritisch in Frage stellen müsse, um die Verfassungsrechtslehre auf den rechten Pfad zurückzuführen. Dabei wird m. E. das Eigengewicht der Staatsrechtslehre für die Institutionenentwicklung erheblich überschätzt. 28 Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866: Bürgerwelt und starker Staat, 3. Auflage, München 1985, S. 11. 29 Dieter Langewiesche, Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa, München 2000.
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hat. Dafür war in Deutschland das Eigengewicht der Territorialstaaten zu groß, die aus den Neugliederungsprozessen von Napoleon bis zum Wiener Kongress hervorgegangen waren30. Als funktionales Äquivalent zum Einheitsstaat erschien daher der liberalen Einheitsbewegung die Kombination von föderativem Staatsaufbau und Rechtseinheit. Und hier bildete sich dann jene kulturelle Orientierung aus, die sehr bald den Namen „Unitarismus“ bekam und für die Entwicklung des deutschen Föderalismus eine zentrale Bedeutung bekommen hat. Der Begriff des „unitarischen Bundesstaates“ ist ja 1962 von Konrad Hesse geprägt worden. Aber das war nicht, wie man mitunter meint, eine späte Phase in der Entwicklung des deutschen Bundesstaates, sondern er war ihr von vornherein einprogrammiert. Das erwähnte Basisdilemma des deutschen Föderalismus deutete sich schon 1814 in einer Quelle an, die aus der Vorgeschichte des BGB geläufig ist. Ich meine die berühmte Programmschrift von Anton Friedrich Justus Thibaut: „Über die Notwendigkeit eines allgemeinen bürgerlichen Rechts für Deutschland“. Thibaut wird in diesem rechtsgeschichtlichen Zusammenhang in der Regel wegen der berühmtem Kontroverse mit Savigny erwähnt, aber er tritt dann in der Regel gegenüber der damals so einflussreich gewordenen Historischen Rechtsschule zurück. Weniger geläufig ist deshalb der politische Aspekt des Programms von Thibaut. Hier deutet sich nämlich auch schon jenes eigentümliche institutionelle Dilemma an, das die deutsche nationale Einheitsbewegung schließlich eine unitarisch-föderative Wendung nehmen ließ. Ich zitiere: „Ich bin . . . der Meinung, dass unser bürgerliches Recht (worunter ich hier stets das Privat- und Kriminalrecht und den Prozess verstehen werde) eine gänzliche schnelle Umänderung bedarf und dass die Deutschen nicht anders in ihren bürgerlichen Verhältnissen glücklich werden können, als wenn alle deutschen Regierungen mit vereinten Kräften die Abfassung eines, der Willkür der einzelnen Regierungen entzogenen, für ganz Deutschland erlassenen Gesetzbuchs zu bewirken suchen.“31
Was immer Thibaut im einzelnen kritisch zum Code Napoléon gesagt haben mag, die beginnende deutsche Einheitsbewegung war schon hier offensichtlich stark durch das Modernisierungsmodell des napoleonischen Frankreich beeindruckt, wobei das nicht zuletzt als ein Modell der Rechtseinheit verstanden wurde. Aber das napoleonische Modell war eben auch das Modell eines hochentwickelten bürokratischen Verwaltungsstaates, und 30
Siehe dazu jetzt sehr anregend: Daniel F. Ziblatt, Constructing a federal state: political development, path dependence, and the origins of federalism in modern Europe, 1815–1871, Berkeley 2002. 31 Hier zitiert nach der späteren Neuausgabe: Anton Friedrich Justus Thibaut, Über die Nothwendigkeit eines allgemeinen bürgerlichen Rechts für Deutschland, Neue Ausgabe, Heidelberg 1840, S. 6.
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dieses Modell hatte sich schon auf der Ebene der Territorien durchgesetzt. In Frankreich und in anderen westeuropäischen Ländern fielen die Entstehung des modernen Verwaltungsstaates und die Bildung des Nationalstaates zusammen, während diese beiden Entwicklungssequenzen in Deutschland auseinander fielen. Dass die Territorien in Deutschland zum Träger der Staatsbildung geworden waren und sich nach dem Wiener Kongress als Staaten neu konsolidierten, wurde zum Dilemma der deutschen Nationalbewegung. Als Thibaut schrieb, war der Nationalstaat noch keine realistische Vision. Dieter Langewiesche hat, wie ich schon sagte, in seinen neueren Arbeiten die Einheitsbewegung des Vormärz als einen „föderativen Nationalismus“ beschrieben, der sich die „Einheit der deutschen Nation“ ohne straff organisierten Nationalstaat vorstellte32. In diesen Zusammenhang passte offensichtlich auch Thibauts Vorstellung, dass sich die Rechtseinheit durch kooperatives Aushandeln zwischen den Regierungen herstellen ließe. Nun hat der Deutsche Bund vor dieser Erwartung bekanntlich versagt. Statt dessen ist er vor allem als das kooperative Repressionsregime der Karlsbader Beschlüsse in das kollektive Gedächtnis des deutschen Bürgertums eingegangen. Und dieser frustrierenden kollektiven Erfahrung entsprangen dann die eigentümlichen Konnotationen des Gemeinwohlbegriffs, die das deutsche Föderalismusverständnis für lange Zeit bestimmen sollten. Ich erwähnte schon, dass die Gemeinwohldiskussion der letzten Jahre sehr klar herausgearbeitet hat, wie sich hier der Gemeinwohlbegriff an den Nationalstaat geheftet hat. Und daraus ergab sich dann in Deutschland jene eigentümliche Entgegensetzung zu der vorgefundenen Form von territorialer Staatlichkeit, die sich im Begriff „Partikularismus“ verdichtete. Für die Genesis des deutschen Bundesstaates sind also Wirklichkeitsdeutungen wichtig geworden, die ihre kulturelle Hegemonie im Kontext von Nationwerdung und Nationalstaatsbildung errungen haben. Im deutschen Bürgertum hat sich damals – in einer ganz bestimmten weltpolitischen Situation – jene unitarische Grundorientierung durchgesetzt, die auch im Gemeinwohlverständnis des Bundesstaatsdiskurses zum Ausdruck kam. Aber die Realisierung ihrer Ziele stieß auf jenes eigentümliche Dilemma, das aus dem institutionellen Erbe des deutschen Weges zur Staatsbildung resultierte: Anders als in Italien gab es schon auf der subnationalen, territorialen Ebene die sogenannten Mittelstaaten (also vor allem Bayern, Württemberg, Baden und Sachsen) als leistungsfähige politische Systeme mit einer professionellen Verwaltung und einer parlamentarischen Repräsentation der bürgerlichen Öffentlichkeit. Sie ließen sich nicht einfach verdrängen. Die Bundesstaatskonstruktion von 1867, die man als das gemeinsame Kind des libera32 Dieter Langewiesche, Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa, München 2000, S. 55–79.
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len Bürgertums und Bismarcks charakterisieren kann, hatte nun zum einen eine ausreichende Passgüte mit dem Unitarismus als der kulturellen Grundorientierung des deutschen Bürgertums, und zum andern schuf sie ein stabiles Machtgleichgewicht, das die Organisationsdomäne der Länder im Kern intakt ließ. So erschien sie damals als eine überlegene Lösung jenes institutionellen Dilemmas, die konkurrierende verfassungspolitische Konzepte aus dem Feld schlug. Und sie hat sich dann in einem selbstverstärkenden Prozess so fortentwickelt, dass auch in der Folgezeit alle verfassungspolitischen Alternativen, die von Zeit zu Zeit zur Diskussion gestellt wurden, keine Chance hatten. Die überaus hohe Beharrungskraft der unitarischen Grundorientierung, wie sie auch in den Gemeinwohlreferenzen im deutschen Bundesstaatsdiskurs zum Ausdruck kommt, wurde schließlich weiter dadurch verstärkt, dass sich ein komplexes institutionelles Gefüge ausgebildet hatte, das schon wegen seines hohen internen Verflechtungsgrades zunehmend veränderungsresistent wurde. Dieser Prozess der Institutionenbildung soll jetzt umrisshaft skizziert werden. IV. Die institutionelle Grundlegung des deutschen Bundesstaates 1849–1919 als pfadabhängiger Entwicklungsprozess Es war schon davon die Rede, dass Bismarck zwar eine zentrale Rolle in der Genesis der Architektur des deutschen Bundesstaates gespielt hat, dass aber diese Architektur nicht etwa eine einsame Hervorbringung (Putbuser Diktate) darstellte. In entscheidenden Punkten waren die Verfassungsentwürfe, die er von seinen Beratern erarbeiten ließ, bekanntlich an der Paulskirchenverfassung orientiert. Dort hat die Bismarckverfassung vor allem die zentrale institutionelle Formel für das deutsche Unitarisierungsmodell entlehnt. Artikel XIII des Verfassungsentwurfes von 1849 sprach der Reichsgewalt die Gesetzgebung zu, und „ihr liegt es ob, durch die Erlassung allgemeiner Gesetzbücher über bürgerliches Recht, . . . Strafrecht und gerichtliches Verfahren die Rechtseinheit im deutschen Volke zu begründen“, wobei die Reichsgesetze den Gesetzen der Einzelstaaten vorgehen. Der Verfassungsentwurf wollte also schon damals mit deutlich unitarischer Zielsetzung die Länderlegislativen weitgehend zugunsten der Gesetzgebungsgewalt des Reichsparlaments entmachten, und faktisch gab es schon hier den Vorrang der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz des Gesamtstaates und den Grundsatz der Länderexekutive für die innere Verwaltung. Die Abgrenzung der Kompetenzen des Bundes und der Gliedstaaten, wie sie die Frankfurter Konstituante entwickelt hatte, wurde 1867 rezipiert und ist bis heute in den Grundzügen verbindlich geblieben. Das wird man daraus erklären können, dass hier eine wichtige Lösung für das eigentümliche institutionelle Dilemma der deutschen Nationalstaatsbildung gefunden wurde.
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Es ging eben darum, die kulturell bestimmte Zielsetzung der Rechtseinheit, also das unitarische Programm des liberalen Bürgertums, mit dem Interesse der Länderbürokratien an der grundsätzlichen Wahrung ihrer Organisationsdomäne vereinbar zu machen. Dem sollte die hier gefundene eigentümliche Form des deutschen Exekutivföderalismus dienen. Sie hatte den Vorzug besonderer Passgüte mit der hegemonial gewordenen kulturellen Orientierung bei gleichzeitiger Respektierung der vorgefunden Einflussdomäne der Länderverwaltungen. Die unitarisierende Dynamik in der Verfassungskonstruktion, die durch die Nationalliberalen verstärkt wurde (Amendements Bennigsen, Miquel und Lasker), hat Bismarck dabei zweifellos erkannt und zumindest in Kauf genommen. Wenn Wolfgang Mommsen die BismarckVerfassung m. E. zutreffend als einen „dilatorischen Herrschaftskompromiss“ zwischen den traditionellen Herrschaftseliten und dem aufsteigenden Bürgertum gekennzeichnet hat33, dann gilt das gerade auch für die Architektur des Bundesstaates. Bismarcks eigener Beitrag bestand nun darin, dass er auch das prozedurale Problem der Einbindung der Länder in die Rechtssetzung des Reiches löste. Die Paulskirche, die sich natürlich mit dem amerikanischen Föderalismusmodell auseinandersetzt hatte, sah sich angesichts der gefestigten Eigenstaatlichkeit der deutschen Gliedstaaten nicht in der Lage, das unverkürzte amerikanische Senatsmodell zu übernehmen (wie das ja die Schweiz 1848 getan hatte). Statt dessen versuchte sie sich mit ihrem „Staatenhaus“ an einem institutionellen Wechselbalg, der nicht funktionieren konnte. Bismarck hat dann mit dem Bundesrat eine Konstruktion eingeführt, die sich als überaus dauerhaft erweisen sollte. Bekanntlich hat er damit an eine institutionelle Tradition angeknüpft, die auf den Bundestag des Deutschen Bundes und darüber hinaus auf den Immerwährenden Reichstag zurückging, die also bis 1666 zurückreichte. Man hat ja oft die vielen institutionellen Kontinuitätsbrüche in der deutschen Geschichte hervorgehoben, aber hier haben wir – wenn wir von den Jahren der NS-Diktatur und der folgenden Besatzungszeit absehen – nun wirklich ein Beispiel von erstaunlicher institutioneller Beharrungskraft. Bismarck entschied sich für die Anknüpfung an dieses Modell natürlich nicht aus Traditionalismus, sondern aus pragmatischem Kalkül: Anders als in Italien ließ sich eben in Deutschland ein Nationalstaat nur durch die institutionelle Absicherung eines Machtgleichgewichts zwischen Reich und Gliedstaaten organisieren. Zusammen mit dem schon in Frankfurt akzeptierten Prinzip der Länderexekutive (außerhalb der dort ausdrücklich der zu bildenden Reichsverwaltung vorbehal33 Wolfgang J. Mommsen, Die Verfassung des Deutschen Reiches von 1871 als dilatorischer Herrschaftskompromiss, in: Otto Pflanze (Hrsg.), Innenpolitische Probleme des Bismarck-Reiches, München 1983, S. 195–216, 212.
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tenen Bereiche) ermöglichte die Bundesratskonstruktion die Einbindung der Länderverwaltungen in die Reichsgesetzgebung, ließ somit die Organisationsdomäne der Länder im Wesentlichen intakt und löste zugleich das Koordinierungsproblem, an dem die Paulskirche gescheitert war. Wir wissen natürlich, dass Bismarck mit der Bundesratskonstruktion ein weiteres Ziel verband: Er hat die Kompetenzen des Organs so ausgestaltet, dass dies als Bremse gegen eine Parlamentarisierung des Reiches dienen sollte. Die implizite Prämisse dieser Lösung war indes, dass es nicht zu einer Parlamentarisierung der Länder kam – wäre dies doch eingetreten, dann hätte sich der Bundesrat höchstwahrscheinlich in etwa jenes Gremium transformiert, das wir heute kennen. Bismarcks antiparlamentarische Zuspitzung der Bundesratskonstruktion brach denn auch in der finalen Legitimitätskrise seines Regierungssystems als erstes zusammen: Genau genommen wurde sie mit der Verfassungsänderung vom 28. Oktober 1918 beseitigt. Dieser Versuch, im Angesicht der militärischen Niederlage zur parlamentarischen Monarchie überzugehen, kam zwar viel zu spät, und das ganze monarchische System verschwand im Strudel der Revolution. Doch um so bemerkenswerter ist es, dass sich gerade jetzt die Einbindung der Länder durch die Bundesratskonstruktion als höchst robust erwies: Der Bundesrat überlebte zunächst unter dem Namen „Staatenausschuss“ und dann, nach der Verabschiedung der Weimarer Verfassung, als Reichsrat. Es ist eine verbreitete Legende, dass der Reichsrat der Weimarer Republik „machtlos“ gewesen sei. Er hatte zwar nur ein Einspruchsrecht gegen Gesetze, aber der Reichstag konnte einen Einspruch ja nur mit Zweidrittelmehrheit überstimmen. Und weil solch eine Mehrheit oft schwer zu mobilisieren war, musste ein möglicher Widerstand der Länder vorweg in Konsultationen ausgeräumt werden. So wurde auch der Weimarer Bundesstaat ein Verhandlungssystem. Für diese Praxis hatte nun wiederum Bismarck die Grundlage gelegt. Er hat nämlich den Bundesstaat in der Verfassungspraxis von vornherein als ein Verhandlungssystem ausgestaltet, und damit ist er eminent stilprägend geworden. Es gab ja nicht nur die formale Institution des Bundesrates, sondern der Bundesrat war ein institutioneller Kern, um den herum sich eine ausgedehnte Praxis von informellen Konsultationen zwischen Reichs- und Länderexekutiven ausbildete. Auch diese Praxis wurde dann in der Weimarer Republik fortgeführt und gewann weiter an Bedeutung. Vor allem die Finanzministerkonferenzen haben eine Vorgeschichte, die bis in die Anfänge der Bismarckschen Kanzlerschaft zurückreicht. Dass grundlegende Regelungen zur Finanzverfassung und Steuerverteilung in mehr oder weniger informellen Beratungen vorentschieden werden, bevor sich der Bundesgesetzgeber damit formell befasst, ist nicht etwa eine bedauernswerte Fehlentwicklung der neueren Zeit, und insofern greift auch die Vorstellung zu
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kurz, dieser Praxis könne durch ein „Maßstäbegesetz“ begegnet werden, das idealiter hinter einem Rawlsschen veil of ignorance entstünde. Wenn man sich die Geschichte der Finanzverfassung seit 1871 anschaut, dann zeigt sich, dass sie seit jeher in Aushandlungsprozessen zwischen Gesamt- und Gliedstaaten weiter entwickelt worden ist, und die Folgerung liegt nahe, dass es in einem Bundesstaat des Bismarckschen Typus gar nicht anders geht34. Selbst Erzberger hat – in Einklang mit der längst etablierten Praxis – seine berühmte Reichsfinanzreform erst von der Finanzministerkonferenz absegnen lassen, bevor er sie im Staatenausschuss und dann im Reichstag einbrachte. Um diesen Punkt zusammenzufassen: Jene bundesstaatliche Verfassungspraxis, die durch Aushandlungsprozesse zwischen Bund und Gliedstaaten charakterisiert ist, ist ein Erbe Bismarcks par excellence. Dieser kooperative Stil ging nun schon seit den ersten Jahren des neuen Bundesstaates Hand in Hand mit einer geradezu rasanten Unitarisierung. Und die wurde von den Ländern von Anfang an im Wesentlichen mit getragen35. Wir wissen ja, dass es in den USA bis heute immer wieder Kollisionen zwischen den Rechtsordnungen der Einzelstaaten sowie des Bundes und der Einzelstaaten nicht nur im Zivilrecht, sondern auch im Strafrecht gibt36. Wenn wir uns das einmal vergegenwärtigen, dann ist es höchst bemerkenswert, wie das neu gegründete Deutsche Reich in den ersten Jahrzehnten seines Bestehens in einem gewaltigen Unitarisierungsschub ein Ausmaß an Rechtseinheit erreicht hat, das mit den Einheitsstaaten Westeuropas weitgehend gleichzog. Das lässt sich nur daraus erklären, dass das 34 Das Maßstäbegesetz ist denn ja auch in den Grundzügen wiederum von den Ministerpräsidenten mit der Bundesregierung ausgehandelt worden, bevor es vom Bundestag abgesegnet wurde. Bernhard Vogel hat bei der Verabschiedung des Maßstäbegesetzes die diesbezüglichen Erwartungen des Bundesverfassungsgerichts mit einer der Bundesratstradition angemessenen Zurückhaltung – aber sicher nicht unzutreffend – „ein bisschen weltfremd“ genannt. 35 Heinrich Triepel, Unitarismus und Föderalismus im Deutschen Reiche. Eine staatsrechtliche und politische Studie, Tübingen 1907, S. 85–87. 36 In der spektakulären Sache des Heckenschützen von Washington, die im vergangenen Jahr so viel Raum in den Medien einnahm, hat sich die Frage des Gerichtsstandes – Virginia oder Maryland – als besonders kontrovers erwiesen, weil davon abhängt, ob der jugendliche Haupttäter mit der Todesstrafe zu rechnen hat. Und als jüngst ein Bundesgericht in Kalifornien einen Propagandisten des medizinischen Haschischgebrauchs zu Gefängnis verurteilte, haben sich anschließend Jurymitglieder darüber beklagt, dass der Richter ihnen wesentliche Informationen vorenthalten habe: die nämlich, dass der kalifornische Gesetzgeber den medizinischen Gebrauch von Haschisch unter bestimmten Bedingungen erlaube und dass der Angeklagte für seine Haschischkultur eine Lizenz der Stadtverwaltung von Oakland erhalten hatte. Vergleichbare Konstellationen würden in Deutschland unzweifelhaft – und gerade im Lichte des dem deutschen Bundesstaatsdiskurs eigenen unitarischen Gemeinwohlverständnisses – als unerträglich empfunden werden.
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unitarische Gemeinwohlverständnis der Einheitsbewegung des 19. Jh. die praktisch unbestrittene kulturelle und intellektuelle Hegemonie hatte und bis heute behauptet hat. Schon im Kaiserreich hatte, wie Heinrich Triepel 1907 schrieb, die Gesetzgebung des Reiches die Landesgesetzgebung und die Landtage zunehmend zurückgedrängt37. Als Triebkraft dahinter machte der selbe Triepel (1907, 79) „das Einheitsbedürfnis der Nation“, also die unitarische Grundorientierung aus38. Das wichtigste Instrument dafür war aber, wie man schon früh gesehen hat, das Institut der konkurrierenden Gesetzgebung nach Art. 4 RV. Und es liegt auf der Hand, dass dem von Anfang an jene Austauschlogik zugrunde lag, die man ein Jahrhundert später mit dem Begriff der Kompetenzkompensation beschrieben hat. Carl Bilfinger hat diese Logik des Beteiligungsföderalismus in den frühen Jahren der Weimarer Republik so beschrieben: „Je größer die Kompetenz des Reiches ist, desto größer das Gebiet, auf welchem der Einzelstaat, anstatt sich selbst aus eigener Macht Gesetze zu geben und zu verwalten, darauf angewiesen ist, Einfluss auf die Reichswillensbildung zu nehmen“39. Diese institutionelle Konstruktion tendierte also deutlich zur Selbstreproduktion, und dabei verstärkten sich fortschreitende Unitarisierung und fortschreitende Verflechtung wechselseitig. Das sind deutliche Merkmale eines pfadabhängigen Wachstumsprozesses. Diese Pfadabhängigkeit der bundesstaatlichen Institutionen zeigt sich schließlich aber auch in der Entwicklung der Finanzverfassung, hier freilich mit einer deutlichen Phasenverzögerung. Der Föderalismus des kaiserlichen Deutschland hat hier nämlich nie zu einer stabilen Lösung geführt, sondern kam nie über labile Kompromisslösungen hinaus. Auch die Trennung der Steuerquellen war nur ein Provisorium, das unter dem Vorbehalt des Amendement Miquel (Art. 4 II RV in Verbindung mit Art. 70) stand40. Die Geschichte der bundesstaatlichen Finanzen war vielmehr von Anfang an charakterisiert durch Verteilungskonflikte, und 37
Heinrich Triepel, Unitarismus und Föderalismus im Deutschen Reiche (Anm. 35), S. 53–60. 38 Heinrich Triepel, Unitarismus und Föderalismus im Deutschen Reiche (Anm. 35), S. 79. 39 Karl Bilfinger, Der Einfluss der Einzelstaaten auf die Bildung des Reichswillens. Eine staatsrechtliche und politische Studie, Tübingen 1923, S. 10 f. 40 Die Finanzverfassung des kaiserlichen Deutschland war nie als Trennsystem im Sinne der finanzwissenschaftlichen Modellvorstellung konzipiert; die Behauptung, die Verfassung habe den Ländern die direkten Steuern ausschließlich zugewiesen, hat man damals zutreffend als eine Uminterpretation der Verfassung charakterisiert, die sich die Länder aus durchsichtigen Gründen zurechtgelegt hatten; siehe Gustav Cohn, Betrachtungen über die Finanzreform des Reiches und über Verwandtes, Stuttgart 1913, zitiert nach Peter-Christian Witt, Die Finanzpolitik des Deutschen Reiches von 1903 bis 1913: eine Studie zur Innenpolitik des Wilhelminischen Deutschland, Lübeck 1970, S. 23.
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da standen zunehmend das Reich einerseits, Preußen andererseits (sei es der preußische Finanzminister, sei es die Landtagsmehrheit) gegeneinander. Preußen versagte damit zusehends in seiner Koordinierungsfunktion als Hegemonialmacht, die ihm in Bismarcks Verfassungskonstruktion zugedacht war, und so kam es zu gravierenden Entscheidungsblockaden. Aus denen hat das Reich dann zunehmend den Ausweg in der Staatsverschuldung gesucht, und in den letzten Jahren des ersten Weltkrieges erlebte diese Finanzwirtschaft der machtpolitischen Provisorien ihren Bankrott. Schon damals bildete sich infolgedessen ein breiter Konsens über die finanzpolitische Zentralisierung aus, der von den konservativen Spitzenbeamten des Reichsfinanzressorts und den verantwortlichen Vertretern der Heeresleitung bis zu den demokratischen Parteien reichte. Das Trennsystem aber war durch die Praxis der vorangegangenen Jahrzehnte so gründlich diskreditiert, dass dann das Verbundsystem der Erzbergerschen Reichsfinanzreform als die systemkonforme Lösung erscheinen musste. Und die Finanzverwaltungen der meisten Länder (allen voran Preußens) waren von so zweifelhafter Qualität, dass auch hier die Zentralisierung als die nahe liegende Lösung erschien. Die Länder haben damals natürlich kräftig gejammert, weil sich – vor allem wegen der Kriegsfolgen – der Anteil des Reiches am Steueraufkommen sprunghaft vergrößert hatte. Wenn man das heute im Rückblick gerecht beurteilen will, muss man im Auge behalten, dass sich die öffentlichen Hände ja fast über die gesamte Lebensdauer der Weimarer Republik im Zustand der Finanzkrise befanden, und dass deshalb lautstarke Verteilungskämpfe kaum vermeidbar waren. Gleichwohl wurde die Position der Länder schon im Laufe der zwanziger Jahre schrittweise spürbar verbessert. Und weil das Problem der Finanzkraftunterschiede als ein weiteres empfindliches Defizit der Finanzverfassung des Kaiserreichs wahrgenommen wurde, sah man damals auch im Länderfinanzausgleich einen deutlichen Fortschritt. (Die Geberländer haben natürlich schon damals geklagt; vor allem Otto Braun hat sich als preußischer Ministerpräsident des öfteren darüber aufgeregt, dass beispielsweise Mecklenburg-Strelitz mit Hilfe der Überweisungen aus dem Finanzausgleich sein Theater finanzierte.) Vor allem aber bekam Deutschland mit der Reichsfinanzverwaltung und den begleitenden Gesetzeswerken eine professionelle Finanzverwaltung, wie man sie zuvor allenfalls in einigen süddeutschen Ländern gekannt hatte. Daher galt dieses Reformwerk als ein großer gelungener Wurf. Insgesamt stellt sich so die Finanzverfassung der Weimarer Republik als eine pfadabhängige Fortbildung auf der Basis jener institutionellen Weichenstellungen dar, die mit der Paulskirchenverfassung vorbereitet und mit der Bundesstaatskonstruktion von 1867 vorgenommen worden waren. Zwischen 1848 und 1867 waren noch alternative Modelle zur Diskussion ge-
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stellt worden und hatten einige Aufmerksamkeit gefunden, so insbesondere das am amerikanischen Bundesstaat (in der Deutung Tocquevilles) orientierte Modell eines Trennföderalismus bei Waitz41 und die einheitsstaatliche Gegenposition, wie sie – von Waitz’ Föderalismusverständnis ausgehend – Treitschke entwickelt hatte42. Der Vorstoß, den Hugo Preuß 1918 unternahm und der deutlich von einheitsstaatlichen Zielvorstellungen inspiriert war, das Senatsprinzip an die Stelle der Bundesratskonstruktion zu setzen, ist schnell und gründlich gescheitert, und Preuß hat dann seine verfassungspolitischen Vorstellungen an die pfadabhängige Entwicklungslogik des Verbundföderalismus angepasst. In der Krise der Republik erfuhr der Reichsrat sogar zunächst – vor allem während der Kanzlerschaft Brünings – eine bedeutsame Aufwertung seiner Rolle43 – eine historische Erfahrung, die dann im Parlamentarischen Rat zum Modell für die „Legalitätsreserve“ in Art. 81 GG werden sollte. Erst Papens Staatsstreich vom 20. Juli 1932 versetzte dem Verhandlungsföderalismus der Bismarckschen Konstruktion den Todesstoß. V. Institutionelle Anpassungsprozesse bei der Rekonstruktion des Bundesstaates nach dem Zweiten Weltkrieg Die überwiegend positiv bewerteten Erfahrungen mit der Weimarer Finanzverfassung erklären, warum eine Mehrheit im Parlamentarischen Rat an deren Grundelementen festhalten wollte. Das zentrale Argument lautete damals, wie schon 1919, dass die Finanzverfassung unter dem Primat der Bewahrung der Wirtschaftseinheit stehen müsse. Hier war die Politik der Besatzungsmächte von vornherein in einem Dilemma, vor dem dann auch die amerikanischen Befürworter eines strengen Trennsystem schließlich zurückweichen mussten. Bekanntlich haben die Alliierten mit ihren Auflagen für die Genehmigung des Grundgesetzes die schlichte Fortführung der Grundelemente der Weimarer Finanzverfassung blockiert. Aber sie haben die Beharrungskraft sowohl der kulturellen Grundorientierungen als auch komplexer institutioneller Konstruktionen völlig unterschätzt. Wenn sie ernsthaft ein finanzpolitisches Trennsystem an dessen Stelle setzen wollten, dann wären ganz andere, tief greifende Eingriffe in die föderativen Strukturen nötig gewesen. Das konnten sie aber schon deshalb nicht in Erwä41 Georg Waitz, Grundzüge der Politik: nebst einzelnen Ausführungen, Kiel 1862. 42 Heinrich von Treitschke, Historische und Politische Aufsätze. Zweiter Band: Die Einheitsbestrebungen zertheilter Völker, 5. Aufl., Leipzig 1886. 43 Siehe dazu schon Waldemar Besson, Württemberg und die deutsche Staatskrise: 1928–1933; eine Studie zur Auflösung der Weimarer Republik, Stuttgart 1959.
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gung ziehen, weil sie für den Wiederaufbau eines verwüsteten Landes Verantwortung trugen und dabei auf ein hohes Maß an institutioneller Kontinuität angewiesen blieben. Vor allem dem Insistieren der Deutschen auf der Wirtschaftseinheit und auf der Wahrung der institutionellen Voraussetzungen für diese Wirtschaftseinheit konnten die Besatzungsmächte also schon aus Eigeninteresse nicht widersprechen. So kann es nicht überraschen, dass – wie das Wolfgang Renzsch in seiner Untersuchung über die Geschichte des Finanzausgleichs sehr klar herausgearbeitet hat – die zentralen Strukturelemente der Finanzverfassung von Weimar bald schrittweise wieder hergestellt wurden. Das gilt ja nicht nur für den Steuerverbund; auch die uniforme Finanzverwaltung ließ sich mit Hilfe der inzwischen entwickelten Koordinierungstechniken im Prinzip bewahren. Damit soll nun keineswegs bestritten werden, dass es dauerhafte Auswirkungen der alliierten Eingriffe in den deutschen Föderalismus gegeben hat. Aber sie gehören zu einem guten Teil in die Kategorie der nicht-intendierten Effekte. Bei genauerem Hinsehen kann man dies auf die einfache Formel bringen, dass die Eingriffe der Besatzungsmächte vor allem den bundesstaatlichen Koordinierungsbedarf erheblich steigerten. Die Deutschen haben dann auf diesen erhöhten Koordinierungsbedarf damit reagiert, dass sie die Techniken des Bismarckschen Verhandlungsföderalismus weiter (und zwar ganz erheblich) ausbauten. Der Koordinierungsbedarf war schon durch die Zerschlagung Preußens (1946) gestiegen; damit verschärfte sich von vornherein beispielsweise die Problematik des Ausgleichs regionaler Finanzkraftunterschiede (das war zuvor weitgehend ein innerpreußisches Problem gewesen und wurde nun zwangsläufig externalisiert). Und die institutionelle Stärkung der Länder, auf die man bei den Alliierten so gedrängt hatte, tat dann ein Übriges. Die deutschen Akteure aber waren andererseits darüber ganz selbstverständlich einig, dass die Rechtseinheit, die den deutschen Bundesstaat seit seinen Anfängen ausgezeichnet hatte, erhalten bleiben müsse. (Die Schulpolitik blieb eine Ausnahme.) Die Konsequenz war, dass das ganze informelle Netzwerk von Kooperationsmechanismen, wie es seit Bismarcks Zeiten entstanden war, nun weiter ausgebaut und formalisiert wurde. Und das entwickelte dann seine Eigendynamik, vor allem in den Fachministerkonferenzen, die zu Vehikeln einer immer weiter gehenden Unitarisierung wurden. In der Perspektive der Organisationstheorie bewirkten diese Entwicklungen eine immer engere und komplexere Kopplung zwischen den einzelnen Systemelementen. Je enger aber diese organisatorischen Kopplungen werden, um so störanfälliger wird tendenziell das Gesamtsystem. Wenn man diesen impliziten oder expliziten institutionellen Weichenstellungen jener Nachkriegsjahre gerecht werden will, dann wird man sich im-
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mer vor Augen halten müssen, dass das vor dem Hintergrund der Sorge um die Erhaltung der deutschen Einheit geschah. In der Krise stand dabei der Gesichtspunkt der Wirtschaftseinheit im Vordergrund, und mit dem operierten vor allem die Gegner eines finanzpolitischen Trennsystems. Das Postulat der Wirtschaftseinheit ist immer (andeutungsweise schon 1814 bei Thibaut) eine zentrale Begründung auch für das korrespondierende Postulat der Rechtseinheit gewesen. Beide galten als die großen Errungenschaften der Einheitsbewegung, und beide erschienen sowohl nach dem verlorenen ersten Weltkrieg als auch nach dem Untergang des „Dritten Reiches“ aufs höchste bedroht. So haben historische Erfahrungen der unitarischen Grundorientierung immer neue Nahrung gegeben. Und dann kamen in den Nachkriegsjahren immer neue Rationalisierungen dieser kulturellen Grundorientierung hinzu, beispielsweise mehr oder weniger nebulöse Sozialstaatstheorien: In den sechziger und siebziger Jahren war es ja praktisch die herrschende Meinung der staatsrechtlichen Föderalismusliteratur, dass der Sozialstaat gebieterisch die „sachliche Unitarisierung“ fordere44. Der Prozess der deutschen Vereinigung war dann in einem solchen Maße von unitarischen Prämissen bestimmt45, dass er jene kulturelle Grundorientierung erneut befestigte. Der Unitarisierungsrausch ging 1990 so weit, dass die Spitzenverbände der Tarifpartner damals in einer „Gemeinsamen Erklärung“ die Ausdehnung des ganzen westdeutschen Systems der Arbeitsbeziehungen auf die bisherige DDR proklamierten – mit all den verheerenden Folgen für die ostdeutsche Wirtschaft, die man damals schon vorhersehen konnte. VI. Die Krise des unitarischen Bundesstaates und die Veränderungsspielräume eines pfadabhängigen Systems Diese institutionellen Anpassungsprozesse nach dem zweiten Weltkrieg bargen jedoch ein Potential für dysfunktionale Entwicklungen, das spätestens zu jener Zeit zu Tage trat, als das bundesstaatliche System mit den Problemen der deutschen Vereinigung konfrontiert wurde, die sich für den Föderalismus der alten Bundesrepublik gleichsam als externer Schock darstellten. Hier kulminierten bestimmte, potentiell krisenträchtige Entwicklungen seit der Gründung der Bundesrepublik. Der Bundesstaat hatte in der Vergangenheit (bis in die Zeit der Weimarer Republik) vor allem eine systemische Konfliktlinie zu verarbeiten, nämlich den finanzpolitischen Gegen44 Dazu ausführlich Stefan Oeter, Integration und Subsidiarität im deutschen Bundesstaatsrecht: Untersuchungen zur Bundesstaatstheorie unter dem Grundgesetz, Tübingen 1998. 45 Dazu sehr anschaulich Wolfgang Schäuble, Der Vertrag: wie ich über die deutsche Einheit verhandelte, Stuttgart 1991.
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satz zwischen Reich und Ländern. Nach dem zweiten Weltkrieg kamen zwei weitere Konfliktlinien hinzu: zum einen der Verteilungskonflikt zwischen armen und reichen Ländern, und zum andern der die bundesstaatlichen Entscheidungsprozesse überlagernde Parteienwettbewerb46. Die Intensität dieser beiden Konfliktlinien hatte in der Vergangenheit – abhängig von äußeren Umständen – geschwankt. Weil sich nun aber gleichzeitig der Unitarisierungstrend, der in der kulturellen Grundorientierung des deutschen Bürgertums seit der Reichsgründung wurzelte, ungebremst fortgesetzt hat, wurden die innersystemischen Kopplungen immer dichter, und damit wuchs die Störanfälligkeit. Mit der deutschen Vereinigung intensivierte sich nun zum einen der Verteilungskonflikt zwischen arm und reich, und zum andern hatte die stark angestiegene „Volatilität“ des Wählerverhaltens (also das Abbröckeln der einst so ausgeprägten Parteibindungen und die damit verbundene Auflockerung des Parteiensystems) zur Folge, dass seit den neunziger Jahren auseinanderlaufende Mehrheiten sehr viel häufiger wurden. Die so bewirkte Kumulation von Problemlasten seit der deutschen Vereinigung hat dann eine lebhafte Diskussion darüber ausgelöst, ob nicht das bundesstaatliche System wegen seines hohen Verflechtungsniveaus unflexibel geworden ist47. Dabei ist die Forderung nach tief greifenden Reformen immer lauter geworden. Wie sind nun die Chancen solcher Reformen im Lichte der vorstehenden Analyse einzuschätzen? Die Theorie der Pfadabhängigkeit rechnet zwar mit der Möglichkeit von critical junctures, also von grundlegenden Weichenstellungen, die auch ein pfadabhängiges System auf einen neuen Entwicklungspfad setzen können. Und wenn wir die Geschichte des deutschen Föderalismus überblicken, dann scheint es in der Tat etliche solcher critical junctures gegeben zu haben. Denn es ist ja in der bisherigen Geschichte des deutschen Bundesstaates durchaus und wiederholt zu tiefer greifenden Reformen gekommen, freilich nur in solchen Situationen, in denen die gesamte Verfassung des Gemeinwesens tief greifend erschüttert worden war, in der Regel nach einem Kriege: 1815, 1867/71, 1918, 1949. Es hat auch nach dem zweiten Weltkrieg vielleicht einmal ein window of opportunity gegeben, eine strategische Chance für eine tiefer greifende Reform des Bundesstaates, nämlich nach dem Fall der Mauer 1989. Damals hat man sich aber – mit gut nach46 Da ich diese Problematik an anderer Stelle ausführlich behandelt habe, soll hier der bloße Hinweis genügen; siehe Gerhard Lehmbruch, Parteienwettbewerb im Bundesstaat: Regelsysteme und Spannungslagen im politischen System der Bundesrepublik Deutschland. 3. ergänzte Auflage, Wiesbaden 2000. 47 In den siebziger Jahren hätte man noch von „Unregierbarkeit“ gesprochen. Für den marktliberalen Zeitgeist ist freilich „Regieren“ ebenso ein Fremdwort wie für die „emanzipatorischen“ Modeströmungen jenes Jahrzehnts.
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vollziehbaren Gründen – gegen eine Konstituante nach dem damaligen Art. 146 GG entschieden, die das Mandat zu einer solchen Reform hätte beanspruchen können, und für den Beitritt der DDR nach Art. 23 (alt). Das war natürlich auch eine ganz bewusste Entscheidung für die Kontinuität der bundesstaatlichen Konstruktion – und dies zu einem Zeitpunkt, wo deren Reformbedürftigkeit längst zu Tage lag. Dass sich ein solches strategisches Fenster wieder auftut, ist – die Fortdauer des Friedens in Europa vorausgesetzt – nicht zu erwarten. Auf ein Zweites ist hinzuweisen: Wenn wir die früheren critical junctures näher unter die Lupe nehmen, dann haben sich auch 1918 und 1949 zentrale Variablen des deutschen Föderalismus behauptet, wie er im 19. Jahrhundert seine Form gefunden hatte. Mehr noch, man wird sogar annehmen müssen, dass in einem gravierenden Krisenfall die Bereitschaft, das System des verflochtenen Exekutivföderalismus in Frage zu stellen, eher noch geringer sein wird, weil die Opportunitätskosten des Wechsels zu einem für die politisch-administrativen Akteure ganz unerprobten System unkalkulierbar erscheinen werden. Wenn wir also die Frage nach den Veränderungsspielräumen im deutschen Föderalismus stellen, dann müssen wir die beiden miteinander verknüpften Bedingungsfaktoren in Rechnung stellen, die seine säkulare Stabilität bewirkt haben. Der eine ist, wie gesagt, die unitarische Grundorientierung, die seit deutlich mehr als einem Jahrhundert in der deutschen öffentlichen Meinung die kulturelle Hegemonie ausgeübt hat. Das andere ist die Entwicklung eines komplexen Institutionengefüges, dessen wichtigste Elemente mit einander eng verknüpft sind: Der Vorrang der Bundesgesetzgebung und der Exekutivföderalismus im Gesetzesvollzug, die Mitwirkung der Länder an der Rechtssetzung des Bundes über den Bundesrat, und die Harmonisierung der Finanzverfassung mit dem Steuerverbund. Weil das so beschriebene Institutionengefüge in hohem Maße pfadabhängig ist, sind Veränderungen unter normalen (nicht krisenhaften) Bedingungen auch nur innerhalb jenes Entwicklungspfades zu erwarten, der im 19. Jahrhundert in Gang gekommen war. Das bedeutet, dass weit reichende Projekte für den Umbau des Bundesstaates in ein Trennsystem, wie sie vor allem im Anschluss an Modellkonstruktionen des Finanzföderalismus von verschiedenen think tanks vorgelegt werden, ihre im sprichwörtlichen Sinne „akademische“ Qualität nicht werden abstreifen können. Hier sind allzu oft Sozialingenieure am Werk, die – nicht selten mit beträchtlichem Scharfsinn – eine neue institutionelle Architektur entwerfen, die aber die Antwort auf die Transformationsfrage schuldig bleiben. Das nämlich ist eine entscheidende Frage, wie der Übergang vom Status Quo zu der neuen Architektur unter den Bedingungen einer
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Wettbewerbsdemokratie zu verwirklichen sein könnte. Die derzeitige Konjunktur von Bekenntnissen zum „Wettbewerbsföderalismus“ besagt in diesem Zusammenhang wenig, weil sich diese Vokabel in der politischen Alltagssprache längst als eine beliebig auffüllbare Leerformel erwiesen hat. Auch wenn sich elegantere und effizientere föderative Konstruktionen vorstellen lassen: An der Einsicht, dass der deutsche Bundesstaat auch weiterhin nur als Verhandlungsföderalismus funktionieren wird, führt kein Weg vorbei. Eine solche Prognose bedeutet aber durchaus kein Plädoyer für Immobilismus. Vielmehr lässt sich sehr wohl pfadabhängiger Wandel vorstellen, der innerhalb des beschriebenen institutionellen Rahmens nach Korrekturspielräumen sucht, innerhalb derer sich die Anpassungsflexibilität des Verhandlungsföderalismus wieder erhöhen lässt. Eine daran orientierte Reformstrategie müsste insbesondere den Versuch machen, innerhalb des institutionellen Rahmens des Verbundföderalismus die – organisationstheoretisch gesprochen – überaus enge Kopplung zu reduzieren, die sich aus dem fortschreitenden Unitarisierungstrend ergeben hat. Mit anderen Worten, die Dichte der Verflechtungen müsste zugunsten von mehr Subsidiarität gelockert werden, weil das die Störanfälligkeit des Systems verringern könnte. Die Spielräume dafür wird man nicht so sehr in der Finanzverfassung suchen dürfen, sondern vor allem in der Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern. Details müssen hier nicht erörtert werden, doch eine „Rückholklausel“, die den Ländern mehr Spielraum zu eigener Kompetenzwahrnehmung im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung eröffnen würde, wäre ein nahe liegendes Beispiel. Dies würde freilich voraussetzen, dass die unitarische Grundorientierung ihre Dominanz verliert. Es erscheint nicht ausgeschlossen, dass im Kontext der europäischen Integration der ihr eigentümliche Fokus auf den Nationalstaat zusehends anachronistisch erscheint. Das mag zu einem Zeitpunkt, da man über bundesweite „Bildungsstandards“ diskutiert, eine verwegene Erwartung sein48. Aber in der Bildungspolitik haben wir es ja immer noch mit der Reproduktion von Symbolen und Überzeugungssystemen zu tun, die mehr als ein Jahrhundert lang zur nationalen Identitätsbildung beitrugen, und die sich durch ein hohes Maß an bürokratischer Steuerung auszeichnet. Verhandlungsföderalismus wird naturgemäß von strategischen Kalkülen bestimmt. Es gibt andererseits in derartigen Verhandlungssystemen bekannt48 Auch der Umstand, dass gerade die Befürworter anspruchsvoller Reformprojekte unter dem Banner des „Wettbewerbsföderalismus“ zugleich oft das alte Programm der Länderneugliederung wieder zu beleben versuchen, das doch ganz eindeutig der unitarischen Tradition entstammt, kann Zweifel daran begründen, dass wir es hier tatsächlich mit einem Wandel jener kulturellen Grundorientierung zu tun haben.
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lich auch Strategien der Konfliktvermeidung, die dazu bestimmt sind, das System funktionsfähig zu halten. Damit lässt sich der Umstand erklären, dass nicht wenige Verhandlungsgremien auf Mehrheitsentscheidungen gerne zugunsten von konsensuellen Lösungen verzichten. Derartige Konfliktvermeidung ist aber nur begrenzt praktikabel. Bei Entscheidungen, die nicht ohne Majorisierung abgehen, wird es darum darauf ankommen, dass auch hier bestimmte Fairnessregeln respektiert werden, wenn man dieses System funktionsfähig halten will. Das Bundesverfassungsgericht hat das den gesetzgebenden Körperschaften bei Gelegenheit in Erinnerung gerufen, aber dies ließe sich auch als die Erwartung von „Gemeinsinn“ in den bundesstaatlichen Beziehungen formulieren.
Bericht über die Diskussion zum Vortrag von Gerhard Lehmbruch Diskussionsleitung: Heinrich Amadeus Wolf Von Martin Schurig Prof. Dr. Heinrich Amadeus Wolf, München, eröffnete die Diskussion mit dem Dank an den Referenten. Markus Möstl, München, thematisierte in seiner Frage die Abstimmungsnotwendigkeiten des bundesdeutschen kooperativen Föderalismus als Aspekt der Lähmung. Er wies darauf hin, dass vor dreißig Jahren gerade dieser Aspekt des Föderalismus, die Notwendigkeit zu ständiger Kooperation, als ein Aspekt der Flexibilität betrachtet wurde und daher im Kontrast zu den neueren Attributen wie Lähmung oder Blockade stehe. Diese Beweglichkeit sei gerade als positiver Aspekt des Föderalismus betont worden. Seine Frage zielte daher auf die Einschätzung des Referenten zu diesem Spannungsverhältnis zwischen historischer und aktueller Perzeption des deutschen Föderalismus. Der Begriff der Pfadabhängigkeit stand im Mittelpunkt der Frage von Stephan Kirste, Heidelberg. Seit Kant sei bekannt, dass aus der Tatsache, dass Dinge in einer bestimmten Art und Weise stattgefunden hätten, nicht zwingend abzuleiten sei, dass diese auch in Zukunft so stattfinden müssten. Daher sei zu fragen, wofür der Begriff der Pfadabhängigkeit stehe und wie er für die Praxis anwendbar gemacht werden könne. Lehmbruch erläuterte, dass der Begriff der Pfadabhängigkeit aus der Technologiegeschichte stamme und entwickelt worden sei, um zu erklären, warum bestimmte komplexe Technologien sich auf dem Markt behaupten, obschon ihre Ineffizienz weithin anerkannt würde. Ein aktuelles Beispiel sei die Umstellung von Computersystemen von der marktbeherrschenden Microsoft-Software auf die des Konkurrenten Linux. Unter anderem die Verwaltung des Bundestages habe versucht, eine solche Umstellung durchzuführen. Die Anwender jedoch hätten bereits so viel Aufwand betrieben, um die Windows-Technologie von Microsoft einzuführen, dass sie nun gleichsam darin gefangen seien. Die Kosten für die Änderung des eingeschlagenen „Microsoft-Pfades“ erschienen daher zu hoch. Als klassisches Beispiel
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für eine Pfadabhängigkeit führte Lehmbruch die Schreibmaschinen-Tastatur an. Diese konnte sich in ihrer aktuellen Form behaupten, obschon durchaus überlegenere, weil ergonomisch bessere Tastaturen entwickelt worden seien. Die Beispiele verdeutlichten anschaulich die Persistenz komplexer Arrangements. Der deutsche Bundesstaat sei geradezu ein Paradebeispiel für solch ein Arrangement, denn sämtliche Akteure – Bund, Länder und Parteien – seien auf die institutionellen Rahmenbedingungen des deutschen Föderalismus mit seinen vielfältigen Kooperationsnotwendigkeiten eingestellt. Für eine Änderung dieser Rahmenbedingungen müsste also ein übergreifender Konsens sämtlicher Akteure herbeigeführt werden. Der Koordinationsaufwand hierfür sei jedoch äußerst groß und führe letztlich dazu, dass der betretene Pfad nicht verlassen werde. Die Veränderungen des Föderalismus in den Jahren 1919 und 1949 seien zwar keineswegs unbeachtlich gewesen, hätten sich jedoch innerhalb eines bestimmten engen Entwicklungskorridors bewegt. Auf die Frage nach der Beweglichkeit des Föderalismus bemerkte Lehmbruch, dass eine Beurteilung letztlich von der Betrachtungsperspektive abhänge. Während es beispielsweise in den USA aufgrund der starken Stellung des Präsidenten in Krisenzeiten eine schnelle Reaktion der politischen Akteure geben könne, so sei das deutsche System letztlich auch in Krisenzeiten nur durch eine kollektive Mobilisierung zu bewegen. Prof. Dr. Viktor Vanberg, Freiburg, knüpfte an die Frage nach der Pfadabhängigkeit an. Er bemerkte, dass der Referent die Vorschläge zu einem wettbewerblichen Föderalismus in seinem Referat etwas wohlwollend beiseite geschoben habe und fragte, ob es sich bei der Bestandsanalyse und den möglichen Handlungsoptionen nicht um zwei unterschiedliche Diskurse handele, die analytisch zu trennen seien. Zunächst müssten die institutionellen Rahmenbedingungen des Föderalismus analysiert und bewertet werden. Käme man zu einer negativen Bewertung, schlösse sich hieran die Frage nach den Handlungsoptionen an. Dies setze voraus, dass man die Möglichkeit zu einer Veränderung der institutionellen Rahmenbedingungen prinzipiell bejahe. Der Begriff Pfadabhängigkeit beeinflusse jedoch bereits die Ebene der Bestandsaufnahme. Die Metapher von der Schreibmaschinentastatur suggeriere in diesem Zusammenhang bereits, dass es sinnlos sei, über Reformalternativen nachzudenken, da diese zum Scheitern verurteilt seien. Diese Metapher, so Vanberg, führe daher in die Irre. Prof. Dr. Peter Graf Kielmannsegg, Mannheim, leitete seinen Diskussionsbeitrag mit einer historischen Bemerkung ein. Der Bundesrat des Norddeutschen Bundes sei von Bismarck bewusst so konstruiert worden, dass den süddeutschen Staaten der Eintritt ohne hohe Hürden möglich gewesen sei. Das taktische Element bei dieser Konstruktion sei äußerst wichtig ge-
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wesen – eine Feststellung, die umso mehr zu beachten sei, wenn man sich bewusst mache, dass eben diese taktisch geprägte Konstruktion so langfristige Konsequenzen gehabt habe. Auch Kielmannsegg setzte am Begriff der Pfadabhängigkeit an. Der Begriff setze bereits voraus, dass es einen eindeutig identifizierbaren Pfad der Entwicklung gebe. Ob dieser Pfad so eindeutig zu identifizieren sei wie Lehmbruch dies unterstelle, sei jedoch zu hinterfragen. Gerade die Finanzverfassung als Kernstück einer jeden föderalistischen Ordnung weise enorme Sprünge in ihrer Entwicklung auf. Wenn jedoch die Eindeutigkeit des Pfades bereits nicht gegeben sei, dann würden auch die Argumente, die aus eben dieser Pfadabhängigkeit gezogen würden, notwendiger Weise reduziert. Als zweiten Fragenkomplex führte Vanberg den Unterschied zwischen Dezentralisierung und Entflechtung an und brachte die Frage auf, ob nicht Dezentralisierung letztlich auf Entflechtung hinaus laufen müsse. Schließlich versuchte Vanberg den Vortrag des Referenten konkret auf das Thema des Gemeinwohls zu beziehen. Eine Schlüsselfrage des Vortrages sowie der gesamten Tagung sei diejenige nach den Subjekten des Gemeinwohls. Er regte daher die Einordnung des Referates in diese Fragestellung an. Johannes Butscher, Baindt, erweiterte in seiner Frage den Bezugsrahmen des Referates über die Bundesrepublik Deutschland hinaus und fragte nach den Konsequenzen der Europäischen Einigung für den bundesdeutschen Föderalismus. Prof. Dr. Hans Herbert von Arnim, Speyer, bemerkte, dass die Bundesrepublik das einzige Land sei, in welchem die Landesregierungen über den Bundesrat direkt an der Bundespolitik mitwirkten. An seine beiden Vorredner anknüpfend brachte von Arnim die Frage auf, ob nicht die Reformfähigkeit des Föderalismus mit der Analyse des Ist-Zustandes zusammen hinge. Je drastischer eine solche Analyse ausfalle, desto eher seien eventuell Reformen durchsetzbar. Die Pfadabhängigkeit sei daher letztlich relativ zu verstehen. Die Idee des Föderalismus sei die Schaffung von mehr Sachrichtigkeit auf regionaler Ebene bei gleichzeitiger Bürgerbeteiligung. Faktisch jedoch brächte der bundesdeutsche Föderalismus nicht mehr, sondern eher weniger Bürgerbeteiligung hervor. Daher sei vom Föderalismus in seiner jetzigen Form auch keine Gemeinwohlsteigerung zu erwarten. Eine solch drastische Analyse könnte, so von Arnim weiter, eben die Konsequenzen der Pfadabhängigkeit mildern und daher Reformen eventuell eher ermöglichen. Prof. Dr. Eberhard Laux, Düsseldorf, knüpfte mit seiner Frage an die Ausführungen von von Arnim an und konstatierte eine Erosion des bundesdeutschen Föderalismus. Der deutsche Föderalismus sei das Ergebnis einer niemals ernsthaft vollzogenen Reform, was sich zum Zeitpunkt der Wieder-
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vereinigung auch deutlich gezeigt habe. Mit der Ausnahme von Sachsen seien bei der deutschen Wiedervereinigung keine leistungsfähigen Gliedstaaten entstanden, sondern letztlich Kostgänger. Unter dem Druck der finanziellen Entwicklung sei nun nachzuholen, was längst hätte geschehen müssen, nämlich eine Territorialreform auf Ebene der Länder. 1990 seien entsprechende Pläne bereits vorbereitet gewesen. Gemeinwohlförderung hinge, so Laux, mit der Schaffung handlungsfähiger Einheiten auf Ebene der Länder zusammen. Es wäre beispielsweise möglich, aus den bestehenden fünf neuen Bundesländern drei größere Gliedstaaten zu formen. Diese Diskussionen seien jedoch zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung nicht geführt worden, weil die Schaffung handlungsfähiger Strukturen sowie taktische und personelle Erwägungen im Vordergrund gestanden hätten. Lehmbruch untermauerte seine Einschätzung, dass eine Abkehr von der unitarischen Orientierung des deutschen Föderalismus wohl nicht möglich sein werde. Das Thema der Neugliederung des Bundesgebietes spreche gerade für diese Einschätzung, denn sie stamme letztlich aus dem Werkzeugkasten der Unitarier. Er unterstrich seine kritische Einstellung zur Reformunfähigkeit des deutschen Föderalismus. Die Reformvorschläge der Finanzwissenschaft zur Finanzverfassung seien durchaus hilfreich. Der Begriff Pfadabhängigkeit helfe jedoch bei der Identifizierung von Fehlsteuerungen. Entflechtung, so Lehmbruch, bedeute in seiner Interpretation die Umwandlung des Verbundföderalismus in ein Trennsystem, wie es in Modellkonzepten der Finanzwissenschaft sowie in Interpretationen des amerikanischen Föderalismus dargestellt würde. Ein solches Trennsystem sei jedoch für die Bundesrepublik nicht durchführbar. Dezentralisierung hingegen sei die Aufgabendelegation auf die regionale Ebene vor dem Prinzip des Subsidiarität, wo immer dies möglich sei. Jede Erledigung von Aufgaben in Bund-Länder-Gremien vergrößere den Koordinationsaufwand und die Störanfälligkeit. Eine Aufgabenverlagerung auf die Länder sei daher dringend nötig. Ein Beispiel für die Umsetzung einer solchen Aufgabendelegation wäre die Einführung einer Rückholklausel im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung. Letztlich sei jedoch fraglich, ob in den zuständigen Länderverwaltungen auch die Bereitschaft zu eigenständigem Handeln vorhanden sei. In der historischen Entwicklung des Föderalismus gebe es zu bestimmten Situationen bestimmte Knotenpunkte der Entwicklung, die Entwicklungsmöglichkeiten innerhalb eines bestimmten Korridors böten. Der Steuerverbund von 1919 sei beispielsweise nicht die logisch notwendige Folge der Entscheidungen von 1967 gewesen, sondern vielmehr der gangbare Weg des geringsten Widerstandes. Zudem fand diese Reform in einem Augen-
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blick statt, in welchem die deutsche Einheit bedroht schien. Die Bewahrung der Einheit sei ein überragender Wert, um welchen herum die Finanzverfassung konstruiert worden sei. Angesichts der europäischen Integration sei diese nationalstaatliche Fixierung jedoch überholt. Ein höheres Maß an Flexibilität sei daher theoretisch möglich. Die Hoffnung jedoch, eine Erhöhung des Leidendrucks führe zu einer Reform, sei nicht realistisch.
Nationales und europäisches Gemeinwohl Von Karl-Peter Sommermann In dem Titel „nationales und europäisches Gemeinwohl“ ist die Aussage enthalten, dass es ein europäisches Gemeinwohl gibt. Revolutionär ist diese These gewiss nicht angesichts der Tatsache, dass heute Gemeinwohl selbst auf der Ebene der Weltgemeinschaft (internationalen Gemeinschaft) identifiziert1 und so das Bild einer Ordo-Vorstellungen nahekommenden, arbeitsteilig organisierten Gemeinwohlpyramide entsteht, die von der globalen bis zur subnationalen Ebene reicht. Dennoch ist die Aussage für die Europäische Gemeinschaft/Union, auf die sich die nachfolgende Betrachtung beschränken wird, bei näherer Betrachtung keineswegs selbstverständlich2. Dies soll anhand der Entwicklung der Ziele der Europäischen Gemeinschaften plausibel gemacht werden (I.); als gemeinwohlbildend werden dabei nur solche Ziele angesehen, deren Verwirklichung nicht bloß der Erreichung eines außerhalb der betrachteten Gemeinschaft liegenden Zwecks dient. Sodann wird das Verhältnis zwischen nationalem und europäischem Gemeinwohl beleuchtet (II.). Schließlich sollen Strukturprobleme bei der Konkretisierung des europäischen Gemeinwohls in den Blick genommen (III.) und daraus Schlussfolgerungen für Reformen gezogen werden (IV.).
1 Vgl. etwa die Beiträge in: Jost Delbrück (Hrsg.), New Trends in International Lawmaking – International „Legislation“ in the Public Interest, Berlin 1997; Stefan Oeter, Gemeinwohl in der Völkerrechtsgemeinschaft, in: W. Brugger/St. Kirste/ M. Anderheiden (Hrsg.), Gemeinwohl in Deutschland, Europa und der Welt, BadenBaden 2002, S. 215–243; Martin Scheyli, Der Schutz des Klimas als Prüfstein völkerrechtlicher Konstitutionalisierung?, in: AVR Bd. 40 (2002), S. 273, 277 ff.; Bardo Fassbender, Zwischen Staatsräson und Gemeinschaftsbindung. Zur Gemeinwohlorientierung des Völkerrechts der Gegenwart, in: H. Münkler/K. Fischer (Hrsg.), Gemeinwohl und Gemeinsinn im Recht. Konkretisierung und Realisierung öffentlicher Interessen, Berlin 2002, S. 231–274; ders., Der Schutz der Menschenrechte als zentraler Inhalt des völkerrechtlichen Gemeinwohls, in: EuGRZ 2003, S. 1–16. 2 Daher fragend: Peter Häberle, Gibt es ein europäisches Gemeinwohl? – eine Problemskizze, in: H.-J. Cremer/T. Giegerich/D. Richter/A. Zimmermann (Hrsg.), Tradition und Weltoffenheit des Rechts. Festschrift für Helmut Steinberger, Berlin u. a. 2002, S. 1153.
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I. Die europäische Integration: vom Zweckverband europäischer Staaten zum Gemeinwesen europäischer Bürger Am Anfang des europäischen Einigungswerkes standen der Wunsch und das Ziel, einen Krieg in Europa künftig unmöglich zu machen. Insbesondere sollte der „jahrhundertelange Gegensatz zwischen Frankreich und Deutschland aus der Welt“ geschafft werden, wie es in der vom französischen Außenminister Robert Schuman abgegebenen Regierungserklärung vom 9. Mai 1950 über die Vereinigung der deutschen und französischen Kohle- und Stahlindustrie (sogenannter Schuman-Plan) hieß3. In der Präambel des Vertrages über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKSV) vom 18. April 19514 findet dem gemäß das Friedensziel besondere Hervorhebung, ergänzt durch den Aspekt der „Hebung des Lebensstandards“. Der geistige Vater des Schuman-Plans war Jean Monnet (1888–1979), dessen Integrationsmethode auch den Römischen Verträgen von 1957 (EWG-Vertrag und EAG-Vertrag) zugrunde lag. Monnet war überzeugt, dass das Frieden stiftende Einigungsziel nicht allein durch die Beschwörung der gemeinsamen historischen und kulturellen Wurzeln oder durch moralische Appelle, sondern letztlich nur durch die Identifizierung und Zusammenführung der gemeinsamen Interessen erreicht werden könne5. In diesem Sinne enthält die Präambel des Vertrages von 1951 nicht einen Appell an die Solidarität der europäischen Völker, sondern die eher nüchterne Aussage, dass man in dem Bewusstsein handele, „dass Europa nur durch konkrete Leistungen, die zunächst eine tatsächliche Verbundenheit (solidarité de fait) schaffen, und durch die Errichtung gemeinsamer Grundlagen für die wirtschaftliche Entwicklung aufgebaut werden“ könne6. Der erste Schritt war die Schaffung eines Gemeinsamen Marktes von Kohle 3 Wortlaut der Erklärung im Internet abrufbar z. B. unter http://europa.eu.int/abc/ symbols/9-may/decl_fr.htm (8/2003). In deutscher Übersetzung auszugsweise abgedruckt in Ernst Steindorff (Hrsg.), Europa-Recht. Textausgabe (= Beck-Texte im dtv, Bd. 5014), 7. Aufl., München 1986, S. 149 f. 4 BGBl. 1952 II, S. 447. Die auf 50 Jahre begrenzte Geltungsdauer des Vertrags endete am 23.7.2002. Kohle und Stahl sind seitdem in den Vertrag über die Europäische Gemeinschaft einbezogen, vgl. dazu Walter Obwexer, Das Ende der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, in: EuZW 2002, S. 517, 523 f. 5 Vgl. Jean Monnet, Mémoires, Paris 1976, S. 459, 558, passim. 6 Die vielzitierte Passage in der Erklärung vom 9. Mai 1950 (Schuman-Plan), an die der Vertrag hier anknüpft, lautet: „L’Europe ne se fera pas d’un coup, ni dans une construction d’ensemble: elle se fera par des réalisations concrètes créant d’abord une solidaité de fait.“ Vgl. zu dem in den zitierten Texten zum Ausdruck kommenden Integrationsansatz auch Ulrich Haltern, Europäische Verfassung und europäische Identität, in: R. Elm (Hrsg.), Europäische Identität: Paradigmen und Methodenfragen, Baden-Baden 2002, S. 239, 261 ff.
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und Stahl, durch den die traditionellen Schlüsselindustrien der Kriegswirtschaft der Aufsicht durch eine supranationale, d.h. mit Durchgriffsbefugnissen gegenüber Einzelpersonen ausgestattete Behörde unterworfen wurden. Die Tatsache, dass die Methode Monnet den gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen, somit der materiellen Basis, die zentrale Rolle im europäischen Einigungsprozess zumisst, hat einen prominenten Europäer veranlasst, diesen Integrationsansatz als „Vulgärmarxismus“ zu apostrophieren7. Wie dem auch sei, ist der Erfolg des Monnetschen Ansatzes8 nicht zu bestreiten. Die Errichtung eines Gemeinsamen Marktes und die daran anknüpfende schrittweise Vergemeinschaftung der für die Verwirklichung der Marktfreiheiten relevanten Politikbereiche stellte sich als äußerst wirksame Methode dar, die europäische Integration voranzutreiben. Von einem europäischen Gemeinwohl kann allerdings bis in die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts nur insofern gesprochen werden, als damit gemeinsame wirtschaftliche Ziele und Interessen der Mitgliedstaaten und ihrer Völker gemeint sind. Dass die Wirtschaftsgemeinschaft ein darüber hinausgehendes Zusammengehörigkeitsgefühl förderte, soll nicht in Abrede gestellt werden. Zur Schaffung einer wertgebundenen europäischen Identität trug dabei nicht 7 Denis de Rougemont (1906–1985), bekannt unter anderem durch sein Werk „Vingt-huit siècles de l’Europe“ (Paris 1961) und Vertreter einer kulturbasierten europäischen Einigung, verwandte diesen Ausdruck in dem von ihm geleiteten Seminar des Genfer Institut Universitaire d’Etudes Européennes über „Projets d’union européenne“ im Studienjahr 1976/77. Aus einer anderen, nämlich marktwirtschaftlichen Perspektive, wurde mit Blick auf die planwirtschaftlichen und dirigistischen Elemente des Monnetschen Konzepts eines Gemeinsamen Marktes ähnliche Kritik geübt, vgl. Eric Roussel, Jean Monnet, Paris 1996, S. 551: „Entre Jean Monnet, très marqué par l’économie de guerre, et l’utralibéral Ludwig Erhard, le conflit dès lors sera permanent. . . . Pour Erhard, l’inspirateur est presque un marxiste . . .“. 8 Kennzeichnend für die Methode Monnet war der funktionalistische, auf schrittweise Vergemeinschaftung zielende Ansatz. Die Ansicht, dass die Wirtschaft für die europäische Einigung eine Schlüsselrolle spielte, war bei den Zeitgenossen Monnets durchaus verbreitet; vgl. etwa aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg Arnold Bergsträsser (1896–1964), Sinn und Grenzen der Verständigung zwischen Nationen, München/Leipzig 1930, S. 39: „Soweit von greifbaren Erfolgen des Verständigungsgedankens in der europäischen Politik der Nachkriegszeit ernsthaft gesprochen werden kann, liegen sie auf wirtschaftlichem Gebiet. Diese Tatsache hat der öffentlichen Meinung nahe gelegt, in der wirtschaftlichen Entwicklung selbst das eigentlich treibende Element der Verständigung zu suchen.“ Die Entscheidung, die politische Einigung durch eine Wirtschaftsgemeinschaft zu erreichen zu suchen, hat auf deutscher Seite bekanntlich namentlich Walter Hallstein (1901–1982) gefördert, vgl. nur Ernst-Joachim Mestmäcker, Die Grundlagen einer Europäischen Ordnungspolitik an der Universität Frankfurt/Main, in: M. Zuleeg (Hrsg.), Der Beitrag Walter Hallsteins zur Zukunft Europas, Baden-Baden 2003, S. 12, 14 ff. Als Beispiele weiterreichender, nicht auf die Wirtschaft zentrierter Integrationskonzepte vgl. die bei Winfried Loth, Entwürfe einer europäischen Verfassung, Berlin 2002, S. 49 ff., abgedruckten Verfassungsentwürfe aus den Jahren 1948 und 1953.
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zuletzt der von der Zahl seiner Mitglieder her größere Europarat bei, der namentlich auf dem Gebiet des Menschenrechtsschutzes und der Kulturförderung Einfluss auf die Meinungsbildung auch in den Europäischen Gemeinschaften ausübte. Doch konnte Hans Peter Ipsen Anfang der siebziger Jahre die drei Gemeinschaften, im Mittelpunkt die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, wegen ihrer begrenzten Aufgaben noch mit guten Gründen als „Zweckverbände“ charakterisieren9. Das Fehlen einer übergreifenden Gemeinwohlsorge kommt auch in der seinerzeitigen Apostrophierung der europäischen Bürger als „Marktbürger“ zum Ausdruck. Dem entspricht die Konzentration der Gemeinschaftsgesetzgebung und -rechtsprechung auf das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes, die in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes in dem Interpretationsgrundsatz des effet utile10 augenfällig wird. Die ausdrückliche Anerkennung von Gemeinschaftsgrundrechten, die als allgemeine Rechtsgrundsätze neben den positivierten Marktfreiheiten und dem Diskriminierungsverbot gelten sollten, setzte erst in den siebziger Jahren ein. Befördert, wenn nicht veranlasst wurde sie durch die Verfassungsjudikatur einzelner Mitgliedstaaten, insbesondere Deutschlands11 und Italiens12, durch die der Vorrang des Gemeinschaftsrechts bei Verstößen gegen nationale Grundrechte in Frage gestellt wurde. In dieser Zeit nehmen auch die Staats- und Regierungschefs in ihren Erklärungen vermehrt auf gemeinsame Werte wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und soziale Gerechtigkeit Bezug; im Jahre 1979 findet die erste Direktwahl zum Europäischen Parlament statt13. Daran anknüpfend wurden Mitte der achtziger Jahre Maßnahmen eingeleitet, die die Identität der Gemeinschaft gegenüber den europäischen Bürgern stärken und fördern sollten. Unter dem Begriff des „Europa der Bürger“ wurden die neuen Initiativen zusammengefasst14. In der Präambel der 9
Hans Peter Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, Tübingen 1972, S. 127 f. Für Ipsen kennzeichnet den Zweckverband die „Nicht-Totalität seines Wirkungskreises“. 10 Vgl. dazu Theodor Schilling, Die Auslegung nach dem effet utile in der Rechtsprechung des EuGH – dargestellt am Beispiel der Richtlinie über die Umweltverträglichkeitsprüfung, in: Jahrbuch des Umwelt- und Technikrechts 2002, S. 37 ff. 11 Vgl. den „Solange I“-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 29.5.1974, BVerfGE 37, 271 ff. 12 Vgl. insbesondere die „Frontini“-Entscheidung der Corte Costituzionale (Urteil 183/73) vom 27.12.1973; mit deutscher Übersetzung abgedruckt in: EuGRZ 1975, S. 311 ff. 13 Grundlage war der Direktwahlakt vom 20.9.1976, ABl. EG 1976 Nr. L 278, S. 1. 14 Vgl. Siegfried Magiera, Die Europäische Gemeinschaft auf dem Weg zu einem Europa der Bürger, in: DÖV 1987, S. 221–231; ders., Ansätze für ein Europa der Bürger in der Rechtsordnung der Europäischen Gemeinschaft, in: ders. (Hrsg.), Das
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Einheitlichen Europäischen Akte vom 28. Februar 198615 erklärten die Mitgliedstaaten nunmehr, gemeinsam für die Demokratie einzutreten und sich dabei auf die in den Verfassungen und Gesetzen der Mitgliedstaaten, in der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Europäischen Sozialcharta anerkannten Grundrechte, insbesondere Freiheit, Gleichheit und soziale Gerechtigkeit zu stützen. Spätestens hier wird im Vertragsrecht die Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft zu einer Wertegemeinschaft deutlich16. Im Lichte der Präambelerklärung ist auch die in Art. 1 der Einheitlichen Europäischen Akte ausgesprochene Verpflichtung der Mitgliedstaaten zu lesen, zu konkreten Fortschritten auf dem Weg zur Europäischen Union beizutragen. Eine der durch die Einheitliche Europäische Akte selbst vorgenommenen konkreten Erweiterungen des Kreises der Gemeinschaftsaufgaben betraf den Umweltschutz17. Der Übergang von einem bloßen Zweckverband europäischer Nationalstaaten zu einem Gemeinwesen europäischer Bürger, jedenfalls aber europäischer Völker, mit übergreifenden Gemeinwohlzielen wurde spätestens durch den Maastrichter Unionsvertrag18 vollzogen19. Zwar wird das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung beibehalten, indes die neu gegründete Europäische Union ausdrücklich und nicht nur in der Präambel auf DemoEuropa der Bürger in einer Gemeinschaft ohne Binnengrenzen, Baden-Baden 1990, S. 13–25; Matthias Niedobitek, Pläne und Entwicklung eines Europa der Bürger (= Speyerer Forschungsberichte, Bd. 81), Speyer 1989. 15 BGBl. 1986 II, S. 1104. 16 Benedikt Speer, Die Europäische Union als Wertegemeinschaft, in: DÖV 2001, S. 980 ff., betont, dass die Europäischen Gemeinschaften von Anfang an eine „supranationale Wertegemeinschaft“ (S. 980, 983) gebildet hätten. Angesichts des dargelegten instrumentellen, zunächst auf eine „solidarité de fait“ zielenden Integrationskonzepts, das freilich überschießende gemeinsame Wertprojektionen durchaus begünstigen wollte (und nicht zuletzt durch Institutionenbildung auch hat, vgl. Walter Leisner, Der europarechtliche Einigungszwang. Einung um Werte – oder Institutionen als Selbstläufer?, in: JZ 2002, S. 735, 736 f.), erscheint dies sehr weitgehend. Anderes gilt insoweit für den Europarat. 17 Vgl. Art. 130r-130t EWG-Vertrag i. d. F. der Einheitlichen Europäischen Akte. 18 Vertrag über die Europäische Union vom 7.2.1992, BGBl. 1992 II, S. 1253. 19 Als „zielgebundenes transnationales Gemeinwesen“ charakterisiert Peter-Christian Müller-Graff, Europäische Verfassungsordnung – Notwendigkeit, Gestalt und Fortentwicklung, in: Dieter H. Scheuing (Hrsg.), Europäische Verfassungsordnung, Baden-Baden 2003, S. 11, 20, die Europäische Union; vgl. auch dens., Europäische Verfassung und Grundrechtscharta: Die Europäische Union als transnationales Gemeinwesen, in: integration 2000, S. 34, 36 f. Die Gemeinwohlausrichtung der EG anhand der normativen Kriterien Rechtssicherheit, Zweckmäßigkeit und Legitimität untersucht und bejaht Winfried Brugger, Gemeinwohl als Ziel von Staat und Recht an der Jahrtausendwende. Das Beispiel Europäische Gemeinschaft, in: P.-C. Müller-Graff/H. Roth (Hrsg.), Recht und Rechtswissenschaft, Heidelberg 2000, S. 15, 19–32.
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kratie und Grundrechte verpflichtet20. Im EG-Vertrag als Basis der ersten Säule der Union wird der Katalog der Gemeinschaftsziele erheblich erweitert, die Grundlage für die Wirtschafts- und Währungsunion geschaffen und eine Unionsbürgerschaft eingeführt. Zunächst noch im intergouvernementalen Bereich verbleiben als zweite und dritte Säule der Union die nunmehr vertraglich erfasste Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik sowie die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres. Durch den Vertrag von Amsterdam (1997)21 und den Vertrag von Nizza (2001)22, der am 1. Februar 2003 in Kraft getreten ist, wurde die Union u. a. durch die Vergemeinschaftung einzelner Elemente der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres (Visa, Asyl, Einwanderung) weiterentwickelt. Insgesamt ist der Europäischen Union bereits bisher ein breites Spektrum an Gemeinwohlzielen überantwortet worden; dies kommt nicht nur in Zielbestimmungen, sondern auch in Gemeinwohlklauseln und Kompetenzvorschriften zum Ausdruck23. Damit geht zugleich eine Reduzierung der Gestaltungsspielräume und letztlich auch der Gemeinwohlverantwortung der Mitgliedstaaten einher. Von dem tief greifenden Wandel der Integrationsziele seit den Gründungsverträgen von 1951 und 1957 zeugt nun auch der aus der Arbeit des Europäischen Konvents hervorgegangene erste Entwurf der Art. 1–16 des Verfassungsvertrags, der am 6. Februar 2003 veröffentlicht wurde24. An erster Stelle stehen hier nicht mehr wirtschaftliche Zielsetzungen, sondern in einem Art. 2 Werte der Union – Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Achtung der Menschenrechte – und in einem Art. 3 Ziele der Union, dabei in übergreifender Perspektive das Ziel der Union, den Frieden, ihre Werte und das Wohlergehen ihrer Völker zu fördern25. Nimmt man die in der Grundrechte-Charta26 verankerten Verbürgungen hinzu, die Teil des Verfassungsvertrags werden sollen, werden Konturen eines umfassenden europäischen Gemeinwohls sichtbar. „Identifikationspflichten“ oder „Identifikationszumutungen“27 sind damit freilich nicht verbunden. Die Identifikation und da20
Vgl. Art. F des Unionsvertrags i. d. F. des Vertrags von Maastricht. Vertrag vom 2.10.1997, BGBl. 1998 II, S. 387. 22 Vertrag vom 26.2.2001, BGBl. 2001 II, S. 1668. 23 Näher dazu Häberle, Gibt es ein europäisches Gemeinwohl? (Anm. 2), S. 1154 ff. 24 CONV 528/03. 25 Ebenso Art. I-2 und I-3 des Entwurf des Verfassungsvertrags i. d. F. vom 13.6.2003 (Teile I u. II) und vom 10.7.2003 (Teile III u. IV), CONV 850/03 v. 18.7.2003, abgedruckt auch in EuGRZ 2003, S. 357 ff., 389 ff. 26 Charta der Grundrechte der Europäischen Union, am 7.12.2000 vom Europäischen Parlament, dem Rat und der Kommission proklamiert, ABl. C 364 vom 18.12.2000, S. 1. 21
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mit der Gemeinsinn sollen weiterhin durch eine solidarité de fait erreicht werden. Für die Effektuierung des europäischen Gemeinwohls lautet vielmehr die entscheidende Frage, ob die Transformation der Ziele der Gemeinschaft durch eine entsprechende Neugestaltung der institutionellen Ordnung begleitet wurde, die einerseits dem Legitimationsbedarf des Unionshandelns, andererseits den Voraussetzungen für gemeinwohlorientierte Entscheidungen gerecht wird. II. Das Verhältnis von nationalem und europäischem Gemeinwohl auf der Ebene des materiellen Rechts Nationale und europäische Gemeinwohlziele sind nicht isoliert voneinander zu betrachten. Für das Handeln der nationalen Behörden gewinnen die Gemeinschaftsziele bereits dadurch Bedeutung, dass wegen des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts das von den nationalen Behörden unmittelbar oder mittelbar zu vollziehende Gemeinschaftsrecht immer auch im Lichte der Gemeinschaftsziele ausgelegt und angewendet werden muss. Die Vorranglösung ist unbefriedigend, wenn sie pauschal zu einer Ausblendung von Gemeinwohlbelangen führt, deren Schutz im nationalen Recht im Einzelnen geregelt ist. Hier helfen Koppelungsvorschriften, die wie Schleusen zwischen den Gemeinwohlsphären wirken (1.). Unabhängig davon ist im übrigen eine wachsende Integration der Gemeinwohlziele zu beobachten, die Kollisionsgefahren abmildert (2.). 1. Die Koppelung der Gemeinwohlsphären Lösungen jenseits der scharfen Klinge des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts28 entsprechen nicht zuletzt dem Grundgedanken der Pflicht gegenseitiger Rücksichtnahme29, die in dem Verfassungsentwurf des Konvents in 27 Armin von Bogdandy, Europäische und nationale Identität: Integration durch Verfassungsrecht?, in: VVDStRL Bd. 62 (2003), S. 156, 180 ff. (Formulierungen in Anknüpfung an das Bundesverfassungsgericht). 28 Vgl. dazu nur Rudolf Streinz, „Gemeinschaftsrecht bricht nationales Recht“, in: Gerhard Köbler/Meinhard Heinze/Wolfgang Hromadka (Hrsg.), Europas universale rechtsordnungspolitische Aufgabe im Recht des dritten Jahrtausends. Festschrift für Alfred Söllner, München 2000, S. 1139, 1145 ff.; Matthias Niedobitek, Kollisionen zwischen EG-Recht und nationalem Recht (= Speyerer Vorträge, Heft 58), Speyer 2000. 29 Die Rolle des gemeinschaftsrechtlichen „Solidaritätsprinzips“ als „Brücke“ zwischen nationalem und europäischem Gemeinwohl betont Christian Calliess, Gemeinwohl in der Europäischen Union – Über den Staaten- und Verfassungsverbund zum Gemeinwohlverbund, in: W. Brugger/St. Kirste/M. Anderheiden (Hrsg.), Gemeinwohl in Deutschland, Europa und der Welt, Baden-Baden 2002, S. 173, 198 ff. (203).
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der Statuierung eines wechselseitig wirkenden „Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit“30 Ausdruck findet31. Neben den koordinierenden Verfahren im Vorfeld der Rechtsetzung gibt es besondere Klauseln oder Regelungen, welche die Berücksichtigung von Gemeinwohlzielen der jeweils anderen Ebene erlauben. a) Berücksichtigung des nationalen Gemeinwohls im Gemeinschaftsrecht Gemeinwohlvorbehalte zugunsten der Mitgliedstaaten enthielt unter den Gründungsverträgen insbesondere der Vertrag über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft. Den Marktfreiheiten waren von Anfang an Schrankenbestimmungen beigefügt, welche im Hinblick auf bestimmte Gemeinwohlbelange Ausnahmen ermöglichen. Zu den dort genannten Gemeinwohlbelangen zählen zum Beispiel bei der Warenverkehrsfreiheit neben der öffentlichen Sittlichkeit, Ordnung und Sicherheit auch der Gesundheitsschutz und der Schutz des nationalen Kulturguts32, bei der Dienstleistungsfreiheit die öffentliche Ordnung, Sicherheit und Gesundheit33. Da der Europäische Gerichtshof indes einerseits die Ausnahmebestimmungen restriktiv34, andererseits die Marktfreiheiten selbst extensiv (bis hin zu allgemeinen Beschränkungsverboten) interpretierte, sah er sich veranlasst, neben den ausdrücklich normierten Schranken „zwingende Gründe des Allgemeininteresses“ als immanente Schranken der genannten Freiheiten jedenfalls dann anzuerkennen, wenn die beschränkenden nationalen Regelungen unterschiedslos auf inund ausländische Waren oder Dienstleistungen anwendbar sind35. Vergleichbares gilt für die übrigen Marktfreiheiten36. Das Gemeinschaftsrecht 30 Zu diesem der Gemeinschaftsrechtsordnung bereits bisher immanenten Prinzip siehe nur das Urteil des EuGH vom 10.2.1983 (Sitz des Parlaments), Slg. 1983, S. 255, 287 (Randziff. 37: „Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit“); aus dem Schrifttum vgl. Michael Lück, Die Gemeinschaftstreue als allgemeines Rechtsprinzip im Recht der Europäischen Gemeinschaft: Ein Vergleich zur Bundestreue im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Baden-Baden 1992; Manfred Zuleeg, Die föderativen Grundsätze der Europäischen Union, in: NJW 2000, S. 2846 f.; Armin Hatje, Loyalität als Rechtsprinzip in der Europäischen Union, Baden-Baden 2001; Peter Unruh, Die Unionstreue, in: EuR Bd. 37 (2002), S. 41–66. 31 Vgl. Art. I-5 Abs. 2 des Entwurfs vom 13.6.2003 (oben Anm. 25); zuvor (im Entwurf vom 6.2.2003): Art. 8 Abs. 5. 32 Art. 30 EGV (ex-Art. 36). 33 Art. 55 i. V. m. Art. 46 Abs. 1 EGV (ex-Art. 66, 56). 34 Zu Ansätzen einer Kommunitarisierung des Konzepts der „öffentlichen Ordnung“ in den die Marktfreiheiten betreffenden nationalen Vorbehaltsklauseln vgl. Georges Karydis, L’ordre public dans l’ordre juridique communautaire: un concept à contenu variable, in: Revue trimestrielle de droit européen Bd. 38 (2002), S. 1, 3 ff.
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hat damit bereits früh Gemeinwohlziele wie Gesundheitsschutz, Umweltschutz und Verbraucherschutz als legitim anerkannt, ohne dass die Konkretisierung dieser Ziele dadurch der nationalen Zuständigkeit entzogen worden wäre. Später wurde freilich die Gemeinschaftszuständigkeit auf den Umweltschutz37 und Verbraucherschutz38 sowie ergänzende Maßnahmen des Gesundheitsschutzes39 erweitert. Vor den einschlägigen Vertragsänderungen waren allerdings diese Materien betreffenden Rechtsakte zur Verwirklichung der Ziele des Gemeinsamen Marktes erlassen worden. Dass die Bestimmung des Grenzverlaufs nationaler und europäischer Gemeinwohlsorge in den genannten Bereichen immer noch Anlass zu Konflikten gibt, zeigt etwa der Streit um das in der Tabakprodukt-Richtlinie vom 15. Mai 2001 ausgesprochene Herstellungsverbot für bestimmte Zigaretten40. Weitere nationale Gemeinwohlvorbehalte zu Lasten des freien Wettbewerbs enthält das Beihilferegime des EG-Vertrags. So werden beispielsweise staatliche „Beihilfen für die Wirtschaft bestimmter, durch die Teilung Deutschlands betroffener Gebiete der Bundesrepublik Deutschland, soweit sie zum Ausgleich der durch die Teilung verursachten wirtschaftlichen Nachteile erforderlich sind“, für mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar erklärt41. Neben den vom EG-Vertrag generell ausgenommenen Beihilfen können zum Beispiel Ausnahmen für staatliche „Beihilfen zur Förderung der Kultur und der Erhaltung des kulturellen Erbes“ gewährt werden, „soweit sie die Handels- und Wettbewerbsbedingungen in der Gemeinschaft nicht in einem Maß beeinträchtigen, das dem gemeinsamen Interesse zuwiderläuft“42. Insbesondere bei der zuletzt genannten Regelung zeigt sich, wie 35 Für die Warenverkehrsfreiheit vgl. nur das Urteil des EuGH vom 20.2.1979, Rs. 120/78 (Cassis de Dijon), Slg. 1979, S. 649, 662 (Randziff. 8), und das Urteil vom 24.11.1993, Rs. C-267 u. C-268/91 (Keck u. Mithouard), Slg. 1993, S. I-6097, 6131 (Randziff. 15–17; dort auch die Einschränkung, dass Verkaufsmodalitäten betreffende Regelungen nicht dem aus der Warenverkehrsfreiheit folgenden Beschränkungsverbot unterfallen), für die Dienstleistungsfreiheit etwa das Urteil vom 24.3.1994, Rs. C-275/92 (Schindler), Slg. 1994, S. I-1039, 1093 ff. (Randziff. 46 ff.). 36 Vgl. Rudolf Streinz, Europarecht, 5. Aufl., Heidelberg 2001, § 12 II 3 c (Rdnrn. 699 ff.); eingehend Sonja Feiden, Die Bedeutung der „Keck“-Rechtsprechung im System der Grundfreiheiten. Ein Beitrag zur Konvergenz der Freiheiten, Berlin 2003, S. 121–248. 37 Durch die Einheitliche Europäische Akte, siehe oben Anm. 15. 38 Durch den Maastrichter Vertrag, Art. 129a EGV (heute Art. 153). 39 Ebenfalls durch den Maastrichter Vertrag, Art. 129 EGV (heute Art. 152). 40 Dazu näher Eckhard H. Pache, Die räumlichen Grenzen der Binnenmarktharmonisierung – Anmerkungen zur Tabakprodukt-Richtlinie der EG, in: H. Dreier/ H. Forke/K. Laubenthal (Hrsg.), Raum und Recht. Festschrift 600 Jahre Würzburger Juristenfakultät, Berlin 2002, S. 143–167. 41 Art. 87 Abs. 2 lit. c EGV.
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hier ein schonender Ausgleich zwischen Gemeinwohlzielen auf nationaler und europäischer Ebene angestrebt wird. Als letztes Beispiel sei die Sonderrolle der Dienste von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse (services d’intérêt économique général/services of general economic interest) genannt. Dabei kann hier dahinstehen, in welchem Umfang dieser Begriff mit dem deutschen Konzept der Daseinsvorsorge oder dem französischen Begriff des service public übereinstimmt43. In der Kommentarliteratur hat man ihn mit „wirtschaftlichen Aktivitäten zur Sicherung von Infrastrukturen und Daseinsvorsorge“ umschrieben44. Unternehmen, die solche Dienstleistungen erbringen, werden insofern privilegiert, als das gemeinschaftsrechtliche Wettbewerbsregime nicht gilt, wenn seine Anwendung die Erfüllung der den Unternehmen übertragenen besonderen Aufgabe rechtlich oder tatsächlich verhindert. Die Bedeutung der Dienste von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse „innerhalb der gemeinsamen Werte der Union“ sowie „ihre Bedeutung bei der Förderung des sozialen und territorialen Zusammenhalts“ wird durch Art. 16 EGV i. d. F. des Amsterdamer Vertrages besonders hervorgehoben. Dort wird zugleich festgelegt, dass die Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten im Rahmen ihrer jeweiligen Befugnisse im Anwendungsbereich des EGV dafür Sorge tragen, dass die Grundsätze und Bedingungen für das Funktionieren dieser Dienste so gestaltet sind, dass sie ihren Aufgaben nachkommen können. Diese Bestimmung kann zwar als Anerkennung der Gemeinwohlverantwortung der Mitgliedstaaten im Bereich der Daseinsvorsorge angesehen werden, erwei42
Art. 87 Abs. 3 lit. d EGV. Vgl. dazu Gérard Marcou, De l’idée de service public au service d’intérêt général, in: Franck Moderne/Gérard Marcou (Hrsg.), L’idée de service public dans le droit des Etats de l’Union européenne, Paris 2001, S. 365–411; Marceau Long, Service public et réalités économiques du XIXe siècle au droit communautaires, in: Revue française de droit administratif 2001, S. 1161, 1164 ff.; Winfried Kluth, Zur Bedeutung des Art. 16 EGV für die Wahrnehmung von Aufgaben der Daseinsvorsorge durch die Kommunen, in: Hans-Günter Henneke (Hrsg.), Kommunale Perspektiven im zusammenwachsenden Europa, Stuttgart u. a. 2002, S. 68–87; Michael Ronellenfitsch, Daseinsvorsorge als Rechtsbegriff – Aktuelle Entwicklungen im nationalen und europäischen Recht, in: W. Blümel (Hrsg.), Ernst Forsthoff. Kolloquium aus Anlaß des 100. Geburtstages, Berlin 2003, S. 53, 86 ff. Wegen einer Analyse von „service public“ und „Daseinsvorsorge“ in vergleichender Perspektive siehe Johann-Christian Pielow, Grundstrukturen öffentlicher Versorgung, Tübingen 2001, insbesondere S. 392 ff.; Franck Moderne, Les transcriptions doctrinales de l’idée de service public, in: Moderne/Marcou, a. a. O., S. 9, 61 ff.; Gérard Marcou, Les services publics en droit allemand, ebd., S. 83–192 44 So etwa Ingolf Pernice, in: E. Grabitz/M. Hilf (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Altband I, Art. 90, Rdnr. 35 (1994); Christian Jung, in: C. Calliess/ M. Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, 2. Aufl., Neuwied 2002, Art. 86, Rdnr. 36 (mit weiteren Nachweisen in FN 143). 43
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tert indes nicht das wettbewerbliche Sonderregime für die mit solchen Aufgaben betrauten Unternehmen. Die seit einigen Jahren intensivierte Wettbewerbskontrolle durch die Kommission wird gewiss auch in den kommenden Jahren Anlass zur Diskussion darüber geben, wie ein Ausgleich zwischen dem Gemeinschaftsinteresse, d.h. einer marktwirtschaftlich orientierten Wettbewerbsordnung einerseits und dem mitgliedstaatlichen Interesse an der Erhaltung gewachsener Strukturen der Daseinsvorsorge andererseits, gefunden werden kann. b) Berücksichtigung des Gemeinschaftsinteresses im nationalen Recht Dem grundlegenden Interesse der Gemeinschaft, dass sein Recht effektiven Vorrang vor dem jeweiligen nationalen Recht hat, wird seit längerem durch Anpassung bzw. Neuinterpretation des jeweiligen Verfassungsrechts Rechnung getragen45. Anwendungsfälle für die Vorbehalte einzelner Verfassungsgerichte, wieder in die Kontrolle des Gemeinschaftsrechts einzusteigen, wenn Essentialia der nationalen Verfassungsordnung gefährdet sind46, sind derzeit kaum vorstellbar. Anderes mag gelten, soweit es um die Kontrolle weiterer, vertraglich zu vereinbarender Integrationsschritte geht47. Unter dem Gesichtspunkt der Koppelung der Gemeinwohlsphären gewinnen Klauseln des nationalen Rechts besondere Bedeutung, die sich auf das öffentliche Interesse beziehen. Diese Klauseln eröffnen die Möglichkeit, ohne Rechtsänderung das Gemeinschaftsinteresse bei Entscheidungen nationaler Behörden gebührend zu berücksichtigen. Ein praktisch wichtiges Beispiel bietet die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes durch nationale Gerichte, wenn Normen des Gemeinschaftsrechts betroffen sind. Nach der Rechtsprechung des EuGH gebietet das Gemeinschaftsrecht einerseits, dass gegen die Anwendung gemeinschaftsrechtswidrigen nationalen Rechts einstweiliger Rechtsschutz gewährt werden kann48, andererseits, dass vorläufiger Rechtsschutz gegen den Vollzug von Gemeinschaftsrecht nur gewährt wer45 Vgl. zu diesem Befund aus dem umfangreichen Schrifttum nur Hartmut Bauer, Europäisierung des Verfassungsrechts, in: JBl. 2000, S. 750–763; Karl-E. Hain, Zur Frage der Europäisierung des Grundgesetzes, in: DVBl. 2002, S. 148–157; Eckart Klein, Gedanken zur Europäisierung des deutschen Verfassungsgrechts, in: J. Burmeister (Hrsg.), Verfassungsstaatlichkeit. Festschrift für Klaus Stern zum 65. Geburtstag, München 1997, S. 1301–1315; Dieter H. Scheuing, Die Europäisierung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, in: H. Bauer u. a. (Hrsg.), Ius Publicum im Umbruch. Referate und Diskussionsbeiträge des XI. Deutsch-Polnischen Verwaltungskolloquiums, Stuttgart u. a. 2000, S. 47–69. 46 Vgl. BVerfGE 73, 339, 376 („Solange II“). 47 Vgl. nur die für die zuständigen deutschen Staatsorgane verbindlichen Direktiven des Art. 23 GG.
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den darf, wenn erhebliche Zweifel an der Gültigkeit des maßgeblichen Gemeinschaftsrechtsaktes bestehen (fumus boni iuris), der Rechtsschutz im Hinblick auf einen drohenden schweren und nicht wiedergutzumachenden Schaden des Rechtsschutzsuchenden dringlich ist (periculum in mora) und – darauf kommt es hier an – dem Interesse der Gemeinschaft an der praktischen Wirksamkeit des in Frage stehenden Gemeinschaftsrechtsaktes Rechnung getragen wird49. Im deutschen Verwaltungsprozessrecht kann somit die im Rahmen der Aussetzungsentscheidung nach § 80 Abs. 5 VwGO und der Entscheidung über den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO notwendige Abwägung zwischen dem privaten und dem öffentlichen Interesse bei Sachverhalten mit Gemeinschaftsbezug zu einer anderen Bewertung führen als im Falle eines nur nationale Rechtspositionen betreffenden Sachverhalts50. Während bei der Entwicklung des Gemeinschaftsrechts die Mitgliedstaaten darauf geachtet haben, dass nationale Gemeinwohlbelange mit dem Gemeinschaftsinteresse gekoppelt bzw. zum Ausgleich gebracht werden können, sind es auf der Ebene des nationalen Rechts vor allem unbestimmte Rechtsbegriffe, durch die Belange des europäischen Gemeinwohls in die Entscheidungen der nationalen Behörden einfließen. In erster Linie war es hier der Europäische Gerichtshof gewesen, der zu einer Neuinterpretation des nationalen Rechts Anlass gegeben hat, die eine solche Koppelung beider Gemeinwohlsphären erlaubt. 2. Die Integration der Gemeinwohlziele Die Koppelung der europäischen und der nationalen Gemeinwohlsphären weist letztlich deshalb keine größeren Probleme auf, weil beide Sphären unter Anpassungsdruck stehen. Das europäische Gemeinwohl speist sich einerseits immer wieder neu aus Gemeinwohlvorstellungen der Mitgliedstaaten, entwickelt andererseits bei der Verwirklichung der einmal konsentierten Gemeinschaftsziele eine Eigendynamik, die auf die Mitgliedstaaten zurück48 Grundlegend das Urteil des EuGH vom 19.6.1990, Rs. C-213/89 (Factortame), Slg. 1990, S. I-2433, 2473 f. 49 Vgl. nur die Urteile des EuGH vom 21.2.1991, Rs. C-143/88 (Zuckerfabrik Süderdithmarschen), Slg. 1991, S. I-415, 544, und vom 9.11.1995, Rs. C-465/93 (Atlanta Fruchthandelsgesellschaft), Slg. 1995, S. I-3761, 3795. 50 Vgl. Claus Dieter Classen, Die Europäisierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, Tübingen 1996, S. 111 ff.; Oliver Dörr, Europäischer Verwaltungsrechtschutz (1998), in: H. Sodan/J. Ziekow (Hrsg.), Nomos-Kommentar zur Verwaltungsgerichtsordnung, Baden-Baden 1995 ff., Ordner I, EVR Rdnr. 467 ff.; Dirk Ehlers, Die Europäisierung des Verwaltungsprozessrechts, Köln u. a. 1999, S. 128 ff.; Thomas Dünchheim, Verwaltungsprozessrecht unter europäischem Einfluss, Berlin 2003, S. 224 ff.
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wirkt. Beispiele bilden die Umsetzung von Richtlinien durch den nationalen Gesetzgeber, der hier häufig eigener Spielräume der Gemeinwohlkonkretisierung weitgehend beraubt ist, oder die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung, die bis ins Verfassungsrecht hinein wirkt51. Es wäre eine verkürzte Sicht anzunehmen, das Gemeinschaftsrecht bewirke in diesen Fällen nur funktionelle Anpassungen, das heißt auf die Sicherstellung des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts begrenzte Änderungen. Die Tendenz zur Wahrung der Einheit der Rechtsordnung führt häufig zu strukturellen Anpassungen, die über den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts weit hinausreichen (sog. Spill-over-Effekte52). So hat beispielsweise der in manchen Mitgliedstaaten nur rudimentär ausgebildete freiheitssichernde Grundsatz der Verhältnismäßigkeit mittlerweile in das allgemeine Verwaltungsrecht fast aller Mitgliedstaaten Eingang gefunden, und zwar in der Ausdifferenzierung, die der EuGH53 in Anlehnung an die deutsche Dogmatik54 entwickelt hat55. Im institutionellen Bereich bildet die fortschreitende Annäherung der allgemeinen Grundsätze des einstweiligen Rechtsschutzes in den Mitgliedstaaten ein Beispiel; das nationale Verwaltungsprozessrecht orientiert sich mittlerweile generell an den vom EuGH entwickelten Maßstäben56. Insgesamt ist der europäische „Gemeinwohlverbund“57 durch wechselseitige Anpassungsprozesse gekennzeichnet, die angesichts nach wie vor 51 Vgl. außer dem Schrifttum in Anm. 50 Peter Michael Huber, Recht der europäischen Integration, 2. Aufl., München 2002, § 10 Rdnrn. 23–35 (S. 165 ff.), der sich gegen eine pauschale Anerkennung der „unionsrechtskonformen Auslegung“ als „ranghöchstes Auslegungsprinzip“ wendet (Rdnr. 34). 52 Karl-Heinz Ladeur, Supra- und transnationale Tendenzen in der Europäisierung des Verwaltungsrechts – eine Skizze, in: EuR Bd. 30 (1995), S. 227, 228. 53 Zusammenfassend das Urteil des EuGH vom 5.5.1998, Rs. C-180/96, Slg. 1998, S. I-2265, 2297. 54 Die Handhabung des Grundsatzes durch den EuGH sollte freilich nicht mit der deutschen Dogmatik und Praxis in eins gesetzt werden, vgl. nur Oliver Koch, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, Berlin 2003, S. 198 ff. 55 Vgl. die Länderberichte in dem dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gewidmeten Bd. 5 der Cuadernos de Derecho Pfflblico (Madrid 1998) sowie die übergreifende Studie von Javier Barnés, El principio de proporcionalidad. Estudio preliminar, ebd., S. 15–49; ein rechtsvergleichender Überblick auch bei Angelika Emmerich-Fritsche, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Direktive und Schranke der EG-Rechtsetzung, Berlin 2000, S. 140 ff.; Koch (vorige Anm.), S. 48 ff. 56 Vgl. Karl-Peter Sommermann, Der vorläufige Rechtsschutz zwischen europäischer Anpassung und staatlicher Verschlankung, in: K. Grupp/M. Ronellenfitsch (Hrsg.), Planung – Recht – Rechtsschutz. Festschrift für Willi Blümel zum 70. Geburtstag, Berlin 1999, S. 523, 527 ff.; ders., Konvergenzen im Verwaltungsverfahrens- und Verwaltungsprozeßrecht europäischer Staaten, in: DÖV 2002, S. 133, 142 f. 57 Calliess (Anm. 29), S. 173, 194 ff.
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bestehender Unterschiede der nationalen Interessen einen beachtlichen Gleichklang der Gemeinwohlziele bewirkt haben. Die weitgehende Übereinstimmung des materiellen Zielgefüges wird deutlich, wenn man die im Wege des Verfassungsvergleichs festzustellenden fünf Grundstaatsziele der Mitgliedstaaten58 – Rechtsstaatlichkeit, Sozialstaatlichkeit, Kulturstaatlichkeit, Friedensstaatlichkeit und Umweltstaatlichkeit – zu den Zielen und Betätigungsfeldern der Europäischen Union in Beziehung setzt. Alle fünf Grundziele haben im positivrechtlich definierten europäischen Gemeinwohl Niederschlag gefunden, wenngleich der Wirkungskreis der auf sie bezogenen Gemeinwohlsorge der Gemeinschaft bzw. Union teilweise sehr begrenzt ist59. So bleibt das Friedensziel, das durch eine gemeinsame Außenund Sicherheitspolitik verfolgt werden soll, im Bereich der intergouvernementalen Zusammenarbeit, wenn man einmal von Kompetenzen der Gemeinschaft in der Entwicklungszusammenarbeit absieht. Die Rechtsstaatlichkeit, die seit dem Maastrichter Unionsvertrag immer stärker ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt ist, wird auch im Falle der Aufnahme der Grundrechte-Charta in den Verfassungsvertrag nicht zu einem umfassenden Gestaltungsauftrag der Gemeinschaft in Sachen „Freiheit der Bürger“ werden, sondern vorerst ein auf die Kompetenzsphäre der Europäischen Gemeinschaft begrenztes Struktur- und Handlungsprinzip bleiben. Gewiss ist freilich eine Ausstrahlungswirkung des Rechtsstaatsverständnisses der Union auf die Verfassungsordnungen der bestehenden und künftigen Mitgliedstaaten60. III. Strukturprobleme der europäischen Gemeinwohlkonkretisierung Die bisherigen Ausführungen haben hinsichtlich der in den Rechtstexten enthaltenen Grundorientierungen des nationalen und europäischen Gemeinwohles ein weitgehend harmonisches Bild gezeichnet. Die entscheidenden Probleme oder Fragen des europäischen Gemeinwohls liegen in der Tat we58 Vgl. Karl-Peter Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, Tübingen 1997, S. 205–252. 59 Näher dazu Sommermann (vorige Anm.), S. 280–293. 60 So hat das spanische Verfassungsgericht in Anwendung des in Art. 10 Abs. 2 der spanischen Verfassung verankerten Grundsatzes menschenrechtskonformer Auslegung auf die Europäische Grundrechte-Charta (Art. 8) bereits vor ihrer Proklamation Bezug genommen, siehe das Urteil 292/2000 vom 30.11.2000 (betreffend das Organgesetz 15/1999 zur Regelung des Schutzes personenbezogener Daten). Eine Fundamentalkritik an der Charta hat indes der frühere Vizepräsident des Verfassungsgerichts, Francisco Rubio Llorente, geübt; vgl. dens., Mostrar los derechos sin destruir la Unión, in: Revista Española de Derecho Constitucional Bd. 22 (2002), S. 13, 27–52.
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niger in der Umschreibung der materiellen Gemeinwohlorientierung durch konsensfähige Formeln. Die kritischen Fragen betreffen vielmehr, wie bereits angedeutet, die institutionellen und prozeduralen Voraussetzungen für europäische Gemeinwohlsorge, die von den Bürgern als solche wahrgenommen werden soll. Vier Problemkreise seien angesprochen. 1. Zuordnungsprobleme Das europäische Gemeinwohl verbleibt dem europäischen Integrationsstand entsprechend in einem Zwischenbereich – um nicht zu sagen einer Grauzone – zwischen einem Gemeinwohl der Staaten bzw. Völker und einem Gemeinwohl der Bürger. Während einerseits das Gemeinschaftsrecht in die Rechtssphäre der Unionsbürger eingreift und ihren Status, etwa auch durch die Zuerkennung von Gemeinschaftsgrundrechten, verändert, spiegelt sich in den Institutionen einschließlich dem Parlament eine Repräsentation der Völker und ihrer Regierungen wider. Diese kann nicht – wie die Kommission dies gelegentlich tut61 – ohne weiteres mit einer Repräsentation der europäischen Bürger gleichgesetzt werden62. Die bestehende Asymmetrie erschwert den Unionsbürgern, die sich mangels einer medienwirksamen europäischen Öffentlichkeit nach wie vor an traditionellen staatlichen Kategorien orientieren, eine Zuordnung der Gemeinwohlverantwortung zur nationalen oder europäischen Ebene. Verschärft wird diese Situation durch eine intransparente Verteilung der Zuständigkeiten zwischen nationaler und europäischer Ebene. So ist es für die Akteure auf beiden Ebenen ein Leichtes, die Verantwortung für bestimmte unpopuläre Entscheidungen der jeweils anderen Ebene zuzuschreiben. Im Arkanum europäischer Entscheidungsprozesse lassen sich unfreundliche Maßnahmen gegenüber dem Wähler verbergen, im Licht der Öffentlichkeit Errungenschaften supranationaler Entscheidungsprozesse als Triumphe der eigenen Politik herausstellen. Die Verantwortungsdiffusion hat letztlich für beide Ebenen delegitimierende Wirkung. Doch insbesondere die Reichweite der Gemeinwohlsorge der Union, und damit letztlich das europäische Gemeinwohl überhaupt, bleiben schwer identifizierbar.
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Vgl. etwa das Weißbuch „Europäisches Regieren“ vom 25.7.2001, KOM(2001) 428 endgültig, S. 9. 62 A. A. Winfried Kluth, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, 2. Aufl., Neuwied 2002, Art. 189, Rdnr. 5 a. E.
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2. Mängel in den Entscheidungsverfahren Das angesprochene Repräsentationsdefizit kommt naturgemäß in den Entscheidungsverfahren der Union zum Tragen. Von ihrer Zusammensetzung und institutionellen Ausgestaltung her können am ehesten die Kommission, die durch ihr Initiativrecht als „Motor“ der Integration (Walter Hallstein) wirken soll, sowie der Gerichtshof mit dem Gemeinschaftsinteresse identifiziert werden, in geringerem Maße auch das Parlament. Dessen Abgeordnete werden zwar nur durch die Bürger ihres Heimatstaates und unter Abbedingung der Wahlrechtsgleichheit im Verhältnis der Abgeordneten verschiedener Mitgliedstaaten gewählt; sie sind indes als „Vertreter der Völker“ (Art. 189 Abs. 1 EGV) weisungsunabhängig. Im nach wie vor zentralen Entscheidungsorgan, dem Rat, sind die Regierungen der Mitgliedstaaten repräsentiert, die naturgemäß in erster Linie deren Interessen vertreten. Die Entscheidungen stellen sich daher als Ergebnis von Aushandlungsprozessen der nationalen Exekutiven dar, nicht selten als Kompromiss, in dem die im Primärrecht verankerten Gemeinwohlziele nicht den entscheidenden Maßstab bilden. Verstärkt wird der Eindruck fehlender Gemeinwohlorientierung, wenn bei einzelnen Vorhaben selbst im Parlament nicht nach den dort gebildeten Fraktionen, sondern nach nationalen Gruppierungen abgestimmt wird.
3. Verselbständigung der Gemeinschaftsinstitutionen und Distanz zu den Bürgern Lassen sich die skizzierten Organ- und Entscheidungsstrukturen, in denen nationales und europäisches Gemeinwohl sich gegenseitig behindern können, mit dem besonderen Charakter des europäischen Staatenverbundes erklären und rechtfertigen, so fällt dies bei Verselbständigungstendenzen der Gemeinschaftsorgane, die der Gemeinwohlorientierung zuwiderlaufen, schwerer. Das Dämmerlicht kompetenzieller Verflechtungen und komplexer Vergabeverfahren finanzschwerer EU-Programme kann den fruchtbaren Boden dafür bieten, dass Ämter in den europäischen Institutionen nicht immer gemeinwohlorientiert wahrgenommen werden. Unregelmäßigkeiten in der Kommission in einem bis dahin nicht zu erahnenden Ausmaß wurden Ende der neunziger Jahre publik, wobei das Europäische Parlament sich gegen Widerstände als wirksame Kontrollinstanz erwies. Der von ihm durch Entschließung vom 14. Januar 1999 eingesetzte Ausschuss unabhängiger Sachverständiger bestätigte in seinem Bericht über Anschuldigungen betreffend Betrug, Missmanagement und Nepotismus in der Europäischen Kommission schwerwiegende Verfehlungen63. Die Kommission, die sich schließlich
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einem Selbstreinigungsprozess unterzog, hat daraufhin strukturelle Änderungen ihrer Organisation und Arbeitsweise eingeleitet, welche künftig derartige Unregelmäßigkeiten verhindern sollen. Als Reaktion auf die Missstände ist insbesondere das Weißbuch „Europäisches Regieren“ vom 25. Juli 200164 zu lesen. In der einleitenden Begründung zu den erhobenen Reformforderungen werden freilich grundsätzliche Erwägungen genannt. So heißt es wörtlich – und beinahe trotzig65: „Die Union folgt dem Rechtsstaatsprinzip. Sie kann sich auf die GrundrechteCharta stützen und verfügt über ein zweifaches demokratisches Mandat, dem des Europäischen Parlaments, das die Bürger der EU vertritt, und dem des Ministerrates, der die gewählten Regierungen der Mitgliedstaaten vertritt. Trotz alledem fühlen sich viele Europäer dem Wirken der Union entfremdet.“
Die sich in der geringen Beteiligung an den Europa-Wahlen manifestierende Kluft zwischen der Europäischen Union und den Bürgern wird im Einzelnen näher beklagt. So hielten die Menschen die Union für unfähig, dort zu handeln, wo gehandelt werden müsse (z. B. bei der Arbeitslosigkeit und den Nahrungsmittelrisiken); werde die Union tätig, so würden ihr die Erfolge selten als Verdienst angerechnet; demgegenüber vermittelten die Mitgliedstaaten nur unzureichend, was die Union tue; schließlich wüssten viele Menschen nicht, was eine Institution von der anderen unterscheide und wer die Entscheidungen treffe, die sie berühre66. Die Lösung dieser Probleme entfaltet die Kommission anhand der Stichworte Offenheit im Sinne von Transparenz, Partizipation, Verantwortlichkeit, Effektivität und Kohärenz der Politik und des Handelns der Gemeinschaft67. Der Verbesserung der Transparenz des Gemeinschaftshandelns dient auch die kurz vor Verabschiedung des Weißbuches erlassene Verordnung vom 30. Mai 2001 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission68. In den Erwägungsgründen heißt es: „Transparenz ermöglicht eine bessere Beteiligung der Bürger am Entscheidungsprozess und gewährleistet eine größere Legitimität, Effizienz und Verantwortung der Verwaltung gegenüber dem Bürger in einem demokratischen System.“
Das im Weißbuch betonte Prinzip der Partizipation versuchte die Kommission im Kontext der Erörterung des Weißbuches selbst exemplarisch 63
Vgl. den Ersten Bericht des Ausschusses vom 15.3.1999. KOM(2001) 428 endgültig. 65 Ebd., S. 9. 66 Ebd., S. 9 f. 67 Ebd., S. 13 f. 68 Verordnung (EG) Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30.5.2001, ABl. L 145 vom 31.5.2001, S. 43 ff. 64
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herzustellen, indem sie die Öffentlichkeit zu Stellungnahmen aufforderte und dafür einen Zeitraum von acht Monaten, d.h. bis zum 31. März 2002, einräumte. In dem die Diskussion zusammenfassenden Bericht der Kommission vom 11. Dezember 2002 über europäisches Regieren69 heißt es, die Reaktionen auf die Konsultation der Öffentlichkeit zum Weißbuch seien zwar zahlenmäßig gering (260 Beiträge) gewesen, inhaltlich jedoch sehr ergiebig. Nähere Informationen und Erklärungen für die geringe Beteiligung sind dem Dokument in einem Anhang beigefügt. Der Vorgang verweist zugleich auf ein Grundproblem, welches von der Kommission indirekt angesprochen wurde. Um in öffentlichen Angelegenheit der Europäischen Union mitzureden, bedarf es mehr noch als auf nationaler Ebene besonderer Kenntnisse über die Funktionsweise der Institutionen. Dies wird auch bei den Beratungen im europäischen Verfassungskonvent und den begleitenden Konsultationen der Öffentlichkeit deutlich. Die Kommission setzt in ihrem Weißbuch daher bei dem Stichwort Partizipation insbesondere auf die Einbindung der „Zivilgesellschaft“70. Damit kommt freilich zugleich die Frage nach der Rolle der gesellschaftlich organisierten Interessen bei der Konkretisierung des europäischen Gemeinwohls ins Spiel. 4. Einfluss der Verbände und der „Zivilgesellschaft“ Die Verbände und sonstige gesellschaftlich organisierte Gruppen sind seit langem auf der europäischen Ebene präsent. Waren es zunächst hauptsächlich Wirtschaftsverbände, sind später andere Organisationen hinzugekommen. Eine Vielzahl von Verbandsinteressen ist mittlerweile europaweit organisiert und betreibt Lobbyarbeit am Sitz der europäischen Institutionen. Es wird geschätzt, dass heute „in Brüssel zwischen 2.000 und 3.000 europäisch ausgerichtete Lobbyagenturen verschiedenster Art angesiedelt sind“71. Vergleichbar der Situation auf nationaler Ebene kann einerseits auf den gebündelten Sachverstand vieler Verbände nicht verzichtet werden, wenn über Inhalte, Reichweite und Folgen von Rechtsakten der Gemeinschaft nachgedacht wird, andererseits muss verfahrensmäßig sichergestellt sein, dass eine Interessenselektivität möglichst ausgeschlossen wird72. Im Mehrebenensystem ist bei der Entwicklung gemeinwohlsichernder Governance69
KOM(2002) 705 endgültig. Weißbuch (Anm. 61), S. 19 f. Ebenso nunmehr Art. I-45 des Verfassungsentwurfs (oben Anm. 25). 71 Otto Schmuck, Die Beteiligung der Zivilgesellschaft – notwendige Ergänzung der Konventsstrategie, in: integration Bd. 26 (2003), S. 162. 70
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Strukturen zudem zu berücksichtigen, dass Interessengruppen sowohl über nationale als auch über supranationale Akteure, die in einem Entscheidungsverbund stehen, Einfluss nehmen können. Die Kommission hat in Ausführung der Prinzipien des Weißbuches „Europäisches Regieren“ die Grundsätze für die Einbeziehung und Konsultation von Sachverstand und besonderen Interessengruppen neugefasst73. Umgekehrt sollen diese Gruppen Selbstverpflichtungen auf der Grundlage eines „Code of conduct of consultants“ übernehmen. Die Gemeinschaftsverträge haben die Rolle der Verbände im übrigen von Anfang an betont. Bereits durch die Verträge von 1951 (EGKSV) und 1957 (EWGV und EAGV) wurden korporativ zusammengesetzte Ausschüsse mit beratender Aufgabe errichtet74. Der Wirtschafts- und Sozialausschuss der Gemeinschaft bestand, wie es bis vor kurzem hieß, aus „Vertretern der verschiedenen Gruppen des wirtschaftlichen und sozialen Lebens, insbesondere der Erzeuger, der Landwirte, der Verkehrsunternehmen, der Arbeitnehmer, der Kaufleute und Handwerker, der freien Berufe und der Allgemeinheit“75. Durch den Vertrag von Nizza wird nunmehr abgehoben auf Vertreter „der verschiedenen wirtschaftlichen und sozialen Bereiche der organisierten Zivilgesellschaft“76. Zudem werden die Verbraucher als eine zusätzliche Gruppe genannt77. Weiterhin heißt es, die Mitglieder des Ausschusses übten – wie übrigens auch die Mitglieder des Ausschusses der Regionen – ihre Tätigkeit in voller Unabhängigkeit zum allgemeinen Wohl der Gemeinschaft aus. Ob mit der Einführung der organisierten Zivilgesellschaft in den 72 Vgl. auch die Vorbehalte des Europäischen Parlaments in seiner Entschließung vom 29.11.2001 zu dem Weißbuch der Kommission (BRat-Drs. 1121/01 vom 18.12.2001), insbesondere Ziff. 11. 73 Unter den jüngsten Mitteilungen vgl. die Mitteilung „on the collection and use of expertise by the Commission: principles and guidelines“ vom 11.12.2002, COM(2002) 713 final, sowie die Mitteilung „towards a reinforced culture of consultation and dialogue – General principles and minimum standards for consultation of interested parties by the Commission“ vom 11.12.2002, COM(2002) 704 final. 74 Vgl. Art. 18 EGKSV, Art. 193 ff. EWGV und Art. 165 ff. EAGV (Beratender Ausschuss der EGKS und Wirtschafts- und Sozialausschuss der beiden weiteren Gemeinschaften). 75 Art. 257 Abs. 2 EGV i. d. F. des Amsterdamer Vertrags. 76 Nach einer Definition des Wirtschafts- und Sozialausschusses, die sich das Europäische Parlament zu eigen gemacht hat, umfasst die „organisierte Zivilgesellschaft“ die „Gesamtheit aller Organisationsstrukturen, deren Mitglieder über einen demokratischen Diskurs- und Verständigungsprozess dem allgemeinen Interesse dienen und als Mittler zwischen öffentlicher Gewalt und den Bürgern und Bürgerinnen auftreten“, vgl. die Entschließung des Europäischen Parlaments zu dem Weißbuch der Kommission „Europäisches Regieren“ vom 29.11.2001, KOM(2001) 428 – C50454/2001 – 2001/2181(COS), BR-Drs. 1121/01 vom 18.12.2001, S. 6. 77 Art. 257 Abs. 2 EGV i. d. F. des Vertrags von Nizza.
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Wirtschafts- und Sozialausschuss die erwartete Steigerung demokratischer Legitimation erreicht werden kann, darf füglich bezweifelt werden. Die Sprachregelung der Kommission und die Ergebnisse der Konventsarbeit zeigen, dass hier ein erheblich weiteres Verständnis von Demokratie und Legitimation zugrundegelegt wird, als es in der deutschen Staatsrechtslehre herrschend ist. Es schließt eher an die in der Politikwissenschaft geläufigen Kategorien an. Nur so wird verständlich, dass der Entwurf des Verfassungsvertrags in dem auf „das demokratische Leben der Union“ bezogenen Titel neben dem „Grundsatz der repräsentativen Demokratie“ scheinbar auf gleicher Stufe den „Grundsatz der partizipativen Demokratie“ anerkennt78. Dieser soll unter anderem in einem „offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog“ der Unionsorgane mit „den repräsentativen Verbänden und der Zivilgesellschaft“ verwirklicht werden79. Es liegt auf der Hand, dass dieser sich „postparlamentarischen“, insbesondere deliberativen Demokratiekonzepten80 nähernde Ansatz leicht mit der Gemeinwohlverpflichtung der Unionsorgane in Konflikt treten kann. Den Bemühungen der Kommission, die durch Konsultation und andere Formen der Partizipation erhaltenen Informationen in einem Interessenselektivität ausschließenden Verfahren zu verarbeiten, kommt hier besondere Bedeutung zu. Die institutionelle Ordnung der Europäischen Union, die durch zwei Stränge demokratisch legitimiert ist – die über die nationalen Parlamente vermittelte Legitimation der Mitglieder des Rats einerseits und die von den Wahlen zum Europäischen Parlament abgeleitete Legitimation andererseits81 –, zeigt im übrigen, dass die partizipativen Elemente nur ergänzend zur demokratischen Legitimation hinzutreten. Soweit sie die Entscheidungsgrundlage der Unionsorgane verbreitern und durch „Inklusion“ der Bürger Akzeptanz und Gemeinsinn fördern82, können sie zu einer Sicherung des europäischen Gemeinwohls beitragen.
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Vgl. Art. I-45 und I-46 des Entwurfs (oben Anm. 25). Vgl. Art. I-46 Abs. 2 des Entwurfs (ebd.). 80 Dazu näher Arthur Benz, Postparlamentarische Demokratie und kooperativer Staat, in: C. Leggewie/R. Münch (Hrsg.), Politik im 21. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2001, S. 263, 270 ff. 81 Vgl. Art. I-45 Abs. 2 des Verfassungsvertragsentwurfs (oben Anm. 25); ausführlich zur „Theorie der doppelten Legitimation der europäischen Verfassung“ Anne Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, Berlin 2001, S. 556 ff. 82 Zur Rolle von „Verfahren und Gemeinsinn“ für deliberative Demokratiekonzepte, denen das Verständnis der Kommission nahe steht, vgl. Dieter Fuchs, Gemeinwohl und Demokratieprinzip, in: G. F. Schuppert/F. Neidhardt (Hrsg.), Gemeinwohl – Auf der Suche nach Substanz (= WZB-Jahrbuch 2002), Berlin 2002, S. 87, 103. 79
Nationales und europäisches Gemeinwohl
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IV. Entwicklungsperspektiven Die Herausbildung eines europäischen Gemeinwohls, welches von den europäischen Bürgern als solches wahrgenommen wird und eine auch Wohlstandskrisen überwindende legitimatorische Kraft entfalten soll, setzt neue Arbeitsweisen und letztlich institutionelle Reformen voraus. Wichtige Ansätze liegen vor. Dazu gehört eine für den Bürger transparentere Verteilung der Kompetenzen und damit der Verantwortungsbereiche zwischen nationaler und europäischer Ebene83, eine Rationalisierung der internen Entscheidungsverfahren sowie die stärkere Öffnung der Gemeinschaftsinstitutionen für die Bürger. Diese manifestiert sich unter anderem in einer geänderten Informationspolitik und der intensiveren Nutzung der neuen technischen Möglichkeiten wie dem Internet. Sie ist auch im Kontakt mit den Institutionen spürbar. Die Wirkung der namentlich vom scheidenden Europäischen Bürgerbeauftragten Södermann immer wieder erhobenen Forderung einer Neuorientierung des Selbstverständnisses der europäischen Beamten, dass Sie nicht für die Staaten, sondern für die europäischen Bürger tätig seien, sollte für die Praxis nicht gering geschätzt werden. Fraglich erscheint hingegen, ob eine noch stärkere Einbindung der Verbände als Sprachrohr interessierter Bürger diese insgesamt näher an die Union heranführen und die Entwicklung europäischen Gemeinsinns fördern kann. Um Gemeinwohlbelange umfassend zur Geltung zu bringen, schiene es bei vielen Themen häufig eher angemessen, die nationalen Parlamente stärker in die unionalen Entscheidungsprozesse einzubeziehen. Entsprechende institutionelle Veränderungen wurden im Konvent beraten84, im Ergebnis ohne größeren Erfolg, wobei die Vermeidung zusätzlicher Komplexität der Entscheidungsverfahren ein wesentlicher und überzeugender Gesichtspunkt war. So wird der Ausbau eines „Parlamentsverbunds“ im europäischen Staaten- und Verfassungsverbund weitgehend informalen Kooperationsformen vorbehalten bleiben85. In diesem Verbund sollte aber der 83 Die Kompetenzkataloge in Teil I des Verfassungsvertragsentwurfs vom 13.6.2003 (Art. I-12 ff.) schaffen freilich nur scheinbar Klarheit, da zwar Materien grundsätzlich benannt werden, aber die entscheidenden Kompetenzabgrenzungen in den speziellen Vorschriften zu den Politikbereichen in Teil III getroffen werden. 84 Vgl. insbesondere die Beiträge in der Gruppe IV des Konvents („Rolle der einzelstaatlichen Parlamente“); dazu Karl-Peter Sommermann, Europäische Rechtsetzung und mitgliedstaatliche Beteiligung, in: ders. (Hrsg.), Aktuelle Fragen zu Verfassung und Verwaltung im europäischen Mehrebenensystem (= Speyerer Forschungsberichte, Bd. 230), Speyer 2003, S. 87, 98 ff. 85 Vgl. den Entwurf eines Protokolls „über die Rolle der nationalen Parlamente in der Europäischen Union“ zu dem Entwurf des Verfassungsvertrags vom 13.6.2003 (abgedruckt in: EuGRZ 2003, S. 373 f. Der Entwurf des Protokolls „über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit (ab-
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seit langem erhobenen Forderung einer weiteren Stärkung des Europäischen Parlaments Rechnung getragen werden86. Die damit verbundene Aufwertung nicht nur der Wahlkämpfe, sondern insbesondere auch der Kandidatenauswahl könnte den europäischen Gemeinwohldiskurs auf der Ebene der Bürger fördern. Auf absehbare Zeit kann freilich nur die doppelte Legitimation zum einen durch die im Rat vertretenen, ihrerseits den nationalen Parlamenten verantwortlichen Regierungen der Mitgliedstaaten und zum anderen durch das direkt gewählte Europäische Parlament die Union tragen.87 Die stärkere Partizipation der Bürger kann zwar die repräsentive Demokratie nicht als Legitimationsquelle ablösen; sie kann jedoch die Lebendigkeit der Demoktratie und den europäischen Gemeinsinn fördern.
gedruckt ebd., S. 374 f.) sieht unter Ziff. 7 immerhin vor, dass der Gerichtshof für Klagen wegen Verstoßes eines Gesetzgebungsakts gegen das Subsidiaritätsprinzip zuständig ist, „die . . . gemäß der jeweiligen innerstaatlichen Rechtsordnung von einem Mitgliedstaat im Namen seines nationalen Parlaments oder einer Kammer dieses Parlaments übermittelt werden“. 86 Nach dem Verfassungsvertragsentwurf des Konvents (oben Anm. 25) soll das Europäische Parlament „gemeinsam mit dem Ministerrat als Gesetzgeber tätig“ werden und „gemeinsam mit ihm die Haushaltsbefugnisse“ ausüben (Art. I-19 Abs. 1). Hinsichtlich der Gesetzgebung heißt dies konkret, dass von den künftig vorgesehenen Kategorien von Rechtsakten (europäisches Gesetz, europäisches Rahmengesetz, europäische Verordnung, europäischer Beschluss, Empfehlung und Stellungnahme) im Hinblick auf Gesetze und Rahmengesetze grundsätzlich das Mitentscheidungsverfahren gilt (Art. I-23). 87 Vgl. Karl-Peter Sommermann, Verfassungsperspektiven für die Demokratie in der erweiterten Europäischen Union: Gefahr der Entdemokratisierung oder Fortentwicklung im Rahmen europäischer Supranationalität?, in: DÖV 2003, S. 1009, 1010 ff.
Bericht über die Diskussion zum Vortrag von Karl-Peter Sommermann Leitung: Winfried Brugger Von Petra Kempf Dr. Veith Mehde, Mag. rer. publ., Hamburg, eröffnete die Diskussion mit der Aussage, dass man im Rahmen der Gemeinwohldiskussion zwischen den einzelnen Ebenen zu differenzieren habe. Er wies auf den von ihm als manifest empfundenen Konflikt zwischen dem europäischen und dem nationalen Gemeinwohl hin. Im Falle Deutschlands müssten zusätzlich die Länderinteressen berücksichtigt werden. Ein Beispiel bildeten die VW-Subventionen. Die arbeitsmarktpolitischen Gemeinwohlinteressen Sachsens, die für die Subventionsentscheidung maßgebend gewesen seien, spiegelten sich nicht auf der europäischen Ebene wider. Aus europäischer Sicht mache es keinen Unterschied, ob die mit solchen Projekten verbundenen Arbeitsplätze in Sachsen oder an einem anderen Standort in Deutschland oder auch in einem anderen Mitgliedstaat geschaffen würden. Die gleiche Situation bestehe bei der Airbuserweiterung in Hamburg. Das von Hamburg wahrgenommene Gemeinwohlinteresse stelle sicherlich kein Gemeinwohlinteresse der Bundesrepublik Deutschland dar, da das größte Flugzeug der Welt nicht notwendig in der Innenstadt von Hamburg gebaut werden müsse. Noch viel weniger sei es ein europäisches Gemeinwohlinteresse. Er frage sich, wo man aufgrund der Erkenntnis dieser manifesten Interessenskonflikte die unterschiedlichen Gemeinwohlinteressen festschreiben müsse bzw. könne. Ferner müsse man sich grundlegend um Konfliktregelungen in diesem Bereich bemühen. Dipl.-Ing. Kurt Kniebe, Saarbrücken, stellte in diesem Zusammenhang die föderalen Strukturen der Bundesrepublik Deutschland auf den Prüfstand. Er fragte, ob heute nicht die EU im Mittelpunkt stehe und die Mitgliedstaaten um sie herum angesiedelt werden müssten. Sei es nicht gerade die Länderebene, die zu diesen von seinem Vorredner geschilderten Problemen führe? Daran schließe sich die Frage an, ob die Länder, nachdem die EU-Ebene hinzugekommen sei, nicht eine Stufe zu viel darstellten; gerade die Vielschichtigkeit trage zu der Verwirrung vieler Bürger und deren Nichtidentifikation mit der Gemeinschaft bei.
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Bezugnehmend auf die von Prof. Dr. Karl-Peter Sommermann, Speyer, genannten übergreifenden Ziele der EU, Friede und Wohlstand, stellte Prof. Dr. Winfried Brugger, Heidelberg, fest, dass diese zugleich Ziele des Nationalstaates seien und somit die Zielsetzungen identisch wären. Gleichzeitig hätten sich die Kompetenzen bzgl. der einzelnen Regelungsmaterien zwischen der Europäischen Union und den Nationalstaaten angeglichen, so dass im Grunde keine Unterschiede mehr festzustellen seien. Man könne somit zu dem Schluss gelangen, dass auf beiden Ebenen die gleichen Gemeinwohlziele bestünden. „Oder gibt es doch ein deutsches Gemeinwohl, was nicht europäisch ist, bzw. gibt es ein europäisches Gemeinwohl, was sich nicht auf deutscher Ebene wiederfindet? Und falls ja, was könnte das sein?“ Dr. Sabine Schlacke, Rostock, unterstützte die von Sommermann dargelegte Rolle der Verbände sowie seine Bewertung der Entwicklung der Gemeinschaft. Auch nach ihrer Ansicht habe sich in den letzten Jahren ein europäisches Gemeinwesen entwickelt. Dies lasse sich insbesondere an Zielsetzungen wie dem Verbraucherschutz und dem Umweltschutz, der mit dem Amsterdamer Vertrag auch in die Präambel des EU-Vertrags Eingang gefunden habe, zeigen. Man könne hierin einen Kern materialer Gemeinwohlbelange erkennen. Fraglich sei jedoch, wie solche Gemeinwohlbelange kontrolliert werden können. Insbesondere sei die Rolle der Judikative ungeklärt. Der EuGH sehe sich nicht in der Lage und fühle sich auch nicht zuständig für die Umsetzung der Gemeinwohlbelange, was sich beispielsweise an der „Greenpeace-Entscheidung“ aus dem Jahr 1998 und an einer Entscheidung des letzten Jahres zur Individualklagebefugnis bei der Nichtigkeitsklage zeige. Sie frage sich, wie Sommermann die Rolle der Judikative zur Durchsetzung des europäischen Gemeinwohls beurteile. Brugger knüpfte an die Ausführungen von Sommermann zum Verfassungskonvent und der dort entwickelten Idee der dualen Loyalität an. Er frage sich, ob man unter Zugrundelegung der Ausführungen zu Amt und Amtseid von Prof. Dr. Josef Isensee, Bonn, und der Tatsache, dass Europarecht Vorrang vor deutschem Recht habe, tatsächlich schon so weit sei, dass der Amtseid entsprechend geändert werden müsste, so dass in Zukunft alle Parlamentarier und Regierungsvertreter nicht – wie bisher – nur dem Wohle des deutschen Volkes dienen sollten, sondern zum Wohle erstens des europäischen und zweitens auch des deutschen Volkes handeln sollten. „Wäre es nicht ein Akt der Ehrlichkeit dies auch ausdrücklich in die Verfassung aufzunehmen?“ Sommermann nahm zunächst zu der Frage Stellung, ab wann man von Gemeinwohl sprechen könne. Es sei im Rahmen der Diskussion darauf hingewiesen worden, dass das Ziel des Wohlstandes jedem politisch organisier-
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ten Gemeinwesen eigen sei, was auch für das Friedensziel gelte. Gerade das letztere stelle das typische Ziel und ein durch die Geschichte hindurch unverrückbares Element des Gemeinwohls einer politischen Gemeinschaft dar. Mit seinen Ausführungen habe er darauf hinweisen wollen, dass es einen Unterschied mache, ob die Europäische Gemeinschaft selbst Träger dieses Ziels sei oder ob sie nur Instrument der Mitgliedstaaten zur Erreichung dieses Ziels bleibe. Wenngleich man beide Sichtweisen nicht immer klar trennen könne, sei er doch der Ansicht, dass sich ein Perspektivenwechsel ergeben habe. Heute nehme die Union dieses Friedensziel und dessen Verwirklichung selbst für die Bürger wahr, während früher dieses Ziel für die Staaten entwickelt und verfolgt worden sei. Dies werde beim Studium der Entstehungsgeschichte der Gemeinschaft deutlich, insbesondere wenn man sich den bescheidenen Ansatz von Jean Monnet in Erinnerung rufe. Damals sei es zunächst um die Herstellung einer solidarité de fait durch konkrete Maßnahmen gegangen, so dass eine Qualifizierung als bloßer Zweckverband gerechtfertigt gewesen sei. Heute hingegen könne man nicht mehr nur von einem Zweckverband ausgehen, der jederzeit auch wieder beseitigt werden könne. Zwar werde noch im Anschluss an das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts von den Mitgliedstaaten als Herren der Verträge gesprochen; eine Auflösung der Gemeinschaft würde indes keineswegs nur die instrumentelle Ebene staatlicher Gemeinwohlverwirklichung betreffen. Unter Zugrundelegung des zuvor entwickelten Gedankens, dass die Gemeinschaft für das Gemeinwohl der Bürger zuständig sei, die nicht mehr nur Marktbürger, sondern Unionsbürger, künftig vielleicht sogar nur noch „Bürger“ seien (in den Dokumenten changierten diese Begriffe), müsse man allerdings auch die Konsequenz ziehen, dass die Ämter der Gemeinschaft dieser Verantwortung gemäß ausgeübt werden müssten. Im Moment sei es noch so, dass die Gemeinschaft das Subjekt sei und ihr gegenüber das Treueverhältnis bestehe. In den EU-Dokumenten könne man jedoch erkennen, dass daneben zunehmend von der Verantwortung gegenüber den Bürgern die Rede sei. Dies sei symptomatisch für den Entwicklungsstand des europäischen Gemeinwesens. Der Zwischenzustand in einem offenen und dynamischen Prozess komme auch in der (bereits älteren) Sui-generisThese zum Ausdruck, durch die die Zuordnung der Europäischen Union zu einer bestimmten Kategorie vermieden werde. Bezugnehmend auf die Äußerung von Mehde verwies Sommermann zunächst auf seine Ausführungen zur Kopplung der Gemeinwohlsphären. Darüber hinaus seien weitere Abstimmungsverfahren von Bedeutung. Auf diesem Gebiet werde derzeit auch gleichsam experimentell nach neuen Wegen gesucht. Er weise nur auf die Methode der offenen Koordinierung hin, die man benutze, um die beiden Gemeinwohlebenen möglichst effektiv und
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zugleich schonend aufeinander abzustimmen und um bei der Zielverwirklichung eine Alternative zum einseitigen „Schwert“ des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts zu entwickeln. Offene Koordinierung bedeute, dass außerhalb gemeinschaftlicher Rechtsetzung Ziele und Modalitäten ihrer Konkretisierung im Sinne eines Benchmarking vereinbart würden. Diese Methode berge jedoch insofern Risiken, als die formalisierten supranationalen Verfahren umgangen würden. Sie sei der Versuch, den Konflikt der Ebenen abzumildern und eine flexiblere Zielverwirklichung zu ermöglichen. Was konkrete Verwaltungsverfahren anbetreffe sei darüber nachzudenken, ob nicht künftig der Kreis der Beteiligten und Beizuladenden in dem Sinne zu erweitern wäre, dass das öffentliche Interesse verschiedener Ebenen besser berücksichtigt werde. Hinsichtlich der von Schlacke gestellten Frage einer gemeinwohlfördernden Rolle der Judikative sei zu bemerken, dass die Gemeinschaft sich sehr früh des Bürgers – damals „Marktbürgers“ – zur Verwirklichung der Gemeinschaftsinteressen bedient habe. Man habe insofern auch von der „Mobilisierung des Bürgers“ für das Gemeinschaftsrecht und letztlich für die Ziele der europäischen Gemeinschaft gesprochen. Diese Formulierung bringe zum Ausdruck, dass der Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof wesentlich auf die Verwirklichung der Ziele der Gemeinschaft, das Gemeinschaftsinteresse abziele, was freilich auch als Korrelat zum ursprünglichen Bild des Zweckverbandes gedeutet werden könne. Die neue Perspektive, die auf dem Recht der Unionsbürger auf effektiven Rechtschutz aufbaue, betone, dass der Bürger auch, vielleicht sogar in erster Linie, tätig werden solle, um ihm durch das Gemeinschaftsrecht verliehene Rechtspositionen durchzusetzen. Dabei verstehe sich von selbst, dass die Geltendmachung individueller Rechtspositionen jedenfalls sekundär weiterhin der Integrität der Gemeinschaftsrechtsordnung und ihrer Gemeinwohlziele diene. Es sei aber durchaus bemerkenswert, dass das in Deutschland herrschende Prinzip subjektiven Rechtsschutzes auch in der stark vom französischem (objektiven) Rechtsschutzdenken geprägten Gemeinschaftsrechtsordnung allmählich in den Vordergrund rücke. Brugger schloss die Diskussion und bedankte sich bei Sommermann für den Vortrag und bei den Diskussionsteilnehmern für die anregenden Beiträge.
Spielräume kommunaler Gemeinwohlsorge Von Hans-Georg Wehling I. Gemeinden sind, historisch gesehen, Institutionen der Gemeinwohlsorge. Es ist jedoch ein Irrtum, zu glauben, sie seien immer schon da gewesen, gar von ganz allein entstanden. Für Gemeinden als Genossenschaftsverbände gab es erst Raum nach einer tief greifenden Veränderung der Agrarverfassung in Deutschland um 1200 n. Chr.: An die Stelle der Bewirtschaftung des grundherrschaftlichen Landes als Ganzem durch Frondienste (Fronhofverfassung) trat nun die Aufteilung des Landes in zahlreiche zinspflichtige Bauernlehen, die von den Hofstelleninhabern und ihren Familien selbständig bewirtschaftet wurden, mit dem Ziel einer höheren Arbeitsmotivation und eines höheren Ertrages in deren Gefolge. Jetzt erst können wir auch von durchgängiger Sesshaftigkeit sprechen, die Dörfer bzw. Gemeinden im heutigen Sinne erlaubt. Frei wirtschaftend, „selbständig“ geworden, schlossen sich die Hofstelleninhaber zur Verfolgung gemeinsamer Interessen in Gemeinden zusammen, genossenschaftlich, als Vereinigungen im Prinzip gleichberechtigter Hofstelleninhaber, die für sich in Anspruch nahmen, damit zugleich die Interessen von Familienangehörigen (Frauen und Kindern) und Gesinde zu vertreten. Die Loslösung aus dem Verband des Herrenhofes machte eigene Institutionen zur Regelung des gemeinschaftlichen Lebens und Wirtschaftens notwendig. Gemeinden bilden sich – politisch wie auch sakral überhöht als Kirchengemeinden – rund um Kirche, Friedhof (als Ort der Generationenverbundenheit) und Wirtshaus, das nicht nur der Kommunikation, sondern auch als Rathaus diente. Eine landwirtschaftsnahe Infrastruktur musste eingerichtet und entsprechend gepflegt werden (z. B. Wegebau, Gemeinschaftseinrichtungen), Flurzwang und gemeinschaftliche Nutzungen (Allmende, Wald) mussten organisiert, Streitigkeiten geschlichtet, Verstöße gegen die gemeinsam aufgestellte Ordnung geahndet werden. Selbstverständlich wollte man auch die Kriminalität selbst abstrafen, wobei die Herrschaft sich immer die Ahndung der Kapitalverbrechen zu erhalten suchte, nicht zuletzt als verbleibendes Machtmittel. Ein soziales Netz musste in den Gemeinden geknüpft werden, zu-
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mindest rudimentär, um Notlagen zu mildern, vaterlos zur Welt Gekommene oder Gewordene versorgen zu können, genauso wie durch Krankheit, Alter oder sonstige Unglücksfälle in Not Geratene. Die kaum vorhandene Mobilität erlaubte es, die soziale Sicherheit lokal zu verankern. Die Folgen daraus: Da eine Art Solidarhaftung für die Menschen in Not auf der überschaubaren Ebene der Gemeinde bestand, wurde einerseits das Verhalten reglementiert und kontrolliert, andererseits die Mitgliedschaft in der Gemeinde (Bürgerrecht) restriktiv gehandhabt, wie heute noch in der Schweiz. Wer aus dieser gemeinschaftlichen, kommunal verankerten Haftung heraus fiel, war heimatlos, landete beim „fahrenden Volk“, einer streunenden Armengruppe von erheblichem quantitativem Ausmaß. Hinzu kam als Gemeindeaufgabe die Abwehr von Gefahren von außen: von Nachbargemeinden, die die Gemarkungsgrenzen zu ihren Gunsten ändern wollten, Räubern, marodierenden Soldaten und fahrendem Volk. Herrschaft war über Jahrhunderte hinweg ein Personalverband, kein Territorialverband, der vielmehr erst eine frühneuzeitliche Erscheinung ist. Lediglich die Gemeinde beruhte auf einem deutlich umgrenzten Territorium, in das jedoch verschiedenste Herrschaften mit ihren Rechten hinein griffen. Allerdings darf man sich die Präsenz von Herrschaft (später: die herrschaftliche, obrigkeitliche, „staatliche“ Bürokratie) nicht sehr umfangreich und differenziert vorstellen. Abgaben für allgemeine „staatliche“ Zwecke, für den überörtlichen Straßenbau, für Krieg und Kriegsfolgelasten, aber auch Jagdschäden usw. wurden auf die Gemeinden umgelegt, innerhalb deren die Lasten wiederum auf die Hofstelleninhaber verteilt wurden. Also auch die Steuerverwaltung, modern gesprochen, erfolgte in eigener Verantwortung, genossenschaftlich. Die Gemeinden legten für ihre Aufgaben und für die Abgaben gegenüber der Herrschaft Kassen an, die auch für die örtliche Kreditvergabe genutzt werden konnten. Von daher liegt auch das – sehr viel später eingerichtete – Sparkassenwesen im Rahmen dieser Entwicklung. Zur Erfüllung der gemeinschaftlichen Aufgaben bedurfte es eines Institutionensystems. Es bestand – vereinfacht dargestellt – aus dem Schultheiß als Spitzenorgan, der im Namen der Gemeinde, d.h. aller Gemeindebürger handeln und verhandeln konnte, unterstützt durch eine Gemeindevertretung, die zumeist auch Gerichtsfunktionen ausübte. Alle diese Organe waren von den Gemeindebürgern direkt gewählt. Vielfach hatte man, zumal in späteren Zeiten, ein engeres und weiteres Repräsentativorgan, wobei das letzte nicht nur zur Absicherung wichtigerer Entscheidungen diente, sondern auch zur Heranziehung von Nachwuchs, faktisch eine Form der Kooptation. Die wichtigsten Entscheidungen wurden der Gesamtheit der voll berechtigten Bürger vorgelegt, insbesondere alle Entscheidungen von finanzieller Tragweite. Hier liegt ein markanter Unterschied zur gegenwärtig herrschenden Lehre – konkretisiert in den Gemeindeordnungen – in Deutschland, wonach
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finanzielle Entscheidungen gerade nicht dem Bürgerentscheid zugänglich sein sollen, anders als in der Schweiz, die in vielerlei Hinsicht das traditionelle Modell einer Gemeindeverfassung bewahrt hat. Die Gemeindeaufgaben wurden durch Eigenarbeit („Fron“) und durch finanzielle Abgaben realisiert, es bestand hier so etwas wie „Konnexität“. Vorbildhaft wirken könnte somit der enge Zusammenhang zwischen kommunaler Aufgabenstellung, Aufgabenerledigung durch die Bürger selbst oder doch der unmittelbare Zusammenhang zwischen einer Aufgabe und den Geldaufwendungen/Steuerzahlungen durch die Bürger. Erkennbar wird hier vor allem die Gemeinwohlorientierung: Man arbeitet und finanziert gemeinsam, um das Gemeinwesen qualitativ zu heben, zugleich damit das Wohlergehen aller und eines jeden Einzelnen zu fördern. So werden Gemeinwesen und jeder Einzelne einer Kooperationsrendite teilhaftig, die zur politischen Beteiligung motiviert und zum Mitmachen animiert. Das Zustandekommen des (all)gemeinen Wohls wird als Verfahren, aber auch inhaltlich sichtbar. II. So ist denn die Herkunft der kommunalen Selbstverwaltung nicht nur ein historisches Thema. Das aufgezeigte Institutionensystem kann auch heute noch eine Leitbildfunktion haben, im Sinne der Orientierung, nicht der Imitation. Nicht nur in der Schweiz, sondern namentlich auch in der Süddeutschen Ratsverfassung sind wesentliche Elemente dieser ursprünglichen Form eines Selbstverwaltungssystems im Dienste einer kommunalen Gemeinwohlsorge erkennbar. Die Bürgermeister als hauptamtliches und ständiges Organ der Gemeinde werden von den Bürgerinnen und Bürgern direkt gewählt, in den „Ursprungsländern“ der Süddeutschen Ratsverfassung, in Bayern und vor allem in Baden-Württemberg, für einen verhältnismäßig langen Zeitraum von sechs bzw. acht Jahren. Die Gemeindevertretung, die zumindest formal alle wichtigen Entscheidungen der Gemeinde zu fällen hat, wird von den Bürgerinnen und Bürgern quasi „handverlesen“ durch Kumulieren und Panaschieren, indem das Kandidatenangebot der Parteien und Wählervereinigungen einerseits gewichtet (bis zu drei Stimmen für einen Kandidaten; Kumulieren), zum andern über die Listengrenzen hinweg bunt gemischt werden kann (Panaschieren; natürlich muss dabei jeweils auch gestrichen werden, damit die Gesamtzahl der vergebenen Stimmen die Höchstzahl nicht überschreitet). Damit ist den Parteien, insbesondere dem Partei-Establishment das Präsentationsmonopol aus der Hand genommen. Mehr noch: Da Parteien und Wählervereinigungen miteinander konkurrieren, versucht
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man, sich bereits bei der Aufstellung von Listen möglichst nahe an den vermuteten Wählerwünschen zu orientieren, d.h. Kumulieren und Panaschieren führen zu einer Antizipation der Wählerwünsche. Nach den Erfahrungen in Baden-Württemberg und Bayern präferieren die Wähler gerade nicht diejenigen, die besonders eng ihrer Partei verpflichtet sind, sondern eher diejenigen mit kritischer Distanz, mit selbständigem Kopf, die auch bereit sind, gelegentlich aus der Parteidisziplin auszubrechen, wohl wissend, dass der Wähler solche Eigenständigkeit honoriert. So kommen weniger die strammen Parteifunktionäre in den Rat als diejenigen, die sich auf anderen Feldern Verdienste und Anerkennung erworben haben: als erfolgreiche Geschäftsleute, Angehörige Freier Berufe, nicht zuletzt auch Ärzte, als Vereinsvorsitzende, als Persönlichkeiten, die sich in der Gemeinde verdient gemacht haben. Diese Art von Ratsmitgliedern ist eher bereit, mit einem parteilosen Bürgermeister oder mit einem Bürgermeister einer Minderheitspartei am Ort – und diese Konstellation kann es ja in diesem Verfassungssystem durchaus geben – gut zusammen zu arbeiten, zum Wohle der Gemeinde, im Interesse des gemeinen Wohls. Dieses Wahlsystem honoriert die Kooperation und bestraft den parteipolitisch motivierten Konflikt, ist also in hohem Maße gemeinwohlverträglich. Ein weiteres Element der Süddeutschen Ratsverfassung stellt die Möglichkeit zum Referendum dar: zu Bürgerbegehren und Bürgerentscheid, eine Möglichkeit, die immer dann ergriffen wird, wenn der Eindruck entstanden ist, Bürgermeister und Rat hätten sich allzu weit von der Meinung der Bürgerinnen und Bürger und damit letztlich vom Gemeinwohl entfernt. Der Bürgerentscheid führt die letzte Klärung herbei. Doch zu diesem Mittel muss nicht unbedingt gegriffen werden: Allein schon die Existenz des Referendums, die bestehende Möglichkeit zum Bürgerentscheid macht prinzipiell Kommunalpolitik besser. Denn Bürgermeister und Rat werden damit gezwungen, sich möglichst eng an den Bürgerwünschen zu orientieren, wollen sie nicht einen Bürgerentscheid provozieren. Die Wirksamkeit des Referendums lässt sich also nicht danach beurteilen, wie oft es angewendet wird, seine Existenz als Korrektiv wirkt bereits vorbeugend. Mit der Existenz dieses Instruments kommt ein marktwirtschaftliches Element in den politischen Entscheidungsprozess: Bürgermeister und Rat bekommen Konkurrenz, was sie zwingt, möglichst gut zu sein im Sinne des Gemeinwohls. Konkurrenz soll hier das Geschäft beleben. So gesehen ist es falsch, in der Einführung von Elementen direkter Demokratie eine Verschiebung des repräsentativen Systems in Richtung plebiszitärer Demokratie zu sehen. Um diese heilsame Wirkung entfalten zu können, muss das Instrument des Referendums allerdings scharf sein, als eine Art Schwert, das über den Häuptern der Gemeinderepräsentanten schwebt. D. h. die erlaubten Entscheidungsgegenstände für das Referendum haben inhaltlich möglichst um-
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fangreich – tendenziell alle Selbstverwaltungsangelegenheiten umfassend – und formal möglichst wenig restriktiv zu sein: d.h. tendenziell kein Quorum, allenfalls eine niedrige Mindestzahl von Abstimmungsteilnehmern. Man wird sich von der Annahme verabschieden müssen, dass Sachgebiete und Modalitäten des Referendums etwas sind, was die Repräsentanten unserer Demokratie den Repräsentierten „gewähren“. In Wahrheit ist es so, dass die Bürgerschaft als Souverän einen Teil dessen für sich zurückholt, was sie an die Repräsentanten delegiert hatte. Insbesondere geht es nicht an, den Bürgerinnen und Bürgern alle finanzwirksamen Mitwirkungsmöglichkeiten vorzuenthalten. Aus den Schweizer Erfahrungen wissen wir, dass es empirisch falsch ist, den Bürgern zu unterstellen, sie gefielen sich in „Spendierhosen“ und verlören die Gesamtsituation des Haushalts aus dem Blick. Im Gegenteil: Sie sind eher knauserig. In Deutschland weist der Bürgerentscheid in Reutlingen vom 20. 10. 2002 über ein vom Rat beschlossenes, als überdimensioniert empfundenes Kultur- und Kongresszentrum in dieselbe Richtung. Zwar stand außer Frage, dass die reiche Stadt Reutlingen den Bau bezahlen könnte, die Bürgerinnen und Bürger hegten jedoch Zweifel an einer adäquaten Auslastung über das ganze Jahr hinweg und fürchteten entsprechend hohe Folgekosten für den kommunalen Haushalt. Trotz der restriktiven Ausgestaltung des § 21 GemO BW, der ein 30%-Quorum vorschreibt (d.h. die Mehrheit muss mindestens 30% der Abstimmungsberechtigten ausmachen), kam der Bürgerentscheid erfolgreich zustande (bei einer Stimmbeteiligung von 44,6% lehnten 71,9% der Abstimmenden das geplante Kultur- und Kongresszentrum ab). Dies war eine Sensation, weil die Ausgestaltung des Bürgerentscheids ihn allenfalls zu einem praktikablen Mittel für kleine und mittlere Gemeinden macht, wegen der Informations- und Organisationskosten, die mit der Gemeindegröße überproportional ansteigen. Reutlingen jedoch hat 110.000 Einwohner. Den Oberbürgermeister kostete diese Entscheidung das Amt: in der kurz danach (23. 2. 2003) folgenden Oberbürgermeisterwahl verlor er gegen eine Herausfordererin deutlich (40,5 : 59,3%). Referenden sind also in der Lage, das Gemeindeschiff auf ganzer Linie wieder in das Fahrwasser des Bürgerwillens zu zwingen, mit Wechsel von Kurs und Kapitän, wenn es sein muss. Verfassungen, auch Gemeindeordnungen als Kommunalverfassungen, dürfen nicht isoliert nach ihren Einzelelementen betrachtet werden. Vielmehr ist auf das Institutionenarrangement zu achten. Das bedeutet, dass die einzelnen Teile in ihrem Zusammenhang dahingehend betrachtet werden müssen, ob sie miteinander vereinbar, in sich stimmig sind. Dieser Maßstab ist auch dort anzulegen, wo einzelne Elemente der Süddeutschen Ratsverfassung eingeführt worden sind.
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III. Bis 1990 gab es in der Bundesrepublik Deutschland vier Typen kommunaler Verfassungen. Zwar waren sich Kommunalwissenschaft und Beamte der Innenministerien aus ihren Erfahrungen weitgehend einig, dass nicht alle Typen in gleicher Weise den Qualitätsanforderungen genügten, gleichwohl scheiterten über Jahrzehnte hinweg alle grundlegenden Reformanläufe, auch wenn sie von der Landespolitik, insbesondere vom jeweiligen Innenminister propagiert wurden. Nordrhein-Westfalen bietet dafür in der Vergangenheit das klassische Beispiel. Zur Erklärung dieser Reformresistenz lässt sich einmal auf Gerhard Lehmbruchs Überlegungen zur Pfadabhängigkeit inhaltlicher und vor allem institutioneller Entwicklungen verweisen, nach denen jedes Verlassen eines einmal eingeschlagenen Pfades mit erheblichen Kosten – gleich welcher Art – verbunden ist, weshalb man sich lieber mit kleinen Kurskorrekturen begnügt. Zum anderen – auch ergänzend dazu – ist jede Politik und jedes institutionelle Arrangement mit erheblichen Interessen verbunden (vested interests): Wer in Positionen sitzt, ist aufgrund der gegebenen institutionellen Konstellationen dorthin gekommen, ist deren Nutznießer; Änderungen könnten seine Position gefährden, mit der Folge, dass er seine Macht zur Verhinderung von Reformen einsetzt. Wer von der Reform profitieren könnte oder würde, verfügt über kein Amt und damit auch nicht über eine entsprechende Vetoposition. Konkret auf das „doppelköpfige“ kommunale System der Norddeutschen Ratsverfassung in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen angewandt bedeutete das: Bei einer Zusammenführung der Ämter von (Ober)Bürgermeister und (Ober)Stadtdirektor müsste einer sein Amt verlieren. Mehr noch: Die Ehrenamtlichkeit des Bürgermeisters – verbunden mit einer erheblichen Aufwandsentschädigung – erlaubte es dieser Gruppe, zusätzlich weitere Ämter – mit zusätzlichen Vorteilen – einzunehmen, nicht zuletzt das des Landtagsabgeordneten: Damit wurde deren Vetoposition nochmals erheblich verstärkt; ganz abgesehen davon, dass kommunale Mandatsträger ohnehin wichtige Stützen von Regierung und Parteien im Land sind. Als „vested interests“ kommen alle diejenigen hinzu, die bei Gremienwahlen als Parteiestablishment ihre Einflussmöglichkeiten verlieren würden, wenn an deren Stelle die Direktwahl von Bürgermeister (und Landrat) tritt. So ist letztlich nicht die Verhinderung, sondern die Realisierung von Reformen erklärungsbedürftig. Zwei Reformanstöße sind hier entscheidend gewesen, taktische Kunstgriffe traten hinzu. 1. Nach der Implosion des SED-Regimes 1989 verabschiedete die Volkskammer noch vor der Deutschen Vereinigung eine neue demokratische Gemeindeordnung, in der die wesentlichen Elemente direkter Demokratie wie Volkswahl der Bürgermeister und Landräte verankert wurden. Die sich
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dann bildenden Neuen Bundesländer machten von ihrem grundgesetzlich garantierten Recht Gebrauch und gaben sich je eigene Gemeindeordnungen, in denen ebenfalls diese direktdemokratischen Elemente festgeschrieben wurden. Das ist nicht überraschend, war es doch nach allgemeiner Überzeugung die Bevölkerung selbst, die die Implosion des Systems herbeigeführt und die Wiedervereinigung durchgesetzt hatte; charakteristisch sind dafür die beiden Slogans: „Wir sind das Volk!“ und „Wir sind ein Volk!“. In den Alten Bundesländern ohne die genannten direktdemokratischen Elemente geriet man so in Argumentationsnot, hatte man doch namentlich das Referendum bislang immer verweigert mit der Unterstellung, das Volk sei nicht reif für mehr direkte Demokratie. Wie sollten das die Menschen in den Neuen Ländern sein, nach mehr als 50 Jahren autoritärer Herrschaft (das Dritte Reich mitgerechnet), die Menschen in der alten Bundesrepublik nach mehr als 40 Jahren Demokratieerfahrung jedoch nicht? 2. Der hessische Ministerpräsident Walter Wallmann (CDU) wusste 1990 aus Umfragen um seine und seiner Partei schlechten Chancen bei den bevorstehenden Landtagswahlen. Um an Popularität zu gewinnen, schlug er deshalb vor, die Bürgermeister und Landräte in Hessen künftig vom Volk direkt wählen zu lassen. Nach hessischer Verfassungslage war dafür ein Volksentscheid notwenig, der am 20. 1. 1991 stattfand und eine überwältigende Mehrheit von rund 82% für den Wallmann-Vorschlag erbrachte. Damit war bundesweit bekannt gemacht, wie populär eine solche Forderung ist. Die jeweilige Oppositionspartei in den Landtagen versuchte von nun an, mit einer entsprechenden Forderung die Regierungspartei in Bedrängnis zu bringen, wobei diese sich dann möglichst schnell selbst dieses Themas zu bemächtigen versuchte. Es ist Hans Herbert von Arnims Verdienst, auf diese Zusammenhänge aufmerksam gemacht zu haben. – Um dem eigenen Partei-Establishment das Vorhaben schmackhaft zu machen, wurden lang gestreckte Übergangszeiten installiert, so in Nordrhein-Westfalen, wo die Änderung der Gemeindeordnung am 14. 7. 1994 beschlossen wurde, aber im vollen Umfang erst zur Kommunalwahl am 12. 9. 1999 in Kraft getreten ist. Bis dahin war für viele Mandatsträger aus Altersgründen die Wahl ohnehin uninteressant geworden. Ziel der Reformen sollte sein, Verkrustungen des politischen Systems der Bundesrepublik aufzulösen, Reformen zu ermöglichen, das Eigeninteresse von Organisation und Mandatsträger zurückzudrängen, um in der (Kommunal-)Politik die Macht der Parteien zu beschränken, sie nicht länger als „Volksersatz“ (von Arnim) zu dulden, Klüngel und Korruption im Gefolge davon auf ein Mindestmaß zu reduzieren, (Kommunal-)Politik näher an die Wählerwünsche heranzurücken, und als Gemeinwohl die Vorstellungen der breiten Bevölkerungsmehrheit im Rahmen des vom Grundgesetz fixierten Wertesystems zu definieren und zu realisieren. Die Parteien haben jedoch
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ihrerseits versucht, möglichst viel von ihrer Machtposition zu retten. Das mag so manche Ungereimtheit in den revidierten Gemeindeordnungen erklären. An der hessischen wie an der nordrhein-westfälischen Gemeindeordnung sei das kurz exemplifiziert. Hessen hat die Direktwahl des Bürgermeisters in die bestehende Magistratsverfassung implantiert, wo – der Stadtverordnetenversammlung gegenüber stehend – eine förmliche Stadtregierung mit der Bezeichnung Magistrat existiert, im Grunde eine All-Parteien-Regierung entsprechend den Mehrheitsverhältnissen in der Stadtverordnetenversammlung. Im Magistrat ist der Bürgermeister lediglich der primus inter pares, der für alle seine Vorstöße bereits eine Mehrheit im Magistrat benötigt. Die Direktwahl jedoch hebt ihn heraus, die Eingebundenheit im Magistrat drückt ihn wieder herab, zwei gegensätzliche Bewegungen, die nicht zu einander passen und Bürgermeister einer Minderheitsgruppierung am Ort scheitern lassen. Schwer nur ist zu vermitteln, wenn der Gewählte auf die Realisierung seines Programms grundsätzlich verzichten muss. Inzwischen darf der Bürgermeister immerhin öffentlich erklären, dass er im Magistrat überstimmt worden ist. – Es darf mit weiteren Änderungen der Hessischen Gemeindeordnung gerechnet werden. Nordrhein-Westfalen hat bewusst auf der unbedingten Gleichzeitigkeit von Ratswahlen und Bürgermeisterwahlen bestanden. Damit soll ein parteipolitischer Überschattungseffekt erreicht werden. Die Einführung von Kumulieren und Panaschieren hat der Gesetzgeber hier – im Gegensatz zu allen anderen Flächenländern – bislang verweigert. So soll der Einfluss der Parteien auf die Zusammensetzung des Rates gewahrt bleiben, zugleich wird damit einem gewählten Bürgermeister einer Minderheitspartei am Ort das „Regieren“ erschwert, wenn nicht gar unmöglich gemacht, gerade weil er angesichts der Fraktionsdisziplin „eingemauert“ werden kann – und auch soll. Denn anders ließe sich kaum erklären, dass im Gesetz vorgesehen war, dass bei vorzeitigem Ausscheiden des Bürgermeisters für den Rest der Amtsperiode ein Nachfolger vom Rat gewählt wird. Die politische Strategie, die dahinter steht, zielt darauf ab, dass ein Bürgermeister einer Minderheitspartei solange blockiert wird, bis er das Handtuch wirft und vom Rat ein „passender“ Nachfolger gewählt werden kann, der dann bei der nächsten Kommunalwahl dank seines Amtsbonus bestätigt wird. Der frühe Tod des volksgewählten Kölner Oberbürgermeisters nur wenige Wochen nach Amtsantritt hat dieses Verfahren politisch unmöglich gemacht, die Gemeindeordnung wurde entsprechend geändert. Ganz allgemein zeigt sich, dass die strategischen Überlegungen der nordrhein-westfälischen Regierungspartei ohne Erfolg geblieben sind. Die Unzufriedenheit der SPD-Anhängerschaft in Nordrhein-Westfalen mit der Politik
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der rot-grünen Bundesregierung hat dazu geführt, dass 1999 in etlichen SPD-Hochburgen die Partei die Position des Bürgermeisters und die Ratsmehrheit verlor. Eine Entkoppelung hätte vermutlich einen solchen Erdrutsch verhindert und würde langfristig Kommunalpolitik in ruhigere Bahnen lenken. Wie bei jeder Reform treten auch bei der Reform der kommunalen Verfassungssysteme die Wirkungen nicht sogleich auf. Nicht nur die Wähler, auch die Parteien müssen erst lernen, die neuen Effekte zu erkennen und die Möglichkeiten, die sich nunmehr bieten, wahrzunehmen. Bislang noch unterstellen die Parteien in Nordrhein-Westfalen, die Wählerschaft verfüge bei der Auswahl der Kandidaten über die selben Selektionskriterien wie die Parteimitglieder und ihr Establishment. Das hat sich als falsch herausgestellt und wird sich langfristig gesehen herumsprechen. Erst dann kann die Volkswahl ihre volle Wirkung entfalten. IV. Die kommunale Gemeinwohlsorge setzt eine angemessene Ausstattung der Gemeinden mit eigenen Finanzmitteln voraus. Gegenwärtig fließen rund ein Drittel der Einnahmen der Gemeinden aus eigenem Steueraufkommen; ein Drittel aus Zuweisungen von Bund und Land – auch die EU spielt hier bereits eine Rolle – und ein weiteres Drittel umfasst Gebühren, Entgelte, Beiträge usw. aber auch Kredite. Je nach Gemeinde, vor allem aber auch nach Ost und West sieht die Struktur der Gemeindeeinnahmen recht unterschiedlich aus. Es bedarf keiner weiteren Erklärung, dass in den Neuen Bundesländern der Anteil an eigenen Steuereinnahmen wesentlich geringer, dafür der Anteil von Zuweisungen, nicht zuletzt aus Bundes- und EU-Mitteln, deutlich höher ist. Jede Einnahmeart der Gemeinden ist danach zu beurteilen, wie selbstverwaltungsfreundlich sie ist, d.h. auch, inwieweit die Kommunen Gemeinwohl selbst definieren können. So gesehen rangieren an erster Stelle die Realsteuern – Gewerbe- und Grundsteuer –, weil hier die Gemeinden innerhalb gewisser Grenzen ein Hebesatzrecht haben, die Höhe des Steuersatzes also festlegen können. Auch Gebühren, Entgelte und Beiträge können die Gemeinden selbst festsetzen, wobei sie dabei jedoch nach geltendem Recht keine „Gewinne“ machen dürfen, was insofern den Handlungsspielraum begrenzt als sich so beispielsweise im Umweltschutz nur wenige Steuerungsmöglichkeiten ergeben. Bei den Steuern ist zu berücksichtigen, dass es der Bund ist, der hier mit Zustimmung der Länder via Bundesrat die Gesetzgebungshoheit hat. Hier zeigt sich, dass die Gemeinden in Deutschland staatsrechtlich keine eigene Ebene im Bundesstaat darstellen, sondern Bestandteil
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der Länder sind. Von daher sind die Gemeinden darauf angewiesen, mittels kommunaler Spitzenverbände „Lobby-Arbeit“ wie jede andere Interessengruppe auch zu betreiben, um ihre Spielräume zu sichern. Bei den Zuweisungen muss man zwischen allgemeinen und zweckgebundenen Zuweisungen unterscheiden. Die ersten sind relativ unproblematisch, weil sie wie Steuereinnahmen zur allgemeinen Verfügung in die Gemeinden fließen. Mit den zweckgebundenen Zuweisungen jedoch soll das Verhalten der Gemeinden im Sinne des Gebers mit „goldenen Zügeln“ gelenkt werden. Dies ist noch zusätzlich problematisch, weil damit auch ein Teil der freien finanziellen Verfügungsmasse der Gemeinden gebunden wird: Zweckgebundene Zuweisungen gibt es nur, wenn die Gemeinde selbst etwas dazu legt. Bei der Kreditaufnahme wacht das Land streng darüber, dass sie sich nicht über Gebühr verschuldet – die Länder sind dabei gegenüber den Gemeinden wesentlich strenger als gegenüber sich selbst – leider! Wenn der Bund für das gemeine Wohl sorgen will, muss er das letztlich über die Gemeinden tun. Er selbst verfügt faktisch über keine Verwaltung, diese ist vielmehr Ländersache, und diese delegieren sie gerade auch im Bereich der Leistungsverwaltung an die Gemeinden; und das ist gut so, weil die Gemeinden nahe an den Problemen sind. Doch bei klammen Kassen besteht die Versuchung für den Bund, Reformen, aber auch einfach Wohltaten zu beschließen, ohne den exekutierenden Gemeinden entsprechende Finanzmittel zukommen zu lassen. Das berührt die Forderung nach Konnexität, die in Deutschland bislang jedenfalls als Verwaltungskonnexität verstanden wird: Wer verwaltet, muss für die Kosten aufkommen. Angemessen, sinnvoll, gerecht wäre jedoch die Gesetzgebungskonnexität: Wer eine Leistung beschließt, muss auch für deren Kosten aufkommen. Auf unsere Fragestellung bezogen lautet die Forderung: Wer für sich das Recht in Anspruch nimmt, die formale Kategorie Gemeinwohl inhaltlich auszufüllen, muss in der Lage und verpflichtet sein, die dafür erforderlichen Mittel zur Verfügung zu stellen. Der Bund sieht sich gegenwärtig dazu nicht verpflichtet, die Gemeinden sind dazu weitgehend nicht in der Lage. Die gegenwärtig schlechte Finanzsituation hat die verschiedensten Ursachen, wirtschaftsstrukturelle und konjunkturelle, politische Vorgaben (wie beispielsweise das Steuersenkungspaket der gegenwärtigen Bundesregierung), aber auch Ursachen, die in der Struktur der gegenwärtigen Finanzverfassung der Bundesrepublik Deutschland begründet sind. Eine umfassende Reform wäre hier von Nöten, die nicht nur – wie in der aktuellen, von Mitgliedern der Exekutive sowie Interessenvertretern beschickten „Kommission zur Reform der Gemeindefinanzen“ – über eine Verbesserung der Einnahmesituation der Gemeinden nachdenkt, sondern eine grundlegende Reform der Aufgabenverteilung und der
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dafür notwendigen Finanzen in einem Bundesstaat (unter Einschluss der EU) entsprechend dem Konnexitätsprinzip anstrebt. Das wäre Bestandteil einer umfassenden Reform des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland, die ich für dringend geboten erachte. Unter Aufhebung der gegenwärtig real existierenden Politikverflechtung müssten so vor allem die Verantwortlichkeiten wieder transparent werden: zwischen Regierung und Opposition, zwischen den Parteien (Bundesrats-Problematik), aber eben auch zwischen den verschiedenen Ebenen unseres Gemeinwesens. V. Es lässt sich aber auch eine Art Konnexität zwischen Bürgerwünschen, deren Realisierung und deren Finanzierung auf kommunaler Ebene denken. Wer hier die Konkretisierung von Gemeinwohl in eine bestimmte Richtung wünscht, muss sich nicht nur klarmachen, dass das finanziert werden muss, er muss vielmehr die Realisierungsverantwortung mit übernehmen. Zur Verantwortlichkeit der gewählten Repräsentanten muss also das Verantwortungsbewusstsein der Repräsentierten hinzukommen. Das kann durch materielle Interessiertheit erreicht werden, indem die Aufgabenleistungen der Gemeinde mit der Abgabenleistung der nutznießenden Bürger gekoppelt werden. „It’s my money!“, wie man es immer wieder in den USA hören kann, wäre ein Ausgaben bremsender und die Bürger für die politische Beteiligung aktivierender Effekt. Ein Weg dazu wäre die Aktivierung von Art. 106 Abs. 5 GG, wonach den Gemeinden ein Hebesatzrecht auf ihren Anteil an der Einkommensteuer eingeräumt werden kann – was der Bundesgesetzgeber bis heute nicht ermöglicht hat. Eine umfassende Konnexität auf kommunaler Ebene wäre allerdings wegen der möglichen Segregationserscheinungen unerwünscht, wie das Beispiel der USA zeigt (Altenstädte, Abwanderung der leistungskräftigen Steuerzahler in die weniger problem- und kostenbelasteten Vorstädte). Motivation zur politischen Beteiligung sowie Aktivierung der Bürger für eine Ausweitung der Spielräume kommunaler Gemeinwohlsorge könnten eine erwünschte Nebenwirkung sein, wenn man einerseits die Kosten kommunaler Einrichtungen transparenter macht, andererseits die Bürger direkt an den Kosten mit beteiligt. Die Repräsentanten der Gemeinde, Bürgermeister und Räte, könnten vor die Bürgerschaft treten mit dem Hinweis: Diese Investition könnte erfolgen, jene bereits bestehende Einrichtung ließe sich aufrechterhalten, doch das hätte eine Erhöhung des Hebesatzes bei der Einkommensteuer in dieser oder jener Höhe zur Folge! Manches kostenträchtige Projekt würde dann sterben – oder eben von den Bürgerinnen und Bür-
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gern, zum Teil wenigstens, selbst in die Hand genommen werden. Beispiele dafür gab es und gibt es dafür auch heute schon: Als die Stadt Neustadt an der Weinstraße sich bereits vor Jahren gezwungen sah, das Freibad im Ortsteil Mußbach zu schließen, nahmen die dortigen Bürger den Betrieb weitgehend selbst in die Hand – und so ist es bis heute geblieben. Ähnlich ist die Situation zur Zeit in der Stadt Singen am Hohentwiel, in der ein Freibad dringend sanierungsbedürftig ist und die Gemeinde es wegen der Kosten wenigstens vorüber gehend schließen wollte. Kostenlose Eigenleistungen der Bürger und Geldspenden erbrachten sogar mehr, als für diesen Zweck benötigt wurde. Es ist möglich, dass sich nicht alle Projekte kommunaler Gemeinwohlsorge in gleicher Weise für eine solche Aktivierung eignen. Doch das sollte man austesten. Denn als Ziel darf nicht aus den Augen verloren werden, die Gemeinden wieder das werden zu lassen, was der Name verheißt: kommunale Selbst-Verwaltung.
Bericht über die Diskussion zum Vortrag von Hans-Georg Wehling Diskussionsleitung: Heinrich Amadeus Wolff Von Stefanie Gille Kommunale Gemeinwohlsorge sieht sich heute zwei großen Problemkreisen gegenüber: zum einen der Finanzverfassung und mit ihr verbunden der Neuordnung der aktuell gebeutelten Kommunalfinanzen und zum anderen der direkten Beteiligung der Bürgerschaft an Entscheidungen über das Gemeinwohl. Nachdem Wehling in seinem Vortrag bereits auf diese beiden Eckpunkte hingewiesen hatte, wurden sie in der anschließenden Diskussion aufgegriffen. Dr. Christian Roßkopf, ehemaliger Oberbürgermeister der Stadt Speyer, bedankte sich in seinem Statement für die überzeugende Verdeutlichung des Referenten, wie Gemeinwohl in der Gemeinde historisch, personell und finanziell am ehesten sinnfällig gemacht werde. Es sei momentan ein offenes Geheimnis, dass das Gemeinwohl vor allem in den Städten und auch in manchen Gemeinden notleidend geworden sei. Dies ginge sogar so weit, dass öffentliche Einrichtungen geschlossen werden müssten und andere Sparmaßnahmen tiefe Einschnitte in das gemeindliche Leben nach sich zögen. Die Frage nach den eigentlichen und letzten Ursachen dieses Notstandes sei immer noch nicht endgültig geklärt. Hier wolle er sogar anregen, zu diesem Thema „Verfassung der Kommunen in Deutschland“ einmal eine eigene Tagung durchzuführen. Natürlich erhielten die Kommunen, so Roßkopf weiter, nicht genug Steuereinnahmen und es seien vor allem hohe Gewerbesteuerausfälle zu verzeichnen. Dies liege im deutschen System vor allem daran, dass der Gesetzgeber selbst die Maßnahmen meistens nicht umsetzen und finanzieren müsse. Die von der Regierung eingesetzten Kommissionen oder die vielgepriesene Selbsthilfe z. B. in Form von „Dreck-weg-Tagen“ böten da nicht den erhofften großen Wurf, sondern stellten nur Notbehelfe dar. Ein großer Faktor sei vielmehr, dass die Kommunen keine wirksame Vertretung in der Legislative besäßen. Er selbst sei lange Zeit Vorsitzender des Städtetages Rheinland-Pfalz gewesen, und durch seine langjährige Arbeit als Oberbürgermeister und in verschiedenen Landesgremien habe er sich intensiv mit
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der Idee der Etablierung einer kommunalen Kammer im Land auseinandergesetzt. Die Umsetzung dieser Idee sei bisher nicht gelungen und werde voraussichtlich auch in Zukunft nicht angegangen. Vielleicht mache sich die DHV Speyer einmal im Rahmen einer Tagung für diese Idee stark, das könne ihr möglicherweise bessere Chancen verschaffen, so Rosskopf. Der Bundesrat vertrete als Kammer die Interessen der Länder auf Bundesebene und bringe sich in den Bereichen ein, die die Länder in der Umsetzung beträfen. An einer solchen Vertretung der Kommunen und Städte im Land fehle es hingegen. Ein kommunaler Rat, wie er in Mainz eingerichtet worden sei, bewirke durch seine Unverbindlichkeit letztlich relativ wenig bzw. so gut wie nichts. In Rheinland-Pfalz gebe es weiterhin ein – nach Roßkopf – „unsinniges Gesetz“, welches die Trennung von Amt und Mandat vorsehe und damit verhindere, dass hauptamtliche Bürgermeister Mitglieder im Landesparlament sein dürften. Dies verhindere, kommunalen Sachverstand und kommunalen Willen in das Landesparlament einzubringen. Mit einer solchen Einbringung könne aber dafür gesorgt werden, dass man zu einer besseren Kongruenz von Aufgabenverteilung und -bewältigung gelange. In Frankreich lägen die Dinge nach seinem Dafürhalten wesentlich besser, weil dort jeder Bürgermeister gleichzeitig als Abgeordneter in der Assemblée Nationale und die Minister in Paris gleichzeitig als ehrenamtliche Bürgermeister in größeren Städten im Land fungierten. Er wolle in diesem Zusammenhang von Wehling wissen, wie dieser die Chancen bzw. Konstruktionsprinzipien der Etablierung einer kommunalen Kammer in den Ländern einschätze bzw. ob dieser eine Alternative dazu sehe. Zu diesem Themenkomplex konstatierte Wehling, dass er ungern an dieser Stelle über Frankreich reden wolle, weil dies sehr viel komplexer betrachtet werden müsse. Die kommunale Selbstverwaltung sei in Frankreich sehr viel weniger ausgeprägt als in Deutschland und man könne für die Gemeinden nur etwas erreichen, wenn man den „Hebel Paris“ habe. Die Vermischung, wie man sie in Frankreich pflege, beurteile er nicht so positiv, weil die Politiker dort häufig ihre Mandate vom Bürgermeisteramt bis zum Europaparlamentssitz anträten, um ihre Gehaltssituation zu verbessern und dann selten anwesend seien. Der Absentismus der französischen Abgeordneten im Europaparlament, die gleichzeitig Ämter als Bürgermeister oder Regionalratspräsident usw. innehätten, sei sehr offenkundig und hänge damit zusammen, dass sie alles aus sehr eigennützigen Interessen sammelten. Dieses Thema könne man aber an dieser Stelle nicht weiter verfolgen, weil es viel Zeit koste. Man müsse sich dafür in einem Ländervergleich Deutschland – Frankreich in einer eigenen Veranstaltung den Unterschiedlichkeiten widmen.
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Die fehlende institutionelle Vertretung sei in Deutschland darauf zurückzuführen, dass es staatsrechtlich nur zwei Ebenen, nämlich die Länder und den Bund gebe, so Wehling. Die Kommunen seien gemäß der Verfassungslage nur Bestandteile der Länder. Das Land habe viele Aufsichts- und Genehmigungsvorbehalte, die nicht unbedingt immer zum Schaden der Gemeinden existieren würden. Wenn man sich die Verschuldung in Deutschland ansehe, so sei der Bund seines Wissens nach mit ca. 65%, die Länder mit ca. 28% und die Kommunen nur mit 7% an der Gesamtverschuldung beteiligt. Dies könne man darauf zurückführen, dass die Kommunalaufsicht die Pläne der Kommunen von vornherein bremse und nicht mehr genehmige. Der Bund und die Länder hätten eine solche Bremse nicht und daher liege dort die Verschuldung erheblich höher. Es sei also nicht nur zum Nachteil der Gemeinden, dass sie nicht eine eigene staatliche Ebene bildeten. Natürlich könne man dies auch ändern, wobei man darüber wohl ausführlich diskutieren müsse. Es gebe in allen Ländern – wenn auch nicht überall Mitspracherechte so doch durchgehend – institutionelle Anhörungsrechte. In Baden-Württemberg z. B. sei die Stellung der Gemeinden nicht zuletzt deshalb so stark, weil der Ministerpräsident, der Innenminister und der Finanzminister ehemalige Ober- bzw. Bürgermeister seien. Damit seien die Interessen der Gemeinden, wenn auch nicht formal bzw. rechtlich geregelt, so doch indirekt stark berücksichtigt. Zur Finanzsituation der Kommunen merkte Wehling noch an, dass nicht nur der Einbruch bei der Gewerbesteuer zu verzeichnen und dies auf konjunktur- und branchenabhängige Faktoren zurückzuführen sei bzw. mit den Steuersenkungsplänen und -gesetzen der Bundesregierung zu tun habe. Es seien daneben auch sehr schwere handwerkliche Fehler durch die Bundesregierung bzw. das Bundesfinanzministerium gemacht worden. Man könne nun einmal nicht akzeptieren, dass kleine Supermarktbesitzer in Sindelfingen Gewerbesteuer zahlen müssten und Daimler-Chrysler gleichzeitig davon befreit sei. Ebenso ginge es nicht, dass eine Firma wie BMW ihr Rover-Abenteuer in Großbritannien von der Stadt München bezahlt bekomme. Die Milliardenverluste könnten sie bei der Steuer geltend machen und den Nachteil habe dann die Kommune. Diese Abschreibungsmöglichkeiten stellten für die Firmen, so Wehling, geradezu einen Anreiz dar, auf Abenteuersuche zu gehen und sich verlustbringende Töchter im Ausland anzuschaffen. Das Beispiel Schwäbisch-Hall zeige, dass ein Rückgang der Gewerbesteuer von 59 Millionen DM auf 9 Millionen DM durch die Verlustgeschäfte der gleichnamigen Bausparkasse, erst einmal zu verkraften sei. In früheren Jahren seien auch einmal Millionen eingespielt worden, mit denen man nicht gerechnet habe, aber diese Zeiten wären nunmehr vorbei. Bei der Steuergesetzgebung habe man schwere handwerkliche Fehler gemacht, und merkwürdigerweise hätten die Vertreter der kommunalen Spit-
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zenverbände nicht rechtzeitig gemerkt, was dort passiere. Er habe ganz große Vorwürfe gegen das zu erheben, was der Gesetzgeber dort verbrochen habe. Man brauche sich eigentlich nur die Gesetzestitel (Gesetz zur Fortsetzung der Unternehmenssteuerreform 2001, Steuerverkürzungsbekämpfungsgesetz 2001, Unternehmenssteuerfortentwicklungsgesetz 2002) anzusehen, um zu merken, dass ein Gesetz das andere jage, um die Fehler, die man vorher gemacht habe, durch ein neues Gesetz, das auch nicht durchdachter sei, zu korrigieren. Von Arnim nahm in der Diskussion noch einmal Stellung zu den von Wehling geäußerten Thesen zur direkten Demokratie. Erfreulicherweise habe man wieder einmal gesehen, dass in der Wissenschaft die Trennung zwischen Staat und Kommunen nicht so prägend sei und man sich dort auch keine Scheuklappen anlege. Wehling habe trotz staatsrechtlicher Ausrichtung auch die Kommunen und ihre Probleme voll im Griff. Für ihn – von Arnim – seien allerdings noch zwei Dinge relevant. Zum einen habe Wehling dargestellt, dass durch die Reform der Kommunalverfassungen die Pfadabhängigkeit trotz der großen Eigeninteressen der Amtsinhaber gebrochen worden und das süddeutsche System auf den ganzen Rest der erweiterten Republik übertragen worden sei, obwohl man dies vorher jahrzehntelang für unmöglich gehalten habe. Dies zeige, dass nur entsprechend starke Instrumente notwendig wären, um die Pfadabhängigkeit zu überwinden. Dabei gebe es kein stärkeres Instrument als Volksbegehren bzw. Volksentscheid, deren Fanalwirkung Wehling ja bereits für Hessen dargestellt habe. Auch in anderen Ländern wie z. B. Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Saarland und Schleswig-Holstein habe es die Opposition durch glaubwürdiges Androhen von Volksbegehren bzw. Volksentscheid geschafft, die Regierungsparteien, die diese Reformen alle nicht wollten, unter den notwendigen Druck zu setzen. Zum zweiten, so von Arnim weiter, habe man bereits in dem Tagungsbeitrag von Kielmansegg etwas über den Parteienwettbewerb gehört. Dieser habe am Ende fragend angemerkt, ob direkte Demokratie nicht strukturwidrig sei, wenn man sie mit der repräsentativen Demokratie verbinde. Nun frage er, von Arnim, sich aber, ob man nicht aus der Entwicklung der Kommunalverfassung und ihrer Durchsetzung mit Volksbegehren unter Stärkung des Wettbewerbsgedankens die Schlussfolgerung ziehen könne, dass eine Ergänzung der repräsentativen Demokratie durch direktdemokratische Elemente die Wettbewerbsdemokratie bzw. den Parteienwettbewerb fördere. Wehling konstatierte in der Antwort dazu, dass man dem wohl zustimmen könne. Die Elemente direkter Demokratie stünden seiner Ansicht nach nicht in Konkurrenz zur repräsentativen Demokratie. Sie würden nirgendwo sehr genutzt, was man an den Fallzahlen einfach sehen könne. Selbst in
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Bayern, wo die Regelungen – durch Volksentscheid erzwungen – am großzügigsten seien, hielten sich die Zahlen der Bürgerentscheide in Grenzen. Sie seien viel geringer, als sie in der Presse erschienen, weil eine ganze Menge Verzerrungen mit berücksichtigt werden müssten. Das Beispiel Oberammergau, wo man in einem ersten Bürgerentscheid über den ersten Kandidaten als Spielleiter für die Passionsspiele, in einem zweiten über den zweiten Kandidaten und in einem dritten dann über die Konkurrenz zwischen den beiden abstimmen ließ, zeige, dass man auch teilweise in einer Sache drei Bürgerentscheide habe und dies die Statistik natürlich in die Höhe treibe. Auch in Bayern falle die Statistik also bei genauem Hinsehen nicht so hoch aus und es gebe keine wirkliche Konkurrenz. Es sei aber auch nicht als Konkurrenz zur repräsentativen Demokratie gedacht. Die repräsentative Demokratie werde besser durch Bürgerentscheide. Wenn die Vertreter der repräsentativen Demokratie die Konkurrenz des Bürgerentscheides spürten, gäben sie sich Mühe, ihren Anforderungen gerecht zu werden und strengten sich mehr an. Auch dort bewähre sich das marktwirtschaftliche Konkurrenzprinzip in der öffentlichen Willensbildung. Auf einen weiteren Punkt ging Wehling am Ende noch ein, indem er den Blick auf die Realisierung der neuen Gemeindeverfassungen lenkte. Man stelle dabei fest, dass sich zwar einiges, aber doch nicht so viel geändert habe. Die Parteien hätten die Änderungen häufig gar nicht richtig realisiert. In Baden-Württemberg hätte man z. B. als Bürgermeisterkandidat die besten Chancen, wenn man nicht aus der Gemeinde komme und eine gewisse Parteiendistanz demonstriere, wohingegen in den Ländern, die das System neu eingeführt hätten, dies noch nicht zu beobachten sei. Wenn man genau hinsehe, erkenne man, dass Parteigremien, die die Kandidaten benennen dürften, dies weiterhin so täten, als wenn sich nichts geändert hätte. Sie unterstellten, dass die Bürgerinnen und Bürger dieselben Selektionsmechanismen hätten, wie sie selbst als Parteiangehörige. Solange alle Parteien so handelten, funktioniere das System auch weiter. Wenn aber Minderheitsparteien auf die Idee kämen, ihre Kandidaten nach anderen Kriterien auszuwählen, und damit Erfolg hätten, würde sich dies wahrscheinlich ändern. Gegenwärtig hätten die Parteien wohl den Eindruck, dass ihre Maßstäbe auch die Maßstäbe der Bürger seien. Den Lernprozess, dass dies auch sehr weit auseinander klaffen könne, müssten die Parteien erst noch vollziehen. Auch die Bürger hätten noch nicht alle Möglichkeiten verstanden, die in diesem System steckten. Dies wäre wohl noch eine Frage der Zeit. Wolff beendete die Diskussion an dieser Stelle mit einem Dank an die Referenten und Diskutanten.
Neue Wege der Gemeinwohlverwirklichung
Gemeinwohl durch direkte und repräsentative Demokratie Von Charles B. Blankart „Gemeinwohl [ist] die Resultante, [die] sich jeweils aus dem Parallelogramm der ökonomischen, sozialen, politischen und ideologischen Kräfte einer Nation dann ergibt, wenn ein Ausgleich angestrebt und erreicht wird, der objektiv den Mindestanforderungen einer gerechten Sozialordnung entspricht und subjektiv von keiner maßgeblichen Gruppe als Vergewaltigung empfunden wird.“ (Ernst Fraenkel)
„Erstens gibt es kein solches Ding wie ein eindeutig bestimmbares Gemeinwohl, über das sich das ganze Volk kraft rationaler Argumente einig wäre oder zur Einigkeit gebracht werden könnte. . . . Selbst wenn aber zweitens ein hinreichend bestimmtes Gemeinwohl . . . sich als für alle annehmbar erwiese, würde dies nicht ebenso bestimmte Antworten auf einzelne Probleme implizieren. Die Ansichten darüber können in einem solch bedeutenden Ausmaß auseinandergehen, dass größtenteils die gleichen Wirkungen entstehen wie bei ‚fundamentaler‘ Uneinigkeit über die Ziele selbst.“ (Joseph A. Schumpeter)
I. Was ist eigentlich Gemeinwohl? Was das Gemeinwohl umfasst, ist, wie die beiden Eingangszitate zeigen, umstritten. Deutungen reichen von objektiver und subjektiver Bestimmbarkeit bei Ernst Fraenkel1 bis zur völligen Ablehnung des Konzepts bei Joseph A. Schumpeter2. Daher ist es angezeigt, sich langsam tastend an das Problem anzunähern. Hans Herbert von Arnim hat eine pragmatische Vorgehensweise vorgeschlagen. Mit Blick auf das Gemeinwohl empfiehlt er: „Wenn sich auch positiv nicht sagen lässt, was richtig ist, so lässt sich doch bisweilen negativ eindeutig klarlegen, dass etwas unrichtig ist.“3 Ich 1
Ernst Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, Stuttgart 1964/ 1973, S. 21. 2 Joseph A. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, Bern 1942/ 1950, S. 399 f.
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möchte im Hinblick auf das mir gestellte Thema des Einflusses der direkten Demokratie auf das Gemeinwohl ebenfalls diesen Weg beschreiten und in Teil II zuerst untersuchen, ob die Vorwürfe der Gemeinwohlfeindlichkeit gegenüber der direkten Demokratie begründet sind und die direkte Demokratie dem Gemeinwohl abträglich ist. Sodann werde ich in Teil III anhand des Angebots privater Güter zeigen, wie Gemeinwohl in der Ökonomik definiert wird und wie sich ein Gemeinwohltest durchführen lässt. In Teil IV wird das entwickelte Konzept zunächst auf direkte Demokratien angewandt und dann auf parlamentarische Demokratien ausgedehnt. Teil V enthält die Schlussfolgerungen. II. Ist direkte Demokratie gemeinwohlwidrig? Gegner der direkten Demokratie warten im allgemeinen mit einem Standardsortiment von Argumenten auf, um nachzuweisen, dass diese Form der politischen Willens- und Entscheidungsfindung für die Bundespolitik untauglich und für das Gemeinwohl abträglich sei. Der frühere Bundespräsident Theodor Heuß meinte sogar, direkte Demokratie könne leicht zu einer „Chance für Demagogen“ werden. Im Sinne von von Arnims vorgeschlagener Methode möchte ich diese Evergreens erst einmal Revue passieren lassen und damit prüfen, ob direkte Demokratie gemeinwohlwidrig einzuschätzen ist4. 1. Die Bundesrepublik Deutschland ist als reine parlamentarische Demokratie konzipiert, die direkte Volksentscheide nicht zulässt Nach der hier angeführten These wäre zu schließen, dass die Einführung der direkten Demokratie jedenfalls auf Bundesebene dem Gemeinwohl abträglich ist. Zur Beurteilung dieser These möchte ich mich wiederum an von Arnim halten, der von den von Art. 79 Abs. 3 GG umfassten Fundamentalnormen ausgeht5. Diese Normen stellen aus seiner Sicht einen Konsensbereich dar, welcher der Änderbarkeit und damit dem politischen Streit entzogen sein soll. Zu diesen Fundamentalnormen gehört aber auch Art. 20 Abs. 2 GG, in dem zur direkten Demokratie explizit Stellung genommen 3 Hans Herbert von Arnim, Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland, München 1984, S. 125. 4 Ein Teil der nachfolgenden Argumente ist entnommen aus Charles B. Blankart, Zehn Vorurteile gegen Volksabstimmungen auf Bundesebene, in: Wirtschaftsdienst, 82. Jg. (2002), Nr. 9, S. 521–525. 5 Hans Herbert von Arnim, Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland, München 1984, S. 125.
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wird. Der bekannte Text lautet: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“ Das heißt: Der Souverän ist das Volk. Es kann sich unmittelbar in Wahlen und in Abstimmungen ausdrücken. Diese beiden Entscheidungsformen stehen gleichgewichtig und primär nebeneinander. Demgegenüber leiten die besonderen Organe ihre Macht gebunden aus der Macht des Volkes ab. Sie besitzen keine eigene Souveränität, sondern sind dem Volk, das sich in Wahlen und Abstimmungen ausdrückt, nachgelagert (Art. 20 Abs. 3 GG). Das heißt, wenn das Volk in Wahlen oder Abstimmungen eine Entscheidung trifft, so hat sich das Parlament zu fügen. So jedenfalls steht es im Grundgesetz6. Wenn also Art. 20 Abs. 2 GG zu den Gemeinwohlbereichen zählt, so kann direkte Demokratie schwerlich als gemeinwohlfeindlich eingestuft werden. Im Gegenteil, sie muss auch auf Bundesebene durchgesetzt werden und darf nicht auf einige marginale Fälle bzw. auf faktisch null reduziert werden7.
6 Verschiedene Autoren versuchen diesen klaren Verfassungsauftrag immer wieder zu verwischen und im Falle von Volksabstimmungen die Gefahr eines Streites um die „höhere demokratische Legitimation“ von Parlament oder Volk heraufzubeschwören; siehe Rupert Scholz, Politische Partizipation in der repräsentativen und parlamentarischen Demokratie, in: Politische Studien 1995, Vol. 1, S. 5–16, 12. Es lohnt sich, zur Interpretation von Art. 20 GG die aus der Literatur durch einsame Klarheit herausragende Charakterisierung des Staatsrechtlehrers Christian Pestalozza heranzuziehen: „Das Volk ist nicht nur alleinige Quelle der Staatsgewalt, Absatz 2 Satz 1, sondern übt sie auch allein aus. Und zwar unmittelbar und selbst in Wahlen und Abstimmungen, im übrigen durch die genannten besonderen Organe. Volk und besondere Staatsorgane sind also nicht je verschiedene Ausüber der Staatsgewalt. . . . Die Zuständigkeiten der besonderen Organe sind also stets solche, die besonders zugewiesen sein müssen und unter Rechtsvorbehalten stehen. Die des Volkes sind dagegen weder enumeriert noch limitiert. . . . Kompetenzen der Staatsorgane sind restriktiv auszulegen, wenn sie in den Bereich des Popularvorbehalts überzugreifen drohen. . . . Die eindeutige Grundregel für die Verteilung der Macht zwischen Volk und Staatsapparat ergibt sich aus Art. 20 II, III GG. Sie enthält den Auftrag an den Gesetzgeber, alles zu tun, was der Bürgerkompetenz förderlich, alles zu unterlassen, was ihr hinderlich ist. Dieser Auftrag ist bislang nicht erfüllt.“ (Christian Pestalozza, Der Popularvorbehalt. Direkte Demokratie in Deutschland, Berlin, New York 1981, S. 12. 7 Art. 28 Abs. 1 S. 3, Art. 29, Art. 118a. Von den bisherigen Abstimmungen zur Länderneugliederung beruhen weder jene von Baden-Württemberg noch jene von Berlin-Brandenburg auf Art. 29. Gemeindeversammlungen nach Art. 28 Abs. 1 S. 3 gibt es in Deutschland nicht.
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2. Volksabstimmungen sind zwar im Grundgesetz erwähnt, aber der Parlamentarische Rat hat sie als dem Gemeinwohl abträglich abgelehnt Diese Rückzugsposition findet sich in zahlreichen Publikationen8. In der Tat hat sich der Parlamentarische Rat nach seiner anfänglichen Zuneigung zur direkten Demokratie im Laufe der Beratungen eher wieder von ihr abgewandt. Dennoch hat er sich nicht dazu entschlossen, die in Art. 20 Abs. 2 GG genannten Abstimmungen als Mittel der Entscheidungsfindung zu streichen oder zu relativieren. Im Grundsatz hat sich somit nichts geändert. Dieser Frage ist Otmar Jung in verschiedenen Schriften nachgegangen9. Danach haben die Gefahr des Kommunismus und der herannahende Kalte Krieg den Rat dazu bewogen, das Petitum zunächst zurückzustellen, aber eben nicht aufzugeben. So wird die Beibehaltung von Art. 20 Abs. 2 GG verständlich. Demnach wäre es spätestens nach der Überwindung des Kalten Krieges angebracht gewesen, das Provisorium aufzugeben und das Verfassungsversprechen einzulösen10. Die Bundesregierung hat zwar in der Legislaturperiode 1998/2002 einen Anlauf genommen, ein dreistufiges System von Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid einzuführen. Die notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit wurde aber schon im Bundestag verfehlt. Im Abstimmungsergebnis spiegelt sich die tiefe Abneigung der Parteien und Parlamentsabgeordneten, ihre Macht mit den Bürgern zu teilen, wider. Derzeit ist beabsichtigt, Initiativen als eine Art Massenpetitionen an das Parlament zuzulassen. Als Ausübung der Staatsgewalt durch Abstimmungen, wie dies Art. 20 Abs. 2 GG vorsieht, können solche Aktionen wohl kaum verstanden werden.
8 Siehe z. B. Roman Herzog, Art. 20 GG, in: Theodor Maunz/Günter Dürig/ Roman Herzog/Rupert Scholz (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Band II, Loseblattsammlung, München, Stand September 1980. 9 Otmar Jung, Kein Volksentscheid im Kalten Krieg! Zum Konzept einer plebiszitären Quarantäne für die junge Bundesrepublik 1948/49, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 45/1992, S. 16–30; Otmar Jung, Grundgesetz und Volksentscheid. Gründe und Reichweite der Entscheidungen des Parlamentarischen Rates gegen Formen direkter Demokratie, Opladen 1994. 10 Wer würde sich bei dieser Verschlossenheit der führenden Politiker gegenüber den in Art. 20 Abs. 2 GG genannten Abstimmungen nicht an Friedrich Wilhelm III. erinnern, der im Jahr 1822 sein im Krisenjahr 1810 gegebenes Verfassungsversprechen brach und die Direktwahl einer preußischen Nationalrepräsentation unterband? Erst die Revolution des Jahres 1848 schuf bekanntlich den Durchbruch zum direkt gewählten Parlament. Dies war 38 Jahre danach!
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3. Der Missbrauch der direkten Demokratie hat entscheidend zum Untergang der Weimarer Republik beigetragen Nach der hier angeführten Missbrauchsthese müsste die direkte Demokratie auf Bundesebene sicherlich als gemeinwohlwidrig bezeichnet werden. Weil sie sich aber bisher noch nicht nachweisen ließ, gilt sie seit langem als verworfen. Ihrer Beliebtheit hat dies indessen keinen Abbruch getan. Sie wird bei Bedarf immer wieder aktiviert. Daher ist kurz darauf einzugehen, was der Historiker und Staatsrechtslehrer Ernst-Rudolf Huber11 schon vor vielen Jahren geschrieben hat. Huber nennt für die Zeit der Weimarer Republik sieben eingeleitete „Verfahren zur Volksgesetzgebung“. Davon wurden drei von vornherein für ungültig erklärt, weil sie Finanzvorlagen betrafen. Eines wurde zurückgezogen, und ein anderes erreichte nicht die notwendige Unterschriftenzahl. Zur Abstimmung gelangten somit noch zwei Vorlagen: das Volksbegehren auf Enteignung der Fürstenvermögen (1926) und das Volksbegehren gegen den Young-Plan (1929). Nach der herrschenden Doktrin zählte die Mehrheit der Stimmberechtigten. Jede Stimmenthaltung war demnach als Neinstimme zu werten. Damit begünstigte das Verfahren die Ablehnung, die dann in beiden Fällen auch eintrat. Insgesamt lässt sich sagen: Viele Restriktionen erschwerten den Weg zur Volksabstimmung, und hohe Annahmeerfordernisse bremsten ihren Erfolg, so dass die Institution den Bestand der repräsentativen Demokratie schwerlich hat gefährden können. Selbst wenn die beiden zur Abstimmung gebrachten Vorlagen angenommen worden wären, so hätte dies die Weimarer Republik schwerlich geschwächt, möglicherweise sie sogar gestärkt. Fest steht indessen, dass die Notverordnung von Anfang 1933 auf dem Verwaltungsweg erlassen wurde und die darauf folgenden Notstandsgesetze, die die Weimarer Republik vollends aus den Angeln hoben, vom Reichstag beschlossen worden sind. Hier versagte die repräsentative, nicht die direkte Demokratie; denn einem späteren Referendum waren diese Gesetze nicht zugänglich. Es deutet auf ein seltsames Geschichtsverständnis hin, wenn der Öffentlichrechtler Rupert Scholz das „Scheitern der Weimarer Demokratie [nennt], die über die Weimarer Verfassung eine Fülle plebiszitärer Verfahren kannte und gerade auf der Grundlage dieser Verfahren auch einen sehr wesentlichen Faktor der eigenen demokratischen Instabilität begründete“12. Vor dem 11
Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Band VI, Die Weimarer Reichsverfassung, Stuttgart 1981. 12 Rupert Scholz, Politische Partizipation in der repräsentativen und parlamentarischen Demokratie, in: Politische Studien 1995, Vol. 1, S. 5–16, 7.
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Hintergrund der vom Parlament (und nicht vom Volk) verabschiedeten Notstandsgesetze kann man nur sagen: Etwas mehr plebiszitäre Verfahren hätten der Weimarer Republik möglicherweise mehr Stabilität gewährt und damit viel Leid erspart. 4. Stimmabstinenz weist darauf hin, dass die Bürger bei Volksabstimmungen überfordert sind und damit nicht gemeinwohlorientiert abstimmen können Diese These lässt sich am besten am Beispiel der Schweiz darstellen, wo ja die Volksabstimmung zum festen Bestandteil des politischen Systems gehört. Dort hängt die Stimmbeteiligung nicht unwesentlich von der Bedeutung einer Abstimmung aus der Sicht der Wähler ab. Gebhard Kirchgässner, Lars P. Feld und Marcel R. Savioz13 beobachten für die Schweiz bei Abstimmungen auf Bundesebene seit den letzten 30 Jahren eine Stimmbeteiligung von etwas über 40 Prozent. Doch bei wichtigen Abstimmungen wie der 1986er Abstimmung über den UNO-Beitritt lag sie bei 51 Prozent, beim Volksentscheid über die Abschaffung der Armee bei 69 Prozent und bei der Abstimmung über den Beitritt zum EWR bei 78 Prozent, bei „Ja zu Europa“ von 2001 bei 56 Prozent, und bei der erneuten Abstimmung zum Unobeitritt von 2002 lag sie bei 57 Prozent. Frank Marcinkowski14 errechnet aufgrund verschiedener Untersuchungen für die Schweiz, dass sich rund 60 Prozent der Urnengänger als sachkompetent betrachten. Dies sind etwa 30 Prozent der Stimmberechtigten. Rund die Hälfte, d.h. 50 Prozent der Stimmberechtigten, nehmen selektiv an den Abstimmungen teil. Nur 20 Prozent sind Dauerabstinenten, die sozusagen nie zur Abstimmung gehen. Die meisten Stimmbürgerinnen und Stimmbürger scheinen also eine Art Arbeitsteilung zu betreiben: Sie gehen bei für sie bedeutenden Fragen selbst zur Urne, überlassen dies aber bei anderen Fragen ihren interessierten Mitbürgerinnen und Mitbürgern. Im Vergleich zu Sachabstimmungen in der Referendumsdemokratie sind in einer parlamentarischen Demokratie die Wahlen von ungleich größerer Bedeutung. Dementsprechend liegt die Stimmbeteiligung bei Wahlen in der Regel höher. Bei den Wahlen zum Deutschen Bundestag lag sie bei 78 Prozent (1990), 79 Prozent (1994), 82 Prozent (1998) und 79 Prozent (2002). 13
Gebhard Kirchgässner/Lars P. Feld/Marcel R. Savioz, Die direkte Demokratie. Modern, erfolgreich, entwicklungs- und exportfähig, Basel, Genf, München 1999. 14 Frank Marcinkowski, Überforderung der Bürger? Faktoren der Meinungs- und Mehrheitsbildung im Stimmvolk – Erfahrungen aus der Schweiz, Manuskr., Berlin 2002.
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Bei den Europawahlen von 1999 betrug die Wahlbeteiligung im Vergleich nur 45 Prozent; sie lag damit auf dem Niveau der schweizerischen Abstimmungen zu Einzelvorlagen. Dies entspricht der Vermutung der erwähnten Arbeitsteilung. Eine solche wird im übrigen auch in Parlamenten der repräsentativen Demokratie praktiziert. Die Arbeitsgruppen geben die Fraktionsparolen aus, wonach die Abgeordneten stimmen. Konsequenterweise müsste das Argument der überforderten Stimmbürger auch auf die Parlamentarier angewandt werden. 5. In der direkten Demokratie werden Fragen auf Ja-Nein-Alternativen verkürzt. Das Gemeinwohl verlangt indessen eine sorgfältige Abwägung von Pro und Contra unter Einbezug von Kompromissen Hierzu schreibt Rupert Scholz: „[Es] erweist sich sehr rasch, dass . . . plebiszitäre Verfahren im Prinzip nicht kompromissfähig sind, wie es einer pluralistischen Demokratie gemäß ist. Denn das Plebiszit kennt im Grunde nur das ‚Ja‘ oder ‚Nein‘ bzw. ‚Schwarz‘ oder ‚Weiß‘ “15. Aus diesem Zitat lässt sich erkennen, dass der Autor nicht verstanden hat (oder nicht verstehen will) wie direkte Demokratie funktioniert. Es kommt nicht nur auf das Ja oder Nein an der Urne an. – In dieser Hinsicht unterscheidet sich übrigens die direkte Demokratie nicht von der parlamentarischen; in beiden steht am Ende ein Ja oder Nein. – Von Bedeutung ist vielmehr der Prozess, welcher der Abstimmung voraus geht. Erfahrungen aus der Schweiz zeigen, dass die direkte Demokratie die Abgeordneten zwingt, schon auf Parlamentsebene mehr Meinungen zu integrieren, als zur Erzielung einer knappen Mehrheit im Parlament notwendig sind. Andernfalls werden die in der Parlamentsabstimmung Unterlegenen Unterschriften sammeln und ein Referendum fordern, um zu testen, ob das Vorhaben von der Mehrheit der Wähler gutgeheißen wird. Um sicher zu gehen, dass die Vorlage nicht scheitert, müssen ihre Verfechter einen Sicherheitszuschlag einbauen. Sie müssen also – anders als Scholz meint – weitergehende Kompromisse suchen, als dies bei bloß parlamentarischer Verabschiedung notwendig ist. Die Kompromissfähigkeit der Referendumsdemokratie ist daher größer und nicht geringer als die der reinen parlamentarischen Demokratie. Die Schweiz wird aus diesem Grund in der Literatur häufig als Konsensdemokratie bezeichnet. Die seit dem Jahr 1959 bestehende Koalitionsregierung, die etwa 70 Prozent der Sitze des Nationalrats umfasst, belegt dies. Wenn also Konsens, wie oben dargelegt, als gemeinwohlkonform betrachtet 15 Rupert Scholz, Politische Partizipation in der repräsentativen und parlamentarischen Demokratie, in: Politische Studien 1995, Vol. 1, S. 5–16, 9.
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wird, so kann die Konsensdemokratie schwerlich als gemeinwohlfeindlich betrachtet werden. 6. Die direkte Demokratie verlangsamt den politischen Prozess Sicherlich muss eine Regierung auch rasch entscheiden können, und das Verfahren der direkten Demokratie würde möglicherweise zu allseits unerwünschten Verzögerungen führen. Dem lässt sich durch Dringlichkeitsbeschlüsse Rechnung tragen, wie sie in der Schweiz zulässig sind. Als dringlich erklärte Gesetzesvorlagen können nur befristet in Kraft treten. Sie sind in einem Referendum zu bestätigen, wenn ca. 1,3 Prozent der Stimmbürger dies verlangen, bzw. sie müssen (in jedem Fall) in einem Referendum bestätigt werden, wenn sie sich nicht auf die Verfassung stützen. Gelingt dies nicht, so fallen sie dahin. Die Rückkopplung über das Referendum trägt auch dazu bei, vor übereilten Beschlüssen zu bewahren. In reinen parlamentarischen Demokratien sind eifrige Politiker gelegentlich bestrebt, ihre Sonderwünsche als dringend zu erklären und im Schnellverfahren durchs Parlament zu ziehen. Ein späteres Referendum ist dann nicht mehr möglich, selbst wenn bessere Einsichten offenbar werden. 7. Direkte Demokratie führt zu volatilen politischen Entscheidungen Auf einer Tagung meinte kürzlich ein bekannter deutscher Politikwissenschaftler, dass es die direkte Demokratie (in der Form von Versammlungen) seit dem Untergang der athenischen Demokratie nicht mehr gebe. Diese Form der Meinungsbildung sei aufgegeben worden, weil sie sich als zu volatil und damit als gemeinwohlwidrig erwiesen habe16. Der Autor hat offenbar übersehen, dass es in der Schweiz noch rund dreißig Gemeinden mit Gemeindeversammlungen und zwei Kantone mit Lands16 Solche Ansichten stammen vermutlich aus den Federalist Papers (Alexander Hamilton/James Madison/John Jay, Die „Federalist Papers“, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Barbara Zehnpfennig, Darmstadt 1993), wo James Madison (in Nr. 10) schreibt: „dass eine reine [d.h. direkte] Demokratie . . . kein Heilmittel gegen das Übel der Parteiungen bietet. . . . Deshalb haben solche Demokratien immer den Schauplatz von Unruhen und Streitigkeiten abgegeben, sind stets als unvereinbar mit den Erfordernissen der persönlichen Sicherheit oder den Eigentumsrechten betrachtet worden, und ihre Lebensdauer war im allgemeinen ebenso kurz wie ihr Ende gewaltsam.“ Madison belegt diese These jedoch mit keinerlei Beispielen. Vermutlich wollte er ein schwarzes Bild der direkten Demokratie malen, um seinen Vorschlag der parlamentarischen Demokratie, der „Republik“, wie er sich ausdrückt, in umso hellerem Glanz erscheinen zu lassen.
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gemeinden gibt, in denen alles andere als instabile Verhältnisse herrschen. Es zeigt sich auch hier: Alte Thesen werden wider besseres Wissen immer wieder wiederholt, um die eigenen Vorurteile zu bestätigen. 8. In direkten Demokratien lässt sich Haushaltsdisziplin nicht durchsetzen Hierzu äußerte sich neulich der Bundestagsabgeordnete Dr. Friedbert Pflüger in einer Podiumsdiskussion wie folgt: „Außerdem muss gegen Volksentscheide eingewandt werden, dass sie die Durchsetzung unpopulärer, aber notwendiger Entscheidungen zusätzlich erschweren. Schon in der repräsentativen Demokratie tun sich die Politiker bekanntlich schwer, unbequeme Maßnahmen zu beschließen. . . . In einer Demokratie mit Volksentscheid dürfte es noch schwerer sein, in einer bestimmten Phase etwa die notwendigen Kürzungen im Gesundheitssystem durchzusetzen. Wer wird sich schon bei einer direkten Abstimmung gegen die eigenen (kurzfristigen) Interessen aussprechen!“17
Wenn die Bürgerinnen und Bürger in der Tat so kurzsichtig entscheiden, so müssten sich Demokratien mit Volksentscheid durch höhere Staatsausgaben, niedrigere Steuern und höhere Staatsverschuldung auszeichnen. Die weitaus überwiegende Zahl der empirischen ökonometrischen Studien für die Schweiz und die Vereinigten Staaten kommen aber zu gegenteiligen Ergebnissen: Die Staatsausgaben pro Kopf sind deutlich niedriger, in Gemeinden, in denen direkte Demokratie praktiziert wird. Hinsichtlich der Steuern gibt es zwei gegenläufige Effekte: Einerseits können sich die Bürger in Volksabstimmungen besser gegen Steuererhöhungen wehren. Andererseits sind sie eher bereit, Steuererhöhungen zuzustimmen, wenn sie mitentscheiden können, wofür die Steuermittel ausgegeben werden. Als signifikant stellt sich jedoch heraus, dass die Steuerhinterziehung in schweizerischen Gemeinden mit direkter Demokratie geringer ist als in Gemeinden mit lediglich parlamentarischer Demokratie. Für die öffentliche Verschuldung gilt: In jenen schweizerischen Gemeinden, in denen die Bürgerinnen und 17 Friedbert Pflüger, Der Irrweg der Direkten Demokratie, Vortrag am Forum Freiheit des ASU Unternehmerinstituts e. V. der Arbeitsgemeinschaft Selbständiger Unternehmer e. V., Manuskr. 2000; Hans Meyer, Fünfundzwanzig Thesen zum Thema Repräsentative Demokratie und Plebiszit, Abschiedsvorlesung an der Humboldt-Universität zu Berlin (Manuskr.), Berlin 2001 weist kritisch gegenüber der parlamentarischen Demokratie darauf hin, dass gerade diese in der Bundesrepublik Deutschland bislang nicht in der Lage war, eine wirksame Reform des Gesundheitswesens und eine wirksame Rentenreform durchzuführen. Die Schweiz – so lässt sich hinzufügen – verfügt jedenfalls auf dem Gebiet der Rentenversicherung über ein stabilitätsorientiertes Kapitaldeckungsverfahren.
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Bürger in Finanzfragen mitentscheiden dürfen, fällt die Verschuldung um 15 Prozent niedriger aus, als dort wo diese Möglichkeit nicht besteht18. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Die Anwendung des von Arnimschen Negativkriteriums hat uns erlaubt, die wichtigsten Argumente gegen die direkte Demokratie erst einmal auszuräumen. Die Frage, ob direkte Demokratie dem Gemeinwohl abträglich sei, lässt sich bei näherer Analyse der vorgebrachten Vorwürfe schwerlich aufrecht erhalten. III. Gemeinwohltest bei privaten Gütern Nunmehr möchte ich mich der schwierigeren Frage zuwenden, wie Gemeinwohl zu definieren und zu testen ist. Im Ausgangspunkt stimmen Juristen und Ökonomen überein. So betrachtet der frühere Bundespräsident und Verfassungsinterpret Roman Herzog das Grundgesetz als „anthropozentrisch“. Das im Grundgesetz enthaltene Gemeinwohlkonzept fordert, von den Interessen des Menschen auszugehen, nicht von denen des Staates19. Darin besteht Übereinstimmung mit der Ökonomik, die seit ihren Anfängen bei Adam Smith den Menschen zum Ausgangspunkt jeder Analyse genommen hat. Auch sie ist anthropozentrisch. Nur was dem Menschen dient, wird als gemeinwohlverträglich angesehen. Was ihm schadet, dem fehlen die Gemeinwohlverträglichkeitseigenschaften. Beobachten lassen sich Nutzen und Schaden an den individuellen Verhaltensweisen. Im Durchschnitt – und nur auf diesen kommt es hier an – tun die Menschen, was Ihnen nützt und sie unterlassen, was ihnen schaden könnte. Ob das, was die Menschen tun und lassen, auch gemeinwohlkompatibel ist, hängt vom Einfluss auf die Umgebung der Akteure ab. So lässt sich der isolierte freiwillige Tausch zwischen zwei Individuen als grundsätzlich gemeinwohlförderlich betrachten. Anthropozentrisch gesehen steigt der Nutzen beider Beteiligter, weil die getauschten Ressourcen zu einer für beide vorteilhafteren Verwendung gelangen, ohne dass Außenstehende davon berührt werden. Diese Beurteilung gilt auch, wenn vom isolierten Tausch auf die Gesamtheit der Tauschaktionen in einer Marktwirtschaft geschlossen wird. In der Gesamtheit aller Märkte garantiert die Vielzahl freiwilliger Transaktionen, dass die Ressourcen zur jeweils besten Verwendung gelangen. Allerdings 18 Gebhard Kirchgässner/Lars P. Feld/Marcel R. Savioz, Die direkte Demokratie. Modern, erfolgreich, entwicklungs- und exportfähig, Basel, Genf, München 1999 geben einen Überblick über mehrere frühere Studien. 19 Vgl. Hans Herbert von Arnim, Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland, München 1984, S. 128.
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kann es dabei außenstehende Gewinner und Verlierer geben, weil sich auf den Märkten die Knappheiten verändern und einige Preise steigen und andere fallen. Zwar könnten nach jeder Transaktion die Gewinner die Verlierer kompensieren. Doch dies wäre äußerst kompliziert. Einfacher ist es, Carl Christian von Weizsäckers Idee der Generalkompensation zu folgen: Die Beteiligten vereinbaren in einem Verfassungsvertrag, auf solche Kompensationen gegenseitig zu verzichten, weil sie wissen, dass ihnen der Markt durch Arbeitsteilung und Produktinnovationen ein Wohlfahrtsniveau bietet, das sie ohne Markt nicht im Entferntesten zu erlangen in der Lage wären20. Insgesamt scheinen die Zivilgerichte einen solchen Verfassungsvertrag in ihren Urteilen weitgehend vorauszusetzen. So gesehen kann die Marktwirtschaft den Test als Institution des Gemeinwohls durchaus bestehen. IV. Gemeinwohltest bei staatlich bereitgestellten Gütern 1. In der direkten Demokratie Bei den vom Staat bereitgestellten öffentlichen Gütern ist ein isolierter Tausch nicht mehr möglich. Denn von deren Konsum kann niemand ausgeschlossen werden. Aber die betroffenen Personen können sich zusammentun und das Gut gemeinsam finanzieren und bereitstellen. Jede bezahlt einen Beitrag nach ihrem vergleichsweisen Vorteil, die eine viel, die andere weniger. Wer wie viel bezahlt, wird in einem Verhandlungsprozess eruiert, wobei jedermann weiß: Wenn kein Konsens erzielt und der Vertrag nicht durchgesetzt wird, so wird das öffentliche Gut auch nicht bereitgestellt. Insofern hat jedermann einen Anreiz, letztlich doch zu kooperieren21. Der Gemeinwohltest lautet also im einfachsten Fall wie folgt: Wird das Arrangement angenommen, so ist das Projekt offenbar gemeinnützig, d.h. die Summe der Nutzen im Sinne von „geldwerten Vorteilen“ der einzelnen Individuen übertreffen die Kosten des Projekts. Ist dies nicht der Fall, so wird die Zustimmung verfehlt. Schematisch ist diese Variante in grauer Farbe in Feld 1 und Feld 4 der nachfolgenden Graphik dargestellt. So gesehen, ist direkte Demokratie unter der Einstimmigkeitregel gemeinwohlförderlich. Indessen muss davon ausgegangen werden, dass sich die einen oder anderen Individuen im Verhandlungsprozess strategisch verhalten und dass daher mit Verzögerungen, ja mit dem vorzeitigen Abbruch des Verhandlungspro20
Carl Christian v. Weizsäcker, Logik der Globalisierung, Göttingen 2000. Diese Logik gilt grundsätzlich auch für die hier nicht behandelten Mischgüter sowie die privaten Güter mit externen Effekten. 21
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zesses gerechnet werden muss. In diesem letzteren Fall liefert uns der Einstimmigkeitstest ein zu konservatives Ergebnis: Es kann zu Ablehnungen kommen, obwohl die Summe der Nutzen größer ist als die Kosten (Feld 3 in Abbildung 1). Der Status quo erhält ein zu starkes Gewicht. Dieser Mangel lässt sich beheben, indem zu einer (noch näher zu spezifizierenden) Mehrheitsregel übergegangen wird. Durch sie lässt sich das strategische Verhalten der Abstimmenden überwinden oder jedenfalls stark reduzieren. Es besteht die Chance, dass Ablehnungen in Feld 3 vermieden werden. Doch der hierfür zu bezahlende Preis ist hoch. Denn die Mehrheitsregel garantiert weder, dass alle Vorlagen, deren Nutzen größer sind als die Kosten, angenommen, noch dass alle Vorlagen, deren Kosten die Nutzen übertreffen, abgelehnt werden. Der erstere Fall kann eintreten, weil die Betroffenen nicht gezwungen sind, alle Alternativen zu Ende zu diskutieren, Alternativen also verdeckt bleiben und die Vorlage dann abgelehnt wird. Der zweite Fall tritt auf, wenn beispielsweise lediglich Geld von einer Minderheit auf eine Mehrheit umverteilt wird, im übrigen aber keine Werte geschaffen werden. Somit hat sich unter der Mehrheitsregel die Hoffnung auf einen brauchbaren Gemeinwohltest erst einmal verflüchtigt.
Tabelle 1 Gemeinwohltest bei Einstimmigkeits- und bei Mehrheitsregel
Õ
Abstimmungsergebnis
Nutzen > Kosten
(1)
ja
Nutzen < Kosten
(2)
Einstimmigkeitsregel
Mehrheitsregel?
Mehrheitsregel?
(3)
Nein
(4)
Einstimmigkeitsregel (bei strategischem Verhalten) Mehrheitsregel?
Quelle: Eigene Darstellung
Einstimmigkeitsregel Mehrheitsregel?
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Indessen lässt sich die Beliebigkeit der Mehrheitsregel eingrenzen, wenn diese näher spezifiziert wird. Drei Stufen lassen sich unterscheiden: a) Im Bereich relativer Mehrheiten (unter 50 Prozent) sind die Ergebnisse beliebig, weil sich jedes Abstimmungsergebnis durch eine entgegengesetzte Vorlage wieder umkippen lässt. b) Die einfache oder absolute Mehrheit von gerade 50 Prozent ist die minimale Mehrheit, die garantiert, dass keine Gegenmehrheit die gleiche Vorlage wieder in Frage stellen kann. Sie kann aber die Ablehnung vorteilhafter, bzw. die Annahme nachteiliger Vorlagen nicht vermeiden, vgl. Abbildung 1. c) Die Gefahr der Annahme nachteiliger Vorlagen lässt sich durch die Anwendung einer qualifizierten Mehrheitsregel wenn nicht beseitigen, so doch vermindern. Dafür steigen die Verhandlungskosten und damit die Gefahr strategischen Verhaltens und der Ablehnung vorteilhafter Projekte. Dieser Zusammenhang lässt sich an nachfolgender Skizze aus der Sicht eines einzelnen Individuums verdeutlichen.
Persönliche Kosten aus: Kosten des Überstimmtwerdens Ü
Ü+S Kosten des strategischen Verhaltens S
50 %
0 rel. Mehrheit
100 % opt. Mehrheit O
Abbildung 1: Die optimale Abstimmungsregel aus der Sicht eines Individuums
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Aus anthropozentrischer Sicht sind die Kosten des Überstimmtwerdens Ü mit den Kosten des strategischen Verhaltens S aufzusummieren.22 Der niedrigste Punkt der Summenkurve Ü þ S ergibt die optimale Mehrheit O. Optimal heißt: Bei dieser Mehrheit werden die Nachteile eines Verfehlens des Gemeinwohls infolge Überstimmtwerdens und strategischen Verhaltens aus der Sicht des Individuums minimiert. Wo O genau liegt, hängt von der individuellen Einschätzung ab, worüber die Individuen mit Blick auf eine unbestimmte Anzahl zukünftiger Entscheidungen einen Konsens anstreben. Anders gesagt: O stellt die Regel dar, die aus der Sicht eines Individuums am besten dazu geeignet ist, gemeinwohlfördernde Projekte aufzudecken. Die gemeinsam vereinbarte Regel O spiegelt einen Verfassungsvertrag wider, bei dem die Bürgerinnen und Bürger davon ausgehen, dass er später auch durchgesetzt wird. Er schließt andere, z. B. spontane Formen der Bürgerbeteiligung aus, denn diese würden den Verfassungsvertrag untergraben. Würden sie dennoch zugelassen, so macht die vorherige Festlegung einer optimalen Entscheidungsregel wenig Sinn. Der Vorteil des Vertrags würde preisgegeben und das Ergebnis wäre im Hinblick auf das Gemeinwohl völlig offen23. 2. In der repräsentativen Demokratie Bisher wurde unterstellt, dass die Wähler in direkter Demokratie über ihre Gemeinwohlbedürfnisse entscheiden. Diese Annahme ist mit steigender Gruppengröße immer weniger realistisch. Die Kosten, um zu einem gemeinsamen Beschluss zu gelangen, steigen in größeren Gebietskörperschaften ins Unendliche. Daher sind so, wie vorher Abweichungen von der Einstimmigkeitsregel kalkuliert worden sind, jetzt kalkulierte Abweichungen von der direkten Demokratie zu erwägen24. An die Stelle der Volksversammlung tritt ein Parlament, dessen Abgeordnete anstelle der Bürgerinnen und Bürger in Diskussionen Meinungen bilden und dann durch Abstimmung eine Alternative auswählen. Bei einem „gänzlich repräsentativ“ zu22 In Anlehnung an James M. Buchanan/Gordon Tullock, The Calculus of Consent: logical foundations of constitutional democracy, Ann Arbor 1962, sowie Dennis C. Mueller, Public Choice III, Cambridge 2003. 23 Dies schließt natürlich nicht aus, dass spontane Bürgerbeteiligungen in einem Zustand ohne erkennbaren Grundkonsens durchaus erwünscht sein können. 24 Eine ausführliche Darstellung dieses Konzepts der repräsentativen Demokratie findet sich in Charles B. Blankart/Dennis C. Mueller, Alternativen der parlamentarischen Demokratie, in: Perspektiven der Wirtschaftspolitik, Bd. 3, Nr. 1, 2002, S. 1–21.
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sammengesetzten Parlament wären grundsätzlich die gleichen Abstimmungsergebnisse zu erwarten, wie sie auch aus der Volksversammlung erwachsen würden. Es wäre allenfalls die Frage der optimalen Mehrheit neu zu stellen, da sich ja die Zahl der Mitredenden beträchtlich verkleinert hat und die Einigungskosten daher zurückgegangen sind (vgl. Abbildung 1). Der amerikanische Jurist und Ökonom Gordon Tullock hat vor vielen Jahren eine Methode vorgelegt, wie ein Parlament annähernd repräsentativ gewählt werden könnte25. Ich nenne sie die Stellvertreter-Methode. Danach ist jeder wahlberechtigte Mensch zunächst einmal Mitglied des Parlaments. Er kann aber seinen Anspruch anlässlich der Parlamentswahl einer Mitbürgerin oder einem Mitbürger seines Vertrauens übertragen, d.h. einem Menschen, von dem er annimmt, dass er (annähernd) gleich abstimmen werde wie er selbst. Dieser hat dann entsprechend viele Stimmen. Um allen Gruppen die gleiche Chance zu geben, einen Abgeordneten ins Parlament zu senden, gibt es nur einen einzigen nationalen Wahlkreis. Sollten aus der Wahl mehr Bewerberinnen und Bewerber hervorgehen, als das Parlament Sitze hat, und angenommen, es habe hundert Sitze, so gehen z. B. die ersten hundert Bewerber in eine zweite Wahl, aus der dann hervorgeht, wer wie viele Stimmen vertritt. Weil das Herausfallen nach der ersten Runde antizipiert wird, werden sich im Endeffekt nur wenig mehr Kandidaten bewerben, als das Parlament Sitze hat. Das sich ergebende Parlament ist, wie Tullock argumentiert, annähernd repräsentativ. Denn jede im Volk vertretene Meinung ist (nach eigener Auswahl) bestmöglich vertreten. In einem annähernd oder, sagen wir, gänzlich repräsentativen Parlament gibt es keinen Raum mehr für Volksabstimmungen26. Die Abgeordneten halten sich so gut wie möglich an die Ansichten ihrer Mandanten, weil sie wissen, dass sie nur dann wiedergewählt werden, wenn sie deren Präferenzen vertreten. Umgekehrt gibt es durchaus Gründe für direkte Volksabstimmungen, wenn das Parlament eben nicht gänzlich repräsentativ gewählt ist. Dann nämlich werden die Abgeordneten in ihrer Stimmabgabe von den Präferenzen ihrer Wähler abweichen, und es sind Korrekturen erforderlich, um die Übereinstimmung mit den Bürgerpräferenzen und damit die Gemeinwohlorientierung wieder herzustellen. Genau dazu dienen Volksabstimmungen, die ihrerseits die Form des Referendums oder der Volksinitiative annehmen können. Folgende institutionelle Faktoren können zu einem Auseinanderdriften von Parlamentsabstimmungen und Bürgerpräferenzen führen: 25
Gordon Tullock, Toward a mathematics of politics, Ann Arbor 1967. Angenommen ist insbesondere auch ein perfekter Informationsaustausch zwischen den Wählern und ihren Abgeordneten. Ist dies nicht der Fall, so kann sich daraus ein Grund für Volksabstimmungen ergeben, vgl. oben. 26
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a) Es wird nicht nach der Tullockschen Stellvertreter-Methode, sondern nach Listen gewählt, wobei die Parteien Abgeordnete proportional zur Zahl der erhaltenen Stimmen ins Parlament entsenden. Unter diesem System bleibt für Minderheitenmeinungen vergleichsweise weniger Platz im Parlament als im Tullockschen Verfahren, in dem für jedes Bündel von Meinungen ein Parlamentssitz zur Verfügung steht27. b) Die Fünf-Prozent-Klausel reduziert zusätzlich die Zahl der im Parlament vertretenen Parteien und damit der zugelassenen Meinungen auf maximal zwanzig, in der Regel aber weit weniger. c) Weil das Parlament durch die Verfassung beauftragt ist, die Bundesregierung zu wählen, und diese die Richtung der Politik festlegt, ergeben sich feste Koalitionen, die eine freie Diskussion, Meinungsbildung und Abstimmung unter den Parlamentariern einschränken. d) Schließlich sind die Bundestagsabgeordneten nach Art. 38 Abs. 1 GG gar nicht gehalten, sich nach den Präferenzen der Bürgerinnen und Bürger, die sie gewählt haben, zu richten. Jede dieser institutionellen Barrieren ist im derzeitigen Wahlsystem des Bundestages präsent. Daher ist ein Abdriften der Parlamentsentscheidungen vom Wählerwillen vorprogrammiert. Es entsteht ein schwerwiegendes Prinzipal-Agent-Problem. Das anthropozentrische Postulat gemeinwohlorientierter Politik gerät in Gefahr. Es bedarf also eines Korrektivs, das die Sicherung des Gemeinwohls wieder herstellt. Volksabstimmungen, insbesondere Referenden können hierzu einen nützlichen Beitrag leisten. Sie wirken als Leitplanken, die sicherstellen, dass die Politik nicht allzu weit vom Wählerwillen und damit vom Gemeinwohl abweicht. V. Schlussfolgerungen Was Gemeinwohl ist, lässt sich mit Hilfe von Normen schwerlich feststellen. Allenfalls lässt sich negativ abgrenzen, was dem Gemeinwohl widerspricht. Ich habe die direkte Demokratie einem solchen Negativtest unterworfen und habe mich dabei vor allem an die Vorgaben des Grundgesetzes gehalten. Um in der Bestimmung des Gemeinwohls im positiven Sinne einen Schritt weiter zu kommen, habe ich einen verfahrensmäßigen Ansatz gewählt. Grundlage bildet das Juristen und Ökonomen gemeinsame Bekennt27 Noch stärker kommt die Unterdrückung von gebietsüberschreitenden Minderheitenmeinungen im sogenannten Westminster System zum Ausdruck, in dem derjenige Kandidat ins Parlament kommt, der in seinem Wahlkreis die größte relative Mehrheit errungen hat.
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nis zur anthropozentrischen Ausrichtung des Gemeinwohls. Gemeinwohl ist, was den Menschen dient. Ein Kriterium, um dies zu testen, stellt die individuelle Zustimmung dar. Diese lässt sich beispielsweise beim isolierten Tausch beobachten und im weiteren Sinne auch im gesamten Bereich privater Märkte. Insofern können Marktergebnisse als gemeinwohlfördernd angesehen werden. Beim Staat genügt indessen die isolierte Zustimmung zweier Partner nicht. Denn zu entscheiden ist über gemeinsam zu konsumierende Güter, deren Bereitstellung die Zustimmung aller Beteiligten erfordert. Dieser Zustimmungstest ist sehr viel anspruchsvoller als der marktwirtschaftliche. Würde er kompromisslos gefordert, so fielen die meisten Entscheidungen ablehnend aus. Daher bedarf es kalkulierter Abweichungen in Richtung einer Mehrheitsregel und einer repräsentativen Demokratie. Die letztere Abweichung bedeutet, dass nicht mehr die Betroffenen selbst, sondern deren Repräsentanten entscheiden, die erstere beinhaltet, dass auch die Repräsentanten u. U. mehrheitlich und nicht mehr einstimmig entscheiden. Auch in einer repräsentativen Demokratie bleiben direktdemokratische Abstimmungen von großer Bedeutung. Denn das Ideal einer vollständig repräsentativen Demokratie, in der die Abgeordneten ihr Verhalten genau an den Präferenzen ihrer Wähler ausrichten, ist unerreichbar. Es gibt zwar Wahlverfahren, die zu einer Annäherung an dieses Ideal führen. Doch nicht nur liegt deren Realisierung in weiter Ferne, vielmehr wird die Verbindung zwischen Wähler und Abgeordnetem auch durch eine Reihe institutioneller Schranken behindert. Daher ist bei den Entscheidungen im Parlament mit beträchtlichen Abweichungen vom Wählerwillen zu rechnen. Durch direkte Volksabstimmungen (Referenden und Volksinitiativen) lässt sich jedoch sicherstellen, dass Parlamentsentscheidungen nicht allzu weit von den Wählerpräferenzen abdriften und die Orientierung an einem anthropozentrischen Gemeinwohl gewahrt bleibt.
Bericht über die Diskussion zum Vortrag von Charles B. Blankart Diskussionsleitung: Klaus König Von Mike Weber Prof. Dr. Dr. Klaus König, Speyer, bedankte sich für den Vortrag und unterstrich, dass die von Prof. Dr. Charles B. Blankart, Berlin, vertretene individualistische Methode für das vornehmlich juristische Publikum äußerst reizvoll sei. Gerade wenn man die individualistische Sicht nicht teile, liefere der Vortrag erfrischende Anregungen und Ideen. Die Frage nach den Grenzen direkter Demokratie stellte Dr. Heinz Anderwald, Graz. In der Schweiz werde in einigen Kommunen über die Staatsbürgerschaft per Volksentscheid abgestimmt, was kein ordentliches Verfahren erlaube. Diese Entscheidungen richteten sich nach bestimmten Vorlieben oder etwa nach der Hauptfarbe. Daran schließe sich die Frage nach dem Verhältnis von direkter Demokratie und Grundrechten an. Die Grundrechte seien als Teil des Verfassungsvertrags einstimmig beschlossen worden, entgegnete Blankart. Entsprechend reiche für deren Änderung auch keine einfache Mehrheit, sondern sie müssten mit den gleichen Verfahren vor Änderungen geschützt werden. Am Beispiel der Folter, das am vorherigen Tag diskutiert worden sei, lasse sich dies veranschaulichen. Jeder könne sich überlegen, wie wahrscheinlich er von der Folter als Täter oder auch als Opfer betroffen sein werde. Wenn die Grundrechte dann ex ante aus den individuellen Kalkülen bestimmt worden seien, fänden sie Anwendung, ohne sie bei jeder Gelegenheit wieder ändern zu können. Auch Grundrechte seien also aus den individualistischen Kalkül bestimmt. Er widerspreche der Ansicht, dass der Individualismus hier einen Punkt habe. Jenseits des Individuums gebe es dann ja wieder andere, mit mehr Macht ausgestattete Individuen, die über das Verhalten bestimmten. Einen solchen dann fast totalitären Ansatz lehne er ab. Im Falle der Staatsbürgerschaft gehe es aber nicht darum, vielmehr wehre er sich dagegen, dass der Volksentscheid kein ordentliches Verfahren sei. Jeder Tennisclub bestimme über seine Mitglieder und letztlich sei der Staat nichts anderes als ein Club. Eine andere Frage sei, ob die kommunale Abstimmung noch zeitgemäß sei, die davon ausgehe, dass die Staatsbürgerschaft über die Mitgliedschaft in der
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Gemeinde erlangt werde. Zu dieser offenen Diskussion wolle er hier aber keine Stellung beziehen. Bei der Darstellung habe sie die Konsultationen als Instrument der Bürgerbeteiligung vermisst, merkte Prof. Dr. Marga Pröhl, Gütersloh, an. Gerade bei kommunalen Entscheidungen könne die Akzeptanz deutlich erhöht werden, wenn die Bürger über Konsultationsverfahren eingebunden würden. Sie frage nun, wie sich das Bild im Spannungsfeld von Repräsentation, direkter Demokratie und Konsultationen verschiebe. Welche Bedeutung komme dann den Elementen der direkten Demokratie zu, die sich zumeist als sehr langwierig und teuer erwiesen. Durch Konsultationen stehe ein weiches Instrument zur Verfügung, das bereits eine sehr frühe Bürgerbeteiligung erlaube. So könne der Sachverstand der Bürger genutzt werden, um der Politik eine verbesserte und akzeptablere Entscheidungsmöglichkeit zu geben. Konsultationen machten ohne eine anschließende Abstimmung über die Fragestellung keinen Sinn, betonte Blankart. Sei die Möglichkeit eines Referendums nicht vorgesehen, gingen die Politiker einfach über die Argumente hinweg. Konsultationen käme dann ein eher dekorativer Charakter zu. Werde nur das Element der Konsultation herausgegriffen, dann hänge es in der Luft. Das Referat sei gerade für Juristen überaus spannend, unterstrich Prof. Dr. Karl-Peter Sommermann, Speyer. Ihn habe immer besonders das Referendum über die neue Bundesverfassung in der Schweiz interessiert. Blankart habe ja betont, dass nicht so sehr die Abstimmung selbst, sondern die Möglichkeit, dass es zu einer Abstimmung komme, wichtig sei. Dadurch gebe es Berichtspflichten und der in Gang gesetzte Diskurs werde qualifizierter. Nun habe die Beteiligung beim Verfassungsreferendum unter 40 Prozent gelegen; die Verfassung sei letztlich nur durch rund 23 Prozent der Abstimmungsberechtigten angenommen worden. Er frage sich, ob dies tatsächlich als ein positives Zeichen zu werten sei, etwa weil es den breiten Konsens, der im Laufe des Verfahrens erreicht worden sei, widerspiegele. Blankart erklärte, dass sich die Beteiligung in der Schweiz im Mittel der letzten Jahrzehnte über 40 Prozent bewege und in einzelnen Fragen wie etwa der Abschaffung der Armee oder dem Betritt zum Europäischer Wirtschaftsraum (EWR) deutlich darüber hinaus gegangen sei. In Untersuchungen habe sich gezeigt, dass die Bürger dann zur Abstimmung gingen, wenn sie sich bei einem Thema kompetent fühlten. Ähnlich wie beim Ausschusswesen im Parlament beteiligten sie sich dann, wenn sie sich mit der Fragestellung auseinander gesetzt hätten. Direkte Demokratie müsse mit der Realität des Ausschusswesens verglichen werden, und hier zeigten sich deutliche Ähnlichkeiten.
Bericht über die Diskussion zum Vortrag von Charles B. Blankart
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Auf die Verbindung von Gemeinwohl und direkter Demokratie ging auch Prof. Dr. Peter Graf Kielmansegg, Mannheim, ein. Im ersten Teil seines Vortrages habe Blankart den Eindruck erweckt, als gebe es keine ernstzunehmenden Argumente gegen die direkte Demokratie, sondern nur noch Leute, die ihre Vorzüge nicht verstünden. Dies spiegele jedoch nicht die aktuelle Diskussion, wie sich an zwei Beispielen zeigen lasse. Zum einen sei die Rolle der plebiszitären Elemente beim Scheitern der Weimarer Republik in den Geschichtswissenschaften durchaus umstritten. Fast ausschließlich extreme Parteien hätten sich dieser Instrumente bedient. Dadurch hätten sich diese Parteien über ihre parlamentarische Bedeutung hinaus in Szene setzen können. Volksentscheide seien zwar nicht als entscheidend für das Scheitern von Weimar einzustufen, man dürfe sie jedoch nicht gänzlich außer Acht lassen. Zum anderen stelle sich durchaus die Frage, wer an den Abstimmungen teilnehme. Die Arbeitsteilung unter den Bürgern sehe anders als die im Parlament aus. Bei Volksabstimmungen beteiligte sich eine selektive Auswahl von im hohen Maße motivierten oder interessierten Personen. Interessen und Emotionen bestimmten also über die Teilnahme, was sich überhaupt nicht mit sachlicher Kompetenz decke. An den zweiten Teil des Vortrages schlössen sich drei weitere grundlegende Aspekte an, fuhr Kielmansegg fort. Erstens habe Blankart Repräsentation als reine Abbildung verstanden, was die Diskussion um diesen Begriff nur sehr einseitig erfasse. Zweitens sei die Bildung von Präferenzen nicht Gegenstand der Betrachtung gewesen. Die Leitplankenfunktion, die von Volksentscheiden als Ausdruck des Volkeswillen ausgehen solle, könne nur dann unterstellt werden, wenn die Präferenzen fälschlicherweise als gegeben vorausgesetzt würden. Man wisse aber, dass schon eine leichte Änderung in der Fragestellung zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen führe. Es zeige sich zudem empirisch, dass Abstimmungen in weitaus größerem Maße für Marketing anfällig seien als Wahlen. Drittens fehle der Zukunftsbezug im Marktprozess, der für die Gemeinwohlorientierung im politischen Prozess ganz wesentlich sei. Für die Interessen zukünftiger Generationen gebe es im vorgestellten Ansatz überhaupt keinen Raum. Auf die Einwendungen stellte Blankart klar, dass er angesichts der kurzen Vortragszeit einen weit geringeren Anspruch mit seiner Darstellung verfolgt habe. Ihm sei es darum gegangen, dem Einwand der Gemeinwohlschädlichkeit direkter Demokratie zu begegnen. Auch aus zeitlichen Gründen habe er sich auf die Formulierung eines anthropozentrischen Repräsentativitätsbegriff beschränkt und von diesem Begriff dann abgeleitet. Bezogen auf das Scheitern der Weimarer Republik führte er aus, dass die Elemente der direkten Demokratie prinzipiell eine Integration der extremen Parteien ermöglicht hätten. Gerade die mangelnde Integration dieser Parteien etwa durch hohe Quoren bei der Durchführung der Volksentscheide
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Mike Weber
habe diese Integration verhindert und sei so zum Problem geworden. Zu den beiden letzten Aspekten führte er an, dass die Abstimmung von zentraler Bedeutung sei. Ein Diskurs finde nur dann statt, wenn die Bürger anschließend über die Fragestellung abstimmen könnten. Dieser Diskurs immunisiere gegenüber einfachen Marketingbeeinflussungen. Ein Zukunftsbezug entstehe auf diesem Wege durchaus, wie sich empirisch zeige. Beispielsweise finde sich ceteris paribus in Ländern mit direkte Demokratie weniger Staatverschuldung als in anderen Ländern. Auch wenn der Zukunftsbezug in der direkten Demokratie zu gering ausgeprägt sei, finde er hier doch stärkere Berücksichtigung als in repräsentativen Demokratien. Hartmuth Lorenz, Schwerin, fragte, ob es für die Demokratie ausreichend sei, wenn 100 Prozent der Beschlussvorlagen in den Gemeinden keine Alternativvorschläge enthielten. Auf den grundlegenden Aspekt der Kumulation individueller Präferenzen durch Elemente direkter Demokratie verwies Rainer Arens, Darmstadt. Bei einer Verteilung über einen Markt bestimme der Preis, wie die Präferenzen gewichtet würden. Diese Gewichtung der Präferenzen fehle bei demokratischen Entscheidungen. Dadurch bestehe die Möglichkeit, dass sich gering ausgeprägte Präferenzen einer Mehrheit gegenüber stark ausgeprägten einer Minderheit durchsetzten. In einer repräsentativen Demokratie könne hier eventuell ein Ausgleich geschaffen werden, indem die Volksvertreter dies antizipierten. Bezugnehmend auf die Frage von Lorenz betonte Blankart, dass die Anzahl der Alternativvorlagen weniger entscheidend sei. Die Offenheit des politischen und vorpolitischen Prozesses sei das Wichtigste in einer Demokratie. Eine Gewichtung der Präferenzen, wie sie Arens angesprochen habe, ließe sich nicht bezogen auf die einzelnen Abstimmungen umsetzen. Eine Art von Gewichtung ergebe sich durch die gewählte Finanzierung. Die Steuerstruktur solle daher in der Verfassung festgelegt werden. Konsens werde so erforderlich und erlaube Abwägen und strategisches Verhalten und führe zu einer Gewichtung der Präferenzen. König bedankte sich für die Diskussion und betonte die Notwendigkeit jeder Stimme aus der Wissenschaft zu der schwierigen Materie des Gemeinwohls. Es ließen sich weitere Aspekte ergänzen und grundlegende Einwände vorbringen. So handele es sich etwa bei dem Wähler oder dem Bürger bereits um soziale Konstrukte. Dennoch empfinde er den PublicChoice-Ansatz auch persönlich äußerst erhellend. Anknüpfend an den Begriff der Leitplankenfunktion direkter Demokratie neige er dazu, es mit dem Motto zu halten, es komme auf die gute Mischung an.
Möglichkeiten und Grenzen der Privatisierung von Gemeinwohlvorsorge Überlegungen zu Gemeinwohlverantwortung und Staatsverständnis Von Gunnar Folke Schuppert
A. Staatstypen und Gemeinwohlverantwortung Dass primär der Staat und seine Verwaltung dem Gemeinwohl verpflichtet sind, gehört trotz aller Wandlungsprozesse moderner Staatlichkeit zu den tradierten und Orientierung vermittelnden Gewissheiten. Von der Gemeinwohlverpflichtung staatlichen Handelns hören wir nicht nur die gewählten Repräsentanten der Republik fast täglich sprechen, wir können sie auch – falls man verfassungstextliche Quellen bevorzugt – z. B. in der Verfassung des Landes Rheinland-Pfalz nachlesen, in deren Artikel 1 es wie folgt heißt: „Der Staat hat die Aufgabe, die persönliche Freiheit und Selbständigkeit des Menschen zu schützen sowie das Wohlergehen des einzelnen . . . durch die Verwirklichung der Grundrechte zu fördern . . . Die Rechte und Pflichten der öffentlichen Gewalt werden durch die naturrechtlich bestimmten Erfordernisse des Gemeinwohls begründet und begrenzt.“
Das Gemeinwohl fungiert also – so können wir zusammenfassen – als Grund und Grenze staatlichen Handelns. So verlockend es nun wäre, sich in dieser verfassungsrechtlich verbürgten Gemeinwohlverantwortung des Staates gemütlich einzurichten, so unausweichlich ist auf der anderen Seite die Frage, ob nicht angesichts eines sich wandelnden Staats- und Verwaltungsverständnisses1 auch die Gemeinwohlverantwortung in Bewegung gerät, sei es, dass sich „ihr Sitz verändert“ – etwa vom Staat in die Gesellschaft auswandert –, sei es, dass sich zum Staat als zentralem Gemeinwohlakteur andere Gemeinwohlakteure hin1 Vgl. dazu Gunnar Folke Schuppert, Geändertes Staatsverständnis als Grundlage des Organisationswandels öffentlicher Aufgabenwahrnehmung, in: Dietrich Budäus (Hrsg.), Organisationswandel öffentlicher Aufgabenwahrnehmung, Baden-Baden 1998, S. 19–59.
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Gunnar Folke Schuppert
zugesellen, die ebenfalls die Last der Gemeinwohlverantwortung für sich reklamieren und insoweit eine Art von Verantwortungsteilung2 zu entstehen beginnt. Es spricht in der Tat viel dafür, dass die Rolle des Gemeinwohls und der Gemeinwohlverantwortung im absolutistischen Wohlfahrtsstaat und seiner Policeywissenschaft anders zu bestimmen ist als – um nur einige gängige Staatstypen zu nennen – im kooperativen Staat, im aktivierenden Staat oder im Gewährleistungsstaat. Dass Staats- und Verwaltungstypus einerseits und Sitz der Gemeinwohlverantwortung andererseits etwas miteinander zu tun haben, entspricht offenbar auch der Auffassung des Potsdamer Politik- und Verwaltungswissenschaftlers Werner Jann, der vorschlägt3, die folgenden vier normativen Bilder der öffentlichen Verwaltung typologisch zu unterscheiden (siehe Übersicht S. 271). Wenn wir einen genaueren Blick auf dieses Schaubild werfen, so springt ins Auge, dass der Begriff des Gemeinwohls nur in der linken, dem Obrigkeitsstaat gewidmeten Spalte vorkommt, sonst aber nicht; dazu passt auch die Funktionsbeschreibung des autonomen Obrigkeitsstaates, die bei Jann wie folgt lautet4: „Normative Grundlage ist das a priori vorhandene Gemeinwohl, das ‚nur‘ erkannt und umgesetzt werden muss. Darin besteht die eigentliche Aufgabe des Staates, und nur er ist dazu in der Lage. Der Staat wiederum besteht aus seinen loyalen Beamten. Zentrales Merkmal dieses Beamtenkörpers sind gemeinsame moralische, ethische und professionelle Werte, die nicht nur durch eine spezifische Sozialisation vermittelt werden können, sondern z. B. auch durch Wissenschaft und Technologie. Organisationsprinzip der öffentlichen Verwaltung ist die autonome Bürokratie . . .“
Hätte nun aber die Gemeinwohlverantwortung allein im obrigkeitlichen Anstaltsstaat ihre Heimstatt, wäre es um sie schlecht bestellt, da über dieses Staatsmodell die Zeitläufte schlicht hinweggegangen sind: so spannt etwa Renate Mayntz in ihrem Beitrag über „Interessenverbände und Gemeinwohl“ den Bogen von der Vorstellung des 19. Jahrhunderts, es sei die Pflicht des Staates, das Gemeinwohl zu bestimmen und zu bewahren, bis zu dem lakonischen Befund, dass der Staat in einer enthierarchisierten Gesell2 Hans-Heinrich Trute, Verantwortungsteilung als Schlüsselbegriff eines sich verändernden Verhältnisses von öffentlichem und privatem Sektor, in: Gunnar Folke Schuppert (Hrsg.), Jenseits von Privatisierung und „schlankem“ Staat: Verantwortungsteilung als Schlüsselbegriff eines sich verändernden Verhältnisses von öffentlichem und privatem Sektor, Baden-Baden 1999, S. 13–46. 3 Werner Jann, Politik und Verwaltung im funktionalen Staat, in: Werner Jann u. a. (Hrsg.), Politik und Verwaltung auf dem Weg in die transindustrielle Gesellschaft. Carl Böhret zum 65. Geburtstag, Baden-Baden 1998, S. 253 ff. 4 Werner Jann, Politik und Verwaltung im funktionalen Staat (Fn. 3), S. 262.
Möglichkeiten und Grenzen der Privatisierung von Gemeinwohlvorsorge 271 Autonome Verwaltung
Hierarchische Verwaltung
Kooperative Verwaltung
Responsive Verwaltung Befriedigung der Wünsche von Klienten und Kunden
Rolle öffentlicher Organisationen
Verwirklichung Verwirklichung Konstrukteur und Moderator demokratisch des Gemeinkomplexer festgesetzter wohls Verhandlungspolitischer systeme Präferenzen
Staat
Souveräner, autonomer Obrigkeitsstaat
Demokratischer Pluralistischer/ korporatistiVerfassungsscher Verhandstaat lungsstaat
Normative Prämisse
Gemeinwohl (moralische und professionelle Werte, Ethik, Wissenschaft, Technologie, Expertise)
Demokratie (Repräsentat. Minderheitenschutz, Legalität und Legitimität)
Problemlösung (Konsens, Kompromiss, Interessenberücksichtigung)
Dienstleistung (Bürgernähe, Effizienz, Effektivität, Kundenorientierung)
Organisationsprinzip
Autonome Bürokratie (Schutz der Bürokratie vor der Umwelt; Politiker, Parteien, Verbände und Bürger als Bedrohung des Gemeinwohls)
Bürokratie als verlässliche Maschine (hierarchische Steuerung)
Bürokratie als Verhandlungspartner (administrative Interessenvermittlung, horizontale Verflechtung)
Bürokratie im Wettbewerb
Vorrangige Rolle der Bürger
Untertanen
Wähler
Mitglieder von Organisationen
Kunden, Konsumenten, Klienten, KoProduzenten
Politikformulierung
Neutrale Bürokratie, Experten, Professionen
Wahlen Parlament Kabinett Parteien-Pluralismus
BürgerbeteiliPolitik-Netzgung Partizipawerke Advocacy Coalitions tion Korporatismus
Politikdurchführung
Neutrale Bürokratie, Experten, Professionen
Neutrale Bürokratie, Experten, Professionen
Politische Büro- Professionelle kraten Verwaltung, Bürger als KoProduzenten
Partizipativer, funktionaler Staat?
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Gunnar Folke Schuppert
schaft das „Monopol in der Definition des Gemeinwohls verloren“ habe5. So steht der Staat – um mit Helmut Willke6 zu sprechen – entzaubert vor uns, so dass wir uns erstaunt zu fragen beginnen, wohin die vorher beim Staat gelegene Definitionsmacht für das Gemeinwohl enteilt sein mag. Mit anderen Worten: worum es geht – und was wir mit dieser kleinen Skizze voranbringen wollen – ist, der Frage nachzugehen, wo in verschiedenen Staatstypen die Gemeinwohlverantwortung zu lokalisieren ist und welche typischen Kompetenz-, Organisations- und Verfahrensprobleme sich daraus ergeben.
B. Zu den unterschiedlichen Orten der Gemeinwohlverantwortung I. Gemeinwohlverantwortung im absolutistischen Wohlfahrtsstaat Wenn wir nach einem Staatstyp suchen müssten, in dem sich die Gemeinwohlverantwortung eindeutig verorten ließe, so fänden wir ihn im absolutistischen Wohlfahrtsstaat: die Glückseligkeit von Staat und Untertanen zu fördern – das Wohl des Staates und der von ihm beherrschten Untertanen wurden als identisch gedacht –, ist Aufgabe der Obrigkeit und ihrer durch eine in hoher Blüte stehende Policeywissenschaft7 angeleitete Wohlfahrtspolicey, die schlechthin für alles zuständig ist: „Die vom 16. Jahrhundert an erlassenen Polizeiordnungen erfassten ohne Differenzierung zwischen privat- und öffentlich-rechtlichen Materien die Lebensbereiche aller Stände. Sie zielten auf Erhaltung ‚christlicher Zucht und Ehrbarkeit‘ (Kleiderordnungen, Luxusverbote, Fluch- und Schwörverbote), gaben Regeln bei Ehe- und Vormundschaften, regelten das Arbeitswesen, die Handwerke, den Markt mit seinen Standplätzen, Preisen und Gewichten, verboten bestimmte Arten von Verträgen, erließen Strafnormen für Warenfälscher, Betrüger, Wahrsager und Gaukler, sorgten dafür, dass die Bauern nach dem Markt wieder aus der Stadt kamen, versuchten, dem Alkoholmissbrauch entgegenzuwirken, ja hielten zu guten Sitten, zum Kirchgang und zum Erlernen des Katechismus an.“8 5 Renate Mayntz, Interessenverbände und Gemeinwohl – die Verbändestudie der Bertelsmann-Stiftung, in: dieselbe (Hrsg.), Verbände zwischen Mitgliederinteressen und Gemeinwohl, Gütersloh 1992, S. 11 ff. 6 Helmut Willke, Entzauberung des Staates. Überlegungen zu einer sozietalen Steuerungstheorie, Königstein/Ts. 1983. 7 Ulrich Engelhardt, Zum Begriff der Glückseligkeit in der kameralistischen Staatslehre des 18. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Historische Forschung (ZHF) 8 (1981), S. 37–79. 8 Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Erster Band: 1600–1800, München 1988, S. 370.
Möglichkeiten und Grenzen der Privatisierung von Gemeinwohlvorsorge 273
Es mag an dieser Stelle genügen, mit einer Übersicht zu arbeiten, die wir dem policeywissenschaftlichen Handbuch Heinrich von Bergs9 verdanken, der im Gefolge der damals weit verbreiteten Unterscheidung zwischen Sicherheits- und Wohlfahrtspolicey10 die folgende detaillierte Einteilung vornimmt (siehe Übersicht S. 274 f.). II. Gemeinwohlverantwortung im Verfassungsstaat Im Vergleich zum absolutistischen Wohlfahrtsstaat schwieriger, im Vergleich hingegen zu den nachfolgenden Staatstypen relativ einfach gestaltet sich die Verortung der Gemeinwohlverantwortung im Typus des Verfassungsstaates, wobei es sicherlich als zulässige Hilfestellung gelten darf, wenn wir insoweit den Verfassungsstaat grundgesetzlicher Prägung vor Augen haben. Im Verfassungsstaat11 fungiert die Verfassung als rechtliche Grund- und Rahmenordnung für das gesamte Staatshandeln, also auch für die verfassungsaufgegebene staatliche Verwirklichung und Konkretisierung des Gemeinwohls: die Verfassung „enthält Richtlinien und Strebensziele für die gesamte Staatstätigkeit . . ., ist also politische Gestaltungsordnung, und begrenzt andererseits das staatliche Handeln . . . im Verhältnis zum Individuum, ist demnach zugleich rechtliche Schutzordnung“12. Ein zweites Begriffspaar mag zur weiteren, hier nur in Umrissen möglichen Grobskizze des Verfassungsstaates hilfreich sein: die Verfassung ist einerseits als Regelung staatlicher Entscheidungs- und Wirkungsvorgänge Organisationsstatut, zum anderen als festgeschriebener Konsens über Strukturbestimmungen und Grundwerte Integrationsstatut. Diese Verfassungsfunktionen vor Augen, ergeben sich für die Verortung der Gemeinwohlverantwortung im Verfassungsstaat – ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit – die folgenden drei Gesichtspunkte:
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Günter Heinrich von Berg, Handbuch des Teutschen Policeyrechts, Hannover 1802–1809, 2. Aufl., 1.–7. Theil. 10 Tabelle übernommen aus Hans Lühmann, Die Staatsaufsicht, Berlin 2003. 11 Zum Begriff Ernst-Wolfgang Böckenförde, Begriff und Problem des Verfassungsstaates, in: Rudolf Morsey u. a. (Hrsg.), Staat, Politik, Verwaltung in Europa. Gedächtnisschrift für Roman Schnur, Berlin 1997. 12 Hans-Peter Schneider, Die Verfassung – Aufgabe und Struktur –, in: Archiv des öffentlichen Rechts (AöR) 1974, Beiheft 1 „Deutsche öffentlich-rechtliche Landesberichte zum IX. Internationalen Kongress für Rechtsvergleichung“, S. 71.
Übermäßige Steigerung der Preise,
6. Ehren-Sicherheitspolicey
Aufhebung der Leibeigenschaft
Korn-, GeldZinswucher
Verhütung körperlicher Verletzungen aus Nachlässigkeit und Unvorsichtigkeit
Taxen; nöthig- Monopolien, ste Lebens- große Handelsmittel, Wirths- speculation, rechnungen
Verletzung der persönlichen Freyheit Mißbrauch des Rechts, die Freyheit anderer einzuschränken durch Staatsund deren Verhütung. Seelenverbeamte, Eltern, Vormünder, Gutskäuferey, Gewaltsame Werbungen, herren Privatgefängnisse
Güte der Waaren,
Vorbeugungsmittel gegen Vergiftung,
5. FreyheitsSicherheitspolicey
Aufsicht auf Maaß und Gewicht,
Rettung der Verletzten,
Postdieberey,
Verbote gefährlicher Waffen,
Vorkehrungen gegen Räuberbanden
Aufsicht der höheren Policey auf die Localpolicey
Policeyaufsicht auf geheime Gesellschaften,
Aufsicht über die Advocaten und Notarien,
Verhütung unruhiger Bewegungen unter den Unterthanen,
4. EigenthumsSicherheitspolicey
3. Persönliche Sicherheitspolicey
2. Allgemeine Privatsicherheits-Policey
1. Öffentliche Sicherheitspolicey
A. Sicherheitspolicey
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Manufactur-, Fabrik-, Gewerke- und Handwerks-Policey z. B. Mühlen- oder Braupolicey
8. Stadtwirthschafts-Policey
Handlungs-Policey, z. B. Monopole, Handelsgesellschaften, Münz-, Post- und Schiffahrts-Policey
Bergwerks-Policey
Forst-, Jagd- und Fischerey-Policey
Viehzuchts-Policey, z. B. Weidpolicey, Vorkehrungen gegen Viehkrankheiten
Landbau-Policey, z. B. Acker- und Getreidebau, Weinbau, Futterbau
7. Landwirthschaftspolicey
unsittliche Äußerungen Armenpolicey
Schauspiele
Kaiserliche Oberaufsicht, Büchercommissariat
Theuerungspolicey
öffentliche Vergnügen
Bücherpolicey
Oberaufsicht über Kirchengüter
Gesindepolicey z. B. Aufsicht über Gesindewesen
Medicinalpolicey z. B. Vorkehrungen gegen Quacksalber und bey epidemischen Krankheiten
Verhütung der Auswanderungen
Wasserschadenspolicey
wollüstige Ausschweifung
Universitätszwang, Universitätsdisziplin
Feuerpolicey
Trunkenheit
5. Sittenpolicey
Schulzwang, Schulzucht
6. Policey gegen Unglücksfälle
Aufsicht in Ansehung der verschiedenen Lehranstalten
4. Unterrichtspolicey
Policeyrechte in Ansehung religiöser Meynungen der Staatsbürger;
Hauswirthschafts-Policey z. B. Verhütung gemeinwirthschaftlicher Verschwendung (durch Kleiderpracht, Trinken, Essen);
Ehe-, Erziehungs- und Vormundschaftspolicey;
3. Policey der häuslichen Ordnung
Religionspolicey
Sanitätspolicey z. B. Reinigkeit der Luft, Beschaffenheit der Lebensmittel, Getränke, Wohnung, Kleidung, Lebensart;
Medizinalanstalten z. B. Aerzte, Apotheker, Krankenwärter, Krankenhäuser, Tollhäuser;
Begünstigung nützlicher Einwanderung;
2. Gesundheitspolicey
Begünstigung der Ehe;
Aufsicht auf den Zustand der Bevölkerung;
1. Bevölkerungspolicey
B. Wohlfahrtspolicey Möglichkeiten und Grenzen der Privatisierung von Gemeinwohlvorsorge 275
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Gunnar Folke Schuppert
1. Gemeinwohlbestimmung als Kompetenz- und Verfahrensproblem a) Gemeinwohl als Verfahrensproblem Aus der Politik- und Verwaltungswissenschaft ist uns das Phänomen wohlvertraut, dass der Verfahrensgesichtspunkt umso mehr an Gewicht gewinnt, je inhaltlich unbestimmter normative Entscheidungsprogramme formuliert sind, dem Verfahren (insbesondere dem Verwaltungsverfahren) daher also eine kompensatorische Funktion zukommt13. Es bietet sich geradezu an, diese Funktion von Verfahren, die inhaltliche Steuerungsschwäche häufig nur vage formulierbarer normativer Vorgaben zu kompensieren, auf das Gemeinwohlproblem zu übertragen und das Heil nicht in apriorisch feststehenden, geschlossenen Gemeinwohlkonzepten zu suchen, sondern in der Gemeinwohlhervorbringung durch Verfahren: salus publica ex processu14. Wie dieser Wandel von Inhalt zu Verfahren, von materieller zu formaler Rationalität als Konzept beschrieben werden kann, hat uns Michael Stolleis15 in der notwendig komprimierten Form eines Lexikonbeitrages wie folgt vorgeführt: „Wenn derartige Sozialordnungen durch den Verfall ihrer ideologischen Grundlagen und die schwieriger werdende Beherrschung von sich emanzipierenden Schichten durchlässiger und offener werden, dann rückt in gleichem Maße bei der Bestimmung des G. an die Stelle voluntaristisch-autoritärer Setzung die (öffentl.) Auseinandersetzung der verschiedensten Meinungen über den richtigen Inhalt des G. Der inhaltl. Konsens reduziert sich auf ein Minimum elementarer gemeinsamer Interessen (Schutz vor kollektiver Vernichtung, Sicherung der Ernährung, der Energieversorgung u. ä.). Im übrigen tritt das Verfahren in den Vordergrund. Es soll in der Form öffentl. Entscheidungsfindung durch den Zwang zu Transparenz von Argument und Kritik eine rationalere, sachgerechtere und daher von allen Beteiligten umso eher akzeptierte Konkretisierung des G. gewährleisten. Das G. der ‚offenen‘ demokratischen Gesellschaft soll so stets neu entstehen. Fassbar ist es nicht als Ergebnis, sondern als Prozess.“
In der Tat scheint ein solches prozedurales Gemeinwohlverständnis – da eine Rückkehr zur „geschlossenen Gesellschaft“ nicht zur Debatte steht – nicht nur alternativlos, sondern einzig und allein mit dem normativen Leitbild des freiheitlichen Verfassungsstaates kompatibel zu sein. 13 Dazu Gunnar Folke Schuppert, Verwaltungswissenschaft. Verwaltung, Verwaltungsrecht, Verwaltungslehre, Baden-Baden 2000, S. 805 ff. 14 Klassisch Peter Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem. Eine Analyse von Gesetzgebung und Rechtsprechung, Bad Homburg 1970. 15 Michael Stolleis, Gemeinwohl, in: Roman Herzog u. a. (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, 3. Aufl. Stuttgart 1987, Sp. 1061–1064.
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b) Gemeinwohl als Kompetenzproblem Auch der zweite Weg, nämlich das Gemeinwohlproblem von einem Erkenntnisproblem zu einem Kompetenzproblem umzufirmieren, ist – wie schon eingangs erwähnt – von Stolleis präzise beschrieben worden: „Angesichts der fast unbegrenzten inhaltlichen Variationsmöglichkeiten ist nicht die Frage, was das G. ‚in Wahrheit‘ sei, sondern wer es bestimmt, die praktisch entscheidende.“ Wir können hinzufügen: nicht nur die praktisch, sondern auch die politisch und historisch entscheidende Frage. Der Kampf um das Gemeinwohl war und ist bis jetzt immer ein Kampf um die Gemeinwohl-Definitionskompetenz und der Kampf um die politische Macht kann daher nicht nur – den Spuren von Norbert Elias folgend – als Kampf um die Schlüsselmonopole des Gewalt- und Steuermonopols beschrieben werden16, sondern auch als Kampf um das Definitionsmonopol für das Gemeinwohl: souverän war und ist – so können wir vereinfachend formulieren – wer das jeweilige Gemeinwohl definiert, ein Befund, der unmittelbar einsichtig macht, warum der Kampf um die Gemeinwohl-Definitionskompetenz im Prozess der Herausbildung des modernen Staates eine so entscheidende Rolle spielte. Durch den Sieg des Leitbildes des Verfassungsstaates ist nunmehr der Kampf um die Gemeinwohl-Definitionskompetenz verbindlich entschieden und hat sich die Fähigkeit zur Definition des jeweiligen Gemeinwohls von einer Machtposition zu einem Rechtstitel, eben einer verfassungsrechtlichen Kompetenz, verändert. Diese, die innere Souveränität ausmachende und daher nicht nur im Verfassungsstaat schlechthin zentrale Gemeinwohl-Definitionskompetenz gebührt – wenn dieser historische Brückenschlag erlaubt ist – als Kompetenz-Krone allein dem Volk als demokratischem Souverän und damit – im Staatstyp der repräsentativen Demokratie – der demokratisch unmittelbar legitimierten Volksvertretung sowie der von ihr getragenen Regierung. Wenn auf diese Weise – so können wir fortfahren – ein demokratisch legitimiertes Entscheidungsorgan über die Kompetenz zur Gemeinwohldefinition verfügt, das bei dieser Kompetenzausübung zudem an die vom Volk beschlossene Verfassung (sog. verfassunggebende Gewalt des Volkes) gebunden ist, deren Beachtung zu guter Letzt auch noch von einer unabhängigen Verfassungsgerichtsbarkeit überwacht wird, scheint das Gemeinwohlproblem durch seine umfassende Verrechtlichung befriedigend gelöst zu sein: als Gemeinwohl gilt, was im verfassungsrechtlich organisierten, kanalisierten und als freiheitlich gewährleisteten Willensbildungsprozess als solches beschlossen wird. 16 Norbert Elias, Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Zweiter Band, 22. Aufl., Frankfurt a. M. 1998.
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Dass man sich mit dieser Prozeduralisierung und Kompetenzialisierung des Gemeinwohls wegen seiner inhaltlichen Maßstabsarmut nicht vorschnell zufrieden geben darf und nach einem Mittelweg zwischen prozeduralem und substantialistischen Gemeinwohlverständnis suchen muss, haben wir an anderer Stelle darzulegen versucht17; darauf muss an dieser Stelle verwiesen werden. 2. Gemeinwohlspezifische Institutionalisierungen: Institutionen als Hüter, Wächter und Anwälte des Gemeinwohls a) Institutionalisierte Obhut für bestimmte Gemeinwohlbelange das Beispiel der Zentralbanken als Hüter der Währung Es gibt eine Reihe von politisch überaus gewichtigen Institutionen, die den schmückenden Beinamen eines Hüters tragen und die wir als Institutionen mit Hüter- und Obhutfunktion bezeichnen können. Dazu rechnen etwa – um nur vier besonders prominente Beispiele zu nennen – das Bundesverfassungsgericht als Hüter der Verfassung18, die Deutsche Bundesbank als Hüter der Währung19, die Europäische Kommission, die sich selbst gern als Hüterin der Verträge bezeichnet und das Bundeskartellamt als Hüter des Wettbewerbs. Solche Organisationen, die – verwaltungswissenschaftlich gesprochen – „der Autonomie gewisser Sachbereiche Rechnung tragen wollen“20 bzw. – politikwissenschaftlich gesprochen – als potentieller Gegenspieler einer nicht immer weisen Staatsleitung das Zeug zu Nebenregierungen haben, mit denen nicht immer gut Kirschen essen ist21, können wir für unseren Diskussionszusammenhang als absichtsvoll installierte Hüter von Gemeinwohlbelangen bezeichnen.
17 Gunnar Folke Schuppert, Gemeinwohl, das. Oder: Über die Schwierigkeiten, dem Gemeinwohlbegriff Konturen zu verleihen, in: Gunnar Folke Schuppert/Friedrich Neidhardt (Hrsg.), Gemeinwohl – Auf der Suche nach Substanz, WZB-Jahrbuch 2002, S. 19–64. 18 Siehe Günther Frankenberg und Bernd Guggenberger/Thomas Würtemberger (Hrsg.), Hüter der Verfassung einer Zivilgesellschaft, in: Kritische Justiz (KJ) 1996, S. 1–14. 19 Karl Blessing, Die Verteidigung des Geldwerts, Frankfurt a. M. 1960. 20 Gunnar Folke Schuppert, Die Erfüllung öffentlicher Aufgaben durch verselbständigte Verwaltungseinheiten, Göttingen 1981, S. 6. 21 Manfred G. Schmidt, Regieren in der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1992.
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b) Institutionalisierte Wächter des Gemeinwohls: das Beispiel der Nichtregierungsorgansationen (NROs) Die sog. Nichtregierungsorganisationen (NROs), also das eingedeutschte Pendant zu den NGOs, den Nongovernmental Organizations, spielen in der Politik – so z. B. auch auf der europäischen Bühne – eine immer wichtigere Rolle und beschäftigen daher zunehmend auch die Politikwissenschaft22. Uns interessiert weniger ihre in der Tat beeindruckende Karriere oder die Frage, ob sie als „neuer Stern“ am Firmament der Weltveränderung23 richtig etikettiert werden, sondern ihr institutioneller Beitrag zur Gemeinwohlproblematik und ob auch ihnen – im funktionellen Sinne – ein bestimmtes Amt zugeschrieben werden kann. Nach einer solchen Amtsbezeichnung zu suchen, wird dadurch nahe gelegt, dass ihnen – in ganz ähnlicher Weise wie den Notenblanken eine institutionelle Aura – ein institutionelles Charisma zugeschrieben wird24, das in den institutionenspezifischen Leistungen der NGOs für das politische System seine Rechtfertigung finde. Will man diese institutionenspezifischen Leistungen auf den Begriff bringen, so kann man dies mit dem Begriff des Wächteramtes tun – wie dies vom ehemaligen Geschäftsführer von Greenpeace in Deutschland, Walter Homolka25, wie folgt getan worden ist: „Die NGOs treten an, neben Parlamenten und Wirtschaft ihre wichtige Rolle bei der künftigen Gestaltung unserer Gesellschaft zu spielen. International gesehen, gibt es nur schwache Institutionen: keinen internationalen Gerichtshof der Umwelt und Menschenrechte, keine Weltpolizei. Hier erfüllen international arbeitende Organisationen wie Greenpeace oder der World Wide Fund for Nature (WWF) ein bedeutsames Wächteramt.“
c) Institutionalisierte Anwälte des Gemeinwohls: das Beispiel des mobilisierten Bürgers Signifikant für die europarechtliche Mobilisierung des Bürgers als Anwalt des Gemeinwohlbelanges Umweltschutz ist die für das deutsche Recht ungewohnte und viel beachtete Richtlinie über den freien Zugang zu In22
Dazu Hans J. Lietzmann, Nicht-Regierungsorganisation als Gemeinwohlakteure, in: Schuppert/Neidhardt (Hrsg.), Gemeinwohl, (Fn. 17), S. 297 ff. 23 Peter Wahl, Ein neuer Stern am Firmament der Weltveränderung? Nicht-Regierungsorganisationen, in: „Freitag“ vom 7. Januar 2000, S. 12. 24 Ludwig Schrader, Eine neue Gesellschaft in Sicht? Verteidigung der NGOs, in: „Freitag“ vom 28. Januar 2000, S. 12. 25 Walter Homolka, Wachhunde, mehr nicht. Greenpeace und andere: Über die Bedeutung regierungsunabhängiger Organisationen im 21. Jahrhundert, in: SZ Nr. 186 vom 14./15. August 1999.
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formationen über die Umwelt, die sog. Umweltinformationsrichtlinie vom 7. Juni 1990 (ABIEG 1990 Nr. L 158/56), die inzwischen durch das Umweltinformationsgesetz auch innerstaatlich umgesetzt worden ist. Durch die von der Richtlinie statuierten Informationspflichten erhält der interessierte Bürger einen umfassenden Einblick in alle relevanten Umweltdaten, und zwar ohne dass dieses Datenmaterial vorher etwa im Sinne einer behördlichen Öffentlichkeitsarbeit vorsortiert oder bearbeitet worden wäre26. Ziel solcher Transparenz ist eine „offene Umweltdiskussion“ und eine „starke Beteiligung der Öffentlichkeit am umweltpolitischen Entscheidungsprozess“, insbesondere eine „verbesserte Zusammenarbeit mit Umweltverbänden, Nicht-Regierungsorganisationen und sonstigen Beteiligten“27. Der freie Zugang zu den Umweltdaten soll „die Beteiligung der Bürger an den Verfahren zur Kontrolle der Umweltverschmutzung und zur Verhütung von Umweltbeeinträchtigung verstärken und . . . damit wirksam zum Erreichen der Ziele der Gemeinschaftsaktion im Bereich des Umweltschutzes . . . beitragen28. Johannes Masing hat das damit verfolgte Konzept wie folgt zusammengefasst29: „Das damit verfolgte Konzept ist deutlich. Umsetzung und Ausgestaltung des gemeinschaftlichen Umweltrechts sollen nicht in das Arkanum nationaler Verwaltungsbehörden gehüllt werden können, sondern durch die Beteiligung wachsamer Bürger öffentlich gemacht werden. Man will die Verantwortung nicht allein dem staatlichen Exekutivapparat überlassen, sondern die Bürger selbst als Sachwalter der Umwelt mobilisieren. Auch sie sollen auf ihre Umwelt aufpassen. Durch die Öffentlichkeit der Umweltdaten rücken so Bürger und Verwaltung näher zusammen: Nicht nur die Verwaltung wacht, sondern auch der Bürger. Nicht nur die öffentliche Hand überlegt und ergreift Initiativen, sondern auch private Verbände.“
3. Arbeitsteilige Gemeinwohlverantwortung: die Grundrechte als Rechtstitel zur Mitwirkung am Gemeinwohl Gemeinwohlverantwortung tragen im Verfassungsstaat aber nicht nur die verfassten Staatsorgane, sondern auch die individuellen oder organisierten Bürger. Damit wird von uns nicht etwa eine allgemeine „Bürgerverantwortung im demokratischen Verfassungsstaat“ reklamiert30 oder gar die Kategorie der verfassungsrechtlichen Grundpflichten31 im Sinne von Zwangsbeiträ26 Johannes Masing, Die Mobilisierung des Bürgers für die Durchsetzung des Rechts, Berlin 1996. 27 Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses vom 31. März 1989, ABIEG 1989, Nr. C 139/49. 28 So die Begründung der Kommission, ABIEG 1988, Nr. C 335/5. 29 Johannes Masing, Die Mobilisierung des Bürgers für die Durchsetzung des Rechts (Fn. 26), S. 33.
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gen Privater für das Gemeinwohl bemüht, sondern es geht um die Einsicht, dass die Gemeinwohlverantwortung im Verfassungsstaat als arbeitsteilige Verantwortung gedacht werden muss, weil die Verfassung selbst davon ausgeht, dass der gemeinschaftsorientierte Bürger32 durch das Gebrauchmachen von seinen Grundrechten an der Hervorbringung des Gemeinwohls mitwirkt; bei Josef Isensee33 heißt es dazu unter der Überschrift „Grundrechte als Rechtstitel zur Mitwirkung am Gemeinwohl“ wie folgt: „Die Gemeinwohlhervorbringung durch Grundrechtsträger unterscheidet sich wesenhaft von der durch den Staat, weil sie nicht auf dem objektiven Prinzip des Amtes gründet, sondern auf dem subjektiven der Freiheit. Der Grundrechtsträger befindet über das Ob und das Wie seines Handelns; er ist in seinen Motiven, Zielen und Maßstäben nicht von vornherein festgelegt. Er braucht nicht auf Eigennutz, weder auf materiellen noch auf ideellen, zu verzichten. Der Egoismus wird als selbstverständlicher Beweggrund der Grundrechtsaktivität und als Vehikel des Gemeinwohls vorausgesetzt. So geht das Grundgesetz ohne weiteres von der legitimen Privatnützigkeit des Eigentums aus, wenn es die ‚zugleich‘ bestehende Sozialpflichtigkeit benennt. Der Altruismus des Sozialstaates zehrt über die Steuer gleichsam parasitär vom Egoismus der Bürger, welche die Verteilungsmasse des Sozialprodukts erwirtschaftet haben. Die gemeinwohlwichtige Materie der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen wird über das Koalitionsgrundrecht der tarifautonomen Regelung durch die Repräsentanten der gegenläufigen Gruppeninteressen überantwortet.“
Mit dieser Qualifizierung der Gemeinwohlverantwortung im Verfassungsstaat als arbeitsteiliger Verantwortung sind wir ganz von alleine beim nächsten Staatstyp angelangt. III. Gemeinwohlverantwortung im kooperativen Staat Eine unserer seit je zentralen Thesen ist, dass Veränderungsprozesse moderner Staatlichkeit sich am Neuzuschnitt der an der öffentlichen Aufgabenerfüllung beteiligten Sektoren (öffentlicher, privater und dritter Sektor) ablesen lassen und dass wir es mit einem Prozess der zunehmenden Verzah30 Otto Depenheuer, Bürgerverantwortung im demokratischen Verfassungsstaat, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer (VVDStRL) 55 (1996), S. 90–127. 31 Hasso Hofmann, Grundpflichten als verfassungsrechtliche Dimension, in: Veröffentlichung der Deutschen Staatsrechtlehrer (VVDStRL) 41 (1983), S. 42–86. 32 Zum Menschenbild des Grundgesetzes siehe Christian Bumke, Der gesellschaftliche Grundkonsens im Spiegel der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Gunnar Folke Schuppert/Christian Bumke (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und gesellschaftlicher Grundkonsens, Baden-Baden 2000, S. 197–224. 33 Josef Isensee, Gemeinwohl und Staatsaufgaben im Verfassungsstaat, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III, Heidelberg 1988, § 57 (S. 3–82), Rdnr. 83.
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nung von öffentlichem und privatem Sektor zu tun haben34 wie er etwa in der Verzahnungsfunktion von Privatisierung und Regulierung oder der Sektorenverschränkung durch einen Transfer von Transaktionskosten vom öffentlichen in den privaten Sektor zum Ausdruck kommt. An dieser Stelle nun gilt es, einen Blick auf den spezifischen Beitrag zu werfen, den das Verwaltungsverfahren zu diesem Verzahnungsprozess leistet; dabei wollen wir in vier gedanklichen Schritten vorgehen: 1. Rollenzuweisung durch Verfahrensbeteiligung Verwaltungsverfahren haben es mit Verfahrensbeteiligten zu tun, und je mehr nicht-staatliche Akteure an Verwaltungsverfahren beteiligt sind, umso mehr wachsen sie aus der Rolle reiner Privatheit heraus und werden Bestandteil des Prozesses staatlicher Entscheidungsfindung und – darauf kommen wir im dritten Gedankenschritt zu sprechen – der kooperativen Gemeinwohlkonkretisierung; bedeutet die Einräumung von Beteiligungsrechten nicht nur Rollenzuweisung und Rollenveränderung35, sondern auch die Zuteilung von Kommunikations- und Artikulationschancen, so liegt auf der Hand, dass die Zuteilung von Beteiligungsrechten von ganz zentraler Bedeutung für die Gestalt des jeweiligen Verwaltungsverfahrens ist und einen Schlüsselbegriff der Dogmatik des Verwaltungsverfahrensrechts darzustellen hat. 2. Verwaltungsverfahren als Begegnungsort von Staat und Gesellschaft Werden der einzelne oder der organisierte Bürger und organisierte Interessen sowie Verbände durch Beteiligungsrechte in das Verwaltungsverfahren einbezogen, so werden dadurch zugleich Arenen der Kommunikation und Interessenartikulation eröffnet, die als Begegnungsort von Staat und Gesellschaft fungieren und so zu einer Verzahnung von öffentlichem und privatem Sektor wesentlich beitragen; Schmidt-Aßmann hat insoweit von Begegnungsvorgängen zwischen Staat und Individuen oder gesellschaftlichen Gruppen gesprochen und dazu folgendes ausgeführt: 34
Ausführlicher dazu Gunnar Folke Schuppert, Verwaltungswissenschaft (Fn. 13) sowie – und diese Überlegungen übernehmen wir hier zum Teil – derselbe, Gemeinwohldefinition im kooperativen Staat, in: Herfried Münkler/Karsten Fischer (Hrsg.), Gemeinwohl und Gemeinsinn im Recht. Konkretisierung und Realisierung öffentlicher Interessen, Berlin 2002, S. 67–98. 35 Jost Pietzcker, Verwaltungsverfahren zwischen Verwaltungseffizienz und Rechtsschutzauftrag, in: Veröffentlichungen der Deutschen Staatsrechtslehrer (VVDStRL) 41 (1983), S. 193–231.
Möglichkeiten und Grenzen der Privatisierung von Gemeinwohlvorsorge 283 „Allgemeiner und umgreifender ist der Bedeutungsgewinn verfahrensbezogenen Denkens darin begründet, dass es in besonderer Weise der Grundfrage des öffentlichen Rechts, der Frage nach dem Verhältnis von Staat und Gesellschaft und seiner zeitgenössischen Deutung als eine osmotischen Funktionsteilung, zugeordnet werden kann. Osmose heißt dauerhafte Zusammenarbeit, nicht nur punktueller Kontakt. Die vielfältigen hier angesiedelten Begegnungsvorgänge zwischen Staat und Individuum oder gesellschaftlichen Gruppen finden in der Verfahrensvorstellung ein Ordnungsmodell, das ihre zeitliche Dauer, das Angewiesensein aufeinander und die gegenseitigen Einflussnahmen gliedert, durchsichtig macht und mit rechtlich handhabbaren Konsequenzen versieht. Gerade darauf aber kommt es an; denn wenn die Vorstellung von der gegenseitigen Durchdringung von Staat und Gesellschaft mehr sein soll als eine simplifizierende Beschreibung gewisser Realvorgänge, dann müssen diese Vorgänge analysiert, dann müssen die unterschiedlichen Kräfte und Mechanismen beider Seiten in ihren spezifischen Fähigkeiten und Leistungen erkannt und als Bauelemente eines demokratisch-pluralen Entscheidungssystems einander zugeordnet werden.“36
Genau darum geht es, die Entscheidungsvorgänge im Bereich der öffentlichen Verwaltung verfahrensrechtlich zu strukturieren und den Neuzuschnitt von öffentlichem und privatem Sektor auch verfahrensrechtlich abzubilden und auszuformen und damit durch Verfahrensrecht den überholten Dualismus öffentlicher und privater Aufgabenerfüllung und Entscheidungsfindung zu überwinden. 3. Verwaltungsverfahren als kooperative Gemeinwohlkonkretisierung Ein solches, soeben dargestelltes Verständnis des Verwaltungsverfahrens als Ausgestaltung eines demokratisch-pluralen Entscheidungssystems ist naturgemäß unvereinbar mit einer Vorstellung vom Staat und seiner Verwaltung als alleinigem Akteur zur Bestimmung des Gemeinwohlinteresses: „Für die liberalistische Staatsidee des 19. Jahrhunderts wäre eine derartige Verbindung zwischen Staat und Bürger, zumal eine irgendwie geartete Mitwirkung des Privaten an staatlicher Entscheidungsfindung prinzipiell undenkbar gewesen. Die beiden standen sich weithin isoliert gegenüber und jeder hatte ‚seine Interessen‘, der Staat die öffentlichen, der Bürger die privaten. Das ‚Öffentliche‘ war mit dem Staat ebenso identisch wie das ‚Private‘ mit der Gesellschaft.“37
Im Anschluss an Peter Häberle hat Walter Schmitt Glaeser diesen Gedanken einer Gemeinwohlfindung durch partizipatives Verfahren wie folgt formuliert: 36
Eberhard Schmidt-Aßmann, Der Verfahrensgedanke in der Dogmatik des öffentlichen Rechts, in: Peter Lerche u. a. (Hrsg.), Verfahren als staats- und verwaltungsrechtliche Kategorie, Heidelberg 1984, S. 1–34. 37 Walter Schmitt Glaeser, Die Position der Bürger als Beteiligte im Entscheidungsverfahren gestaltender Verwaltung, in: Peter Lerche u. a. (Hrsg.), Verfahren, (Fn. 36), Heidelberg 1984, S. 54.
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„Diese Verbindung im gemeinsamen Ziel einer materiell richtigen Entscheidung kann aber prozessual nichts anderes sein als Gemeinwohlfindung. So sehr jedes staatliche Verfahren und damit auch das Verwaltungsverfahren Gemeinwohlkonkretisierung ist, so sehr bedeutet die bürgerschaftliche Partizipation dementsprechend Mitwirkung an der Gemeinwohlkonkretisierung. Anders ließe sich auch eine Beteiligung von Zivilpersonen mit gestaltender Funktion ‚im‘ staatlichen Verfahren nicht rechtfertigen. Die Anerkennung bürgerschaftlicher Partizipation durch unsere Rechtsordnung ist Ausdruck und Folge der Erkenntnis, dass das ‚Öffentliche‘, das ‚öffentliche Wohl‘, das ‚öffentliche Interesse‘, die Gemeinwohlbindung und Gemeinwohlverwirklichung als zentrales politisches Problem jeder staatlichen Gemeinschaft nicht (mehr) allein Sache des Staates, sondern auch (öffentliche) Aufgabe des Bürgers und der Bürgergruppen ist. Weil die Frage danach, was Gemeinwohl im einzelnen bedeutet, hic et nunc immer offen ist, stellt sich die ‚Gemeinwohlfrage als Kompetenzfrage‘, als Frage nach der Person oder Instanz, die es ‚kompetent‘ verwirklicht. Ein Gemeinwohl aber, das weder vorgegeben, weder ‚dogmatisiert‘ noch beim Staat monopolisiert ist, verlangt für seine inhaltliche Fixierung Kompetenzpluralismus, ein pluralistisches und damit ein partizipatives Verfahren. Umgekehrt ist der ‚Pluralismus der Verfahren . . . legitimierender Ausdruck und Konsequenz des Pluralismus der Gemeinwohlgesichtspunkte in der heutigen res publica‘.“38
4. Intensivierung der Verfahrensfunktion durch kooperative Verwaltungsverfahren und Verfahrensprivatisierung Bedeutet schon die Verfahrensbeteiligung von Betroffenen und von gesellschaftlichen Gruppen eine Verschränkung von Staat und Gesellschaft, so wird dieser Prozess durch kooperative Verwaltungsverfahren und die sog. Verfahrensprivatisierung erst zu einem tiefgreifenden Verzahnungsprozess. Die verschiedenen Erscheinungsformen kooperativer Verwaltungsverfahren sind insbesondere von Jens-Peter Schneider genauer dargestellt worden, aus dessen Abhandlungen39 wir auf zwei Beispiele verweisen können, in denen die Verzahnung von Staat und Gesellschaft besonders plastisch hervortritt: gemeint ist die privatisierte Abwägungsvorbereitung durch den sog. Vorhaben- und Erschließungsplan, die sich zugleich als Verlagerung von Transaktionskosten von der öffentlichen Verwaltung auf den privaten Investor verstehen lässt sowie die Regulierungsstrategie des sog. Öko-Audit, dessen Herzstück, der sog. Umweltgutachterausschuss, als institutionelles Scharnier zwischen Verwaltung und privater Selbstorganisation fungiert und insoweit 38
Walter Schmitt Glaeser, Die Position der Bürger als Beteiligte im Entscheidungsverfahren gestaltender Verwaltung (Fn. 37), S. 59/61 (die Zitate stammen von Peter Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem. Eine Analyse von Gesetzgebung und Rechtsprechung, Bad Homburg 1970). 39 Jens-Peter Schneider, Öko-Audit als Scharnier in einer ganzheitlichen Regulierungsstrategie, in: Die Verwaltung 1995, JG 28, S. 361–388.
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ein bemerkenswertes Beispiel für die organisatorische Umsetzung einer Verwaltungskooperation von öffentlichen und privaten Akteuren eines Politikfeldes bildet. Über den Bereich der sog. kooperativen Verwaltungsverfahren hinaus bedürfte es der Entwicklung eines als Bestandteil des Allgemeinen Verwaltungsrechts verstandenen Verwaltungskooperationsrechts, das einen verlässlichen Rechtsrahmen für eine arbeitsteilige Gemeinwohlkonkretisierung, vor allem auch in Form von Public Private Partnership bietet40.
IV. Gemeinwohlverantwortung im aktivierenden Staat 1. Aktivierender Staat und Zivilgesellschaft Das Leitbild des aktivierenden Staates41 ist dadurch gekennzeichnet, dass es dem Staat die Aufgabe zuweist, überall dort die Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung zu fördern, wo dies möglich ist, und sich bei der Erfüllung öffentlicher Aufgaben an dem Leitgedanken einer Stufung der Verantwortung zwischen Staat und Gesellschaft zu orientieren. Das Leitbild des aktivierenden Staates nimmt dieses Konzept einer neuen Verantwortungsteilung zwischen Staat und Gesellschaft, zwischen staatlicher Steuerungsverantwortung und verantwortungsübernehmender Zivilgesellschaft auf und sucht es konkretisierend umzusetzen; in der insoweit durchaus geglückten Reformprosa der Bundesregierung42 heißt es dazu in zutreffender konkretisierender Zuspitzung wie folgt: „Aktivierender Staat bedeutet, die Selbstregulierungspotentiale der Gesellschaft zu fördern und ihnen den notwendigen Freiraum zu schaffen. Im Vordergrund muss deshalb das Zusammenwirken staatlicher, halb-staatlicher und privater Akteure zum Erreichen gemeinsamer Ziele stehen. Dieses Zusammenwirken muss entwickelt und ausgestaltet werden. Vor allem dem Bund fällt hierbei die Aufgabe zu, die rechtlichen Rahmenbedingungen für einen bürgerorientierten und partnerschaftlichen Staat mit einer effizienten Verwaltung zu schaffen.“ 40 Ausführlicher dazu Gunnar Folke Schuppert, Grundzüge eines zu entwickelnden Verwaltungskooperationsrechts. Regelungsbedarf und Handlungsoptionen eines Rechtsrahmens für Public Private Partnership. Rechts- und verwaltungswissenschaftliches Gutachten erstellt im Auftrag des Bundesministeriums des Innern, Berlin Juni 2001. 41 Siehe dazu Stephan von Bandemer/Josef Hilbert, Vom expandierenden zum aktivierenden Staat, in: Bernhard Blanke u. a. (Hrsg.), Handbuch zur Verwaltungsreform, 2. Aufl., Opladen 2001, S. 17 ff. 42 Die Bundesregierung, Moderner Staat – Moderne Verwaltung. Leitbild und Programm der Bundesregierung, Kabinettsbeschluss vom 1. Dezember 1999, S. 2.
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Das Konzept des aktivierenden Staates nimmt also – um seine Funktion auf den Punkt zu bringen – den Grundgedanken des Konzepts der Verantwortungsteilung auf und gibt ihm eine dynamische Komponente, indem es – um ein von uns schon häufiger verwendetes Bild erneut heranzuziehen – die Rolle des Staates im Drehbuch der Verantwortungsteilung43 präziser beschreibt und ihr deutlichere Konturen verleiht. Der Begriff des aktivierenden Staates ist ebenso wie der Begriff der Verantwortungsteilung in der Lage – und hierin besteht der prinzipielle Unterschied zur Redeweise vom „schlanken“ Staat und vom Rückzug des Staates –, eine positive Zielbestimmung der Staatsreform zu transportieren, nämlich die Kräfte nicht nur des anordnenden Staates, sondern auch der selbststeuerungsfähigen Gesellschaft zu bündeln und in einer gemeinsamen Gemeinwohlverantwortung zusammenzuführen. Was das Leitbild der Zivilgesellschaft angeht, so wollen wir uns hier an seiner Skizzierung durch den Historiker Jürgen Kocka44 orientieren, da in dieser die gemeinsamen Anliegen von aktivierendem Staat und Zivilgesellschaft, die Schnittmengen beider übereinander gelegten Leitbilder besonders plastisch hervortreten; Kocka formuliert wie folgt: „Dementsprechend ist ‚Zivilgesellschaft‘ der Raum gesellschaftlicher Selbstorganisation zwischen Staat, Ökonomie und Privatheit, die Sphäre der Vereine, Zirkel, sozialen Beziehungen und Non-Government-Organizations (NGOs), ein Raum der öffentlichen Diskurse, Konflikte und Verständigungen, die Sphäre der Selbständigkeit von Individuen und Gruppen, ein Bereich der Dynamik, Initiativen und Veränderungen. Zivilgesellschaftliche Arbeit im Ehrenamt (‚Bürgerarbeit‘) spielt eine große Rolle. Von der Förderung und Stärkung dieser Sphäre wird nun, jedenfalls von den Verteidigern der Zivilgesellschaft, die Erfüllung verschiedener politischer Ziele erwartet, nicht zuletzt größere Mündigkeit der Bürger, die Inklusion von Randgruppen, Entlastung und Kontrolle des Staates, gesellschaftliche Einbindung der sich sonst leicht verselbständigenden Marktwirtschaft und breite Mobilisierung für das Gemeinwohl, so unterschiedlich es in einer pluralen Gesellschaft auch verstanden wird. Damit wird ‚Zivilgesellschaft‘ zu einem Zentralbegriff prinzipieller politischer Zielvorstellungen und Programme. Ähnlich wie in der anglo-amerikanischen Debatte über den ‚Dritten Weg‘ kann es in der Debatte über ‚Zivilgesellschaft‘ um die grundsätzliche Neubestimmung des Verhältnisses von Politik, Gesellschaft und Wirtschaft gehen, um die moralischen Grundlagen der Politik, um das Gemeinwesen insgesamt, um Ziele, Gefahren und Chancen der 43 Näher dazu Gunnar Folke Schuppert, Die öffentliche Verwaltung im Kooperationsspektrum staatlicher und privater Aufgabenerfüllung: Zum Denken in Verantwortungsstufen, in: Die Verwaltung 1998, S. 415–447. 44 Jürgen Kocka, Die Zivilgesellschaft und die Rolle der Politik. Thesen und Fragen. Einführende Bemerkungen zur Session 1 der Expertentagung im Vorlauf der Regierungskonferenz „Modernes Regieren im 21. Jahrhundert“ am 2./3. Juni 2000 in Berlin (Manuskript).
Möglichkeiten und Grenzen der Privatisierung von Gemeinwohlvorsorge 287 Zukunft. Dabei zeigt sich, dass das Projekt ‚Zivilgesellschaft‘ seinen früheren utopischen Gehalt noch immer nicht ganz verloren hat.“
Wir können also nach alledem konstatieren, dass weder aktivierender Staat und Zivilgesellschaft austauscharm nebeneinander leben, noch der aktivierende Staat seine „aktivierte“ Gesellschaft nach seinem Bild zu formen sucht, es sich vielmehr um ein Verhältnis gegenseitigen Aufeinander-Einwirkens handelt, um ein Verhältnis der Interaktion also, auf das nunmehr ein kurzer Blick zu werfen ist. 2. Das Verhältnis von aktivierendem Staat und Zivilgesellschaft als ein Verhältnis der Interaktion Wenn das Verhältnis von aktivierendem Staat und Zivilgesellschaft – wie dies häufiger geschieht – im Zusammenhang mit den Begriffen „Entlastung des Staates“, „Überforderung des Staates“ oder „Konzentration auf seine Kernaufgaben“ diskutiert wird, so liegt es nahe, die absichtsvolle Stärkung der Selbstregulierungspotentiale der Bürgergesellschaft als das Verhältnis von öffentlichem und privatem Sektor verändernde Steuerungsstrategie zu begreifen und daher das Verhältnis von aktivierendem Staat und Zivilgesellschaft auch steuerungstheoretisch in den Blick zu nehmen. Als Sehhilfe kann man dabei die moderne Governance-Forschung heranziehen, die – ausweislich einer ihrer Standardwerke – „Modern Governance“ als „New Government – Society Interactions“ versteht45, also gerade nicht als Einbahnstraßensteuerung (aktivierender Staat aktivierte Gesellschaft), sondern als interaktives Aufeinander-Einwirken; zu diesem hilfreichen Stichwort „government with society“ heißt es bei Jan Kooiman erläuternd wie folgt46: „In this chapter I will try to argue that recent changes in patterns of interactions between the public and the private sector may have to do with the growing realization of the complex, dynamic and diverse nature of the world we live in. In this situation governing systems try to reduce the need for governing (e. g. by deregulation) or shift the need (e. g. by privatization). But a third way seems to be developed and not in terms of more ‚neo-corporatist arrangements‘. These also seem to be victim of boundaries as the ones just mentioned. In the new forms of governance one can see a shift from unilateral (government or society separately) to an interactionist focus (government with society).“
45
Jan Kooiman, Governance and Governability: Using Complexity, Dynamics and Diversity, in: derselbe (Hrsg.), Modern Governance. New Government-Society Interactions, London 1993, S. 35 ff. 46 Jan Kooiman, Governance and Governability (Fn. 45), S. 35.
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Genau darum scheint es uns zu gehen, um das Verständnis des Verhältnisses von aktivierendem Staat und Zivilgesellschaft als ein Geflecht von Interaktionsbeziehungen; wenn das aber richtig ist, ist es unverzichtbar, die Zivilgesellschaft als Interaktionspartner des aktivierenden Staates genauer in den Blick zu nehmen und auf ihre Beschaffenheit und Struktur zu untersuchen. 3. Zivilgesellschaftliches Gemeinwohl-Engagement: Engagement auch und vor allem des organisierten Bürgers? Worauf schon Jürgen Kocka hingewiesen hatte, ist die Zivilgesellschaft „der Raum gesellschaftlicher Selbstorganisation“, die „Sphäre der Vereine, Zirkel, sozialen Beziehungen und Non-Government-Organizations“, die „Sphäre der Selbständigkeit von Individuen und Gruppen“. Die Bürgergesellschaft ist also von Natur aus ein unübersichtliches Terrain, und es empfiehlt sich daher, dieses Terrain etwas übersichtlicher zu gestalten. Dies können wir dadurch tun, dass wir zunächst zwei Gruppen von Bürgern unterscheiden, nämlich den Bürger als Individuum und den – wie wir ihn nennen wollen – organisierten Bürger. Denn gerade der wie auch immer organisierte Bürger ist es, der die für das Funktionieren der Zivilgesellschaft unentbehrlichen intermediären Strukturen bereitstellt, das intermediäre Unterfutter gewissermaßen47, dessen ein demokratisches Gemeinwesen bedarf, und man ist daher bei der Beschäftigung mit der Bürgergesellschaft gut beraten, diesen organisierten Bürger genauer in den Blick zu nehmen, eine Spezies, die durch das Anliegen des liberalen Rechtsstaates, den freien gesellschaftlichen Bereich und den staatlicher Kompetenz im Interesse größtmöglicher Freiheit der bürgerlichen Gesellschaft sorgsam zu scheiden, nahezu ausgeblendet worden ist. Es mag hier auf unseren an anderer Stelle unternommenen Versuch verwiesen werden, die Interventionsstrategien des aktivierenden Staates und verschiedene Bürgertypen einander gegenüberzustellen48:
47 Dazu Gunnar Folke Schuppert, Assoziative Demokratie. Zum Platz des organisierten Menschen in der Demokratietheorie, in: Ansgar Klein/Rainer Schmalz-Bruns (Hrsg.), Politische Beteiligung und Bürgerengagement in Deutschland, Baden-Baden 1997, S. 114–152. 48 G. F. Schuppert, Aktivierender Staat und Zivilgesellschaft – Versuch einer Verhältnisbestimmung, in: Gerd Winter (Hrsg.), Das Öffentliche heute. Kolloquium zu Ehren von Alfred Rinken, Baden-Baden 2002, S. 101 ff., 116.
Möglichkeiten und Grenzen der Privatisierung von Gemeinwohlvorsorge 289 Aktivierender Staat Ü Interaktionsstrategien Kompetenzstärkung der Bürger (Empowerment) Stimulierung und Förderung ehrenamtlichen Engagements • Imageverbesserung • Anreize Netzwerkstrategien • Stimulierung von Selbstorganisation und arms length-Förderung von DrittSektor-Organisationen • Aufbau partnerschaftlicher Beziehungen • Integration in staatliche Sozialprogramme
Korporatistische bzw. quasikorporatistische Arrangements
Ç Bürgergesellschaft Der Bürger als Individuum • Leitbild: der aktive Bürger, der mündige Bürger, der kompetente Bürger • Art des Engagements: ehrenamtliche Tätigkeit
Der organisierte Bürger • Organisationsgrad 1: Selbstorganisation – Leitbild: der sich aus Mitbetroffenheit engagierende Bürger – Art des Engagements: Selbsthilfegruppen, Bürgerinitiativen etc. – Selbstverständnis: anti-etatistisch, anti-bürokratisch • Organisationsgrad 2: Assoziationswesen – Leitbild: der gemeinwohlorientierte „bürgerliche“ Bürger – Art des Engagements: der klassische Verein, Stiftungen – Selbstverständnis: aufgeklärter Diskursteilnehmer und Gemeinwohlakteur • Organisationsgrad 3: Organisierte Interessen – Leitbild: der interessengeleitete Bürger – Art des Engagements: Interessen-, insbesondere Berufsverbände • Selbstverständnis: gruppennütziges Gemeinwohlverständnis
Bürgertypen als Gemeinwohlakteure
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V. Gemeinwohlverantwortung im Gewährleistungsstaat 1. Begriff und Wirkungsweise des Gewährleistungsstaates Die sich mehr und mehr durchsetzende Leitidee des Gewährleistungsstaates49 ist unlängst von Wolfgang Hoffmann-Riem50 zusammenfassend wie folgt skizziert worden: „Er belässt es bei einer öffentlichen Aufgabe, konzentriert sich in vielen Bereichen aber darauf, lediglich einen Rahmen und strukturierende Vorgaben für Problemlösungen durch andere, insbesondere Private, bereitzustellen, ohne die Verfolgung und Erreichung gemeinwohlorientierter Ziele in einer bestimmten Weise zu garantieren. Im sozialwissenschaftlichen Jargon wird von der Vorzugswürdigkeit des ‚Enabling‘ gegenüber dem den Staat überfordernden ‚Providing‘ gesprochen. Der erfüllende Wohlfahrts- und Interventionsstaat wird überlagert und zum Teil ersetzt durch den ermöglichenden Gewährleistungsstaat. Damit soll keine vollständige Veränderung der Staatlichkeit behauptet werden, sondern nur eine graduelle. Der Staat bleibt in wichtigen Teilen weiter für die Erbringung staatlicher Leistungen verantwortlich. Diese Eigenverantwortung baut er jedoch tendenziell ab und versucht, die staatlich zu verfolgenden Ziele und die wahrzunehmenden öffentlichen Aufgaben nicht allein zu erfüllen, sondern möglichst im Zusammenwirken mit Privaten. Es geht also um je unterschiedliche Intensitäten der staatlichen Aufgabenwahrnehmung durch den Staat einerseits und nicht-staatliche Akteure andererseits; kurz: um die Art und Weise der Verantwortungsteilung zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Verantwortungsträgern.“
Wenn man diese Passage noch einmal Revue passieren lässt, so wird sehr schön deutlich, dass die Leitidee des Gewährleistungsstaates mit den Konzepten der Verantwortungsstufung und der Verantwortungsteilung auf das engste verknüpft ist und dass sich – wie jetzt zu zeigen ist – Gemeinwohlverantwortung im Gewährleistungsstaat vor allem als Wahrnehmung von Gewährleistungsverantwortung darstellt. Die Leitidee des Gewährleistungsstaates knüpft an das auf Eberhard Schmidt-Aßmann51 zurückgehende Konzept der Verantwortungsstufung an, das inzwischen zu einem Konzept der Verantwortungsteilung weiterentwickelt worden ist und vielen als Schlüsselkonzept moderner Staatlichkeit 49 Vgl. Gunnar Folke Schuppert, Der moderne Staat als Gewährleistungsstaat, in: Eckhard Schröter (Hrsg.), Empirische Policy- und Verwaltungsforschung. Lokale, nationale und internationale Perspektiven, Opladen 2001, S. 399–414. 50 Wolfgang Hoffmann-Riem, Modernisierung von Recht und Justiz. Eine Herausforderung des Gewährleistungsstaates, Frankfurt a. M. 2001, S. 45. 51 Eberhard Schmidt-Aßmann, Zur Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts – Reformbedarf und Reformansätze, in: Wolfgang Hoffmann-Riem u. a. (Hrsg.), Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts. Grundfragen, Baden-Baden 1993, S. 11–63.
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gilt52. Das Denken in Verantwortungsstufen findet wohl deshalb eine nicht unbeträchtliche Gefolgschaft53, weil man hiermit nicht nur Sektoren und Akteure unterscheiden und ordnen kann, sondern weil ein solches Konzept der Verantwortungsstufung und -teilung auch etwas – wie der Strafrechtler sagen würde – zum Tatbeitrag der verschiedenen sektorspezifischen Akteure zur gemeinsamen Gemeinwohlverwirklichung auszusagen vermag. Es besteht inzwischen weitgehend Übereinstimmung darüber, dass man – aus der Akteursperspektive der Verwaltung – drei Grundtypen der Verwaltungsverantwortung unterscheiden sollte54, nämlich • die Erfüllungsverantwortung, • die Gewährleistungsverantwortung und • die Auffangverantwortung. Von einer Erfüllungsverantwortung kann man sprechen, wenn der Staat selbst – sei es durch seine eigenen Behörden oder von ihm beherrschte Verwaltungstrabanten – für die Erfüllung bestimmter Aufgaben verantwortlich ist, und zwar in der Weise, dass er diese Aufgaben in eigener Regie wahrnimmt und nicht an Dritte delegiert. Diese vor allem in der klassischen Ressortgliederung – Inneres, Äußeres, Verteidigung, Finanzen und Justiz – sich widerspiegelnden Aufgabenbereiche sind in der Regel durch ein staatliches Wahrnehmungsmonopol gekennzeichnet – Beispiele: Polizei, Rechtsschutzgewährung, Finanzverwaltung – sowie dadurch, dass der Staat zu ihrer Wahrnehmung ein spezifisch staatsnahes Personal einsetzt, nämlich die nach Art. 33 Abs. 4 GG für die Ausübung von Hoheitsbefugnissen vorgesehenen Berufsbeamten. Die Auffangverantwortung sitzt – um ein Bild aus der Welt des Fußballs zu verwenden – auf der Reservebank, solange das Spiel gut läuft, wird aber in dem Moment aktualisiert, in dem ein gemeinwohlrelevantes Steuerungsdefizit zu konstatieren ist, wie insbesondere Hoffmann-Riem herausgearbeitet hat55: 52 Vgl. die Beiträge in: Gunnar Folke Schuppert (Hrsg.), Jenseits von Privatisierung und „schlankem“ Staat. Verantwortungsteilung als Schlüsselbegriff eines sich verändernden Verhältnisses von öffentlichem und privatem Sektor, Baden-Baden 1999. 53 Kritisch Udo Di Fabio, Die Verwaltung und das Verwaltungsrecht zwischen staatlicher Steuerung und gesellschaftlicher Selbstregulierung, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer (VVDStRL) 56 (1997), S. 235 ff. 54 Wolfgang Hoffmann-Riem, Verantwortungsteilung als Schlüsselbegriff moderner Staatlichkeit, in: Paul Kirchhof u. a. (Hrsg.), Staaten und Steuern. Festschrift für Klaus Vogel zum 70. Geburtstag, Heidelberg 2001, S. 47–64.
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„So kann der Staat über Informations- und Kooperationsvorkehrungen eine Begleitverantwortung übernehmen oder über eine nachvollziehende Kontrolle das Ergebnis an dem staatlichen Gemeinwohlauftrag überprüfen. Wird auf diese Weise ein Steuerungsdefizit erkennbar, kann sich die Auffangverantwortung aktualisieren, und der Staat kann korrigierend oder substituierend tätig werden.“
Zwischen diesen beiden Verantwortungsbereichen liegt die uns eigentlich interessierende Gewährleistungsverantwortung, die uns wiederum in Gestalt einer Regulierungs- und Überwachungsverantwortung entgegentritt56 und deren Funktionslogik von Wolfgang Hoffmann-Riem57 wie folgt zusammengefasst worden ist: „Trotz eines Rückbaus des erfüllenden Interventions- und Wohlfahrtsstaates bleibt der Staat verantwortlich dafür, dass die statt dessen eingeschalteten Regelungsmechanismen, also insbesondere die der gesellschaftlichen Selbstregulierung, funktionieren. Durch das Vertrauen auf solche gesellschaftlichen Problemlösungen wird der Staat seiner Aufgabe der Gemeinwohlsicherung nicht entkleidet. Er muss auch dann für rechts- und sozialstaatliche Standards der Aufgabenerfüllung sorgen. Diese Aufgabe ist ihm auch nicht neu. Soweit Privatisierungen durchgeführt werden, richtet der Staat zum Teil ein Privatisierungsfolgenrecht ein. Beispielsweise wird die Privatisierung im Telekommunikationsbereich durch Vorkehrungen für eine Universaldienstverpflichtung oder Entgeltkontrolle im Telekommunikationsgesetz begleitet (siehe §§ 17 ff., 23 ff. TKG). Anders ausgedrückt: Auch dort, wo der Staat nicht (mehr) selbst Aufgaben erfüllt, steuert er häufig die Aufgabenwahrnehmung mit dem Ziel der Verfolgung des Gemeinwohls. Das Schlagwort ‚from providing to enabling‘ bringt den Wechsel vom erfüllenden Wohlfahrtsstaat zum ermöglichenden Gewährleistungsstaat zum Ausdruck. Trotz einer Reduktion der Leistungstiefe und des Rückbaus des Steuerungsinstrumentariums bleibt eine öffentliche Verantwortung bestehen, die insbesondere dadurch verwirklicht werden soll, dass der Staat gesellschaftliche Eigenregelungen fördert und durch Rahmenvorgaben, Struktursetzungen und Spielregeln vorsorgt, dass sie auch funktionieren.“
2. Arbeitsteilige Gemeinwohlverwirklichung als Kennzeichen des Gewährleistungsstaates Dass die Verantwortung für das Gemeinwohl nicht mehr als in die Alleinzuständigkeit des Staates fallend gedacht werden kann, entspricht allgemeiner Auffassung. Im liberalen Verfassungsstaat pluralistischer Prägung ist Gemeinwohlverantwortung prinzipiell teilbar, der Staat (und seine Verwal55 Wolfgang Hoffmann-Riem, Verantwortungsteilung als Schlüsselbegriff moderner Staatlichkeit (Fn. 54), S. 442. 56 Vgl. dazu die Beiträge in Klaus König/Angelika Benz (Hrsg.), Privatisierung und staatliche Regulierung, Baden-Baden 1997. 57 Wolfgang Hoffmann-Riem, Modernisierung von Recht und Justiz (Fn. 50), S. 53/54.
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tung) ist nicht mehr der alleinige, wenn auch nach wie vor ein besonderer, nämlich demokratisch legitimierter Gemeinwohlakteur. Haben wir es also mit einer Vielzahl von Gemeinwohlakteuren zu tun – seien dies gruppennützige Akteure wie die Verbände, Nonprofit-Organisationen des dritten Sektors wie die Wohlfahrtsorganisationen, Wächter des Gemeinwohls wie Greenpeace oder Amnesty International oder auch der einzelne, z. B. ehrenamtlich tätige Bürger – so entsteht das „Produkt Gemeinwohl“ aus dem Zusammenspiel von einer Vielzahl von Gemeinwohlbeiträgen staatlicher, halb-staatlicher und nicht-staatlicher Akteure. Dieser Prozess arbeitsteiliger Gemeinwohlverwirklichung bedarf nun – soll er nicht der Beliebigkeit der Akteure und ihrer durchaus unterschiedlichen Durchsetzungskraft überlassen werden – einer irgendwie gearteten Koordination der verschiedenen Gemeinwohlbeiträge, einer Koordination, die die spezifischen Tatbeiträge der jeweiligen Akteure deutlich und damit auch zurechenbar macht. Das zentrale Problem moderner Staatlichkeit besteht also darin, wie ein solcher Modus der Koordination beschaffen sein könnte und sollte. Dass dieser Koordinationsmodus nicht länger in einer ausschließlich oder überwiegend hierarchischen Koordination bestehen kann, liegt auf der Hand: der aufgabenintensive Verwaltungsstaat – gekennzeichnet durch eine strukturelle Asymmetrie von umfassender politischer Verantwortung einerseits und beschränkter Anordnungs- und Regelungsmacht andererseits58 – ist für die Durchführung seiner Aufgaben in steigendem Umfang auf die Mitwirkung der Regelungsadressaten angewiesen, wie insbesondere die Aufgabenbereiche der Arbeitsmarkt- und Gesundheitspolitik eindrücklich belegen. Bedarf es also in vielen Bereichen eines konsensualen Arrangements zwischen dem Staat und privaten Akteuren, so liegt als Koordinationsmodus der des Verhandelns nahe59: Dieser verhandelnde Staat ist unter der Flagge des „kooperativen Staates“ in der Literatur ausführlich behandelt worden60, einschließlich des Phänomens einer kooperativen Rechtserzeugung, Rechtskonkretisierung und Rechtsdurchsetzung61. Die diesem Koordinationsmodus innewohnenden Risiken und Unzuträglichkeiten sind leicht erkennbar: Ko58 Vgl. dazu Dieter Grimm, Bedingungen demokratischer Rechtsetzung, in: Lutz Wingert/Klaus Günther (Hrsg.), Die Öffentlichkeit der Vernunft und die Vernunft der Öffentlichkeit, Festschrift für Jürgen Habermas, Frankfurt a. M. 2001, S. 489 ff. 59 Siehe dazu Fritz W. Scharpf, Die Handlungsfähigkeit des Staates am Ende des 20. Jahrhunderts, in: Beate Kohler-Koch (Hrsg.), Staat und Demokratie in Europa, Opladen 1992, S. 93 ff. 60 Klassisch Ernst-Hasso Ritter, Der kooperative Staat. Bemerkungen zum Verhältnis von Staat und Wirtschaft, in: Archiv des Öffentlichen Rechts (AöR) 104 (1979), S. 389 ff. 61 Nachweise bei Gunnar Folke Schuppert, Verwaltungswissenschaft (Fn. 13), S. 420 ff.
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operationsspezifische Gefährdungslagen resultieren aus der tendenziellen Distanzlosigkeit des kooperativen Staates und der nahe liegenden Versuchung, die Einsicht in die Notwendigkeit bestimmter Regelungen auf dem Altar des Kompromisses mit den stärksten organisierten Interessen zu opfern, eine Gefahr, für deren Kennzeichnung wir den Begriff der „corporatistic capture“ vorschlagen möchten. Will man also nicht vom Regen der Hierarchie in die Traufe des Korporatismus gelangen, so bedarf es einer dritten Variante der Koordination, eines Koordinationsmodus also zwischen Hierarchie und konsensualem Arrangement. Worum es gehen muss, ist, einerseits Gemeinwohlbeiträge staatlicher und nicht-staatlicher Akteure zu koordinieren, dabei andererseits aber die Eigenrationalitäten des staatlichen wie des privaten Sektors zu wahren, um auf diese Weise aus am individuellen Nutzenkalkül orientierten Handlungsbeiträgen nicht-staatlicher Akteure Gemeinwohlbeiträge Privater werden zu lassen. Dieses „Kunststück“ zu vollbringen, ist das Anliegen des Gewährleistungsstaates, dessen Funktionslogik darin besteht, die Verwaltungsund Selbstregulierungspotentiale des öffentlichen, privaten und dritten Sektors parallel zu schalten und durch die Institutionalisierung eines strukturellen Rahmens die je spezifischen Beiträge der unterschiedlichen Akteure wie verschiedene Zuflüsse eines Gewässers auf das Mühlrad des Gemeinwohls zu lenken. Aus der Perspektive des eine Gemeinwohlverantwortung nicht preisgeben könnenden Staates gesehen, lässt sich dies so formulieren: wenn der Staat bestimmte ihm obliegende Aufgaben nicht selbst, d.h. eigenhändig wahrnehmen kann oder will, sich also aus der Erfüllungsverantwortung zurückzieht und stattdessen nicht-staatliche Akteure in die Aufgabenerfüllung einbezieht oder sie ihnen überlässt, bleibt er weiter für die Funktionsfähigkeit dieser Art der Problemlösung verantwortlich; dies ist mit dem Begriff der Gewährleistungsverantwortung gemeint62. Staatliche Gewährleistungsverantwortung stellt sich also dar als „eine private Kräfte einbeziehende Steuerungsverantwortung des Staates, die auf die Bereitstellung von bestimmten – insbesondere rechtlichen Strukturen für die Leistungserbringung durch gesellschaftliche Kräfte gerichtet ist“63. Will man zusätzlich die Rolle einer aktiv-fördernden staatlichen Gewährleistungsfunktion und die Selbstregulierungspotentiale der Bürgergesellschaft/Zivilgesellschaft beto62
Wolfgang Hoffmann-Riem, Von der Erfüllungs- zur Gewährleistungsverantwortung – eine Chance für den überforderten Staat, in: derselbe, Modernisierung von Recht und Justiz. Eine Herausforderung des Gewährleistungsstaates, Frankfurt a. M. 2000, S. 24 ff. 63 Claudio Franzius, Gewährleistung im Recht. Vorüberlegungen zur rechtlichen Strukturierung privater Gemeinwohlbeiträge am Beispiel des Umweltschutzes. Diskussionspapiere zu Staat und Wirtschaft des Europäischen Zentrums für Staatswissenschaften und Staatspraxis, Berlin 36/2002, S. 4.
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nen, kann man Zielrichtung und Funktionsweise des Gewährleistungsstaates mit Claudio Franzius wie folgt skizzieren64: „Sein Ziel ist es, privates Engagement für das Gemeinwohl zu nutzen und zu mehren. Denn öffentliche Aufgaben – das ist eine Binsenweisheit – sind nicht immer Staatsaufgaben. Sie können und sollen auch durch den Bürger erfüllt werden. Modern ist so gesehen ein Staat, der auf die Aktivierung privater Kräfte setzt und die öffentliche Aufgabenerfüllung durch die Bereitstellung geeigneter Regelungsstrukturen ermöglicht. Der Gewährleistungsstaat will der Staat der Zivilgesellschaft sein.“
Wenn wir auf den entscheidenden Gesichtspunkt des Koordinationsmodus zurückkommen, so können wir die folgende Zwischenbilanz ziehen: während der bestimmende Koordinationsmodus des hoheitlichen Staates das Steuerungsprinzip der Hierarchie ist, der kooperative Staat hingegen sich mit den nicht-staatlichen Akteuren konsensual arrangiert, zielt der Gewährleistungsstaat auf eine Koordination durch Struktursteuerung65, indem er – im Unterschied zum erfüllenden Interventionsstaat – darauf verzichtet, bestimmte Gemeinwohlziele und den Weg zu ihrer Verwirklichung detailliert vorzuschreiben, sondern stattdessen Organisations-, Verfahrens- und Regelungsstrukturen bereitstellt (Bereitstellungsfunktion des Rechts66), um auf diese Weise staatliche und nicht-staatliche Handlungsbeiträge als Gemeinwohlbeiträge miteinander zu verkoppeln. 3. Von der Gewährleistungsverantwortung zum Gewährleistungsrecht Besteht der Funktionsmodus des Gewährleistungsstaates in der Koordination von Handlungsbeiträgen staatlicher und nicht-staatlicher Akteure durch Struktursteuerung, d.h. durch die Entwicklung und Bereitstellung von Strukturen arbeitsteiliger Gemeinwohlverwirklichung, so bedarf es – da staatliche Steuerung im Rechtsstaat vor allem Steuerung durch Recht zu sein hat – der Entwicklung und Bereitstellung von rechtlichen Gussformen67 einer solchen Struktursteuerung, die Organisation, Verfahren und Re64
Claudio Franzius, Gewährleistung im Recht (Fn. 63), S. 1. Zu diesem Begriff Gunnar Folke Schuppert, Verwaltungswissenschaft (Fn. 13), S. 551. 66 Begriff bei Gunnar Folke Schuppert, Verwaltungsrechtswissenschaft als Steuerungswissenschaft. Zur Steuerung des Verwaltungshandelns durch Verwaltungsrecht, in: Wolfgang Hoffmann-Riem u. a. (Hrsg.), Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts. Grundfragen, Baden-Baden 1993, S. 65 ff., 98 f. 67 Begriff bei Walter Pauly, Grundlagen einer Handlungsformenlehre im Verwaltungsrecht, in: Kathrin Becker-Schwarze u. a. (Hrsg.), Wandel der Handlungsformen im Öffentlichen Recht, Stuttgart u. a. 1991, S. 25 ff. 65
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Gunnar Folke Schuppert
gulierungsmodi als Ressourcen rechtlicher Steuerung begreift und einsetzt. Insoweit folgt – wie Franzius zutreffend geltend macht – aus der die Steuerungsressourcen des privaten und dritten Sektors aufgreifenden Gewährleistungsverantwortung des Staates „die Aufgabe, ein öffentliches Gewährleistungsrecht zur Bereitstellung rechtlicher Infrastrukturen für das Zusammenspiel von staatlicher Regulierung und gesellschaftlicher Selbstregulierung zu entwickeln“68. In einem neueren Beitrag mit dem Titel „Der Gewährleistungsstaat – ein neues Paradigma der Staatstheorie?“ hat Claudio Franzius im Anschluss an Martin Burgi69 der Entwicklung eines Strukturgewährleistungsrechts das Wort geredet und dazu folgendes ausgeführt70: „Der Gewährleistungsstaat wird ein ‚Strukturgewährleistungsrecht‘ hervorbringen müssen. Es sind deshalb nicht einfach subjektive Rechtspositionen, sondern hinreichend komplexe Regelungsstrukturen mit dem Ziel zu schaffen, die ‚Verantwortungsteilungen‘ des Gewährleistungsstaates im einfachen Gesetzesrecht abzubilden. Wo Private in staatliche Entscheidungen einbezogen werden, trifft den Verantwortung gebenden Staat eine ‚Strukturschaffungspflicht‘ mit der Folge, öffentlich-rechtliche Bindungen auf den privaten Entscheidungsanteil zu erstrecken. Wird demgegenüber der Staat in grundrechtlich geprägten Zusammenhängen tätig, muss sich das Tätigwerden als ‚Ausübung von Staatsgewalt‘ darstellen, um den staatlichen Entscheidungsanteil an den Legitimationsanforderungen des Art. 20 Abs. 2 GG messen zu können.“
Richtig hieran ist, die Notwendigkeit eines Denkens in Strukturen hervorzuheben. Zu Recht hat Hans-Heinrich Trute darauf aufmerksam gemacht, dass im Gewährleistungsstaat eine andere Art und Funktion von Recht an Bedeutung gewinnt71, nämlich an Stelle von zwei- oder allenfalls dreipoligen Rechtsbeziehungen mit mehr oder weniger präzisen Rechtsfolgen das Schaffen von Regelungsstrukturen, in die sich einzuklinken all den Akteuren offen steht, die sich – wie etwa beim Öko-Audit – den durch strukturelle Vorgaben bestimmten Spielregeln unterwerfen. „Designing regulatory structures“ wäre als eine, wenn nicht die zentrale Aufgabe einer am Leitbild des Gewährleistungsstaates arbeitenden, verwaltungswissenschaftlich inspirierten72 Verwaltungsrechtswissenschaft anzusehen. Da solche Rege68
Claudio Franzius, Gewährleistung im Recht (Fn. 63), S. 7. Martin Burgi, Privat vorbereitete Verwaltungsentscheidungen und staatliche Strukturbeschaffungspflicht. Verwaltungsverfassungsrecht im Koordinationsspektrum zwischen Staat und Gesellschaft, in: Die Verwaltung 33 (2000), S. 183 ff. 70 Claudio Franzius, Gewährleistung im Recht (Fn. 63), S. 18. 71 Hans-Heinrich Trute, Vom Obrigkeitsstaat zur Kooperation, in: Umwelt- und Technikrecht, Bd. 48, Berlin 1999, S. 13 ff. 72 Zur Aufgabe der Verwaltungswissenschaft, das Reformpotential der Verwaltungsrechtswissenschaft zu erhöhen, siehe Gunnar Folke Schuppert, Staatswissenschaft, Baden-Baden 2003 (i. E.). 69
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lungsstrukturen aber im geltenden Rechtssystem irgendwo ihren Ort haben müssen, hilft es nicht weiter, auf dieser Abstraktionshöhe zu verharren; vielmehr bedarf es konkretisierender Anstrengungen, um erste Gussformen eines Gewährleistungsrechts zunächst als Rohformen zu erstellen und im Anschluss daran zu verfeinern. Diese Arbeit ist inzwischen insbesondere von Andreas Voßkuhle in derart vorbildlicher Weise in Angriff genommen worden73, dass es uns leicht fällt, darauf an dieser Stelle verweisen zu können; zum Abschluss unserer kleinen Skizze möchten wir eine kleine Übersicht präsentieren, die unsere bisherigen Überlegungen auch graphisch zusammenfasst (siehe Seite 294).
73 Andreas Voßkuhle, Beteiligung Privater an der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben und staatliche Verantwortung, in: VVDStRL 62 (2003), S. 266–329.
Obrigkeit
Per Anordnung und Weisung
Sitz der Gemeinwohlverantwortung
Generation des Gemeinwohls
Steuerungsstrategien Wohlfahrtsstaatliche Policey
Beförderung der Glückseligkeit der Untertanen
Leitbild
Absolutistischer Wohlfahrtsstaat
Steuerung durch Recht
Interessenausgleich im Gesetzgebungsverfahren
Qua regulierter Selbstregulierung
Interessenausausgleich im Regulierungsprozess
Interaktionsprozesse/ Government with Society
Qua Netzwerkbildung
Konsensuale Arrangements
Regulierungsmix zwischen Staat + Markt
Ehrenamt, Netzwerke, Partizipationsforen
Steuerung durch eigene Institutionen
Interessenausgleich durch konzertierte Lösungen
In Processu
Qua ausgehandeltem Arrangement
Verantwortungsteilung (bei staatlicher Letztverantwortung)
Aktivierung der Zivilgesellschaft
Gemeinwohlsicherung bei arbeitsteiliger Gemeinwohlverwirklichung
Effektivierung staatl. Gemeinwohlpolitik durch Einbeziehung organisierter Interessen
Demokratisch legitimierte Entscheidungen über Gemeinwohlpräferenzen Verfassungsorgane nach Maßgabe ihrer Kompetenzen
Aktivierender Staat
Gewährleistungsstaat
Kooperativer Staat
Verfassungsstaat
298 Gunnar Folke Schuppert
Besonderheiten von Organisation und Verfahren
Herausbildung von Netzwerkstrukturen; Verwaltung als Netzwerkknüpfer
Verfahrensprivatisierung; Herausbildung hybrider Organisationsformen und kooperativer Rechtsstrukturen
Konsensrunden, Bündnisse für . . . (Gefahr der Herausbildung von PrivatInterest-Governments)
Verfassungsrechtlich geregeltes und kontrolliertes Verfahren, (BVerfG) inhaltliche Vorgaben des Staatshandelns (Grundrechte)
Gemeinwohlverantwortung und Staatsverständnis
Hoheitliche Anordnung (Verordnung und Verwaltungsakt)
Öffentl. Verwaltung/ Bürgertypen unterschiedlichen Organisationsgrades
Gesetzgeber und Verwaltung, nichtstaatliche corporate actors
Öffentliche Verwaltung, organisierte Interessen (corporate actors)
Obrigkeit und Unter- Regierungen, Parlatanen mente, politische Parteien, Verbände, Bürger als Grundrechtsträger
Zentrale Gemeinwohlakteure
Motivation + Anreizstrukturen für bürgerschaftliche Mitwirkung
Selbstbeschränkungsabkommen, Regulierte Selbstregulierung
Informale Verständigung, Vereinbarung/ Vertrag
Parlamentsgesetz
Polizeiverordnung
Instrumente der Gemeinwohlkonkretisierung
Aktivierender Staat
Kooperativer Staat
Gewährleistungsstaat
Verfassungsstaat
Absolutistischer Wohlfahrtsstaat
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Bericht über die Diskussion zum Vortrag von Gunnar Folke Schuppert Diskussionsleitung: Klaus König Von Annette Schorr Em. Prof. Dr. Dr. Klaus König, Speyer, verwies zur Eröffnung der Diskussion auf den Kontrast zwischen dem Vortrag von Prof. Dr. Charles B. Blankart und dem Prof. Dr. Gunnar Folke Schupperts. Im Anschluss daran machte Dr. Michael Anderheiden, Heidelberg, darauf aufmerksam, dass sich die beiden Vorträge zwar an sich auf zwei völlig verschiedenen Ebenen bewegten, jedoch seiner Ansicht nach das gleiche materielle Gemeinwohlverständnis zugrundelegten. Nach den Ausführungen von Blankart sei Gemeinwohl dasjenige, was die Privaten als Güter im Markt erwirtschafteten. Juristen würden ergänzen, „gesichert durch Grundrechte“. Es handele sich um den uns zur Verfügung stehenden Freiheitsraum des Marktes. Öffentliche bzw. kollektive Güter seien alle diejenigen, bei denen der Markt versage und deshalb eine alternative Lösung gefunden werden müsse. In der Folge seien zwei Verfahrensebenen zu unterscheiden. Die erste Frage sei, welche kollektiven Güter überhaupt zum Gemeinwohl gehörten, wobei einige Dinge, wie z. B. Frieden und Umwelt, ganz sicher erfasst würden. Andere wiederum, wie die Publizität der Verwaltung und die dahinterstehende informierte Öffentlichkeit seien streitig. Darüber habe Blankart in seinem Panorama zur direkten und indirekten Demokratie gesprochen. Die zweite Frage in diesem Zusammenhang laute, ob das kollektive Gut notwendig ein Staatsgut sei. Als Leitfaden könne mit Schmidt-Aßmann vielleicht der Begriff der „Einstandsverantwortung“ dienen. Deutlich sei dies auch am Ende des Referates mit dem im Anschluss an Voßkuhle vorgestellten Gewährleistungsstaatsmodell geworden. Der Staat sei darüber hinaus zu einer gewissen Effizienz verpflichtet. Erhalten bleiben müsse jedoch immer eine Rückholoption. Er teile nicht die Auffassung der beiden Referenten, sie hätten ein materiales Gemeinwohlverständnis und wären Widerparte. Seiner Ansicht nach ergänzten sich beide Ansichten hervorragend. Schuppert betonte, dass sicherlich durch eine Betrachtung auf verschiedenen Ebenen beide Referate leicht kompatibel zu machen seien. Er wider-
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Annette Schorr
sprach jedoch Anderheidens Ansicht, er habe ein materiales Gemeinwohlverständnis, insoweit, als es sich um ein durchgängiges Gemeinwohlverständnis handele, und versuchte im Anschluss, sein Gemeinwohlverständnis zu verdeutlichen. Er habe vielmehr ein kombiniertes Gemeinwohlverständnis. „Material“ sei es insofern, da es seiner Ansicht nach sinnvoll sei, sich auf bestimmte Gemeinwohlbelange wie Menschenwürde als oberstem Gemeinwohlbelang, Leben, Gesundheit, auf die gesamten Grundrechte einschließlich der Europäischen Grundrechtecharta, und eventuell die Öffentlichkeit der Verwaltung zu verständigen. Beschäftige man sich mit dem Gemeinwohlbegriff, stoße man immer wieder auf das Problem einer umfassenden Definition dieses Begriffs. Er betonte, dass es keine allgemeingültige Definition gebe. Auch die Organisation eines diskursiven Prozesses, dessen Endergebnis das Gemeinwohl sein solle, führe zu keinem Ergebnis. Renate Mayntz habe zutreffend auf die bestehende Gefahr der Beliebigkeit hingewiesen. Es gebe nur die zwei Möglichkeiten: Entweder man habe einen feststehenden Gemeinwohlbegriff, was aber aus den dargelegten Gründen nicht der Fall sei, oder man prozeduralisiere das Gemeinwohl mit einem notwendig offenen Inhalt und lege es nur punktuell fest. Er verwende deshalb statt des Begriffs „Gemeinwohl“ den Begriff der „Gemeinwohlbelange“, weil sich das Gemeinwohl aus verschiedenen Gemeinwohlbelangen zusammensetze, die miteinander abzuwägen seien. In Deutschland lebe man in einem „Abwägungsstaat“ mit der obersten Abwägungsinstanz Bundesverfassungsgericht, dessen Entscheidungen insoweit sehr hilfreich seien. Im Rahmen dieser Abwägung fänden sich Belange wie die Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege, die Gesundheit der Bevölkerung oder die Funktionsfähigkeit der Deutschen Bahn. Da die Gemeinwohlbelange zum Teil bereits in der Verfassung festgelegt seien, wie z. B. die Rechts- und Sozialstaatlichkeit, sei es leichter, sich darauf zu verständigen, als den Begriff des Gemeinwohls zu definieren. Wichtig sei es nun, einen Prozess zu organisieren, mit Hilfe dessen die Gemeinwohlbelange abgerufen werden könnten. Das Schwierige daran sei, dass es keine Gewichtseinheit für die Bewertung von Gemeinwohlbelangen gäbe, kein „Jurispond“ sozusagen. Es bliebe deshalb nur der Abwägungsprozess, der notwendig prozedural sei. So gelange er zu einem prozeduralen Gemeinwohlverständnis. König ergänzte, dass die schlichte Prozeduralisierung der entscheidende Punkt sei. Um dies zu verdeutlichen, fügte er hinzu, dass es in der Verfassung z. B. „Gesetz und Recht“ heiße, obwohl niemand wisse, was das Recht überhaupt sei. Die Suche sei von der Verfassung aufgegeben. Auch er sehe die Gefahr, bei der Beliebigkeit zu landen, wenn man die Suchkomponente prozedural herausbringe. Blankart machte im Anschluss noch einige ergänzende Anmerkungen. Kennzeichnendes Element eines Staates sei ein System von Regeln, unter
Bericht über die Diskussion zum Vortrag von Gunnar Folke Schuppert
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denen die Mitglieder integral zusammenleben wollten, weswegen auch eine größere Anzahl Regelungen notwendig sei als bei anderen Gemeinschaften ohne dieses integrale Moment. Seine Darstellung, dass für private Güter der Markt, für kollektive Güter der Staat zuständig sei, sei natürlich sehr vereinfachend gewesen. Wie es auch Schuppert ausgeführt habe, liege dazwischen alles, was in Selbstorganisation geregelt werden könne. Er habe in dem Vortrag Schupperts die Unterscheidung zwischen Selbstorganisation und Kooperatismus vermisst. Denn immer dort, wo Gruppen mit Hilfe des Staates irgend etwas durchsetzten, stelle sich zwangsläufig auch die Frage nach der Legitimität. Später nahm er Bezug auf das von Schuppert angedeutete „Eigennutzaxiom“. Müsste man, wenn man eine Theorie aufstellen wolle, davon ausgehen, dass die Menschen in einer Gesellschaft im Zweifel eher das machen, was ihnen nutzt oder sei vielmehr davon auszugehen, dass die Leute tendenziell altruistisch, aber auch bösartig handeln würden? Es stelle sich die Frage, welche der Überlegungen die besseren Voraussetzungen für eine allgemeine Theorie böten. Er ergänzte, dass sich mit der Annahme, es gebe keinen Eigennutz keine sehr treffende Theorie aufstellen ließe. Schuppert stimmte ihm insoweit zu, dass der Kooperatismus auf jeden Fall mit zu berücksichtigen sei. Er wies darauf hin, dass zum Beispiel bei der Bürgerbeteiligung zu wenig unterschieden werde, ob der Bürger als Einzelner agiere oder als organisierter Bürger. Er schätze den Kooperatismus nicht sehr, da dort die organisierten ökonomischen Interessen ohne eine ausreichende Legitimation einen übermäßigen Anteil an der Gestaltung der Politik bekämen. Er unterstütze die These Blankarts, dass eine Gesellschaft, die nicht auf dem Eigennutztheorem aufbaue, keine freiheitliche Gesellschaft sei. Sinn der Grundrechte sei es, dass jeder nach seinen eigenen Vorstellungen leben könne. Es stelle sich die Frage, wie aus dem Eigennutz ein Gesamtnutzen werde. Komme man etwa durch reine Addition von Eigennutz zu einem Gesamtnutzen? Dr. Christian Roßkopf, Speyer, begrüßte, dass nicht von „Gemeinwohl“, sondern von „Gemeinwohlbelangen“ gesprochen werde. Seiner Ansicht nach dürfe der Begriff nicht auf rechtliche Kategorien reduziert werden, sondern umfasse auch die Daseinsvorsorge, wie z. B. die Versorgung mit Wasser, die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen, den Verkehr etc. Besonders interessant in diesem Zusammenhang sei die Frage der Rückholbarkeit. Gerade in einem Bereich wie der Wasserversorgung oder Energieversorgung wisse er nicht, wie es mit der Rückholbarkeit aussehe. Gleiches gelte für den Bereich der Medien. Im Anschluss ging er auf das Bankensystem in Deutschland ein. Das dreigliedrige System mit Privatbanken, Genossenschaftsbanken, Sparkassen und Landesbanken habe sich in der Vergangenheit bewährt. Im Zuge der europäischen Einigung sollten die öffentlichen Banken oder die Banken mit öffentlichem Auftrag privatisiert
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Annette Schorr
werden. In der Folge werde das Bankensystem, das System der öffentlichrelevanten Finanzversorgung im Staat verändert. Zurückzuholen sei es damit nicht mehr. Schuppert stimmte den Befürchtungen Roßkopfs zu. Er betonte, dass er den Begriff der Gemeinwohlbelange nicht allein aus rechtlichen Kategorien ableiten wolle, bzw. ihn gar als rechtliche Kategorie darstellen wolle. Der Blick in die Rechtsordnung sei ihm nur als Hauptbeispiel dafür eingefallen, wie Gemeinwohlbelange zu finden seien. Gleiches gelte für einen Blick in die Kompetenzkataloge von Bund und Ländern. Die Infrastrukturversorgung der Bevölkerung mit den nötigen öffentlichen Gütern sei sogar ein zentraler Gemeinwohlbelang. Anhand des Beispiels der Gebäudereinigung in öffentlichen Gebäuden erläuterte er seine Ansicht zur Privatisierung und Rückholoptionen. Immer wieder sei in der Vergangenheit die Gebäudereinigung aus finanziellen Gründen auf Private übertragen worden, welche die Aufgaben tatsächlich preisgünstiger erledigten. Allerdings sei dies nur möglich gewesen, weil ausschließlich Ausländer unterhalb der Sozialversicherungspflichtgrenze beschäftigt und die Vorgaben, wie viel in welcher Zeit gereinigt werden musste, drastisch erhöht worden seien. Vordergründig sei das Ziel damit erreicht worden, allerdings nicht nach den allgemeinen sozialstaatlichen Vorstellungen. Diese Aufgabe sei relativ problemlos wieder zurückzuholen gewesen. Schwierig werde es, wenn Aufgaben 8–10 Jahre ausgegliedert worden seien. Er erinnerte an die in diesem Zusammenhang bei der Staatsrechtslehrervereinigung geführte Diskussion. Im Bankwesen sehe er die gleichen Probleme wie Roßkopf. In diesem Sektor würden Systementscheidungen getroffen. Das deutsche Bankensystem gehe von der Vorstellung aus, dass die öffentlichen Banken einen gewissen Gemeinwohlauftrag haben. Alle diese Banken hätten eine Gewährträgerhaftung, wodurch sie zum einen nicht pleite gehen könnten und sich darüber hinaus billiger auf dem Kreditmarkt finanzieren könnten als ihre Konkurrenten. Damit verbunden sei ein enormer Kostenvorteil. Nach Ansicht der Kommission handele es sich dabei um einen nicht gerechtfertigen Wettbewerbsvorteil, der gegen den Gedanken des gleichen Wettbewerbes verstoße. Man müsse sich verdeutlichen, dass die Verwaltungsorganisation inzwischen unter dem Druck des Wettbewerbsgedankens der Europäischen Union stehe. Was in Deutschland Daseinsvorsorge genannt werde, heiße in Frankreich „service public“ und werde im Weißbuch der Europäischen Union als „Dienstleistung im öffentlichen Interesse“ bezeichnet. Von dieser bestimmten politischen Vorstellung werde Druck ausgeübt, wie öffentliche Dienstleistung auszusehen habe. Es sei an der Zeit, Abschied von der Vorstellung eines souveränen Nationalstaates zu nehmen. Die Bundesrepublik sei vielmehr eine „europäisierte Bundesrepublik Deutschland“ geworden. Das mache sich in allen Rechtsgebieten, in der Verfassung, bei den Regulierungstypen, den Governanceformen etc. bemerkbar, die nicht mehr national,
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sondern europarechtlich seien. Als besonders krasses Beispiel verwies er auf das Lebensmittelrecht, in dem die europarechtlich beeinflussten Regelungen dominierten. Von diesen Vorgaben würde auch die Verwaltungsorganisation ergriffen. Es werde eine Systementscheidung getroffen, die nicht mehr revidierbar sei. König gab zu bedenken, dass die Wettbewerbsfrage mit Nachdruck vertreten werde, wogegen die Eigentumsfrage nicht angegangen werde. Ein deutlicher französischer Einfluss werde dort sichtbar. Insoweit könne er den Marxisten nur zustimmen, welche die Eigentumsfrage an den Produktionsmitteln für die entscheidende Frage gehalten hätten. Prof. Dr. Hans Herbert von Arnim, Speyer, fragte, ob es nicht auch ein anderes, ein materiales Element bei der Beurteilung der Verfahren gebe. Es gehe dabei nicht um die Optimierung einzelner Gemeinwohlbelange, sondern um die Überprüfung der Verfahren zur Bestimmung der Gemeinwohlbelange auf Strukturfehler. Um dies zu verdeutlichen, verwies er als Beispiel auf zwei Partner mit ungleichem Verhandlungsgewicht im Wettbewerb, wobei der eine dem anderen einen Vertrag oktroyiere. Nicht erkennbar sei in diesem Fall der gerechte Preis für die Sache; erkennbar sei bei einer Betrachtung des Verfahrens eine Ungerechtigkeit. Gleiches gelte, wenn sich im Rahmen des Pluralismus die großen organisierten Interessen einigten. Es sei davon auszugehen, dass bestimmte Interessen sehr organisationsschwach seien. Wie der zu findende Kompromiss letztlich aussehen solle, wisse man nicht. Aber ein Prozess, in dem bestimmte Interessen nicht präsent seien, müsse unrichtig sein. Er betonte, dass auch bei dieser Form der Beurteilung ein Richtigkeits- oder Ausgewogenheitsmaßstab im Sinne eines Gerechtigkeitsmaßstabes angewandt werde. Alle diese Versuche seien zwar ungenau, aber häufig sei es einfacher, ein Verfahren negativ als ungenau einzuordnen, als das Ergebnis zu beurteilen. Schuppert stimmte den Ausführungen von Arnims zu und ergänzte, dass es seiner Ansicht nach keinen anderen Ausweg gebe, als die Gemeinwohlfindung zu prozeduralisieren, wobei alles von der Qualität des angewandten Verfahrens abhängig sei. Es müssten Maßstäbe zur Verfahrensbeurteilung entwickelt werden. Dies betreffe u. a. auch die ausreichende Repräsentanz einzelner Gemeinwohlbelange. Es gebe immer Interessen, die nicht berücksichtigt würden, da sie keine Vertreter hätten. Er nannte als Beispiele Sozialhilfeempfänger und die noch nicht Geborenen. Es stelle sich nun die Frage, ob man diesen Mangel beheben könne, indem man die Gemeinwohlbelange institutionalisiere. Zwischen materialem und prozessualem Verständnis bestehe ein enger Zusammenhang. Er stellte als Kernfrage in den Raum, ob man zum Gemeinwohl gelangen könne, indem man sich darauf einige, was gemeinwohlwidrig sei. König machte in seinem Schlusswort nochmals deutlich, dass die Suche immer noch nicht abgeschlossen sei.
Podiumsdiskussion: Gemeinwohlgefährdung und Gemeinwohlsicherung vor den Herausforderungen der Globalisierung1 Prof. von Arnim: Meine Damen und Herren, wir haben uns jetzt drei Tage lang mit dem Thema „Gemeinwohl“ befasst und es von allen Seiten beleuchtet. Auf diesem Podium soll nun zum krönenden Abschluss der Akzent auf Globalisierung gelegt werden. Mit Globalisierung ist Entgrenzung gemeint, also die Beweglichkeit aller Produktionsfaktoren, vom Kapital angefangen bis zu den Arbeitskräften. Damit ergibt sich auch eine Entgrenzung der Gemeinwohlvorsorge der Nationalstaaten. Deren Regulierungsmöglichkeiten werden eingegrenzt, weil die Multis, um ein Beispiel zu nennen, regulierender Politik ausweichen und sich in andere Staaten verlagern können. Zugleich ergibt sich ein zunehmendes Bedürfnis nach internationaler, nach globaler Gemeinwohlvorsorge. Diese beiden Punkte, Schwächung der nationalen Gemeinwohlvorsorge und das Bedürfnis nach globaler Gemeinwohlvorsorge sind wohl zwei Aspekte des Globalisierungsprozesses. Zugleich sollten wir die Möglichkeit haben, hier auch bestimmte Probleme, die sich im Laufe der vergangenen drei Tage immer wieder herausgeschält haben, einzubringen und zu diskutieren. Der Ablauf soll so sein, dass zunächst die Podiumsteilnehmer jeweils ein kurzes Statement geben, woran sich dann eine Diskussion auf dem Podium anschließt. Im Anschluss daran wird auch den Teilnehmern im Auditorium die Möglichkeit gegeben, selbst Stellung zu nehmen und Fragen an die Podiumsteilnehmer zu stellen. Ich darf ganz kurz noch einmal die Teilnehmer des Podiums vorstellen, obwohl wir schon am Anfang einiges über sie gehört haben: Herr Brugger ist Professor in Heidelberg und hat den Lehrstuhl für öffentliches Recht und Rechtsphilosophie inne. Er hat gerade ein Buch mit dem Titel „Gemeinwohl in Deutschland, Europa und der Welt“ herausgegeben. Es ist also klar, warum wir uns freuen, dass er hier auf dem Podium sitzt. Herrn Geißler vorstellen zu wollen, hieße – nicht nur hier in der Pfalz, sondern überhaupt – Eulen nach Athen tragen. Er war nicht nur lange Abgeordneter, sondern auch Sozialminister in Rheinland-Pfalz, lange Bundes1 Im Interesse einer inhaltlichen Straffung sind neben den Redebeiträgen der Teilnehmer des Podiums im Folgenden nur ausgewählte Diskussionsbeiträge aus dem Plenum wiedergegeben.
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Podiumsdiskussion
minister, auch Generalsekretär der CDU in einer Zeit der Aufbruchstimmung. Und er hat sozusagen nebenbei auch noch ein Dutzend Bücher geschrieben, die Sie alle in unserer Tagungsmappe aufgelistet finden. Frau Pröhl ist Mitglied der Geschäftsleitung der Bertelsmann-Stiftung und leitet dort den Arbeitsbereich „Demokratie und Bürgergesellschaft“, also auch ein Thema, das unmittelbar gemeinwohlrelevant ist. Außerdem ist sie Honorarprofessorin an unserer Hochschule. Herr Zürn aus Bremen hat dort einen Lehrstuhl für Politikwissenschaft inne und beschäftigt sich mit Fragen von Globalisierung und Global Governance. Er ist auch im Rahmen des DFG-Sonderforschungsbereichs „Staatlichkeit im Wandel“ tätig. Wie das Thema „Globalisierung – Global Governance“ zeigt, hat er sich mit dem Thema unseres Podiums intensiv befasst. Ich wäre Ihnen jetzt dankbar, wenn Sie beginnen, Herr Brugger. Prof. Dr. Winfried Brugger: 1. Im modernen politisch-rechtlichen Verband geht es um säkulare Ziele wie Sicherung von Leben, Freiheit und Eigentum sowie um Wohlstandserhalt. Konzentriert man sich auf solche Verbände unter Bedingungen der Globalisierung, müssen wir feststellen, dass diese seit der Moderne für die Staatlichkeit entwickelten Ziele und Aufgaben auf supranationaler Ebene wiederkehren. Man muss dazu nur einmal die Präambeln der UN-Konventionen und des europäischen Primärrechts lesen. Für die meisten der um Friede, Leben, Freiheit, Eigentum und Wohlstand kreisenden konkreten Aufgaben kommen sowohl der Nationalstaat, die Kontinentrechtsorganisation Europäische Union als auch die vielen Weltrechtsorganisationen in Betracht. Es ist schwer und oft unmöglich, Kompetenzen oder Aufgaben zu benennen, die qua Natur der Sache nur „deutsch“, nur „europäisch“ oder nur „völkerrechtlich“ sein sollten. Die Entscheidung darüber, was auf der Ebene der Primär-, der Sekundär- oder der Tertiärstaatlichkeit i. w. S. wahrgenommen werden sollte, hängt von äußerst komplexen Erkenntnissen und Festlegungen ab. Nehmen wir den Umweltschutz: Wie sieht es wirklich aus mit ökologischen Bedrohungen, welche Entwicklungen führen mit welcher Wahrscheinlichkeit zu welchen Bedrohungen wo und wann? Was ist die Remedur? Antworten darauf sind meist umstritten. Ich nenne eine zweite Frage: Falls eine Aufgabe nationalstaatlich schlecht und suprastaatlich besser zu erfüllen ist, welches Rechtsregime sollten wir wählen? Intergouvernementale Instrumente wie bilaterale oder multilaterale Verträge oder eine Vergemeinschaftung à la Europäische Gemeinschaft? Die Antwort darauf ist rechtswissenschaftlich nicht zu geben, sondern setzt eine Entscheidung der Politik voraus, die wiederum oft von historischen Einschätzungen abhängig ist. Etwa: Sollten wir uns im Zweifel mit einer völkervertragsrechtlichen
Podiumsdiskussion
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Lösung begnügen, aus der wir uns notfalls wieder lösen können? Selbstbewusste Staaten werden „ja“ sagen, und ganz selbstbewusste Staaten werden vielleicht sogar völkervertragliche Pflichten nur zögerlich übernehmen, weil sie internen Problemlösungsmechanismen mehr zutrauen als externen. Verunsicherte Nationalstaaten wie Deutschland werden im Zweifel, ja vielleicht im Regelfall froh sein, wenn sie eine Kompetenz abgeben und vergemeinschaften können. Und zwischen diesen beiden Extremhaltungen lassen sich weitere, wiederum unterschiedliche Positionen finden, wenn man etwa an britische oder französische Einstellungen zur Europäischen Union denkt. Falls wir in Kategorien wissenschaftlicher Rationalität denken und uns um Kriterien bemühen, die klar auf eine der drei Ebenen Primär-, Sekundäroder Tertiärorganisation hinweisen, kommen wir schnell ans Ende dessen, was juristische Rationalität leisten kann. Was vorherrscht, ist eine Gemengelage unterschiedlichster, für sich genommen nicht irrationaler, aber in der Zusammenschau eher einen Flickenteppich darstellender Rationalitätsaspekte, aus denen sich die Politik bedienen kann. Hat man dies als Rechtswissenschaftler erkannt, zieht ein gewisser Hauch von Bescheidenheit in die eigene Arbeit ein. 2. Die Auswanderung von Zuständigkeiten aus dem Staatsverband in Richtung Europa und Völkerrecht einerseits und in Richtung private Rechtsetzung andererseits differenziert die gängige horizontale und vertikale Gewaltenteilung aus und reichert unser Verständnis von checks and balances erheblich an. Das ist ein Gewinn im Hinblick auf den Ausschluss von Souveränitätsanmaßungen der nationalstaatlich organisierten öffentlichen Gewalt. Das Individuum braucht keine Angst mehr zu haben vor staatlicher Überwältigung: Nationalstaatliche Grundrechte werden um regionale, universale und problemspezifische Menschenrechte ergänzt. Aber es gibt auch einen erheblichen Kostenfaktor. Denn was im Wesentlichen aus dem Nationalstaat abwandert, sind die beiden Funktionen von Rechtsetzung und Gerichtsbarkeit – die Europäische Gemeinschaft bietet ein treffendes Beispiel. Was in aller Regel nicht abwandert, ist die Exekutivfunktion, die Durchsetzungsfunktion von Recht samt der Sicherung von Gewaltfreiheit zwischen Personen und Gruppen. So tritt die Exekutivkompetenz der Staatsgewalt (wieder) stark in den Vordergrund. Ich will es dialektisch sagen: Je weniger Staat (im alten, alle drei Gewalten umfassenden Sinn), desto mehr Staat (im Sinn der exekutivischen Durchsetzung). Diese Entwicklung muss intellektuell und institutionell erst einmal verdaut werden, denn eigentlich besteht die sinnvollste Lösung von Rechtsnormierung darin, dass man die Kompetenzen von Setzung, Durchsetzung und Judizierung von Recht in gegenseitiger Zuordnung und Abschichtung ordnet. 3. Mein dritter Aspekt bezieht sich auf die Verlagerung von Vorteilen und Nachteilen. Wann immer eine bislang vom Nationalstaat wahrgenom-
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mene Aufgabe wegwandert zu transnationaler öffentlichrechtlicher Organisation oder zu einem Privatrechtsträger, geschieht dies entweder mit einem Hinweis auf Zweckmäßigkeit oder Gerechtigkeit. Etwa: Effektiver Umweltschutz kann nicht mehr von einem einzelnen Land und auch nicht mehr von einer Kontinentrechtsorganisation wahrgenommen werden, sondern muss, jedenfalls in mancher Hinsicht, weltweit organisiert werden, etwa in einem Kyoto-Protokoll. Das wäre ein Beispiel für angezielte größere Zweckmäßigkeit. Ein Beispiel für angezielte größere Gerechtigkeit sind Grundrechtskataloge, die über die nationalstaatliche Ebene hinaus etabliert werden. Bestes Beispiel sind die inzwischen vier Ebenen von Grundrechtsschutz, die die Europäische Union bietet: 1. die expliziten Grundfreiheiten und Gleichheiten, 2. die überlieferten Grundrechtsfunktionen der Mitgliedstaaten, 3. die in EU-Recht integrierte Europäische Menschenrechtskonvention, sowie 4. die politisch abgesegnete Grundrechte-Charta, die sich über die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs langsam den Weg ins geltende Recht bahnt, falls dieser Schritt nicht vorher durch den Verfassungskonvent getan wird. In beiden Beispielen – dem völkerrechtlich zu etablierenden Umweltschutz wie dem europarechtlich zu gewährleistenden Grundrechtsschutz – wird mehr Zweckmäßigkeit und mehr Gerechtigkeit angezielt, und Zweckmäßigkeit und Gerechtigkeit sind meiner Ansicht nach zwei von drei Gemeinwohlelementen2. Das dritte Element ist Rechtssicherheit. Nun kommt das, was ich Verlagerung von Vorteilen und Nachteilen nenne. Einmal angenommen, es kommt durch die Verlagerung vom Nationalstaat weg tatsächlich zu mehr Zweckmäßigkeit und Gerechtigkeit, also einem Gewinn, dann ist dieser Gewinn in aller Regel erkauft durch hohe Kosten in bezug auf Rechtssicherheit. Wir befinden uns dann im Mehrebenensystem, und die Zahl der Ebenen nimmt stetig zu. Damit wird das Recht unübersichtlicher. Die Unübersichtlichkeit der Moderne ist nicht nur eine solche der Ethik und Sozialphilosophie, sie ist auch eine solche des Rechts, denn was auf welcher Ebene gilt und was sich im Zweifelsfall oder Konfliktfall durchsetzt, ist im Mehrebenensystem des öfteren unklar; es stellt sich mit großer Verzögerung heraus, und dann kann die Durchsetzung noch Probleme bereiten. Für Juristen ist diese Entwicklung eigentlich nichts Schlechtes – sie stellt eine intellektuelle Herausforderung dar und schafft gleichzeitig eine Art von Arbeitsbeschaffungsprogramm. Aber für das Gesamtvolk, die Rechtsbetroffenen, ist dies eine erhebliche Belastung. Für das Volk ist ja schon die Dreierdifferenzierung und Verflechtung von kommunaler Zuständigkeit, Landeszuständigkeit und Bundeszuständigkeit im deutschen Ge2 Winfried Brugger u. a. (Hrsg.), Gemeinwohl in Deutschland, Europa und der Welt, Baden-Baden 2002, S. 17 ff.
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meinwesen schwer durchschaubar. Wenn dann noch unterschiedliche EGbzw. EU-Kompetenzen, vielgestaltige völkerrechtliche Einwirkungen auf europäisches und nationales Recht sowie private Rechtsetzungen hinzukommen, wird es vollends undurchschaubar. Das kann gefährliche Gegenreaktionen in Form des Rufes nach ganz schlichten Lösungen hervorrufen. Denken Sie etwa an Schlagworte wie „Mehr Ausländer rein“ oder „Mehr Ausländer raus“. Mit diesem Punkt zunehmender Rechtsunsicherheit hängt auch das demokratische Zurechnungsproblem zusammen, das oft mit dem Begriff Intransparenz beschrieben wird. Wenn nicht mehr klar ist, wer wofür verantwortlich ist, nimmt die Demokratie Schaden. Die Art des Schadens kann man benennen unter Rückgriff auf die Kategorien von Input, Prozedur und Output. Die Legitimation des politischen Output in Form von Gesetzen soll nach klassisch-demokratischem Verständnis im Wesentlichen durch den Input, den Volkswillen, und geeignete Prozeduren, d.h. eine informierte Meinungsbildung und parlamentarische Verfahren, zustande kommen. Wenn aber das Volk nicht mehr erkennt, wer wofür verantwortlich ist, und wenn die Prozeduren so komplex und undurchschaubar sind, dass deren Rationalitätsfunktion nicht mehr nachvollziehbar ist, dann sieht es übel aus mit der Demokratie. Dann wandert die wesentliche Legitimationsschiene vom Input und von der Prozedur weg zum Output. Deutsch und deutlich gesagt heißt das, die Bürokratie, das Expertentum und die ökonomischen und politischen Eliten, die alleine noch durchblicken, bestimmen weitgehend den Output in Form von geltendem Recht. Das Volk hat dann zwar noch die Möglichkeit, eine Regierung abzuwählen, wenn es ihm schlecht geht, und die Möglichkeit der Abwahl sollte nicht gering geschätzt werden. Aber ansonsten gilt, dass wir unsere Ansprüche an klassische Forderungen der Demokratietheorie wie etwa Mitwirkung, Transparenz und Zurechnung zurückschrauben müssen. Demokratie in der modernen Welt mit ihren vielen Schichten von Rechtsetzung ist ein Teilelement von Legitimation und Gemeinwohl, nicht deren Vollgestalt. Und das Volk ist ein Teilakteur der Politik, der umrahmt ist von vielen anderen und im Alltagsgeschäft weit wichtigeren Akteuren wie politischen Parteien, Massenmedien, Verbänden, Bürokratien und Eliten vielerlei Gestalt. Ich glaube nicht, dass diese komplexen Verflechtungen den Rekurs auf das Gemeinwohl unmöglich machen. Aber überzeugende von vorgeschobenen Berufungen auf das Gemeinwohl zu unterscheiden, ist durch Europäisierung, Privatisierung und Internationalisierung zweifellos schwieriger geworden. Prof. von Arnim: Vielen Dank Herr Brugger. Sie haben die Gelegenheit genutzt, Ihr Gemeinwohl-Konzept am Beispiel internationaler Probleme vorzutragen. Sie sprachen auch von Unübersichtlichkeit und Bescheidenheit. Bei der Suche nach Gemeinwohl müssen wir uns in der Tat beschei-
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den und methodisch wohl eine Senkung der Standards in Kauf nehmen. Gleichwohl sollten wir nicht auf gemeinwohlorientierte wissenschaftliche Bemühungen verzichten. Vielleicht trifft darauf das alte Wort zu: „It is better to be vaguely right than completely wrong“. Ich möchte Herrn Geißler um sein Statement bitten. Bundesminister a. D. Dr. Heiner Geißler: Gehen wir einmal davon aus, dass, wie Aristoteles es einmal formuliert hat, Politik nichts anderes ist als das Bemühen, ein geordnetes Zusammenleben der Menschen zu ermöglichen. Ich lasse zunächst einmal offen, was die richtige Ordnung ist. Wegen des Streits über die richtige Ordnung haben bis auf den heutigen Tag unzählige Kriege stattgefunden und haben Millionen Menschen ihr Leben verloren. Bezug nehmend auf die Globalisierung, kann man für das Politische und das Ökonomische in letzter Zeit feststellen, dass die Ordnung zunehmend einem Chaos weicht. Im Bereich des Ökonomischen hat diese Entwicklung ja auch ihre ganz eindeutigen Ursachen. Die soziale Marktwirtschaft, die erfolgreichste Wirtschafts- und Sozialphilosophie, die die jüngere Wirtschaftsgeschichte kennt, hat sich aus dem Chaos der ersten industriellen Revolution entwickelt, kam als Antwort auf die soziale Frage aber sehr spät. Die soziale Marktwirtschaft hat eine Antwort gegeben und sie lautete in Bezug auf unser Thema, dass die soziale Marktwirtschaft den geordneten Wettbewerb kennt, den geordneten Markt, nicht den ungeordneten – eine sehr erfolgreiche Philosophie mit einer ethischen Grundlage des Bündnisses der Freiburger Schule, der katholischen Soziallehre und der evangelischen Sozialethik. Die Globalisierung nun hat bewirkt, dass diese Ordnung, die ja vom Staat durch Regeln in irgendeiner Form garantiert werden muss, gefährdet wird. Im Zuge der Globalisierung ist diese Ordnungsfunktion des Staates nicht mehr gegeben. Die Ökonomie hat angefangen, sich von der staatlichen Ordnung zu emanzipieren, man kann auch sagen, sie hat angefangen zu vagabundieren. Plötzlich gelten Werte und Ziele, die vorher in diese Ordnung eingebunden waren, als absolut: die Dividende am Ende des Jahres, der Börsenwert, der Aktienkurs eines Unternehmens. shareholder value ist global an die Stelle einer geordneten Sozialen Marktwirtschaft getreten – mit verheerenden Konsequenzen. Es gilt nur noch das nackte Interesse des Kapitals, und leider ist es so, dass die internationalen Institutionen, Weltbank, Internationaler Währungsfonds, aber vor allem auch WTO, sich in den vergangenen Jahren fast ausschließlich in den Dienst der Interessen des Kapitals gestellt haben. Wir haben auf der Welt zur Zeit in Folge der Exzesse des globalen Kapitalismus 225 Menschen mit einem Vermögen von 1 Billion Dollar. Das ist genau so viel wie die Hälfte der Menschheit, nämlich 3 Milliarden, an jährlichem Einkommen hat. Eine Milliarde Menschen hat pro Tag weniger zum Leben als den Gegenwert eines Dollars, und 2 Milliarden Menschen haben kein sauberes Trinkwasser
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und können ärztlich nicht regelmäßig versorgt werden. Die Globalisierung ist nicht aufzuhalten und liegt infolgedessen auch in der geschichtlichen Notwendigkeit. Aber es findet eben das statt, was Samuel Barber, langjähriger Berater von Bill Clinton, Professor an der University of Maryland, gesagt hat: In der globalen Ökonomie gibt es kein Recht, kein Gesetz, keine Regeln, sondern es herrscht das Chaos, das catch as catch can, das Recht des Stärkeren. Und dies wirkt sich auf die Politik aus, ganz konkret auch in den Vereinigten Staaten, wo die Kapitalinteressen die Politik in einem Ausmaß bestimmen, wie wir das mit der Irak-Krise erleben mussten. Nur Lügner und Fantasten könnten uns glauben machen, wir könnten auf die Dauer Hunderte von Millionen Menschen ausgrenzen ohne dafür nicht irgendwann einen politischen Preis bezahlen zu müssen. Es gibt in der Politik keine überflüssigen Menschen, die gibt es in Unternehmen, dann bekommen sie die Kündigung, aber in der Politik haben alle eine Stimme. Und wenn sie nicht in Demokratien leben, wie zum Beispiel die rund 1 Milliarde Menschen in Indonesien, Bangladesh bis Algerien, also vor allem die von Muslimen bewohnten Länder, wenn sie also in keinen Demokratien leben und keine Stimme haben, dann werden sie oder ihre geistlichen Führer sich Waffen besorgen. In diesem historischen Zeitpunkt befinden wir uns im Moment. Sie werden sich Waffen besorgen, und wenn es fliegende Kerosinbomben sind, wie wir das am 11. September erlebt haben. Das Gemeinwohl ist auf der globalen Ebene nicht gegeben, das Gegenteil ist vorhanden. Ich habe auch einmal geglaubt, dass die Armut verringert wird, wenn das Kapital in die letzten Winkel der Erde vordringt. Die Wahrheit ist genau umgekehrt, die Armut wird größer. Und das hat natürlich ihre Auswirkungen auf das, was wir globales Gemeinwohl nennen könnten. Wir erleben zur Zeit die Zerstörung dessen, was wir unter globalem Gemeinwohl verstehen müssten. Wir in Deutschland und Europa sind nicht außen vor. Es sind ja nicht nur die Amerikaner, die sich durch ihre Verweigerung, internationale Abkommen einzuhalten (Kyoto-Protokoll) schuldig machen. Wir sind mitbeteiligt. Der Rübenanbau in der Pfalz ist auf dem Weltmarkt durch die milliardenschweren Subventionen der deutschen Politik und der Europäischen Union billiger als der Rohrzucker, der unter ausbeuterischen Bedingungen auf den Philipinnen oder in Lateinamerika produziert wird. Die Weltbank hat sich voll in den Dienst dieser Politik gestellt. Und der Internationale Währungsfonds lange Zeit ebenfalls, bis Herr Köhler kam. In dieser Personalentscheidung haben sich die Europäer gegen die Amerikaner durchgesetzt, seitdem ist es ein bisschen besser geworden. Gemeinwohl im Rahmen der Globalisierung? Es ist ein gemeinwohlwidriger Zustand vorhanden auf der Welt, der eben seine politischen Konsequenzen hat, weil das Kapital regiert. Dass es so nicht weiter gehen kann, liegt auf der Hand, wir brauchen eine internationale soziale Marktwirtschaft, d.h., wir brauchen
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weltökonomisch eine Ordnung, wir brauchen Regeln. Durch die Ostasienkrise sind die G7-Staaten zu dem Ergebnis gekommen, dass man darüber reden muss, und man ist ja dabei, solche Regeln zu erarbeiten, was allerdings durch die Amerikaner wieder abgeblockt wird. Wir brauchen eine internationale Bankenaufsicht, ganz sicher die Einführung einer Spekulationssteuer. Das sagt sogar George Soros, der größte Börsenspekulant der Welt. Er schreibt inzwischen dicke Bücher, weil er Angst um sein Geld bekommt, das er angehäuft hat. Es gab die Hoffnung, auf der politischen Ebene so etwas wie gemeinwohlorientierte Regeln zu finden. Die UNO und ihre Unterinstitutionen sind ja ein Ausdruck dieses Bemühens. Aber wir sind im Moment dabei, auch diese Ansätze eines internationalen Friedenssicherungsrechts, einer institutionellen Ordnung, auf der Weltebene zu zerstören. Das ist der jetzige Vorgang, dass in der globalen Politik nur noch das Interesse eines einzelnen Staates, nämlich der Vereinigten Staaten, Geltung bekommt. Das ist natürlich das Gegenteil von Ordnung und Gemeinwohl, wenn derjenige, der die Macht hat und am stärksten ist, bestimmt, wie die politische Ordnung aussehen soll. Leider, das muss ich hinzufügen, ist eine weitere Hoffnung inzwischen auch geschwunden. Zwei Träume, auch von mir persönlich, sind zwar nicht zerstört, aber ich sehe sie gefährdet. Ich habe immer an die Sinnhaftigkeit z. B. einer Institution wie der NATO geglaubt mit einer Wertegemeinschaft, die sich zusammengeschlossen hat, um Grundrechte und Demokratie zu verteidigen, und natürlich an Europa. Und niemand kann bezweifeln, dass wir in Europa international, im europäischen Rahmen natürlich, gemeinwohlorientierte Fortschritte gemacht haben bis hin zum gemeinsamen Geld. Aber die politische Entwicklung hat nun dazu geführt, diktiert durch Kapitalinteressen, dass was die amerikanische Regierung zur Zeit treibt, zu einem großen Teil diktiert ist durch die Interessen der Energiewirtschaft und der Rüstungsindustrie in den Vereinigten Staaten. Durch dieses Ungleichgewicht und durch diese Unordnung haben wir eben leider auch eine Gefährdung Europas bekommen. Europa ist in dieser entscheidenden Frage gespalten. Auch die NATO ist gespalten, und das ist bewusst herbeigeführt worden. Die Schuld daran trägt die amerikanische Regierung, die ganz bewusst und klar gesagt hat, entweder ihr macht mit oder wir machen es allein. Das heißt, gemeinwohlorientierte Institutionen wurden preisgegeben. Ein schlimmer Vorgang und eigentlich kann man nur hoffen, dass diejenigen, die zur Zeit in Amerika die Regierungsverantwortung haben, scheitern werden und sich eine politische Alternative entwickelt. Prof. von Arnim: Vielen Dank, Herr Geißler, für dieses beeindruckende Gemälde von Gemeinwohlwidrigkeiten auf der Welt, das von der Sorge um
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einen Wegfall der Balance zwischen den beiden Bestandteilen der sozialen Marktwirtschaft, „sozial“ und „Marktwirtschaft“, zu Lasten des Sozialen und gleichzeitig von dem Wunsch nach einer globalen Steuerungs- und Durchsetzungsinstanz getragen war. Gestern sprach Herr Isensee davon, indem er Carl Schmitt zitierte, wer das Wort „Gemeinwohl“ in den Mund nähme, lüge. Wenn ich mir Ihre Kritik an der amerikanischen Politik auf der Zunge zergehen lasse, wäre es vielleicht auch in Ihrem Sinne zu sagen, wer im Augenblick auf der Welt von Menschenrechten und Frieden spricht, der lügt ebenfalls. Frau Pröhl, darf ich Sie um Ihr Statement bitten? Frau Prof. Dr. Marga Pröhl: Als ich heute Morgen hierher gekommen bin, hatte ich gedacht, Sie hätten das Problem der Definition des Gemeinwohls inzwischen gelöst. Offensichtlich ist das nicht der Fall, das haben die Beiträge der Referenten gezeigt. Um es vorweg zu nehmen: Auch ich kann keine Antwort geben, vielmehr möchte ich einige zusätzliche Aspekte in die Diskussion einbringen, die, wie ich meine, bedacht oder zumindest mit ins Kalkül gezogen werden sollten. Heute Morgen haben wir in Bezug auf Abstimmungs- und prozedurale Fragen lange darüber gesprochen, wie das Gemeinwohl durch eine verstärkte Einbeziehung der Bürger und durch ein direkteres Wahlrecht gefördert werden kann. Ausgelöst wird diese Diskussion auch durch die Erkenntnis, dass das Interesse der Gesamtheit nicht notwendigerweise durch den gegenwärtigen Mehrheitswillen repräsentiert wird. Prozedurale Fragestellungen sind wichtige Punkte, die wir in Angriff nehmen müssen, um dem Gemeinwohl stärker zu seiner Durchsetzung zu verhelfen. Aber Problemlösungen auf dieser Ebene sind nicht hinreichend. In diesem Zusammenhang möchte ich noch einmal auf Rousseau und seine Unterscheidung zwischen der volonté generale, dem Gemeinwohl, und der volonté de tous, dem Gesamtinteresse als Summe der individuellen Sonderwillen verweisen. Diese Unterscheidung mag möglicherweise in Ihren Diskussionen bisher eine Rolle gespielt haben, ich habe das so aber nicht wahrgenommen. Wenn demnach Demokratie als Staatsform nicht eo ipso für sich die Wahrnehmung des Gemeinwohls beanspruchen kann, bedeutet dies eine permanente Legitimationskrise. Denn die Akzeptanz der Demokratie speist sich gleichermaßen aus drei Dingen: aus der Anerkennung der Verfahren, aus den vorhandenen Partizipationschancen, da gebe ich Herrn Blankart sehr recht, und der für die Menschen erbrachten Leistungen, dem outcome. Wir haben in den letzten Jahren erlebt, dass sich durch den Mangel an Vertrauen der Bürger in die Fähigkeit der Politik, tatsächlich diesen outcome, dieses Gemeinwohl, zu erzielen, eine sich verfestigende Legitimationskrise unserer Demokratie entwickelt. Diese allgemeinen Ausführungen möchte ich vorwegschicken, um vor diesem Hin-
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tergrund einige m. E. relevante Fragestellungen zu Gemeinwohlgefährdung und Gemeinwohlsicherung in unserer globalisierten Zeit zu benennen. Das Gemeinwohl als staatsphilosophischer Begriff ist historisch mit der Herausbildung der Nationalstaaten und zeitlich versetzt mit der Demokratisierung verbunden. Entsprechend zielen national ausgerichtete Verfahren, nämlich Wahlen, darauf ab, national ausgerichtetes Gemeinwohl zu erkunden und zu legitimieren. Selbst wenn man unterstellen wollte, dass der Mehrheitswille und das Gemeinwohl zusammenfallen, was m. E. aus den vorgenannten Gründen hochproblematisch ist, greifen vor dem Hintergrund der Globalisierung die prozeduralen Regelungen in den nationalstaatlichen Demokratien zu kurz. Alle Entscheidungen der internationalen politischen Organisationen haben ein Legitimationsproblem, da ihnen vollständig oder in wesentlichen Aspekten die demokratische Legitimation fehlt. Gleichzeitig werden national und international immer mehr Entscheidungen von global agierenden Wirtschaftsunternehmen und -interessen geleitet. Herr Geißler hat das gerade sehr deutlich gemacht. Es fehlen demokratisch legitimierte Ausgleichprozesse der unterschiedlichen Interessenlagen zwischen den Nationen. Zu fragen ist auch, ob es inhaltlich ein internationales Gemeinwohl überhaupt geben kann, wenn ideelle Wertorientierungen wie materielle Politikinteressen sich unterscheiden und nicht selten divergieren. Angesichts der Diskussion über die internationale Krise, die wir erleben, die politische Krise um den Irak-Konflikt, die Herr Geißler auch gerade schon angesprochen hat, wird dieses Problem ganz deutlich. Ich denke, die Nichtübereinstimmung bezüglich eines Gemeinwohls in der UNO ist ein echtes Krisensymptom für politische Einigungsprozesse. Eine wichtige Frage, die sich mir bei der Vorbereitung auf diese Veranstaltung gestellt hat: Kann Gemeinwohl durch Mehrheitsentscheidung überhaupt festgestellt werden? Wir alle wissen, dass prozedurale Fragen das Wahlergebnis beeinflussen. Die sogenannte Pfadabhängigkeit demokratischer Ergebnisse wurde schon von Thomas Hobbes als „Unbeständigkeit der Zahl“ beschrieben und als Demokratiekritik vorgebracht. Wichtige Punkte sind z. B. die Entscheidung für ein Wahlsystem, die Einteilung von Stimmbezirken oder auch die Einwirkung medialer Ereignisse auf Abstimmungsverfahren. Wir haben gesehen, wie Zeitpunkte von Wahlen die gesamte Vorbereitung beeinflussen und sich damit aber auch Entscheidungen ganz knapper Art auf die Definition oder die aktuelle Einschätzung von Gemeinwohl auswirken. Ein Beispiel aus der jüngsten Geschichte ist die Wahl von Herrn Bush. Es waren einige wenige Stimmen, die ihm die Präsidentschaft gebracht haben und jetzt sozusagen zu einer internationalen Krise beitragen. Kritisch beleuchtet werden muss auch, wie sich der Mehrheitswille als Wille der gegenwärtig Wahlberechtigten zu den Ansprüchen der zukünfti-
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gen, noch nicht wahlberechtigten Generation verhält. Das ist m. E. gegenwärtig eine Kernkrise in Bezug auf die Diskussion des Gemeinwohls. Diejenigen, die ihre Interessen im demokratischen Entscheidungsprozess nicht artikulieren können, sind gleichzeitig diejenigen, die die Lasten von morgen tragen müssen. Die Diskussion um die Reform unserer sozialen Sicherungssysteme oder die Finanzierung der Staatshaushalte in den letzten Jahren hat deutlich die Tendenz getragen, eine Lastenverschiebung in die Zukunft vorzunehmen. Eine nicht zu unterschätzende Gefährdung des Gemeinwohls geht auch von häufig übermächtigen Lobby-Interessen aus. Korporativismus ist heute Morgen nicht angesprochen worden, hat aber m. E. in dieser Diskussion einen sehr wichtigen Platz. Wenn wir bedenken, wie auch in unserem Land Reformblockaden gerade durch den Korporativismus verschärft werden, muss man letztendlich zu einer relativ pessimistischen Einschätzung kommen, wie Herr Geißler sie gerade zum Ausdruck gebracht hat. Alle die in unserer Diskussion heute morgen benannten Störgrößen des Gemeinwohls können sehr pessimistisch stimmen und provozieren die Frage, ob wir die gegenwärtigen nationalen und internationalen Herausforderungen, das Chaos, das durch die Globalisierung ausgelöst wird, überhaupt bewältigen können. Die Unfähigkeit zur Problemlösung zu beklagen, hilft aber nicht weiter und deswegen sind Sie nicht hierher gekommen. Sondern wir wollen gemeinsam darüber nachdenken, wie wir dem Postulat des Gemeinwohls auch unter widrigen Bedingungen zu einer stärkeren Durchsetzung verhelfen können. Dies ist auch das Leitthema in der Bertelsmann Stiftung. Von unserem Selbstverständnis sehen wir uns als operative Stiftung, die gemeinsam mit Partnern versucht, Lösungen zu drängenden gesellschaftlichen Problemen zu erarbeiten. Zum Teil werden Sie das als Wissenschaftler kritisieren, aber manchmal ist es im Sinne der Ergebnisorientierung erforderlich, normativ Ziele zu setzen und praxisorientiert mit ihrer Umsetzung zu starten. Bei allen demokratiekritischen Anmerkungen zur Gemeinwohlorientierung unseres Systems gilt doch weiterhin das Votum von Winston Churchill, wonach die Demokratie eine ziemlich schlechte Staatsform sei, die aber besser als alle anderen getesteten Regierungsformen funktioniere. Insofern muss man sich überlegen: Gibt es innerhalb der Problemstellungen, die hier benannt worden sind, dennoch Möglichkeiten der optimistischen Vorwärtsschau und der Einflussnahme? Aus der Erfahrung unserer Projekte komme ich zu der Überzeugung: Man kann Verbesserungen vornehmen und das Gemeinwohl tatsächlich stärken. Aus den Projekten, die wir umgesetzt haben, ergibt sich als wesentlicher Faktor, mehr Transparenz in Entscheidungsprozesse hineinzubringen und Klarheit über politische Ziele herzustellen. Dies ist kein einfaches Unterfangen. Wir haben einen Schwerpunkt unserer Arbeit deshalb auf die Entwicklung von
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Berichtswesen gelegt, die politische Zielsetzungen durch Messgrößen und Indikatoren operationalisieren. Diese Berichtswesen unterstützen die dialogische Festlegung von politischen Prioritäten, machen die Schwerpunktsetzungen nachvollziehbar und ermöglichen – und dies ist uns besonders wichtig – auch die Rechenschaftslegung über die Erreichung formulierter Zielsetzungen. M. E. würde es wesentlich zum Abbau der Politikverdrossenheit beitragen, wenn für die Bürger die Ergebnisse politischer Entscheidungen nachvollziehbar wären. Dies zeigen unsere langjährigen Erfahrungen mit kommunalen Reformprojekten. Wir haben versucht, mit der Bürgerschaft, mit Institutionen und mit Kommunalpolitikern Wege zu finden, wie sich Gemeinwohl und gemeinsame Interessen in politisch klaren Zielen niederschlagen können, die dann auch nachgehalten werden können. Die Vereinbarung nachprüfbarer Ziele stellt eine unabdingbare Basis dafür dar, dass sich wieder mehr Bürger in Beteiligungsprozesse einbringen und aktiv an der Problemlösung mitwirken. Denken Sie einmal an die vielen Erfahrungen vor Ort, die Sie vielleicht auch schon gemacht haben, wenn z. B. die Schließung eines Bades oder eines Theaters ansteht. Zahlreiche Kommunen haben erlebt, dass Bürger in solchen Situationen bereit sind, sich im Sinne des Gemeinwohls zu aktivieren. Deswegen bin ich der Meinung, dass Bürgerbeteiligung, Transparenz über politische Ziele und deren Nachvollziehbarkeit wesentliche Elemente sein können, um das Gemeinwohl nachhaltig zu stärken. Gerade der Stellenwert der Bürgerbeteiligung wird zukünftig für unsere gesellschaftliche Entwicklung zentral werden. Sie ist in der Diskussion heute Morgen m. E. leider etwas stiefmütterlich behandelt worden, weil sie kein Element repräsentativer Demokratie und auf der anderen Seite auch nicht zwingend mit der direkten Demokratie verbunden ist. Aus unseren kommunalen Reformprojekten ziehe ich jedoch die Erkenntnis, dass die Bereitschaft zur Beteiligung dann groß ist, wenn Transparenz über Stärken und Schwächen des Gemeinwesens vorhanden ist. Darin liegt eine große, bislang unzureichend genutzte politische Chance, nämlich Menschen wieder zu überzeugen, dass ihr Mitwirken für das Gemeinwesen von hoher Relevanz ist. Diese Elemente zu stärken, halte ich für ein ganz wesentliches Instrument, um lokale Demokratie zu stärken und auch das Interesse von Bürgern und Bürgerinnen an der Politik auf Länder- und Bundesebene neu zu wecken. Die Bereitschaft der Bürger, sich aktiv in politische Entscheidungsprozesse einzubringen, ist angesichts der gegenwärtigen gesellschaftspolitischen Problemlagen mehr denn je eine Voraussetzung für eine hohe Qualität von Entscheidungs- und Umsetzungsprozessen in unserem Staat. Die von der Bertelsmann Stiftung in der Praxis erprobten Reformkonzepte beziehen sich bislang vornehmlich auf die kommunale Ebene. Insofern muss ich Ihnen eine validierte Antwort für das Thema der globalen Krise schuldig bleiben. Ich glaube aber, dass wir innerhalb unseres Landes
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in vielfältiger Weise dazu beitragen können, dass die Gemeinwohlförderung stärker in Gang kommt, und zwar durch einen kritischen Blick auf unsere Entscheidungsstrukturen. Wenn wir nicht wirklich dafür Sorge tragen, dass Entscheidungen so bald wie möglich nach unten verlagert werden, nämlich dahin, wo Bürger und Bürgerinnen sich auch mitbeteiligen können, dann werden wir die politischen Prozesse negativ beeinflussen. Subsidiarität ist in unseren föderalen Strukturen angelegt, ist aber bis zur Unkenntlichkeit ausgehöhlt. Bedenken Sie die Finanzsituation der Kommunen. Kommunen können nicht mehr selbst gestalten. Dies setzt ein Grundelement unserer Nation, unseres Handelns außer Kraft. Hier den Reformhebel anzusetzen, würde m. E. einen wirklichen Vorteil bringen und natürlich auch, dass man noch einmal ganz kritisch auf die Zuständigkeiten der verschiedenen Ebenen eingeht. Dies weiter zu erörtern, würde aber den Rahmen für mein Statement sprengen. Herzlichen Dank. Prof. von Arnim: Vielen Dank Frau Pröhl, dass Sie aus Ihrer Arbeit in der Bertelsmann Stiftung, sozusagen aus der Werkstatt, berichtet haben, aber auch dafür, dass Sie auf einige wichtige Themen, die hier in den letzten drei Tagen schon eine Rolle gespielt haben, eingegangen sind. Die klassische Formel Rousseaus von der volonté générale und der volonté de tous, also den gemeinsamen Interessen aller einerseits und den Einzelinteressen aller andererseits, hat hier tatsächlich noch niemand gebraucht. Obwohl es ja nahe liegt, dass beides zusammengehört und in Gegensatz geraten kann. Vielen Dank. Bitte Herr Zürn. Prof. Dr. Michael Zürn: Welche Chance hat die Verwirklichung des Gemeinwohls im Zeitalter der Globalisierung? Das ist in gewisser Weise ja nun unser Hauptthema, und ich hatte vor, auf diese Frage eine versuchsweise ausgewogene Antwort anzubieten. Nach dem sehr pessimistischen, ja teilweise düsteren Bild, das insbesondere Herr Brugger und Herr Geißler vorgetragen haben und etwas weniger düster Frau Pröhl, will ich auf die Ausgewogenheit verzichten und umgekehrt eine Ehrenrettung der Globalisierung versuchen. Das ist bestimmt keine einfache Aufgabe, aber ich denke, im Sinne einer gewissen Pluralität auf diesem Podium ist es vielleicht notwendig. Wie beeinflusst die Globalisierung die Verwirklichung des Gemeinwohls? Es sind vor allem zwei Mechanismen, die an dieser Stelle auseinander zu halten und von entscheidender Bedeutung sind. Der eine Mechanismus ist intensiv besonders von Herrn Geißler angesprochen worden. Die Globalisierung beeinflusst die Kapazitäten und die Möglichkeiten des traditionell wichtigsten Gemeinwohllieferanten, nämlich des Staates, in der Verwirklichung und Erbringung dieser Gemeinwohlbelange, um den pluralen Begriff von Herrn Schuppert hier zu verwenden. Auf der anderen Seite findet aber parallel, und das meine ich nicht nur völkerrechtlich, sondern ich meine es soziologisch, ein Prozess statt, in dem sich unsere Defini-
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tion des Gemeinwohls radikal verändert. Weil wir nämlich beginnen, ein anderes Gemeinwesen zu definieren. Das klassische Gemeinwesen, die klassische Einheit, auf die sich das Gemeinwohl bezieht, nämlich die nationale Gesellschaft, franst zumindest an ihren Grenzen aus. Wir beginnen, gewisse Gemeinwohlbelange wenn nicht zu universalisieren, so doch zu denationalisieren. Wir beginnen, Gemeinwohl auch mit Blick auf andere Menschen als deutsche Menschen oder diejenigen, die in diesem Land leben, zu denken. Und das ist ein absolut fundamentaler Wandel bzw. ein fundamentaler Einfluss der Globalisierung auf die Verwirklichung des Gemeinwohls. Das ist der zweite Mechanismus, wie die Globalisierung auf das Gemeinwohl wirkt. Der Einfluss der Globalisierung auf die Möglichkeiten des Nationalstaates zur Verwirklichung des Gemeinwohls – also der erste Mechanismus – wird im allgemeinen in der Tat sehr skeptisch gesehen. Man geht generell davon aus, dass der Effekt eigentlich in einer Schwächung des Nationalstaates besteht und damit verbunden in einer Schwächung der Möglichkeit, Gemeinwohlgüter zu erbringen. Ich möchte an dieser Stelle darauf aufmerksam machen, dass über die Globalisierung natürlich auch das Aufgabenset des Nationalstaates verändert und teilweise deutlich vereinfacht wird. Wenn wir den Blick auf den Teil der Welt werfen, der tatsächlich globalisiert ist, namentlich die westliche Welt, so würde ich sagen, dass die Erledigung der Aufgabe, Sicherheit vor Übergriffen von anderen Ländern auf das eigene Land zu schaffen, bei uns inzwischen weit fortgeschritten ist. Wir können uns absolut sicher fühlen vor einem Angriff Frankreichs, sogar – und das in einer Zeit vehementer Konflikte – vor einem Angriff der USA. Und das hat sehr viel mit Globalisierung zu tun. Die Gesellschaften sind so stark miteinander vernetzt, dass keine Kriegsgefahr mehr besteht. Wir haben einen wichtigen Gemeinwohlbelang, nämlich die äußere Sicherheit, verwirklicht, teilweise aufgrund der Globalisierung. Ein Beispiel für ihre positive Wirkung. Ein anderes Beispiel ist mit Sicherheit, dass wir durch die vielen Gerichtsbarkeiten und supranationalen Instanzen, die zweifellos die Welt komplexer machen, tendenziell auch davon ausgehen können, dass die Herrschaft des Rechts heute stärker institutionalisiert ist als früher. Die nationale rule of law ist zum einen abgesichert in internationalen Institutionen wie der EU und auch der WTO. Zum anderen besteht ein ganz erheblicher Druck vor allem auf die Staaten, die zur westlichen Welt gehören wollen, in Zukunft auch tatsächlich die rule of law herrschen zu lassen. Die Weltbank ist inzwischen eine Institution, die vehement auf die Durchsetzung der Rechtstaatlichkeit setzt und auch Druck einsetzt. Insofern ist zu sagen, dass über solche Globalisierungsprozesse, in dem Fall vermittelt über internationale Institutionen, die Verwirklichung von rule of law innerhalb von Nationalstaaten einfacher wird.
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Indem ich auf solche positiven Elemente der Globalisierung verweise, will ich natürlich nicht abstreiten, dass die Globalisierung gleichzeitig eine ganze Reihe von großen Problemen erzeugt. Sie ist insbesondere für eine Entsubstantiierung der Demokratie auch für wachsende Ungleichheiten innerhalb von Nationalstaaten mitverantwortlich. Es ist sehr schwer vorstellbar, dass in dem Maße, in dem die nationalstaatliche Demokratie entsubstantiiert wird, weil viele Entscheidungen auf internationale Ebenen verlagert werden, diese Entsubstantiierung durch eine Demokratisierung internationaler Institutionen aufgefangen werden kann. Da fehlen uns in gewisser Weise die Antworten. Auch im Bereich der Erzeugung von Wohlfahrt gibt es Probleme. Es ist zwar richtig, dass wir im Zuge der Globalisierung sicherlich erhebliche Möglichkeiten zur Erhöhung der sozialen Wohlfahrt haben, die zumindest von manchen westlichen Ländern auch sehr erfolgreich genutzt werden. Umgekehrt ist es so, dass die Gefahr besteht, dass zumindest innerhalb der westlichen Welt Ungleichheiten zunehmen und der Nationalstaat geringere Möglichkeiten hat, diese Ungleichheiten wieder aufzufangen. Ob die Formel, dass über die Globalisierung global mehr Ungleichheit geschaffen wird, so richtig ist, wie Sie es dargestellt haben, Herr Geißler, scheint mir allerdings zweifelhaft. In vielen Ländern der westlichen Welt wird der Abbau von Subventionen gerade durch die Welthandelsorganisation erzwungen, und wenn die Zuckersubventionen irgendwann einmal abgebaut werden, dann aufgrund des Drucks der Welthandelsorganisation. Dennoch meine ich, dass wir im Bereich des staatlichen Auffangens von Ungleichheit im Bereich der Primäreinkommen mehr Schwierigkeiten haben als zuvor. Es gibt aber auch Bereiche, wo die Verwirklichung des Gemeinwohls durch den Nationalstaat durch die Globalisierung eher einfacher geworden ist als schwerer, wie die Sicherheit vor Krieg oder die Durchsetzung der rule of law. Die grundlegend[er]e Veränderung, vor der wir stehen, besteht aber darin, dass wir beginnen, das Gemeinwohl neu zu definieren, und zwar nicht in der Weise, dass wir die Liste der Gemeinwohlbelange revidieren, sondern die Einheit verändern, auf die wir das Gemeinwohl anwenden. Das Gemeinwesen wird umdefiniert, der nationale Rahmen verliert an Bedeutung, die internationale Perspektive nimmt an Bedeutung zu. Es ist in der Tat so, dass zumindest in vielen öffentlichen Rechtfertigungen politischen Handelns etwa die Menschenrechte in anderen Ländern eine ganz andere Bedeutung haben als noch vor 20 oder 30 Jahren. Nicht nur die amerikanische Regierung, auch die Regierung der Bundesrepublik Deutschland hat im Zuge der Kosovo-Intervention der Frage der Menschenrechte aus guten Gründen eine sehr große Bedeutung beigemessen. Wir beginnen uns um Menschenrechte außerhalb der nationalen Gesellschaft zu kümmern. Wir beginnen, uns darum zu kümmern, wenn sich Gewalt in der transnationalen
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Gesellschaft privatisiert, wie der Kampf gegen den transnationalen Terrorismus zeigt. Wir beginnen uns zu kümmern, wenn in manchen Ländern, in denen die Demokratie, die zumindest vorübergehend erreicht worden war, wieder zurückgedrängt wird. Die westliche Welt und vor allem die USA haben beispielsweise primär aus Demokratie- und damit verbunden auch aus Migrationsgründen in Haiti interveniert, weil in diesem Land ein Stand der Demokratie, der einmal erreicht worden war, zurückgedrängt worden ist. Wir beginnen also sogar über die Menschenrechte hinaus uns darum zu kümmern, ob andere Menschen die Möglichkeit haben, in einer Demokratie zu leben. Und wir beginnen uns auch darum zu kümmern, ob im Zuge der Globalisierung multinationale Unternehmen Produktionsbedingungen haben, die wir als menschenrechtlich akzeptabel ansehen. Es gibt Konsum-Boykotts gegen Unternehmen, die im Ausland offensichtlich Produktionsbedingungen unterhalten, die viele als untragbar ansehen. Mit diesen Beispielen will ich nicht sagen, dass das erfolgreiche institutionelle Arrangements sind, um diese Ziele zu erreichen. Ich weise nur darauf hin, dass soziologisch und nicht nur völkerrechtlich betrachtet, wir uns sehr ernsthaft um diese Fragen zu kümmern beginnen. Und das heißt, dass das Gemeinwohl sich tatsächlich zu transnationalisieren und zu denationalisieren beginnt. In der Tat scheint mir sozusagen die zentrale Herausforderung zu sein – da kommt man jetzt in den Bereich der global governance und in den Bereich der unfertigen Antworten – dass das Zusammenspiel von internationalen und nationalen Institutionen in einer Weise erfolgen muss, dass wir tatsächlich unser denationalisiertes Gemeinwohlbewusstsein institutionell so umsetzen, dass zumindest gewisse Erfolge in der Verwirklichung dieses transnationalen Gemeinwohls erreicht werden. Insofern betrachte ich diese zweite Veränderung, nämlich die Veränderung des Denkens darüber, auf wen sich das Gemeinwohl eigentlich bezieht, als fundamentaler und wichtiger als die Verschiebung der Eingriffsmöglichkeiten des Nationalstaates zur Erfüllung der traditionellen Gemeinwohlbelange. Dankeschön. Prof. von Arnim: Vielen Dank, Herr Zürn, dass Sie auch ganz bewusst versucht haben, einen Kontrapunkt gegen die einseitige Betonung der Nachteile der Globalisierung zu setzen und die Vorteile hervorgehoben haben. Ein Vorteil könnte zum Beispiel auch sein, dass die nationalen Staaten von außen her unter Druck gesetzt werden abzuspecken, leistungsfähiger zu werden, vielleicht auch weniger Kosten zu verursachen, weil sie ja zum Standortfaktor von Unternehmen werden, die sich da oder dort ansiedeln können. Dass der Globalisierung ein Druck auf größere Leistungsfähigkeit der Staaten immanent ist, könnte also auch ein Vorteil sein. Dr. Stephan Kirste, Universität Heidelberg: Ich glaube, wir haben durch das Podium in eindrucksvoller Weise demonstriert bekommen, wie wir uns aus dem Leidensdruck an Defiziten der Gemeinwohlverwirklichung viel-
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leicht doch einem Gemeinwohlbegriff annähern und damit die Frage, die Frau Pröhl besonders beschäftigt hat, und unser aller Frage beantworten können. Die Antwort wird vielleicht formaler ausfallen, als es den Erwartungen an den Gemeinwohlbegriff entspricht. Herr Geißler hat als Defizite vor allen Dingen Gerechtigkeit, insbesondere soziale Gerechtigkeit und Umweltprobleme aufgezeigt und die Vereinseitigung einer wirtschaftlichen Zweckrationalität kritisiert. Frau Pröhl hat Legitimationsdefizite thematisiert und Verbesserungen eingefordert. Herr Zürn hat darauf hingewiesen, dass nach dem 11. September – um nur das Schlagwort zu bringen – Globalisierung auch zu einem höheren Maße an Unsicherheit geführt hat, was prinzipiell das Problem der Rechtssicherheit als der dritten, aber eigentlich basalen Dimension von Gemeinwohl aufwirft. Ich glaube, dass auf diese Weise der Gemeinwohlbegriff mit den drei Dimensionen, der Rechtssicherheit, der Legitimität und der Zweckmäßigkeit, den Herr Brugger uns vorgestellt hat, von den Defiziten her deutlich geworden ist. Es reicht nicht, dass sich Zweckmäßigkeit, obwohl sie erforderlich ist, einseitig durchsetzt. Wir brauchen Legitimation, wir brauchen Rechtssicherheit, nur, und das wäre jetzt sozusagen der Problempunkt, den ich noch stärker akzentuieren würde, Demokratie als Lösungsweg kann sich (solange es keinen globalen Demos gibt) nicht an eine staatliche Institution richten. Ich verstehe Herrn Geißler auch ein wenig so, dass er das Problem der Inklusion und Exklusion mit angesprochen hat. Das Problem ist gerade, dass wesentliche Teile der Bevölkerung in den Entwicklungsländern faktisch von Partizipationsstrukturen ausgeschlossen sind. Es sollten daher – die Anregung von Herrn Schuppert aufgreifend – andere Legitimationsmodi berücksichtigt werden, die bei Ihnen ja auch angeklungen sind, und die sozusagen über die Bertelsmann Stiftung repräsentiert sind, nämlich die Einbeziehung gesellschaftlicher Akteure in die Legitimationsbegründung. Dass wir insbesondere die Rolle der NGOs stärker berücksichtigen und dabei vielleicht etwas mitbedenken, was man order from noise principle nennen könnte, d. h. die Proteste gegen erlebte Gemeinwohldefizite könnten zu einer globalen Gemeinwohlordnung beitragen. Fazit: Das Podium hat gezeigt, dass das Gemeinwohl in einer formalen Weise als Defizit in diesen drei Dimensionen erlebt werden kann, dass Adressat der Gemeinwohlrealisierung aber zunehmend nichtstaatliche Akteure sein müssen. Danke. Prof. von Arnim: Vielen Dank, das waren weniger Fragen als ein zusammenfassendes Statement. Stefan Sehte, Ltd. MR, Erfurt: Ich bin Herrn Geißler sehr dankbar, dass er auf den Punkt gebracht hat, was mich die ganze Zeit schon beschäftigt hat. Wir befinden uns sozusagen am Abgrund, wenn es uns nicht gelingt, das Gemeinwohl zum Maßstab unseres Handelns zu machen. Die ganze Tagung kam mir ein bisschen so vor: Da standen zwei Dutzend Professoren
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um einen schwerkranken Patienten, die Gesellschaft, und haben sich Gedanken gemacht, aber Behandlungsvorschläge für diesen Patienten hat keiner gebracht. Das fand ich ein bisschen schade, und vielleicht sollte man das bei einem nächsten Seminar intensiver in Angriff nehmen. Prof. von Arnim: Vielen Dank. Wir haben dann auch gleich das Thema für die nächste Frühjahrstagung. Prof. Sommermann: Im Laufe unserer Tagung wurde immer wieder deutlich, wie sehr die materiellen Elemente des Gemeinwohls zu ihrer Durchsetzung auf bestimmte Institutionen und Verfahren angewiesen sind. Herr Geißler hat von der besonderen Problematik der Durchsetzung angesichts von Denationalisierungs- und Entgrenzungstendenzen gesprochen, Herr Zürn hat gezeigt, dass letztlich nur eine neue Weltordnung Abhilfe schaffen kann. Anknüpfen möchte ich an den von Herrn Geißler verwandten Begriff der internationalen sozialen Marktwirtschaft. Die soziale Marktwirtschaft fußt bekanntlich auf Gedanken des Ordoliberalismus. Dieser hat immer wieder betont, dass eine freiheitliche Wettbewerbsordnung einen starken Staat braucht, der in der Lage ist, die Spielregeln fairen Wettbewerbs gegenüber Verbands-, Wirtschafts- und sonstigen Interessen durchzusetzen. Wenn wir über Globalisierung sprechen, lautet natürlich die zentrale Frage, wer in einer entsprechenden Weltordnung diese Rolle übernehmen könnte. Können es die traditionellen internationalen Organisationen? Die einzige Organisation, die auf globaler Ebene Maßnahmen gegenüber Staaten gegebenenfalls unter Gewaltanwendung anordnen kann, ist gegenwärtig in Gefahr, ihre Legitimation zu verlieren. Es erhebt sich die Frage, ob für die wirksame Wahrnehmung der dringend erforderlichen Ordnungsfunktionen – Herr Brugger würde auf die Gemeinwohlkomponente der Rechtssicherheit verweisen – nicht neue Kooperationsformen benötigt werden. Haben Sie, Herr Dr. Geißler dazu bestimmte Vorstellungen oder haben Sie resigniert? Ferdinand Krause, Regierungsrat z. A., Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, Bonn: Herr Dr. Geißler, Sie haben davon gesprochen, dass die Kapitalinteressen das globale Gemeinwesen beeinträchtigen. Welche Wesenszüge würde man in erster Linie diesem globalen Gemeinwesen beiordnen? Kann es nicht sein, dass es auch verschiedene Vorstellungen von den Wesenszügen des Gemeinwesens gibt, insbesondere wenn man z. B. auf Religion abstellt? Inwieweit ist dann auch ein Hoheitsträger erforderlich, der sich für die Interessen dieses Gemeinwesens effektiv einsetzen kann? Prof. von Arnim: Herr Geißler, Sie sind am meisten angesprochen worden. Wollen Sie mit der abschließenden Podiumsrunde beginnen? Dr. Heiner Geißler: Um es gleich vorweg zu sagen: Ich halte die Globalisierung für zwangsläufig. Sie ist eine geschichtliche Notwendigkeit. Aber
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ich möchte doch sehr davor warnen, zu glauben, sie sei ein Automatismus, man müsse nur globalisieren und dann komme schon irgendwann etwas Positives dabei heraus. Wir haben auf einem anderen Sektor auch diesen Glauben, indem man sagt, der Markt sei das Entscheidende. Aber der Markt ist blind, der Markt ist sogar in einem gewissen Sinne dumm, denn wenn man den Markt nicht ordnet, hat man als Ergebnis zum Schluss nur noch Oligopole und Monopole, während kleine und mittlere Betriebe keine Chancen haben. Auch bei der Globalisierung kommt es darauf an, was wir wollen. Es kommt auf die politische Gestaltung an. Die soziale Marktwirtschaft ist gegen die Planwirtschaft damals im Zonenwirtschaftsrat in einer Kampfabstimmung mit einer Stimme Mehrheit durchgesetzt worden. Das hätte alles genauso anders herum ausgehen können. Dann hätte sich die ganze politische Entwicklung in Deutschland verändert. Genauso ist es global. Im Vergleich zu dem, was sich auf der nationalen Ebene ereignet hat und was jetzt im Prozess der Globalisierung stattfindet, stellt sich für uns die Frage, ob wir zu den Zeitgenossen gehören, die Fehler zwei- oder dreimal machen, damit man sie besonders gut beherrscht. Und das ist im Moment die Situation. Es kommt darauf an, was wir wollen. Insofern ist es eine politische Frage, die diskutiert werden muss. Natürlich müssten die Europäer, die ja nun in den vergangenen 50 Jahren eine positive Erfahrung haben, was sektorale oder regionale Globalisierung betrifft, die Vorteile eines solchen geordneten Globalisierungsprozesses in die internationale Diskussion einbringen. Es geht darum, Konzepte zu entwickeln, so wie die soziale Marktwirtschaft ein Konzept war. Und Sie haben völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass die soziale Marktwirtschaft auf dem Ordoliberalismus fußt, und nicht auf dem Neoliberalismus. Das bringen die heutigen Liberalen ständig durcheinander, auch in meiner eigenen Partei. Ordoliberalismus, die ethische Konzeption eines geordneten Wettbewerbes und eben auch der sozialen Gerechtigkeit sind das, was wir auf der Weltebene brauchen. Wir haben dies im ökonomischen Bereich noch nicht durchgesetzt. Deswegen ist man bei der Frage, was ist die richtige Ordnung? Eine richtige Ordnung wäre eine internationale soziale Marktwirtschaft. Da bin ich nicht pessimistisch, weil die führenden Industriestaaten der westlichen Welt durch die Ostasienkrise gelernt haben, dass sie etwas tun müssen, weil eine zweite Krise dieses Kalibers auch vor den Toren Europas und Amerikas nicht Halt machen würde. Deswegen wird im Moment daran gearbeitet, ich habe ein paar Beispiele genannt, wie internationale Bankenaufsicht, internationale Spekulationssteuer und eine Reform der internationalen Organisationen WTO (Welthandelsorganisation) und IWF (Internationaler Währungsfonds). Den Glauben daran, dass aus den Institutionen, so wie sie jetzt konstruiert sind, etwas Positives herauskommen könnte, den würde ich Ihnen gerne nehmen. Was hat der IWF gemacht? Das Programm war Deregulie-
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rung, Liberalisierung und Privatisierung. Das hat z. B. in Nicaragua durch die Bedingungen der Weltbank und des IWF dazu geführt, dass mit einem Schlag 240.000 Angestellte der öffentlichen Verwaltung entlassen worden sind. Das ganze Alphabetisierungsprogramm in Nicaragua ist daraufhin zusammengebrochen. Es gab niemanden, der das hätte aufnehmen können. Das war dereguliert, das war liberalisiert, hat aber in Nicaragua hinten und vorne nicht gepasst. Dafür haben wir jetzt dort sogenannte zonas francas, die auch vom IWF eingerichtet worden sind. Textilarbeiterinnen stellen zu unmenschlichen Bedingungen Textilien her. Damit hat man versucht, wieder Arbeitsplätze zu schaffen, die vorher durch die Deregulierung vernichtet worden sind. Diese internationalen Institutionen bedürfen dringend einer Reform, das gehört zum Programm einer internationalen sozialen Marktwirtschaft. Man braucht aber, um die Satzung der Weltbank zu ändern, 85 Prozent der Stimmen. Die Amerikaner halten anteilsmäßig 18 Prozent, haben infolgedessen immer eine Sperrminorität und können alles verhindern, was notwendig wäre, um z. B. die Geldpolitik der Weltbank zu verändern. Und deswegen tut sich da nichts, weil die Weltbank im Interesse der großen multinationalen Konzerne, auch der amerikanischen, ihre Gelder verleiht, und zwar immer nur an die Regierung. Die Zeit reicht nicht aus, um das einigermaßen darzustellen. Aber wir kriegen das nur weg, indem wir die Amerikaner dazu bringen, das richtige Ziel langsam zu erkennen, und möglicherweise mit der nächsten amerikanischen Regierung zu einem vernünftigen Ergebnis kommen. Das Gleiche gilt für die Außenpolitik. Es steuert alles auf einen Weltstaat zu, da geht kein Weg daran vorbei. Aber solange wir keinen Weltstaat haben, braucht man so etwas wie einen neuen contrat social. Man braucht eine internationale Vereinbarung der großen Industriestaaten, um bestimmte Regeln durchzusetzen, bis man zu einer internationalen Organisation kommt. Die Ansätze sind ja in der UNO vorhanden. Deswegen ist es wirklich gefährlich und auch sehr bedrückend, dass im Moment diese ganze Entwicklung auch im Rahmen der UNO so zerstört wird. Das kann sich in Zukunft wieder ändern, wir brauchen wie gesagt eine internationale soziale Marktwirtschaft. Daran wird gearbeitet, die Regeln müssen vereinbart werden. Fast alle sind dafür, mit Ausnahme der Amerikaner, und die muss man eben dazu bringen. Genauso wie in den Fragen der Umweltpolitik, Stichwort Kyoto-Abkommen, und beim Internationalen Strafgerichtshof. Herr Zürn hat ja zu Recht gesagt: Wir haben hier Fortschritte, das bestreite ich überhaupt nicht. Aber die Konzeption fehlt größtenteils, wir haben sie noch nicht überall durchgesetzt. Wir brauchen einen außenpolitischen Kodex z. B. für die Frage, wann ein Staat gegenüber einem anderen Staat Gewalt anwenden darf. Diesen außenpolitischen Kodex gibt es noch nicht. Vor allem fehlt, um eine solche Gewaltanwendung moralisch legitimieren zu können – was schon die alten Jesuiten beim Ty-
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rannenmord proklamiert haben –, dass die Zustände danach ein bisschen besser sind als vorher. Man braucht also eine politische Lösung. Niemand darf einen Krieg beginnen, wenn nicht eine sichere politische Lösung für die Zeit danach vorhanden ist. Das ist das größte Defizit in der gegenwärtigen Diskussion. Wir brauchen eine Vereinbarung über die Grundlagen der Ordnung. Dazu gehören die Menschenrechte, die Grundwerte der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, und dass der Mensch ein Sozialwesen ist. Wir brauchen als Grundprinzip einer solchen Ordnung soziale Gerechtigkeit. Das gilt auch für die Welt insgesamt. Das gesamte Bildungssystem und Gesundheitswesen zu privatisieren, passt in die Vorstellungswelt der Leute, die im Interesse der eigentlichen Macht, die im Moment noch das Sagen hat, nämlich des Kapitals, ihre Politik betreiben. Ich bin nicht skeptisch, ich bin auch nicht pessimistisch, ich gehöre zu den anthropologischen Optimisten, es kommt eben auf das politische Konzept an. Das ist der erste Schritt. Die Analyse muss richtig gemacht werden, und daraus muss die richtige Konzeption folgen. Die Konzeption ist an sich da, die Analyse ist auch da, und jeder, der sich damit ein bisschen beschäftigt, weiß was los ist. Man braucht die Konzeption, und dann bedarf es des politischen Willens. Europa ist auch nicht von selber entstanden. Es hätte auch schief laufen können. Die politischen Parteien wollten Europa und haben Europa im Laufe der Jahre und Jahrzehnte geschaffen. Das war eine Erfolgsstory mit allen Rückschlägen, die damit verbunden waren. Warum soll uns dies für die Weltpolitik nicht auch gelingen? Wichtig ist, dass die Konzeption da ist und dass es Leute gibt, die das politisch durchsetzen wollen. Und dafür bieten sich die Europäer an. Deswegen ist das wichtigste, was wir brauchen, die europäische politische Union. Die Einbeziehung der Polen, Tschechen, Ungarn, Litauer und Letten, der Bulgaren und Slowaken in diese Europäische Union ist ein Problem. Wir haben eine Erweiterung der Europäischen Union, aber gleichzeitig eine Destabilisierung der politischen Konzeption Europas. Das haben wir gerade im aktuellen Fall der Irak-Krise gesehen, wo die Polen sich als Nationalstaat aufgeführt haben. Der französische Staatspräsident Chirac hat sich völlig zu Recht darüber aufgeregt, dass die Polen sich eben nicht europäisch, sondern national polnisch verhalten haben. Deswegen sind hier Grundfehler gemacht worden, was das Gemeinwohlinteresse Europas anbelangt. Prof. von Arnim: Vielen Dank, Herr Geißler, dass Sie ganz konkrete Vorschläge gemacht haben, auch für einiges Visionäre. Dabei gilt es jedoch wiederum zu berücksichtigen, dass Reformen vor allem im internationalen Bereich vor massiven Durchsetzungsproblemen stehen. Herr Zürn, Sie waren vorhin bei der ersten Runde als letzter dran, deswegen darf ich Sie jetzt als zweitersten, dann Frau Pröhl und Herrn Brugger zu Wort bitten.
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Prof. Zürn: Ich nutze die Gelegenheit, um ein wenig auszutarieren, worin denn die Differenzen und Gemeinsamkeiten zwischen Herrn Geißler und mir bestehen. Zu den Gemeinsamkeiten, die ich an der Stelle ganz deutlich unterstreichen möchte: Die politische Gestaltung der Globalisierung im Sinne einer verbesserten Durchsetzung von Gemeinwohlbelangen ist erstens absolut notwendig, denn es gibt keinen Automatismus. Und zweitens würde ich so weit gehen und sagen, dies ist die vornehmste politische Aufgabe unsere Zeit, eine absolut visionäre, die die nächsten Jahrzehnte in Anspruch nehmen wird. Die konkreten Beispiele für die Reformierung einiger vorhandener internationaler Institutionen, die genannt worden sind, etwa die Spekulationssteuer, der Versuch der Stärkung bestimmter internationaler Sozialabkommen oder die Bankenaufsicht, sind alles konkrete politische Projekte, die ich in der Tat so unterschreiben würde. Ich glaube allerdings nicht, und damit kommen wir so langsam zu den Differenzen, dass sich daraus bereits ein politisches Projekt ergibt. Es ist zunehmend notwendig, dieses Regieren jenseits des Nationalstaates konstitutionell und in Kategorien der politischen Ordnung zu denken, visionär sozusagen Montesquieu für das 21. Jahrhundert weiter zu denken. Ich bin auch der ganz festen Überzeugung, dass das, was am Ende entstehen wird, wenn alles gut geht und die politische Gestaltungsaufgabe erfolgreich bewältigt sein sollte, kein Weltstaat ist. Es ist ein hochkomplexes Gefüge des Zusammenspiels sehr vieler unterschiedlicher politischer Ebenen, das mit Sicherheit nicht das weltweite Gewaltmonopol beinhalten wird. Das Durchsetzungsmonopol wird auf der Ebene der Nationalstaaten bestehen bleiben. In den letzten 20 bis 30 Jahren haben die Nationalstaaten sehr viel Kompetenzen abgegeben. Was sie nicht abgegeben haben, sind zwei Dinge: die Ressourcen über die Gewaltverfügung und das Steuermonopol, und die werden sie meines Erachtens auch noch lange Zeit für sich behalten. Dieses Modell „komplexes Weltregieren“ wird sich als etwas sehr Vielschichtiges darstellen, das – aus meiner Sicht wenigstens – nicht einem Weltstaat ähneln wird und in der Tat permanent die Durchsetzungsfrage aufwerfen wird. Diese Verlässlichkeit dieser Ordnung wird aber nicht nur an die Durchsetzungsmacht gebunden sein, sie wird auch immer an die soziokulturellen Voraussetzungen, die notwendig sind, damit bestimmte politische Maßnahmen greifen können, gebunden sein. Sozialpolitische Maßnahmen, die gar eine Umverteilung beinhalten, können eben nicht einfach auf eine internationale Ebene übertragen werden, weil sie bestimmte Konsensvoraussetzungen der Betroffenen beinhalten müssen. Und da hinken wir in vielerlei Hinsicht auf der internationalen Ebene der nationalen Gesellschaft noch weit hinterher. Die Frage geht dahin, welche Visionen wir haben, und da ist meines Erachtens der Weltstaat nicht das, worauf wir zusteuern.
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Meine entscheidende Differenz ist aber noch eine andere. Ich halte es in dieser Auseinandersetzung, in dieser gemeinsamen Suche nach einem Modell des komplexen Weltregierens, welches zur besseren Gemeinwohlverwirklichung beitragen kann, für nicht dienlich, um mit Herrn Geißler überspitzt zu formulieren, dass alles, was schlecht in dieser Welt ist, der Globalisierung zuzuschreiben ist. Aus meiner Sicht würde ich argumentieren, dass weder der gegenwärtige amerikanische Unilateralismus, noch die europäischen Agrarsubventionen, noch alle Aspekte der Armut in der Dritten Welt tatsächlich der Globalisierung geschuldet sind. Viele Probleme, die wir in dieser Welt haben, haben mit der Globalisierung relativ wenig zu tun. Wenn wir uns heute als eines der vorrangigen Probleme über die Rentenkasse Gedanken machen, dann ist das eben kein Wettbewerbsproblem, das aus der Globalisierung entsteht, sondern es ist schlicht weg – zu 80 Prozent, würde ich sagen – ein demographisches Problem, das relativ unabhängig von der Globalisierung ist. Einwurf Dr. Geißler: Dieses Problem können Sie nur durch die Globalisierung lösen. Prof. Zürn: Das mag sein, aber das ist ja auch mein Punkt, dass die Globalisierung manchmal auch zur Lösung beiträgt. In diesem Diskurs würde ich davor warnen, alles was problematisch und schlecht ist, der Globalisierung zuzuschreiben, weil man die Kraft der Globalisierung, ihre positiven Elemente und die Bereitschaft, sich auch den internationalen Institutionen unterzuordnen, möglicherweise dadurch schwächt und sehr starke – auch nationale – Gegenbewegungen genau dadurch provoziert werden, indem man zu viel des Schlechten der Globalisierung zuschreibt. Frau Prof. Marga Pröhl: Meine Meinung zu den vorgebrachten Thesen von Herrn Geißler und Herrn Zürn ist ambivalent. Wir haben international einen riesengroßen politischen Erfolg dadurch gehabt, dass die UNO gegründet wurde. Der Sicherheitsrat hat so manches Mal sehr positive Ergebnisse im politischen Abstimmungsprozess erbracht. Dies macht Hoffnung, aber nicht immer und in allen Fragen greifen die internationalen Verfahrensregelungen zur Konfliktbewältigung. Das sehen wir jetzt gerade. Was mich wirklich tief berührt hat bei der Beobachtung der Diskussion und der Entwicklungen der letzten Wochen – das zieht sich ja schon über einen längeren Prozess hin – ist die Tatsache, dass auf der einen Seite ein politisches Konzept gefordert wird, ein Global Governance-Konzept, das auf der Klugheit, Weisheit und Einsichtigkeit von politischen Entscheidungsträgern aus den Nationen beruht, und wir gleichzeitig erleben, dass es Fälle gibt, wie jetzt in Großbritannien, wo der entschiedene politische Wille der Spitze des Staates eine völlig andere Richtung nimmt, als die Mehrheit der Bevölkerung es für gut heißt. Solche Fehlentwicklungen können passieren, das ist
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scheinbar die Normalität. Deswegen möchte ich noch einmal betonen: Ich glaube, dass ein Global Governance-Konzept nur dann wirklich greifen kann und wir nur dann auf den bereits gewonnenen Erfolgen weiter aufbauen können, wenn die Weisheit der Politik unterstützt wird durch einen sehr breiten Prozess der Beteiligung von Bürgern und Bürgerinnen. Den Dialog zwischen Politik und Bürgern zu organisieren, muss Kernpunkt eines Global Governance-Konzeptes sein. Wir haben einmal die obere Ebene der transnationalen Regelungen und Bedingungskonzepte. Diese kann aber nur funktionieren, wenn gleichzeitig die Regionen in Europa, die Regionen der Welt und die kommunalen Prozesse mit bedacht werden. Deswegen möchte ich noch einmal an dieser Stelle ein Plädoyer dafür abgeben, dass Global Governance-Konzepte nur erfolgreich sein können, wenn es gelingt, die Basis zu legen und auch in den Regionen und Kommunen Beteiligungsprozesse, Transparenz, Subsidiarität, demokratisches Bewusstsein und Verantwortungsgefühl zu stärken. Prof. von Arnim: Vielen Dank, Frau Pröhl. Es ist mir sehr sympathisch, dass Sie darauf hingewiesen haben, dass wir erst unsere Hausaufgaben erledigen müssen, bevor wir fähig werden, auch global das Erforderliche zu tun. Herr Brugger bitte. Prof. Brugger: Ich will zunächst kurz auf die Bemerkung von Herrn Zürn eingehen, ich hätte ein düsteres Bild gemalt. So düster sollte es gar nicht sein. Was ich sagen wollte und vielleicht nicht ausreichend deutlich gesagt habe, war: Die Gemeinwohlproblematik wird komplexer, und was wir haben, sind Verschiebungen innerhalb des komplexen Gemeinwohls. Angenommen, wir bekommen mehr Legitimität durch mehr Menschenrechte, mehr Effektivität durch Markt, dann ist das europäisch und global erkauft durch eine große Rechtsunsicherheit, und zwar in zweierlei Hinsicht. Wir haben eine Unmasse von Rechtsquellen, so dass oft unsicher ist, was das Recht ist. Das zweite ist dann die Unsicherheit der Durchsetzungskomponente. Wenn wir die drei Gemeinwohlaspekte nehmen – Rechtssicherheit, Legitimität und Zweckmäßigkeit –, haben zwei davon etwas dazu gewonnen, das dritte Element hat deutlich abgenommen. Es gibt keinen Königsweg, sondern wir balancieren innerhalb dieser komplexen Gemeinwohlbelange. Richtig fand ich Ihre Betonung der Frage, auf welche Gemeinschaft es denn ankommen soll. Der Dreischritt von nationalem Gemeinwohl, von Kontinentrechtsorganisationen und von Weltrechtsorganisationen, also Deutschland, Europa und die Welt, ist wichtig. Die drei, die muss es geben, weil ein jeder von uns ja auch gewisse Menschheitsinteressen in sich hat, die er mit jedem anderen Menschen teilt. Das Interesse an Wasser, Luft, Ernährung, ein Dach über dem Kopf, das sind Menschheitsinteressen, die muss man irgendwie auch global organisieren können. Es gibt aber auch dichtere Interessen, wie z. B. die sozialen Leistungen, es gibt anthro-
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pologisch so etwas wie the primacy of the particular. Das heißt Identitäten, Loyalitäten bilden sich von innen nach außen, von der kleineren Gemeinschaft zur großen Gemeinschaft. Das muss man berücksichtigen im Dreischritt von nationalstaatlicher Organisation, europäischer Organisation und Weltrechtsorganisation. Die dichteste, umfänglichste, aber eben nicht globale Verantwortung liegt nach wie vor beim Nationalstaat. Wenn die Bevölkerung im eigenen Land diese Stufung nicht mehr nachvollziehen kann, dass sie der primäre Nutznießer in dieser Art von Organisation sein kann, und dass dann Europa und dahinter die Welt kommt, für die immer noch genügend übrig bleiben muss, dann gibt es Probleme mit dem Volk. Ich will einen Gedanken kurz aufgreifen, den Herr Kirste genannt hat. Wenn wir diese Dreiteilung haben von Deutschland, Europa und der Welt, dann kommen noch halbstaatliche und private Träger von Regelungsbefugnissen hinzu. Dann können wir Demokratie nicht mehr klassisch denken; wir können aber Demokratie in dem Sinne einer allgemeinen Mitwirkung denken. Wir müssen zwischen Demokratie und Republik unterscheiden: Demokratie bedeutet, mitwirken zu können, Republik bedeutet, gehört zu werden. Wenn wir die klassischen Demokratiefunktionen abschwächen, dann besteht die Kompensation darin, dass wir europäisch und global im Völkerrecht und auch in den halbstaatlichen und privaten Organisationen überall mitreden können und überall die Chance haben, gehört zu werden. Das wäre sozusagen der Kompensationsmechanismus für die Abschwächung von Demokratie auf der nationalstaatlichen Ebene. Prof. von Arnim: Vielen Dank, Herr Brugger, für Ihren abschließenden Beitrag. Ja, meine Damen und Herren, wir stehen am Ende dieser Tagung. Jetzt bleibt mir noch, auch im Namen von Herrn Sommermann, Dank zu sagen. Dank vor allen Dingen an die Referenten und an die Diskussionsleiter. Heute besonders an die Teilnehmerinnen und Teilnehmer dieses Podiums. In der Vielfalt der Äußerungen lag gerade in diesem Fall eine besondere Stärke. Und es bleibt mir Dank zu sagen, Ihnen allen, meine Damen und Herren, die Sie hier mitgewirkt haben, zum großen Teil auch mit Diskussionsbeiträgen. Ohne Sie wäre diese Tagung gar nicht möglich gewesen. Auch wenn wir immer noch nicht so genau wissen, was denn nun eigentlich das Gemeinwohl ist, liegt unser Kenntnisstand jedenfalls auf einem sehr viel höheren Niveau. Patentlösungen gibt es ohnehin nicht, gerade dann, wenn man anstrebt, auch in der Auswahl der Referenten und Redner nicht einseitig zu sein, sondern pluralistisch, um alle Stimmen zu Wort kommen zu lassen. Ich wünsche Ihnen eine gute Heimreise. Ich hoffe, dass Sie diese Tagung genossen haben und der Hochschule auch in Zukunft die Treue halten werden. Auf Wiederschauen.
Verzeichnis der Autoren, Diskussionsleiter und Diskussionsberichterstatter Prof. Dr. Hans Herbert von Arnim, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Prof. Dr. Charles B. Blankart, Humboldt-Universität zu Berlin Prof. Dr. Winfried Brugger, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Prof. Dr. Rudolf Fisch, Rektor, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Prof. Dr. Stefan Fisch, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Dr. Heiner Geißler, Bundesminister a. D., Dahn Stefanie Gille, Assessorin, Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Prof. Dr. Roman Herzog, Bundespräsident a. D., München Prof. Dr. Josef Isensee, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Dr. Monika John-Koch, M.A., Mag. rer. publ., Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Petra Kempf, M.C.L., Assessorin, Forschungsreferentin, Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung bei der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Prof. Dr. Peter Graf Kielmansegg, Universität Mannheim Stefan Kleb, Mag. rer. publ., Assessor, Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Prof. Dr. Dr. Klaus König, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Prof. Dr. Gerhard Lehmbruch, Universität Konstanz Burkhard Margies, M.A., Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Prof. Dr. Marga Pröhl, Leiterin des Bereiches Staat und Verwaltung, Bertelsmann Stiftung, Gütersloh Stefanie Ritter, Assessorin, Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Annette Schorr, Assessorin, Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer
334 Verzeichnis der Autoren, Diskussionsleiter und Diskussionsberichterstatter Prof. Dr. Gunnar Folke Schuppert, Humboldt-Universität zu Berlin Martin Schurig, Mag. rer. publ., Forschungsreferent, Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung bei der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Prof. Dr. Dr. h.c. Heinrich Siedentopf, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Prof. Dr. Karl-Peter Sommermann, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Prof. Dr. Gregor Thüsing, LL.M., Bucerius Law School, Hamburg Alexandra Unkelbach, Assessorin, Forschungsreferentin, Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung bei der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Mike Weber, Dipl. Soz., Forschungsreferent, Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung bei der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Prof. Dr. Hans-Georg Wehling, Eberhard-Karls-Universität Tübingen Marion Weschka, Mag. rer. publ., Assessorin, Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Prof. Dr. Heinrich Amadeus Wolff, Universität München Prof. Dr. Michael Zürn, Universität Bremen