Geliebte Objekte: Symbole und Instrumente der Identitätsbildung [Reprint 2020 ed.] 9783110819151, 9783110151725


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German Pages 518 [520] Year 1996

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Geliebte Objekte: Symbole und Instrumente der Identitätsbildung [Reprint 2020 ed.]
 9783110819151, 9783110151725

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Tilmann Habermas Geliebte Objekte

Perspektiven der Humanwissenschaften Phänomenologisch-psychologische Forschungen Herausgegeben von

C. F. Graumann M. Herzog A. Metraux Band 19

w DE

G

1996

Walter de Gruyter • Berlin • New York

Tilmann Habermas

Geliebte Objekte Symbole und Instrumente der Identitätsbildung

W G DE

1996 Walter de Gruyter • Berlin • New York

® Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche Bibliothek



CIP-Einheitsaufnahme

Habermas, Tilmann: Geliebte Objekte : Symbole und Instrumente der Identitätsbildung / Tilmann Habermas. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1996 (Perspektiven der Humanwissenschaften ; 19) Zugl.: Heidelberg, Univ., Habil.-Schr., 1995 ISBN 3-11-015172-3 NE: GT

© Copyright 1996 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck: Werner Hildebrand, Berlin Bindearbeiten: Lüderitz & Bauer GmbH, 10963 Berlin

Vorwort

Als Jugendlicher zog ich gerne mit Fahrrad und Fotoapparat über die Felder, um einen Freund in der nahegelegenen Stadt zu besuchen oder ungewohnte Bilder in der vertrauten Umgebung zu entdecken. Zuhause kultivierte ich ein Tagebuch als Ansprechpartner, den ich immer in der Nähe wußte. Später nahm ich eine kleine Ausrüstung an Fotos, Geschenken und Stadtplänen mit an den neuen Studienort und zum Aufenthalt im Ausland. So wichtig mir diese geliebten Objekte zu manchen Zeiten auch waren, erwachte mein Interesse an ihnen als ebensolchen doch erst viel später, nachdem ich mich lange mit jugendlichen Eßstörungen beschäftigt hatte: Der Magersucht, in der die Negation der Liebe zu den Menschen und den verlockenden Dingen sich zu einem Ideal des domestizierten Leibes verdichtet, und der Bulimie, in der die Differenz zwischen materieller Nahrung und Körper, zwischen Wunsch und Erfüllung immer wieder aufgehoben wird. Die adoleszente Aufgabe der Identitätsbildung wird hier im Spannungsfeld zwischen Eltern, denen man ein Kind bleibt, und ersehnt-gefürchteten Gleichaltrigen anhand des eigenen Körpers und mittels kultureller Techniken und Gegenstände verhandelt. Wenn bei den Eßstörungen in Nahrung verkörperte kulturelle Normen und Praktiken zu Fehlläufen der Identitätsbildung beitragen und ihnen ihre zeittypische Prägung verleihen, fragte ich mich, ob nicht materielle Kultür umgekehrt auch zum Gelingen des Erwachsenwerdens und -bleibens beitragen könne. Dies müßten allerdings, schien mir, individuelle, geschätzte und überdauernde Objekte sein, die nicht vernichtet oder in toto verschmäht werden, sondern bedeutungsvoll und in Beziehungen zu signifikanten Anderen und einem selbst eingebunden sind und so die Fähigkeit stärken, Spannung auszuhalten und das Abwesende zu denken. Daraus ist eine systematische Untersuchung, eine Psychologie persönlicher Objekte geworden. Das theoretische Programm habe ich punktuell empirisch konkretisiert am Beispiel von Studenten im Übergang zum Studium und an den neuen Studienort. Die Ergebnisse dieser Studie werden hier summarisch berichtet, ausführlicher andernorts veröffentlicht. Schon meine klinisch-kulturpsychologischen Untersuchungen der Magersucht und Bulimie hat mein akademischer Lehrer und Mentor Carl Friedrich Graumann beeinflußt; wesentlich inspiriert und begleitet hat er

VI

Vorwort

diese Arbeit und ihre breite, um historische Informiertheit bemühte Weise, die dingliche Umwelt als immer schon soziale ernstzunehmen. Dankbar bin ich den Medizinstudenten der Freien Universität Berlin, die mir bereitwillig über ihre Objekte und sich Auskunft gaben. Hilfreich waren Anregungen von Erika Hartmann, Andreas Kather, Christiane Kraft, Christine Paha, Hans Peter Rosemeier, Stephan Schütze und Monika Sieverding, sowie die tatkräftige Unterstützung von Andreas Kather in der heißen Phase der Datenerhebung, die durch die Breuninger-Stiftung, Stuttgart, und die Deutsche Forschungsgemeinschaft ermöglicht wurde. Wesentlich zum Gelingen beigetragen hat die langjährige produktive Arbeitsatmosphäre am Institut für Medizinische Psychologie der Freien Universität Berlin, für die Hans Peter Rosemeier verantwortlich war und ist. Zusätzlichen Ansporn gaben mir im Laufe der Arbeit meine zweiten Erfahrungen mit einem Übergangsobjekt, in die mich Giacomo verwikkelte.

Inhaltsverzeichnis

I.

Einleitung

1

1. Persönliche Objekte

1

2. Dinge und persönliche Objekte in der Psychologie

10

3. Psychosoziale Identität und Perspektivenübernahme

13

4. Ausblick

16

II.

19

Besitz als Teil der Person

1. William James: Persönliche Habe als Konstituens der Person 1.1 James' Begründung einer empirischen Selbstpsychologie 1.2 Kriterien der Ausdehnung des Selbst

19 19 23

2. Der Begriff des Besitzes 2.1 Semantik und Syntax von Besitz 2.2 Soziale Bedeutungen von Besitz Besitzverhalten bei Tieren - Besitz als juristischer BegriffEigentum als Persönlichkeitsrecht

26 26 30

3. Zur Psychologie des Besitzens 3 .1 Ontogenese von Besitzverständnis und -motiven Besitz bei Kleinkindern - Besitzkriterien -Motive des Besitzens 3.2 Psychologische Bedeutungen von Besitz Grade von Besitzrelationen - Kern des Besitzbegriffes - Funktionen von Besitz - Besitz als Teil der Person - Besitz und Identität

37 37

III.

Selbstgefühl und Dinge

1. Subjektive Identität und ihre Störungen 1.1 Das Selbstgefühl auf den sechs Identitätsdimensionen

43

55 57 57

vm

Inhaltsverzeichnis 1.2 Identitätsstabilisierung als motivationale Regelgröße Identitätsmotivation - Deren Mechanismen - Selbstgeßihl und Dingbezug

60

2. Vertrautheit und Lebendigkeit im Identitätsgefiihl 2.1 Entfremdungszustände als Identitätsstörungen 2.2 Bekanntheit, Vertrautheit und Vertrautheitsgefuhl 2.3 Wirklichkeitsgefühl, Intentionalität und Interesse 2.4 Interesse und Vertrautheit

64 64 68 69 71

3. Räumliche Aspekte des Selbsterlebens - Abgrenzung 3.1 Räumliche Aspekte des'Selbst' Räumliche Aspekte des 'Selbst' - Untersuchungen 3.2 Grenzen eines selbst Grenzen des Selbstgeßihls - Körperbildgrenze

75 75

4. Die Rolle von Dingen für das Selbstgefühl

83

IV.

91

Handlungsräume und persönliche Orte

78

1. Kurt Lewins Feldtheorie als Fundament einer Ökopsychologie 1.1 Räumliches oder psychologisches Feld? 1.2 Der Aufforderungscharakter 1.3 Arten von Person-Objekt-Beziehungen 1.4 Umgang mit Konflikten und Ersatzhandlungen 1.5 Befriedigungs-versus Macht-und Sicherheitsobjekte

92 94 96 99 100 102

2. Entwicklung als räumliche Veränderung 2.1 Organisation und Ausweitung des Feldes 2.2 Individuation und Loslösung Individuation: Autorität - Loslösung: Sicherheit

105 105 107

3. Bindung an Personen 3.1 Die Bindung des Kleinkindes an seine primäre Bezugsperson 3.2 Sicherheit: Nähe der Bezugsperson und Vertrautheit der Situation 3.3 Interindividuelle Unterschiede der Bindungssicherheit 3.4 Bindungen in späteren Lebensphasen Abnahme der Bindung - Sicherheit, Neugier und Autonomie in der Adoleszenz - Spätere Bindungen 3.5 Bindung und Dinge

109 110 111

4. Persönliche Räume und Orte 4.1 Der körperzentrische persönliche Raum 4.2 Persönliche Orte: Territorien

113 115 120 121 122 123

Inhaltsverzeichnis 4.3 Persönliche Orte: Heimterritorien Abschirmung und Vertrautheit - Einbruch - Angesammelte Dinge - Binnenbeziehungen 4.4 Sich-Einrichten: Personalisieren und Aneignen

IX 125 131

5. Privatsphäre und Alleinsein 5.1 Privatheit als Regulierung interpersoneller Grenzen 5.2 Privatsphäre: Macht über Raum und Wissen 5.3 Intimsphäre und intime Beziehungen 5.4 Psychologische Funktionen des Alleinseins

135 136 137 139 143

6. Raum und Identität 6.1 Präferenz und Bindung Umweltpräferenzen - Parallelen zur Bindung 6.2 Ortsbindung und Ortsidentität Ortsidentität - Sich-Identiflzieren mit Orten - Ortsbindung und Ortsidentität 6.3 Identitätsfunktionen von Umwelten

148 149 154

158

7. Persönliche Räume, Orte und Objekte: Übergänge das Beispiel der Adoleszenz 7.1 Persönliche Räume und persönliche Objekte 7.2 Übergänge zu neuen Umwelten 7.3 Übergänge in der Adoleszenz, Adoleszenz als Übergang Ethnologische Evidenzen - Entwicklung von Privatheit - Ablösung, Alleinsein und Einsamkeit - Adoleszente "Übergangsobjekte"

161 163 166

V.

175

Symbolische Bedeutungen von Dingen

1. Dinge als Kulturgegenstände: Soziologisch-kulturanthropologische Aspekte 1.1 Autonome Systeme von Objekten, syn- und diachron 1.2 Überlieferung von und durch Gebrauchsgegenstände Gebrauchsgegenstände und symbolische Objekte - Überliefemde Gebrauchsgegenstände 1.3 Soziale Kategorien, Struktur und Position Primäre Symbolisierung - Sekundäre Symbolisierung 1.4 Waren zwischen Kultur und Individuum Objekte als soziale Bindemittel- Tauschwert und Individualität 1.5 Dinge als Zeichen zwischen Kultur und Individuum Sprachliche und dingliche Zeichen - Öffentliche und private Zeichen - Rituelle Symbolik

161

177 177 180

182 185 189

X

Inhaltsverzeichnis

2. Vygotskys Theorie der kulturellen Genese der höheren mentalen Funktionen 2.1 Niedere und höhere mentale Funktionen 2.2 Gegenstände als Werkzeug und Symbol 2.3 Von der Fremd- zur Selbststimulierung 2.4 Vom Gespräch zum Denken 2.5 Symbolische Funktionen von Dingen Vermittlung von Mensch und Umwelt - Allgemeine undpersönliche, sprachliche und dingliche Zeichen - Selbstkommunikation mit externen Hilfemitteln 3. G.H.Meads Theorie symbolischer Interaktion und des Aufbaus der Identität 3 .1 Selbstbewußtsein und symbolische Interaktion 3.2 Perspektivenübernahme gegenüber Objekten 3.3 Der soziale Aufbau der Persönlichkeit: Ich, Mich, Selbst 3 .4 Reflexion und Identität, Phantasie und Zeit 3 .5 Zusammenfassung und integrierende Rückschau Mead und Vygotsky - Rückblick - Das Selbst und seine Objekte 4. Öffentliche Symbolisierung von Status und Identität 4.1 Materielle Symbole sozialer und persönlicher Identität Soziale Position und Zugehörigkeit - Persönliche Identität 4.2 Modi der selbstreflexiven Perspektivenübernahme 4.3 Situative und dispositionelle Determinanten 5. Der Selbstkommunikation dienende Objekte 5.1 Öffentliche und private selbstreflexive Verwendung 5.2 Situative und dispositionelle Determinanten Induktion eines evaluativen Selbstgewahrseins - Disposition zur Selbstreflexion 5.3 Objekte als symbolische generalisierte Andere Imaginäre Gefährten - Haustiere - Personifizierung 5.4 Entwicklungspsychlogische Bedingungen Introspektion in der Adoleszenz - Strukturelle Aspekte Selbstreflexive persönliche Objekte in der Adoleszenz 6. Souvenir und symbolische Bindungen 6.1 Erinnernde Gegenstände und Erinnerungsobjekte 6.2 Nostalgie des Antiquarischen, Exotischen und Natürlichen 6.3 Autobiographische Souvenirs Erbstücke und Reiseandenken - Bedeutungsweisen -Metonymische Souvenirs - biographische Bezüge - Utopische Objekte Zukunftsentwürfe 6.4 Vergegenwärtigungen des abwesenden Anderen

198 199 201 202 204 207

212 213 215 217 219 222 230 231 235 239 243 244 246 252 261

267 267 270 272

283

Inhaltsverzeichnis 6.5 Bedingungen des Gebrauchs von Souvenirs Alter und autobiographische Objekte- Alter und Reliquien Personspezifische Determinanten

XI 286

7. Symbolische Funktionen persönlicher Objekte 7.1 Einige Grundbestimmungen persönlicher Objekte 7.2 Perspektivenübernahme und Identität 7.3 Bedingungen des Gebrauchs symbolischer Objekte

293 294 298 301

VI.

Affektive Beziehungen zu Dingen und Menschen

305

1. Unbewußte dingliche Körper-und Personsymbolik 1.1 Neurotische Sexualsymbole 1.2 Das Strukturmodell der Psyche Intemalisierung - Trophäen 1.3 Das Modell der Personrepräsentanzen Qualitäten von Personrepräsentanzen - Symbole und Imagination 1.4 Unbewußte Motive der Bedeutungen von Gegenständen

306 306 310 313 319

2. Übergangsobjekte 2.1 Winnicotts Thesen 2.2 Übergangsobjekte und -phänomene bei Kleinkindern 2.3 Mutterersatz oder autonomes Phänomen?

322 322 326 330

3. Pathologische und normale Beziehungen zu Dingen und Personen 3.1 Pathologische Beziehungen zu bestimmten Objekten Fetischismus - autistische Objekte - Trauerobjekte -Angstlindernde Begleiter - Pathologische Objektverwendungen 3 .2 Generalisierte Haltungen zu Dingen wie zu Personen 3.3 Zusammenfassende Thesen Parallelen - Kompensation - Integrierte Identität als Voraussetzung 3.4 Persönliche Objekte in sozialen Beziehungen

333 334 342 345 353

4. Phantasie und Kreativität. Emotionsintegration 4.1 Das Spiel des Vorschulkindes 4.2 Tagträume und Flucht aus dem beengenden Alltag 4.3 Kreativität: Formen und Schreiben 4.4 Kreativität und Stimmungstechniken in der Adoleszenz 4.5 Zusammenfassung

358 359 360 365 368 373

5. Vom Übergangsobjekt zum persönlichen Objekt

374

XII

VII.

Inhaltsverzeichnis

Persönliche Objekte

381

1. Funktionen und Typen 1.1 Eine Taxonomie spezifischer Funktionen 1.2 Vergleich mit anderen Taxonomien 1.3 Typen persönlicher Objekte

381 3 81 393 396

2. Probleme des empirischen Zugangs 2.1 Vier phänomeninhärente Schwierigkeiten 2.2 Methodische Zugänge zu Funktionen persönlicher Dinge 2.3 Zur Operationalisierung des persönlichen Objekts

401 401 403 408

3. Gruppenunterschiede und Zusammenhänge 3.1 Beschreibung persönlicher Objekte 3 .2 Geschlechtsunterschiede und soziale Schicht 3 .3 Zusammenhänge mit dem Lebensalter 3 .4 Persönliche Objekte in der Adoleszenz 3 .5 Erinnerungsfiinktion und Lebensqualität 3.6 Übergangssituationen

411 411 415 418 421 425 429

4. Spielräume der Persönlichkeitsintegration 4.1 Das Phänomen 4.2 Eine Theorie persönlicher Objekte Persönlichkeitsintegration - Sozialität - Der besondere Anreizgehalt - Andere und Übergänge - Epiphänomen oder Phänomen sui generis?

439 439 442

Literaturverzeichnis

453

Stichwortverzeichnis Objektverzeichnis

495 505

I. Einleitung

"I do not believe that the relation between a person and a physical object, whether it be a toy, a utensil, a weapon, a dwelling-place, an ornament or a conventional unit of currency, is ever a simple affair between a person and a thing; it is always a triangular relation between at least two people and the thing" (Susan Isaacs, 1935, 70)

Was sind persönliche Objekte? Man könnte sie auch als Lieblingsdinge bezeichnen, als geschätzte oder umhegte und gepflegte Besitztümer. Es handelt sich um Objekte, die einer Person besonders teuer sind, die sie liebt, an denen sie hängt und mit denen sie sich verbunden fühlt. Es ist leichter, Beispiele persönlicher Objekte anzuführen als sie abstrakt zu definieren. Der Ausdruck Lieblingsding ist zwar verständlich, aber nicht, wie der der Lieblingsspeise, ein gängiger Begriff der Alltagssprache. Fragt man Personen nach ihren Lieblingsdingen, zögern zwar viele erst einmal, leugnen oft spontan, über derartige Dinge überhaupt zu verfugen. Denken sie dann aber kurz nach oder überwinden eine anfangliche Hemmung, können doch alle wenigstens einige Lieblingsdinge nennen. In der zögerlichen Reaktion zeigt sich, daß der Begriff des Lieblingsdings nicht ohne weiteres verfugbar ist, Dinge nicht bewußt diesem Begriff subsumiert werden, so daß sie sofort präsent wären; vielmehr muß man auf die Frage hin die Gruppe der persönlichen Objekte erst bilden.

1. Persönliche Objekte Da persönliches Objekt oder Lieblingsding keine gängigen Begriffe sind, beschreibe ich einleitend einige Beispiele und einige ihrer ins Auge springenden Eigenschaften, um einen Vorbegriff von dem Phänomen zu gewinnen, das in der Folge psychologisch ausbuchstabiert werden soll. Der Prototyp des Lieblingsdings, in der Psychologie wie in der individuellen Lebensgeschichte, ist der Teddybär des Kleinkindes. Dazu gehö-

2

I. Einleitung

ren auch das Schmusetuch und ähnlich weiche, wohlriechende und handhabbare Objekte, die in der mittleren Kindheit wieder aufgegeben werden. Winnicott bezeichnete sie, einem glücklichen Einfall folgend, als Übergangsobjekte. Aufgrund dieses Prototyps haftet Lieblingsdingen der Ruf des Infantilen an. Aber auch Erwachsene hängen an bestimmten Gegenständen, und zwar nicht nur jene, die wie besessen Eisenbahnmodelle oder Schuhe sammeln, wiederum anrüchige Konnotationen evozierend, die ebenfalls auf Unreife verweisen. Erwachsene lieben ihr in die Familie aufgenommenes Haustier, ihren Füller, den sie tagtäglich achtlos nutzen, ein Hemd oder Kleid, das sie an sich selbst in einer glücklichen Situation erinnert, natürlich das Auto, als Fetisch verschrien, den vom Großvater vermachten Ring, den Designer-Stuhl, der den gewählten Lebensstil zum Ausdruck bringt, ein Paar alter Handschuhe, die einfach schon immer bei einem waren, ein schikkes Surfbrett, mit dem man sich geschickt und schnell zu Wasser bewegt, einen handgewebten Teppich aus der Heimat, die Erinnerungsfotos. Unsere Behauptung, daß die Klasse persönlicher Objekte erst auf die Frage des Untersuchers hin zusammengestellt wird, trifft nicht immer zu. Immer erfordert die Zusammenstellung einen Akt der Reflexion, aber dieser wird manchmal durchaus spontan durchgeführt, wie ein erstes Beispiel zeigt.

Beispiel 1: Die zwölfjährige Dorothea bilanziert in ihrem Notizbuch "die Aktiva und Passiva ihres seelischen Haushalts": "Alles was ich lieb habe. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.

Meine Schlittschuhe Meine Füllfeder Carus "Sterne" Den Schwarzenbergplatz Karl May Jules Verne "Kraft und Stoff (Buchtitel) Tanzen (am liebsten mit ??) Nestroy "Kosmos" (Buchtitel)

Natürlich Spinat!"

11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20.

meine Eltern und Geschwister

Mein Werkzeugkasten Meine Perlmuschel R... (Schulkollegin) Kurze Strümpfe Die Polonäse von Ogieski Tapete in meinem Zimmer Nelly (Romanfigur) Freiheit Gleichheit Brüderlichkeit 6.3.189x

und den lieben Gott und

1. Persönliche Objekte

3

Die mittlerweile 47-Jährige Dorothea kommentiert ihre Liste: "1.) war wohl das erste, was ich wirklich gut konnte; ich habe immer viel Freude an körperlicher Bewegung gehabt und tanze heute noch leidenschaftlich gern (s.8 ). 3.) war der erste wissenschaftliche Autor, den ich las. 7.) ein Buch, das mich geradezu revolutionierte und unter schwersten Kämpfen vom Glauben befreite. Und 10.) hängt damit zusammen. 12.) kleine Perlmuschel, die ich noch besitze. [...] So kitschig diese Aufzählung klingt: 18) würde heute noch, und zwar an erster Stelle auf meinem Register stehen. Daß das, was unter dem Strich steht, ironisch gemeint ist, brauche ich wohl nicht zu betonen. Ich wundere mich nur, daß nicht zum Ausdruck kommt, daß ich einen meiner Brüder zärtlich liebte. Spinat habe ich gehaßt." (wiedergegeben in Bernfeld, 1931, 56). Solche Aufstellungen, Sünden- und Tugendregister, in denen man bisher Erreichtes Revue passieren läßt, tauchen in Notiz- und Tagebüchern von Kindern und Jugendlichen nicht selten auf, dürften aber in späteren Lebensjahren seltener werden. Beispiel 2: Der junge, erfolgreiche und unverheiratete Banker Adrian, der außerhalb seines Herkunftslandes in einer Metropole über eine feste Wohnung verfugt, von der aus er jeweils für ein paar Jahre mal in diesem, mal in jenem Land der Welt fiir seine Bank arbeitet, nennt auf die Frage nach ihm wichtigen Objekten nach einigem Nachdenken einen Talisman und seinen Füllfederhalter. Den Talisman bekam er von einem der Freunde geschenkt, die er auf seinen vielen Reisen kennenlernt und immer mal wieder zu sehen Gelegenheit hat. Es handelt sich um einen Talisman aus dem vorderen Orient, der eine religiöse Bedeutung hat, die Adrian in groben Zügen bekannt ist. Natürlich glaubt Adrian keinen Augenblick lang an die Wirksamkeit des Talismans, noch teilt er die religiösen Überzeugungen, die dem Talisman Bedeutung verleihen. Wie nebenbei, ohne je darüber nachgedacht zu haben, legt er ihn immer, wenn er auf Reisen geht, auf den Boden des Koffers zu den wichtigen Dingen dazu, die er auf der Reise und für seine Geschäften brauchen wird. Der Füllfederhalter ist zwar guter Qualität, sonst zeichnet ihn aber wenig aus. Adrian benutzt ihn bei seiner Arbeit, so beispielsweise, wenn er Dokumente firmiert. Das einzig Besondere an dem Federhalter scheint ihm zu sein, daß er ihn nun schon länger bei sich hat. Mit einem gewissen Stolz berichtet er, daß er ihn noch nie verloren hat. Immer wenn seine Gepäckstücke auf dem Flug abhanden kommen oder ihm, wie gerade geschehen, seine Aktentasche während der Fahrt aus dem an der Ampel haltenden Auto gestohlen wird, befindet sich wie durch ein Wunder der Füllfederhalter ausnahmsweise an einem anderen Ort. Er hält ihm die Treue.

4

I. Einleitung Beispiel 3: In einem Zeitungsbericht über den seit 5 Jahren an AIDS erkrankten 27-jährigen Andreas, seinen Leidensweg, sein Durchhalten und seinen "Abschied vom Leben" wird ein Teddybär genannt. Der Bericht schildert die fünf Jahre, die Andreas in den USA verbrachte, wo er Freunde und Unterstützung fand; nun ist er nach Deutschland zurückgekehrt. "Zurückgekommen nach Deutschland sei er aus Heimweh. 'Ich hab' halt immer noch Sehnsucht nach meinen Eltern'. Doch die würden ihn, den schwulen Sohn, noch immer nicht sehen wollen - wie vor S Jahren, als ich das erste Mal über ihn schrieb und er gesagt hatte: 'Seit ich krank bin, hab' ich Heimweh, dahin zurückzukommen, wo ich herkomme'." "Neben Andreas liegt ein Teddybär. Er nennt ihn Jasper. Manchmal mache er Rollenspiele mit ihm, berichtet er später. Dann schreie er ihn auch mal an: 'Warum nimmst du mir gerade den Atem?', beschimpfe ihn, 'daß es mir so schlecht geht'. Während des Gesprächs nimmt er das Plüschtier oft einfach in den Arm. 'Ich brauch ihn zum Knuddeln'. Auch abends, wenn er nicht einschlafen könne, nehme er ihn und versuche, sich in den Schlaf zu singen". Sterben wolle er in seinem Zimmer; im Krankenhaus werde man schon komisch angeguckt, wenn man einen Teddy mitnehme (R.Hoghe: Andreas nimmt Abschied vom Leben. Die ZEIT, 1990, Nr.54, S.84). Beispiel 4: Eine ganz andere Reportage gibt Ausschnitte aus Gesprächen mit Jugendlichen wieder, die mit ihren Eltern aus der gerade noch existierenden DDR nach West-Berlin übersiedelten. In ihren Erzählungen vom Verlust der vertrauten Umgebung und Freunde und den Orientierungsversuchen in der neuen Heimat spielen auch geliebte Dinge eine Rolle. Mark, 13 Jahre alt: "Jetzt hab' ich manchmal so Heimweh. Man erinnert sich an Sachen, die einem früher gefallen haben, dann wird man traurig. Zuerst, als ich das mit dem Weggehen gehört habe, hab' ich mich auf das, was ich im Werbefernsehen gesehen hab', gefreut. Dann hab' ich mir überlegt, was ich verlieren könnte. Das Haus, na klar, und dann meine Tiere, 'ne Katze, Schlange und Eidechsen hatte ich gehabt. Die Tiere waren im Terrarium im Garten. Als wir dann endlich losfuhren, hatten wir gar nichts mehr. Das Haus war verkauft, die Tiere waren freigelassen. Ringelnatter und Eidechse sind nicht giftig. Die Katze ist zum Nachbarn gekommen. Der Hamster ist gestorben. Rechtzeitig, gerade noch." Nicht nur die Trauer um das Verlassene richtet sich auf geliebte Dinge und Tiere, auch die Hoffnungen auf das neue Leben: "Da hatte ich mich gefreut, daß ich endlich mal so Knöchelturnschuh hab', die hatten 300 Mark (Ost) gekostet. Als ich sie das erste mal in der Schule anhatte, ist mir fast der Atem stehengeblieben. Die hatten viel schönere und haben mich sofort gehänselt".

1. Persönliche Objekte

5

Vanessa, 15 Jahre alt: "Als meine Schwester und ich [von der bevorstehenden Übersiedlung] gehört haben, sind wir in die Disco gegangen, da saßen wir und haben dann geheult. Dann haben wir uns ein Lied gewünscht: Herbert Grönemeyer, 'Keine Heimat mehr'. Das hat ja nun gestimmt. - Was ich eingepackt hab'? Mein Tagebuch. Das les' ich mir jetzt immer durch, um daran zu denken, was ich erlebt hab'. Dann hab' ich hier die silbernen Armreifen zum Andenken an alle meine Freunde. Alles Geschenke. Meine Freundin hat mir so ein Herz gemacht. Und dann hat sie ein Gedicht dazu geschrieben." Und im Westen: "Ich hab' mir jetzt so 'ne Bomberjacke geholt. Damit laufen meistens die Skins rum, die Neo-Nazis. Die erzählen hier alle von Freiheit, aber wenn du sagst, Skins sind Scheiße, kriegste eins auf die Fresse. Wenn ich zum Beispiel mit der Bomberjacke rumlaufe und ein Heavy kommt, dann schlitzen die mir die Jacke auf. Das ist doch keine Freiheit. Oder wenn ich Docs anziehe, diese schwarzen Armeeschuhe, mit Stahlkappen, wenn dich ein Türke damit sieht, kriegste auch eins auf die Fresse, weil das so 'ne Bedeutung hat, daß du gegen Ausländer bist. Genauso mit den Schnürsenkeln. Du darfst keine schwarzen tragen. Schwarz ist für Neo-Nazis, Rot ist für links. Das ist total schlimm". (R.Rischbieter: Von wegen Freiheit. Die ZEIT, 1990, Nr.39, S.90) In den Beispielen kommen eine Reihe persönlicher Objekte vor, die den Besitzern aus ganz unterschiedlichen Motiven wichtig sind. Es wird sich später erweisen, daß gerade diese Multifunktionalität eine der markanten Eigenschaften persönlicher Objekte ist. Die vielfaltigen Funktionen persönlicher Objekte, die sich in den Beispielen andeuten, werden im Laufe des Buches noch ausführlich zur Sprache kommen. Vorerst möchte ich einige globale Eigenschaften persönlicher Objekte skizzieren, um so das Vorverständnis von dem Phänomen, um das es hier gehen soll, darzulegen, ohne dem Gang der Untersuchung bereits zu weit vorauszugreifen. An den aufgeführten Beispielen springt eine Doppelfunktion persönlicher Objekte ins Auge. Sie haben nicht nur Bedeutung für die Person, zu der sie gehören, sondern auch für andere. Zwei der drei Beispiele stammen aus Reportagen, und die Gespräche mit den Jugendlichen wurden von einer Theaterregisseurin zur Vorbereitung einer Inszenierung geführt. Persönliche Objekte können gezielt eingesetzt werden, um Personen zu charakterisieren: in einer Reportage, auf der Bühne und im Film, auf Porträtgemälden. Beispiel 5: In dem Hollywood-Film Pretty Woman finden eine Prostituierte und ein Bussinessman zueinander. Gegen Ende des Films kehrt die weibliche Hauptfigur zu ihrer Freundin, ebenfalls einer Prostituierten, zurück, um sich von ihr zu verabschieden. Diese Nebenfigur wird in der Szene nicht wie zuvor als Prostituierte bei der Arbeit auf der Straße, sondern als unglückliches, verlorenes Mäd-

6

I. Einleitung chen in ihrer Wohnung gezeigt; sie gönnt der Freundin ihr Glück, und erträumt ein eigenes. Der Regisseur unterstreicht diesen Eindruck, indem er ihr ein Plüschtier in den Arm drückt, an das sie sich als in ihren Lebensverhältnissen Zurückgelassene kuschelt, als die Hauptdarstellerin, die "schöne Frau", mit ihrem Prinzen in eine glücklichere Zukunft entschwindet.

Hier wird der gezielte Einsatz des Plüschtiers als Requisit, das dem Rezipienten einen bestimmten Eindruck von der Person vermitteln soll, noch deutlicher als in der Reportage, die nicht völlig fiktiv ist. Das Plüschtier suggeriert eine andere Identität als die der Prostituierten, nämlich die präsexuelle, kindliche Sehnsucht nach Zärtlichkeit und einem Partner, dem es nicht allein um sexuelle Befriedigung geht. So wie persönliche Objekte sich als künstlerische Mittel der Fremddarstellung anbieten, erfüllen sie dieselbe Funktion in der Selbstdarstellung. Davon spricht Vanessas Bekleidungsdrama mit Bomberjacke, Docs und Schnürsenkeln, das von Mark hingegen mit Knöchelturnschuhen bestritten wird. In der plakativen Übernahme von Identitäten durch Jugendliche erweist sich die Rolle von mehr oder auch weniger geliebten persönlichen Gegenständen - die man, wenn es um ihren Einsatz in einer Inszenierung geht, als Requisiten bezeichnen kann. Mit ihrer Hilfe beanspruchen Jugendliche soziale Identitäten und weisen Autoren ihren Charakteren Identitäten zu (Turner, 1956), soziale Identitäten, die über soziale Rollen und Bezugsgruppen definiert sind. Während die 15-jährige Vanessa sich über die stereotype Deutung von Requisiten beklagt, ist der 12-jährige Mark noch ganz in dieser frühadoleszenten Logik gefangen. Im Unterschied zu Vanessa geht es ihm auch weniger darum, seine (neue) Gruppenidentität auszuweisen, als darum, die eigene Person mittels Requisite in ein möglichst günstiges Licht zu rücken, indem er sich mit etwas Besonderem schmückt und hofft, sich positiv von der Vergleichsgruppe abzuheben. Gerade in seiner Situation des Neulings in der Schulklasse und Kultur, der Unsicherheit über die hier geltenden Maßstäbe und seiner Identität als Ossi im WessiZand, ist sein Bedürfnis groß, seine empfundene Minderwertigkeit zu kompensieren, sie symbolisch zu ergänzen (Wicklund & Gollwitzer, 1982), indem er den neuen Klassenkameraden zeigt, daß er über die so westlichen Knöchelturnschuh verfugt. Umso traumatischer muß er das Scheitern des Versuchs erleben, sein Selbstwerterleben zu stärken, sein Stigma, aus dem Osten zu kommen, zu kompensieren. Die Verwendung persönlicher Objekte zur gezielten Darstellung einer Person läuft, wie in dem Filmbeispiel, immer Gefahr, in Klischees abzugleiten, in Stereotypen steckenzubleiben. Eine psychologische Analyse von persönlichen Objekten macht da keine Ausnahme. Eines der gängigen Klischees stempelt persönliche Objekte als Ersatz fiir Liebe und Wärme. Das dritte Beispiel scheint den infantilen oder bes-

1. Persönliche Objekte

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ser regressiven Charakter der Verwendung von Lieblingsdingen zu veranschaulichen. Der Teddy dient als Mutterersatz und Tröster. Das trifft für die Weise, in der Andreas den Teddy nutzt, sicher zu. Aber schon daß Andreas sich mit ihm unterhält, geht doch über diese einfache Erwartung hinaus. Auch Vanessas Mitbringsel aus der DDR, die silbernen Armreifen, das Herz, das Gedicht der Freundin fungieren nicht lediglich als Ersatz für die alten Freunde, denn mit jenen macht Vanessa anderes als was sie mit ihren Freunden zu tun gewohnt war. Sie ersetzen die Freunde nicht, sie erinnern an sie. Noch weniger können die anderen genannten Objekte lediglich als Ersatz angesehen werden. Doch finden sich auch Beispiele, in denen Gegenstände deutlich sexuelle Wünsche und Konflikte symbolisieren sollen: Beispiel 6: In dem Film An artgel at my table der Australierin Campion geht ein junges Mädchen in der Provinzhauptstadt auf das Lehrerkolleg und wohnt unter einfachen, beengten Verhältnissen zur Untermiete bei einer älteren Frau. Als eine Freundin sie dort besucht, ist sie entsetzt und schämt sich. In Abwesenheit der Vermieterin machen sich die beiden jungen Frauen in deren Wohnzimmer breit. Sie schalten das Radio an, hören Musik und geraten in eine ausgelassene Stimmung. Die Freundin stachelt die Protagonistin dazu an, sich an einem Einrichtungsstück zu vergehen: Die Vermieterin hat das Wohnzimmer mit errungenen Trophäen und Preisen dekoriert, die auf einem die Wände entlanglaufenden Bord vor sich hin stauben. Unter den Preisen befinden sich mehrere ungeöffnete, vergilbende Pralinenschachteln. Die Pralinen sind aber, wie die beiden Mädchen feststellen, noch frisch und munden. Die 'alte Schachtel' hat sich aufbewahrt, während die frustrierten und neidischen jungen Frauen über die jungfräuliche Sammlung süßer Schleckereien herfallen. Ein wichtiges Thema, das sich in fast allen der gewählten Beispiele findet, ist das der Reise, des Exils, der Heimkehr, des Übergangs. Mal werden geliebte Dinge als ständige Begleiter (Adrian, Andreas, Vanessa), mal als verlassene oder neuerworbene Habe (Mark, Vanessa) erwähnt. Nicht immer sind sie, wie es das Beispiel des Teddybärs nahelegt, ein vertrautes, heimatliches Objekt, manchmal auch ein auf Aspirationen, auf die Zukunft verweisendes, manchmal aber auch ein Objekt, das sich geradezu gegen heimatliche Versuchungen richtet, indem es Autonomie zu gewähren scheint und eine Freiheitsrhetorik suggeriert, wie das folgende Beispiel zeigt. Beispiel rern:

7: "Räder und ihre Fahrerinnen" - Interviews mit Radfah-

Frank Klein, 27 Jahre: "Mein MTB (Mountain-Touren-Bike) ist mir genausoviel wert wie eine Frau. Mit dem Fahrrad hat man die letzte

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I. Einleitung

Freiheit auf der Straße - das ist die Anarchie des Alltags. Das ist, glaube ich, die Essenz des Radfahrens. Natürlich ist es nicht ganz ungefährlich, aber das macht auch den Reiz aus, nachher sagen zu können: "Schwein gehabt". Wenn man in der Fahrradszene drin ist, achtet man natürlich auch auf ganz andere Dinge, zum Beispiel, daß die einzelnen Teile nicht maschinell hergestellt, sondern handgeschweißt werden. Wenn ich das nötige Geld hätte, würde ich bis zu 7 0 0 0 DM zahlen." Franks Faszination durch die Gefahr des Radfahrens werden wir später als Beispiel für einen Charaktertypen, den des Philobaten, kennenlernen. Weitere Äußerungen zum Fahrrad belegen, welch unterschiedliche Bedeutungen einem Objekttyp von verschiedenen Personen beigemessen werden können: Kurt Felix, 27 Jahre: "Ich habe total etwas gegen die Mountain-Biker. Für die ist ihr Rad genauso ein Statussymbol geworden wie für Autofahrer der B M W - nur mit sportlicherem Ambiente. Natürlich ist es geil, Mountain-Bike zu fahren, aber die ganzen Biker haben doch überhaupt keine Beziehung zu ihrem Rad. Sie kommen in eine Werkstatt und faseln "Ich höre da so ein ungesundes Geräusch". Mein Rad ist 40 Jahre alt und total verrostet, aber ich würde es niemals eintauschen. Alte Sachen kann man nicht mehr zurückholen. In zehn Jahren ist mein Rad vielleicht so selten, daß es schon wieder Luxus ist." Gisela Schwarz, 60 Jahre: "Ich bin eine echte, gestandene Radfahrerin. Das liegt auch daran, daß ich nicht mehr allzu gut zu Fuß bin auf meinem Fahrrad bin ich fit. Ich fahre jeden Tag und überall hin. Nur wenn ich abends gut gekleidet weggehe, dann nehme ich die UBahn. Wenn ich kein Fahrrad mehr hätte, würde mir wirklich etwas fehlen, ich würde es schrecklich vermissen." Carola Härtel, 27 Jahre: "Ich habe eine sehr innige Beziehung zu meinem Fahrrad, immerhin ist es mein einziges Fortbewegungsmittel. Damit es mir Spaß macht, habe ich mir ein Mountain-Bike zugelegt. Ich brauchte schon eine differenzierte Schaltung mit 18 Gängen, sonst wäre mir das irgendwann auf die Knie gegangen. Zudem kommt man sich auf einigen Fahrradwegen in Kreuzberg oder Neukölln wirklich vor wie im Gelände. Seit einem halben Jahr trage ich einen Helm. Anfangs fühlte ich mich damit etwas blöde, aber es gibt zu viele Unfälle." (die tageszeitung, 15.6.1991, S.44) In den Äußerungen klingt die soziale Identitätsfunktion von Fahrrädern (die Biker, echte Radfahrerin) ebenso an wie die Bedeutung der Individualität, des Alters des Fahrrads und der Intimität der Beziehung zum Objekt. Bei Carola hört man ein gewisses Rechtfertigungsbedürfnis heraus, wirken ihre Begründungen für eine "differenzierte Schaltung" doch rationalisierend.

1. Persönliche Objekte

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Adrians Lieblingsdinge, der Talisman und der Füllfederhalter, stehen nie im Mittelpunkt seines Interesses. Er hat sich kaum je ausgiebig mit ihnen beschäftigt. Adrian nimmt ihre Anwesenheit als selbstverständlich hin, achtet normalerweise nicht auf sie. In gewisser Weise ist auch der Teddy selbstverständlich da, die Unterhaltung mit ihm erst mal nicht reflektiert. Jedoch beschäftigt Andreas sich ausfuhrlich mit seinem Lieblingsding, spricht gar mit ihm. Für Mark schließlich sind seine Sportschuhe gar nicht selbstverständlich, sondern etwas ganz Besonderes. Persönliche Objekte variieren also hinsichtlich ihrer Selbstverständlichkeit und des Ausmaßes, in dem man sich bewußt mit ihnen beschäftigt. Je selbstverständlicher persönliche Objekte sind, umso mehr muß man erst einmal nachdenken, bevor man eine Frage nach ihnen beantworten kann. Normalerweise wird man erst anläßlich einer Störung der Beziehung zu dem Objekt, der Möglichkeit seiner selbstverständlichen Verwendung oder Anwesenheit, der Bedeutung der Objekte für das eigene Wohlbefinden gewahr. Das merkt derjenige, der bestohlen wird oder in dessen Wohnung eingebrochen wird, der dann weniger unter dem finanziellen Verlust, oft durch die Versicherung beglichen, und dem notwendigen Zeitaufwand leidet, sondern unter dem Verlust von etwas Eigenem. Deshalb erwähnt gerade Adrian, dem seine persönlichen Objekte am selbstverständlichsten sind, eine Situation, in der ihm eines beinahe gestohlen worden wäre. Eine andere Situation, die einen des persönlichen Objekts gewahr werden läßt, ist die von Andreas antizipierte Reaktion im Krankenhaus: andere konzentrieren sich auf das Objekt, da es aus der Norm fällt, seine Verwendung sich nicht ziemt oder als lächerlich gilt. Die Schwere des Verlusts eines persönlichen Objekts legt es nahe, von einer starken emotionalen Bindung an persönliche Objekte zu sprechen, eine Metapher, die aufs Erste wenig zu erklären scheint, vielmehr selbst erklärungsbedürftig ist. Wiewohl nicht Teil des Körpers oder der Psyche einer Person, werden persönliche Objekte gerade in Verlust- oder Angriffssituationen doch als Teil der eigenen Person erlebt, die eines Teiles ihrer selbst beraubt oder entwertet wird. Persönliche Dinge haben mithin einen merkwürdigen Zwischenstatus zwischen eigener Person und Außenwelt. Für gewöhnlich sind persönliche Objekte unbelebte Dinge, doch gibt es wichtige Ausnahmen: Tiere und Musik werden oft in einem Atemzug mit Lieblingsdingen genannt und diesen zugesellt. Vanessa bezeichnet es zwar nicht als ein Lieblingsding, nennt aber ein Lied, das sie sich wünscht, das eine große Bedeutung für sie hat, vielleicht wegen der Melodie, sicher auch wegen der Thematik, und vielleicht auch weil der Sänger westdeutsch ist und dennoch ihre Situation versteht. Auch Gedichte sind keine Gegenstände, sondern sprachliche Gebilde mit musikalischen Qualitäten.

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I. Einleitung

Kehren wir noch einmal zu der besonderen Nähe persönlicher Objekte zurück und der empfundenen Schwere eines Verlusts. Diese Nähe zeigt sich in dem Umstand, daß die meisten persönlichen Objekte zum Besitz, zur persönlichen Habe einer Person gehören. Nicht wenige persönliche Objekte zählen gar zur Intimsphäre der Person: so der Teddy, das Tagebuch, das geschenkte Gedicht. Die Intimität mancher Lieblingsdinge trägt zu dem anfänglichen Zögern, über sie Auskunft zu geben, wesentlich bei. Auskünfte über sie sind Vertrauten vorbehalten, sie enthalten Informationen über die Person, die diese hütet und zu ihrer Privatsphäre zählt. Eine Mitteilung über sie wird als Selbstenthüllung und -preisgäbe erlebt, die die Gefahr nach sich zieht, beschämt zu werden. Schließlich sind persönliche Objekte zwar meist Dinge, selten aber natürliche Objekte, sondern überwiegend Artefakte, die die Kultur ihren Mitgliedern anbietet. Sie verfugen so bereits bevor die Person sie sich aneignet über kulturell geteilte Bedeutungen, praktischer - ein Füller ist zum Schreiben - wie symbolischer Natur - ein Füllfederhalter gilt als altmodische und distinguierte Art des Schreibens.

2. Dinge und persönliche Objekte in der Psychologie Bis auf zwei Ausnahmen hat die Psychologie persönlichen Objekten bislang kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Seitens der Psychoanalyse schuf Winnicott den Begriff des Übergangsobjekts, mit dem er den ersten persönlichen Objekten eine spezifische Entwicklungsfunktion in dem Prozeß der Individuation des Säuglings von der Mutterfigur zuwies. Innerhalb der Sozialpsychologie fand eine Befragung von Familien zu den von ihnen am meisten geschätzten Objekten in ihrer Wohnung Beachtung. Die Autoren interpretieren die symbolischen und praktischen Funktionen der Objekte in Abhängigkeit vom Lebensalter und fanden, daß Kinder und Jugendliche mehr solche persönlichen Objekte wählen, die sie physisch manipulieren können, als solche, die zur Reflektion einladen (Csikszentmihalyi & Rochberg-Halton, 1981). Diese Arbeit verfolgt ein weiter und ein enger gestecktes Ziel. Das allgemeinere Ziel ist, persönliche Objekte als eine Klasse von Phänomenen auszuweisen, die durch bestimmte Ähnlichkeiten untereinander, die über die Bindung an die Person hinausgehen, zu begründen ist. Die offensichtliche Vielfältigkeit von Formen und Funktionen persönlicher Objekte mag auf den ersten Blick skeptisch stimmen, und verspricht ein nicht von vorneherein klar begrenztes Thema, was insbesondere einem systematischen empirischen Herangehen eher abträglich ist. Aber gerade die Formvielfalt und Multifunktionalität persönlicher Objekte weist sie

2. Dinge und persönliche Objekte in der Psychologie

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als Brennpunkt, oder besser Bündelungs- und vielleicht Integrationspunkt unterschiedlichster psychischer Funktionen und Lebensbereiche aus. Die theoretische Anstrengung wird sich also darauf richten zu erhellen, worin die Bindung an diese Gegenstände begründet ist, und zu versuchen, die vielfaltigen Aspekte persönlicher Objekte aus einer psychologischen Perspektive zueinander in Beziehung zu setzen, also herauszufinden, welche und warum gerade diese Bedeutungen von persönlichen Objekten in den meisten Fällen wichtig werden. Im Besonderen werden wir uns mit der Bedeutung persönlicher Objekte in Übergangssituationen beschäftigen. Neben Übergangssituationen wie Umzügen, Verlusten und Statusübergängen ist auch eine bestimmte Lebensphase als Übergang zu verstehen, das Jugendalter. Anknüpfend an Winnicotts Intuition, persönliche Objekte dienten der Individuation und Ablösung des Säuglings von der Mutter, vermute ich, daß sie auch in der "zweiten Phase der Loslösung und Individuation" (Bios, 1967; bereits Charlotte Bühler hatte 1923 von der Pubertät als zweiter Trotzphase gesprochen) eine besondere Bedeutung erhalten. Es wird zu untersuchen sein, ob persönliche Objekte Erwachsener wirklich lediglich archaische Überreste infantiler Modi des Umgangs mit sich selbst und der Welt sind, oder ob es nicht doch eine Entwicklung des Umgangs mit persönlichen Objekten gibt, einen Form- und Funktionswandel. Ihre angenommene Entwicklungsfunktion ähnelt der Funktion, die sie in den obigen Beispielen auf Reisen übernehmen: Die Verbindung und Kontinuität herzustellen mit dem, was die Person verläßt - das Kind, das sie war, in seiner Beziehung zu den allmächtigen und allwissenden Eltern, - und zugleich neue Beziehungen anzuknüpfen mit dem Zielort, die Zukunft vorwegzunehmen - der Jugendliche als Mitglied einer Peergroup, als Partner in einer sexuellen Beziehung, als autonom wertendes und kompetent urteilendes Mitglied der Gesellschaft. Die Parallele zur Reise betrifft den Aspekt der Loslösung; der Begriff der Individuation geht darüber hinaus, da er einen Begriff von Entwicklung als Prozeß der Differenzierung und Integration impliziert (Werner, 1957). Persönliche Objekte könnten sich besonders dazu eignen, die Ausdifferenzierung der eigenen Person aus einer Matrix natürlicher Umwelt und gegebener Beziehungen zu veranschaulichen. Das Thema persönliche Objekte ordnet sich nicht ohne weiteres in die Logik der Themeneinteilungen und Subdisziplinen der Psychologie ein. Selbst nicht-persönliche Dinge finden in der Psychologie kaum Beachtung. Dinge sind der Psychologie vor allem unter zwei Gesichtspunkten interessant, dem motivationalen und dem kognitiven. In der Motivationspsychologie werden Objekte als Träger handlungsstimulierender Reizqualitäten konzipiert. In der Kognitionspsychologie hingegen fungieren Dinge als Instrumente und vor allem Objekte der Erkenntnis. In beiden Fällen können sie aber durch nicht-gegenständliche Reize oder Erkenntnisobjekte ersetzt werden, ohne daß dies für die motivationalen

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I. Einleitung

oder kognitiven Prozesse einen Unterschied machen würde. Die Gegenständlichkeit von Dingen bleibt unthematisiert. In der Psychologie geht es fast immer um Dingkategorien, nicht um individuelle Objekte, um Dinge als natürliche Motivatoren oder Erkenntnisobjekte, nicht um die soziale Bedeutung und Verwendung von Dingen. Meist richtet sich das Interesse der Psychologie auf Prozesse, die keinen Bezug zum Individuum haben; das galt früher für die behavioristischen ebenso wie heute für kognitivistische Theorien. Persönliche Objekte zeichnen sich dadurch aus, daß sie für die Individualität von Personen wichtig sind und selbst oft individuelle Exemplare einer Objektkategorie sind, die nicht ohne Bedeutungswandel durch gleiche Objekte ersetzbar sind; zugleich sind sie der Person, also ihren mentalen Prozessen und ihrem Körper äußerlich, gehören zur äußeren Realität. Wenn die Psychologie sich mit Dingen beschäftigt, nämlich meist im Rahmen der Allgemeinen Psychologie, dann behandelt sie sie in der Regel als asoziale. Gegenstände als soziale Symbole sind eher Thema der Soziologie. Dabei spielen Dinge in persönlichen Beziehungen, in Gruppen und im Verhalten zu sich selbst eine nicht unwichtige Rolle. Persönliche Objekte sind so angesiedelt zwischen dem Natürlichen, da sie unbelebt und dinglich sind, und dem Sozialen, da sie Kulturprodukte sind, symbolische Bedeutungen haben und in soziale Beziehungen eingebettet sind. Meist beschäftigt sich die Psychologie mit bestimmten psychischen Funktionen. Unser Thema hingegen ist über einen Gegenstand bestimmt, und ähnelt so eher einem Thema der Angewandten Psychologie, die sich über alltagsnahe Problemfelder oder entsprechende Institutionen definiert. Erkenntnisse der Grundlagenpsychologie werden je nach Bedarf genutzt und auf das Problemfeld angewandt. Ebenso wie bei angewandten Themen wird es notwendig sein, auf unterschiedliche psychologische Theorien zurückzugreifen, und zugleich eine phänomenspezifische Theorie zu erarbeiten, um den Eigenarten des Phänomens gerecht zu werden. Ich meine aber, daß das Thema nicht allein als eines der auf gesellschaftliche Bedürfnisse reagierenden Angewandten Psychologie zu rechtfertigen wäre, da es keinem Handlungsbedarf oder Praxisfeld entspricht, sondern sich um ein eher unbeachtetes Alltagsphänomen handelt. Vielmehr sind persönliche Objekte aus theoretischen Gründen interessant, da sie in einem Grenzbereich angesiedelt sind zwischen Individuellem und Interindividuellem, zwischen Natürlichem und Sozialem, zwischen mentalen Prozessen und der widerständigen Dingwelt. Sie bündeln und integrieren disparate Funktionen und Lebensbereiche, indem sie sie auf den Standpunkt der Person beziehen. Nun hatte bereits der Behaviorismus sich gegen eine mentalistische, damals introspektionistische Psychologie gewandt, und im Verhalten den einzig legitimen Grund für eine wissenschaftliche Psychologie gefunden.

3. Identität und Perspektivenübernahme

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Nachdem die überschießende Eliminierung jeglichen Mentalen aus der Psychologie durch die kognitive Wende korrigiert wurde, richtete sich das Interesse der Psychologie, inspiriert durch kybernetische Modelle und ermöglicht durch die neuen technischen Möglichkeiten, wieder ausschließlich Denkprozessen zu, mit dem Unterschied, daß diese nun nicht über die Introspektion beobachtet, sondern an der resultierenden Leistung orientiert rekonstruiert wurden. In Gegenbewegung dazu erstarkte in den 70er Jahren die Öko- oder Umweltpsychologie, die beansprucht, mentale Prozesse in ihren lebenspraktischen Kontext zurückzuverlegen. Die Untersuchung der psychologischen Bedeutung persönlicher Objekte widmet sich der Grundfrage ökologischer Psychologie an einem Objekt, das - im Unterschied beispielsweise zur Landschafts- oder Architekturpsychologie - zugleich in besonderer Weise von der Individualität von Personen bestimmt ist, und deshalb gleichermaßen auf Sozial- und Entwicklungspsychologie zurückgreift.

3. Psychosoziale Identität und Perspektivenübernahme Die Analyse der Bedeutung persönlicher Objekte wird sich des Begriffs der Identität bzw. Selbst als übergreifenden theoretischen Ankers bedienen. Er bietet den Vorteil, breit genug zu sein, um im Durchgang durch verschiedene Theorien und im Zusammenhang mit den verschiedenen Funktionen persönlicher Objekte gleichzeitig mit dessen Begriff präzisiert werden zu können. Er verbindet soziologische Bedeutungen persönlicher Objekte mit psychoanalytischen, sozial- und entwicklungspsychologischen. Vorweg seien einige fundamentale Aspekte des psychologischen Begriffs von Identität skizziert. Wiewohl er über eine lange philosophische Tradition verfugt, beschränken wir uns hier auf in diesem Jahrhundert erfolgte psychologischen Ausarbeitungen. Der Begriff der psychosozialen Identität ist am besten durch eine Reihe von Begriffspaaren zu charakterisieren. Wir folgen hier Erik Eriksons Ausfüllung des Begriffs, die er über sein Werk verstreut hat (1968/1981, 15, 169, 216; 1964/1966, 77f, 82, 87). Für gewöhnlich konkretisiert sich Identität irgendwo zwischen den jeweiligen Polen. Die Identität einer Person ist psychologisch also weniger als Zustand denn als beständiger Prozeß, und zwar als zielgerichteter, normativer zu verstehen, als eine Aufgabe. Genaugenommen bezeichnet Identität eine Idealnorm, die nie erreicht wird, sondern der sich anzunähern ständig Aufgabe bleibt. Extremvarianten, die gänzlich in einem der beiden Pole aufgehen, können als pathologisch gelten. 1. Einzigartigkeit versus Zugehörigkeit: Identität mit sich selbst ist eine Grundbedeutung des Begriffs, nicht nur in der Psychologie; in der

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I. Einleitung

Logik resultiert die identische Operation in der Ausgangsgröße. Identität i.S. von Einzigartigkeit findet sich im Eigennamen ebenso wie in dem, was durch die identity-card, den Personalausweis bezeichnet wird. Psychologisch begegnet einem dieser Aspekt von Identität in dem menschlichen Bestreben, sich von anderen zu unterscheiden, sich zu distinguieren. Der Gegenpol ist der der Identifizierbarkeit über die Gleichheit mit Anderen, die einer selben Kategorie zugehören. So gehört zur menschlichen Identität wesentlich die Zugehörigkeit zur Gruppe der Menschen, zu einem Geschlecht, zu einer Generation. Diese Zugehörigkeiten sind also über soziale Gruppen bzw. soziale Rollen definiert. 2. Zeitliche, diachrone Selbstgleichheit: Die Kontinuität einer Person mit sich selbst im Verlaufe der Zeit bewegt sich zwischen den Polen totaler Erstarrung und ständiger völliger Veränderung. 3. Situative, synchrone Selbstgleichheit: Selbstkonsistenz bezieht sich auf Gleichheit in verschiedenen sozialen oder affektiven Situationen; auch hier ist eine völlige Selbstgleichheit, als eine Unflexibilität, genausowenig erstrebenswert wie eine chamäleonhafte Anpassung an Situationen. Der psychologische Begriff der Identität der Person meint, wenn von diachroner und synchroner Selbstgleichheit die Rede ist, also nicht Unveränderbarkeit, sondern den Erhalt des Gleichen im Wandel. Der Begriff der Individualität ist mit dem der Identität verwandt und bezeichnet einen Aspekt der Identität der Person, der sich aus der ersten und der dritten Komponente zusammensetzt. Individualität bezeichnet heute primär die Distinktheit einer Person; die Etymologie des Wortes verweist auf die Bedeutung der Unteilbarkeit einer Person, d.h. psychologisch ihre Abgegrenztheit und innere Konsistenz. Die Wortfamilie steht für die spezifisch moderne Interpretation von Identität. 4. Neben diesen klassischen Aspekten des psychologischen Identitätsbegriffs sind weitere zu nennen, die weniger mit nicht-psychologischen Identitätsbegriffen gemein haben. Zum modernen Begriff von Identität gehört zentral der der Autonomie. Er bezieht sich auf die Quelle von Handlungen, die Fähigkeit, Absichten auszubilden und die eigenen Handlungen zu lenken. Da die Person sich jedoch nicht selbst zu erzeugen vermag, ist sie für die Herausbildung ihrer Identität auf die Umwelt angewiesen. Auf einer organismischen Ebene hat Piaget diese Dialektik von Anpassung und Selbstbehauptung als die zwischen der Assimilation der Umwelt an die Handlungsstrukturen des Organismus und die der Akkomodation der Handlungsstrukturen an die Strukturen der Umwelt beschrieben; in der Psychoanalyse wird analog von auto- und alloplastischer Anpassung gesprochen. Bezogen auf die Identität der Person bedeutet dies nicht nur, daß sie sich im Wechselspiel von Fremd- und Selbstbestimmung entwickelt. Grundlegender noch gehört die Fähigkeit, Handlungen zu initiieren und

3. Identität und Perspektivenübernahme

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erfolgreich auf die Umwelt einzuwirken, und nicht lediglich reagierend den Umweltvorgaben ausgeliefert zu sein, zur psychologischen Identität. 5. Materielle Basis der psychosozialen Identität ist der Körper. Alle bislang aufgeführten Eigenschaften von Identität gelten in besonderem Maße für den eigenen Körper. Eine gelungene körperbezogene Identität äußert sich darin, sich in dem eigenen Körper wohl und zuhause zu fühlen. 6. Eine weitere psychologisch zentrale Dimension der Identität ist eine evaluative, die aus den Ausprägungen der bislang genannten fünf Identitätsaspekte resultiert. Zur Identität gehört die Wertschätzung der Person, die weder zu negativ noch zu überhöht sein darf, um nicht zu Identitätsstörungen zu fähren. Denn ein zu geringes Selbstwertgefühl lähmt jegliche Initiative, ein überhöhtes Selbstwertgefühl unterminiert jegliches Motiv zu lernen und kann nur auf Kosten einer stärkeren Verzerrung der Realitätswahrnehmung Zustandekommen. 7. Schließlich sind zwei Erfahrungsweisen der Identität der eigenen Person zu unterscheiden: zum einen läßt die Identität einer Person sich explizit bestimmen, und zwar aus einer Außenperspektive, der Perspektive einer anderen Person, ob diese nun tatsächlich von einer anderen Person oder von der Person selbst selbstreflexiv eingenommen wird. Von dieser objektiven Identität ist die subjektive Identität zu unterscheiden, die unmittelbare, nicht-reflektierte Erfahrung der eigenen Identität, das Selbst- oder Ichgefuhl. Letztere wird für gewöhnlich nicht positiv wahrgenommen, sondern erst in solchen Situationen, in denen die Identität gestört ist. Psychosoziale Identität, verstanden als Prozeß, impliziert den Mechanismus der Perspektivenübernahme. Er ermöglicht es, die Identitätszuweisungen anderer zu verstehen und antizipieren, und er ermöglicht es, sich gegenüber sich selbst zu verhalten, die eigene Identität zu entwerfen und verändern und sie den anderen zur Bestätigung anzubieten. Dieses Vorverständnis von einem Begriff der psychosozialen Identität wird im Laufe der folgenden Erörterungen zu konkretisieren sein. Besonders berücksichtigt werden solche Theorien, die versprechen, über die Rolle von Dingen in der Entstehung und Aufrechterhaltung von Identität Aufschluß zu geben. Auf den Mechanismus der Perspektivenübernahme werden wir erst im fünften Kapitel im Kontext von Theorien zu sprechen kommen, die Identität in Termini der symbolischen Interaktion begreifen. Dort wird der Begriff bezüglich des Umgangs mit persönlichen Objekten spezifiziert und erweitert werden.

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I. Einleitung

4. Ausblick Die folgenden fünf Kapitel sind der theoretischen Einkreisung und sukzessiven Bestimmung des Phänomens persönlicher Objekte gewidmet. Im siebten Kapitel erläutere ich Probleme des empirischen Zugangs, die sich aus Eigenschaften persönlicher Objekte ergeben, berichte bisherige Untersuchungsergebnisse und versuche abschließend eine theoretische Integration. Ziel dieses Buches ist es, die psychologische Bedeutung persönlicher Objekte theoretisch zu fassen und im Gebäude psychologischer Theorien zu verankern. Deshalb beginnen alle Kapitel mit grundlagentheoretischen Erwägungen anhand von Klassikern der Psychologie. Diese Deutungen geben jeweils den Leitfaden vor für die folgende Sichtung kleinteiliger Theoreme und Untersuchungen zu relevanten Phänomenen. Dabei werden persönliche Objekte erst gegen Ende des Buches selbst immer mehr zum Thema werden, während ich zuvor relevante theoretische Kontexte und vergleichbare Phänomene behandeln werde. Die zentralen Perspektiven auf persönliche Objekte sind psychologischer Natur. Doch werde ich, wenn es sich anbietet, auch Seitenblicke auf Nachbardisziplinen werfen, um die psychologische Perspektive in ihren Kontext zu stellen und zu verdeutlichen, welche nicht-psychologischen Aspekte persönlicher Objekte hier vernachlässigt werden. Im zweiten Kapitel beginne ich mit einer Art Exkurs zu einem Thema, das häufiger in der Psychologie behandelt wird und mit dem persönliche Objekte manchmal gleichgesetzt werden, zu Besitz. William James' Versuch, Besitz dazu zu verwenden, eine nicht-idealistische Psychologie der Person zu begründen, wird kritisch vorgestellt. Linguistische, soziale und juristische Aspekte von Besitz werden gesichtet, um einen psychologischen Bedeutungskern von Besitz zu explizieren. Zugleich betone ich die Besonderheit von Besitz, die ihn von persönlichen Objekten unterscheidet. Mit dem dritten Kapitel beginnt die systematische Untersuchung, und zwar mit dem beschränkten Blick auf die solitäre Beziehung zwischen Person und Ding, genauer gesagt auf das Selbsterleben der Person in Bezug auf Dinge. Der soeben eingeführte Identitätsbegriff wird in seinen subjektiven Manifestationen beschrieben, Lebendigkeit und Vertrautheit sowie die Selbstabgrenzung als diejenigen Elemente des Selbsterlebens erörtert, die sich auf Dinge beziehen mögen. Hier führe ich in ein sehr allgemeines Motivationsmodell des Aktivationsniveaus ein. Im vierten Kapitel weitet sich der Blick auf das in seiner Umwelt situierte Individuum, eine Beziehung, die erst einmal räumlich aufgefaßt werden wird. Lewins Feldmodell und Bowlbys Theorie der räumlichen Bindung des Kleinkindes an die Mutter werden auf ihre Implikationen für persönliche Objekte untersucht. Daran schließen Studien persönlicher

4. Ausblick

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Räume und Orte an, in deren Kontext das Phänomen der Privatsphäre und die Bedeutung des Alleinseins von besonderer Relevanz sind. Schließlich bieten sich räumliche Übergänge als privilegierte Gelegenheiten an, die Beziehung der Person zu ihrer räumlichen Umwelt zu studieren; die Adoleszenz wird hier als Phase des räumlichen wie nichträumlichen Übergangs exmplarisch vorgestellt. Das zentrale fünfte Kapitel beschäftigt sich mit dem, was im vierten Kapitel noch mühsam ausgeklammert blieb, der symbolischen Beziehung zwischen Person und Dingen. Gerade bei diesem Thema scheint es unerläßlich, andere Perspektiven wie linguistische, soziologische und kulturanthropologische zumindest anzudeuten, um den Ort psychologischer Deutungen symbolischer Objekte zu bestimmen. Vygotskys kultur- und entwicklungspsychologische sowie Meads sozialpsychologische Theorie bieten Begriffe und Anregungen, um symbolische Bedeutungen persönlicher Objekte zu systematisieren und explizieren. Der Begriff der Perspektivenübernahme erlaubt eine Dreiteilung der symbolischen Funktionen persönlicher Objekte in ihrer Verwendung zum Zwecke des öffentlichen Signalisierens von Identität, der privaten Auseinandersetzung mit der eigenen Person sowie des Erinnerns, die einzeln diskutiert werden und abschließend erneut auf den Begriff der Perspektivenübernahme zu beziehen sind. Im sechsten Kapitel situiere ich persönliche Objekte in persönliche, und damit immer affektiv bestimmte Beziehungen zu signifikanten Anderen. Der psychoanalytische Symbolbegriff wird gestreift und psychoanalytische Modelle der Persönlichkeit soweit präsentiert, wie es für ein Verständnis persönlicher Objekte von Nutzen ist. Winnicotts Begriff des Übergangsobjekts erweist sich als zwar überinklusiver, aber brauchbarer Bündelungspunkt für die bisherigen Überlegungen. Davon ausgehend vergleiche ich persönliche Beziehungen zu Dingen mit denen zu Menschen und prüfe, ob sie aufeinander zu beziehen sind. Schließlich streiche ich die Rolle persönlicher Objekte für Phantasie und Kreativität hervor. Das letzte Kapitel ist zentral dem persönlichen Objekt gewidmet. Zuerst systematisiere ich die im Lauf der Diskussion genannten spezifischen Funktionen persönlicher Objekte in einer Funktionstaxonomie. Methodologische Erwägungen leiten über zu einem Überblick über dem persönlichen Objekt gewidmete Untersuchungen, und prüfe sie auf ihre Relevanz für die bis dahin entwickelten Thesen zum persönlichen Objekt. Das Buch schließt mit einer theoretischen Synthese des hier entwickelten psychologischen Begriffs des persönlichen Objekts.

IL Besitz als Teil der Person

Ein von der Psychologie behandeltes, persönlichen Objekten verwandtes Thema ist das des Besitzes. Manche Autoren behandeln persönliche Objekte gar unter dem Titel des Besitzes (Belk, 1988; 1992). Dieses Kapitel ist der systematischen Untersuchung persönlicher Objekte exkursartig vorangestellt, um eine erste Abgrenzung und zugleich Annäherung an das Thema vorzunehmen. Dabei gehe ich von den Überlegungen eines der ersten Psychologen, William James, aus (1.), gebe die sozialen und juristischen Begriffe von Besitz zu bedenken (2.), um von diesen den psychologischen Bedeutungskern von Besitz zu unterscheiden (3 ).

1. William James: Persönliche Habe als Konstituens der Person 1.1 James'Begründung einer empirischen Psychologie der Selbstkenntnis Der Begründer der amerikanischen Psychologie, William James, hatte in Deutschland Philosophie und Psychologie, unter anderem bei Wilhelm Wundt studiert, so daß er mit der deutschen Philosophie wie mit der angelsächsischen vertraut war. Sein Versuch, in eine wissenschaftliche Psychologie eine empirische des seif, des Selbstbewußtseins (1890) miteinzubeziehen, eignet sich als Ausgangspunkt für die Frage nach dem Zusammenhang von persönlichen Objekten und Identität. James sucht die Lösung der Frage nach der Konstitution des Selbstbewußtseins jenseits transzendentalphilosophischer und empiristisch-assoziationistischer Begründungen in einer empirischen Psychologie, die sich auf den präreflexiven Gedankenstrom und seine Objekte gründet. James formuliert die philosophische Frage nach der Möglichkeit des Selbstbewußtseins in eine psychologische Frage nach dem seif, dem Selbst, um. Er kreiert eine neue Entität, um den selbstgenügsam klingenden idealistischen Begriff des Ichs zu vermeiden. Mit der Begriffswahl betont James die intentionale Struktur jeglicher Erkenntnis, mithin auch

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II. Besitz als Teil der Person

der Selbsterkenntnis, die immer auf ein Anderes, ein Objekt gerichtet ist: Ich erkenne mich selbst (vgl. Linschoten, 1959). Empirisch gegeben, und allein damit kann die Psychologie sich beschäftigen, sei nicht ein 'reines Ich', sondern der Bewußtseinsstrom. Dieser jedoch ist mal erst nicht selbstreflexiv, erkennt nicht sich selbst. Gedanken sind immer kognitiv, d.h. Bewußtsein von etwas: "Was der Gedanke erblickt, ist lediglich sein eigenes Objekt" (James, 1890/1950, I, 197). Der ursprüngliche Modus der Erfahrung ist das reine Erleben (pure experience). "Es ist weder Objekt noch Subjekt, sondern die reine, uneingeschränkte Existenz, das Gegebene, ein einzelnes Das" (James, 1904/1912, 74). In diesem Erkenntnismodus, z.B. bei Säuglingen oder im Zustand des graduellen Bewußtseinsverlusts bei einer Anästhesie, wird das Erleben von keinem Bewußtsein eines Subjekts begleitet, es gibt kein Innen oder Außen. Selbstreflexiv wird Erkenntnis erst retrospektiv (oder antizipierend), wenn die Person an einen bereits gedachten Gedanken denkt. Momentaner (I) und vergangener Gedanke (Teil des Me) sind aber empirische Phänomene, nämlich Momente des Bewußtseinsstroms (James, 1890/1950,1, 371). James begründet jedoch nicht mehr, weshalb er der idealistischen Philosophie noch soweit verhaftet bleibt, daß er die selbstreflexive Erkenntnis zur neuen Entität, zum neuen Objekt der Psychologie kürt, und nicht die Erkennntis der anderen Person - also ein Dich - , was sowohl seinem Erkenntnisbegriff eher entspräche als auch einer auf Empirie angewiesenen Wissenschaft. Lediglich des eindeutigen Bezugs auf James und ihm folgende Autoren halber wird im folgenden der Begriff des Selbst benutzt werden. Da die Psychologie sich als empirische Wissenschaft versteht, und da Erkenntnis strukturell sich immer auf ein Anderes richtet, hat die Psychologie der Selbsterkenntnis bei dem empirischen Selbst zu beginnen. Von Beginn an verwischt James deshalb die Grenze zwischen Personalund Possessivpronomen, zwischen Person und dem zu ihr Gehörigen. Er konzipiert das empirische Selbst als "alles, was man als sich selbst (me) bezeichnen kann. Aber ganz offensichtlich ist es schwierig, zwischen dem, was man als sich selbst (me) und dem, was man als das Seinige (mine) bezeichnet, eine Trennungslinie zu ziehen". James begründet die mangelnde Unterscheidbarkeit zugleich motivational wie praktisch: Wir hegen gegenüber dem uns Gehörenden ähnliche Gefühle und handeln ihm gegenüber ähnlich wie gegenüber uns selbst. "Unser Ruf, unsere Kinder, unsere Werke können uns genauso am Herzen liegen wie unser Körper, und sie rufen, wenn sie angegriffen werden, dieselben Gefühle und Racheakte hervor" (ebd., I, 291). Gleich zu Beginn des Kapitels über das Selbstbewußtsein bedient sich James eines Kniffs, der seine Konstruktion des Selbst solider erscheinen läßt als sie in Wirklichkeit ist: Er dreht die Reihenfolge seiner Argumentation um und beginnt die ausführliche Diskussion des Selbst mit seinen

1. William James

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Konstituenten, die jedoch argumentationslogisch nicht die Basis seines Selbstbegriffs bilden, sondern abgeleitet sind von selbstbezogenen Gefühlen und Handlungen: Alle auch nur möglichen Objekte letzterer erklärt er zu den Konstituenten des Selbst (ebd., 290f.). Dieser Umstellung folgen wir hier nicht, sondern lieber der logischen Entwicklung der Argumentation James'. Die wichtigsten selbstbezogenen Gefühle sind für James solche der Selbstzufriedenheit und der Unzufriedenheit mit sich selbst, der Selbsterniedrigung. Dazu gehören einerseits Stolz, Einbildung, Eitelkeit, Selbstbewußtsein und Überheblichkeit, andererseits Bescheidenheit, Demut, Verwirrung, Schüchternheit, Scham, Kränkung, Reue, die Gefühle der Schmach und der Verzweiflung (ebd., 306). Ausgelöst werden solche selbstbezogenen, genauer selbstevaluativen Gefühle gewöhnlich durch Erfolge bzw. Mißerfolge. Auf die eigene Person bezogene Handlungen seien immer solche der Selbsterhaltung bzw. Selbstsucht. James unterteilt die Handlungen in materielle, soziale und geistige Selbstsucht: der physischen Selbsterhaltung dienende Handlungen, das fundamentale Streben nach Anerkennung durch andere Personen sowie schließlich das Streben nach Selbstperfektionierung (ebd., 307ff.). Analog gliedert James sodann die Konstituenten des Selbst und verweist je auf die selbstbezogenen Gefühle oder Handlungen, die sich auf diese Konstituenten beziehen. Das materielle Selbst besteht hauptsächlich aus dem Körper, dann den Kleidern, die wir uns aneignen und mit denen wir ins identifizieren. Als nächstes gehört hierzu die Familie. Wenn ein Familienmitglied stirbt, ist uns, als stürbe ein Teil unserer selbst, begeht es einen Fehler, schämen wir uns, und wird es beleidigt, ärgern wir uns nicht minder als wären wir selbst das Opfer. Sodann ist unser Heim, unser Zimmer, Wohnung oder Haus, Teil des materiellen Selbst: es erweckt die zartesten Gefühle in uns, und wir vergeben dem Fremden nur schwer, der sich über die Einrichtung mokiert. Schließlich ist der weitere Besitz zu nennen, vor allem solcher, in dem unsere Arbeit steckt, so beispielsweise in Sammlungen. Verlieren wir Besitz, schrumpft unsere Person in sich zusammen, ein Teil von uns verwandelt sich in Nichts; verlieren wir das Ergebnis unserer lebenslangen Arbeit, fühlen wir uns persönlich vernichtet. Andererseits nötigen uns, trotz all unserer antisnobbistischen Prinzipien, reiche und mächtige Menschen Respekt ab. Das soziale Selbst besteht aus der Anerkennung, die andere Personen uns zollen, aber auch aus den Antworten von Orten und Dingen (ebd., 308). Der Mensch verfüge über so viele soziale Selbstaspekte wie es Personen und Gruppen gibt, die ihn anerkennen. Das geistige Selbst umfaßt die geistigen Fähigkeiten und Dispositionen der Person. Schließlich gibt es noch einen Kern des Selbst, den in den Bewußtseinsstrom eingebetteten vergehenden Gedanken (den James weiter unten als I bezeichnet). Er ist

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n. Besitz als Teil der Person

aktiv auf die Außenwelt gerichtet, interessiert, d.h. er wertet, und der Ursprung der Aufmerksamkeit und des Willens (ebd., 292-296). Nun gehören diese Bausteine des Selbst nicht notwendigerweise und immer auf die gleiche Weise zum Selbst. Selbstbezogene Gefühle und Handlungen können sich auf all diese Elemente beziehen, müssen es aber nicht. Auf welche und wieviele Objekte selbstgerichtete Gefühle und Handlungen sich beziehen, bestimmen die Ansprüche der Person. Nur wenn eine Person Ansprüche gegenüber einem Objekts hegt, kann dieses selbstbezogene Gefühle auslösen und mithin zum Selbst gehören (ebd., 310). Demzufolge kann man eine Person auch nur dann zu einer Handlung motivieren, wenn sie Interessen im Spiel hat, so daß selbstbezogene Gefühle angesprochen werden können. Eine radikale Strategie, sich jeglichem Einfluß zu entziehen, besteht darin, auf alles, was fremdem Einfluß offen steht, zu verzichten, sich also radikal zu enteignen. James nennt diese eine stoische Haltung: Alle engherzigen Personen verschanzen sich, indem sie ihr Selbst von all dem zurückziehen, was sie nicht ganz sicher besitzen können. Hingegen öffnen weitherzige Personen ihr Selbst, und schließen fast alles in ihr Selbst ein, so daß dessen Grenzen oft mehr als unscharf werden (ebd., 311f.). Da Ausmaß und Umfang des Selbst fluktuieren, bleibt keine andere Möglichkeit als das Selbst als Potential zu definieren, nämlich über seine größtmögliche Ausdehnung: "In dem weitestmöglichen Sinn ist das Selbst einer Person die Gesamtsumme all dessen, das die Person ihr eigen nennen kann" (ebd., 291). Welches Kriterium entscheidet aber darüber, was die Person sich aneignet und was nicht, was also zum empirischen Selbst gehört? James gibt überraschenderweise eine motivationspsychologische Antwort: All jene Dinge eigne ich mir an, die mich stark interessieren. Und das Interesse ist immer letztendlich zurückflihrbar auf Dinge, die körperliche Bedürfnisse befriedigen (ebd., 324). Um also ein Selbst haben zu können, um dessen Wohl ich besorgt bin, "muß die Natur mir erst einmal ein Objekt anbieten, das interessant genug ist, daß ich instinktiv wünsche, es mir um seiner selbst willen anzueignen [...]. Unser Bewußtsein behandelt diese Objekte als die primordialen Konstituenten seines Selbst [...]. Die selbstreflexiven Pronomina Selbst und Mich [...] bezeichnen mithin all jene Objekte, die es vermögen, im Bewußtsein eine ganz bestimmte Erregung hervorzurufen" (ebd., 319). Diese Art von Interesse konstituiere den eigentlichen semantischen Kern des Possesivpronomens der ersten Person Mein (ebd., 324). Selbstsucht und Selbstliebe beziehen sich also stets auf Objekte, nicht auf das Subjekt der Selbstliebe. Aber nicht allein der praktische Nutzen von uns gehörenden Dingen evoziert Interesse, das zur Aneignung motiviert; bereits allein die Ver-

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trautheit mit bestimmten Dingen, die mit ihnen verknüpften Erinnerungen und die durch sie wachgerufenen praktischen Hoffnungen und Erwartungen lassen uns diese Dinge besonders lebendig sein. "Wir können zusammenfassen, daß ein ursprüngliches Selbstgefühl nie und nimmer die leidenschaftliche Wärme unserer selbstbezogenen Gefühle zu erklären vermöchte, die sich, ganz im Gegenteil, direkt auf weniger abstrakte und inhaltsleere spezielle Dinge richten müssen" (ebd., 327). James unterscheidet nun von dem bislang definierten Selbst, das er als Me bezeichnet, und das eigentlich die empirische Person meint, ein I, das transzendentale Ich Kants, das James zu dem vergehenden Gedanken macht, dem bereits erwähnten Kern des Selbst (ebd., 371). Er braucht es, um die persönliche Identität einer Person zu konstruieren. Die Kontinuität mit sich selbst erfordert bezüglich der eigenen Person, des Me, ein Identitätsurteil, das sich in keiner Weise von beliebigen anderen Identitätsurteilen unterscheidet. Die Identität des I mit den älteren und zukünftigen I erfordert jedoch einen anderen Mechanismus, da es eben nicht unmittelbar erfahrbar ist. Vergangene Gedanken (I) werden als eigene erkannt, da sie sich durch eine ihnen eigene "Körperwärme und Intimität" auszeichnen, die von dem jeden Gedanken begleitenden kinästhetischen Empfinden des eigenen Körpers und den das Denken begleitenden minimalen körperlichen Bewegungen herrührt (ebd., 299ff.). Die Einheit der verschiedenen gegenwärtigen Teile des Selbst ist immer eine potentielle, und erst der aktive Gedanke (I) aktualisiert sie, indem er sich, bzw. besser dem Kern des Selbst, den erwähnten körperlichen Empfindungen, die verschiedenen Teile des Selbst aneignet. Die vergangenen und zukünftigen Teile des Selbst eignet sich der Gedanke an, indem er die vorangegangenen Gedanken beerbt und seinerseits an den zukünftigen Gedanken weitervererbt (ebd., 336-340). Beispiele für Beeinträchtigungen der persönlichen Identität finden sich in der Psychopathologie, einerseits in Veränderungen des Gedächtnisses, die das vergangene Me verändern, oder in Veränderungen des gegenwärtigen Me. Dazu zählt James Entfremdungszusfände, wie sie in der Adoleszenz aufgrund der schnellen Veränderung der Person auftreten (Depersonalisation), dissoziative Phänomene wie hysterische Dämmerzustände, Trance und multiple Persönlichkeiten sowie Besessenheit, z.B. bei Medien.

1.2 Kriterien der Ausdehnung des Selbst William James zählt also die Besitztümer, die zur Person gehörenden Gegenstände und Angehörigen zum Selbst. Dazu sah er sich erst einmal aus

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n. Besitz als Teil der Person

strategischen, nämlich erkenntnistheoretischen und methodischen Gründen gezwungen: aus erkenntnistheoretischen, da er einen Ausweg aus dem Dilemma zwischen idealistischer und empiristischer Philosophie suchte, und dazu die Selbstreflexion von der zweistelligen Objekterkenntnis ableitete, was impliziert, daß man sich selbst erst mal so kennt wie man andere erkennt; aus methodischen Gründen, da er die Psychologie als eine empirische Wissenschaft verstand, die sich nicht mit Argumenten zufrieden gibt, sondern auf Erfahrungstatsachen aufzubauen hat, also Wahrnehmungen, Gefühlen, Handlungen. Da James keine Aussagen über die Funktionen von Gegenständen für das Selbst oder die Person macht, sondern sich lediglich mit der Zugehörigkeit von Gegenständen zu der Person beschäftigt, interessieren uns hier die Kriterien, aufgrund derer James dann im Einzelnen die Zugehörigkeit von Objekten zu dem Selbst der Person bestimmt. Als wichtigstes Kriterium nennt er selbstbezogene Gefühle und Handlungen, in erster Linie selbstevaluative Gefühle wie Stolz oder Scham. Ein eher implizites Kriterium ist das des schwer faßbaren, aber doch erfahrenen Ich- oder Selbstgefühls, wie sich vor allem in den Beispielen zu Störungen der persönlichen Identität zeigt. Problematisch wird es, wenn James versucht zu erklären, welche Objekte, Personen oder Orte nun zum Selbst einer bestimmten Person gehören, was er mit der Intensität des Interesses der Person an den jeweiligen Objekten erklärt. Diese Erklärung vermag nicht ohne weiteres zu überzeugen, denn nicht jedes interessante Objekt gehört zur Person, beispielsweise nicht die Kirschen in des Nachbarn Garten (die uns jedoch, meint James, solange vergällt sind als sie noch nicht die unsrigen sind ebd., II, 422). Eher schon fordern interessante Objekte dazu auf, sie sich erst noch anzueignen. Gelingt die Aneignung nicht, kann das Objekt dennoch interessant bleiben, und ist das Objekt einmal im eigenen Besitz, mag es uninteressant werden. Man kann auch nicht sagen, daß man auf alle interessanten Objekte stolz sein kann. Noch problematischer wird der Rekurs auf das Interesse als Kriterium dafür, was als zur eigenen Person gehörig erlebt wird, wenn man James' Erklärung des Wirklichkeitsgefühls, nämlich ebenfalls durch das Interesse, hinzuzieht: Dinge werden als umso wirklicher erlebt, je stärker sie unser Interesse hervorrufen (ebd., II, 295). So bleibt unentschieden, ob Interesse uns Dinge lediglich lebendig und damit wirklich werden, oder aber darüber hinaus sie auch als zu uns gehörig erscheinen läßt. Als zweite Erklärung für die Ausdehnung des empirischen Selbst bietet James die Vertrautheit mit einem Objekt oder einer Person an. Dieses Kriterium funktioniert schon besser, aber eigentlich nur als meist notwendiges, nicht aber als hinreichendes. Die Konstruktion der Zugehörigkeit von Dingen, Personen und Orten zum Selbst legt eine Auffassung vom Selbst als räumlicher Einheit nahe. James läßt eine räumliche Auffassung vom Selbst in der Tat wiederholt

1. William James

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anklingen. James' Selbst kann sich ausdehnen und zusammenziehen, sich mehr oder weniger Objekte aneignen sowie deutlichere oder schwächere Grenzen haben kann. "Eine Person mit ausgedehntem empirischem Ich" ist also eine mit viel Besitz, Macht, Ansprüchen und einem überwiegend positiven Gefühl gegenüber sich selbst (ebd., I, 306). Verliert ein Mensch ihm teure Gegenstände, empfindet er dies als ein "Schrumpfen seiner der Person" (ebd., 293). Stoische Menschen kontrahieren ihr Selbst, ziehen es aus den Regionen zurück, die sie nicht sicher unter ihrer Kontrolle wissen (ebd., 312). Folgerichtig spricht James auch von den Selbstgrenzen (outlines of seif - S.313), die weiter oder enger, markant oder undeutlich sein können. Eine räumliche Auffassung vom Selbst geht plausiblerweise vom Körper als dem Zentrum des Selbst aus. Zugleich setzt sie die Nähe zum Selbst mit dem Ausmaß der Zugehörigkeit zum Selbst gleich, was umso weniger überzeugt, je intelligenter, und das heißt weniger an das konkret sinnlich Gegebene die Person gebunden ist. Schließlich bezeichnet James all das, was Teil des Selbst ist, als zum Selbst gehörend, als das Seine, als seinen Besitz. Er benutzt hier drei Begriffe mit durchaus unterschiedlichen Bedeutungsnuancen, die nicht durchgehend mit James' Verwendung übereinstimmen. Zu jemandem zu gehören kann sowohl ein Teil-Ganzes-Verhältnis ausdrücken als auch eine sehr enge Verbindung. Besitz bezieht sich gewöhnlich nur auf Gegenstände, manchmal auf Orte, nicht aber auf Personen. Das Possessivpronomen schließlich drückt mehr eine spezielle Beziehung, nicht aber eine Zugehörigkeit oder gar ein Besitzverhältnis aus; es ist auch auf Objekte anwendbar, die man nicht mehr dem Selbst einer Person zurechnen würde, wie z.B. auf meinen Feind. Alle drei Begriffe sind jedenfalls vorerst noch zu wenig bestimmt, als daß sie ein Kriterium für das, was zum Selbst gehören kann, abzugeben vermöchten. James' Konzeption des Selbst wurde in der weiteren Geschichte der Psychologie nicht entscheidend revidiert. Entweder wurde sie übergangen oder es wurden einzelne Elemente herausgelöst und fruchtbringend weiter ausgearbeitet. Als Beispiele seien die Leistungsmotivationsforschung und die Psychologie des Selbstwertgefuhls genannt, die beide an James' Formel Selbstwertgefühl = Erfolg/Anspruch anknüpfen. Eine umfassende Rezeption des James'schen Selbst geleistet zu haben beanspruchen die Entwicklungspsychologen Dämon und Hart (1988), die den Rückgriff auf James nutzen, um über den inzwischen weitgehend reduzierten SelbstbegrifF in der Psychologie - Selbst als Theorie über sich selbst (Epstein, 1973) oder Konzept vom Selbst - hinauszukommen. Bei einem 60 Jahre jüngeren Klassiker der Persönlichkeitspsychologie, Gordon Allport, findet sich im Grunde keine wesentliche Neuerung gegenüber James; er baut seine Grundgedanken lediglich aus (1937), und tauft das Selbst, den Kern der Persönlichkeit, in Proprium um (1955).

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II. Besitz als Teil der Person

James nennt also mehrere Begründungen dafür, weshalb das zur Person Gehörige Teil der Person sei: Besitzverhältnis, Vertrautheit, Interesse, Narzißmus, Selbstgefühl, räumliche Nähe. Einigen der von ihm gestreiften Themen wenden wir uns nun unter der Überschrift des Besitzes zu, anderen später.

2. Der Begriff des Besitzes James ordnet persönliche Objekte der Identität zu, indem er Besitz als Teil des Selbst ausweist. Um diese einflußreiche Formulierung zu analysieren, wenden wir uns zunächst dem Begriff des Besitzes, insbesondere in seiner Beziehung zum Person- und Identitätsbegriff zu. Die Wahl möglichst verschiedener Zugänge wird am ehesten eine Annäherung an diesen nicht originär psychologischen Begriff erlauben, zu dem nur wenige psychologische Arbeiten vorliegen. In diesem Abschnitt werden wir die Bedeutung des Begriffs und Phänomens des Besitzes aus nichtpsychologischen Perspektiven einkreisen, um im nächsten Abschnitt die psychologischen Kernbedeutungen zu bestimmen. Nach einer Einführung in die Semantik von Besitzverhältnissen (2.1) sollen die sozialen Bedeutungen von Besitz aus ethologischer, ethnologischer, historisch-juristischer und historisch-philosophischer Perspektive beleuchtet werden (2.2).

2.1 Semantik und Syntax von Besitz Alle Sprachen verfugen über Konstruktionen, die ein Besitzverhältnis anzeigen. Zu unterscheiden ist zwischen drei Gruppen: Besitzverben, Genitivkonstruktionen und pronominalen Besitzausdrücken. Die wichtigsten Besitzverben sind in der deutschen Sprache haben, besitzen, gehören, im Englischen to have, to possess, to belong to, to own. In dieser Reihenfolge werden sie tendenziell spezifischer und ihre Konjugation regelmäßiger (Seiler, 1983, 64; Miller & Johnson-Laird, 1976, 565). Seiler zählt als semantische Merkmale Kontakt, Richtung, Ergebnis eines Erwerbs und Kontrolle auf. In Anlehnung an ein Experiment von Fillenbaum und Rapoport (1971) untersuchten Wagener & Pohl (1986) experimentell die semantische Struktur des Bedeutungsfeldes von Besitzverben im Deutschen und kamen zu ähnlichen Ergebnissen wie die beiden amerikanischen Forscher (s.a. Takane, 1980) für die englische Sprache: Demnach werden den beiden Besitzverben haben und besitzen am ehesten behalten, auflewahren und festhalten als ähnlich

2. Begriff des Besitzes

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zugeordnet, sowie außerdem verwenden {gehören wurde nicht untersucht). Besitzen ist also semantisch mit Halten (im Spanischen mit der Bedeutung haben), also körperlicher Kontrolle, und mit dem Verwenden eines Objekts verwandt, die beide eine räumliche Nähe zum Objekt voraussetzen. Das deutsche Verb haben bezeichnet entweder die Beziehung zwischen "etwas innerhalb einer ursprünglichen Ganzheit Auseinandergesetztem" oder stellt diesen Zusammenhang erst her (Graumann, 1987, 279). Die Beziehung ist immer asymmetrisch und intransitiv. Das Verb Sein behauptet die Existenz des Subjekts, und kann attributal ergänzt werden zu einer Aussage über die Identität des Subjekts; es werden ihm Eigenschaften, Zustände, Haltungen, Funktionen, Namen u.ä. zugeschrieben. Jedoch auch mit haben sind Aussagen über die Identität einer Person möglich; so können Aussagen über "Bestandteile, Zustände, Eigenschaften" (ebd., 276) getroffen werden. "Subjekt sein ist Objekte haben; daß ich wer bin, impliziert, daß ich etwas habe" (ebd., 1987, 282). Lyons (1968) äußert gar die Vermutung, daß die Konstruktionen mit haben tiefenstrukturell auf Genitivkonstruktionen mit sein zurückzufuhren seien (Anna hat einen Hut auf Der Hut ist Annas - vgl. Bendix, 1966; 1971). Doch haben verlangt im Satz eine Ergänzung durch ein Substantiv, sein kann mit einem Adjektiv ergänzt werden; letztere bezeichnen Aspekte eines Subjekts, jene typischerweise ein vom Subjekt Geschiedenes oder Scheidbares. So kann man die temporären affektiven Zustände Angst, Hunger und Wut haben, nicht aber die stabilen Eigenschaften Intelligenz, Schönheit, Reichtum (Clasen, 1981, zit,. nach Seiler, 1983), es sei denn, sie würden qualifiziert: Sie hat eine hohe Intelligenz (Graumann, 1987, 278). Besitzen verweist noch deutlicher als haben auf ein Anderes. Der Besitzer ist immer lebendig, genauer, ein Mensch, der Besitz meist unbelebt; der Besitzer ist das Gegebene (Topic), der Besitz das Neue (Comment). Besitzen drückt eine statische Beziehung aus. Die mit haben hergestellten Beziehung zielt auf etwas vom Ganzen Geschiedenes oder dem Subjekt Äußerliches. In der Linguistik unterscheidet man technisch veräußerlichen von unveräußerlichem Besitz: Unveräußerlicher Besitz enthält selbst einen Verweis auf eine Besitzrelation, kann nur benannt werden unter Verweis auf einen Besitzer (so kann man nicht ohne weiteres von einem Onkel sprechen, ohne darauf zu verweisen, wem er Onkel ist), veräußerlicher Besitz hingegen muß sprachlich erst hergestellt werden (Der Schuh gehört mir; Der Schuh ist meiner). Seiler (1983) spricht auch von inhärentem versus hergestelltem Besitz. In Sprachen, in denen dieser Unterschied gemacht wird, kann sprachlich unveräußerlicher Besitz sich auf Verwandtschaftsbeziehungen, Körperteile und Teile eines Ganzen beziehen. Fillmore (1968; zit. in Miller & Johnson-Laird, 1976) bezweifelt allerdings, daß es sich um eine universelle Unterscheidung handelt.

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II. Besitz als Teil der Person

Bei allen drei genannten Beispielen für in manchen Sprachen grammatikalisch unveräußerlichen Besitz handelt es sich um Besitzverhältnisse, die wohl in keiner Kultur auflösbar wären. Man kann sich von diesem Besitz nicht beliebig trennen. Nach heutigem Verständnis sowie den oben gegebenen Bestimmungen handelt es sich somit nicht um Besitz im engeren Sinne. Im Unterschied zum Besitz im engeren Sinne sind Verwandte Menschen. Verwandtschaftsbeziehungen sind konstitutiv für die Identität einer Person, wenn auch psychologisch und in früheren Gesellschaften mehr als sie es heute juristisch sind. Ein Aufgeben unveräußerlichen Besitzes würde die Identität des Besitzers auflösen. Auch Körperteile sind in gewissem Sinne belebt; vor allem aber sind sie Teil des Besitzers, und nicht eigentlich sein Besitz. Zwar kann man sich von einem Körperteil trennen, z.B. wenn er erkrankt ist; aber aus einem besessenen Körperteil wird dann nicht der Körperteil eines Anderen, wie sonst bei der Veräußerung eines Besitzes, er bleibt nicht einmal Körperteil, sondern verliert seine Identität und verfallt. Allein dem Wissenschaftler, in diesem Falle dem Anatom, kann ein nicht besessener Körperteil noch als solcher erscheinen. Allein in der literarischen Fiktion mag ein Körperteil, wie in Gogols Die Nase, zu Zwecken der Verfremdung den Besitzer wechseln. Der Sprachphilosoph Snare (1972) hat versucht, die alltagssprachliche Verwendung von Verben, analog zu Sprechakten, mittels konstitutiver Regeln zu definieren. Besitzen (to possess) definiere sich über drei Grundregeln: a) Es ist nicht falsch fiir Person A, Ding X zu gebrauchen, aber für andere, A daran zu hindern; b) Nur wenn A zustimmt, ist es fiir andere nicht falsch, X zu gebrauchen; c) A kann seine in a und b beschriebenen Rechte permanent übertragen. Wichtig ist im Moment die dritte Bestimmung dieser am modernen Begriff von Besitz orientierten Definition (s.u.). Für nicht in grammatikalischem, sondern semantischem Sinne unveräußerlichen Besitz gelten nur die beiden ersten, nicht die dritte Regel - die wohl zu ergänzen wäre durch die Möglichkeit, den Besitz einfach aufzugeben, das Objekt besitzerlos zu lassen. Weitere Beispiele für unveräußerlichen Besitz bieten Eigennamen und sakrale Objekte. Eigennamen ähneln Verwandschaftsbeziehungen, auf die sie sich meist beziehen; noch mehr als diese aber sind sie unauflöslich mit der Identität des Besitzers verbunden, die sie bezeichnen. Sakrale Objekte können persönliche oder claneigene Objekte sein, wie Talismane und Totems, die deshalb nicht veräußerlich sind. Oder sie gehören einer Gemeinde, dann sind sie zum einen unveräußerlich, weil sie keinen Markt-, sondern nur einen inhärenten Wert besitzen, der sich wiederum auf die Identität des Besitzers, hier der Gruppe, bezieht. Jhering (1869) verweist auf die römischen Rechtsinstitute der res sacra, res religiosa

2. Begriff des Besitzes

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und res publica, die der res extra commercium, den nicht eigentumsfahigen Dingen zugehörten. Das Thema der Veräußerlichkeit von Besitz werden wir weiter unten (2.2) erneut aufgreifen. Der Kasus des Genitiv und Possessivpronomina bezeichnen über Besitz im engeren Sinne sowie unveräußerlichen Besitz hinaus auch örtliche Beziehungen (Miller & Johnson-Laird, 1976; Ultan, 1978). Besonders zwischen Besitz- und räumlicher Beziehung besteht ein enger Zusammenhang, auf den schon die ursprüngliche Bedeutung des Wortes Besitz hinweist. Eve Clark (1978) geht sogar so weit, universell alle sprachlichen Besitzrelationen auf örtliche Bestimmungen zurückzufuhren! Die grammatische Rolle des Besitzers sei der eines belebten Ortes. Die vielfaltigen räumlichen Bezüge von Besitz werden in der Folge noch öfter gestreift, aber erst im vierten Kapitel endgültig thematisiert werden. Betrachten wir noch die Verwendung der Possessivpronomina, des bei James so zentralen Mein. Sie gehören zu den deiktischen Ausdrücken (Bühler, 1934), deren Bedeutung von der Position des Sprechers abhängig ist, von der aus er auf ein Element der Situation verweist. Zu ihnen gehören die Personal- und Demonstrativpronomina, manche zeitliche Bestimmungen wie jetzt, später, früher, örtliche Bestimmungen wie hier und dort, und einige Verben wie kommen und gehen. Viele frühe Entwicklungspsychologen interpretierten den Erwerb der Fähigkeit, ich und du sowie mein von dein zu unterscheiden, als Zeichen des Erwerbs der Fähigkeit, zwischen sich selbst und anderen zu unterscheiden. So identifizierte James Mark Baldwin als Vorläufer des Erwerbs der Personalpronomina erster und zweiter Person den Erwerb der Possessivpronomina: "Es ist mein Spielzeug versus dein Spielzeug, meine Handlung gegen deine Handlung, meine Stimme gegen deine Stimme. Die erste Person ist für gewöhnlich possessiv" (Baldwin, 1899, 265; s.a. Kline & France, 1898; für weitere frühe Quellen s. Clark, 1977). Auch James scheint einer solchen Auffassung nicht ganz abhold zu sein. Diese einfache Annahme wurde bereits von William Stern (1928, 427) kritisiert, weil sie dem Spracherwerb inhärente Faktoren vernachlässige. Fay und Schuler (1980) präzisieren die Kritik dahingehend, daß das Sprachverständnis der Sprachproduktion vorausgehe, und mithin die Produktion von Possessivpronomina ihr Verständnis und eine Differenzierung der eigenen von anderen Personen bereits voraussetze. Der Prozeß der Individuation ist ohnehin ein gradueller, so daß es sinnlos erscheint, ihn an den Erwerb von Possessivpronomina zu binden. Eve Clark (1977) nennt drei Voraussetzungen für die Entwicklung der Fähigkeit zur Verwendung deiktischer Ausdrücke: Objektpermanenz, Individuation und Identifizierung von Klassen von Objekten. Nach Clark erlernen Kinder typischerweise den Wechsel des Bezugsrahmens für deiktische Begriffe beim Sprecherwechsel zuerst an dem Personalpronomina, und generalisieren ihn dann auf Possessivpronomina (1977, 102). Der hier auf linguistischer Ebene erlernte Perspektivwechsel be-

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II. Besitz als Teil der Person

trifft sowohl Personal- wie Possessivpronomina. Besitzrelationen sind also perspektivenabhängig, und damit, wie James meint, immer auf die eigene Perspektive und damit das Selbst bezogen, nur daß James Besitz lediglich aus der Perspektive der ersten, nicht aber der zweiten oder dritten Person betrachtet. Interessante Aufschlüsse über Bedeutungaspekte von Possessivpronomina gibt eine Beobachtung Deutschs (1984): Anfangs benutzten die beiden von Brown beobachteten Kinder Adam und Eve zwei Formen der Besitzanzeige, eine nominale {Hans' Auto) und eine pronominale (mein Auto), und zwar in unterschiedlicher Funktion. Die nominale Form wurde in indikativer Absicht benutzt, der Besitzer des Objekts quasi als sein Attribut betrachtet, die pronominale in volitionaler Funktion, um den Wunsch nach einem Objekt, das auch von jemand anderem begehrt wird, auszudrücken. Die Fähigkeit, Objekte einer Person zuzuordnen (konstative Funktion), fanden auch Rodgon und Rashman (1976) bei 14bis 32-monatigen Kleinkindern bereits entwickelt. Noch bevor Kinder selbst aktiv über besitzanzeigende linguistische Fähigkeiten verfugen, nämlich gleich zu Beginn des Auftretens von Zwei-Wort-Äußerungen, verstehen sie bereits solche Äußerungen (Markessini & Golinkoff, 1980). Besitz in dem weiten, von Possessivpronomina angezeigten Sinn bedeutet gleich-ursprünglich a) deskriptiv die Zuordnung von, um eine räumliche Metapher zu verwenden, Sachen zu Standpunkten in einem perspektivisch strukturierten Raum, und b) eine auf die Sache gerichtete Intention oder besser Anspruch, die gegen andere Handelnde erhoben wird, und auf eine Zuordnung zur eigenen Person zielt (s. 2.3).

2.2 Soziale Bedeutungen von Besitz So selten Besitz in der neueren psychologischen Literatur thematisiert wird, so gerne greifen Autoren auf die kaum zahlreicheren älteren Arbeiten zurück, die meist von einem komparatistischen Gesichtspunkt ausgehen (Kline & France, 1899; Beaglehole, 1932). Zuletzt hatte Heinz Werner (1940) sich an einer Komparativen Psychologie versucht, die darauf zielt, einheitliche Entwicklungsprinzipien in Phylo- und Ontogenese mittels des Vergleichs "primitiver" mentaler Mechanismen bei Tieren, primitiven Völkern, Verrückten und Kindern zu identifizieren. Aber auch eine andere Tradition verleitet zur komparatistischen Sichtweise, nämlich die mit den Naturrechtsphilosophien aufgekommene Tendenz, die Institution Besitz in eine allein von Gott oder später biologisch gegebene und damit legitimierte Urzeit zu retrojizieren. Niederschläge dieser Tradition finden sich in der Psychologie wieder. William James (1890, II, 422ff.) postulierte einen Aneignungs- oder Erwerbsinstinkt, und führte Neid, Eifersucht, Rivalität, Sammelleidenschaft (beim

2. Begriff des Besitzes

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Kind, der Holzratte und in Anstalten untergebrachten Irren), Knauserigkeit und Kleptomanie als psychologische Belege an. Ähnlich zählte McDougall (1908) eine Triebkraft des Besitzenwollens zu seinen 18 Instinkten des Menschen. Soziale Bedeutungen von Besitz sollen nun in einen komparatistischen sowie einen juristisch-historischen und philosophisch-historischen Kontext situiert werden.

Besitzverhalten

bei Tieren

Auch nach der Desillusionierung des Glaubens an eine einheitliche Entwicklungslogik in den verschiedenen Bereichen kann ein Blick auf die in komparatistischer Absicht erfolgten Arbeiten von Ethologen dazu dienen, den Begriff des Besitzes zu schärfen. Beaglehole (1932) nennt als Kriterien für Besitz bei Tieren die Wahrung des exklusiven Zugangs zu einem Objekt und dessen Verteidigung gegen andere. Als Objekte solchen Besitzes findet er bei manchen Tieren Beute, Nahrung, Kinder, Nest und Territorium. Die beiden letztgenannten lassen sich auf die Verteidigung von Nahrungsvorräten, Sexualpartnern und Kindern zurückfuhren. Folglich handelt es sich allein um Objekte, die der unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung bzw. Reproduktion der Spezies dienen. Allein bei den Menschenaffen, und er stützt sich hier auf Köhler (1917), gebe es Besitz an weiteren, nämlich handhabbaren, tragbaren und oft glänzenden Gegenständen, die als Instrumente, Schmuck, Spielzeug oder Prestigeobjekten dienten. Ellis (1985) meint, ohne Rekurs auf Sprache, und somit auf Verhalten von Tiere anwendbar, ließe sich zwar nicht Besitz, aber doch Besitzverhalten definieren, und zwar als ein solches, mit dem eine Person die Absicht signalisiert, exklusiv Nähe zu einem Objekt zu beanspruchen, die von den Artgenossen in der Regel respektiert wird (s.a. Eibl-Eibesfeldt, 1984). Dies geschieht durch a) das Nähe-Prinzip und b) seine Generalisierung, die Markierung eines Gegenstandes mit olfaktorischen oder visuellen Zeichen. Sogar rudimentäre Formen des Austausches fänden sich bei Menschenaffen. Stanjek (1980) faßt Besitzverhalten bei Tieren zusammen als "andere Interessenten ausschließende Nutzung und Beanspruchung von Gütern und Ressourcen", die potentiell knapp sind. Rudimente eines dem menschlichen Institut des Besitzes ähnelnden Verhaltens finden sich also bei, wohlgemerkt, manchen Tieren, insofern sie: - biologisch wichtige Objekte in ihrer Reichweite (räumliche Nähe) halten und verteidigen, um so den exklusiven individuellen bzw. kollektiven Zugriff auf sie zu haben und andere von ihm auszuschließen; - dies abstrahieren zu einer Verteidigung von Räumen, in denen sie lebenswichtige Tätigkeiten verrichten;

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H. Besitz als Teil der Person

- bei Menschenaffen richtet sich Besitzverhalten darüber hinaus auf interessante, schöne Objekte oder Instrumente, die zudem Prestige signalisieren können; - bei manchen höheren Tieren findet sich so etwas wie ein Signalisieren eines Anspruchs, beispielsweise mittels Markierungen auf einem Objekt oder Territorium, das von anderen respektiert wird, allerdings nur solange, wie das beanspruchende Tier den Besitz auch intensiv nutzt (Kummer, 1991). Die Vorläufer von Besitz bei Tieren erweisen sich somit bereits als genuin sozial. In der grundlegenden, sehr weiten Bedeutung von Besitz als Zuordnung einer Sache zu einem bestimmten Lebewesen oder G r u p p e von Lebewesen, (s. 2.1 zu Personalpronomina) steckt bereits ein Verweis auf Lebewesen, denen die Sache nicht zugeordnet ist; zumindest jedoch ist die Exklusivität der Zuordnung und die Bereitschaft, das Besessene zu verteidigen, nicht ohne zusätzliche Interessenten oder Angreifer denkbar. Jenseits dieser Ebene definitionsinhärenter Verweise auf Artgenossen scheint Besitzverhalten bei manchen Menschenaffen auch materiell zum sozialen, nämlich zum durch geteilte Regeln bestimmten Phänomen zu werden. Besitzverhalten besteht dann nicht allein in der erfolgreich mit der Kraft des Stärkeren durchgesetzten V e r f ü g u n g über einen Gegenstand, sondern beinhaltet eine gewisse Gegenseitigkeit: Besitz scheint eine rudimentäre Form von Ansehen zu verleihen; vor allem aber verweist ein respektierter Anspruch auf eine gewisse Wechselseitigkeit. Der in diesem grundlegenden Sinne soziale Charakter von Besitz zeigt sich zwar in James' Beispielen, doch thematisiert James ihn nicht und vernebelt ihn gar, wenn er das materielle vom sozialen Selbst unterscheidet. Obwohl es also gewisse dem menschlichen Umgang mit Besitz ähnelnde Verhaltensweisen bei manchen Tieren gibt, verweist doch die g r o ß e Variabilität des Besitzverhaltens sogar bei höheren Tiergattungen sowie seine Beschränkung auf ein physisches Beanspruchen durch Nähe auf eine phylogenetische Diskontinuität (Stanjek, 1980, 125), so daß man keine vererbte unmittelbare Disposition zu sogenanntem Besitzverhalten beim Menschen vermuten darf.

Besitz als normativer,

juristischer

Begriff

Die Institution des Besitzes findet sich in allen menschlichen Gesellschaften. Im Unterschied zum bloßen Besitzverhalten bei Tieren ist menschlicher Besitz durch sprachliche Normen geregelt, die den Mitgliedern einer Gemeinschaft unter spezifizierten Bedingungen Sachen zuteilen und Rechte und Pflichten gegenüber der Gemeinschaft bezüglich dieser Sachen festlegen, die bei dieser einklagbar sind (Schott, 1987). Besitz ist

2. Begriff des Besitzes

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also ein moralischer, sittlicher, wenn auch nicht immer juristischer Begriff, sofern man für diesen eine juristische Institution voraussetzen möchte. Im Unterschied zum Besitzverhalten bei Tieren aber verteidigt die Gemeinschaft auch ohne juristische Institutionen die des Besitzes, d.h. auch den Besitz anderer, wenn er verletzt wird, nicht nur den eigenen. Die Zuteilung von Sachen obliegt immer den in der Gemeinschaft herrschenden Normen, es gibt kein ihnen vorgängiges oder von ihnen ausgenommenes ursprüngliches Haben, wie es James' psychologische Konzeption von Besitz nahezulegen scheint. Universell finden sich folgende Kernkriterien für die Legitimität von Besitz, die sich alle auf die Form des Erwerbs beziehen: durch a) Produzieren bzw. Ver- oder Bearbeiten eines Gegenstandes (Arbeit), durch b) Besetzen einer herrenlosen Habe und auch durch c) Erobern bei fremden, nicht unter die Wirkung der Gesetze fallenden Personen, d) durch Vererbung sowie durch e) Tausch bzw. Kauf. Der Erwerb von Eigentum durch Ersitzen (b) ist auch heute noch durch das BGB (§ 937) vorgesehen: Hat man 10 Jahre lang ein Objekt unangefochten in seiner Gewalt, dann hat man das Eigentum an ihm erworben. Auch darin, daß das Andauern des Besitzrechts an die Bedingung geknüpft ist, die Sache zu nutzen und unterhalten, kommt eine zeitliche Bindung des Besitzes zum Ausdruck. Die Normen darüber, was Objekt von Besitz sein kann, variieren weit. Universell als Besitz anerkannt sind bewegliche persönliche Habe wie Kleidung, Schmuck, Waffen, Werkzeug und Geräte sowie Nahrung und andere, für den unmittelbaren Verbrauch bestimmte Güter, aber auch Trophäen. Aus solcher persönlicher Habe setzten sich z.B. Grabbeigaben zusammen, worin sich die enge Verknüpfung zwischen diesem Besitz und der Person dokumentiert. Ebenfalls zur persönlichen Habe zählen manche Autoren immaterielle Objekte wie Namen, persönliche magische Formeln, persönliche Tanzzeremonien und Schutzgeister (Kline & France, 1898; Beaglehole, 1932). Persönliche Habe vermittelt elementare Bedürfnisbefriedigung und persönlichen Schutz, und das Recht, über sie zu verfügen, unterliegt kaum Einschränkungen. Als quasi anthropologische, historische Konstante können Besitzrechte angesehen werden, die sich a) auf die unmittelbare Existenzsicherung und b) den unmittelbaren, d.h. körpernahen gegenständlichen Lebensbereich der Person beziehen (Kleidung, Instrumente, Behausung - Kline & France, 1898; Willoweit, 1983). Sehr viel stärkeren Einschränkungen unterliegen meist Nutzungs- und Verfügungsrechte über Land. Oft sind die Einschränkungen bestimmt durch die Rücksicht auf die Familie, meist vermittelt über die religiöse Bedeutung von Land und seine besondere Verbindung mit den Ahnen; oft kann es nicht verkauft, sondern nur vererbt werden. Die in Gesellschaften herrschenden Formen des Besitzes an Land hängen naheliegen-

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n. Besitz als Teil der Person

derweise eng mit der Organisation der Produktion zusammen. Ähnliches gilt oft für Vieh (Willoweit, 1983; Schott, 1987). In manchen Gesellschaften gibt es auch eine Form des Besitzes an Menschen, an Frauen und vor allem Sklaven, was uns hier nicht weiter interessieren soll. Zwar haben wir bislang immer von Besitz gesprochen, auch wenn es um Rechte ging. Genaugenommen ist aber zwischen Besitz und Eigentum zu unterscheiden, dem faktischen Haben einer Sache und dem rechtlich anerkannten Gehören. Zumindest gewisse Unterschiede werden universell zwischen den beiden getroffen, wie an der universellen Verbreitung der Institution des Leihens abzulesen ist (Schott, 1987). Im juristischen Sinne besitzt ein Dieb sein Diebesgut, ist aber nicht sein Eigentümer. Es gibt eine Unmenge weiterer rechtlicher Abstufungen von Besitzrelationen, z.B. die des Pächters, Mieters, Leihers, etc.. Historisch bildete sich der heute geltende starke Kontrast zwischen Eigentum und Besitz zuerst im römischen Recht heraus. Anfangs bestimmte das meum esse allein die Zuordnung eines Dings zu einem Rechtsträger, ohne die Natur der Beziehung zwischen beiden genauer zu spezifizieren. Erst im 2. und 1. Jahrhundert vor Christi wandelte sich der relative zum absoluten Eigentumsbegriff. Er implizierte u.a. das Recht des Eigentümers gegenüber dem Besitzer, jederzeit die Herausgabe der Sache zu verlangen (wenn nicht zuvor vertraglich anders vereinbart), sowie die uneingeschränkte Verfügungsgewalt über die Sache als Normalfall des Eigentums (Wesel, 1984; Koch, 1986). Das römische Recht unterschied zwischen dem Geist (animus) und dem Körper (corpus) einer Sache; jener gehörte dem Eigentümer, auch wenn dieser sich in anderer Hand, nämlich der des Besitzers befand. Während im Mittelalter in Deutschland nicht präzise zwischen Besitz und Eigentum unterschieden wurde, sondern der Begriff des Gewere die rechtlich gestützte tatsächliche Herrschaft über eine Sache bezeichnete (Wesel, 1984), wurde zu Beginn der Neuzeit der absolute römische Eigentumsbegriff wieder aufgegriffen und als das Recht definiert, willkürlich und beliebig mit der Sache zu verfahren (Willoweit, 1983); in England war speziell im 17. Jahrhundert eine Ausweitung des Eigentumsbegriffs zu verzeichnen (Reeve, 1986). Zu Beginn des 19. Jahrhunderts erhob in Deutschland Savigny das römische Recht wieder zum Vorbild und Maß, und das im Jahre 1900 in Kraft getretenen Bürgerlichen Gesetzbuch definiert Eigentum in römischer Tradition in § 903 weit: "Der Eigentümer einer Sache kann, soweit nicht das Gesetz oder Rechte Dritter entgegenstehen, mit der Sache nach Belieben verfahren und andere von jeder Einwirkung ausschließen". Die Differenzierung von Besitz und Eigentum veränderte primär den Charakter von Eigentum an Land und Produktionsmitteln, während persönliche Habe schon immer mit weitgehenden persönlichen Verfügungsrechten ausgestattet war. Dieser kurze historische Überblick zeigt, daß die Rekonstruktion des umgangssprachlichen Gebrauchs des Wortes

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2. Begriff des Besitzes

Besitz durch Snare (s.o.) genau an diesen absoluten Eigentumsbegriff anschließt. Den Begriff Besitz werde ich jedoch weiterhin in dem engeren alltäglichen Sinne von persönlicher Habe verwenden.

Philosophische Begründungen der Institution als Persönlichkeitsrecht

Eigentum

In der Neuzeit wurde es mit dem Aufkommen des Bürgertums und Ausweitung des Marktes notwendig, den Güteraustausch soweit als möglich Marktmechanismen zu unterwerfen, also von allen anderen Regelungen zu befreien. Dieser Wandel wurde von philosophischen Bemühungen um eine Rechtfertigung der neuen Ordnung begleitet. Hier soll uns lediglich zweierlei kurz interessieren, zum einen die spezielle Verknüpfung von Besitz- und persönlichen Abwehrrechten, zum anderen die Natur der angenommenen Beziehung zwischen Besitz und Person. Noch bei Hobbes (1651) findet sich ein aus heutiger Perspektive relativer Eigentumsbegriff. Zwar definierte er Eigentum als das Recht, alle Dritten von einer Sache auszuschließen, wovon er jedoch den Souverän ausnahm. Die utilitaristische Philosophie begründete die Notwendigkeit von Eigentum mit dem Nutzen, den es für die Allgemeinheit hat, sei er ein ökonomischer, sei er der, den sonst um knappe Ressourcen entbrennenden Kampf zugunsten der Sicherheit aller Personen zu verhindern (Hobbes, 1651; Hume, 1751). Eine andere Begründungslinie verknüpft den Besitzschutz mit dem Schutz der Person selbst. Bereits seit Plato, so Brandt (1983), gab es die Vorstellung eines gestaffelten Persönlichkeitsraumes, zentral die Seele, in der nächstäußeren Schicht der Leib, und schließlich die Habe der Person, eine Vorstellung, die sich in der Rechtssprechung bis heute gehalten hat (s. u.). Das römische Privatrecht, das erstmals einen absoluten Eigentumsbegriff kannte, war als Sicherung eines Freiheitsraumes des Einzelnen (freien Mannes) gegenüber der Allgemeinheit angelegt; Persönlichkeit, Familie und Besitz galten als individuelle Keimzelle der Gesellschaft und deshalb als besonders schützenswert (Lampe, 1987). Aber erst mit der Einführung des Begriffs der naturgegebenen Grundrechte durch die liberale Naturrechtsphilosophie des 18. Jahrhunderts verwandelte sich der Besitz als Eigentum zu einem rechtsvorgängigen Naturrecht. Bereits im 17.Jahrhundert begannen in philosophischen Schriften persönliche Habe und Landbesitz ineinander überzugehen, beide wurden zusehends dem Begriff des Eigentums subsumiert; dieser wurde ausgeweitet und verabsolutiert. Man begann gar, alle Rechte einer Person als ihr Eigentum zu betrachten (Reeve, 1986). Mit dem Postulat gesetzesvorgängiger Naturrechte wurde die Entwicklung zu den Grundund Menschenrechten eingeleitet, die jeder Person zukommen, ihr nicht genommen werden können und die sie nur in Grenzen (im sozialen Ver-

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II. Besitz als Teil der Person

trag) abtreten kann. Zu den unveräußerlichen Rechten zählt bereits Hobbes (1651/1961, 105) das auf Verteidigung des eigenen Lebens, auf körperliche Unversehrtheit und Bewegungsfreiheit, die bei ihm jedoch noch bei Konstitution des Souveräns an diesen abgetreten werden, auf daß dieser sie gegenüber anderen Individuen verteidige. Wenig später radikalisierte John Locke (1690) die individuellen Rechte, die auch nicht mehr gegenüber dem Staat abgetreten werden dürfen: die Rechte auf Unantastbarkeit von Leben, Freiheit, Gesundheit, Gliedmaßen und Gütern (§6). Diese grundlegenden, da der Lebenserhaltung dienenden Güter sind bei Locke nun nicht nur gegenüber den Mitmenschen, sondern auch und zuvorderst gegenüber dem Staate zu schützen: Er leitet aus ihnen das Widerstandsrecht gegenüber dem Staate ab, wenn es um deren Schutz geht, die sogenannten Abwehrrechte. Locke definiert hier elementare Freiheitsrechte: Freiheit besteht in der "Freiheit, über die eigene Person, Handlungen, Besitz und das gesamte Eigentum nach Belieben und im Rahmen der Gesetze [...] zu verfugen" (§57). Zugleich verwischt Locke nicht nur die Grenze zwischen persönlicher Habe und Großgrundbesitz, sondern auch den zwischen dem Besitz einer Person, zu Beginn der Abhandlung noch eines der Objekte der Naturrechte (da er der unmittelbaren Lebenssicherung dient), und ebendiesen naturgegebenen Freiheitsrechten, denn am Ende verwandeln sich letztere alle in das Eigentum der Person, auf das sich dann das grundlegende Selbstverteidigungsrecht bezieht (§87); so wird denn schließlich die einzige Legitimation des Staates der Erhalt des Eigentums (§124). So zeichnen sich Sklaven, die nicht Mitglieder der zivilen Gesellschaft sind, nicht zuletzt dadurch aus, daß sie über kein Eigentum verfugen können. Hatte Locke noch die Möglichkeit vorgesehen, sich seiner natürlichen Rechte zu begeben, indem man die anderer verletzt und dann zu Recht versklavt wird, streicht Rousseau auch diese Möglichkeit der Veräußerung der Freiheitsrechte. Er begründet ihre Unveräußerlichkeit nicht mehr mit dem Ziel der Selbsterhaltung, sondern mit der Natur des Menschen als Wesen mit freiem Willen und moralischer Verantwortung für seine Handlungen (1762, 1.4). Die Begründung des Besitzes durch das Vernünftige wird dann von Kant vervollkommnet; er leitet Besitz aus dem Willen, ein Unvernünftiges, d.h. eine Sache zu beherrschen, ab, der durch allgemeine Anerkennung bestätigt werden muß (s. Ryan, 1982). Auch Hegel begründet Besitz als Beziehung zwischen vernünftigem Geist und einer Sache, die unfrei, unpersönlich und rechtlos ist. "Der Wille, indem er eine Sache unter sich subsumiert, macht sie zu der seinigen" (1810, §8). Besitz ist die radikale Voraussetzung des freien Willens, da dieser sich erst in jenem als "Sphäre der Freiheit" realisiert. "Das Vernünftige des Eigentums liegt nicht in der Befriedigung der Bedürfnisse, sondern darin, daß sich die bloße Subjektivität der Persönlichkeit aufhebt. Erst im Eigentum ist die Person als Vernunft" (1821, §41). Erst im Eigentum realisiert sich die Vernunft, die folglich im Eigentum zu

3. Psychologie des Besitzern

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schützen ist. Der innere Zirkel dieser Sphäre der Freiheit ist nicht nur gegen fremden Willen zu schützen, sondern unveräußerlich, soweit er für die Person als vernünftige wesentlich ist, wie der Besitz von Willensfreiheit, Moral und Religion. Der Körper müsse von der Vernunft zwar selbst erst angeeignet werden, gegenüber anderen aber sei die Person immer eine verkörperte, so daß der Körper zu ihr gehöre wie ihr Leben. Hier ebenfalls relevant ist Hegels Idee der Selbstverwirklichung im Besitz. Schon Locke hatte den Erwerb von Eigentum vor allem über Arbeit begründet, bei der das Individuum das Natürliche (Frucht, Boden) mit etwas Eigenem, nämlich seiner Arbeitskraft, mische. Hegel geht noch weiter und erklärt das Eigentum zur hauptsächlichen Äußerungsform des Willens der freien, vernünftigen Person, indem sie "in die Sache einen anderen Zweck legt, als sie unmittelbar hatte", nämlich gar keinen Selbstzweck. Auch Tiere sind in diesem Sinne Sache: "ich gebe dem Lebendigen als meinem Eigentum eine andere Seele, als es hatte; ich gebe ihm meine Seele" (ebd., §44). "Ich werde als freier Wille mir im Besitze gegenständlich und hiermit auch erst wirklicher Wille" (ebd., §45). Hegel unterscheidet verschiedene Grade der Aneignung; zu der Unterwerfung einer Sache unter den Willen müsse die Erkennbarkeit für andere hinzutreten, die durch Ergreifen, Kennzeichnen oder Formen, der intimsten Art der Aneignung, geschehen könne. Elementare Formen der Aneignung sind die Aufnahme von Nahrung und die geschickte Beherrschung des Körpers. Inbegriff der Aneignung aber ist der formgebende Akt, in dem sich "die Form des Meinigen unmittelbar mit dem Gegenstande" verbindet (1810, §10).

3. Zur Psychologie des Besitzens Nach dieser Skizze ethologischer, ethnologischer, juristischer und philosophischer Aspekte von Besitz kommen wir nun zu seinen psychologischen Bedeutungen. Ich beginne mit der Ontogenese des Besitzbegriffes und seiner Handlungskorrelate (3.1), um dann Vorschläge zu einer psychologischen Konzeption dieses komplexen Phänomens im Lichte der bisherigen Ausfuhrungen zu erörtern und schließlich auf den Ausgangspunkt, die Überlegungen James, zurückzubeziehen (3.2).

3.1 Ontogenese von Besitzverständnis und -motiven Die Entwicklung besitzbezogenen Denkens und Handelns ist bei jüngeren Kindern auf der Ebene von Verhaltensweisen zu beschreiben, während

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II. Besitz als Teil der Person

bei älteren Kindern die Auffassung von Besitz von Motiven des Umgangs mit ihm zu unterscheiden ist.

Besitz unter gleichaltrigen

Klein- und

Vorschulkindern

Kline und France (1898) behaupten, dem Vorschulkind sei das Begehren Grund genug, sich dessen Objekt anzueignen, ohne Rücksicht auf Ansprüche anderer. Erst im Alter von 8 bis 9 Jahren entwickle das Schulkind einen moralischen Begriff von Besitz oder Eigentum, so daß es stärkere Besitzrechte anderer anerkenne und respektiere. Bis dahin befinde sich der Besitzbegriff des Kindes noch auf quasi animalischem Niveau. Beaglehole (1932) verlegt diese Entwicklung erheblich nach vorne, nämlich in das dritte Lebensjahr. Diese globalen Beobachtungen können heute spezifiziert werden. In der Entwicklung des Besitzbegriffes und der mit ihm verbundenen Motive sind zwei Aspekte zu unterscheiden, einmal die unmittelbare Beziehung zum Objekt, zum anderen die Ausschließung einer anderen Person. Zum ersten Aspekt: Bevor der Mensch einen Begriff von Besitz entwickeln kann, muß er erst einmal überhaupt eine Beziehung zu Objekten aufbauen. Das tut der Säugling im aktiven Umgang mit Objekten, mittels dessen er, wie in den Grundzügen von Piaget beschrieben, seine praktische Intelligenz herausbildet, also zusehends fähig wird, Objekte gezielt zu manipulieren und beherrschen. Darüber hinaus entwickeln Säuglinge Vorlieben für bestimmte Objekte, die Eltern ihnen deshalb belassen. Das wichtigste Beispiel für solche Objekte sind die Übergangsobjekte, beispielsweise Schmusetücher oder Teddybären. Zum zweiten, sozialen Aspekt: Die einzige Weise, auf die Säuglinge ein Objekt verteidigen können, ist durch Festhalten und Schreien. Der Wunsch, ein Objekt zu haben, geht nicht über das unmittelbare Interesse am Objekt hinaus. Wenn ein Objekt interessant erscheint, begehrt es das Kleinkind. Wichtig ist also erst einmal, ob das Kind den Gegenstand hat oder nicht, noch nicht aber, ob eine andere Person einen Gegenstand hat. Ab dem Alter von ungefähr 9 Monaten beginnen Säuglinge nun, gleichzeitige Beziehungen zu einer anderen Person und einem Gegenstand einzugehen; das Geben und Nehmen von Gegenständen entwickelt sich zu immer komplexeren Interaktionen (Stanjek, 1980; Trevarthen & Hubley, 1978, zit. in Stanjek). Das Einfuhren von Dingen in die soziale Interaktion kann dazu dienen, sie überhaupt erst einzuleiten wie auch dazu, sie aufrechtzuerhalten (Mueller, 1978). Mit dem Spracherwerb lernt das Kind dann, Objekte von anderen gezielt zu verlangen sowie überdauernde Korrelationen zwischen Dingen und Personen zu bemerken und konstatieren (s. 2.1). Erst mit fortschreitender motorischer Entwicklung lernt das Kleinkind, welche Objekte es ergreifen und nutzen darf und welche nicht.

3. Psychologie des Besitzens

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Besitz zu beanspruchen wird erst möglich, wenn das Kind das Ding auch ergreifen und verteidigen kann. Gegenüber Erwachsenen muß das Kind weniger zwischen Eigen- und Fremdbesitz als zwischen erlaubten und verbotenen Gegenständen unterscheiden lernen, da alle Gegenstände prinzipiell der Verfügungsgewalt der Eltern unterstehen, das Kind noch keine unbedingten Besitzrechte gegenüber den Eltern hat. Eine Polarisierung der Dingwelt nach Besitzrelationen ergibt sich eher in der Interaktion mit Gleichaltrigen. Unter Gleichen müssen Ansprüche erst geklärt werden, was zu den bekannten Streitereien fuhrt. Die meisten Konflikte unter Gleichaltrigen im Alter zwischen ungefähr l'A und 4 Jahren drehen sich um die Nutzung von Spielzeug (s. Furby, 1980; Stanjek, 1980). Anfangs überwiegen körperliche Auseinandersetzungen, erst ab etwa dem 5. Lebensjahr werden Konflikte überwiegend verbal ausgetragen (Klein, 1932). Man könnte meinen, diese Streitigkeiten wiesen auf das Fehlen eines Besitzbegriffes hin, der Dinge exklusiv Personen zuweist und so Streitigkeiten erübrigen würde. Doch so einfach ist es nicht. 2Vi- bis 3-Jährige unterscheiden in ihrem Handeln bereits nach Besitzrelationen: Wenn ein Objekt ausdrücklich als der Besitz eines anderen Kindes bezeichnet wird, greifen sie es seltener an, und als ihr eigener Besitz bezeichnetes Spielzeug verteidigen sie stärker. 1 Vor dem 5. bis 6. Lebensjahr scheint sich kein eindeutiger Respekt und mithin kein moralischer Begriff von Besitz herauszubilden. Kinder streiten sich natürlich nicht nur um Objekte, sondern nutzen sie auch, um Kontakte herzustellen und Interaktionen zu strukturieren. Die Differenzierung der eigenen von anderen Personen scheint sich auf dem Gebiete des Besitzes vor allem in der Interaktion mit Gleichaltrigen abzuspielen. Jedenfalls bestehen Zusammenhänge zwischen der passiven und aktiven Beherrschung und Verwendung von Possessivpronomina einerseits und der Interaktion mit älteren Geschwistern (Nelson, 1976) sowie der Häufigkeit von anfanglichen besitzbeanspruchenden Äußerungen gegenüber Gleichaltrigen (Levine, 1983).

Besitzkriterien Wenn Kinder schon so früh ein gewisses Verständnis von Besitz aufbringen, wie entwickeln sich dann die Kriterien, die sie verwenden? Auch j u n g e Kindergartenkinder verstehen bereits, daß das Spielzeug dort dem Kindergarten gehört und sie es nicht mit nach Hause nehmen können. Im

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Eisenberg, Haake & Bartlett, 1981; Bakeman & Browlee, 1982. Kinder, die häufiger anderen Kindern Objekte streitig machen, sind vergleichsweise aggressiver (Ramsey, 1987) und ihre Mütter nehmen ihnen ihrerseits häufiger Dinge weg (Vandell, 1976, zit.von Furby, 1980).

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II. Besitz als Teil der Person

Kindergarten gilt das momentane Verfugen über ein Spielzeug nicht notwendigerweise als Zeichen von zu respektierendem Besitz, da es eigentlich dem Kindergarten gehört (Eisenberg, Bartlett & Haake, 1983). Erst wenn mehrere Kinder gemeinsam in eine soziale Episode eintreten bzw. einem gemeinsamen Skript folgen, akzeptieren alle Beteiligten die Rollenverteilung und mit dieser auch die vorübergehende Besitzverteilung (Newman, 1978). Hauptkriterium für zu respektierenden Besitz scheint dennoch zu sein, ob eine Person faktisch und als erste unter den Gleichaltrigen über das Objekt verfügt. Als weitere Kriterien führten die von Newman (1978) beobachteten 3-Jährigen an, etwas selbst produziert zu haben sowie es zu Weihnachten geschenkt bekommen zu haben, also daß Erwachsene es ihnen explizit und persönlich übereignet haben. Über die Entwicklung der bewußten Kriterien für die Zuschreibung einer Sache zu einem Eigentümer gibt eine in der Tradition des frühen Piaget durchgeführte Interviewstudie von Berti und Bombi (1981) Auskunft. Sie befragten 3- bis 13-Jährige, wem die (beispielhaften, recht komplexen Objekte) Bus, Felder und Fabrik gehören, und weshalb. Vorschulkinder benutzten ausschließlich die Kriterien der augenblicklichen Nähe bzw. der aktuellen Nutzung: So gehöre der Bus den Passagieren, das Feld den Spaziergängern. Im Alter von 6 bis 7 Jahren tritt als Bedingung hinzu, daß die Beziehung zwischen Sache und Besitzer stabil sein muß, so daß nun der Bus dem Fahrer, das Feld den darauf Arbeitenden oder Wohnenden gehöre. Erst mit circa 8 bis 9 Jahren beginnen Kinder, je nach Komplexität und Vertrautheit mit dem Objekt, zu begreifen, daß die Sache auch jemand anderem gehören kann als denen, die sich bei ihr aufhalten und sie nutzen, den Unterschied mithin zwischen Besitz und Eigentum. Als Erwerbskriterien, die eine Eigentumsrelation herstelle, nannten Kinder wiederum Nähe und Nutzung sowie die der Arbeit bzw. des Produzierens sowie das des Kaufens, ohne daß sich hier ein Alterstrend abzeichnete. 2 Furby (1978a) bestätigt, daß ein Begriff des Eigentums erst im späteren Grundschulalter auftaucht, der bei Präadoleszenten so weit geht, daß sie bezweifeln, ob überhaupt irgend etwas ihr Eigentum sei und nicht das der Eltern. Eine eindeutigere Entwicklungsabfolge findet sich bezüglich des Verständnisses von Eigentumstransaktionen: Gentner (1978) ließ Kinder Kaufladen spielen und fand, daß 3-4-Jährige die Transaktionen von Geben und Nehmen verstanden, Kaufen jedoch erst von 8- bis 9-Jährigen, Verkaufen noch später richtig verstanden wird (vgl. ähnlich Furth, 1980; zum Überblick Stacey, 1982). Zusammenfassend läßt sich über die Entwicklung des Besitzbegriffes sagen, daß er bei dem einfachen Haben eines Objektes beginnt, das die

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Zwei weitere Untersuchungen zum Thema ergeben kaum zusätzliche Hinweise (Cram & NG, 1989; Hook, 1993).

3. Psychologie des Besitzens

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Kontrolle über das Objekt und seine Nutzung impliziert. Im Laufe der Entwicklung a) erstreckt der Besitzbegriff sich immer weiter über die Zeit und b) emanzipiert sich von der räumlichen Nähe bzw. der aktuellen Nutzung.

Motive und Objekte des

Besitzens

Viele verschiedene Motive richten sich auf Gegenstände, und diese fordern ihrerseits zu den unterschiedlichsten Handlungen auf. Deshalb zeigen sich in den Besitztümern einer Person und den von ihr begehrten Objekten ihre Interessen (soweit diese objektvermittelt zu befriedigen sind - Fink, 1989). Lattke (1936) betonte nun aber zu recht die Differenz zwischen diesen primär auf Gegenstände gerichteten Motiven und dem Motiv, sie zu besitzen. Der Besitzwunsch kann, muß aber nicht von den unmittelbar objektgerichteten Wünschen abgeleitet, d.h. für sie instrumentell sein. Ein Besitzwunsch kann sich auch primär auf das Besitzen und nicht auf die wie auch immer geartete unmittelbare Nutzung des Dinges beziehen. Als eine wichtige Funktion von Besitz wird von James wie von anderen Autoren die des Prestiges, des Ansehens genannt, das mit ihm zu erringen ist. Das wichtige ist dabei der Besitz selbst, nicht seine Verwendung. Dieses Motiv findet sich bereits bei Kindern. Stolz auf Besitz impliziert Ansehen, setzt er doch bewundernde Andere voraus. So zitiert Furby (1980, 32) ein 1- bis 2-jähriges Mädchen, das im Kindergarten plötzlich in die Mitte des Raumes tritt, ihr Spielzeug hochhält und lauthals verkündet "Meins, meins!". Nicht selten beginnen Kleinkinder erst dann ein bestimmtes Spielzeug zu verlangen, wenn es dadurch an Attraktivität gewonnen hat, daß es einem anderen Kind gefallt. Der Wunsch, ein Ding momentan zu besitzen, entsteht so oft aus Neid und Rivalität, die Befriedigung des Besitzens besteht entsprechend oft in dem Neid der anderen (s.a. Isaacs, 1935). Soweit Klein- und Vorschulkinder Besitzrechte zwar schon verstehen, aber noch nicht notwendigerweise respektieren und um Dinge kämpfen, sind momentane Besitzverhältnisse in Kleinkindergruppen auch Ergebnis körperlicher Stärke; derjenige, der sich durchsetzt und das Objekt ergattert, triumphiert, da er als Stärkerer seinen Willen durchgesetzt hat und anerkannt wird. Bereits etablierter Besitz vermittelt bei Vorschulkindern darüber hinaus dadurch Ansehen, daß er je nach Gunst verliehen werden kann und so Macht nicht nur, wie die Trophäe, symbolisiert, sondern auch verleiht. Oerter (1984) meint, die Bedeutung dieser Funktion von Besitz nehme im Schulalter und der Adoleszenz ab; erst im Erwachsenenalter trete die statusvermittelnde Funktion des Besitzes wieder in den Vordergrund. Dem würde Lattke jedoch widersprechen, der bei einem informellen Vergleich des Besitzverhaltens von 6- und 11-Jährigen zu dem

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II. Besitz als Teil der Person

Schluß kommt, der Wunsch nach Besitz des Besitzens halber sei bei den Älteren stärker ausgeprägt als bei den Jüngeren; auch bei diesen werde der direkte Besitzwunsch jedoch in Rivalitätssituationen sofort aktiviert (1936, Sl). Bei den 11-Jährigen bezieht sich Lattke auf eine in diesem Alter besonders ausgeprägte Form des Besitzens um des Besitzens willen, nämlich das Anlegen von Sammlungen. Das Sammeln von Objekten unterscheidet sich von dem einfachen Besitzen, da es sich nicht auf singuläre Gegenstände bezieht, sondern auf eine Menge ähnlicher Objekte, die erst als Ensemble einen Wert darstellen. Da die gesammelten Dinge einander ähneln, können sie auch nur ähnliche Funktionen erfüllen, so daß sie kaum wegen ihres Gebrauchswertes geschätzt werden, - dafür würden wenige Exemplare reichen sondern wegen ihrer Menge und der Qualität der gesamten Sammlung. Systematisches Sammeln erfordert darüber hinaus Expertise bezüglich der Sammelobjekte und ihres Marktwertes, denn gewöhnlich handelt es sich um Objekte, die auch von anderen Personen gesammelt werden; diese Gemeinschaft bildet eine Subkultur mit eigenen Regeln, Wissensbestand und Prestigehierarchie, die sich nach der Qualität der Sammlungen richtet. Ziel ist es, mit Geschick möglichst viele und möglichst seltene Exemplare zu finden oder zu ertauschen. Im Unterschied zum erkämpften, selbst hergestellten oder geschenkten Besitz des Vorschulalters ist die Sammlung ein langfristiges Unternehmen, das auf Wertmaximierung ausgerichtet ist, ein spezialisiertes Wissen erfordert, und im Falle von Spezialsammlungen eine besondere Bezugsgruppe, mit deren Sammlungen man die eigene vergleicht, sowie ein Verständnis für Tausch und Marktmechanismen. Laut einiger älterer Untersuchungen 3 sammeln Kinder bis zum Alter von 8 Jahren leicht zugängliche Dinge, also in der Natur vorfindbare Objekte wie Steine, Muscheln und Vogeleier, sowie Gegenstände des Alltags wie Knöpfe, Garnrollen und Glasscherben. In der Präadoleszenz, zwischen 8 und 11 Jahren, erreicht die Sammeltätigkeit den Höhepunkt. Sammeln wird in diesem Alter gezielter und wählerischer, und Kinder beginnen, Umfang und Wert der Objekte und Sammlungen miteinander zu vergleichen sowie Objekte zu tauschen. Ab dem 12. Lebensjahr nimmt das Interesse am Sammeln insgesamt ab, Sammeln wird zusehends mit einer systematischen Beschäftigung mit dem Sammlungsgebiet verbunden; Jugendliche begnügen sich nicht mehr mit der lokalen Freun-

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George Stanley Hall hatte für die erste Nummer der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Pedagogical Seminary seine Leser aufgerufen, Berichte über Kindersammlungen einzuschicken. In einem ersten Überblick legt er sein Interesse an dem Thema dar: Er sah in ihnen den Vorläufer eines reifen naturwissenschaftlichen Interesses (Wiltse & Hall, 1891). Die ausführlichste Untersuchung zu Kindersammlungen wurde denn auch wenige Jahre später in seiner Zeitschrift veröffentlicht (Burk, 1900), zwei weitere folgten Ende der 20er Jahre (Lehmann & Witty, 1927; Whitley, 1929).

3. Psychologie des Besitzens

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desgruppe als Bezugsgruppe, sondern erschließen sich den entsprechenden größeren Sammlermarkt. Das Interesse an einfachen natürlichen und alltäglichen Objekten nimmt rapide ab, auf andere Personen verweisende Objekte wie Briefe, Poesiealben, Fotos, Unterschriften und Einladungen werden interessanter, vor allem für Mädchen. Auch identitätsmarkierende Objekte wie Abzeichen und Sporttrophäen sowie politisch-historische Relikte gewinnen in der mittleren Adoleszenz an Bedeutung. Ab der Präadoleszenz dienen Sammlungen kaum mehr dem Spielen, sondern werden verstaut, um ab und zu herausgeholt zu werden, um sie selbst anzuschauen (Mädchen) bzw. sie anderen zu zeigen (Jungen). Aber Spezialsammlungen legen Kinder erst ab der Vorpubertät, an. Frühere Sammlungen sind unsystematischer, und der soziale Vergleich spielt bei ihnen noch keine Rolle (Fatke & Flitner, 1984). An der Entwicklung des Sammeins deutet sich die weitere Entwicklung von Besitzwünschen und -formen an. Sie entfernen sich von dem unvermittelten Begehren und direkten, situationsgebundenen Vergleich mit anderen. Besitzregeln werden spätestens ab dem Schulalter deutlich respektiert, direkte Streitigkeiten um Besitz verschwinden. An ihre Stelle tritt ein längerfristiges Interesse an ausgewählten Objekten, mehr Energie und Können wird auf den Erwerb gerichtet und der soziale Vergleich wird systematischer. Wie aus Untersuchungen zur Entwicklung des Leistungsmotivs bekannt ist, erwerben Kinder erst im Alter von circa 10 Jahren die Fähigkeit, ihre Leistungen nicht mehr nur mit denen einzelner anderer zu vergleichen, sondern sich systematisch im Rahmen einer Bezugsgruppe einzustufen (Rheinberg, 1977), eine Fähigkeit, die das systematische Sammeln erst ermöglicht.

3.2 Psychologische Bedeutungen von Besitz Nach diesem Überblick über die verschiedenen Bedeutungskomponenten von Besitz fassen wir die für unser Thema interessanten Beobachtungen zusammen und prüfen, ob sie James Auffassung zu bestätigen, ergänzen oder korrigieren vermögen. Die Schlußfolgerungen der wenigen psychologischen Arbeiten, die sich direkt mit Besitz befassen, werden in die Diskussion mit einbezogen werden. 4

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Beaglehole, 1932; Furby, 1978a, 1980; Stanjek, 1980; Rudmin & Berry, 1987. - Die Ergebnisse von Untersuchungen zur altersmäßigen Verteilung persönlicher Besitztümer werden erst später berücksichtigt werden, da hier erst einmal überhaupt die Bedeutung von Besitz interessiert, und entwicklungspsychologische Arbeiten hier nur soweit berücksichtigt wurden, als sie unmittelbar zur Erhellung des Begriffs und Phänomens Besitz beitragen. Erwähnt sei eine Untersuchung von Rudmin (1994), in der sich erwartbare Geschlechtsunterschiede zeigten dahingehend, daß Frauen mehr

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II. Besitz als Teil der Person

Abstufungen

von

Besitzrelationen

William James hatte alles der Person als das Ihrige Zuschreibbare als potentiellen Teil ihres Selbst bezeichnet, da sie sich reflexiv zu ihm verhalten könne und es wie sich selbst verteidige. Deshalb sei das ich oder reflexive mich kaum vom mein zu unterscheiden. Nach den Ausflügen in benachbarte Fächer läßt sich nun aber doch genauer ein Unterschied zwischen den Bedeutungen von Personal- und Possessivpronomina sowie auch weitere Abstufungen der Nähe von Objekten zur Person bestimmen. Possessivpronomina umgreifen die weiteste Besitzrelation und sind umfassender als der alltagssprachliche Begriff von Besitz. Sie ordnen in einem perspektivisch nach Handelnden und Objekten strukturierten Raum diesen Objekte oder Personen zu. Anfänglich handelt es sich um Zuordnungen aufgrund räumlicher Nähe. Veräußerlicher Besitz ist das, was man alltagssprachlich als Besitz bezeichnet, also das bevorzugte Verfügen einer Person oder Kollektivs über ein Objekt sowie die Möglichkeiten, das Verfugungsrecht an andere abzutreten. Das bedeutet, daß Besitzrelationen von ihrem Charakter her temporärer, jedenfalls reversibler Natur sind. Unveräußerlicher Besitz schließlich gehört so eng zur Person, daß er alltagssprachlich nicht mehr als Besitz verstanden wird. Die Person kann nicht beliebig über ihn verfugen, sich nicht von ihm trennen oder ihn anderen übereignen, da die Beziehung zur Person eine identitätsstifltende ist: Körper, Verwandtschaftsbeziehungen und Namen konstituieren ihre physische bzw. soziale Identität. Alle drei Abstufungen von Besitzrelationen ordnen Objekte einer bestimmten Person oder Gruppe zu. Der Genitiv als possessiver Kasus wird u.a. zur Bezeichnung von Teil-Ganzes Beziehungen benutzt, und die durch das Verb haben konstituierte Beziehung ist als die zwischen einem Ganzen und seinem Teil bezeichnet worden. Besitzrelationen verfügen also semantisch über eine große Nähe zu solchen Teil-Ganzes-Beziehungen, was James' Bezeichnung des Meinigen als Teil meiner selbst zumindest nahelegt. Ordnen wir die Beispiele James' den drei genannten Abstufungen des Besitzbegriffes zu, finden sich zwei Beispiele unveräußerlicher Besitzrelationen, die zum eigenen Körper, zum Bruder und den eigenen Kindern, sowie drei Beispiele für veräußerlichen Besitz, nämlich Kleidung, Wohnung und Eigentum.

Dinge auf die Frage nach Objekten nannten, die ihnen nicht gehören, sie sie aber als zu ihnen gehörend empfänden, worunter sich v.a. Menschen, Tiere und Dinge im Besitz von Bezugspersonen befanden.

3. Psychologie des Besitzens

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Der psychologische Kern des Besitzbegriffes Beschränken wir uns auf die mittlere Abstufung von Besitzrelationen, nämlich Besitz im alltagssprachlichen Sinne von veräußerlichem Besitz, ergibt die bisherige Sichtung drei semantische Kerne, wobei ich von personfernen Bedeutungen von Eigentum, wie dem an Land und Produktionsmitteln u.ä. absehe. Eine Besitzrelation kann von einem aktiven Subjekt gegenüber einem passiven Objekt hergestellt werden und zeichnet sich aus durch: a) eine stärkere Ausprägung der Beziehung des Objekts zum Besitzer als zu anderen Personen (Präferenz, Exklusivität) b) - die räumliche Nähe zwischen beiden (symmetrisch), - die Verwendung und Nutzung des Objekts durch das Subjekt (asymmetrisch), c) sowie, entwicklungspsychologisch später, eine relative zeitliche Stabilität der Beziehung. Damit aus dem so definierbaren Besitz verhalten Besitz wird, muß noch eine normative Dimension hinzutreten, die den Tatbestand durch Rechte und Pflichten absichert, die von der Gemeinschaft potentieller Besitzer anerkannt werden. Schon das erste Begriffselement definiert Besitz als inhärent sozialen Tatbestand, eine Eigenschaft von Besitz, die durch das Hinzutreten der normativen Ebene verstärkt wird. Der moderne Besitzbegriff entfernt sich wieder von dem angegebenen Bedeutungskern, indem er sich jedenfalls im römischen und folgenden Recht zu dem unmittelbaren Haben einer Sache (Besitz) und dem abstrakten Recht, über sie zu verfugen (Eigentum), ausdifferenziert. Letzteres, das Eigentum, ist zwar politisch und ökonomisch das wichtigere, doch ist davon auszugehen, daß psychologisch der Besitz in seiner rudimentären Bedeutung sehr viel relevanter ist, und das nicht nur, weil die meisten Erwachsenen kaum nennenswert über Eigentum verfugen, das sie nicht auch besässen, und Kinder und Jugendliche gar nicht selbständig über Eigentum verfugen können. Der angeführte semantische Kern von Besitz trifft am ehesten auf denjenigen Teil des Besitzes zu, den man als persönliche Habe bezeichnet. Sie ist beweglich, körpernah, wird regelmäßig genutzt, und dient direkt oder indirekt der Befriedigung von Grundbedürfnissen. Ungewollt zeigte sich in einer Untersuchung von Rudmin & Berry (1987) der Unterschied zwischen dem normativen Begriff von Besitz einerseits und den psychologischen Kernelementen von Besitz andererseits. Die Autoren baten ihre erwachsenen Probanden, je zehn Dinge, die ihnen gehören, und zehn Dinge, die ihnen nicht gehören, aufzulisten, und jedes Item daraufhin zu beurteilen, wie weit zwölf von den Untersuchern vorgegebene mögliche Eigenschaften von Besitz auf sie zutreffen. Die Urteile wurden einer Clusteranalyse unterzogen. In einer 4-Cluster-Lö-

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II. Besitz als Teil der Person

sung für die Besitztümer erwiesen sich die Eigenschaften der ersten drei Cluster als auf die meisten Objekte zutreffend. Es handelte sich um "Besitz i.e.S. des Habens, der Selbstbehauptung, des Begehrens" (1.Cluster Kontrolle), "Vertrautheit, Kenntnisse, Gefallen, Nützlichkeit" (2. Cluster Bindung), und "selbstgekauft, Dauer des Besitzes, Begehren" (3. Cluster Konsum)-, die Kriterien "Geschenk" und "selbstgemacht" (4. Cluster spezielle Erwerbsmodi) trafen kaum auf die genannten Gegenstände zu. Zweitens wurden die Probanden gebeten anzugeben, wie stark die 12 Kriterien generell als Kriterien für Besitz gelten können. Hier ergab sich nun ein ganz anderes Bild. Die Kriterien "selbstgekauft, selbstgemacht und Geschenk" (1. Cluster Erwerbskriterien) wurden als Argumente für Besitz akzeptiert, aber keines der restlichen Kriterien (2.Cluster). Erwachsene sind sich also bezüglich der möglichen legalen oder moralischen Kriterien für Besitzansprüche einig, zählen aber als tatsächliche Gemeinsamkeiten der von ihnen genannten Besitztümer andere Eigenschaften auf. Genau diese dürften die psychologisch interessanteren sein (.Kontrolle, Bindung, Konsum), da die moralischen Gesichtspunkte erst in der Ausnahmesituation virulent werden, in der Besitzansprüche bestritten werden.

Psychologische Funktionen von Besitz James' Argumente dafür, den Besitz als Teil der Person bzw. des Selbst zu betrachten, können nun einer erneuten Prüfung unterzogen werden. Unter Besitz wird dabei der soeben herausgearbeitete psychologischen Kern des Begriffes zu verstehen sein. Es sollen fünf der in der Literatur angegebenen Funktionen und Bedeutungen von Besitz zusammenfassend daraufhin analysiert werden, inwieweit sie von der Kerndefinition von Besitz ableitbar sind, ob sie mit James' Formulierung von Besitz als Teil der Person kompatibel sind und welche Identitätsfunktionen von Besitz sie implizieren. 1. Sicherung des Lebensunterhalts: Von einem komparatistischen und ethologischen Standpunkt aus wird als Grundfunktion von Besitzverhalten die Sicherung der primären Bedürfnisse des Organismus bzw. der Erhalt der Gattung genannt (Beaglehole, 1932; Stanjek, 1980). Besitz gehört grundlegend zur Person, da er instrumenten für die Befriedigung vitaler Bedürfnisse ist und insofern eine Voraussetzung für die Existenz der Person darstellt. Zu einem Teil der leiblichen Person wird allein die Nahrung, sobald sie aufgenommen ist. Diese Funktion knüpft an die Nutzungskomponente unserer Besitzdefinition an; jedoch fallen Konsumgüter nur noch am Rande unter den Besitzbegriff, da sie meist kurzlebig sind und damit das dritte Bestimmungsstück von Besitz verletzen.

3. Psychologie des Besitzens

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Die Besitzfunktion der Existenzsicherung trifft, wie wir gesehen haben, weitgehend auf Tiere zu, doch schon auf einfache menschliche Gesellschaften nur mehr bedingt; zwar werden hier Beute, Gesammeltes, überhaupt Nahrung sowie Instrumente als Besitz respektiert, darüber hinaus gehören aber auch Objekte mit primär religiösen und sozialen Funktionen zum Besitz. Heute erfüllt Besitz kaum mehr diese Funktion, da die Existenzsicherung im Rahmen der Geldwirtschaft entweder nicht auf Instrumente angewiesen ist (Dienstleistungen) oder Individuen ihre Produktionsmittel nicht selbst besitzen. Zudem sind Kinder und Jugendliche in unserer Gesellschaft noch gar nicht für die Sicherung ihres Lebensunterhalts selbst verantwortlich. 2. Interesse: Rudmin und Berry (1987) nennen als distinkte Eigenschaft von Besitz, daß er vom Besitzer begehrt werde. Schon James hatte zur Erklärung dafür, welcher Teil des potentiell Ihrigen die Person sich wirklich zurechnet, auf das Interesse der Person zurückgegriffen, das Objekte der Person aneigne. Ein Bezug dieser Bedeutung von Besitz zur Identität läßt sich indirekt herstellen, und zwar soweit Interesse als aktueller Motivationszustand eine Voraussetzung dafür ist, daß die Person sich aktiv gestaltend auf ihre Umwelt einläßt. Die bereits angeführten Einwände dagegen, das Interesse, das ein Gegenstand erweckt, als eine distinkte Eigenschaft von Besitz anzusehen, werden nun gerade durch die Untersuchungsergebnisse von Rudmin und Berry (s.o.) gestützt: Zwar wurde durchschnittlich angegeben, daß eigene Besitzstücke vom Besitzer begehrt seien, und zwar etwas mehr als nichtbesessene Objekte. Insgesamt aber gehörte "Begehrtsein" zu den nur drei Kategorien, die überhaupt auch nichtbesessenen Objekten zugeschrieben wurden (außerdem "Gefallen, Kenntnisse"), und von allen 12 erfragten Kriterien differenzierte das Ausmaß des Begehrens am wenigsten zwischen besessenen und nichtbesessenen Objekten! Das weist daraufhin, daß nichtbesessene Objekte gleichermaßen Interesse wecken können wie bereits im eigenen Besitz befindliche, auch wenn die Probanden hier sicher eine Auswahl derjenigen nichtbesessenen Objekte nannten, die sie besonders begehrten. Weiterhin verträgt sich die Annahme, Besitz zeichne sich durch das Interesse des Besitzers, das er auf sich zieht, vor anderen Objekten aus, nicht unbedingt mit der Annahme, Besitz sei als Ergebnis seiner Stabilität und seines Genutztwerdens dem Besitzer besonders vertraut (s.u.). Nach Berlyne (1960) erregen solche Objekte die größte Neugier - und der psychologische Begriff des Interesses überschneidet sich weitgehend mit dem der Neugier -, die ein mittleres Ausmaß an Komplexität aufweisen bzw. weder allzu fremd bzw. neu noch allzu vertraut sind. Auch Beaglehole, der sich sonst weitgehend dem Gedankengang James' anschließt, formuliert die Rolle des Interesses und Begehrens anders als James. Diese affektiven bzw. motivationalen Zustände aktualisieren ein latentes Interesse, sich den Gegenstand anzueignen (Beaglehole,

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n. Besitz als Teil der Person

1932, 156). Ist er einmal angeeignet, mag sich nur mehr ein potentielles Interesse mit ihm verbinden, das erst im Falle des Abhandenkommens wiedererwacht. Der psychologische Begriff der Bindung (s. 4.Kap.) faßt diesen Zustand potentiellen Begehrens eines nahen Objekts für den Fall seiner Abwesenheit weitaus besser als der des Interesses. 3. Verfügungsgewalt, Herrschaft: Der Besitzer beherrscht die in seinem Besitz befindlichen Objekte mehr als von ihm nicht besessene. Das ergibt sich aus dem Ausschluß des Einflusses Dritter (Komponente a), der Nähe und Nutzung des Objekts durch die Person (Komponente b), sowie mittelbar auch aus der zeitlichen Stabilität der Besitzbeziehung (Komponente c), die es der Person erlaubt, sich mit den Eigenarten des Objekts vertraut zu machen und es besser zu beherrschen. Der Begriff der Herrschaft impliziert gleichermaßen wie der im Englischen gängige, und in der Psychologie eingedeutschte Begriff der Kontrolle einen Antagonismus zwischen Besitzer und Besitz, in dem der Besitzer dem Besitz seinen Willen nur aufzwingen kann, da die Dinge ebenso unvernünftig wie widerständig sind. Das Herrschaftsverhältnis zum Ding ermöglicht es dem Menschen, dessen höchste Errungenschaft die Vernunft ist, diese und damit sich selbst zu realisieren, zu vergegenständlichen. Dieses Verständnis von Besitz ist, wie wir sahen, ein historisch relativ spätes, sei es hinsichtlich der Rechtlosigkeit des Besitzes, das heißt der Erlaubnis, mit ihm "nach Belieben" zu verfahren, sei es hinsichtlich der Exklusivität der Herrschaft über den Besitz, wobei jenes auf dieses zurückführbar ist, da nur andere potentielle Besitzer das Besitzgut "schützen" könnten. Furby (1978a,b; 1980) nennt als die beiden wichtigsten psychologischen Charakteristika von Besitz a) das Gefühl, den Gegenstand zu beherrschen (sense of personal control or competence), und b) die identitätsstiftende Funktion von Besitz, wobei sie diese von jener ableitet. Die Herrschaft über ein Objekt wirkt sich unmittelbar positiv auf das Identitätsgefuhl aus, da es die Person als Initiator ihrer Handlungen und von Veränderungen in der Welt stärkt (Aspekt #4 des Identitätsbegriffs - s. l.Kap.). Die Beherrschung des Objekts bewirkt aber auch weitergehend, wie Furby überzeugend argumentiert, daß der Besitz als Teil der eigenen Person empfunden wird. Dies kann sie aus geläufigen Annahmen darüber, wie sich ontogenetisch die Differenzierung zwischen eigener Person und Außenwelt vollzieht, ableiten. Man nimmt an, daß die Wahrnehmung von Widerständen und Frustrationen dem Säugling sukzessive zur Anerkennung einer Realität verhelfen, die sich von ihm selbst dadurch unterscheidet, daß sie nicht so 'gehorcht' wie es beispielsweise der eigene Arm tut (Freud, 1914b; Seligman, 1975). Dem Erwachsenen ist diese Erfahrung durch die eingeübte Benutzung von Instrumenten geläufig, die soweit Teil von ihm zu werden scheinen, wie sie seine Inten-

3. Psychologie des Besitzens

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tionen "widerspruchslos" ausfuhren; die Aufmerksamkeit kann sich dann auf die Grenze zwischen Instrument und weiterer Außenwelt richten. Diesem Modell zufolge rechnet man "gefugige" materielle Objekte der eigenen Person, widerständige der nichteigenen Realität zu. Demnach erlebt man ihren Besitz, soweit er ihrem Willen keinen Widerstand entgegensetzt bzw. gar instrumenteil eingesetzt wird, als Teil eines selbst, genau so, wie James es formuliert hatte. Der Zusammenhang zwischen der Fähigkeit, ein Objekt zu beherrschen, und der Entwicklung des Identitätsgefuhls zeigt sich auch in den Streits um Spielzeug unter Kleinkindern. Mit der erfolgreichen Behauptung eines Gegenstandes grenzt sich das Kind gegenüber anderen ab (Identitätsaspekt #1) und belegt seine Dominanz gegenüber den Intentionen anderer, was sein Gefühl, etwas in der Welt zu bewirken (Identitätsaspekt #4), gleichermaßen hebt wie sein Selbstwertgefühl (Identitätsaspekt #6). Betrachtet man allein die zweistellige Beziehung zwischen Person und Ding, dann werden die gerade genannten Zusammenhänge nicht unbedingt plausibel, denn die Beherrschung eines Gegenstandes, die Überwindung seines Widerstandes gegen die Handlungschemata der Person, hängt weniger von Besitzbeziehungen als vom Geschick ab. Und dieses wird lediglich indirekt durch das Besitzverhältnis gefördert, das Gelegenheiten bereitstellt, sich mit dem Ding übend vertraut zu machen. Erst wenn man die dreistellige Beziehung zwischen Ding und zwei Personen berücksichtigt, wird deutlich, daß der Widerstand des Dings gegen die Absichten der Person nicht nur von diesem selbst, sondern auch von den Absichten Dritter ausgehen kann, und daß es dieser dingvermittelte Widerstand der Absichten anderer ist, der durch das Besitzverhältnis ausgeschaltet oder zumindest reduziert wird und so die Beherrschung des Besitzes erleichtert. 4. Freiheit, Autonomie: Besitz sichert einerseits die Freiheit des Besitzers gegenüber dem Ding, soweit er ihm dessen Widerständigkeit genommen hat, und das Ding selbst keine Anforderungen an ihn stellt. Andererseits sichert Besitz die Freiheit der Person gegenüber Dritten, deren Einfluß durch die exklusive Verfügungsgewalt über den Besitz minimiert wird. Aber Einfluß worauf? a) Man ist in seinen Handlungen freier gegenüber eigenem Besitz als gegenüber anderen Objekten; b) soweit man seinen Besitz als Teil der eigenen Person erlebt, sichert einem das Besitzrecht zugleich die Verfugung über einen selbst; c) soweit der Besitz der Person als Instrument dient, mit der man in der natürlichen bzw. sozialen Welt etwas erreichen kann, erhöht er die Macht und mithin Handlungsfreiheit gegenüber der nicht im Besitz befindlichen gegenständlichen Welt wie gegenüber anderen Personen. D e r zweite der beiden Zusammenhänge findet sich in der Naturrechtsphilosophie der Aufklärung wieder, die den Besitzschutz zu den Naturrechten der Person zählte. Sie waren, vor allem von britischen

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n. Besitz als Teil der Person

Autoren, als Abwehrrechte gegenüber dem Souverän konzipiert, dem die Regelung öffentlicher Angelegenheiten noch weitgehend überlassen blieb. Freiheit war defensiv als Nichteingreifen des Stärkeren, d.h. des Souveräns in einen Privatraum des Einzelnen konzipiert. Diese Situation gleicht psychologisch der des Kindes und des Jugendlichen gegenüber den Eltern; das trotzige Behaupten eines Spielzeugs des 2-Jährigen oder das Verschließen der Tür des eigenen Zimmers durch den Jugendlichen sind Formen, eine solche defensive Freiheit zu behaupten. Die dritte Form der Freiheit geht über die zweite hinaus, da sie die Autonomie nicht auf einen Eigenraum begrenzt. Ihr wäre beispielsweise die Freiheit zuzurechnen, die der Mensch erhält, wenn er volles Mitglied der zivilen Gesellschaft wird, und das heißt nicht nur im strafrechtlichen Sinn voll schuldfahig, sondern auch im zivilrechtlichen Sinn geschäftsfähig wird und damit nach Belieben Besitz erwerben und veräußern kann. Ein zentraler Aspekt der rechtlichen Unmündigkeit ist die Geschäftsunfähigkeit: Zwar darf die Person besitzen, aber nicht selbst über ihn verfugen, was eine erhebliche Unfreiheit bedeutet, wie man nicht nur an den Beispielen von Kindern und entmündigten Geisteskranken sehen kann, sondern auch an dem der Sklaven und, in vielen Gesellschaften, der Frauen. Auf die Bedeutung von Besitz als Bedingung von Freiheit hat in der psychologischen Literatur allein Graumann (1987) verwiesen, und zwar ebenfalls in einem entwicklungspsychologischen Kontext. Er begreift den Zuwachs an Besitz als Zeichen der Lösung aus der Abhängigkeit von den Eltern: "Die Selbständigkeit, die der Heranwachsende anstrebt, ist wesentlich das Verfugenkönnen über Zeit, Wissen und Dinge" (1987, 286). Besitz als Bedingung von Freiheit wirkt sich auf denjenigen Aspekt von Identität aus, der die Handlungsfähigkeit und -freiheit der Person betrifft (Aspekt #4). 5. Selbstverwirklichung: Mehr als durch das reine Verfugen über oder Nutzen von Dingen bewirkt die Person in ihrer dinglichen Umwelt etwas, so könnte man meinen, wenn sie Dinge gezielt verändert, sie zu einem praktischen oder künstlerischen Produkt verarbeitet. Die Bearbeitung hinterläßt an dem Gegenstand eine bleibende Spur der Tätigkeiten der Person, verweist auf ihre Intentionen und Fähigkeiten. Deshalb stellt die Formung des Gegenstandes eine besonders enge Beziehung zwischen Person und Ding her. Das Resultat muß nicht unbedingt oder für immer die "Integration des Dings in die Person" sein, noch bleiben Produkte normalerweise im Besitz des Herstellers, noch müssen sie es überhaupt je gewesen sein. Vielmehr werden Produkte meist verschenkt oder verkauft, um einen Nutzen daraus zu ziehen, Bewunderung zu ernten oder Bindungen herzustellen. James würde das Produkt solange noch als Teil der Person verstehen, wie sie die Handlungen gegenüber dem Objekt als Handlungen gegenüber sich selbst versteht. Obwohl auch diese Identifizierung mit dem eigenen

3. Psychologie des Besitzens

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Produkt sehr wohl nachlassen kann, identifizieren Menschen sich mit ihren Produkten mehr als mit den meisten anderen Objekten. Davon zu sprechen, daß im Schaffensakt ein Teil der Person in das Objekt übergeht oder die Person sich in dem Objekt vergegenständliche, setzt eine idealistische Auffassung von Person als Geist oder Wille voraus, und kann in der Psychologie nur als metaphorische Sprechweise für einen durchaus explizierbaren Tatbestand verstanden werden: Das Produkt zeugt von der Identität der Person in dem Sinne, daß sie aktiv auf ihre Umwelt Einfluß nimmt (Identitätsaspekt #4), und zwar auf eine ihr spezifisch eigene Weise (Identitätsaspekt #1). Kurz auffuhren möchte ich zwei weitere, bereits genannte Eigenschaften bzw. Bedeutungen von Besitz, die, da sie (wie das Interesse) nicht spezifisch für den eigenen Besitz sind, erst später ausfuhrlich behandelt werden sollen. Vertrautheit: Beaglehole (1932), Stanjek (1980) sowie Rudmin und Berry (1987) nennen die Vertrautheit einer Person mit ihrem Besitz als wichtiges psychologisches Element von Besitzbeziehungen. Doch ebensowenig wie die Interessantheit eines Objekts ist der Grad der Vertrautheit mit ihm spezifisch für in Besitz befindliche Objekte; besonders das erste Bestimmungselement des Besitzbegriffes, der Ausschluß Dritter, differenziert nicht zwischen vertrauten und unvertrauten Objekten (s. 3.Kap.). Verbindung zu anderen Personen: Die Funktion von Besitz, sich mit anderen Personen in Beziehung zu setzen, wird allein von Rudmin und Berry genannt. Als Beispiel nennen sie das Geben und Nehmen von Objekten zwischen Kleinkindern. Besitz zu erwerben bzw. zu veräußern ermöglichen es dem Besitzer, mit anderen in Kontakt zu treten; das Verschenken oder Verleihen von Besitz setzt andere gar in eine Dankesschuld und verleiht dem Besitzer Macht über andere. Diese psychologische Funktion von Besitz wird jedoch in der Literatur kaum beachtet. Der Grund dafür liegt darin, daß persönlicher Besitz meist langandauert und selten verkauft, nur manchmal verliehen wird (s.5. u. 6.Kap.).

Besitz als Teil der Person - Besitz und Identität Die Vorstellung, ein Gegenstand gehöre zur Persönlichkeit bzw. ein Teil der Person gehe auf den Gegenstand über, fanden wir bereits in Lockes Begriff der Arbeit sowie expliziter bei Hegel, dem in der Beherrschung eines Objekts, und mehr noch in seiner Formung sich der Geist vergegenständlicht. Noch Beaglehole (1932, 303) zitiert zustimmend Jhering, daß "ich durch Arbeit der Sache den Stempel meiner Person aufdrücke; [..] der Schlag gegen die Sache ist ein Schlag gegen mich; das Eigentum ist nur die sachlich erweiterte Peripherie meiner Person" (1874/1965, 228). Beaglehole führt auch Beispiele magischer Praktiken an Körperteilen

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II. Besitz als Teil der Person

anderer an, um dann kurzerhand den engen Zusammenhang zwischen Person und ihrem Besitz einer animistischen Beziehung zu erklären, da wenn die Person ihren Besitz als Teil ihrer selbst erlebt, sie ihm die eigene Lebendigkeit verleihe und die Differenz zwischen Personen und Gegenständen aufhebe. Obwohl dies in manchen Fällen zutreffen mag, meine ich doch, daß wir die Beziehung inzwischen genauer spezifiziert haben. Tabelle 2.1

Identitätsfunktionen von Besitz Besitzaspekte: Kernbegriff von Besitz

Identitätsaspekte:

Aus- Nähe Nutzung Schluß Dritter

1. Zugehörigkeit Abgrenzung 2. Kontinuität

X

5. Körper 6. Wertschätzung

Stabi- Beherrlität schung

X

X

Freiheit Autonomie

Selbstverwirklichung

X

X

X

3. Konsistenz 4. Autonomie Wirksamkeit

Bedeutungen von Besitz

X

X X X

X X

X X

X X

X

X

X

X X

X X

X

Wie sich herausstellte, kann man in fünferlei Hinsicht davon sprechen, daß Besitz Teil der Person ist; wieweit diese Rede metaphorisch gemeint ist, logisch oder gar erlebnisdeskriptiv, wird im nächsten Kapitel im Zusammenhang mit den Themen der Vertrautheit, des Interesses und des Ichgefiihls genauer zu erörtern sein: - Besitz dient der Person als Instrument, das sie perfekt beherrscht, das unmittelbar ihren Intentionen folgt und deshalb als zur eigenen Person gehörend erlebt wird; - Besitz vergrößert den Handlungsspielraum der Person direkt, als Instrument, und indirekt als ein Ausschnitt der sachlichen Umwelt, die von der Einflußnahme Dritter ausgenommen ist, und gehört deshalb zur Person;

3. Psychologie des Besitzens

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- Produkte können als Teil der Person betrachtet werden, da sie eine (kreative) Tätigkeit der Person dokumentieren, die spezifisch für sie ist und auf ihre Intentionen und Fähigkeiten verweist; - in einem weiten Sinne von Besitz ist alles, was zu einer Person gehört, dieser perspektivisch zugeordnet, und bildet ihr ein relativ konstantes Umfeld; - unveräußerlicher Besitz ist ein essentieller Teil der Person, ohne den ihre Identität eine andere wäre. Auf die Einflüsse der verschiedenen psychologischen Bedeutungen von Besitz auf die Identität der Person wurde bereits eingegangen. Besitz beeinflußt vor allem das Gefühl, Autor der eigenen Handlungen und von Veränderungen in der Welt zu sein (Aspekt #4) und die Abgrenzung der eigenen Person von anderen (Aspekt #1). Betrachtet man die Identitätsimplikationen von Besitz in seiner Kerndefinition, tritt vor allem noch eine Komponente hinzu, nämlich die der Verstärkung der Kontinuität mit sich selbst (Aspekt #2 - s. Tabelle 2.1). Wir haben in diesem Kapitel die Formulierung William James, das einer Person Gehörende sei die Person, spezielle am Fall des Besitzes untersucht und präzisiert. Es zeigte sich, daß James' Kriterien des Interesses an und der Vertrautheit mit dem Objekt sowie teilweise die von ihm verwendete Raummetapher nicht mit dem Begriff des Besitzes, auch nicht in seiner weiteren Bedeutung, in Deckung zu bringen sind.

III. Selbstgefühl und Dinge

Im vorigen Kapitel habe ich in einem ersten Anlauf den Zusammenhang v o n persönlichen Objekten und Identität zu formulieren versucht und w a r dabei von James Formulierung von Besitz als Teil des Selbst ausgegangen. D o c h der B e g r i f f des Besitzes stimmt nicht mit dem des persönlichen Objekts überein, und die Begründungen James' erwiesen sich als nicht stringent. Mit diesem Kapitel beginne ich, psychische Funktionen persönlicher Objekte systematisch zu untersuchen. Dabei werde ich in diesem Kapitel v o n der sehr begrenzten Perspektive des subjektiven Erlebens ausgehen, die dann Kapitel für Kapitel erweitert wird. Im nächsten, vierten Kapitel weitet sich der Blick vom Individuum auf seine, vor allem räumliche, Beziehung zur Umwelt, im fünften Kapitel tritt die symbolische und kulturelle Dimension hinzu, und im sechsten Kapitel schließlich wird die Beziehung zu Dingen in den Kontext der affektiven Beziehung zu spezifischen signifikanten Anderen gesetzt. Den Ausgangspunkt bildet eine psychologische Untersuchung der B e deutung von Dingen für das Selbstgefühl. Anknüpfend an James wird von der Illusion einer solitären Beziehung zum Objekt ausgegangen, die der persönliche und oft gar intime Charakter persönlicher Objekte erst einmal nahelegt. Dabei wird von Raum und Umwelt, vom symbolischen Gehalt der Beziehung und von seiner kulturellen und sozialen Einbettung, j a Konstitution, vorerst zu abstrahieren sein. Würde der A u f b a u der Argumentation hingegen der Konstitution der Beziehung zu Dingen folgen, müßte man von Geschichte und Kultur b z w . , auf der Seite des Individuums, von biologischen Bedürfnissen und unbewußten Wünschen ausgehen, um sich zusehends der individuellen R e f l e x i o n eigener Empfindungen anzunähern. Ein solches V o r g e h e n wiese darüber hinaus den Vorteil auf, nicht Abstraktionen zu fingieren, die dann doch nicht immer durchzuhalten sind, w i e es beim gewählten V o r gehen der Fall ist: Denn das Selbsterleben ist nicht stringent ohne V e r w e i s auf eine Umwelt zu thematisieren, die Beziehung zur Umwelt nicht auf eine asymbolische, räumliche zu beschränken, die symbolische B e deutung v o n Dingen nicht ohne Verweis auf signifikante Andere m ö g lich. Deshalb wird es unvermeidlich sein, immer wieder zumindest implizit vorauszugreifen.

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m . Selbstgefühl und Dinge

Trotz dieser Nachteile spricht für das gewählte Vorgehen, daß das komplexe und vielseitige Thema der Psychologie persönlicher Objekte so in zunächst einfacheren Schritten angehbar ist. Entsprechend werden in diesem ersten systematischen Kapitel auch Theorien der allgemeinen Psychopathologie und der allgemeinen Psychologie herangezogen werden können, während wir im weiteren Verlauf immer spezifischere Theorien werden zu Rate ziehen können. Im folgenden Kapitel werden dies eine ethologische Entwicklungstheorie und Lewins allgemeines Feldmodell sowie Theoreme der Öko- und bereits der Sozialpsychologie sein; im fünften Kapitel werden zudem ethnologische, semiotische sowie kulturpsychologische Theorien hinzugezogen, im sechsten Kapitel schließlich auch psychoanalytische. Die entwicklungspsychologische Perspektive wird hier quer zu dem schrittweisen Vorgehen angeordnet und jeweils gegen Ende der Kapitel akzentuiert werden. Die Untersuchung folgt also, wenn auch nicht im Detail, so doch in ihren strategischen Linien, einem Weg vom Einfachen und Allgemeinen zum Komplexeren und Spezifischeren. Die partiellen Unzulänglichkeiten der einfacheren Fragen und Antworten werden zu den nächsten Fragen fuhren. In diesem dritten Kapitel wird zuerst der Begriff des Selbstgefühls expliziert und auf die sechs eingangs genannten Identitätsdimensionen bezogen (1.). Besonders gehe ich der Frage nach, ob das Selbstgefühl als motivationale Größe gelten kann. Das Diktum James' im Hintergrund, daß Dinge zum Selbst gehören können, werden die zwei Aspekte des Selbstgefühls gesondert untersucht, die am ehesten versprechen, eine Brücke von der eigenen Person zu Dingen zu schlagen. Zum einen sind dies die Empfindungen der Vertrautheit und Lebendigkeit, die beide im Entfremdungserleben gestört sind und sich gleichermaßen auf die eigene Person wie die Umwelt beziehen (2 ). Zugleich handelt es sich bei der mit der Lebendigkeit des Erlebens verknüpften Interessantheit und Vertrautheit von Dingen um diejenigen beiden Kriterien, die am Ende des zweiten Kapitels als Bestimmungen der Ausdehnung des seif nicht hatten überzeugen können. Hier werden wir auch auf Befunde der experimentellen Psychologie zur Neugiermotivation zurückgreifen. Zum anderen werden räumliche Bezüge des Selbstgefühls, speziell der Begriff der Selbstgrenze erörtert werden (3.). Abschließend fasse ich die Ergebnisse des Kapitels für die Bedeutung von Dingen für das Selbstgefühl zusammen, skizziere die im Laufe der Diskussion eingeführten Motivationsbegriffe und erläutere eine besondere Form des Zusammenwirkens verschiedener Aspekte des Selbsterlebens mit einem Objekt am Beispiel des sogenannten Fließerlebens (4.).

1. Subjektive Identität und ihre Störungen

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1. Subjektive Identität und ihre Störungen 1.1 Das Ich- oder Selbstgefühl auf den sechs Identitätsdimensionen William James verstand unter Selbst immer das Erleben der eigenen Person. All jenes zählt er zum Selbst, was als zu einem selbst gehörend erlebt wird und auf das man emotional und handelnd wie auf sich selbst reagiert. Der Kern der eigenen Person, das Ich, werde als aktives, interessiertes, selektiv die Aufmerksamkeit lenkendes und den Willen beherbergendes Zentrum erlebt. Da die noch nicht untersuchten Bestimmungsstücke der Identität bei James, nämlich Vertrautheit und Interesse, wie zu zeigen sein wird zugleich Aspekte des Selbsterlebens bzw. Identitätsgefühls sind, beginnen wir mit diesem. Dies gibt zugleich Gelegenheit, den im ersten Kapitel vorweg bestimmten Identitätsbegriff zu ergänzen. Sich explizit auf William James und implizit auf Paul Federn beziehend, bezeichnet Erik Erikson dieses diffuse Selbstempfinden als Identitätsgefühl. Federn hatte es Ichgefühl genannt, heute wird am ehesten von Selbstgefühl gesprochen - die drei Bezeichnungen werden im folgenden synonym verwendet. Es ergibt sich aus der integrativen Leistung einer Person auf den im ersten Kapitel ausbuchstabierten Dimensionen der Distinktheit und Zugehörigkeit, der Kontinuität, der Konsistenz, der Autonomie und Eigenaktivität sowie der Aneignung des Körpers und des Selbstwertgefühls. Erikson bezeichnet das Identitätsgefiihl als das Empfinden, "zentriert und aktiv, ganz und bewußt zu sein" (1982/1988, 115); die verschiedenen Aspekte des Identitätsgefühls gipfelten "in dem Gefühl, in seiner Zeit und an seinem Platz zu Hause zu sein" (ebd., 119). Sein Lehrer Federn hatte das Ichgefühl als ein Selbsterlebnis definiert, das "eine bleibende, wenn auch nie gleichbleibende Einheit [ist], die nicht abstrakt, sondern wirklich ist. Diese Einheit bezieht sich auf die Kontinuität der Person in zeitlicher, räumlicher und kausaler Hinsicht, diese Einheit ist objektiv erkennbar und wird stets subjektiv wahrgenommen" (Federn, 1932/1978, 59). Doch genaugenommen wird das Identitätsgefühl erst zu einem empirischen Gefühl, einer Erfahrung, wenn es gestört ist, in Zuständen überhöhten Selbsterlebens wie in der Ekstase oder der mystischen Vereinigung bzw. bei negativen Störungen (Federn, 1928/1978, 277). Ein optimales Identitätsgefuhl wird "bloß als psychologisches Wohlsein erlebt" (Erikson, 1968/1981, 170; vgl. Sandler, 1960). Von diesem so schwer greifbaren präreflexiven Identitätsgefühl ist das Selbstbild zu unterscheiden, soweit es auf den angegebenen Dimensionen aus der Perspektive Anderer oder der Person selbst in reflexiver Einstellung zu bestimmen ist, das James'sche Mich. Fast alle psychologischen und soziologischen Theorien des Selbst und der Identität beziehen sich auf diesen intersubjektiv validierbaren Aspekt der Identität. Epstein

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III. Selbstgefühl und Dinge

(1973; 1980) geht gar so weit, als das Selbst das Gesamt der Theorien einer Person über sich selbst zu definieren, als ob Personen nicht vortheoretische, pragmatische Wahrnehmungen von und Überzeugungen bezüglich ihrer selbst hätten, die sie im Lebensvollzug entwickeln und weder explizit formulieren noch systematisch überprüfen, sondern erst dann gegebenenfalls theoretisieren und in Frage stellen, wenn sie praktisch zu Widersprüchen fuhren. Anderen Autoren gelten explizierte Selbstbilder, Selbstbeschreibungen als das Selbst (McGuire & McGuire, 1987). Im Unterschied zum Ich- oder Identitätsgefuhl, der subjektiven Identität, handelt es sich hier jeweils um mittelbares Wissen Uber sich selbst. Diese Unterscheidung wird auf diese oder ähnliche Weise von den meisten Autoren getroffen. 1 Der soziologische Identitätsbegriff bezieht sich auf dieser Ebene des reflektierten Wissens bzw. der intersubjektiven Übereinstimmung auf die Definition der Person in Termini von eingenommenen Rollen und sozialen Gruppenzugehörigkeiten. Goffman unterscheidet bezüglich der sozialen Identität einer Person noch einmal zwischen sozialer Identität i.e.S., die aus den grundlegenden sozialen Rollen oder Gruppen besteht, die eine Person innehat bzw. denen sie angehört (z.B. Geschlecht, Altersgruppe, Schicht, Berufsrolle), während die persönliche Identität die einzigartige Kombination dieser sozialen Identitätsbestimmungen eines Individuums ist (Goffman, 1963/1972, 10, 72f.; 1982/1988, 255f.). Die soziale Identität unterscheidet auch er, unter Verweis auf Erikson, von der empfundenen Identität (Goffman, 1963/1972, 132). Der Begriff des Identitätsgefuhls bezeichnet eine heterogene Gruppe von diffusen Selbstempfindungen, die sich auf psychische Funktionen wie Denken, Erinnern oder Fühlen ebenso wie auf den eigenen Körper beziehen können. Federn unterscheidet vom Ichgefuhl ein spezielles Körperichgefuhl, das er als eine "evidente Sensation des gesamten Körpers, nicht nur nach Größe, Ausdehnung und Ausgefulltsein" bestimmt (Federn, 1927/1978, 42). Doch scheint mir, daß zwischen diesen beiden Selbstbezügen empirisch oft kaum zu unterscheiden ist. Es kann hier nicht das Ziel sein, eine Systematik der Variationen des Ichgefuhls und seiner Dimensionen zu begründen. Daran haben sich be-

1 Fenichel (1945) unterscheidet die unmittelbare Wahrnehmung des eigenen Erlebens, u.a. das Körpergefühl, von der indirekten Selbstwahrnehmung und Introspektion, Tugendhat (1979, 2.Vorlesung) unmittelbares von mittelbarem, theoretischem Selbstbewußtsein; vgl. analog Lewis und Brooks-Gunn (1979) und Guardo und Bohan (1971).

1. Subjektive Identität und ihre Störungen

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reits andere versucht, ohne daß ihre Vorschläge zu überzeugen wüßten. Je nach Zielsetzung betonen Autoren die einen oder anderen Aspekte. Halten wir uns deshalb an die sechs genannten Identitätsdimensionen und ordnen ihnen mögliche Variationen des Ichgefühls zu. 1. Die Dimension der Zugehörigkeit/Nichtzugehörigkeit legt, jedenfalls wenn sie als Abgrenzung gefaßt wird, eine räumliche Vorstellung nahe. Einsamkeit und das Gefühl der Andersartigkeit können zum einen als Distanz zu Anderen empfunden werden, zum anderen als Verschlossenheit; Zugehörigkeit und das Gefühl der Übereinstimmung können als Nähe und Verschmelzen mit einer Person, Gruppe oder Landschaft erlebt werden; im wahnhaften Erleben fuhren sie zu der Überzeugung, daß andere die eigenen Gedanken lesen (Tausk, 1919). 2. Störungen auf der Dimension der Kontinuität mit sich selbst zeigen sich als Gefühl des von der eigenen Geschichte Abgeschnittenseins, was im Extremfall bis zur sogenannten multiplen Persönlichkeit fuhrt, die sich in einer völlig neuen Identität erlebt; andererseits gehören auch Erlebnisse dazu, daß vermeintlich keine Zeit vergangen sei, wie déjà vu-Erlebnisse, oder daß man sich nicht fortentwickelt hat und keine Hoffnung auf eine Weiterentwicklung hegen kann. 3. Störungen der Konsistenz mit sich selbst beziehen sich auf das Empfinden, in verschiedenen Situationen je eine andere Person zu sein, oder verschiedene Aspekte der eigenen Person, verschiedene Wünsche nicht miteinander vereinbaren zu können, so daß es im Extrem zu dem Gefühl der Fragmentierung kommt. 4. Störungen der Gewißheit, aktiv auf die Umwelt einwirken und sein Leben mitgestalten zu können sowie Autor der eigenen Handlungen zu sein, zeigen sich in Gefühlen der Hilf- und Hoffnungslosigkeit, der Erstarrung, des Ausgeliefertseins; dazu gehört auch das Empfinden, von Anderen gesteuert zu werden. 5. Besonders deutlich machen sich Störungen des Ichgeflihls bemerkbar, die sich auf den Körper beziehen: Gefühle der Minderwertigkeit und der Abnormität des eigenen Körpers können ebenso wie intensive Affekte das Körpererleben verändern, z.B. das seiner Größe und Ausdehnung, seiner Zugehörigkeit zur eigenen Person, seiner Lenkbarkeit, seiner Abgeschlossenheit und Integrität. 6. Veränderungen im Selbstwert der Person äußern sich in exaltiertem bzw. deprimiertem, überhöhtem oder bedrücktem Selbsterleben. Bei diesem Versuch einer Zuordnung von Variationen des Ichgefühls zu den sechs Identitätsdimensionen zeigt sich schnell, daß sie meist nicht eineindeutig möglich ist. Beispielsweise ist im Beeinflussungswahn einerseits die Abgrenzung von Anderen gestört, andererseits zugleich die Gewißheit, aktiv sich selbst zu bestimmen. Auch empirisch sind Variationen des Ichgefühls selten allein auf einer Dimension anzutreffen. Extremere

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m. Selbstgefühl und Dinge

Störungen des Identitätsgefühls treten in den Psychosen auf. In der phänomenologisch bzw. psychopathologisch orientierten deutschen Psychiatrie werden diese Störungen als Ichstörungen beschrieben. So nennt Kurt Schneider (1962) die Dimensionen der Kontinuität, Einfachheit im Augenblick (Konsistenz), Abgrenzung sowie, zusätzlich zu den bereits genannten, die der Meinhaftigkeit und Vitalität. Jaspers hatte statt der Meinhaftigkeit noch die Dimension der Aktivität genannt (vgl. Blankenburg, 1988), woraus sich Scharfetters (1995) Liste von Dimensionen des Ichgefühls ergibt. Zusätzlich zu den bereits genannten sechs Identitätsdimensionen und in gewisser Weise quer zu ihnen wird in der psychiatrischen Literatur also die Vitalität genannt. Sie ist in Entfremdungszuständen gestört (s. 2 ). In der psychoanalytischen Literatur finden sich Beschreibungen von Störungen des Identitätserlebens nicht nur bei psychotischen Patienten, sondern auch als Variationen narzißtischer Zustände (Bach, 1977) und bei Borderline-Patienten. In Extremsituationen können sie aber bei jedem auftreten.

1.2 Identitätsstabilisierung als motivationale Regelgröße Ein gesundes, stabiles Ichgefühl in Form eines nur diffus empfundenen Wohlbefindens resultiert aus einer auf den sechs Dimensionen mehr oder minder optimierten Identität. Störungen des Selbstgefühls ergeben sich, allgemein gesagt, aus Identitätskonflikten oder -brüchen innerhalb der Person bzw. mit ihrer Umwelt. Deshalb ist Identität nicht zuletzt ein motivationspsychologisch relevanter Begriff.

Identitätsbezogene

Motivation in psychologischen

Theorien

Der angestrebte, als Ziel motivierende Identitätszustand fallt je nach Dimension unterschiedlich aus. Auf den ersten drei Identitätsdimensionen im engeren Sinne (Zugehörigkeit vs. Abgrenzung, Kontinuität, Konsistenz) wirkt als motivierender Zielzustand eine ausgewogene, balancierte Position, d.h. Extremvarianten in beiderlei Richtung werden als unangenehm empfunden und gemieden. Auf den letzten drei Dimensionen hingegen wird ein Maximum als optimal erlebt (Wirksamkeit, Körper, Selbstwert). In der Psychologie erscheinen motivierende Selbstgefühlszustände in den unterschiedlichsten Theorien, die jeweils einzelne Aspekte herausgreifen (für einen partiellen Überblick s. Epstein, 1980; Gecas, 1982). 1. Das Bedürfnis nach Individualität im Sinne des einfachen Sich-Unterscheidens wird in der Psychologie relativ wenig untersucht (s. aber

1. Subjektive Identität und ihre Störungen

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Snyder & Tomkin, 1980). Häufiger hingegen finden sich Arbeiten zu Individualität, die vermittelt über zwei andere Identitätsaspekte motiviert wird. Dies ist zum einen das Bedürfnis, im evaluativen Sinne hervorzustechen, sich zu distinguieren und etwas Besonderes zu sein (z.B. Wicklund & Gollwitzer, 1982), zum anderen das Bedürfnis, die eigene Individualität dadurch zu erfahren, daß man etwas bewirkt (Nunner-Winkler, 1985). Jenes wird durch das Bedürfnis nach Selbstwertschätzung (Identitätsaspekt #6), dieses das Bedürfnis nach Selbstwirksamkeit (Aspekt #4) angetrieben. Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit äußert sich in vielen untersuchten Größen, so dem Konformitätsstreben, dem Anschlußmotiv, aber auch den Sozialisationsmechanismen der Nachahmung und Identifizierung. 2. Das Bedürfnis nach Kontinuität mit sich selbst wird in der Literatur kaum thematisiert, es sei denn über die Schwierigkeiten, die sich bei Kontinuitätsbrüchen ergeben, die als kritische Lebensereignisse beforscht werden (Filipp, 1981). Gecas (1982) handelt es knapp gemeinsam mit dem folgenden Identitätsaspekt ab. 3. Zur Kontinuität mit sich selbst als diachroner Selbstkonsistenz tritt die synchrone Konsistenz hinzu. Sie bezieht sich auf die Vereinbarkeit der Identitäten der Person in verschiedenen Situationen, aber auch auf die Konfliktfreiheit zwischen verschiedenen Äußerungsformen einer Person. Letzteres thematisieren Konsonanz- und Dissonanztheorien, die u.a. die Konsistenz zwischen Handlungen und Einstellungen als motivierenden Zielzustand untersuchen (z.B. Festinger, 1957). Sobald Inkonsistenzen auftreten, ist die Person motiviert, sie zu beseitigen, z.B. indem sie ihre Einstellung ändert, um sie mit einer bereits erfolgten Handlung in Einklang zu bringen. 4. Der motivational zentrale Identitätsaspekt ist die Erfahrung, aktiv auf die Umwelt und sich selbst einwirken zu können. Die KompetenzMotivation (White, 1959) zielt darauf, die Handlungskompetenz zu maximieren. Brehms Reaktanzkonzept (1966) formuliert das Bedürfnis, sich gegen Zwänge zur Wehr zu setzen. McClellands (1975) Machtmotiv und Seligmanns (1975) Konzept der erlernten Hilflosigkeit gehen ebenfalls von dem Motiv aus, die Umwelt beeinflussen zu können. Banduras (1986) sehr kognitiver Begriff der Handlungseffizienz ( s e l f - e f f i c a c y , als Selbstwirksamkeit übersetzt) unterscheidet zwischen Erwartungen bezüglich der Erfolgsaussichten einer Handlung und Erwartungen bezüglich der eigenen Fähigkeit, diese Handlung auszufuhren. Rotters (1966) dispositionspsychologisches Konstrukt der Kontrollüberzeugungen beschreibt generalisierte Erwartungen bezüglich der eigenen Einflußmöglichkeiten. Ryan (1993) entwickelt einen umfassenden psychologischen Begriff der Autonomie, um diese als die zentrale Dimension des Selbst auszuweisen. 5. Die Aneignung des Körpers als physische Basis der eigenen Identität wird sollten untersucht (s. aber Radley, 1991). Sie wird dann thema-

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in. Selbstgefühl und Dinge

tisch, wenn der Körper als defizient erlebt wird, so wenn er nicht mehr funktioniert wie bei Krankheiten oder Behinderungen, oder wenn er sich wie in der Pubertät stark verändert (Brooks-Gunn, 1987). Am ehesten findet der Körper in seiner interaktionsregulativen und auch selbstevaluativen Funktion Beachtung, nämlich in der Attraktivitätsforschung (Sieverding, 1992). 6. Auch das Selbstwertgefühl kann, wie das Körperselbstgefuhl, zumindest teilweise als Resultante der ersten vier Dimensionen gelten. Als Grundform des wertenden Selbsterlebens wird oft ein grundlegendes Wohlgefiihl angenommen (Sandler, Holder & Meers, 1963). Es bezeichnet lediglich die positive oder negative Färbung des Selbsterlebens. Die Mechanismen, die das Selbstwertgefuhl bestimmen, verändern sich im Laufe der kognitiven und emotionalen Entwicklung. Die Quelle des Selbstwertgefuhls verschiebt sich zusehends von Bewertungen anderer Personen auf Selbstbeurteilungen und die Kriterien werden komplexer. Wahrnehmungsverzerrungen, die dazu dienen, das Selbstwertgefiihl zu schützen, sind in den vergangenen Jahren verstärkt in das Zentrum sozialpsychologischer Forschung gerückt (Greenwald, 1980; Taylor & Brown, 1988). Eine andere Form der Kompensation eines geringen Selbstwertgefuhls haben Wicklund und Gollwitzer (1982) beschrieben, bei der die Person eine angestrebte Identität beansprucht, indem sie sich entsprechende dingliche Symbole des Erfolgs zulegt (s. 5.Kap.).

Mechanismen

identitätsbezogener

Motivation

Identität übersetzt sich in ein Identitätsgefuhl, wenn sie von einem normalen Zustand abweicht. Dies gilt für alle sechs Dimensionen. Auf den ersten drei Dimensionen werden Abweichungen in beide Richtungen negativ erlebt, auf den letzten drei Dimensionen nur Abweichungen in einer Richtung. Variationen im Identitätsgefuhl wirken primär dann motivierend, wenn sie als negativ empfunden werden. Daraus ergibt sich ein sehr einfaches und allgemeines Motivationsmodell, für die ersten drei Dimensionen ein Balancemodell, für die letzten drei ein Maximierungsmodell mit einer mittleren Normal- oder Ruhezone. Die Normalität, der mittlere Bereich auf den Dimensionen, bestimmt sich nun erstens objektiv über das beobachtbare Ausmaß beispielsweise der Gemeinsamkeit bzw. Besonderheit der Person mit anderen (#1). So ist die Individualität eineiiger Zwillinge gegenüber einander gering. Zu unterscheiden ist hierbei wiederum zwischen der mittleren Ausprägung über eine längere Zeit hinweg von der Ausprägung in einer gegebenen Situation. Es kann überdauernde Abweichungen vom Normalmaß geben, wie im Beispiel der Zwillinge, wenn sie gemeinsam aufwachsen und auch noch sehr ähnlich behandelt werden, woraus in diesem abstrakten Modell eine überdauernde Motivation entsteht, sich zu individuieren. Situative

1. Subjektive Identität und ihre Störungen

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Abweichungen vom Normalbereich mal in die eine, mal die andere Richtung hingegen wirken nicht notwendigerweise motivierend. Zweitens zeigen sich interindividuelle Unterschiede darin, was als normal erlebt wird. Die Standards für ein normales, und damit nicht motivierendes Ausmaß der Erfahrung eigener Besonderheit oder Gemeinsamkeit mit Anderen, von Kontinuität oder Erneuerung, von Selbstkonsistenz oder Spontaneität unterscheidet sich von Person zu Person, was in dispositionellen Konstrukten wie dem der Tendenz zur sozialen Konformität oder dem der Tendenz zur Individuation erfaßt wird. Die motivierende Wirkung von Variationen der Identität und des Identitätsgefühls unterscheidet sich von der Funktionsweise anderer motivierender Größen. So lassen sich körperliche Bedürfnisse wie der Urinierdrang nach einem Modell des periodischen Spannungsauf- und abbaus konzipieren, nach dem ein Bedürfnis periodisch ansteigt, bis es befriedigt und damit wieder abgebaut wird. Dieses Modell ähnelt dem Maximierungsmodell, da die Motivation immer in die gleiche Veränderungsrichtung zielt, nämlich auf einen Spannungsabbau, während der Spannungaufbau extrapsychisch geschieht. Im Unterschied zu unserem Maximierungsmodell gibt es beim Modell der Motivierung durch periodisch wieder auftretende biologische Bedürfnisse keinen graduell raaximierbar positiven Zustand, sondern lediglich den Abbau des Spannungszustandes, der selbst lustvoll, aber mit Abschluß des Handlungsvollzuges beendet ist.

Selbstgefühl und Dingbezug Kehren wir zu der Frage nach den möglichen Beziehungen zwischen Identität, Selbstgefühl und Dingen zurück. Vor allem zwei Aspekte des Selbstgefühls beziehen sich nicht ausschließlich auf die eigene Person. Dies ist erstens das, was im Entfremdungsgefühl verloren geht, nämlich Vertrautheit und das Gefühl der Lebendigkeit und präsenten Wirklichkeit. Sie beziehen sich sowohl auf die eigene Person wie auf die menschliche und nicht-menschliche Umwelt. Zweitens ist es der Aspekt der Abgrenzung (#1), die unterschiedlich stark ausfallen und, wie James betont, unterschiedlich umfassend Ausschnitte der Umwelt miteinbeziehen kann. Zentraler Ort der Abgrenzung ist der Körper. In diesem Kapitel gehen wir möglichst allein von einer Perspektive des Erlebens aus, wie das Individuum es selbst beschreiben kann, eine Perspektive, die James bei der Bestimmung des Selbst einnimmt. In den folgenden beiden Abschnitten werden wir versuchen, nacheinander die Phänomene von Vertrautheit/Lebendigkeit und Abgrenzung begrifflich zu klären. Strategisch interessieren zwei Fragen: Inwiefern können Interessantheit und Vertrautheit dazu führen, daß Dinge oder Menschen als Teil eines selbst erlebt werden, wie James meint? Beeinflussen sie die

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m. Selbstgefühl und Dinge

Ausdehnung der erlebten Meinhaftigkeit, und wenn ja, weshalb (2.)? Und zweitens ist zu klären, welche Beschreibungsmöglichkeiten sich für die Beziehung zwischen Dingen und dem Selbst- und Welterleben von Personen ergeben (2., 3.).

2. Vertrautheit und Lebendigkeit im Identitätsgefühl 2.1 Entfremdungszustände als Identitätsstörungen Entfremdungszustände bestehen in einer Veränderung des unmittelbaren, präreflexiven Erlebens. Federn definiert sie folgendermaßen: "Die Außenwelt erscheint dinglich unverändert, aber doch anders, nicht von selbst so richtig nahe oder fern, hell, warm, vertraut und wohlbekannt, nicht richtig, wirklich bestehend und lebhaft, mehr wie traumhaft und doch anders als traumhaft. Im Inneren kann es wie tot sein; so fühlt sich der Kranke, weil er sich nicht fühlt. Sein Fühlen, Wollen, Denken, Erinnern, ist anders, fraglich, unerträglich anders geworden. Dabei weiß der Kranke alles richtig, keine Qualität der Wahrnehmung, der Verstandes- und vernunftgemäßen Auffassung und Verarbeitung haben gelitten. Er weiß auch, was an Gefühl ihm abgeht. Es fehlt die 'Evidenz'. [...] Die Zeit, der Ort, die Kausalität werden gekannt und richtig zur Orientierung angewendet, aber nicht in ihrer selbstverständlichen Spontaneität besessen" (Federn, 1927/ 1978, 42) In Entfremdungszuständen erlebt der Betroffene sich selbst bzw. seine Umwelt als leer, öde, nicht-menschlich oder tot. In Entfremdungszuständen bleibt jedoch die Fähigkeit, korrekt wahrzunehmen, erhalten, was sie von Halluzinationen unterscheidet. Vielmehr fühlt sich die Wahrnehmung anders an, sie hat eine andere, stark herabgesetzte affektive Tönung. Von der Entfremdung unterscheidet Federn (1949b) die stärkere Depersonalisation, in der nicht nur das Gefühl der Vertrautheit verloren geht, sondern das Selbsterleben auch auf weiteren Identitätsdimensionen gestört ist. Im angelsächsischen Raum wird hingegen terminologisch dazwischen unterschieden, ob die Entfremdung sich auf die Welt (Derealisierung) oder die eigene Person (Depersonalisierung) bezieht. Entfremdungszustände treten im Zusammenhang mit einer Vielfalt psychischer Belastungen und Störungen auf, nicht nur bei beginnender Schizophrenie (Oberst, 1983). Versteht man das Entfremdungserleben mit Meyer (1959) als Störung des erlebten Weltbezugs, verwundert es nicht, daß es besonders in solchen Situationen auftritt, in denen sich die-

2. Vertrautheit und Lebendigkeit

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ser verändert, wie z.B. bei plötzlichem Verlust der vertrauten Umwelt oder in Pubertät und Adoleszenz. Der Begriff des Entfremdungszustandes ist eigentlich eine Art Oberbegriff für leichtere Störungen des Identitätsgefühls. Insofern verhalten sich die beiden Erlebnisqualitäten der Lebendigkeit und Vertrautheit, über deren Verlust sich Entfremdungserlebnisse definieren, als Folge von Störungen der Identität auf ihren sechs Dimensionen. Zugleich entsprechen sie denjenigen der von James genannten Kriterien für die Ausdehnung eines selbst, deren Gültigkeit gegen Ende des zweiten Kapitels zweifelhaft geblieben war. Diese beiden, jedenfalls in Entfremdungszuständen miteinander korrelierenden Phänomene der Vertrautheit und der Lebendigkeit sollen nun nacheinander genauer beschrieben werden.

2.2 Bekanntheit, Vertrautheit und Vertrautheitsgefiihl Die einfachste Annahme zur Entstehung von Vertrautheit besagt, daß sie eine einfache Funktion wiederholter Erfahrungen mit ihrem Objekt ist. Entsprechend operationalisiert man in der experimentellen Psychologie die Variable Vertrautheit mittels der Anzahl der wiederholten visuellen Darbietungen eines Stimulus. Eigentlich handelt es sich hierbei aber eher um die ohne Rekurs auf das Erleben definierbare Bekanntheit eines Objekts als um das mit ihm Vertrautsein, ein Unterschied, der besonders im Englischen sprachlich kaum erfaßt wird, da beides als familiarity bezeichnet wird. 2 Im Deutschen kann man sich die Unterschiede an einer verwandten Verwendungsweise der beiden Wortstämme vor Augen führen; 'eine mir bekannte Person' hat eine schwächere Beziehung zu mir als 'eine mir vertraute Person'. Vertrautheit verweist ebenso wie Bekanntheit auf wiederholte Erfahrungen, im Unterschied zu ihr aber zugleich auf eine Kenntnis und intime Beziehung. Ähnliche Unterschiede ergeben sich hinsichtlich der entsprechenden subjektiven Erfahrungen, die hier vorerst mehr interessieren. James nennt das Gefühl der Vertrautheit als Beispiel für Tendenzgefühle, die das Denken immer am Rande der Wahrnehmung (fringes), als emotionaler Unterton begleiten, als affektbestimmter Horizont der Wahrnehmung und des Denkens (1890, I, 252ff.). Der Unterschied zum expliziten Thema von Wahrnehmung und Denken wird in dem Erlebnis

2

So setzt Koffka (1935, 594) ein feeling of familiarity mit der Bekanntheitsqualität (im Original deutsch) gleich. William James hingegen unterscheidet durchaus zwischen den beiden, wenn er die Vertrautheitsempfindung als feeling of familiarity (1890, I, 252) von dem Kennen eines Objekts als der Empfindung der acquaintance, der Bekanntheit scheidet (ebd., 220ff., 259).

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m. Selbstgefühl und Dinge

deutlich, wenn einem ein Objekt oder Mensch bekannt vorkommt, man sich aber nicht an ihn erinnert (ebd., 673). Claparede (1911) meint, die Empfindung des mit einem Objekt Vertrautseins von der Empfindung des Gewöhnlichen oder Gewöhnten trennen zu können. 3 Gewohnte Dinge paßten durch die erfolgte Habitualisierung so perfekt zu unserem Körper, unseren Sinnen und Reflexen, daß wir sie gar nicht mehr wahrnähmen - die entsprechende Begleitempfindung sei körpernäher und diffuser als die Empfindung der Vertrautheit. Doch handelt es sich m.E. genaugenommen nicht um zwei unterschiedliche Gefühlsqualitäten, da der gewohnte Umgang mit einem Ding gar keine pronon;ierte Empfindung auslöst. So wäre also eher Koffka als Claparede zuzustimmen, der meint, daß das Gefühl der Vertrautheit oder Bekanntheit nicht auftritt, wenn einem ein Objekt allzubekannt ist; automatisierte Handlungen mit einem Objekt rufen ebensowenig ein Vertrautheits- wie ein Bekanntheitsgefühl hervor (Koffka, 1935, 596). Normalerweise ruft die Bekanntheit eines Objekts gerade keine Bekanntheitsem#//>i£/««g hervor, und die Vertrautheit mit einem Gegenstand oder einer Person fuhrt durchaus meist dazu, daß ein Gefühl der Vertrautheit im normalen Umgang gerade nicht zustandekommt, da der Umgang selbstverständlich ist. Mit etwas vertraut zu sein bedeutet, daß es zu einer Passung zwischen Person und Objekt kommt, so daß die Interaktion mit dem Objekt keiner Aufmerksamkeit mehr bedarf. Der Wegfall der Notwendigkeit, sich auf die Interaktion zu konzentrieren, ist meist durchaus angenehm, ohne dabei ein Vertrautheitsgefühl hervorzurufen. Dies zeigt sich: a) beim gekonnten, routinierten Gebrauch von Werkzeugen (schaufeln, filmen), Vehikeln (fahren), dem eigenen Körper (gehen, springen), mentalen und intellektuellen Fähigkeiten (rechnen, sprechen, schreiben); b) beim routinierten Sich-Bewegen in vertrauten Umgebungen wie dem eigenen Stadtviertel oder am eigenen Arbeitsplatz, und ebenfalls beim einfachen Sich-Befinden in vertrauten Umgebungen, die es ermöglichen, sich zu entspannen und Gedanken nachzugehen; c) bei gewohnten, eingespielten Interaktionen mit einem anonymen Rollenpartner (beim Kassierer bezahlen, sich vom Friseur die Haare schneiden lassen) und die entspannnte Unterhaltung mit vertrauten Freunden. Unter welchen Bedingungen kommt es aber dann zu einem Empfinden von Bekannt- oder Vertrautheit? Koffka zitiert ein Beispiel von Maccur-

3 In der englischen Übersetzung feeling of the usual (Claparede, 1911/1951, 61) bzw. habitual (ebd., 66).

2. Vertrautheit und Lebendigkeit

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dy, der beschreibt, daß ihm ein Student bekannt vorkommt, wenn er ihm in der Stadt begegnet, nicht aber, wenn er ihn wie gewöhnlich im Seminar antrifft (1935, 591). Ein Bekanntheitsgefiihl stellt sich also a) also nur dann ein, wenn das Objekt unerwartet auftritt, nicht aber, wenn man die Präsenz des Objekts erwartet hat. Ähnliches gilt für Situationen, in denen man sagen könnte "plötzlich drangen vertraute Klänge an mein Ohr"; die Klänge müssen unerwartet auftauchen, dürfen nicht in diese Situation gehören, so wie wenn man in der Fremde unerwartet die eigene Sprache hört, um ein Vertrautheitsgefühl hervorzurufen. Darüber hinaus sind b) die vertraut wirkenden Objekte in beiden genannten Situationen relativ bekannter als andere Elemente der Situation. Der britische Psychologieprofessor Maccurdy kennt zwar die Straßen Londons, sie haben aber einen weniger direkten Bezug zu ihm als sein Student. Und in der Fremde wird eine andere als die Muttersprache gesprochen, die einem vertrauter ist. Wir hatten oben zwischen Bekanntheit und Vertrautheit unterschieden. Es ist schwieriger, zwischen einem Bekanntheits- und einem Vertrautheitsge/üA/ zu unterscheiden. Als Bekanntheitsgefiihl kann man zum einen ein solches des unsicheren Wiedererkennens bezeichnen, wobei das Bekanntheitsgefiihl ein nicht stattfindendes Wiedererkennen einfordert ("Das kommt mir doch irgendwie bekannt vor") - ein Gefühl, das uns hier nicht weiter interessiert. Es weist aber darauf hin, daß Bekanntheit einen eher kognitiven Charakter hat, also normalerweise Bekanntheitsurteile gefallt werden, und nur wenn diese unsicher sind, die emotionale Komponente in den Vordergrund tritt. Von Bekanntheitsgefühlen spricht man sonst eher selten, da die Bekanntheit eines Objekts keine stärkeren Emotionen auslöst - so wie in der Situation des Professors, der den ihm bekannten Studenten trifft. Ist dies doch der Fall, spricht man eher bereits von Vertrautheitsgefiihlen; dann kennzeichnen sie eine besonders intime Beziehung zu einer Person, einer Umgebung oder einem Ding. Ein weiteres Spezifikum des Vertrautheitsgefühls im Unterschied zum bloßen Wiedererkennen bezieht sich auf den Zustand der Person: c) Vertrautheit wird besonders dann gegenüber vertrauten Objekten empfunden, wenn sie wichtig sind und man sie missen mußte, ihrer besonders bedarf, sich also in einer Situation befindet, die einem fremd ist und man ein Bedürfnis nach etwas Vertrautem verspürt. Das Vertrautheitsgefühl bezeichnet eine gemeinhin positive Erlebnisqualität von Objekten oder Umgebungen, die sich erst über ihren Gegensatz zu der Erlebnisqualität der Fremdheit etabliert (s. Tabelle 3.1). Unter Umständen der Fremdheit der Umgebung, dem Bedürfnis nach Vertrautem, können dann auch die angeführten Situationen der eingespielten Interaktion ein Vertrautheitsgefühl hervorrufen. So kann die eigene Wohnung in dem von einer langen, strapaziösen Reise Heimkehrenden doch ein starkes Vertrautheitsgefühl hervorrufen, denn ihm ist sie

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IQ. Selbstgefühl und Dinge

auch keine Selbstverständlichkeit mehr. Soll ein bekannter Gegenstand, Situation oder Person kein Vertrautheitsgefühl hervorrufen, muß zu der Bedingung des Eingespieltseins also die der Selbstverständlichkeit hinzutreten.

Tabelle 3.1

Situative Bedingungen von Bekanntheits- und Vertrautheitsgefühlen

Gefühl der:

Beziehung Objekt-Person Beziehung Objekt-Situation

Bekanntheit i

Bekanntheit fraglich

ungewohnte Situation für Objekt

Bekanntheit2

Bekanntheit

ungewohnte Situation für Objekt (Situation unvertrauter als Objekt)

Vertrautheit

Vertrautheit

wie oben; plus: Situation insgesamt alsfremdempfunden

Auf weitere Bedeutungsaspekte von Vertrautheitsgefühlen, ihren Zusammenhang mit Gefahr und Sicherheit, mit Vertrauen und Intimität sowie mit emotionaler Bindung an Dinge werden wir im vierten und sechsten Kapitel zu sprechen kommen, da sie die Perspektive des Selbstgefühls, auf die wir uns hier beschränken, überschreiten. Vorerst bleibt festzuhalten, daß Vertrautheitsempfindungen den Kontrast zu Fremdheitsempfindungen voraussetzen. Fragt man nun aus dieser Perspektive nach der Funktion von Dingen, dann ergibt sich die wichtige Schlußfolgerung, daß Personen im Falle von negativen Variationen des Ichgefühls, beispielsweise bei Fremdheitsempfindungen, solche Objekte aufsuchen, die ein kontrastierendes Vertrautheitsgefühl hervorrufen können. Dinge dienen dann der Kompensation des Identitätsgefühls. James hatte nun bei dem Versuch, ein Kriterium für den Umfang des Selbstgefühls zu definieren, zustimmend Horowicz zitiert, der anführt, daß man näher an all jenem lebe, mit dem man besonders eng vertraut ist. Claparede behauptet gleichermaßen, daß jedesmal, wenn man einem bekannten Objekt begegnet, dies nicht nur ein Gefühl der Vertrautheit hervorrufe, sondern immer auch ein solches der moiite, der Ichhaftigkeit, ohne daß er dies weiter begründet (1911/1951, 63). Weshalb ist nun also Vertrautheit eng mit dem Selbstgefühl assoziiert, weshalb äußern sich demgemäß Störungen des Selbstgefühls häufig als Fremdheitserlebnisse? Koffka versucht diese Frage mit einem Modell zu beantworten: Gedächtnisspuren, wenn komplett, speichern nicht nur objektbezogene Informationen, sondern auch Informationen über die korrespondierende

2. Vertrautheit und Lebendigkeit

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Haltung der erinnernden Person, genauer über ihre Weise, sich emotional auf das Objekt zu beziehen. Wenn nun ein bekanntes Objekt in bekanntem und erwartetem Kontext auftritt, wird die gesamte Erinnerungsspur mit Objekt- und Selbstanteilen aktiviert; tritt das bekannt Objekte hingegen überraschend in unbekanntem Kontext auf, paßt die momentane Haltung der Person nicht zu dem Objekt, und wird lediglich der objektbezogene Teil der Erinnerungsspur aktiviert, so daß eine Spannung zwischen diesem und dem selbstbezogenen Teil entsteht. Genau diese Spannung induziere das Gefühl der Bekanntheit (Koffka, 1935, 536). Vertrautheit und die Bedingungen, unter denen das Gefühl von Vertrautheit auftritt, sind also nur über das besondere Verhältnis zwischen Person und Objekt bestimmbar, was einen ersten, sehr allgemeinen Grund für die enge Beziehung zwischen Vertrautheit und Selbstgefühl abgibt.

2.3 Wirklichkeitsgefuhl, Intentionalität und Interesse William James untersucht ausführlich die psychologischen Grundlagen des Wirklichkeitsgefühls. Als solches bezeichnet er die empfundene Lebendigkeit des Wahrgenommenen. James beruft sich auf Brentano, wenn er jeder unmittelbaren Erfahrung inhärent den Glauben an die Wirklichkeit ihrer Objekte zuschreibt: "It is; it is that; it is there" (James, 1890, II, 288). Die grundlegende, wirklichste Welt, die den letzten Maßstab für die Wirklichkeit eines Objekts abgibt, ist die, die wir praktisch konstituieren, indem wir auf sie reagieren: "Whatever excites and stimulates our interest is real" (ebd., 295). Sie erheischt unsere Aufmerksamkeit, erregt, bewegt und reizt uns zu Handlungen: "To conceive with passion is eo ipso to confirm" (ebd., 308). Objekteigenschaften, die das intensivste Wirklichkeitsgefühl erregen, sind solche, die auffallen, die die Sinne stimulieren, zu Reaktionen anstacheln, Interesse und starke emotionale Reaktionen hervorrufen, sowie diejenigen, die über die formalen Eigenschaften der Einfachheit, Permanenz, Einheitlichkeit und Eigenständigkeit verfügen (ebd., 300). Deshalb vermitteln sinnlich präsente, symbolisierte Referenten ein stärkeres Wirklichkeitsgefühl als allein imaginierte, wie man an Reliquien und Familienphotos sehen könne (ebd., 302ff.). Objekte, die das stärkste Wirklichkeitsgefühl hervorrufen, müssen nicht nur unsere Sinne, sondern auch unsere emotionalen und pragmatischen Handlungsbedürfnisse sowie unsere intellektuellen und ästhetischen Bedürfnisse ansprechen. Als Beispiel f ü r eine Störung des Wirklichkeitsgefühls zitiert James eine Beschreibung Griesingers (1861) von Entfremdungszuständen bei psychotischer Depression. Ebenso wie das Gefühl der Vertrautheit wird

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m . Selbstgefühl und Dinge

in Entfremdungszuständen das Wirklichkeitsgefiihl, das grundlegende Gefühl der Lebendigkeit beeinträchtigt. James fuhrt das Wirklichkeitsgefiihl nicht auf die Qualität entweder der Wahrnehmungsobjekte oder des Wahrnehmenden, sondern auf die Beziehung zwischen beiden zurück, eine Bestimmung, die bereits auf die Vertrautheit, und letztlich auf alle perspektivischen, identitätsdefinierenden Empfindungen und Kognitionen zutrifft. Hatten wir uns für die Beschreibung von Bekanntheit und der Bedingungen, unter denen sich ein Gefühl der Bekanntheit einstellt, vorerst begnügt mit dem Ausmaß an relativer Passung zwischen Person, Objekt und der weiteren Umwelt, führt James zur Erklärung des Wirklichkeitsgefühls ein motivationales Prinzip ein, nämlich die Stärke der Reizung, die vom Objekt auf den Organismus ausgeht. Das Wirklichkeitsgefühl ist abhängig von der motivierten Haltung oder Handlung gegenüber der Umwelt, von der biologisch und damit körperlich verankerten, fungierenden Intentionalität (Merleau-Ponty, 1945/1966, 345; vgl. Linschoten, 1959). Das Wirklichkeitsgefühl setzt nun, ähnlich dem Vertrautheitsge/ttA/, eine motivationale Spannung zwischen Organismus und Umwelt voraus, im Unterschied zu den oben exemplifizierten selbstverständlichen, eingespielten Interaktionen mit der Umwelt. Diejenige motivationale Spannung, die von vielen, und so auch James, als exemplarisch für die Lebendigkeit, die Stärke der motivationalen Spannung zwischen Organismus und Objekt genommen wird, ist das Interesse. Im letzten Kapitel hatten wir gesehen, daß James das Interesse, das ein Objekt weckt, als Kriterium für die Meinhaftigkeit, die Zugehörigkeit eines Dings zur Person nennt, ein Kriterium, das bei einer ersten Betrachtung nicht eingeleuchtet hatte. Im gleichen Kontext hatte er die Lebendigkeit der Wahrnehmung von Objekten angeführt: "unsere eigenen Dinge sind uns voller präsent als anderen" (James, 1890/1950, I, 327). Das könnte zum einen einfach bedeuten, daß nur interessante Dinge von der Person überhaupt beachtet werden und deshalb zu ihrer Welt gehören. Aber es scheint doch etwas zu einfach, das James'sche seif mit der der subjektiv erlebten und praktisch konstituierten Umwelt der Person gleichzusetzen. Zieht man James' Erklärung des Wirklichkeitsgefühls hinzu, läßt sich der Zusammenhang weiter klären. Interessante Objekte konstituieren dann dasjenige Segment der Umgebung, das die Aufmerksamkeit des Subjekts auf sich zieht, ihm präsent ist, seine momentane Welt ausmacht. Darüber hinaus ist eine zentrale Identitätsdimension die der Aktivität (#4). Nun bedingen, laut James, die Lebendigkeit der Person und der Anreizgehalt der Umwelt einander und machen sich subjektiv als Wirklichkeitsgefühl bemerkbar. Die Unterscheidung zwischen dem die eigene Person und dem die Umwelt betreffenden Gefühl der Wirklichkeit und Lebendigkeit, wie sie das Begriffspaar Depersonalisierung-Derealisierung suggeriert, ist entwicklungslogisch eine sekundäre gegenüber dem undifferenzierten Wirklichkeits-

2. Vertrautheit und Lebendigkeit

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geflihl, in das das Wissen um die Objekt-Subjekt-Trennung noch nicht eingegangen ist. Das Gefühl der eigenen Lebendigkeit und Aktivität bleibt deshalb lebenslang an den Anreizgehalt von Dingen, die gerade nicht zur Person gehören, gebunden. Insofern sind interessierende, motivierende Dinge wichtig für das Ichgefühl. Sie gehören deshalb aber nicht mehr zur Person selbst als zu ihrer Umwelt. Sinnvoller erscheint die räumliche Metapher der Ichnähe, derer sich beispielsweise Koffka (1935, 595) bedient, um die motivierende Kraft von Dingen zu bezeichnen, da sie diese nicht der Person, sondern ihrer Umwelt zurechnet.

2.4 Interesse und Vertrautheit Welche Beziehung besteht nun zwischen den beiden besonders umweltbezogenen Aspekten des Identitätsgefühls, Vertrautheit und Lebendigkeit bzw. Interesse? Berlyne (1960) weist dem Interesse eine zentrale erregungssteuernde Funktion zu; mittels der interessierten Erkundung von optimal strukturierten Objekten könne der Organismus sein Erregungsniveau auf einem optimalen mittleren Niveau halten. Berlynes Motivationsmodell entspricht formal unserem Modell der Motivation durch Abweichungen vom normalen Selbstgefühl, nur daß er lediglich eine einzige, unspezifische Motivationsdimension annimmt, die des Erregungsniveaus. Erregungssteigernd und damit oft interessant wirken, meint Berlyne, unbekannte Objekte, uninteressant hingegen allzubekannte. Zajonc (1968) behauptet hingegen einen positiven linearen Zusammenhang zwischen der Bekanntheit von Objekten und ihrer Bevorzugung. Berlyne (1974) schlug dann eine weitergehende Differenzierung vor. Neben der Bekanntheit sei zugleich die Komplexität des Stimulusmaterials zu berücksichtigen. Nur komplexe Stimuli gewönnen mit wachsender Bekanntheit an Interessantheit, einfache verlören diese hingegen sofort, da sie langweilig werden, jene hingegen gerade bei näherer Kenntnis Neues zu bieten haben und so zur Erkundung anregen. Deshalb gilt auch für relativ komplexe Objekte, daß sie nicht einfach immer mehr bevorzugt werden, je besser man sie kennt, sondern daß, wenn das Ausmaß der Bekanntheit über ein bestimmtes Maß hinauswächst, die Interessantheit und damit Attraktivität des Objekts wieder sinkt, da es langweilig wird (s. Sluckin, Hargreaves & Colman, 1982; Bornstein, 1989). Schuster (1990, 213) meint unter Hinweis auf eine unveröffentlichte Bemerkung Zajoncs, daß die Beziehung zwischen Bekanntheit und Bevorzugung von der Art des Objektes abhänge, und es deshalb nicht immer zu der genannten umgekehrten U-Kurve kommt. So weise die Bevorzugung spezieller Objekte wie von Gesichtern ebenso wie von Wohn-

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m . Selbstgefühl und Dinge

Umgebungen eine positiv lineare Beziehung zu ihrer Bekanntheit auf. Auch Edney berichtet, daß das Verteidigungsverhalten von Grundstücksbesitzern in Abhängigkeit von der Dauer der Nutzung ansteigt (Edney 1972). Bei den genannten Beispielen tritt aber wahrscheinlich etwas Weiteres zur Bekanntheit hinzu, nämlich eine emotionale Komponente, und zwar in Form a) einer Identifizierung mit oder b) einer emotionalen Bindung an das Objekt, die bei experimentalpsychologischen Untersuchungen eine nur geringe Rolle spielen dürften. Dafür, daß die Identifizierung mit einem Objekt dessen Attraktivität steigert (vgl. Schuster, 1990, 212), sprechen eine Reihe von Untersuchungen, die belegen, daß Personen den Anfangsbuchstaben ihres Vornamens, und etwas weniger auch den ihres Nachnamens, anderen Buchstaben vorziehen, auch wenn ihr Name in keiner Weise salient ist (Nuttin, 1985; 1987). Der Effekt wächst bei Kindern mit der Dauer ihrer Schreiberfahrung (Hoovens et al., 1990). 4 Auch wenn die Person sich nicht mit dem Objekt identifiziert, sondern eine starke emotionale Bindung daran unterhält, wie im Falle bestimmter Gesichter, also Personen, kann eine positive Korrelation zwischen Bekanntheit und Präferenz bestehen. Der provisorisch eingeführte Begriff der emotionalen Bindung geht über die in diesem Kapitel eingenommene Perspektive des Selbstgefühls hinaus. Im Erleben der Person übersetzt er sich im Falle der Bedürftigkeit der Person und der Annäherung an das Bindungsobjekt in ein Gefühl der Vertrautheit. In diesen Beispielen wird die kognitive Motivation des Interesses durch die emotionale Bedeutsamkeit des Objekts ersetzt. Im Falle der Identifizierung handelt es sich um abstrakte oder symbolische Referenzobjekte, während bei der emotionalen Bindung an Objekte die räumliche oder örtliche Dimension der Beziehung im Vordergrund steht. Der Einfluß von Komplexität und Neuheit auf die Attraktivität eines Objekts

4

Feys (1991) zeigt, daß Computerspieler die grafischen Symbole der eigenen Partei denen der feindlichen Partei vorziehen, ebenfalls ein Effekt des Sich-Identifizierens, nicht aber, wie Feys behauptet, des Besitzes. - Auch Beggan (1992) behauptet einen reinen Besitzeffekt, d.h. eigene Gegenstände würden nicht besessenen Gegenständen systematisch vorgezogen, und zwar um das Selbstwertgefuhl zu stabilisieren bzw. kompensieren, so wie es viele andere Beispiele für die allgemeine Tendenz gibt, sich selbst in ein besseres Licht zu rücken. Doch wurde in seiner Untersuchung Besitz experimentell so hergestellt, daß den Pbn ein kleiner Gegenstand geschenkt wurde, und es fragt sich, ob die Pbn nicht allein aus Höflichkeit den geschenkten Gegenstand positiver bewerteten als andere, da man einem geschenkten Gaul bekanntlich nicht ins Maul schaut. Dafür spricht, daß das Geschenk nicht positiver bewertet wurde als andere Objekte, wenn die Probanden zuvor in einem Test gute Leistungen erbracht, sie sich das Geschenk also quasi verdient hatten.

2. Vertrautheit und Lebendigkeit

73

wird durch Neugier und Interesse vermittelt, der von Identifizierung mit und Bindung an ein Objekt hingegen durch dessen Vertrautheit. 5 Nun wird die Gesamtbefindlichkeit einer Person nicht allein durch ein isoliertes Objekt beeinflußt, sondern durch ihre gesamte Umwelt, in der einzelne Objekte besonders hervorstechen mögen und die Wertigkeit der momentanen Umwelt mitbestimmen. Auf Tabelle 3.2 sind schematisch mögliche Beziehungen zwischen der Vertrautheit von umweltbestimmenden Objekten bzw. Orten und der Aufmerksamkeitsfokussierung und Erregung i.S. Berlynes einerseits, Aktivität im Sinne erlebter Lebendigkeit andererseits abgebildet. Im Unterschied zum Modell Berlynes handelt es sich hier nicht um die einfache Bekanntheit von Objekten, sondern um ihre Vertrautheit. Für die beiden Situationstypen der völligen Unbekanntheit und der sehr großen Vertrautheit sind je eine positive und eine negative Befindlichkeit vorgesehen, wobei die positive Befindlichkeit immer mit einer aktiven Haltung der Person, ganz im Sinne der vierten Dimension des Identitätsgefuhls, sowie einer korrelierenden Lebendigkeit der Wahrnehmung einhergeht. Berlynes Fall optimalen Interesses findet sich in der zweiten, der Fall minimalen Interesses in der vierten Zeile wieder, die ergänzten Fälle optimaler Vertrautheit in der dritten, negativ empfundener Fremdheit in der ersten Zeile. Im Grunde ist hier Berlynes Interesse-Langeweile-Dimension um die Dimension Angst-Sicherheit ergänzt worden, die nötig ist, um den empirisch vorfindbaren Fall in das Modell zu integrieren, daß bekannte Objekte doch positiv und unbekannte Objekte nicht nur uninteressant, sondern gar bedrohlich wirken können, was sich auf ängstigende bzw. auf Sicherheit bietende Bindungsobjekte bezieht. Ob nun sehr fremde bzw. sehr vertraute Situationen als angenehm oder unangenehm erlebt werden, hängt zum einen von der rezenten Erfahrung der Person ab (es besteht eine Tendenz zum Wechsel von Situationen, um im Durchschnitt ein mittleres Niveau der Vertrautheit der Umgebung herzustellen), zum anderen von der Disposition der Person, also dem jeder Person eigenen Niveau der mittleren Erfahrung von Vertrautem und Fremdem, bei dem sie sich wohlfühlt. Man kann den vier Situationen weitere typische Eigenschaften zuordnen. Die positiv empfundene unbekannte Situation könnte man als eine des kognitiven und emotionalen Lernens, der Akkomodation i.S. Piagets bezeichnen, in der die Person ihre Aufmerksamkeit ganz auf die Umwelt

5

Berlyne (1974) hat später selbst eine wichtige Unterscheidung auf der Seite der abhängigen Variable, der Bevorzugung, getroffen, die er aufspaltet in die Interessantheit eines Objekts und in das Wohlgefallen, das es hervorruft. Interessantheit steige linear in Abhängigkeit von der Komplexität des Objekts, während das Gefallen an einem Objekt bei mittlerer Komplexität sein Optimum finde. Doch bevorzugen wir hier Vertrautheit als die grundlegendere die Attraktivität eines Objekts vermittelnde Empfindung.

74

m. Selbstgefühl und Dinge

richtet, sie erkundet und versucht, sie zu verstehen; es ist eine Situation, in der sie sich erproben kann. Die positiv empfundene vertraute Situation hingegen ist eine der kognitiven und emotionalen Konsolidierung, das Gekonnte wird wiederholt und geübt. Die Assimilation der Umwelt an die Person (i.S. Piagets) überwiegt, die Aufmerksamkeit ist nicht auf die Umwelt fokussiert, sondern freischwebend, die Person widmet sich mehr ihrer Phantasie.

Tabelle 3.2

Vertrautheit der Situation unvertraut

vertraut

Zusammenhänge zwischen Vertrautheit/Interessantheit von Objekten und Aktivationsniveau/Lebendigkeit des Organismus Wertigkeit Qualität — der Befindlichkeit —

Aufmerksamkeit Aktivationsniveau

Lebendigkeit Aktivität

-

ängstigend

aufmerks.-übererregt

passiv-tot

+

interessant

aufmerks.-erregt

aktiv-lebendig

+

sicher

unaufmerks.-entspannt

aktiv-lebendig

-

langweilig

unaufmerks.-unterstimul.

passiv-tot

Kehren wir zu den zwei Ausgangsfragen zurück. Erstens beziehen sich die beiden im Entfremdungsgefiihl (als einer der wichtigsten Formen gestörten Identitätsgefuhls) Empfindungen mangelnder Vertrautheit sowie mangelnder Lebendigkeit und Wirklichkeit nicht ausschließlich oder vorwiegend auf die eigene Person, weshalb wir ihren dennoch bestehenden engen Zusammenhang mit dem Identitätsgefuhl untersuchten. Er fand sich in dem grundlegend intentionalen Charakter der beiden begründet, der aus einem Aufeinanderbezogensein von Person und Umwelt resultiert. Als Bedingung des Gefühls der Lebendigkeit wurde der motivationale Anreizgehalt von Objekten identifiziert, der sich subjektiv einerseits als Interesse, andererseits als emotionale Bedeutsamkeit des Objekts, sei es im Sinne eines Identifikationsobjekts, sei es im Sinne eines vertrauten Bindungsobjekts, manifestieren kann. Mit der Vertrautheit und dem Interesse haben wir nun zugleich diejenigen beiden Kriterien auf ihren Zusammenhang mit dem Identitätsgefuhl untersucht, die James als Kriterien für die Zugehörigkeit von Objekten zum Selbst nennt, deren Gültigkeit für die psychologische Bestimmung des Selbstgefühls gegen Ende des letzten Kapitels jedoch nicht eingeleuchtet hatte.

3. Selbstabgrenzung

75

Zweitens haben wir Objekten die Funktion zugewiesen, mittels ihres Anregungsgehaltes im Sinne von Interessantheit bzw. Vertrautheit das Ichgefuhl der Person zu verändern. Es ist anzunehmen, daß Personen solche Objekte suchen, die momentane oder überdauernde Abweichungen vom Wohlbefinden, hier konzipiert als Störungen des Identitätsgefühls, kompensieren und so ihre Befindlichkeit optimieren. Auf der Suche nach besonders umweltsensiblen Aspekten des Identitätsgefühls haben wir in einem ersten Schritt Vertrautheit und Interessantheit von Dingen oder Umweltausschnitten als identitätsrelevant und unter bestimmten Umständen motivierend begründet. Nun gilt es, den zweiten Identitätsaspekt, der sich nicht nur auf die eigene Person bezieht (s. 1.3), darauf zu untersuchen, ob und wie er die identitätsstiftende Funktion von Objekten vermittelt.

3. Räumliche Aspekte des Selbsterlebens Abgrenzung als Erfahrung Gegen Ende des vorigen Kapitels konnten fünf Bedeutungen der Redeweise vom Besitz als Teil der Person aufgeführt werden: -

Besitz als instrumenteile Verlängerung des Körpers, als Erweiterung des Einflußbereichs, als Produkt, als die der Person perspektivisch zugeordnete Dingwelt, und als unveräußerlicher, d.h. identitätskonstitutiver Besitz.

Teil von etwas zu sein bezeichnet meist ein räumliches Verhältnis, kann aber auch abstraktere Bedeutungen haben, so eine mengenlogische ( Dieser Apfel ist Teil der Klasse aller Äpfel') (3.1). Eine eindeutig räumliche Bedeutung haben Begriffe der Ausdehnung und der Grenze, die ebenfalls auf das Selbsterleben angewendet werden (3 .2).

3.1 Räumliche Aspekte des Selbst Räumliche Aspekte des Selbst bei W.James James hatte sein Selbst auch räumlich konzipiert. Da die Beziehung zwischen Personen und Dingen immer auch eine räumliche ist, scheint es naheliegend, ihre psychologische Beziehung zueinander ebenfalls in räumlichen Begriffen zu fassen. James' Definition des Selbst über dieje-

76

III. Selbstgefühl und Dinge

nigen Dinge, die Teil des Selbst sind, ist noch nicht zwingend räumlich, es könnte sich auch um eine logische Beziehung handeln. Doch spätestens mit seiner Typologie der stoischen und der weitherzigen Menschen benutzt er räumliche Begriffe, um das Ausmaß der ins Selbst aufgenommenen Objekte zu bezeichnen. Stoische Menschen verschanzen ihr Selbst, "sie ziehen es zurück - aus all jenen Regionen, die sie nicht sicher besitzen können" (James, 1890/1950, I, 312). Weitherzige Personen hingegen "gehen den völlig entgegengesetzten Weg der Expansion und der Inklusion" (ebd., 313). Wird man des geliebten Besitzes beraubt, hinterläßt das ein "Gefühl des Schrumpfens unserer Persönlichkeit" (ebd., 293). Einmal spricht er explizit von der Grenze des Selbst, als er weitherzige Personen charakterisiert: "Der Umriß ihres Selbst wird oft genug unklar" (ebd., 313). Was hier im Anschluß an den gängigen Sprachgebrauch als Selbstgrenze bezeichnet werden soll, wird von James mit Eigenschaften der Flexibilität und des Umfangs ausgestattet. Weiterhin beschreibt James das Selbst als räumliches Gebilde, um seinen empirischen, in der Erfahrung gegebenen Charakter zu belegen, wenn er versucht, sein Zentrum zu lokalisieren, das er für seine Person meint in Bewegungsempfindungen zwischen Hals und Genick identifizieren zu können (ebd., 301).

Untersuchungen

zu James' räumlicher Auffassung

vom Selbst

Keine der beiden räumlichen Lokalisierungen koinzidiert mit den Grenzen des Körpers, der einzigen offensichtlichen Lokalisierung der Person. Horowitz kritisiert James' und anderer Autoren Versuche, das psychische Zentrum der Person zu lokalisieren. Bei seiner Befragung von Studenten gaben viele gar keine Antwort, und die, die antworteten, gaben oft mehrere und insgesamt sehr unterschiedliche Antworten. Wenn Personen Überzeugungen bezüglich der Lokalisierung ihres Zentrums äußern, dann werden diese durch zufallig zustandegekommene Assoziationen bedingt. Es handele sich bei der Lokalisierung des Selbst nicht um ein grundlegendes Datum, für das James es gehalten hatte, sondern um ein oberflächliches Phänomen mit geringem Realitätsgehalt (Horowitz, 1936). Wenig später unternahmen andere Psychologen systematischere Untersuchungen zu dem anderen räumlichen Aspekt des James'schen Selbstbegriffs, seiner Ausdehnung. Prelinger (1959) legte Probanden 160 Items vor aus den Bereichen körperliche Vorgänge, Körperteile, Dinge in unmittelbarer Umgebung der Person, von ihr entfernte Dinge, identifizierende Merkmale, Besitztümer und eigene Produkte, andere Personen sowie abstrakte Begriffe. Sie sollten daraufhin beurteilt werden, ob sie entweder Teil meiner selbst seien oder nicht. Gewichtet mit einer Einschätzung der Sicherheit des eigenen Urteils ergab sich im Schnitt, daß

3. Selbstabgrenzung (mit abnehmender Eindeutigkeit) Körperteile,

77 körperliche

und

psychi-

sche Vorgänge, identifizierende Merkmale sowie Besitztümer und eigene Produkte eher der eigenen Person zugerechnet wurden, abstrakte Begriffe, andere Personen sowie nahe und ferne Dinge den Probanden eher nicht als Teil der eigenen Person galten. Prelinger ließ die Items dann von einer anderen Probandengruppe hinsichtlich einiger übergreifender Eigenschaften einschätzen. Es zeigte sich, daß besonders solche Items der eigenen Person zugerechnet wurden, die man aktiv kontrolliert, von denen die Person besonders tangiert wird und die körpernah sind. Auch Sampson (1978) bat seine Probanden, 22 Phänomene daraufhin zu beurteilen, ob sie sich eher als Teil der eigenen Person oder der Umwelt anfühlten. Der eigenen Person zugeordnet wurden (mit abnehmen-

der Häufigkeit) Gefühle und Gedanken, Weisen, Konflikte zu bewältigen sowie Träume und Vorstellungen, der Umwelt hingegen ethnische Zugehörigkeit, Wohnort, Arbeit und Besitztümer. Diese Urteile stimmten kaum mit Antworten auf die Frage überein, mit welchen der Items sie sich identifizierten. In einer Wiederholung von Sampsons Studie erhob Hormuth (1990) zusätzlich die Wichtigkeit der Items für die Person. Es ergaben sich nur positive, niedrige bis mittelhohe Korrelationen (von .37 bis .77) zwischen Wichtigkeit und Internalität der Items, höhere für Elemente der sozialen Identität (Geschlecht, Religionszugehörigkeit, etc.), niedrigere für persönlichere Items. Dixon und Street (1975) schließlich baten 6- bis 16-Jährige aufzuzählen, "was du bist". Mit zunehmendem Alter nannten die Kinder immer mehr Items. Veränderungen traten hinsichtlich der genannten Personen und Besitztümer auf. Die Items werden von den Autoren leider nicht genauer aufgegliedert. Diese Untersuchungen machen eigentlich nur eines deutlich, nämlich daß Personen die im Körper angesiedelten oder körpernahen, von ihnen selbst initiierten und ihre Identität betreffenden Prozesse als Teil ihrer selbst betrachten, wenn sie danach gefragt werden. Diese Kriterien überschneiden sich zum Teil mit denen für Besitz. Die Dinge, die am ehesten als Teil der eigenen Person betrachtet werden, sind zwar Besitztümer und eigene Produkte, doch widersprechen sich die Untersuchungen hinsichtlich deren durchschnittlicher Zurechnung zur eigenen Person bzw. Umwelt. Die uneinheitlichen Antworten zeigen wohl hauptsächlich, daß die Frage der Lokalisierung bezüglich Dingen wenig Sinn macht. Darüber hinaus weisen Sampsons Ergebnisse darauf hin, daß Internalität nicht mit dem Ausmaß der Identifizierung übereinstimmt - was vielleicht aber auch mit dem Sprachgebrauch zusammenhängt, der dafür, daß man sagen kann, "sich mit etwas zu identifizieren", voraussetzt, daß das Objekt der Identifizierung nicht bereits selbstverständlich Teil eines selbst ist. Hormuths Fund eines Zusammenhangs zwischen Internalität und Wichtigkeit deutet allein daraufhin hin, daß Personen die Nähe von Ob-

m. Selbstgefühl und Dinge

78

jekten zu sich selbst so verstehen wie Psychologen den Begriff der Ichnähe, nämlich als Ausdruck ftir Wichtigkeit. Da es sich bei den erfragten Urteilen nicht um solche über räumliche Beziehungen handelt, sondern Undefinierte subjektive Zugehörigkeitsbeziehungen räumlich ausgedrückt werden sollten, fragt sich, was hier eigentlich erhoben wurde. James hatte sich auch nicht so sehr auf explizite Urteile von Personen bezogen, sondern auf selbstbezogene Gefühle und Handlungen, die auf Dinge ausgedehnt werden können. Wenden wir uns deshalb dem zweiten von James suggerierten räumlichen Begriff einer Beziehung zwischen Dingen und einem selbst zu, der Selbstgrenze.

3.2 Grenzen eines selbst Grenzen des Selbstgefühls Paul Federn lieferte die vielleicht expliziteste Ausarbeitung des Begriffs der Selbstgrenze. Er versteht unter der "Ichgrenze" die Grenzen der Ausdehnung des Ichgefuhls (s.o.); der Begriff bezieht sich folglich lediglich auf Empfindungen der Ichhafitigkeit, nicht aber, wie bei James, auch auf selbstbezogene Gefühle und Handlungen. Damit ist der Begriff der Selbstgrenze auf die Introspektion als Zugangsweg angewiesen. Als Beispiele nennt Federn (1927) einen hysterischen Patienten, der die von hysterischen Symptomen betroffenen Körperteile als nicht zu sich gehörend empfand; Gleiches berichtet ein unter Impotenz leidender Patient. Unter Anästhesie eines Zahnes erlebt man den betäubten Teil des Mundes und der Lippe als fremd, da bei Berühren der betäubten Lippe mit den Fingern diese nur in den Fingern, nicht aber, wie für Selbstwahrnehmungen typisch, gleichzeitig in den Lippen empfunden wird und so eine typische Fremderfahrung zustandekommt (Federn, 1949a). Beim Einschlafen läßt zuerst das Körperichgefuhl nach, bzw. zieht sich immer mehr von den Körpergrenzen zurück, und auch im Traum ist es höchstens partiell präsent (Federn, 1926). Körperteile, die man alltäglich verliert, wie Faeces, Haare und Fingernägel, können anfangs weiterhin als ichhaft erlebt werden, während Nahrung und Getränke ob ihrer Einnahme ins Körperichgefuhl integriert werden (Schilder, 1935, 188). In Entfremdungszuständen kann sich das Körperichgefühl von der Körperperipherie zurückziehen, die dann als fremd, nicht zu einem selbst gehörend erlebt wird (Federn, 1927). Das Ichgefuhl weite sich hingegen im Sich-Hingeben und Ergriffen-Sein, extrem in Zuständen der Ekstase und mystischen Vereinigung, dem erlebten Verschmelzen mit der Umwelt (Federn, 1928; 1933; Koffka, 1935, 321). Welche Bedingungen fuhren zu Variationen in der Ausdehnung des Körperichgefuhls? Es zieht sich zusammen bei Schreck, Angst, Haß,

3. Selbstabgrenzung

79

sowie bei Schmerzen, bei Enttäuschungen, Betrübnis und generell leidvollen Erfahrungen. Es expandiert bei Freude, Hoffnung und generell freundlichen Gefühlen. 6 Schilder spezifiziert eine weitere Bedingung, unter der das Ichgefühl bestimmte Dinge miteinschließt, nämlich die Stabilität, mit der diese mit dem Körper verbunden sind (1935, 213): Deshalb werden Kleidung, der Stuhl, auf dem man länger sitzt, das Zimmer, in dem man sich aufhält, ein Stock, und auch Fahrzeuge, in denen man sich befindet, eher als Teil der eigenen Person empfunden als andere Dinge. Bei Instrumenten wie dem Stock, mit dem man nach etwas angelt, oder das Fahrzeug, das man lenkt, kommt hinzu, daß die Person sie steuert und ihre Aufmerksamkeit auf die Interaktion zwischen diesen Instrumenten und der Umwelt lenkt, während die Interaktion zwischen Instrument und Umwelt automatisiert abläuft. Federn nennt auch verschiedene kompensatorische Mechanismen, mittels derer ein inkomplettes oder restringiertes Körperichgefühl wieder die normale Ausdehnung erhält, nämlich durch ein Wenden der Aufmerksamkeit auf die Vorstellung vom gesamten eigenen Körper sowie durch Bewegung und Aktivität. 7 Zu ergänzen bleiben die sozialen Bezüge des Körperichgeflihls. Räumliche Entfernung erschwert die Interaktion mit einem anderen Körper; kommen sich zwei Körper räumlich nahe, verstärkt sich die sexuelle (bzw. aggressive) Anziehung, und zugleich verschwimmt die optische Wahrnehmung der Gesamtgestalt der anderen Person. Das Gefühl für den eigenen und den anderen Körper beginnen ineinander überzugehen, die Gesamtwahrnehmung der eigenen Körpergrenzen läßt nach. Räumliche Nähe impliziert emotionale Nähe (Schilder, 1935, 234ff ). Das heißt, daß positive Affekte nicht nur einfach zu einer Ausdehnung des Körperichgefühls fuhren mögen (s.o.), sondern sich meist auf ein bestimmtes Objekt richten, und das Körperichgefuhl dann, besonders bei taktilem Kontakt, sich spezifisch auf dieses ausdehnt. Gleiches gilt umgekehrt: Ein Rückzug des Körperichgefühls wie beispielsweise in Entfremdungszuständen wird zugleich als Isolation, als emotionale Ferne zu anderen Personen und Dingen empfunden (Federn 1949a/ 1978, 231).

6

Siehe zur Kontraktion des Körperichgefühls bei Schreck Federn, 1927/1978, 46; Angst Federn, 1928, 281; s.aber widersprüchlich 1927/1978, 46; Koffka, 1935, 320; Haß Schilder, 1935, 210; Schmerz Federn, 1928/1978, 282; Enttäuschungen Federn, 1928/ 1978, 282; Koffka, 1935, 321; Betrübnis Koffka, 1935, 321; leidvollen Erfahrungen Federn, 1928/1978, 282. Siehe zur Expansion des Körperichgeflihls bei Freude Federn, 1944/1978, 102; Hoffnung Schmitz, 1965, 387; generell freundlichen Gefühlen Schilder, 1935, 210.

7

Zur Aufmerksamkeitsfokussierung s. Federn, 1927/1978, 43; 1949a/1978, 212; Fisher & Cleveland, 1958, zu Bewegung und Aktivität s. Federn, 1927/1978, 43; Schafer, 1968, 80.

80 Körperbildgrenze

m . Selbstgefühl und Dinge

als hypothetisches

Konstrukt

Probleme ergeben sich bei der methodisch kontrollierten Erfassung von Variationen des Körperichgefuhls. Federn und andere Kliniker beschrieben diese Variationen anhand a) von Einzelfallen, auf deren b) gute Introspektionsgabe und Ausdrucksfähigkeit sie angewiesen waren, und die c) meist grobe, und das heißt oft pathologische Veränderungen beschrieben. Deshalb erscheint es schwierig, Variationen des Körperichgefuhls an einer größeren Anzahl von Probanden, geschweige denn an einer Zufallsstichprobe, systematisch zu prüfen. Während Federn das Selbst als introspektiv erfaßbares Erleben konzipierte, verwandelten andere es später in den Begriff der Selbstrepräsentation, um damit eine unbewußte Disposition zu bezeichnen (Hartmann; 1950; Jacobson, 1964). Selbstrepräsentanzen mit stabilen, klaren Grenzen gegenüber den Objektrepräsentanzen und der Umwelt bezeichnen die Disposition dazu, sich selbst als wohlabgegrenzt gegenüber anderen Personen und der Umwelt zu erleben. Instabile Grenzen bedeuten umgekehrt die Tendenz zur psychotischen Realitätsverkennung und zur Verwendung von Introjektion und Projektion, verstanden als die motivierte, unzutreffende Zuordnung bestimmter Gedanken oder Impulse zu einem anderen Autor. Schlecht abgegrenzte Selbstrepräsentanzen fuhren in diesem Modell zu Störungen des Identitätsgefühls. Exemplarisch, so die Annahme, erfolgt ontogenetisch die Herausbildung der Selbstrepräsentanzen zuerst am eigenen Körper. Fisher und Cleveland (1958; Fisher, 1986) entwarfen analog einen auf den Körper bezogenen dispositionellen GrenzbegrifF, die Körperbildgrenze, an der sie zwei empirisch voneinander unabhängige Eigenschaften unterschieden, ihre Durchlässigkeit (penetration) und ihre Stabilität bzw. besser Festigkeit (barrier). Nur die letztere soll uns hier interessieren, da sie die empirisch überzeugendere ist. Sie operationalisierten das Konstrukt mit Hilfe des Rohrschachtests; Antworten, die formale Grenzeigenschaften betonen, gelten als Zeichen einer großen Festigkeit der Körperbildgrenze. Eine feste Körperbildgrenze gilt als Disposition, den eigenen Körper und damit sich selbst als von anderen und der Umwelt wohlabgegrenzt zu erleben, nicht aber, sich auch in Handlungen generell von anderen abzugrenzen, d.h. die Kommunikation und den Austausch mit der Umwelt zu beschränken. Denn feste Körperbildgrenzen bedeuten primär eine zugrundeliegende Sicherheit, den eigenen Körper und sich selbst angemessen schützen bzw. öffnen zu können. Diese Sicherheit ob der Festigkeit der eigenen Grenzen erlaubt es dann gerade, diese Grenzen zu überschreiten oder zu öffnen. Deshalb übersetzt sich eine feste Körperbildgrenze (hoher Barrierwert) auf der Handlungsebene gerade nicht in eine Abkapselung, einen Rückzug, sondern in deren Gegenteil, nämlich eine aktive Öffnung gegenüber der Umwelt. Bezüglich der Ausdehnung des

3. Selbstabgrenzung

81

Körperichgefiihls wird angenommen, daß eine feste Körperbildgrenze die Disposition zu einem zusammenhängenden, konturierten und in seiner Ausdehnung relativ stabilen Körperichgefuhl darstellt. Eine labile Körperbildgrenze (niedriger Barrierwert) bedeutet umgekehrt eine große Unsicherheit ob der eigenen Grenzen; die Person muß furchten, daß in ihren Körper eingedrungen wird und daß sie zugleich ihr Inneres nicht halten kann, so daß sie die Herrschaft über ihn verliert. Deshalb übersetzen sich niedrige Barrierwerte auf der Handlungsebene eher in kompensatorisch motivierte grenzakzentuierende Handlungsweisen, die die schwache Körperbildgrenze stärken sollen. In einer Literaturübersicht faßt Fisher (1986) die empirischen Korrelate der Festigkeit der Körperbildgrenzen zusammen. 8 Für uns interessant ist der Zusammenhang zwischen der Festigkeit der Körperbildgrenze und der Beziehung zu einem körpernahen Gegenstand, nämlich Kleidung. Tätowierung ebenso wie das ständige, aber noch ungewohnte Tragen betonter, d.h. auffälliger oder besonders undurchlässiger Kleidung, geht mit einer größeren Festigkeit der Körperbildgrenze einher. 9 Andererseits zeigte sich eine negative Korrelation zwischen der Bevorzugung auffallender, modischer Kleidung und dem Barrierwert. 10 Hier zeigt sich ein prinzipielles Problem des Begriffs der Festigkeit der Körperbildgrenze. Denn bei den positiven Korrelationen wird der erhöhte Barrierwert als Folge der situativen Betonung der Körpergrenzen 8

Personen mit großer Körpergrenzfestigkeit tendieren dazu, ihre Aufmerksamkeit mehr auf die Körperoberfläche als auf das Körperinnere zu lenken, mehr psychosomatische Störungen auf der Körperoberfläche als im Körperinneren zu berichten und auf der Körperoberfläche physiologisch reaktiver zu sein als im Körperinneren. Sie sind insofern unabhängiger von ihrer Umwelt, als sie weniger suggestibel und stärker leistungsmotiviert sind, die Welt stärker als durch den Einzelnen beeinflußbar erleben und weniger zu magischem Denken neigen. Sie sind selbstsicherer, da sie optimistischer an Aufgaben herangehen und eher herausfordernde Situationen aufsuchen. Sie interessieren sich stärker für Berufe, in denen sie Umgang mit Menschen haben, als für sachorientierte Berufe. Gegenüber anderen Personen sind sie mehr an Kontakt und Kommunikation interessiert und wissen das auch umzusetzen; im sexuellen Bereich ergibt sich lediglich ein Zusammenhang mit der schieren Häufigkeit sexueller Aktivitäten.

9

Der Barrierwert korreliert bei männlichen Gefangenen mit dem Ausmaß der Tätowierung ihrer Haut (Mosher, Oliver & Dolgan, 1967; Hassan, 1976). Sowohl bei Nonnen, die eine neue, modischere Uniform erhielten, wie auch bei Polizeibeamten, die vor drei Monaten begonnen hatten, im Dienst ständig eine schußsichere Weste zu tragen, zeigte sich, daß das Tragen dieser neuen, auffälligen bzw. verstärkten Kleidungsstücke zu einer Erhöhung des Barrierwertes führte (Brocken, 1969; Scacco, 1980). Schizophrene Frauen mit geringerem Barrierwert bevorzugten verstärkt helle, knallige Farben und starke Kontraste bei ihrer Kleidung (Compton, 1964). Je mehr eine Frau von anderen Frauen als besonders modebewußt (fashion-leader) angesehen wurde, desto geringere Barrierwerte wies sie auf (Mosher, Oliver & Dolgan, 1967).

82

i n . Selbstgefühl und Dinge

durch Tätowierung oder Kleidung interpretiert, während bei den negativen Korrelationen die Bevorzugung grenzakzentuierender Kleidung umgekehrt als Kompensationsbemühung von Individuen mit geringer Grenzfestigkeit gilt, die so ihre Körpergrenze stabilisieren. Die divergierenden Interpretationen können durch die Beobachtung gestützt werden, daß die Kleidung im Falle der positiven Korrelationen ständig getragen wurde und, mit Ausnahme der Tätowierung, keine individuelle Entscheidung für die Kleidung gefallt wurde, während im Falle derjenigen Studien, die negative Korrelationen ergaben, die Wahl der Kleidung den Individuen oblag. Dennoch verbleibt eine Ambiguität in den Ergebnissen der Studien zur Festigkeit der Körperbildgrenze, da in jedem Einzelfall erneut zu deuten ist, ob die natürliche Festigkeit gemessen wurde oder das Resultat von erfolgreichen oder unterlassenen Kompensationsbemühungen. Deshalb sind eindeutige Aussagen eher über Effekte von Veränderungen auf die Festigkeit als über natürliche Korrelate der Festigkeit von Körpergrenzen zu treffen. So vermag akzentuierte, abgeschlossene Kleidung die Körpergrenzen zu festigen. 11 Ein weiterer kritischer Punkt des Konstrukts ist die Annahme, daß ein Maximum der Körperselbstgrenze zugleich das Optimum darstelle. Wenn sie sich aber kompensatorisch erhöhen läßt, dann ist zu fragen, ob sich bei zugrundeliegender Grenzunsicherheit und starken Kompensationsbemühungen nicht auch ein superoptimaler, also zu hoher Barrierwert ergeben kann. 12

11

In experimentellen Studien fanden sich weitere Einflußgrößen auf die Festigkeit der Körpergrenze. Eine Fokussierung der Aufmerksamkeit auf die Körperoberfläche stärkt, auf das Herz schwächt die Körperselbstgrenze, körperliche Bewegung wie Körperübungen stärken, sensorische Isolation schwächt sie; Phantasieübungen, die auf die eigene Identität fokussieren, stärken, Situationen der Akkulturation schwächen sie; bestätigende Erfahrungen stärken, selbstwertbedrohende Situationen schwächen sie; Belastungssituationen stärken, morgendliches Erwachen schwächt die Körperbildgrenzen.

12

Fisher unterschlägt diese Deutungsmöglichkeit systematisch bei der Interpretation der von ihm berichteten kurvilinearen Zusammenhänge. Ein Beispiel für die Kompensation schwacher Körperbildgrenzen und dysiunktional hoher Barrierwerte bietet die Magersucht, der oft eine Phase der Entfremdung und starker Selbstzweifel sowie eines radikalen sozialen Rückzugs vorangeht, die auf eine Schwächung der Körperbildgrenze und einen Rückzug des Körperichgefühls von der Körperperipherie schließen lassen; der soziale Rückzug dient gemäß dieser Interpretation als erste Kompensationsbemühung. Das Abmagern wäre dann ein zweiter, aktiverer Kompensationsversuch, nämlich der Versuch, die reale Körpergrenze mit der Körperichgefühlsgrenze in Deckung zu bringen und die Körperbildgrenze u.a. auf diese Weise zu stärken (s. Habermas, 1986). Die einzige vorliegende Untersuchung zur Festigkeit der Körperbildgrenze bei Magersüchtigen (Strober & Goldberg, 1981) bestätigte diese Vermutung: Relativ neuerkrankte Magersüchtige weisen signifikant höhere Barrierwerte auf als eine ebenfalls hospitalisierte Kontrollgruppe; nach halbjähriger psychotherapeutischer Behandlung waren die Barrierwerte der Magersüchtigen gesunken.

4. Dinge und Selbstgefühl

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Betrachten wir abschließend die Ergebnisse zu zwei theoretisch zu erwartenden Zusammenhängen. Es wäre zu vermuten, daß unter Entfremdungszuständen leidende Personen einen niedrigeren Barrierwert aufweisen. Die einzige von Fisher (1986) berichtete Studie kommt jedoch nicht zu diesem Ergebnis. Zweitens wäre zu erwarten, daß feste Körperbildgrenzen eine geringere soziale Distanz ermöglichen. Dies wurde in unzähligen Studien bestätigt, die das Kommunikationsverhalten untersuchten. Studien aber, die den Begriff der sozialen Distanz mit räumlicher Distanz zwischen Interaktionspartnern im Experiment oder mittels Zeichnungen übersetzten, kamen zwar meist zu signifikanten, aber widersprüchlichen Korrelationen. Schließlich fand eine einzelne Studie, daß eine weitere Form sozialer Distanz bzw. Nähe, nämlich das Ausmaß, sich dem anderen zu offenbaren, am höchsten bei mittleren Barrierwerten war (Schutz, 1977; alle Untersuchungen referiert in Fisher, 1986).

4. Die Rolle von Dingen für das Selbstgefühl Die Untersuchung von Vertrautheit und Lebendigkeit des Erlebens von Dingen und Situationen sowie des Phänomens der Ausdehnung des Ichgefuhls und des Begriffs der Selbstgrenze diente zwei Zwecken: Aus der Perspektive des Selbstgefühls als subjektiver Manifestation von Identität sollte 1.) geklärt werden, ob und warum Vertrautheit und Lebendigkeit einen Dinge als Teil der eigenen Person erleben lassen, und 2.), was sich aus der beschränkten Perspektive des Selbsterlebens bereits darüber sagen läßt, welche Rolle Dinge für das Selbstgefühl der Person spielen. 3.) wird eine vorläufige Explikation der verwendeten motivationalen Begriffe versucht werden. Schließlich wird 4.) eine bestimmte Art des Erlebens im Umgang mit Dingen vorgestellt, in dem alle in dem zweiten und dritten Abschnitt dieses Kapitels erörterten Aspekte des Erlebens in einer spezifischen Konstellation auftreten, und so Gelegenheit geben, den Zusammenhang zwischen Vertrautheit, Lebendigkeit, Interesse, Ausdehnung des Ichgefuhls und Körpergrenze erneut zu thematisieren. l.a) Bekanntheit, Vertrautheit, Interessantheit und der mit der Lebendigkeit der Wahrnehmung korrelierende Anregungsgehalt von Dingen und Umwelten sind alle nicht Eigenschaften allein ebendieser, sondern Verhältnisse zwischen Person und Objekt, die nicht von der Perspektive der Person zu abstrahieren sind - damit ähneln sie den deiktischen Begriffen. b) Sodann zeigte sich, daß solche Dinge besonders vertraut sind, die gut zu der Person passen, d.h. mit denen die Person automatisiert, habitualisiert interagieren kann. Solche Interaktionen kosten die Person keine Aufmerksamkeit, sie sind ihr selbstverständlich. Ähnliche Bedin-

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III. Selbstgefühl und Dinge

gungen fuhren zu einer Ausweitung des Selbstgefühls und eventuell gar Einschließung von Dingen: Hier sind es ebenfalls die gut zum Handlungssystem und den Erwartungen der Person passenden Erfahrungen, die zudem positiv getönt sind. Besonders gute Passungen werden durch große körperliche Nähe ermöglicht. c) Die empfundene Lebendigkeit ist von dem Anregungsgehalt von Objekten abhängig; wir unterschieden zwischen einerseits der Interessantheit von Objekten, die ihrerseits durch ihre Neuheit und Komplexität bestimmt ist und die Lebendigkeit der Person steigert, da sie emoviert, zu Reaktionen reizt, und andererseits der Vertrautheit von Objekten, die ebenfalls, unter anderen situativen und personalen Bedingungen, Lebendigkeit zu stimulieren vermag. Es handelt sich hier um eine Erweiterung der schon im letzten Kapitel gemachten Beobachtung über als Instrumente dienende Dinge. Die beiden Arten von Beziehungen zu einem Objekt unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Auswirkung auf die Aufmerksamkeit. Im ersten Falle zieht das Objekt die Aufmerksamkeit auf sich, im zweiten ermöglicht es, die die Aufmerksamkeit auf Anderes als das Objekt zu richten. Perspektivische Bezogenheit auf die Person und gute Passung eines Objekts an das Handlungssystem der Person (z.B. als Instrument) sind zwei Kriterien, die wir bereits gegen Ende des vorangegangenen Kapitels als Bedingungen dafür genannt hatten, daß Dinge als Teil der eigenen Person erlebt werden. Dies gilt aber nicht für Dinge, die Interesse wekken - diese werden durchaus als Objekt der Aufmerksamkeit und von Handlungen erlebt. Hier ist der Zusammenhang mit dem Selbstgefühl wohl eher ein ontogenetischer, da die die Lebendigkeit des Erlebens der eigenen Person und von Objekten vor dem Erwerb der Fähigkeit, deutlich zwischen ihnen zu differenzieren, identisch war. 2. Dinge können der Kompensation von Störungen der Befindlichkeit und des Ichgefuhls dienen und mit diesem Ziel aufgesucht werden, a.) Störungen des Körperichgefühls können durch Bewegung und wahrscheinlich auch bewegungsverstärkende Dinge wie Vehikel sowie durch das Lenken der Aufmerksamkeit auf den Gesamtkörper wie beispielsweise durch körpergrenzbetonende Kleidung kompensiert werden, b) Ichgefuhlsstörungen können sich in Form von Unterstimulierung (z.B. in Form sensorische Deprivation, die zu mangelnder Abgrenzung führt) oder Übererregung, von zu großer Fremdheit (z.B. Identitätsverlust in Emigration) wie zu großer Vertrautheit äußern, so daß sowohl anregende Dinge wie Entspannung ermöglichende und vertraute Dinge zur Kompensation der Befindlichkeit herangezogen werden können. 3. Unmerklich wurden einige motivationspsychologische Annahmen und Begriffe eingeführt. Bislang hatten wir ein einfaches identitätspsychologisches Motivationsmodell mit sechs Dimensionen und je mittleren Ruhezonen; negative Abweichungen von diesen motivierten zu kompensatorischen Handlungen, wobei interindividuelle Unterschiede in der

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Positionierung der nichtmotivierenden Normalitätszonen angenommen wurden. Mit dem Begriff der Festigkeit der Körpergrenzen sind weitergehende Annahmen und motivationspsychologische Größen verbunden: a) er selbst bezeichnet eine Disposition zu negativen Variationen im Erleben der Abgrenzungsdimension der Identität. Diese ist gekoppelt an b) eine niedrige Kompetenz, die eigenen Grenzen zu regulieren, sich abzugrenzen und zu öffnen. Zu Handlungen motivieren beide erst c) vermittelt über die Erwartung, die eigenen Grenzen nicht selbstverständlich regulieren zu können, mit anderen Worten die Unsicherheit der Person ob ihrer Grenzen. Ist die Sicherheit hoch, muß die Person keine Vorsorge treffen, sondern kann sich Situationen aussetzen, in denen Grenzen gefährdet werden könnten, so einem intensiven Austausch mit der sozialen und dinglichen Umwelt. Nur wenn die Erwartung niedrig ist, motiviert sie möglicherweise d) zu kompensatorischen Handlungen, die nicht so sehr auf die Bewältigung einer spezifischen Situation, sondern auf die Kompensation einer eigenen Unfähigkeit und das generalisierte Vermeiden von aus dieser resultierenden Störungen des Ichgefuhls zielen. Einer ähnlichen Logik folgt der Begriff der Bindung, und zwar nicht der der Stärke, sondern der der Sicherheit der Bindung, und das ihm zugehörige Phänomen des Vertrautheits- bzw. Fremdheitsempfindens, nur daß diese sich mal erst nicht auf eigene Fähigkeiten, sondern auf Personen und Dinge richtet. Und zwar ermöglicht eine große Bindungssicherheit wiederum die Freiheit, sich nicht um sichernde, kompensatorische Handlungen kümmern zu müssen, was hier hieße, sich der Nähe des Bindungsobjekts zu versichern oder Vertrautheitsempfindungen durch Handlungen herbeizufuhren, also sich vertraute Dinge um sich zu versammeln oder sich an vertraute Orte zu begeben (s. 4.Kap.). Und der Begriff des Fließerlebnisses, den ich gleich einfuhren werde, impliziert ebenfalls eine Art Balancemodell mit optimaler mittlerer Ausprägung (Csikszentmihalyi & Rathunde, 1993). Formal sind diese Sicherheitsbegriffe zwar mit für ganz bestimmte Handlungsklassen spezifischen Erwartungsbegriffen der Motivationspsychologie vergleichbar, wie zum Beispiel, bezüglich der Handlungsklasse Leistung, mit dem Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten (Erfolgserwartung). Bei beiden Begriffen fuhrt eine geringe Erfolgserwartung zu einem Vermeiden relevanter Situationen (sozialer Austausch, Alleinsein, Leistungssituation) oder kompensatorischen Leistungen, doch im Falle einer hohen Sicherheit bezüglich der eigenen Fähigkeiten endet die Parallele: Denn eine sichere Bindung und sichere Körperbildgrenzen ermöglichen es gerade, anders motivierte Handlungen auszufuhren, bei denen Bindungsobjekte fern sind bzw. Grenzen überschritten werden, während erfolgsmotivierte Personen mit der Erwartung, Erfolg zu haben, durchaus motiviert sind, Leistungssituationen aufzusuchen. Das weist auf den

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m. Selbstgefühl und Dinge

unterschiedlichen Charakter der involvierten motivationalen Mechanismen hin: Bindungssicherheit und Körperbildgrenzfestigkeit beziehen sich weniger auf Fähigkeiten, die für das Erreichen eines anderen Handlungszieles instrumenteil wären (wie Leistungsfähigkeit für gute Leistung, das Ziel einer Leistungshandlung), sondern um sehr generelle Voraussetzungen fiir das Wohlbefinden und damit Voraussetzungen für Handlungen mit spezifischeren Zielen. Außerdem ist der Begriff der Kompensation in der akademischen Motivationspsychologie wenig geläufig. In ihrer Sprache und Logik müßte man eigentlich bei Personen mit labiler Körperbildgrenze, die entsprechende Kompensationsbemühungen zeigt, von einem ausgeprägtem Abgrenzungsmotiv, und bei bindungsunsicheren Personen, die sich an Bindungsobjekte klammern, von einem ausgeprägten Bindungsmotiv sprechen. In der Tat weist der Kompensationsbegriff seine Schwierigkeiten auf, wie sich bereits bei der Diskussion der Manifestationsformen von Körperbildgrenzfestigkeit zeigte. Denn wie ist festzustellen, ob eine Handlungstendenz kompensatorisch motiviert ist, also auf den Ausgleich eines Defizits zielt? Dafür muß einerseits das bewußt empfundene oder unbewußte Defizit plausibel gemacht werden, andererseits können kompensatorische Handlungen selbst Hinweise auf ebendiesen ihren Charakter liefern, vor allem ein besonders starker Ausprägungsgrad einer Handlungsdisposition sowie eine ständige Anstrengung. Einen wichtigen Hinweis liefert zudem, wie unrealistisch das auf eine Veränderung der eigenen Person gerichtete Bemühen ist. Dinge können sowohl nicht-kompensatorischen wie kompensatorischen Zwecken dienen. Für letztere bieten sie sich nun jedoch in besonderem Ausmaß an, da sie einfache Manipulationen des Erlebens und der Selbstdarstellung erlauben, die keine Fähigkeiten erfordern (deren Mangel zu kompensieren ist), sondern die Person sich lediglich mit ihnen ausstatten muß. Darüber hinaus überdauern sie, ohne daß es eines andauernden Aufwandes der Person bedürfe (s.u., 5.Kap., 4.3). 4. Michael Csikszentmihalyi (1975) hat eine spezifische Form des Erlebens beschrieben, die er als Fließerlebnis bezeichnet. Er befragte Künstler, Bergsteiger, Tänzer und Chirurgen dazu, wie sie ihre Tätigkeiten erleben. Sie werden als gelungen erlebt, wenn die Person in ihnen aufgeht. Das Fließerleben soll hier als Beispiel dafür angeführt werden, wie mehrere der in diesem Kapitel einzeln diskutierten Aspekte des Selbstgefühls gemeinsam auftreten und zusammenwirken, um ein positives Selbstgefühl entstehen zu lassen. Außerdem hat Csikszentmihalyi das Erleben von Tätigkeiten mit einem Gegenstand beschrieben. Das stark positiv getönte Erleben in diesen Situationen ist gekennzeichnet durch: - eine hohe intrinsische Motiviertheit; die Handlungen selbst werden als befriedigend und belohnend erlebt, nicht nur oder primär die Handlungsergebnisse;

4. Dinge und Selbstgefühl

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- ein hohes Maß an Konzentration auf das Objekt, so daß man alles andere um sich herum vergißt, so auch die vergehende Zeit; - man vergißt sich sozusagen selbst, ist sich seiner selbst nicht gewahr; Csikszentmihalyi (1988) spricht davon, daß man sich als aktiv, in der ersten Person des James'schen / erlebt, das reflexive Selbsterleben des James'schen Me hingegen völlig zurücktritt; - die Metapher des in einer Tätigkeit Aufgehens entspricht dem Bild der Deakzentuierung der Selbstgrenzen; Csikszentmihalyi (1988) spricht von dem Erlebnis des Verschmelzens mit der Umgebung; - man ist davon überzeugt, daß das Ergebnis der Tätigkeit allein von einem selbst abhängt; - die Anforderungssituation ist eine der Leistung; sie ist zweifach bestimmt, zum einen ist die Aufgabe besonders schwierig, und die Schwierigkeit liegt gerade oberhalb der eigenen Fähigkeiten, so daß sie besonders herausfordernd ist und verspricht lösbar zu sein, wenn man sich nur genügend anstrengt; - zum anderen zeichnet sich die Aufgabe durch eine klare Struktur, die Tätigkeit durch klare Ziele, die Interaktion durch eine eindeutige Rückmeldung über den Erfolg der eigenen Handlungen aus. Csikszentmihalyi schildert eine spezifische Befindlichkeit in Interaktion mit Dingen (bzw. dem eigenen Körper im Raum bei Tänzern). Sie ist eine Form positiven Selbstgefühls. Beschreiben wir das Fließerlebnis hinsichtlich der verschiedenen Aspekte des Selbstgefühls. Die Person ist im Fließerlebnis - sehr interessiert, und das heißt (intrinsisch) motiviert und deshalb lebendig, ganz bei der Sache; - ihre Selbstgrenzen dehnen sich auf das Objekt ihres Interesses und ihrer Handlungen aus, was dadurch befördert wird, daß a) das Objekt im Laufe der Handlung vertraut wird, daß b) man seine Handlungen so auf das Objekt abpassen kann, daß man es nach seinem Willen gestaltet und c) die Aufmerksamkeit nicht auf die eigene Person gerichtet ist. Eine Voraussetzung für das Fließerlebnis scheint das Alleinsein zu sein; andere Personen dürfen die Beschäftigung nicht stören und unterbrechen, weil man sonst rauskommt. Diese Voraussetzung ist aber nicht psychisch durch das Erleben einer starken Grenze gegenüber Dritten repräsentiert; vielmehr werden diese vergessen, es sei denn, sie seien Teil der Beschäftigung, wie beim Tanzen oder Bergsteigen; dann unterliegt die Interaktion mit ihnen aber ähnlich strengen Gesetzmäßigkeiten wie die (Inter-)Aktion mit Dingen, einem Kunstwerk oder einen betäubten Körper, so daß Erfolge und Mißerfolge ähnlich eindeutig auf die eigene Performanz zurückgeführt werden können; - vertraut sind die Handlungsobjekte nicht unbedingt, die aktive, konzentrierte Auseinandersetzung mit ihnen macht sie aber schnell vertraut;

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m. Selbstgefühl und Dinge

- das Fließerlebnis kommt erst zustande, wenn man Aussicht darauf hat, die Tätigkeit und deren Objekt weitgehend zu beherrschen; alle Effekte am Objekt können als Effekte eigenen Tuns interpretiert werden (#4 des Identitätsgefuhls); - das Fließerlebnis steigert das Selbstwertgefühl, da es die eigene Leistungsfähigkeit belegt (#6); - schließlich fühlt man sich 'eins mit sich selbst', und das heißt auch mit seinem Körper, da alle Beispiele auch körperliche Aktivitäten involvieren, bei denen der Körper fungierender, instrumenteller Teil der eigenen Anstrengung ist (#5). Damit zeigt sich eine Optimierung des Erlebens in den drei in diesem Kapitel erörterten Aspekten des Selbstgefühls und den letzten drei der sechs Dimensionen des Identitätsgefühls; die ersten drei Identitätskriterien scheinen nicht zentral involviert zu sein. Ähnliche Erlebnisweisen sind für andere Situationen beschrieben worden. Vergleichen wir diese mit den von Csikszentmihalyi untersuchten, um die Situations- und Handlungsspezifität des Fließerlebens einzugrenzen. Eine recht ähnliche Situation ist die des Programmierers, wenn er ein anspruchsvolles Programm schreibt; die Aufgabe ist in sich klar strukturiert, die Ergebnisse hängen allein von dem Programmierer ab, und das Objekt, an dem er arbeitet, liefert eindeutige und sofortige Rückmeldungen. Außerdem ist der Gegenstand der Beschäftigung in sich komplex strukturiert, ähnlich einem Körper oder einem Kunstwerk, so daß er über eine eigene Logik verfügt, in die man sich einarbeiten muß. Sato (1988) beschreibt aufgrund von Interviews mit Mitgliedern von Motorradgangs die Situation des Motorradfahrens als eine, in der Fließerleben Zustandekommen kann. Im Vergleich zu den bislang genannten Situationen gilt sie weniger als eine Leistungssituation denn als eine des Vergnügens. Dennoch stellt sie ähnlich Herausforderungen an die Fähigkeit des Fahrers, sein Gefährt zu beherrschen, und innerhalb einer Motorradgang sind die Kriterien des Könnens differenziert. Stärker als beim Chirurgen oder Programmierer, aber ähnlich wie beim Bergsteiger und Tänzer ist die körperliche Bewegung, die Fähigkeit zu ungewöhnlicher und vor allem schneller Bewegung in der Situation des Motorradfahrens betont, die in der Tätigkeit erlebte Macht ist eine sehr körperliche; entsprechend wichtig ist das Erleben, eins zu sein mit seinem Körper und der durch ihn beherrschten Umwelt. Hinzu treten weitere Aspekte des Motorradfahrens in der Gang, die das Identitätsgefühl stärken, wie die Anerkennung der anderen, die Gemeinsamkeit mit ihnen und die Bestätigung der Geschlechtsidentität. Logan (1988) wählt Situationen, die sich stärker von den bisher genannten abheben, nämlich solche der Selbsterprobung in der Einsamkeit, wie die des Polarforschers und des frühen Transatlantikfliegers, des einsamen Ozeanseglers (Delle Fave & Massimi, 1988), des Lagergefan-

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genen und isolierten Häftlings. Bei allen handelt es sich mehr um langanhaltende Situationen der Einsamkeit, weniger um konkrete Tätigkeiten. Die drei erstgenannten unterscheiden sich von Csikszentmihalyi's Situationen durch eine geringere Intensität der Tätigkeit und die langanhaltende Isolation, und der Kampf wird gegen die Elemente geführt, nicht gegen ein bestimmtes Objekt. Auch die Eintönigkeit der Situation ist anders, der Spaß am Handeln, d.h. dem Kampf ums Überleben oder zumindest Zurücklegen einer Strecke, dürfte im Laufe der Zeit durchaus variieren. Es besteht keine ständige Handlungsanforderung, ein Teil der Leistung besteht im bloßen Aushalten und Ertragen. Das Erleben in solchen langanhaltenden Extremsituationen dürfte, soweit sie bewältigbar erscheinen, durchaus mit dem Wort Fließen zu umschreiben sein, da Zeitgefühl und Selbstgrenzen sich aufzulösen scheinen. Man geht aber nicht immer konzentriert in seinen Handlungen auf, nicht immer gibt es eindeutige Rückmeldungen, und man denkt durchaus an andere Dinge als an die momentan gegebene Situation. Solche Erfahrungen ähneln in gewisser Weise der der sensorischen Deprivation, unter der es zu Entfremdungserscheinungen und Halluzinationen kommen kann, so wie in der Wüste zu einer Fata Morgana. Nicht umsonst suchen Mystiker gerade dieserart Situationen auf und nicht solche einer intensiven Tätigkeit. Die Isolation von anderen Menschen dient hier nicht allein der Konzentration auf eine Tätigkeit, sondern wird zu einem erlebniskonstitutiven Element. Delle Fave und Massimi (1988) schließlich befragten Studenten nach dem Erleben einer Reihe unterschiedlicher Situationen. Dem Fließerlebnis am nächsten kamen sie bei der Beschäftigung mit einem Hobby oder einer künstlerischen Betätigung, am allerwenigsten beim Fernsehen, routinisierter Körperpflege und beim Essen. Die letzgenannten Situationen zeichnen sich durch ein hohes Maß an Gewöhnung und ein Minimum an notwendiger Aufmerksamkeit aus; sie stellen keine Anforderungen. Sie können durchaus sehr angenehm sein, haben aber keine spürbare Verbesserung oder Intensivierung des Selbstgefühls zur Folge. Die Analyse einiger ausgewählter Situationen und der für sie typischen Erlebnisweisen verdeutlicht zweierlei. Zum einen fließen die verschiedenen Aspekte des Ichgefühls zu einem Gesamtbefinden zusammen. Zum anderen kann es durchaus unterschiedliche positive ebenso wie negative Zustände des Selbstgefühls geben, wie an den verschiedenen Nuancen des gerade besprochenen Situationen deutlich wurde. 5. In diesem Kapitel habe ich versucht, den Begriff der Identität in die Sprache des Erlebens zu übersetzen. Die Rolle von Dingen für Veränderungen des Erlebens wurde aus der Perspektive des individuellen Erlebens beschrieben. Diese Blickweise war wichtig, weil sie am Erleben ansetzt und an seiner motivierenden Funktion. Immer wieder aber mußten schon Aussagen über Umweltqualitäten getroffen werden, z.B. bei der Bestimmung der Interessantheit von Objekten, oder konnte beispiels-

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m . Selbstgefühl und Dinge

weise der Charakter der Vertrautheitsempfindung nicht weiter spezifiziert werden, da er nicht allein aus der Perspektive des Erlebens zu bestimmen ist. Und das Selbstgefühl wurde als Befindlichkeit mit verschiedenen Aspekten konzipiert, die als globales Phänomen, das es im Normalfalle ist, eine Resultante verschiedener Identitätsaspekte ist; gerade im Falle alltäglicher Schwankungen des Selbstgefühls übersetzen sich diese nicht in Erleben, es sei denn, man beobachte es gezielt. Im nächsten Kapitel gehe ich über die bislang gewählte Perspektive hinaus und versuche, den Dingbezug als Beziehung zur Umwelt in räumlichen Begriffen zu erfassen.

IV. Handlungsräume und persönliche Orte

Nach einer ersten Betrachtung der Psychologie des Besitzes haben wir im letzten Kapitel begonnen, aus einer Perspektive des Erlebens und Selbstgefühls den Zusammenhang zwischen Identität und Dingen zu analysieren. Dabei zeigte sich wiederholt die Begrenztheit dieser Perspektive. Deshalb wird in diesem Kapitel der Blick auf das Selbstgefühl um eine differenziertere Beschreibung der Umwelt erweitert. Zugleich wird die Beschreibung des Erlebens durch eine Außenperspektive auf die handelnde Person zwar nicht ersetzt, so doch ergänzt. Auch deshalb werden Alltagsbeobachtungen und introspektive Evidenzen zurücktreten zugunsten von Theorien und Ergebnissen systematischer empirischer Untersuchungen. Obwohl William James nicht nur eine phänomenologische Haltung einnahm, sondern in der Hauptsache einer pragmatistischen Philosophie das Wort redete (allerdings verstärkt erst nach den Principles), wird die Bedeutung der handelnden Auseinandersetzung mit der Umwelt erst in diesem Kapitel betont werden. Drittens werde ich innerhalb dieses Rahmens erstmals eine entwicklungspsychologische Perspektive einfuhren. Dabei interessieren wiederum besonders jene Umweltausschnitte, die besonders relevant für das Selbstgefühl und die Identität der Person sind. Außen vor bleiben erst einmal die symbolische Beziehung zwischen Person und Dingen (kulturpsychologische Perspektive - 5. Kap.) sowie die symbolische und praktische Bedeutung von Dingen, die auf gegenwärtige und vergangene affektive, intime Beziehungen zu anderen Personen verweisen sowie interindividuelle Differenzen im Umgang mit persönlichen Objekten (6.Kap.). Dieses Kapitel ist dem Erleben von und motiviertem Verhalten und Handeln im Raum gewidmet, noch nicht speziell Dingen. Neben dem systematischen Gesichtspunkt, die Perspektive auf persönliche Objekte sukzessive, von Kapitel zu Kapitel, zu erweitern, spielen für dieses Vorgehen zwei weitere Gründe eine Rolle. Einmal sind Dinge nicht nur Objekte mit räumlicher Ausdehnung, sondern zugleich immer räumlich in der Umwelt lokalisiert wie räumlich in Bezug auf die Person situiert. Handeln mit Dingen weist so immer eine räumliche Dimension auf, auch wenn sie nicht immer die relevante ist. Zum anderen bieten Öko- und Sozialpsychologie eine ganze Reihe interessanter Untersuchungen persönlicher räumlicher und raumgebundener persönlicher Phänome, die zum Teil auf persönliche Objekte übertragbar sind.

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IV. Räume und Orte

Die ersten drei Abschnitte sind einem allgemeinen Modell räumlichen Verhaltens gewidmet. Das Kapitel öffnet mit einer Vorstellung von Lewins Feldmodell der Motivation, das zwar kein Modell der räumlichen Person-Umwelt-Beziehung sein will, dennoch aber von prototypischen räumlichen Situationen ausgeht und nur unter Rekurs auf sie zu verstehen ist (1.). Wiewohl Lewin allein die Motivierung kurzfristiger Handlungen erklären wollte, fuhrt eine kritische Diskussion seiner Theorie doch zu Ansätzen einer Theorie der Motivation langfristigen räumlichen Verhaltens gegenüber Personen und Dingen. Im Anschluß an Lewin versuche ich dann, Entwicklung räumlich zu definieren (2.). An die Diskussion der Theorie Lewins anknüpfend, stelle ich im nächsten Teil die Bindungstheorie Bowlbys vor (3 ), die die Präferenz räumlicher Nähe zur Mutterfigur beschreibt und um Überlegungen zur Ablösung von dieser in der Adoleszenz erweitert werden muß, die zugleich die Ausführungen zu räumlichen Aspekten der menschlichen Entwicklung vervollständigen. Damit ergänzen wir die Annahmen über die Motivation zu langfristigem räumlichem Verhalten durch eine Ursituation, in der die Motive der Sicherheit und Neugier ontogenetisch und räumlich kontextualisiert werden. In den darauf folgenden drei Abschnitten rekurriere ich auf Arbeiten und Untersuchungen zu einzelnen Aspekten räumlichen Erlebens, Verhaltens und Handelns im Zusammenhang mit persönlich signifikanten Räumen und Orten. Im 4. Abschnitt werden Räume und Orte beschrieben, die als besonders persönlich gelten können, und auf ihre psychischen Funktionen hin untersucht, ebenso wie im folgenden 5. Abschnitt die von Privatheit. Auch die persönliche Beziehung zu öffentlichen Orten und Gebieten wird unter den Gesichtspunkten der Bindung und Identität betrachtet und die Identitätsfunktionen von Orten zusammengefaßt (6 ). Schließlich bleibt im letzten Abschnitt zu prüfen, welche Funktionen von persönlichen Räumen und Orten auf persönliche Objekte übertragbar erscheinen. Ein Spezialfall der Beziehung zwischen persönlichen Orten und Objekten, in denen möglicherweise jene Funktionen an diese abtreten, findet sich in Übergangssituationen, als dessen Prototyp die Adoleszenz beschrieben wird (7.).

1. Kurt Lewins Feldtheorie als Fundament einer Ökopsychologie Kurt Lewin gilt als einer der Begründer der Ökopsychologie. Vorgänger wie der Heidelberger Psychologe Willy Hellpach (z.B. 1911) hatten sich überwiegend mit der psychologischen Bedeutung von geographischen

1. Lewins Feldtheorie

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Phänomenen wie Wetter, Klima und Landschaft beschäftigt, wiewohl auch er schon zwischen \3mw\ieinflüssen, die vom Individuum unbemerkt wirken, und Umwelt eindrücken, der subjektiven Bedeutung der Umwelt, unterschieden hatte. Lewin hingegen war ein Theoretiker, der mit seiner Feldtheorie des Verhaltens zugleich motivations-, entwicklungs- und sozialpsychologische Themen in einen gemeinsamen Kontext stellte und in einem Beschreibungsmodell integrierte. Wir wenden uns Lewin zu, da ein Modell des Feldes verspricht, Beschreibungsmöglichkeiten für die Beziehung zwischen Person und Ding zu eröffnen und ein Handwerkszeug für die Beschreibung der räumlichen Dimension dieser Beziehung anzubieten. 1 Lewin schuf seine Feldtheorie, um zu beschreiben, welche Einflüsse zu einem gegebenen Zeitpunkt auf das Handeln einer Person einwirken, so daß sie gerade diejenige Handlung vollzieht, die sie vollzieht. Lewin bildet sie als die Resultante aller im Feld wirkender Kräfte ab. Das Feld bildet nicht den physikalischen, z.B. euklidischen Raum ab, sondern den Raum, wie er für die Person in praktischer Hinsicht besteht. Es ist ihr Lebensraum (Lewin, 1943), ihr Spielraum (1931a), ein werthafter Handlungsraum mit "Bedürfnissen, Motivation, Stimmung, Zielen, Angst oder Idealen" (1943/1982, 147), gegliedert nach instrumentellen Handlungsmöglichkeiten. Lewin stimmt Koffkas Unterscheidung des Lebensraumes vom geographischen Räume zu (behavioral versus geographical environment: Koffka, 1935; s.a. Brunswik, 1943; Lewin, 1943). Am deutlichsten veranschaulicht Lewin seinen zwar erfahrungsbezogenen, aber in den von der Umwelt gebotenen Handlungsmöglichkeiten verankerten Lebensraumbegriff in einem frühen Aufsatz über die Kriegslandschaft (1917). Dort beschreibt er, wie ihm als Frontsoldaten, und er beeilt sich, dies noch zu spezifizieren und sich als Feldartilleristen auszuweisen, die Landschaft anders als beispielsweise einem hypothetischen Kartographen oder einem Spaziergänger erscheint, sondern bestimmt wird durch den Frontverlauf und dessen Bedeutung für den Handlungsraum des Artilleristen. Hinter der Front hört die Landschaft abrupt auf, diesseits der Front richtet sie sich auf jene aus. Die Front strukturiert die Landschaft in gefahrliche und sichere Räume, in Kriegsund Friedensräume. Je nach Lokalisierung wird so etwa ein Kirchengebäude als geweihter Ort der Andacht oder als Landschaftsmarkierung beim Zielen bzw. als vor den Gewehrkugeln schutzbietende Konstruktion gesehen und behandelt.

1

Lewin hat zwar auch ein räumliches Modell der Persönlichkeit entworfen, das aber keine räumlichen Beziehungen oder solche zur Umwelt abbilden soll. Es bestehen kaum Verbindungen zu dem hier interessierenden Feldmodell (s. Heckhausen, 1989).

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IV. Räume und Orte

1.1 Räumliches oder psychologisches Feld? Kehren wir zu Lewins späterem Feldmodell zurück. Das Feld ist immer das Feld einer Person. An ihr setzen Kraftvektoren an, die über Größe (Länge) und Richtung bestimmt sind. Die Resultante aller Kräfte bestimmt die stattfindende Handlung in Form einer Bewegung im Feld. Die Kräfte gehen von im Feld angesiedelten Handlungszielen aus, die positiv oder negativ sein können, anziehend oder abschreckend. Der wirksamen Kraft entspreche ein "subjektives Richtungserleben" (1931a/1982, S.180). Als Entfernung zwischen Person und Handlungsziel erscheint in dem Modell der Weg, der bis zu ihm zurückgelegt werden muß, also die Reihenfolge der für das Erreichen eines Zieles notwendigen Handlungsschritte, die Anordnung von möglichen Handlungen in ihrer Funktionalität für das Erreichen eines Zieles (1946/1982, 387). Lewin betont zwar wiederholt, er bilde nicht den geographischen, sondern den psychobiologischen Handlungsraum ab, doch zeigt sich immer wieder, daß das Feldmodell sich eng an eine bestimmte räumliche Situation anlehnt, nämlich die des Säuglings bzw. Kleinkindes, dessen Handlungsziel im Erreichen eines im Raum situierten Objekts besteht. Für Kleinkinder läßt sich in der Tat meistens von der Räumlichkeit der motivierenden Objekte und von Zielhandlungen als Lokomotion hin zum Zielobjekt ausgehen. Andernorts erklärt Lewin die Größe der von einem Ziel ausgehenden Kraft zur Funktion der Attraktivität des Zieles und der psychologischen Distanz, was nichts anderes heißt, als daß die handlungsmotivierende Kraft eines Zieles von dessen Erwünschtheit und der Schwierigkeit, es zu erreichen, abhängt. Oft, doch nicht immer könne die physische bzw. zeitliche Distanz zum Objekt der psychologischen Distanz entsprechen (1946/1982, 397). Wiederholt rekurriert Lewin auf einen von Fajan (1933) durchgeführten Versuch, bei dem die von einem Objekt ausgehende Handlungsmotivation mit der räumlichen Distanz für Säuglinge abnahm, für Vierjährige jedoch nicht, da diese verstünden, daß nicht die räumliche Distanz, sondern die Erlaubnis des Versuchsleiters darüber entscheidet, ob sie sich des Objekts bemächtigen können. Mit diesem Beispiel möchte Lewin verdeutlichen, daß die von ihm im Feldmodell abgebildete Distanz nicht mit der räumlichen übereinstimmen muß, sondern ganz andere Faktoren über die zu einem Ziele führenden Handlungsmöglichkeiten, ihre Erfolgswahrscheinlichkeit und den zu leistenden Aufwand entscheiden. Doch die räumliche Analogie des Feldmodells und die Räumlichkeit der prototypischen Situationen, auf denen es basiert, fuhren zu Widersprüchen. So macht das Konstrukt der Barriere auf dem Weg zu einem Handlungsziel bei strenger Anwendung der Modellbegriffe keinen Sinn, denn jegliche Schwierigkeiten auf dem Weg zum Ziel müssen sich in der Entfernung zu ihm ausdrücken! Hingegen führt Lewin den Begriff der

1. Lewins Feldtheorie

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Barriere am Beispiel der berühmten Umwegsituationen ein, bei der der Weg zu einem begehrten Objekt (z.B. einer Banane für einen Affen) durch eine physische Barriere versperrt ist, und die Aufgabe in einer kognitiven Restrukturierung der Situation dergestalt besteht, daß das Subjekt einsieht, daß der Umweg um die Barriere herum der direkteste (und einzig mögliche) Weg zum begehrten Objekt ist (Lewin, 1931b; 1933). Wenn aber der Weg zum Objekt um die Barriere herum fuhrt, ist die Entfernung des Objekts nicht mehr mit der Wegstrecke zu ihm identisch. Lewin klärt nun aber nicht, wofür dann die Entfernung vom Objekt in seinem Modell steht, was also unter psychologischer Distanz zu verstehen sei (s. Heckhausen, 1989, 141). Wiederum denkt Lewin an doch räumliche Protosituationen, so das Kind, das zur Strafe in sein Zimmer gesperrt wird, so daß es sich von Barrieren eingeschlossen und auf diese Weise von attraktiven Handlungen abgeschnitten sieht (1931a/1982, 125f). Die Modellunangemessenheit von Barrieren gibt Lewin indirekt zu, wenn er sagt, daß für den Säugling, der den Umweg nicht sieht, die korrekte Darstellung seiner Situation einen Umweg nicht vorsieht, sondern eine absolute Barriere (korrekterweise dürfte das Handlungsziel gar nicht repräsentiert sein; s.u.), während sie die Situation der Vierjährigen, die den Umweg sieht, diesen nicht als Umweg im Feld abbilden darf, sondern als einzigen direkten Weg (1933/1982, 113, 118). Andererseits bedurfte Lewin der Barrieren, um Konflikte und Ersatzhandlungen in dem Feldmodell abbilden zu können. Auch Tolman, der eindeutiger zwischen räumlichen Verhältnissen und der Abbildung in einem räumlichen Modell unterscheidet, indem er die räumlichen Modellbegriffe explizit in psychologische Begriffe übersetzt, entgeht den modellinhärenten Widersprüchen nicht. Er definiert den Begriff der Distanz mit der relativen Bevorzugbarkeit einer bestimmten Handlungssequenz gegenüber anderen möglichen, unterscheidet sie aber nicht von der um Barrieren herumführenden Wegstrecke (Tolman, 1933). Kehren wir zu der Frage zurück, was Lewin als psychobiologischen Handlungsraum im Feldmodell abbilden möchte. Als Grenzzonen des Feldes konzipiert er die andersartigen Gesetzen unterliegenden physikalischen und sozialen Welten. Er bezeichnet sie als die "psychologiefremde Hülle des Lebensraumes" (1936a; s.a. 1943/1982, 147; Graumann, 1982, 29). Den Begriff der psychologischen Ökologie ordnet Lewin der Untersuchung der Interaktion des Lebensraumes mit dieser Grenzzone zu (Graumann, 1982, 30). Dazu sind eigenen, nicht-psychologischen Gesetzmäßigkeiten unterliegende soziale, ökonomische und physische Tatbestände zu zählen, die der Person als solche nicht präsent sind. Da diese aber doch das Verhalten beeinflussen, wenn auch indirekt und ohne Gewahrsein der Person, ist Lewins Satz, "im Lebensraum [ist] alles das darzustellen, was das Verhalten zu einer Zeit beeinflußt", nicht ganz korrekt (1943/1982, 148).

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IV. Räume und Orte

Da Lewin sein Feldmodell auch auf intelligentere Wesen als Tiere, Säuglinge und Kleinkinder anwenden wollte, mußte er die Räumlichkeit des Feldes metaphorisieren und auf eine Psychologie des Raumes im engeren Sinne verzichten. Dennoch werden wir auf sie zurückkommen, da das Feldmodell, wie wir gezeigt haben, von räumlichen Verhältnissen ausgeht. Wegweisend war weniger seine Modellbildung als seine stringente Psychologisierung des Raumes, wie sie auch der von ihm zur Unterstützung angeführte Jakob von Uexküll schon für die Biologie entworfen hatte (Lewin, 193 lb/1982, 174).

1.2 Der Aufforderungscharakter von Ereignissen, Tätigkeiten und Dingen Lewin wollte die Motivierung einer Handlung durch Gegebenheiten des Lebensraumes erklären. Er versuchte, einen Mittelweg zu finden zwischen einer objektivistischen, reizzentrierten Sicht wie der des frühen Behaviorismus und einer subjektivistischen, personzentrierten Sicht wie der der Persönlichkeitspsychologie. Dazu führte er den Begriff des Aufforderungscharakters von Dingen und Ereignissen ein (Lewin, 1926a). Er ergibt sich aus der Bestimmung des Lebensraumes weder als objektiv gegebenem, geographischem, noch als primär phänomenalem, sondern als Handlungsraum, der theorielogisch an James' praktisch konstituierter und deshalb durch Interessen strukturierter Welt anknüpft (s. 3.Kap.), nur daß Lewin nicht die Wahrnehmung, sondern die (auch antizipierte) Handlung zum Ausgang nimmt. "Der Mensch sieht sich der Welt ja nicht als einem Inbegriff neutraler Dinge gegenüber, sondern die verschiedenen Dinge und Ereignisse treten ihm freundlich oder feindlich, lockend oder abweisend mit ganz bestimmten willensartigen Tendenzen entgegen. Das glitzernde Spielzeug, ein Bändchen, der Zipfel eines Tuches lockt den Säugling zum Zugreifen. In teils langsam sich verschiebender, teils sprunghafter Entwicklung wandelt sich im Verlauf der Geschichte des einzelnen Menschen der Umkreis der Dinge, die derart 'positive oder negative Aufforderungscharaktere' ihm gegenüber besitzen" (Lewin, 1926b/1982, 64). "Ziele, Lockungen und Gefahren" (1927/1982, 82) sind weder allein durch die Person noch durch die vorgefundene Situation gegeben, sondern sind handlungsbezogene Beziehungen zwischen Person und Situation in Form eines Handlungsanreizes, genaugenommen in Form von Handlungstendenzen, an denen allein, und letztendlich erst im Nachhinein, die Stärke des Aufforderungscharakters der verschiedenen Umweltelemente festgestellt werden kann (1933). Oft betont Lewin jedoch

1. Lewins Feldtheorie

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stärker die Abhängigkeit des Aufforderungscharakters eines Umweltausschnittes von der momentanen Bedürfnissituation der Person (z.B. 1931b). Die Umwelt fordert zu solchen Handlungen auf, die Bedürfnisse befriedigen oder dies ermöglichen (mit Spielzeug spielen, eine Torte essen bzw. sich zu diesen Objekten hinbegeben - 1927/1982, 84; 193 lb/1982, 177). Solche Textstellen scheinen die alleinige Abhängigkeit des Aufforderungscharakters von der Bedürfnislage nahezulegen. Andernorts aber macht Lewin den Aufforderungscharakter eines Gegenstandes oder einer Tätigkeit von der "Eigenart der Tätigkeit ab[hängig] und teils vom Zustand der Bedürfnisse der Person zu diesem Zeitpunkt" (1946/1982, 416). Gleichenorts betont er, daß nicht nur Bedürfnisse, sondern beispielsweise auch Werte der Person, ihre Ideale, die Valenz einer Handlung bestimmen können. Eine Komplizierung ergibt sich durch die Möglichkeit, daß der Aufforderungscharakter einer Tätigkeit nicht eigentlich von dieser ausgeht, nicht natürlichen, sondern vermittelten Interessen entspricht. Vermittelte Interessen sind im Falle des Kindes durch Erziehungsmaßnahmen der Eltern hergestellt, mittels der Androhung von Strafe oder das In-AussichtStellen einer Belohnung für das Ausfuhren bzw. Unterlassen bestimmter Handlungen. "Der Machtbereich [...] der Erwachsenen [...] pflegt den Lebensspielraum des Kindes vollkommen zu umschließen" (1931a/1982, 127). Macht ist definiert als "die Möglichkeit, bei einer anderen Person Kräfte zu induzieren" (1944/1982, 83). Induzierte Aufforderungscharaktere können "zu einer wirklichen Wandlung des Aufforderungscharakters" fuhren, so daß sich die Wertigkeit der Tätigkeit stabil verändert (1931a/1982, 163). Schließlich betont Lewin den Unterschied seiner Konzeption zu der behavioristischen Vorstellung von einer deterministischen Beziehung zwischen Reiz und Reaktion, wenn er den Aufforderungscharakter nicht nur als Lockung versteht, der man widerstehen kann, sondern nach dem Modell einer sprachlich vermittelten Sozialbeziehung, je nach Stärke, mit Bitte und Befehl vergleicht, denen man ebenso nachkommen bzw. gehorchen wie sich ihnen verweigern kann (1933/1982, 103). Sogar noch die Nachgiebigkeit der Person versucht Lewin in seinem Modell abzubilden. Zum einen spricht er von der Flüssigkeit der Situation, die die Leichtigkeit bezeichnen soll, mit der der motivationale Charakter einer Situation sich ändert, ihre Bedeutung plastisch ist: Jene ist in stark affektiv geladenen Situationen, solchen der Müdigkeit und bei Kindern größer (1942; 1946). Zum anderen spricht er von der Stärke bzw. Durchlässigkeit der Ichgrenze, der Abgegrenztheit einer Person gegenüber ihrer Umwelt, die für gewöhnlich mit dem Alter wächst. Eine schwache Grenze liefert die Person stärker der Wirkung der Aufforderungen ihres Lebensraumes, und damit gleichbedeutend ihren Bedürfnissen aus (Lewin, 1929/1982, 107f.). Gegenüber besonders nahen Personen, wie sie die Mutter für das Kind ist, sei die Ichgrenze besonders schwach, das heißt durchlässig für

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IV. Räume und Orte

Handlungsimpulse, aber auch für Mitteilungen über sich selbst; gleiches gelte für bestimmte Situationen wie die der Nacktheit und des Zu-BettGehens (1931b/1982, 204f.). Kurt Koffka griff Lewins Begriff des AufForderungscharakters auf, verwendete ihn aber allein für Objekte: Schokolade will gegessen werden, ein Berg bestiegen, eine Stufe erklommen, etc. (1935, 353). Stärker als Lewin betont er den autonomen Anteil der Objekte an der Handlungsaufforderung. Er benutzt drei Beispiele für seine Argumentation. Der Briefkasten wirkt nur dann auffordernd, wenn die Person das Bedürfnis hat, einen Brief loszuschicken, dies aber bisher mangels Gelegenheit nicht getan hat. Es handelt sich um eine aufgeschobene Handlungsintention, die zusammen mit dem erlernten Wissen um die Funktion von Briefkästen den Aufforderungscharakter eines Briefkastens in einer bestimmten Situation ausmacht. Soweit folgt Koffka Lewin. Als zweites Beispiel wählt er ein Steak, das nach einem langen Spaziergang so schmackhaft lockt. Aber warum das Steak und nicht der Kerzenständer? Natürlich wegen des Wissens der Person um die Nahr- und Schmackhaftigkeit des Steaks im Unterschied zum Wachs. Am Beispiel des drängenden, nervenaufreibenden Telefonläutens erläutert Koffka dann aber, daß bestimmte Objekte sich inhärent besser für bestimmte Aufforderungen eignen als andere. So erklingt das Telefonläuten plötzlich, intensiv und insistierend. Manche Objekte sprechen uns mehr an als andere, sie verfügen über einen physiognomischen Charakter. Dieser sei weder auf Form, Farbe noch Verwendbarkeit des Objekts reduzierbar. Koffkas folgende Erklärung für den physiognomischen Charakter von Objekten kann dann aber nicht überzeugen (Koffka, 1935, 353-363). Der an einer Systematik der Motivationspsychologie interessierte Heinz Heckhausen kritisiert Lewin in ähnlichem Sinne. Auch er schreibt Objekten ein stärkeres Gewicht bei der Beeinflussung des Motivationszustandes einer Person zu. So unterstelle Lewin beim Wirksamwerden eines Aufforderungscharakters zwar immer die Existenz eines korrespondierenden Bedürfnisses, sehe aber nicht vor, daß die Präsenz eines ansprechenden Objekts seinerseits ein Bedürfnis wecken könne. Koffkas Aussage, daß ein saftiges Steak jede bereits gesättigte Person kaltlasse, kann einen gegenüber Gaumenfreuden nicht allzu verschlossenen Leser wohl kaum überzeugen; sexuelle Bedürfnisse sind in noch weit stärkerem Maße anreizabhängig (Heckhausen, 1989, 143f ). Der Wahrnehmungspsychologe James Gibson schließlich geht noch weiter und löst die Aufforderung durch das Objekt ganz von der Wahrnehmung der Person und bezeichnet sie als Angebot ( a f f o r d a n c e ) - was für einen nicht primär an Motivation interessierten Psychologen konsequent erscheint. Denn ein Glas Wasser sage zu einem trinkfahigen Organismus "Trink mich", egal ob dieser es wahrnehme oder nicht. Der reale, nicht der physikalische oder phänomenale Briefkasten bietet "jenen Menschen das Briefeinwerfen an [...], die in einem Staat mit einer funk-

1. Lewins Feldtheorie

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tionierenden Post leben und die Angewohnheit haben, Briefe zu schreiben" (Gibson, 1979/1982, 151; s.a. Gibson, 1982). Gibson verweist also auf die symbolische und kulturelle Dimension der Beziehung zu Dingen, die wir vorerst bis zum nächsten Kapitel ausklammern werden.

1.3 Arten von Person-Objekt-Beziehungen Lewin beschreibt das Feld in Begriffen der von einem Objekt ausgehenden Anziehungskraft und des zu ihm, und das heißt zur Bedürfnisbefriedigung führenden Weges. Auf die Art dieser Bedürfnisse kommmen wir später zu sprechen. Aber Lewin äußert sich auch kaum zu der Qualität des Weges, also der Handlungen, die zwischen dem bedürftigen und dem befriedigten Zustand liegen. Tolman (1933) schlug aus einer mit Lewins Ansatz kompatiblen pragmatistisch inspirierten Perspektive eine Unterscheidung von Arten von Beziehungen zu Gegenständen vor. Gegenstände erscheinen aus der Perspektive des Erlebens als discriminando, voneinander in der Wahrnehmung zu differenzierende Objekte. Sodann können sie als manipulando, als zu handhabende Objekte wirken, die sich gegenüber einem Organismus mit gegebenen Handlungsfähigkeiten durch beispielsweise ihre Ergreifbarkeit, ihre Aufhebbarkeit, ihre Werfbarkeit anbieten. Sowohl Lewin wie Tolman ordnen den Charakter der Diskriminierbarkeit dem der Manipulierbarkeit unter, denn der AufForderungscharakter eines Dings fordert ja nicht zur Wahrnehmung, sondern zum Handeln heraus. Dementsprechend bezeichnet Graumann (1973, 397) in Anschluß an Dewey Dinge als agenda. Über Lewin hinausgehend nennt Tolman eine dritte Funktion von Objekten, nämlich Dinge als sign-Gestalts bzw. utilitanda (Tolman & Brunswik, 1935), also Dinge mit instrumentellem Wert für eine andere Handlung oder Zielzustand. Ursprünglich als Anzeichen eines zweiten Objekts, mit dem das erste kausal verbunden sei, gefaßt, spaltet Tolman in dem mit Brunswik verfaßten Aufsatz dann seine sign-Gestalt auf in einerseits Dinge als Instrumente (utilitanda), also direkte Handlungsobjekte, und andererseits Dinge als Anzeichen (cues), also als Informationsträger. Utilitanda werden im Feldmodell als Wege abgebildet, deren Beschreiten instrumenten für das Erreichen des Zieles ist. Die Flächen zwischen den Zielregionen sind nicht einfach nur zu beschreitende Wege, sondern ein Geflecht kausal miteinander verknüpfter Objekte (meansends-field), das erst, wenn es verstanden ist (Tolmans Mittel-Ziel-Erwartungen), der Person als Weg zum Ziel erscheinen kann. Gibson erwähnt in seiner Kategorisierung des Handlungsraumes neben Geländeeigenschaften wie Öffnungen, Wegen und Hindernissen,

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IV. Räume und Orte

neben Behausungen, Wasser und Feuer auch Objekte, die er als beständige Substanz mit geschlossener Oberfläche definiert und bei denen er zwischen festverbundenen (zum Festhalten geeigneten wie Ästen) und abgesonderten unterscheidet, die transportabel sind (1979/1982, 41f.). Abgesonderte Objekte müssen in ihrer Größe auf den Organismus abgestimmt sein, um ergreifbar und handhabbar zu sein (ebd., 144). Eine besondere Klasse abgesonderter Objekte sind Werkzeuge, die oft gezielt hergestellt werden und funktional als Verlängerung der Hand anzusehen sind; noch mehr gelte ein solcher Verlust der Umweltqualität für Kleidung (ebd., 43 - vgl. 3.Kap.). Es gibt also Objekte, die meist oder immer einen instrumentellen Handlungswert besitzen. Im Handlungsraum eines Organismus kann ein Objekt also aus mehreren Gründen einen Wert, einen Aufforderungscharakter erhalten: a) als bedürfnisbefriedigendes Objekt oder Objekt von Handlungsintentionen, 2 b) als andere Handlungen und Befriedigung ermöglichendes instrumentelles Objekt, und schließlich c) als Hinweisobjekt, das es dem Organismus ermöglicht, die Umwelt zu verstehen und ermöglichende Objekte zu finden.

1.4 Umgang mit Konflikten und Ersatzhandlungen Wirken mehrere ähnlich starke, aber in entgegengesetzte Richtung weisende Kräfte auf die Person, kommt sie in einen Konflikt, das Gesamtfeld gerät unter Spannung. Konflikte können zwischen einander ausschließenden positiven bzw. negativen Handlungszielen, aufgrund eines ambivalenten Handlungszieles (Lewin, 1931a, b), eines durch eine Barriere versperrten positiven Handlungszieles sowie zwischen eigenen und durch eine mächtigere Person induzierten bzw. unpersönlichen Kräften (1946) auftreten. Konfliktsituationen fuhren zu einer affektiven Spannung, die sich gerade bei Kindern in Unruhe äußern kann. Eine der anregendsten Arbeiten Lewins (1931a) behandelt den Handlungsraum des Kindes in einer typischen Erziehungssituation. Er konjugiert die Handlungsoptionen durch, über die das Kind in Ver- bzw. Gebotssituationen verfügt, in denen ein Erwachsener positive bzw. negative Handlungsfolgen in Aussicht stellt (Belohnung oder Strafe). Für den Fall eines Handlungsgebots mit Strafandrohung für das Unterlassen der Handlung zeigt Lewin neben den Möglichkeiten, die gebotene Handlung auszufuhren oder unter Inkaufnahme der Strafe sie zu verweigern, wei-

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Handlungsintentionen integriert Lewin in seinen bedürfniszentrierten Motivationsbegriff, indem er sie als Quasi-Bedürfnisse deutet. Die beiden unter a) genannten sind die beiden einzigen von Lewin selbst genannten Fälle.

1. Lewins Feldtheorie

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tere Handlungsmöglichkeiten des Kindes auf, die alle Formen der Konfliktvermeidung sind. Die einfachste Art der Konfliktvermeidung ist das physische (z.B. Weglaufen - vgl. 1927) oder mentale Aus-dem-FeldeGehen, indem man sich ablenkt und mit anderem beschäftigt. Zumeist werden Erwachsene dies jedoch zu verhindern wissen, indem sie "Barrieren" errichten, die das Kind in der Zwangslage festhalten. Auch dann bleiben dem Kind noch Möglichkeiten, den Konflikt zu vermeiden, indem es a) unbeherrscht gegen die Barrieren anrennt oder sie überlegt durchbricht, wovon eine Extremvariante der Suizid ist, b) gegen die Erwachsenen kämpft und versucht, ihre Macht oder die Legitimität der Strafandrohung zu unterhöhlen, c) sich abkapselt oder trotzt, oder schließlich d) in die Ebene der Irrealität flieht. 3 Zu dem zweidimensionalen Feld konstruiert Lewin nämlich noch eine dritte Dimension, eine der Realitätsgrade, die bei Jüngeren noch wenig voneinander abgegrenzt sind. Der Vorteil der Irrealität, und das bedeutet als Handlung Tagträumen und Phantasieren, besteht darin, daß sie von der Person beherrscht wird und geradezu eine Umkehrung der realen Situation ermöglicht, nämlich zugunsten einer Befriedigung der Interessen des Kindes. Unter Verweis auf Freuds Deutung des Nacht- und Tagträumens als Wunscherfullung konstatiert Lewin, daß es in der Phantasie dann "zu einer Art Ersatzbefriedigung" kommt (1931a/1982, 143). Ähnlich wie Freud (1900; 1901) nimmt Lewin an, daß unbefriedigte Wünsche persistieren und das Feld auf der Suche nach Befriedigungsmöglichkeiten beeinflussen, und zwar derart, daß der Aufforderungscharakter der im Feld möglichen Handlungen und erreichbaren Objekte durch das unerfüllte Bedürfnis mitbestimmt wird. Es kann dann je nach Eignung zu Ersatzhandlungen kommen. So mag ein sich vor dem Hund fürchtendes Kind statt des Hundes das den Hund haltende Kind streicheln (193 lb/1982, 201). Diese Überlegungen führten zur Erfindung der inzwischen klassischen Versuchsanordnung, bei der Probanden bei begonnen Handlungen gestört werden; es zeigt sich, daß auch später noch ein (Quasi-)Bedürfnis besteht, die unterbrochene Handlung zuendezufuhren (Zeigarnik-Effekt). Der Ersatzwert einer Handlung läßt sich dann operational über das Persistieren bei dieser zweiten Tätigkeit bestimmen. Handlungen lassen sich so relativ zu einer frustrierten Ausgangshandlung nach ihrem Ersatzwert bestimmen. Auch Dinge können nach ihrem Ersatzwert für andere Objekte bemessen werden. Unabhängig vom Vergleich mit einem bestimmten gewünschten, aber unerreichbaren Objekt 3

Es handelt sich hier um Analoga zu intrapsychischen Abwehrmechanismen. Diese Konfliktvermeidungsstrategien entsprechen Frühformen oder Vorläufern der Abwehrmechanismen, beispielsweise der bei jüngeren Vorschulkindern anzutreffenden Verleugnung in Form des Augenverschließens oder Wegschauens (Smith & Danielsson, 1982).

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IV. Räume und Orte

lassen sich Dinge zudem nach der generellen Plastizität ihrer Bedeutung unterscheiden. Je plastischer die Bedeutung, je offener für verschiedene Handlungen, desto höher ist der situationsübergreifende Ersatzwert eines Dings. So sei die Bedeutung des Spielzeugtieres mehr festgelegt als die eines Kieselsteins oder eines Ballens Knete. Und in Spieisituationen steigt im Vergleich zu Ernstsituationen der Ersatzwert von allen Dingen an, da das Symbolspiel (Piaget, 1945) einen flexiblen, personangepaßten Gebrauch erlaubt (Lewin, 1946/1982, 418-423). Diese Ausfuhrungen geben wichtige Hinweise auf Funktionen von Dingen, auf die wir später zurückkommen werden. Für den Augenblick dienen sie als Ausgangspunkt für eine Unterscheidung, die Lewin selbst so nicht getroffen hat, die aber in einigen seiner Bemerkungen angelegt ist.

1.5 Befriedigungs- versus Macht- und Sicherheitsobjekte Lewin bestimmt in seinem Feldmodell den Weg zwischen Person und Zielregion als instrumenteile Zwischenhandlung für die eigentlich motivierende Zielhandlung, die im Zielgebiet stattfindet. Sie wirkt befriedigend, indem sie das Bedürfnis mindert, bis es nicht mehr vorhanden ist und mithin nicht mehr motivieren kann. Wird eine Handlung wie beispielsweise Briefeschreiben, Zeichnen oder Kurbeldrehen über diesen Sättigungspunkt hinaus weiterverfolgt, kommt es gar zum Phänomen der Übersättigung, die sich in wachsenden Inkonsistenzen der Handlung und Ermüdungserscheinungen manifestiert (1946/1982, 426 - als Quasi-Bedürfnis wird in diesen Experimenten die Intention, die Aufgabe auszuführen, angesehen). Die Zielregion verliert ihren Aufforderungscharakter bzw. nimmt gar einen negativen Aufforderungscharakter an, so daß die Person die Zielregion wieder verläßt. Aber nicht alle Zielhandlungen oder -Objekte rufen einen Motivationsabfall oder gar -umkehr hervor. Lewin weist auf das Phänomen hin, daß kurz vor Erreichen der Zielregion sich die Bewegung verlangsamt: "Nachdem das Individuum in der Zielregion angelangt ist, hat die Kraft offenbar nicht länger die Richtung auf die Zielregion hin," sondern verändert sich zu einer Kraft, "die als Widerstand gegen ein Verlassen dieser Zielregion interpretiert werden kann" (ebd., 398). Als Beispiele nennt Lewin die Bewegung von Tieren und Kindern auf ein begehrtes Objekt zu. Hier macht sich erneut der problematische Zwischenstatus seines Feldes als manchmal räumlichem, manchmal strikt theoretischem bemerkbar. Denn im theoretischen Modell steht das Verweilen in der Zielregion für die Ausführung der Zielhandlung. Die Attraktivität der Zielhandlung müßte mit zunehmender Sättigung nachlassen, was auf solche Zielhand-

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lungen auch zutrifft, die körperliche Bedürfnisse wie Hunger oder Entleerungsdrang befriedigen, sowie auf Handlungen wie diejenigen, die in den Experimenten verwendetet wurden, deren Interessantheit im Laufe der Zeit abnimmt. Das Hunger- und Sättigungsmodell gilt aber nicht für andere motivierte Handlungsklassen. So fuhrt Lewin als weitere Beispiele für die Umwandlung eines Motivs, sich in eine Zielregion zu begeben, in ein Motiv, dieses nicht zu verlassen, das Beispiel eines 9-monatigen Kindes an, das, sobald es eine Rassel in seinen Besitz gebracht hat, das Interesse an ihr verliert und nun alles unternimmt, um auch der zweiten Rassel habhaft zu werden. Dies sei ein Beispiel dafür, daß der Aufenthalt in der Zielregion häufig nicht Einverleibung oder körperlichen Kontakt bedeute, sondern die Zielhandlung darin bestehe, "das Ziel in seiner Macht zu haben, seiner sicher zu sein" (ebd., 398) In einem früheren Aufsatz kommt Lewin auf einen ähnlichen Sachverhalt zu sprechen, nämlich die Motivierung der Annäherung an eine Sicherheit bietende Person, paradigmatisch die des Kleinkindes an seine Mutter. Die Anwesenheit oder Abwesenheit der Mutter beeinflusse "die Gesamtstruktur der psychologischen Umwelt wesentlich, besonders das Gefühl der Sicherheit oder Unsicherheit des Kindes" (Lewin, 1931b/ 1982, 206f.). Das Kind sei dynamisch besonders eng mit der Mutter verbunden, seine Ichgrenzen ihr gegenüber schwach. Das Bedürfnis des Kindes nach der Anwesenheit der sicherheitsbietenden Mutter äußere sich im Protest gegen ihr Fortgehen ebenso wie in der Wendung zur Mutter in unangenehmen Situationen. Andere Beispiele für die motivierende Kraft von Unsicherheit gibt Lewin, wenn er von der Sicherheit spricht, die in der Adoleszenz die Zugehörigkeit zu Gruppen bietet (1940), und von der Unsicherheit, in der sich eine Person befindet, die neu in eine Stadt kommt (1939). In einer fremden, unbekannten Stadt führt die kognitive Unstrukturiertheit der Umwelt zu einer starken Desorientierung; die Bedürfnisse finden keine Zielregionen und es ist unklar, welche Folgen Handlungen zeitigen. Beide Male bildet Lewin die grundlegende situative Handlungssicherheit als Festigkeit bzw. Weichheit des Bodens in seinem Feldmodell ab. Den sicherheitsgewährenden Effekt der Anwesenheit der Mutter erklärt Lewin, wie schon Freud (1926), mit dem Angewiesensein des Kleinkindes auf "die realen Fähigkeiten der Mutter, ihre Wirksamkeit gegenüber Dingen und Personen der Umwelt [, die] für das Kind die funktionelle Bedeutung einer Ausdehnung der eigenen Sicherheit und Macht gegenüber der Umwelt" bedeutet (1931b/1982, 206f). Die Mutter fungiert als Hilfs-Ich (Spitz 1951). Sie bietet dem Kind kognitive und Handlungskompetenzen, über die es selbst noch nicht verfügt, erweitert ihm so seine strukturierte Umwelt und räumt ihm Barrieren aus dem Weg. Zu ergänzen ist hier die affektive Wirkung der Anwesenheit der Mutter, die das Kind zu beruhigen und trösten weiß.

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IV. Räume und Orte

Schließlich nennt Lewin auch Dinge, mit denen das Kind besonders eng verbunden ist und die ihm Sicherheit bieten, wie die Puppe oder das Lieblingsspielzeug, die das Kind abends mit ins Bett nimmt (1931b/ 1982, Fn.7, 214). Ein bestimmtes Spielzeug, ein bestimmter Stuhl könnten dynamisch fast wie der eigene Körper wirken, "indem sie Punkte besonderer Sensibilität gegenüber Bedrängnissen durch Umweltkräfte darstellen" (ebd., 207). Die besondere Bedeutung dieser Dinge führt Lewin jedoch nicht weiter aus. Kehren wir zu der Struktur des Motivationsverlaufs zurück. Wenn eine Handlung auf Besitz oder Sicherheit abzielt, gehorcht der Motivationsverlauf einer anderen Gesetzmäßigkeit als im Sättigungsmodell. Das Handlungsziel besteht hier nicht seinerseits in einer Zielhandlung, sondern allein in dem Ergebnis des sonst in Lewins Modell nur instrumentellen Zwischenschritts, der Lokomotion zur Zielregion, 4 die hier aus einem Ding oder einer Person besteht, und dem Verweilen in seiner Nähe. Eine Feldkraft, eine Motivation zum Handeln entsteht hier nicht periodisch wie beim Hunger, sondern entweder durch Veränderungen der Umwelt, nämlich das Entfernen des sicherheitsgebenden Objekts über eine bestimmte tolerierbare Entfernung hinaus, oder durch wie auch immer zustandekommende Verunsicherungen des Kindes. Die Annäherungsmotivation sinkt, wenn das Sicherheitsobjekt erreicht bzw. die subjektive Sicherheit wiederhergestellt ist. Die Sicherheit der Person ist eine Eigenschaft des gesamten Handlungsraumes, denn das Vertrauen in sich selbst ist immer relativ zu dem in die Umwelt. Sicherheit stellt sich als eine generalisierte Handlungsvoraussetzung dar, die zugunsten spezifischer Motivationen zu vernachlässigen ist, solange sie gegeben ist. Der Verlust der Sicherheit aber wirkt motivational stärker als spezifische Motive und genießt Priorität. Unsicherheit kann zum einen aus Konfliktsituationen entstehen und betrifft dann Richtung und Stärke der resultierenden Motivation und einzuschlagenden Handlung (s.o.). Zum anderen kann sie die instrumentellen Fähigkeiten und mit ihnen zusammenhängenden Erwartungen an die Umwelt betreffen. 5 Sicherheit bezeichnet die generalisierte Erwartung, daß Ereignisse erwartbar und beeinflußbar sind.

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In Lewins topologischem Modell steht die Lokomotion nicht nur für die Bewegung zum Objekt, sondern auch für soziale oder kognitive Annäherungen an ein Objekt (s. Kruse & Graumann, 1978, 178f.); hier wird sie in ihrer konkret räumlichen Bedeutung interpretiert.

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Dieses Begriffspaar entspricht in in der Motivationspsychologie den HandlungsErgebnis-Erwartungen und den Situations-Ergebnis-Erwartungen (Heckhausen, 1989, 468).

2. Entwicklung als räumliche Veränderung

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Sicherheitsobjekte haben für Lewin einen abgeleiteten, generalisierten AufForderungscharakter, der sich von einzelnen von ihnen erwartbaren Leistungen abstrahiert. Sie akkumulieren einen Wert über ihren erwartbaren transsituationalen Befriedigungs- und Handlungssicherungswert. Darin ähneln sie Dingen, die aufgrund einer großen Plastizität ihrer Bedeutungen in einer Vielfalt von Situationen zu vielen unterschiedlichen Bedürfnissen passen (s. 1.4). Sicherheit gewährenden und multifunktionalen Personen und Dingen kommt so ein generalisierter AufForderungscharakter zu (s. 1.2), der sich nicht auf bestimmte Bedürfnisse bezieht, sondern dazu motiviert, diese Objekte in Reichweite zu halten, was zumal für das Kind die räumliche Bedeutung (s. 1.1) hat, sich ihrer Nähe zu versichern.

2. Entwicklung als räumliche Veränderung 2.1 Organisation und Ausweitung des Feldes, Veränderung der Aufforderung Lewin versuchte, Entwicklung in seinem Feldmodell abzubilden. Eine zentrale Entwicklungsbewegung ist die der Ausweitung des Lebensraumes. Doch im naheliegenden räumlichen Sinne verstanden ist die Ausweitung des Handlungsraumes des Kindes gar nicht in Lewins Modell abbildbar, da Entfernungen in ihm nur relativ zur Gesamtgröße des Feldes sind, und kein diesem äußerlicher Bezugsrahmen vorgesehen ist. Die Ausweitung des geographisch verstandenen Lebensraumes wäre nur zu konzipieren, wenn das theoretische Modell die (noch) außerhalb des persönlichen Lebensraumes liegende physische und soziale Realität ebenfalls abbilden würde. Weinert und Gundlach (1982, 22) schlagen deshalb vor, die Ausweitung des Handlungsraum als identisch mit der zusehenden Differenzierung des Feldes in strukturierte Regionen und ihrer zusehender Organisation zu größeren Einheiten anzusehen, was Lewin als weiteres Merkmal von Entwicklung angibt. Das heißt, daß das Kind im Laufe der Entwicklung lernt, die Handlungsmöglichkeiten in seiner Umwelt immer besser zu erkennen (kognitive Entwicklung). Als Beispiel führt er die Situation einer Person an, die neu in einer Stadt ist und sich eine zusehends differenziertere und organisiertere räumliche Vorstellung von ihr verschafft (1942). In den gleichen Kontext gehören zwei weitere, nur schwerlich im Feldmodell abzubildende Entwicklungstendenzen: die Ausdehnung der Zeitperspektive in Vergangenheit und Zukunft sowie die zu-

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IV. Räume und Orte

sehende Differenzierung verschiedener Realitätsebenen. Auch die Flüssigkeit des Feldes verringere sich im Laufe der Entwicklung. Von einer Ausdehnung des Handlungsfeldes kann man nur aus einer Außenperspektive sprechen, die sich auf konstante Handlungsfelder beispielsweise eines durchschnittlichen Erwachsenen in einer gegebenen Kultur beziehen. Aus der Außenperspektive betrachtet bleiben die Handlungsangebote der Umwelt gleich, und sie verändern sich nur für das Subjekt in Abhängigkeit von seinen sich entwickelnden kognitiven sowie motorischen und kommunikativen Fähigkeiten. Im Vergleich zu Lewin interessiert sich Urie Bronfenbrenner mehr für die Beschreibung aus einer Außenperspektive, die den bei Lewin zu einer Grenzzone des Feldes verkommenden sozialen und kulturellen Sozialisationskontext in den Blick rückt. In seiner programmatischen Ökologie der Entwicklung (1979a) umgibt er den Lewinschen Handlungsraum (Mikrosystem) mit weiteren Kontexten und konstruiert so ein Modell ineinander verschachtelter Kontexte; alle situationsgebundenen Mikrosysteme vereint er zu einem Mesosystem, das im Prinzip noch nicht über den Lewinschen Handlungsraum hinausgeht. Dieses umgibt er mit Exosystemen, die außerhalb des Verständnisses und der Handlungsmöglichkeiten des Individuums liegen, aber sehr wohl dessen Mesosystem unmittelbar beeinflussen; dieses Exosystem einer Person ist wiederum eingebettet in das jeweilige kulturelle und subkulturelle Makrosystem. In Bronfenbrenners Modell läßt sich Entwicklung einmal als geographische Ausdehnung des Handlungsraumes begreifen, als Verwandlung von Exosystemen in Mesosysteme (Bronfenbrenner, 1979a, 289). Geographisch zeigt sich dies in dem wachsenden Bewegungsradius des Kindes, der sich vom völligem Verharren an einem Ort, von dem es nur durch andere fortbewegt wird, ausdehnt über das eigene Bett, das Zimmer, zunehmend die ganze Wohnung, im Vorschulalter die nähere Wohnumgebung und im Grundschulalter das weitere lokale Terrain. 6 Zum anderen läßt sich Entwicklung in Bronfenbrenners Modell als soziale Ausdehnung des Handlungsraumes begreifen. Lewin hatte hingegen, im Zusammenhang mit der Lebensphase der Adoleszenz, von sozialer Lokomotion gesprochen. Darunter versteht er einen "Wechsel in der Gruppenzugehörigkeit", einen Rollenübergang wie den vom Kind zum Erwachsenen. Je zentraler für die Person die Gruppenzugehörigkeit oder Rolle, desto stärker verändert der Rollenwechsel ihr Handlungsfeld. Handlungsmöglichkeiten, - wünsche und -normen verändern sich (1939/ 1982, 193f.). Aber auch dieser Ortswechsel läßt sich in Lewins Feld nicht abbilden; er setzt wiederum eine Außenperspektive zur Charakteri-

6

S. die klassische Untersuchung von Muchow und Muchow (1935) und beispielsweise von Rauschenbach und Wehland (1989); zum Überblick s. Chawla, 1992.

2. Entwicklung als räumliche Veränderung

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sierung des Feldes voraus. Auf den Begriff des Ortswechsels bzw. Übergangs kommen wir weiter unten zurück (7.). Entwicklung ist aber auch insofern als soziale Ausdehnung konzipierbar, als das Kind mit immer weiteren Kreisen von Personen interagiert, vor allem aber sich sein Verständnis und Selbstverständnis verändert. Ausgehend von einem Verständnis von Einzelpersonen, von Geschlechtsund Generationsunterschieden sowie Unterschieden zwischen verschiedenen Familiengruppen lernt es zusehends, immer komplexere soziale Organisationen und die eigene Rolle in ihnen zu verstehen. 7 Schließlich nennt Lewin eine Veränderung von Wertorientierungen als mögliche Entwicklungsdimension, vor allem in Krisenzeiten wie der Adoleszenz (1942/1982, 177). Die Veränderung von Werten oder dem Aufforderungsgehalt der Umwelt ist weder allein der Person zuzuschreiben (wie die Entwicklung von Fähigkeiten) noch allein in Termini der Umwelt zu beschreiben (wie die Ausweitung der Umwelt). Denn der Aufforderungscharakter einer Umwelt verändert sich nicht nur durch eine Veränderung und Entwicklung der Person, z.B. ihrer Interessen (Lewin, 1941), sondern auch seitens der sozialen Umwelt, beispielsweise in Form von altersgebundenen Umgangsweisen, Erwartungen und Normen.

2.2 Individuation und Loslösung Zwei weitere, parallele Entwicklungslinien sind bei Lewin mehr angedeutet als ausbuchstabiert, die der Individuation und der Loslösung. Beide erfordern eine Ergänzung seines Feldmodells, da dessen egozentrischer Charakter durch eine weitere Schwerpunktsetzung im Feld zu modifizieren wäre, die die primäre Bezugsperson(en) oder Orte mit analogen Funktionen bezeichnen. Das Handlungsfeld ist als ein bi- und später polyfokales zu denken.

Individuation:

Autorität

Als Individuation kann man die Entwicklung zu mehr Eigenständigkeit und Individualität bezeichnen. Lewin bildet letztere als zusehende interne Differenzierung ab, also innerhalb seines Person-, nicht seines Feldmodells (1941/1982, 310). Die wachsende Eigenständigkeit des Kindes bildet Lewin auf zweifache Weise ab, einmal in seinem Person-, einmal in seinem Feldmodell. 7

Kohlberg, 1974; Selman, 1980; Watson, 1984. S.a. 5.Kap„ 7..

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IV. Räume und Orte

Durch die Erhöhung seiner Handlungskompetenzen gewinnt das Kind an Eigenständigkeit einmal gegenüber der unmittelbaren Situation, d.h. das Feld verliert an Flüssigkeit bzw. die Grenzen der Person verhärten sich (s. 1.2). Zum anderen gewinnt das Kind Eigenständigkeit und Unabhängigkeit gegenüber seinen primären Bezugspersonen, die seine Handlungen stark lenken, was sich im Handlungsfeld in einer Veränderung der Aufforderungsqualitäten und in Form von Barrieren niederschlägt; es handelt sich um induzierte Aufforderungsqualitäten, die sich Lewin für das Vorschul- und Schulkind vor allem über die Autorität der Eltern, also Ge- und Verbote und die mit ihnen verbundenen Strafen und Belohnungen vermittelt vorstellt (1931a). "In der Regel ist der Bereich, in dem die Umwelt des Kindes 'frei' ist, verhältnismäßig klein" (1931b/1982, 197). Als Beispiele für solche Nischen im Handlungsraum eines Kindes, in dem der Aufforderungscharakter der Umwelt allein von seinen eigenen Bedürfnissen abhängt, nennt Lewin das Leben eines Kindes in einer heimlichen Kinderclique, die Freundschaft mit einem anderen Kind, gewisse Spielgebiete, oder, wenn das Kind zur Strafe in sein Zimmer eingeschlossen wird, sein Zimmer (1931a/1982, 127), aber auch die gesamte Sphäre der Irrealität. Der Stärkegrad eines sozialen Machtfeldes hänge u.a. von dem räumlichen Abstand zur anderen Person und der Dauer ihrer Anwesenheit ab (Lewin, 1931b). Im Laufe der Entwicklung jedenfalls nimmt die Macht der Eltern, das Ausmaß des von ihnen ausgeübten Zwanges ab.

Loslösung: Sicherheit Eigentlich hätte Lewin sein Feld nicht nur um das Machtfeld der Eltern, sondern auch um ein Sicherheitsfeld der Eltern erweitern müssen. Denn, und das berücksichtigt Lewin in seinen Beispielen immer wieder (s. 1.5), die Anwesenheit, Nähe, Erreichbarkeit oder das Vertrauen in die Rückkehr einer vertrauten und vertrauenswürdigen Person gehört beim kleinen Kind zu den Voraussetzungen für den Aufbau eines Handlungsfeldes. Folglich sieht das Handlungsfeld des Kindes nur dann so wie von Lewin vorgesehen aus, wenn das Kind sich in der Nähe der primären Bezugsperson befindet und sicher fühlt. Andernfalls restrukturiert sich das Feld nicht nur dergestalt, daß der Boden weich wird, wie Lewin sagt, sondern das Handlungsfeld engt sich unter dem Eindruck der Fremdheit oder Verlassenheit insgesamt ein, das Kind wird immer weniger zu motivierten Handlungen fähig (Lewin, 1931b/1982, 197), und die Mutterfigur wird zur einzigen Feldregion, von der eine Aufforderung ausgeht, nämlich die, sich ihr anzunähern. Im Laufe der Entwicklung findet eine Loslösung von der sicherheitgebenden primären Bezugsperson statt. Der tolerierbare Abstand zur Bezugsperson wächst, der Radius des Handlungsraums des Kindes erweitert

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3. Bindung an Personen

sich zusehends, und zwar konzentrisch nicht nur um sich selbst, sondern zweitens auch konzentrisch um den Ort der Mutterfigur. Genaugenommen handelt es sich bei dem Handlungsfeld des Kindes immer um ein bibzw. polyzentrisches Handlungsfeld, da die Sicherheit des Feldes konzentrisch um die Mutter und andere Bindungsfiguren herum abnimmt, und nicht nur die Sicherheit, sondern auch die Handlungsmöglichkeiten des Kindes, da diese stark auf die Kooperation mit der Mutter angewiesen sind. Und diese Charakterisierung muß nicht aus einer Außenperspektive vorgenommen werden, sondern bestimmt das dem Kind präsente Feld selbst. In Tabelle 4.1 sind die vorläufigen Beschreibungsmöglichkeiten von Entwicklung in räumlichen Begriffen zusammengefaßt.

Tabelle 4.1

Entwicklung in Begriffen des Handlungsraumes/der Umwelt

Person:

Umwelt:

Person-Umwelt:

Person-Person:

Fähigkeiten: motorische kognitive kommunikative

Ausdehnung: geographisch kognitiv sozial

Aufforderungsqualitäten

Individuation: Individualisierung Eigenständigkeit Loslösung

Wir wenden uns nun einem genaueren Studium dieses Bedürfnisses nach der Nähe der Mutterfigur, der Bindung des Kindes an sie zu, da es sich um eine motivierende räumliche Beziehung handelt, die deshalb Ähnlichkeit mit der Beziehung zu persönlichen Objekten aufweist. Zugleich werden sich Bezüge zu Themen des letzten Kapitels ergeben, die sich in einer entwicklungspsychologischen Perspektive besser als bislang integrieren lassen.

3. Bindung an Personen Der britische Psychoanalytiker John Bowlby entwickelte im Laufe der 50er Jahre, angeregt durch die Arbeiten Melanie Kleins, Fairbairns und Winnicotts, eine Theorie der Beziehung des Kleinkindes zur primären Bezugsperson. Dabei beschränkt er sich radikal auf eine verhaltensdeskriptive Sprache und gibt der prospektiven Beobachtung von Kleinkindern den Vorzug vor der sprachlich vermittelten Rekonstruktion von Kindheitserlebnissen. Die psychoanalytische Metapsychologie ersetzt er

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IV. Räume und Orte

durch ein Motivationsmodell, das starke Anleihen bei der Ethologie macht. Seine Bindungstheorie ist hier von Interesse, weil sie sich auf eine ethologische Perspektive, die symbolische Äußerungen systematisch ausklammert, und auf motiviertes räumliches Verhalten beschränkt. Zugleich paßt sie genau in die gerade aufgezeigte Lücke in Lewins von mir räumlich interpretierter Theorie, denn sie betrifft die Motivation des Kindes, sich bei einer Bezugsperson in Sicherheit zu begeben. Das Wort Bindung greift Bowlby von Freud auf, der es in seiner Alltagsbedeutung verwendet, wenn er von der "Mutterbindung" oder davon spricht, das Kind sei an das gegengeschlechtliche Elternteil "zärtlich gebunden" (Freud, 1931/1975, 275). Das englische Pendant zu Bindung, bond, verwendet Bowlby aber in anderem Sinne als attachment, der englischen Übersetzung der Freudstellen (s.u.).

3.1 Die Bindung des Kleinkindes an seine primäre Bezugsperson Als Bindung bezeichnet Bowlby (1984) die Disposition des Kleinkindes, die Nähe und den Kontakt zu einer bestimmten Person zu suchen und aufrechtzuerhalten, und zwar besonders in Situationen, in denen es sich gefährdet fiihlt, Situationen der Ermüdung, bei Schmerzen, Hunger, Kälte und Krankheit sowie wenn die Bezugsperson abwesend ist (Weiss, 1991). Als Bindungsverhalten gelten ihm Verhaltensweisen, die dazu dienen, die Nähe zur Bezugsperson herzustellen oder beizubehalten. Bowlby unterscheidet Appellverhalten (Schreien, Lächeln, Babbeln, Rufen) von Annäherungsverhalten (Sich-Annähern, Folgen, Anklammern). Bindungsverhalten tritt am ausgeprägtesten im Alter zwischen dem 9. und 18. Lebensmonat auf. Zur Bindung gehören weitere Phänomene. Die Nähe der Bezugsperson (oder korrekter: Bindungsfigur) erlaubt dem Kind, seine Aufmerksamkeit anderen Objekten und Tätigkeiten zuzuwenden, solange es sich in einer Art Sicherheitsradius um diese Person herum bewegt; periodisch kehrt es zu ihr zurück, versichert sich ihrer Aufmerksamkeit und entfernt sich dann wieder (Funktion der Bezugsperson als sichere Aktionsbasis). Auf Trennungen reagiert das Kind mit Protest und versucht, die Bezugsperson zurückzuhalten.8

8

Weiss (1991) nennt mit Blick auf das Erwachsenenalter (s.u.) als weitere Charakteristika der Bindung die Unzugänglichkeit für bewußte Beeinflussung, das Persistieren über viele Jahre hinweg sowie die geringe Beeinflußbarkeit durch die Qualität der Beziehung zur Bezugsperson.

3. Bindung an Personen

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Bindungsmotivation gehorcht anderen Mechanismen als sexuelle oder Ernährungsbedürfnisse; letztere wachsen periodisch an, werden in einer relativ kurz andauernden Handlung befriedigt, wonach sie nach einer Weile wieder anwachsen. Auch Lewin hatte beim Entwerfen seiner Feldtheorie eine solche Motivationsstruktur vor Augen. Im Unterschied zu dieser handelt es sich bei der Bindungsmotivation: a) um ein zeitlich langfristig strukturiertes Bedürfnis, das ständig 'befriedigt' sein will, b) das dementsprechend sich erst dann subjektiv bemerkbar macht und zielgerichtete Handlungen auslöst, wenn es nicht mehr befriedigt wird, c) und das, in Kontrast zu Lewins Feldmodell, umso stärker motivierend wirkt, je weiter das Objekt, hier die Bezugsperson, entfernt ist; der Unterschied läßt sich mit dem Bild eines Gummibandes veranschaulichen, das umso stärker zu einem Objekt zieht, je größer die Entfernung zu ihm ist, während die Lewinschen Objekte einem Magneten entsprechen, deren Wirkung bei zunehmender Entfernung abnimmt. 9 Bowlby identifiziert die Bindungsmotivation bei allen Säugetieren. Er sieht in ihr eines der grundlegenden instinktgeleiteten Verhaltenssysteme, neben u.a. denen der Sexualität, der Aggression und der Fürsorge für den Nachwuchs. Die biologische Funktion der Bindungsmotivation sieht Bowlby in dem Schutz vor Gefahren, speziell feindlichen Lebewesen, die junge Säugetiere noch nicht zu erkennen fähig sind und vor denen sie sich noch nicht schützen können; auch in Situationen, in denen akut kein Feind droht, bietet die Nähe zur erwachsenen Bezugsperson doch generell Sicherheit vor Feinden. 10 Die obengenannten Situationen, die Bindungsverhalten auslösen, legen jedoch weitere, offensichtliche Funktionen nahe, nämlich sicherzustellen, daß jegliche Form von Bedürfnissen oder Störungen vom Erwachsenen befriedigt bzw. beseitigt werden können.

3.2 Sicherheit durch Nähe der Bezugsperson und Vertrautheit der Situation: Neugier und Interesse Neben den genannten Zuständen des Kindes, die Bindungsverhalten auslösen, benennt Bowlby für das Alter ab ca. dem 15. Lebensmonat weitere typische (experimentell manipulierbare) Situationen, die beim 9

S. dazu Bowlby (1984, 71ff ). Der Vergleich stammt von Bischof (1985).

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Bowlby (1984, 224ff.). Wenn hier von Funktion oder Verhaltensziel die Rede ist, meint Bowlby nicht notwendigerweise intentionale Handlungen, die sich i.S. einer Mittel-Ziel-Unterscheidung erst im zweiten Lebensjahr herausbilden.

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IV. Räume und Orte

Kind Bindungsverhalten hervorrufen. Die beiden grundlegenden Variablen sind a) die Anwesenheit bzw. Abwesenheit einer primären Bezugsperson und b) der Grad der Vertrautheit der Situation. Wenn die Bezugsperson eines zweijährigen Kindes den Raum verläßt, hängt seine Reaktion situativ weitgehend davon ab, wie vertraut ihm die Umgebung ist, in dem es die Bezugsperson zurückläßt (Bowlby, 1984, 256). Wenn nun kein Bindungsverhalten aktiviert wird, das Kind sich also sicher fühlt, wird laut Bowlby das Erkundungssystem aktiviert (ebd., 237fF). Das Kind entfernt sich von der Bezugsperson und sucht neue, unvertraute Objekte bzw. Umgebungen auf. Auf denselben Sachverhalt verweisen Untersuchungsergebnisse, daß Kinder deutlicher und erfolgreicher ihre Umgebung explorieren, wenn ihre Eltern anwesend sind bzw. sie sogar bei der Exploration unterstützen (z.Überblick s. Keller, Rickfelder & Audick, 1989). Doch sind Neuheit und Unvertrautheit zugleich diejenigen Eigenschaften, die Alarm und Rückzug auslösen. Wir stoßen hier auf Zusammenhänge, die uns aus dem dritten Kapitel bekannt sind, nun aber auf spezifische Umweltkonstellationen und ontogenetische Protosituationen bezogen werden können und so besser verständlich werden. So besteht eine Analogie zwischen den Situationen, in denen ein vertrautes Objekt oder Person ein Vertrautheitsge/t/A/ hervorruft (Bedarf nach Vertrautem, z.B. in zu unvertrauten Situationen - s. 3.Kap.), und denen, in welchen das Sicherheitsgefühl des Kleinkindes so weit sinkt, daß es Bindungsverhalten zeigt; das Vertrautheitsgefühl tritt dann bei dem erfolgreichen Aufsuchen der Bezugsperson, eines vertrauten Gegenstandes oder einer vertrauten Umgebung auf. Wir können nun die Bedingungen, unter denen unvertraute bzw. vertraute Situationen, Personen oder Objekte positiv oder negativ erlebt werden und entsprechend anziehend oder abstoßend wirken, sinnvoller bestimmen als dies bislang möglich war. Für den Streit zwischen Berlyne und Zajonc darum, ob eher unbekannte oder vertraute Objekte bevorzugt werden, verweist die Bindungstheorie darauf, daß die Präferenz von Objekten (und Personen) situationsabhängig ausfallt und von dem Ausmaß der momentan empfundenen Sicherheit der Person abhängt. Denn Vertrautheit mit einer Person bzw. Situation bedeuten für das Kleinkind Sicherheit, die, wie sich bei Lewin zeigte, als globale Handlungsvorawssetzung zu konzipieren ist. Erst wenn sie gegeben ist, können andere Motivsysteme aktiviert werden und das psychische Feld sich in Aufforderungen ausdifferenzieren, die spezifischere Bedürfnisse ansprechen. Beim Kleinkind fallen zugleich äußere und innere Bedrohung und die eigene Fähigkeit, ihnen zu begegnen, noch zusammen, weshalb sowohl die Entfernung von der primären Bezugsperson (potentielle äußere Bedrohung) wie Schmerzen, Hunger, Kälte (Bedrohung durch eigenen Organismus) und Müdigkeit und Krankheit (Schwächung der eigenen Handlungskompetenz) das Kind die Sicherheit der Bezugsperson aufsuchen läßt

3. Bindung an Personen

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(Auslösung von Bindungsverhalten). Antworten auf biologische Bedürfnisse fallen beim Kleinkind, jedenfalls auf der Ebene räumlichen Verhaltens, noch in eins mit denen auf Sicherheitsbedürfnisse. Die Motive, die erst, wenn das Kind sich sicher und wohl fühlt, aktiviert werden können, sind die des Interesses und der Neugier. Das Kleinkind wendet sich dann dem reizvoll Neuen zu und erkundet es, die Valeixz des Unbekannten wird positiv.

3.3 Interindividuelle Unterschiede der Bindungssicherheit Auch die zweite, nämlich dispositionelle Determinante des Erlebens vertrauter und unvertrauter Situationen findet eine Parallele in der Bindungstheorie, nämlich in dem Begriff der Bindungssicherheit. Mary Ainsworth versteht unter der Sicherheit der Bindung an die Bezugsperson das individuelle Maß an Nähe und Erreichbarkeit der Bezugsperson, die einem Kleinkind genügen, um kein Bindungsverhalten auszulösen. Es bezeichnet die Höhe der individuellen Schwelle, bei der Bindungsverhalten ausgelöst wird. Ainsworth spricht von Bindungssicherheit, da sie annimmt, daß Kinder, die in vergleichbaren Situationen häufiger und intensiveres Bindungsverhalten an den Tag legen, dies tun, weil sie der Verfügbarkeit der Bezugsperson unsicher sind und sich ihrer deshalb versichern müssen. Der Begriff der Bindungssicherheit ist zu unterscheiden von dem generellen Sicherheitsgefuhl, das die Nähe der Bezugsperson vermittelt und auf das die Bindungsmotivation abzielt. Letztere bezeichnet ein generelles Sicherheitsgefühl gegenüber aller Unbill, die Bindungssicherheit hingegen die spezifische Sicherheit, und das heißt Erwartung, daß die Bezugsperson verläßlich erreichbar ist. Zugleich ist sie die ontogenetische Grundlage des allgemeinen Sicherheitsgefühls oder, in Eriksons Worten, eines Urvertrauens. Ein solches basales Sicherheitsgefühl wird als grundlegend für ein stabiles Selbstgefühl und die Möglichkeit zur Entwicklung einer gesunden psychosozialen Identität angesehen. Die motivationale Struktur des Begriffs der Bindungssicherheit entspricht der des Begriffs von der Festigkeit der Körperbildgrenze: So wie eine geringe Bindungssicherheit eine relativ geringe Schwelle für Bindungsverhalten, also auf Stärkung der Bindung zielendes Verhalten impliziert, zieht eine mangelnde Festigkeit der Körperbildgrenze eine geringe Schwelle, d.h. hohe Disposition zu kompensatorischem, grenzstärkenden Verhalten nach sich. Ainsworth kommt das Verdienst zu, diese Variable operationalisiert und damit longitudinalen Studien den Weg geebnet zu haben. Sie entwarf eine standardisierte Situation, die interindividuelle Unterschiede in der Bindungssicherheit besonders deutlich an den Tag treten läßt, die Frem-

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IV. Räume und Orte

densituation, in der ein einjähriges Kind sich in einem freundlichen, aber fremden Raum mit der Mutter befindet, die den Raum dann verläßt und nach drei Minuten wiederkehrt. Als besonders aufschlußreich erwies sich die Reaktion des Kindes bei der Wiederkehr der Mutter. Ainsworth unterscheidet drei Bindungsmuster: das sicher gebundene Kind wendet sich der wiederkehrenden Mutter freudig zu, tröstet sich schnell und nimmt das Spielen wieder auf (Typ B); das ängstlich gebundene, vermeidende Kind hatte zwar nach der Mutter gesucht, wendet sich aber ob ihrer Wiederkehr von ihr ab (Typ A - die Bindungstheorie versteht dies nicht als uninterteressiertes Verhalten oder Zeichen der Unabhängigkeit des Kindes, sondern als Bewältigung von Bindungsunsicherheit); das ängstlich gebundene, ambivalente Kind wendet sich zwar der Mutter zu, greift sie aber zugleich wütend an (Typ C - Ainsworth et al., 1978). Später wurde ein vierter Typ, der des verwirrt und desorientiert reagierenden Kindes definiert (Typ D; Main & Solomon, 1991). Bei diesen Mustern handelt es sich nicht einfach um unterschiedliche Ausprägungen der Bindungssicherheit, sondern bei den drei letztgenannten Mustern um qualitativ differierende Methoden, mit Bindungsunsicherheit umzugehen. Denn nach dem bislang Gesagten müßte sich aus Bindungsunsicherheit eine niedrigere Schwelle für Bindungsverhalten ergeben, was bei den drei Mustern aber gerade nicht der Fall ist. Hier intervenieren zusätzliche Prozesse, die dazu dienen, sich auf die Unsicherheit einzustellen, nämlich dadurch, daß das Kind versucht, seine Erwartung an die Verfügbarkeit zu reduzieren, also unabhängig zu sein, oder die als unsicher erlebte Bezugsperson anzugreifen, oder schließlich überhaupt die Situation der Unsicherheit nicht wahrzunehmen, indem es sich verwirrt. Damit komplizieren sich die motivierenden Mechanismen von Sicherheit weiterhin. Denn gegen Ende des vorigen Kapitels (4.3) hatten wir noch einfach angenommen, daß Unsicherheit zu kompensatorischen Handlungen motiviert. An den vier Bindungstypen zeigt sich jedoch, daß bei stärkerer Unsicherheit andere Mechanismen in Kraft treten, die a) die in Frage stehende Erwartung entwerten, sie für unwichtig erklären ("Es ist mir egal, ob meine Mutter zurückkommt"), b) die Wertigkeit der Bezugsperson kann kippen oder zumindest ambivalent werden ("Ich brauche dich und ich hasse dich") oder c) gar die Wahrnehmung der unangenehmen Realität grundlegend stören ("Lieber nehme ich nur Chaos wahr als daß du mich verlassen hast"). Diese ungefähr zu narzißtischen, depressiven und psychotischen Reaktionsmustern passenden kindlichen Reaktionen auf Bindungsunsicherheit ergänzen die von uns bislang einzige diskutierte Reaktionsmöglichkeit, nämlich die kompensatorische. Bei allen vieren handelt es sich um Abwehr- bzw. Bewältigungsmechanismen. Bezogen auf die Unsicherheit

3. Bindung an Personen

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darüber, ob die Bindungsperson sich erwartbar verhält, könnte als kompensatorische Reaktion beispielsweise das Heranziehen von als Ersatz fungierenden Gegenständen gelten.

3.4 Bindungen in späteren Lebensphasen Abnahme der Bindungsmotivation und spätere Bindungen Ab dem dritten Lebensjahr nimmt die Häufigkeit von Bindungsverhalten drastisch ab und läßt an Intensität nach. Es erhöht sich die Toleranzschwelle des Kindes für die Abwesenheit der Bezugsperson (Bowlby, 1984, 261). Doch im Grunde, meint Bowlby, bleibt die Bindung an die Eltern ein Leben lang bestehen. Was sich verändere sei das Hinzutreten neuer Personen, zu denen Bindungen aufgebaut werden, aber auch zu Institutionen und Idealen. Das Fortwirken der Bindungsmotivation lasse sich schon daraus ersehen, daß auch Erwachsene in Belastungssituationen die Nähe Anderer suchen (ebd., 207f). Bereits das Kleinkind ist nicht allein von der primären Bezugsperson zur Befriedigung seines Sicherheitsbedürfnisses abhängig. Zum einen muß die primäre Bezugsperson nicht die Mutter sein, zum anderen entwickelt das Kind, in Abhängigkeit vom kulturell bestimmten Angebot an Bezugspersonen, mit ca. einem Jahr Bindungen auch an weitere Personen (ebd., 303ff.). Die individuellen Ausprägungen der Bindungss/cAerAe/7 weisen eine erstaunliche Stabilität auf. Sie persistieren deutlich zumindest bis in das 6. Lebensjahr. 11 Kleinkinder entwickeln weiterhin ab dem 9. Lebensmonat auch Bindungen an individuelle Gegenstände, die sie genau unter den Umständen aufsuchen, die normalerweise Bindungsverhalten auslösen. Bowlby versteht diese geschätzten Objekte als Ersatzobjekte für die primäre Bezugsperson im Falle ihrer Unerreichbarkeit. Die Bindung an einen bestimmten Gegenstand ergänzt also im Normalfalle eine sichere Bindung an die primäre Bezugsperson. Nur wenn jenes wichtiger wird als diese

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S. Main, Kaplan & Cassidy, 1985; Grossmann & Grossmann, 1991. Eine Untersuchung im 10. Lebensjahr ergab nur noch niedrige Korrelationen des Bindungsmusters mit dem im Kleinkindalter erfaßten, was aber durchaus auf das Problem zurückzuführen sein mag, Bindungsmuster für diese Gruppe altersangemessen zu konzipieren und operationalisieren (Grossmann & Grossmann, 1991). Eine longitudinale Untersuchung über mehr als 40 Jahre, in der die Bindungsqualität des Kleinkindes retrospektiv codiert wurde, fand eine gewisse Kontinuität in der Qualität (gut versus schlecht) sozialer Beziehungen über diesen langen Zeitraum hinweg (Skolnick, 1986).

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IV. Räume und Orte

spreche das für eine Störung der Bindung an Personen (ebd., 309ff.; s. 6.Kap., 2 ). Sicherheit, Neugier und Autonomie in der Adoleszenz Norbert Bischof (1975; 1985) bezieht sich mit seinen zwischen den Fachgebieten angesiedelten und um Lebensnähe bemühten Überlegungen zu motivationalen Determinanten von Annäherung und Vermeidung gegenüber Personen (Artgenossen) auf die im vorangegangenen und diesem Kapitel behandelte Thematik, und zwar wie Bowlby aus einer ethologischen Perspektive, die er leichterhand auf komplexe menschliche Situationen überträgt. Er kommt nach ausfuhrlicher Diskussion von an Tieren gewonnenen ethologischen Daten und der Theorien Berlynes und Bowlbys erst einmal genau zu den Schlußfolgerungen, die wir im dritten Kapitel bezüglich der Rolle von Vertrautheit und Fremdheit für die Befindlichkeit in Abhängigkeit vom Sicherheits- bzw. Erregungsbedarf des Individuums gezogen hatten (s. dort 2.4; Bischof, 1985, 257). Bischof schlägt stärker als wir dies getan haben eine kategorische Trennung des Sicherheitsempfmdens von der Erregung durch Neues oder Fremdes als motivierenden Befindlichkeiten vor; für beide voneinander unabhängige Motivationssysteme sieht er einen je eigenen individuellen Standard vor (ebd., 440). 12 An der Situation des Spielens zeige sich die relative Unabhängigkeit der beiden Systeme: Spielen setze eine sichere Situation voraus, erfordere aber zugleich ein mittleres Maß an Erregung durch Neuheit. Bischof ergänzt unser Modell aus dem dritten Kapitel dann, so wie Lewin und Bowlby, um den Umweltparameter der Entfernung von einem vertrauten bzw. fremden Objekt oder Person; je nachdem, ob das Sicherheits- bzw. Erregungsbedürfnis der Person aktuell unter- oder überschritten wird, nähert es sich der vertrauten primären Bezugsperson an oder entfernt sich von ihr. Nun motivieren beide Motivationssysteme zur Annäherung an Objekte oder Personen, aber gegensinnig an vertraute bzw. fremde. Bischof interessiert sich besonders für die ontogenetische Entwicklung der Sicherheits- und der Neugiermotivation, speziell ihren Wandel in der Adoleszenz. Er unterscheidet drei Formen der Vertrautheit und Bischof begründet die Notwendigkeit zweier voneinander unabhängiger Motivationssysteme mit den Schwierigkeiten, die ein eindimensionales Modell (mit den Polen Vertrautheit vs. Erregung) mit der Beschreibung des Verhaltens gegenüber sekundär Vertrauten (erwachsenen Sexualpartnern) hat, die daraus folgen, daß diese sowohl Sicherheit als auch Erregung böten (a.a.O., 439f.), eine nicht unbedingt überzeugende Annahme.

3. Bindung an Personen

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damit zugleich Arten von Bindungspersonen: Die primäre Vertrautheit gelte der Mutter, die sekundäre dem Sexualpartner, die tertiäre den eigenen Kindern (ebd., 199). Während Bowlby zwar eine quantitative Abnahme der Bindungsmotivation im 3. Lebensjahr vorsieht, hält er sie doch für über das ganze Leben hin wirksam, ohne daß es zu qualitativen Sprüngen käme. Bischof braucht nun seine dualistische Auffassung von der Unabhängigkeit und Parallelität der Sicherheits- und Neugiermotivation, um die in der Adoleszenz zu beobachtende Ablösung von den Eltern und Suche neuer Bezugspersonen zu erklären und sie, im Gegensatz zu Bowlby, als fundamentalen Wandel zu beschreiben. Die Ablösung sei nur möglich aufgrund eines Absinkens der Bindungsmotivation und des Überhandnehmens der Neugiermotivation. Um den Wechsel der Bezugsperson, und nicht lediglich die zeitweise Entfernung von ihr, zu erklären, muß Weiteres hinzutreten. Zum einen fuhrt Bischof eine biologisch angelegte Unverträglichkeit von primärer Vertrautheit und sexueller Annäherung ins Feld, zum anderen definiert er als die beiden Pole der Sicherheitsmotivation einerseits Sicherheit und andererseits Überdruß: In der Adoleszenz sinke der individuelle Standard der Sicherheitsmotivation auf ein geringes Maß, so daß die Nähe zur Familie ein Zuviel an Sicherheit biete und Überdruß auslöse, der aversiv wirkt (ebd., 231, 257, 492; Bischof, 1975). Bedenken wir aber die Einsichten Lewins und Bowlbys, dann können Sicherheit und Erregung nicht als zwei voneinander unabhängig fungierende Motivationssysteme angesehen werden, wie dies Bischof vorschlägt. Vielmehr stehen sie in einem Voraussetzungsverhältnis zueinander, d.h. erst bei gegebener subjektiver Sicherheit können andere Motivationssysteme, vor allem das der Neugier, aktiviert werden. Gegen Bischofs Konstruktion spricht schon allein der Begriff der Sicherheit selbst, der kein Übermaß kennt. Bischof meint hier auch nicht eigentlich ein Übermaß an Sicherheit; vielmehr bezeichnet er mit Überdruß ein Übermaß an Vertrautheit. Aber die Qualität der Vertrautheit/Fremdheit spricht nicht nur die Sicherheits-, sondern eben auch die Neugiermotivation an, die im Unterschied zur Sicherheitsmotivation nicht nur einen Mangel, sondern auch ein Übermaß kennt, nämlich der überwältigenden Fremdheit und Übererregung. 1 3 Die eben gemachten Ausfuhrungen präzisieren die in Tabelle 3.2 aufgeführten möglichen Kombinationen von situativen Ausprägungen der Sicherheits- und Neugiermotivation. Halten wir fest, daß Bischof auf eine wichtige ontogenetische Diskontinuität der Bindungsmotivation in der Adoleszenz hinweist, die zu

Bischofs eigentliche Intention ist es, mit seiner Konstruktion die psychoanalytische Erklärung für die Ablösung von den Eltern durch den ödipalen Konflikt zwischen auf die Eltern gerichteten sexuellen Wünschen und dem Inzestverbot überflüssig zu machen.

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IV. Räume und Orte

einer Distanzierung oder zumindest Ablösung von den primären Bindungspersonen und einem Wechsel zu neuen Beziehungspersonen fuhrt. Mit der Einführung des Entfernungsparameters in das theoretische Modell des dritten Kapitels sowie der Berücksichtigung der Motivation, sich in der Adoleszenz von den so vertrauten Eltern zu entfernen, wirft Bischof zum einen die wichtige Frage auf, wie es um die Auswirkung von Alleinsein auf das Motivationssystem Sicherheit-Neugier steht. Zum anderen stellt sich die Frage, ob es sich bei den in der Adoleszenz eingegangenen Beziehungen ebenfalls um Bindungen im von Bowlby definierten Sinne handelt, eine Frage, der wir uns abschließend zuwenden.

Soziale Bindungen und Beziehungen nach dem

Kleinkindalter

Der methodische Ansatz der Bindungstheorie, der überwiegend Anleihen bei der Ethologie macht, stößt an seine Grenzen, wenn sich das Interesse auf Bindungen in einem Alter richtet, in dem das Kind beginnt, über die Symbolfunktion zu verfugen, also zu sprechen und denken. Interpersonelle Beziehungen differenzieren sich, und die Mittel, eine Beziehung zu unterhalten, werden abstrakter. Die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme erlaubt weitergehende Formen der Beeinflussung als das Schreien, andere Formen der Versicherung als die der räumlichen Annäherung (Bowlby, 1984, 3 6 8 f f ) . Deshalb kann der Begriff der Bindung für spätere Lebensalter immer nur in Analogie zur frühen Kindheit gebraucht werden. Einige solcher Analogiebildungen sind versucht worden. Deshalb bedarf eine Ausweitung des Begriffs der Bindung auf spätere Lebensalter der Begründung und Spezifizierung. Wie gesagt beginnt die Abhängigkeit von der räumlichen Erreichbarkeit der Mutterfigur im dritten bis vierten Lebensjahr abzunehmen. Kinder im Grundschulalter können längere Zeiten ohne ihre Eltern auskommen, ohne in seelische Nöte zu geraten. Im Unterschied zu Bowlby stimme ich Weiss (1991) zu, daß die Aufgabe der Bindung an die Eltern mit der Adoleszenz beginnt. Sie vollzieht sich in Sprüngen und dauert bis zum Ende der Adoleszenz. Auffassungen über die Möglichkeit, zu anderen Personen als den Eltern Bindungen im technischen Sinne des Wortes einzugehen, divergieren je nach Definition des Begriffs. Bowlby schloß dies aus, während seine Kollegin Ainsworth (1989; 1991) etwas großzügiger denkt und schließlich Weiss (1991), immer noch an einem engen Bindungsbegriff festhaltend, am weitesten geht. Um Bindungsbeziehungen im Erwachsenenalter zu identifizieren, bedarf es einer Taxonomie erwachsener sozialer Beziehungen. Weiss (1973) schlug sechs Typen von Angeboten vor, die Beziehungen bieten: a) Sicherheit und Trost (Bindungsbeziehungen), b) Kameradschaft und eine gemeinsame Auffassung von der Wirklichkeit, c) das Gefühl, vom

3. Bindung an Personen

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anderen gebraucht zu werden, d) ein Gefühl der Leistungsfähigkeit und des Wertes, e) verläßlichen Beistand in Notsituationen (v.a. Verwandtschaftsbeziehungen) und f) Anleitung und Rat. Ainsworth (1989) schlägt systematischer vor, als Untergruppe sozialer Beziehungen, zu denen u.a. reine Rollenbeziehungen gehören, emotionale Bindungen zu definieren. Sie zeichnen sich aus durch eine langandauernde Bindung an eine ganz bestimmte Person, den Wunsch, in ihrer Nähe zu bleiben, Kummer und Schmerz als Reaktion auf unerklärliche Trennungen, und Trauer als Reaktion auf einen Verlust des Partners. Bindungsbeziehungen i.e.S. definiert sie aber als noch einmal speziellere Form der emotionalen Bindung, die sich dadurch auszeichneten, daß sie ein Gefühl der Sicherheit und des Trostes böten. In diesem Sinne kann die Mutter-Kind-Beziehung als Prototyp einer Bindungsbeziehung gelten; schon bei der Vater-Kind-Beziehung sei die Bindung variabler. Sexuelle Partnerschaften zeichneten sich anfangs primär durch die sexuelle Anziehung aus (die Weiss unterschlägt), nähmen aber im weiteren Verlauf immer stärker Eigenschaften einer Bindung i.e.S. an. Auch Freundschaften können manchmal Bindungsqualitäten aufweisen. Ainsworth scheut sich aber, die besondere Qualität von Verwandtschaftsbeziehungen in Termini von Bindung zu interpretieren. Doch Ainsworth Unterscheidung von emotionaler Bindung und Bindungsbeziehung i.e.S. ist noch ziemlich unscharf. Deshalb verzichtet Weiss (1991) auf sie und faßt sie als erwachsene Bindungsbeziehungen zusammen, die sich durch ihre Funktion als sichere Basis auszeichnen. Als weitere wichtige Parameter von Bindungsbeziehungen nennt Weiss, wie sehr der Andere als stärker und klüger wahrgenommen wird sowie ob eine Bedrohung der eigenen Person oder des Anderen Bindungsverhalten aktiviert. Nicht nur der Verlust einer erwachsenen Bindungsperson löst schwere Trauer aus; auch kurzfristigere Trennungen, beispielsweise von Ehepartnern, können zu Trennungsreaktionen führen, und zwar oft zur Überraschung der Beteiligten, da die Erreichbarkeit des Anderen so selbstverständlich ist, daß ihre Bedeutung gewöhnlich nicht realisiert wird. Ebenfalls als Epiphänomen der Funktion des Anderen als sichere Basis ist zu verstehen, daß eine stabile gegenseitige Bindung kaum der Aufmerksamkeit bedarf; man kann in einem Restaurant eingespielte Paare leicht dadurch von frisch ineinander Verliebten unterscheiden kann, daß sie ihre Aufmerksamkeit nicht intensiv aufeinander richten, sondern entspannt miteinander sprechen und dabei oft ihren Blick schweifen lassen (ebd., 73f.). Über solche Bindungsqualitäten verfügen meist sexuelle Partnerschaften, aber auch die chumships der frühen Adoleszenz (Sullivan, 1953) oder die Beziehung zu adoleszenten Cliquen und Gruppen. Dies verdeutlicht die Übergangsfunktion dieser adoleszenten Beziehungen im Prozeß der Ablösung von den primären Bindungspersonen, den Eltern.

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IV. Räume und Orte

Die verschiedenen Vorschläge, Bindung auch für spätere Lebensphasen zu definieren, fuhren zu keinen eindeutigen Resultaten. Dennoch läßt sich zumindest festhalten, daß gewisse Parallelen zu finden sind und zumindest etablierte sexuelle Paarbeziehungen deutliche Züge einer Bindungsbeziehung aufweisen, womit Bischofs Konstruktion des Wechsels der Bindungsperson in der Adoleszenz untermauert wird. Der grundlegende Unterschied zur kleinkindlichen Bindung besteht darin, daß es sich um eine in der Anlage symmetrische Beziehung handelt.

Bindung und Dinge Die Bindungstheorie bietet eine, wenn auch sehr spezifische Ergänzung zu Lewins räumlich gedeuteter Feldtheorie, da sie zum einen das Thema der Sicherheitsmotivation räumlich konkret deutet und ein bifokales Feld konzipiert. Zum anderen ergänzt sie die im vorigen Kapitel eingeführten Zusammenhänge (zwischen der Qualität der Umweltreize einerseits und dem Interesse bzw. der Neugier und der Aktivation andererseits) um den motivationalen Gegenpol der Sicherheit und integriert beide Motivationssysteme in ein Modell des motivierten räumlichen Handelns, allerdings mit einer entwicklungspsychologischen Einschränkung auf das Kleinkindalter. Sowohl Lewins Feldtheorie als auch Bowlbys Bindungstheorie konzipieren motivierte räumliche Beziehungen zur Umwelt. Persönliche Objekte, unser eigentliches Thema, sind nun in der Regel Dinge, zu denen die Person eine zeitlich stabile Beziehung unterhält und die sie gerne in ihrer Nähe weiß. Damit weisen sie gewisse Analogien zu der Bindung des Kleinkindes an seine Bezugsperson auf. Das legt die Vermutung nahe, daß manche persönliche Objekte als selbstverständliche persönliche Umwelt der Person Sicherheit bieten und als Aktionsbasis oder -hintergrund dienen, die virulent werden, wenn sich die Person gefährdet fühlt. Die Diskussion von Lewins Feldtheorie legte weiterhin die Vermutung nahe, daß Dinge sich umso eher dazu eignen, zu persönlichen Objekten erkoren zu werden, umso vielseitigere Bedeutungen sie für die Person haben. Die Deutung von persönlichen Objekten als versichernde Dinge konstruiert eine Analogie zwischen der Beziehung zu Personen und Dingen. Bowlby selbst legt ein komplementäre Beziehung nahe, wenn er die Bindung an bestimmte Gegenstände im Kleinkindalter als einen eine sichere interpersonelle Bindung ergänzenden, temporären Ersatz bezeichnet. Doch ließe sich auch denken, daß ein Kind auf eine unsichere Bindung damit reagiert, daß es sichere Dinge den Menschen vorzieht. Dies wäre am ehesten für den ängstlich gebundenen, ambivalenten Typus zu vermuten, während der ängstlich gebundene, vermeidende Typus solche Dinge gegenüber Menschen bevorzugen könnte, die seine Autonomie

4. Persönliche Räume und Orte

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fördern. Doch das Verhältnis zwischen persönlichen Objekten und persönlichen zwischenmenschlichen Beziehungen werden wir systematisch erst wieder im sechsten Kapitel aufgreifen, nachdem wir zuvor die notwendige symbolische Dimension des Dingbezugs eingeführt haben. Als Ausgangspunkt für das weitere Kapitel dient Bowlbys Beobachtung über vertraute Räume, die zusammen mit vertrauten Personen das Sicherheitsgefuhl des Kleinkindes bestimmen. Wir wenden uns nun solchen vertrauten Räumen und den vielfaltigen Funktionen zu, die sie im späteren Leben zusätzlich übernehmen.

4. Persönliche Räume und Orte Haben wir in diesem Kapitel bislang die motivationale Strukturierung von Handlungsräumen im Allgemeinen sowie durch die Bindung an Personen im Besonderen erörtert, nähern wir uns nun weiter dem Thema persönlicher Objekte, indem wir ein verwandtes Phänomen, nämlich persönliche Räume und Orte in einem spezifischeren Sinne als bislang und aus einer Außenperspektive betrachten. Die folgenden drei Abschnitte präsentieren persönliche Räume, definieren sie in ihren räumlichen und nicht-räumlichen Aspekten, und individuieren ihre verschiedenen psychischen Funktionen. Das strategische Interesse an persönlichen Räumen richtet sich darauf, mögliche Analogien oder überhaupt Beziehungen zu persönlichen Objekten aufzuspüren, worauf ich im letzten, siebten Abschnitt zurückkommen werde. Dieser und der nächste Abschnitt sind zwei, aus unterschiedlichen Perspektiven definierten Prototypen persönlicher Räume gewidmet, der Wohnung (4.) und der Privatsphäre (5 ), deren Funktionen sich überschneiden, ohne daß beide ineinander aufgingen. Der 6. Abschnitt bezieht die bisher erarbeiteten motivationalen Mechanismen auf spezifische Umwelten und faßt persönliche Raumbezüge in den Begriffen von Bindung und Identität. Persönliche Räume sind solche, die besonders eng an die Person gebunden sind. Sie unterscheiden sich hinsichtlich des Ausmaßes ihrer Gebundenheit an den Körper der Person: Am einen Ende des Spektrums stehen persönliche Räume i.e.S., die mobil sind, da sie ihr Zentrum im Körper der Person haben, und sich ständig mit diesem bewegen; am anderen Ende des Spektrums stehen persönliche Orte, die immobil sind und von der Person aufgesucht und verlassen werden können. Die meisten persönliche Objekte befinden sich hinsichtlich ihrer Lokalisierung und Mobilität zwischen diesen beiden Extremen. Persönliche Räume und Orte ähneln hinsichtlich ihres Bezuges auf die eigene oder andere Personen dem im zweiten Kapitel erörterten Besitz.

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IV. Räume und Orte

Einerseits verweisen sie auf die eigene Person, der sie zugeordnet sind und die ihn beherrscht, zum anderen verweisen sie auf die ausschließbaren Dritten. Zugleich können persönliche Orte, mehr als Besitz, Verbindungen zu anderen herstellen. Schließlich wird uns hier die Bindung an persönliche Orte interessieren.

4.1 Der körperzentrische persönliche Raum Der Begriff des persönlichen Raums {personal space) wurde der ethologischen Forschung zum räumlichen Sozialverhalten von Tieren entlehnt. Er bezeichnet einen körperzentrischen Raum variierenden Umfangs. Hall (1966) vergleicht ihn mit einer schützenden Hülle, eine Art den Körper umgebende Sicherheitszone. Verletzungen des persönlichen Raums durch Andere, die zu nah kommen, werden als unangenehm empfunden. Der Begriff kann als dem der Selbstgrenze homolog verstanden werden, weist aber den entscheidenden Vorteil auf, sich nicht nur auf das Empfinden der Person (oder gar, wie es der Begriff der Körperbildgrenze tut, eine unbewußte Disposition) zu beziehen, sondern auf räumliche Verhaltenstendenzen. So hat Hall (1966) für Nordamerikaner vier körperzentrische Räume unterschiedlicher Ausdehnung definiert, die in Abhängigkeit von der Situation virulent werden: - eine intime Zone mit einem Radius von bis zu 45 cm erlaubt Kommunikation mit den Nähesinnen des Geruchs, der Tastempfindung und des Geschmacks; - eine persönliche Zone mit einem Radius zwischen 45 und 120 cm erlaubt immer noch gegenseitige Berührung und intensive optische Kommunikation; - eine soziale Zone mit einem Radius von 1,20 bis 3,60 m definiert die Entfernung, in der zwei einander nicht näher miteinander bekannte Personen miteinander kommunizieren; bei einem größeren Abstand wird die Kommunikation schwierig; - eine öffentliche Zone mit einem weiteren Radius ist gewöhnlich öffentlichen Figuren vorbehalten. Diese körperzentrischen Zonen definieren den angemessenen und als angenehm empfundenen Abstand zwischen Personen, der kulturabhängig variiert, beispielsweise in romanischen Ländern generell kleiner, in Großbritannien oder Skandinavien größer ist. Sie variieren situativ je nach dem Grad der Intimität der Interaktion und definieren diesen ihrerseits. Die Intimität einer Situation kann außer durch den Abstand voneinander durch weitere Signale definiert werden, so durch das Ausmaß des Blickkontakts, des Lächelns und der Intimität des Gesprächsinhalts. Stimmt die Kommunikation auf einem dieser Maße nicht mit der er-

4. Persönliche Räume und Orte

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wünschten Intimität der Situation überein, wird dies mittels der anderen Signalarten kompensiert (z.B. indem man im engen Fahrstuhl auf den Boden schaut; Argyle & Dean, 1965). Eine Situation kann nur in dem Maße intim werden, in dem sie in einem profanen Sinne ungefährlich ist. Je gefährlicher oder in übertragenem Sinne verletzender das Gegenüber scheint, desto größer der beanspruchte persönliche Raum (Dosey & Meiseis, 1969). Gleiches gilt vermittelt für die Vertrautheit bzw. Fremdheit, die Bekanntheit bzw. Unbekanntheit des Gegenüber, die es erlauben, die Ungefahrlichkeit des Anderen einzuschätzen und entsprechende Nähe zulassen. Kinder beanspruchen einen geringeren persönlichen Raum, insbesondere gegenüber ihren Bindungspersonen (s.a. Horner, 1983). Er weitet sich während der ersten 20 Lebensjahre beständig aus, und umgekehrt reagieren Erwachsene auf Verletzungen ihres persönlichen Raumes durch Kinder umso heftiger, je älter diese sind (zum Überblick s. Hayduk, 1978, 1983; Schultz-Gambard, 1991). Der persönliche Raum weist also zwei Aspekte auf, einen des Schutzes vor der Gefahr und feindlichen Agenten, und einen der gewagten und gewährten Intimität mit einem menschlichen Gegenüber. Über sich selbst zu verfugen und Anderen nahe zu kommen scheinen sich hier antagonistisch aufeinander zu beziehen. Doch das Subjekt eines persönlichen Raumes kann auch im Plural auftreten, so wenn ein Paar einen Raum um sich bildet, mit dem es seine intime Situation schützt (s.u., 5.3).

4.2 Persönliche Orte: Territorien Als persönliche Orte sollen vorerst solche Orte bezeichnet werden, denen sich a) eine Person besonders verbunden und zu denen sie sich immer wieder hingezogen fühlt, und b) die von einer Person oder Gruppe von Personen beansprucht werden. Auch der Begriff des Territoriums entstammt der Ethologie und bezeichnet, eng gefaßt, Räume, auf die ein Lebewesen gegenüber Artgenossen für sich oder seine Gruppe Anspruch erhebt, was bedeutet, daß es sein Territorium besetzt hält und gegenüber Artgenossen markiert und verteidigt. Meist handelt es sich um Brutstätten oder Jagdreviere, also um Räume, die der Befriedigung elementarer Bedürfnisse der Fortpflanzung und Ernährung dienen. Im Unterschied zum persönlichen Raum ist das Territorium nicht körperzentriert, sondern immobil und kann vom Ansprucherhebenden verlassen werden; es ist nicht unsichtbar, sondern wird durch wahrnehmbare Zeichen demarkiert; und das Eindringen eines Anderen wird nicht, wie meist beim persönlichen Raum, mit Rückzug, sondern mit Verteidigung beantwortet.

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IV. Räume und Orte

Für den Menschen haben Lyman und Scott (1967), Roos (1968) und GofFman (1971) Territorien weniger unter dem Gesichtspunkt der Bindung als dem von Anspruch, Verletzung und Verteidigung betrachtet. So definieren Lyman und Scott (1967) Territorium als einen abgegrenzten Raum, über den eine Person oder Gruppe die Herrschaft beansprucht. Diese weite Definition umschließt körperzentrierte, temporäre und langfristige ortsgebundene Räume (Goffman, 1971), wobei Lyman und Scott die temporären Territorien noch einmal unterteilen in öffentliche Räume, die allen zugänglich sind, in denen man aber temporäre Rechte hat, wie auf dem Bürgersteig das Recht, den Raum zum Gehen zu beanspruchen, und Interaktionsräume, den miteinander kommunizierende Personen für ihre Kommunikation beanspruchen. Während in der Tierwelt ein Territorium oft durch olfaktorische Reize markiert wird, bedienen menschliche Gesellschaften sich überwiegend symbolischer Markierungen territorialer Ansprüche. Zentrale Markierungen signalisieren einen Anspruch auf einen radial um sie angeordneten Raum, so wenn man sich einen Liegestuhl durch eine liegengelassene Sonnenbrille oder ein Kleidungsstück reserviert. Territoriumsmarkierungen signalisieren hingegen eine Grenze, während Stempel auf einem Ort oder Gegenstand Besitzansprüche signalisieren (Goffman, 1971). Die prototypische Markierung geschieht durch die körperliche Anwesenheit des Ansprucherhebenden selbst - bereits im zweiten Kapitel hatten wir das Be-Setzen als psychologische Grundform des Besitzens kennengelernt. Territorien können auf unterschiedliche Weise strittig gemacht oder verletzt werden. Verletzende Handlungen können aus einem einfachen Eindringen und Plazieren des Körpers bestehen, aber auch aus Berühren, Anblicken, Aufdrängen oder Erlauschen von Lauten, aus Ansprechen oder Hinterlassen von Spuren, speziell in Form körperlicher Exkremente (Goffman, 1971). In Reaktion auf Verletzungen können Territorien verteidigt werden, vorausschauend sind sie durch Barrieren gegen potentielle Eindringlinge schützbar. Goffman zählt zu den persönlichen Territorien i.w.S. auch Haut und Kleidung, die eigentlich materielle Markierungen des Kerns des persönlichen Raumes im schon besprochenen Sinne bilden. Darüber hinaus nennt er noch sogenannte Besitzterritorien, die durch diejenige persönliche Habe gebildet werden, die man ständig mit sich herumträgt, wie Jackett, Hut, Handschuhe, Zigarettenpackung, Portemonnaie oder Handtasche (1971/1974, 55, 67). Zwar beansprucht die Person über sie ebenso wie über Territorien die exklusive Verfügungsgewalt, doch sind sie als manipulierbare, benutzbare und transportierbare Dinge, und nicht als Raum oder Ort beansprucht, können also per se nicht als Territorien gelten, wiewohl die Ähnlichkeiten nicht zu verkennen sind (s.u.).

4. Persönliche Räume und Orte

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4.3 Persönliche Orte: Heimterritorien Neben dem körperzentrischen persönlichen Raum wird das zweite personzentrierte räumliche Gebilde von jenen Orten gebildet, die der Behausung dienen. Wegen dieses besonderen Bezugs zur Person bietet die Sprache deiktisch auf den Handelnden bezogene örtliche Ausdrücke, die als zuhause den Ort des Verweilens und als nachhause das Wegziel bezeichnen. 14

Abschirmung und selbstverständliche

Vertrautheit

Goffman definiert Heimterritorien in Anlehnung an die Ethologie aus der Perspektive der Sicherung vor in der Umwelt lauernden Gefahren (ebd., 336f). Die eigenen vier Wände strukturieren die Umwelt in ein Innen und Außen. Der Innenraum ist durch materielle Barrieren von der Außenwelt abgeschirmt und wird deshalb als sicherer Raum erlebt. Die Abschirmung von Heimterritorien, die normalerweise durch Wohnräume gebildet werden, betrifft besonders die variablen Barrieren, die den Zugang ermöglichen und verwehren können. Deshalb wird in allen Kulturen der Gestaltung und Sicherung des Zu- und Eingangs große Aufmerksamkeit geschenkt. Die Abschirmung umfaßt weiterhin den Schutz gegen alle anderen genannten Formen der Verletzung von Territorien, so den Schutz vor dem Eindringen von Lauten und Gerüchen ebenso wie vor der optischen und akustischen Entnahme von Informationen durch Zuschauer bzw. Abhörer. Auch die Inneneinrichtung wird unter dem Gesichtspunkt des Schutzes vor Gefahren gestaltet. Bewohner achten darauf, daß in ihr keine versteckten oder unbekannten Mechanismen mit Überraschungen drohen (ebd., 374ff.). Sowohl die Vertrautheit der Inneneinrichtung wie der Schutz vor Gefahren erlauben dem Bewohner, in einer sicheren Umgebung von einer angespannten und aufmerksamen Wachsamkeit abzulassen und sich zu entspannen und in einen Ruhezustand zu begeben (ebd., 336, 427). Dazu trägt weiterhin das Nichtbeobachtetwerden bei, das von der Notwendigkeit befreit, sich auf andere Personen einzustellen. In einer Interviewstudie zu den Aspekten eines positiven Erlebens der eigenen Wohnung nannten die Befragten neben der Möglichkeit zur Entspannung und der Freiheit von Zwängen noch die Abwesenheit von Langeweile (dem negativ getönten Entspannungszustand in vertrauten Ura-

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Zur Psychologie des Wohnens s. Dovey, 1985; Saegert, 1985: Flade, 1987; aus phänomenologischer Sicht Graumann, 1989; Flusser, 1993. Außerdem gibt es eine neuere Heidegger-Rezeption in der sogenannten humanistischen Geographie, z.B. Seamon, 1979; vgl. die viel behutsamere Rezeption durch Kruse, 1974, § 8.

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IV. Räume und Orte

gebungen) sowie die Möglichkeit zur zwanglosen Kommunikation und der zwanglosen Nähe miteinander, ohne unbedingt miteinander interagieren zu müssen (Pennartz, 1986). Verlust des Selbstverständlichen:

Einbruch

Nicht genannt wurde von den Befragten der von Goffman hervorgehobene Aspekt der Sicherheit. Dies liegt an der Selbstverständlichkeit, mit der die Sicherheit einer Wohnung gewöhnlich wahrgenommen wird, ähnlich der Selbstverständlichkeit, die der Vertrautheit von Umgebungen zueigen ist. Die Bedeutung des Sicherheitsgefuhls zeigt sich erst, wenn sie bedroht wird oder sich gar als trügerisch erwiesen hat. Diebstähle und noch stärker Einbrüche lösen heftige Reaktionen aus, die weit über eine auf einen materiellen Verlust erwartbare Reaktion hinausgehen (Brown & Harris, 1989). In Interviews mit 36 Einbruchsopfern beschreiben Korosec-Serfaty und Bollit (1986) Reaktionen auf eine Verletzung der selbstverständlichen Erwartungen an die Wohnumgebung und auf die Unterbrechung der auf ihnen aufbauenden Handlungsroutinen. Die vielleicht wichtigste Qualität der Erfahrung des Wohnungseinbruchs ist die Unerwartetheit des Ereignisses. Betroffene äußern den Zusammenbruch ihrer Überzeugung, daß dies nur anderen Menschen passieren könne, nicht aber ihnen selbst. Plötzlich erleben sie ihre Wohnung als unsicher und gefährdet. Die Überraschung verstärkt das Gefühl der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins, das aus dem plötzlichen Verlust der Kontrolle resultiert, und zwar einer Kontrolle, die gewöhnlich nicht bewußt ausgeübt wird, wie das deutsche Wort suggeriert, sondern als gegeben vorausgesetzt wird. Die Reaktion sähe anders aus, wenn das Opfer den Einbrecher überraschen und so möglicherweise noch selbst würde eingreifen können meist aber sieht sich der Bestohlene mit einem fait accompli konfrontiert. Bald nach dem Einbruch beginnt der Betroffene zu versuchen, sich die vergangenen Ereignisse aktiv anzueignen und sie zumindest rekonstruktiv zu meistern, indem er sich den Ablauf des Einbruchs vorstellt, sich Gedanken über Identität, Charakter und Motive des Einbrechers macht. Das Unwissen, die Überraschung, aber auch die Zufälligkeit der Wahl des Opfers sind nur schwer zu ertragen. Als weitere Folge eines Einbruchs verliert die Wohnung ihre vertraute Qualität, die Dinge sind aus ihrer gewohnten Ordnung geworfen, das Zimmer mit den Spuren eines Unbekannten erscheint fremd wie dieser. All diese Reaktionen gleichen denen auf andere Traumata. Insbesondere erinnern sie an Reaktionen auf die Mitteilung, an einer bedrohlichen Krankheit zu leiden: Ähnlich der Wohnung setzt der Mensch das automatische Funktionieren seines Körpers voraus, und obwohl er um die

4. Persönliche Räume und Orte

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Möglichkeit schwerer Krankheiten weiß, ist er nicht darauf vorbereitet, daß es ihn selbst trifft; der Körper erscheint ihm dann, ähnlich der Wohnung nach einem Einbruch, als unsicher und fragil. Der Erkrankte versucht, aus dem sinnlosen, nicht-intentionalen Naturgeschehen ein sinnvolles Ereignis zu konstruieren. Sein Leib wandelt sich zum Körper, Hindernis der freien Bewegung und des Wohlbefindens, Objekt der Eingriffe anderer. Einbruchsopfer sprechen von dem körperlichen Empfinden, berührt, beschmutzt und verletzt worden zu sein (Leonini, 1988, 153). Doch worin liegt, neben allen naheliegenden Parallelen zwischen Leib und Haus bzw. Wohnung, das Spezifische der Wohnung? Denn der Leib gehört nicht, so wie die Wohnung, eindeutig zur Umwelt, die uns hier interessiert. Im Unterschied zur traumatischen Diagnosemitteilung wird der Einbruch von einer anderen Person begangen, die willentlich Grenzen überschreitet und in die Intimsphäre eingreift. Und doch drängt sich auch unter diesem Aspekt wieder die Analogie mit dem Körper auf, mit dem gewaltsamen Eindringen wie bei der Vergewaltigung. Korosec-Serfaty argumentiert, daß dies weniger auf eine Parallele zwischen Körper und Wohnung als auf beider enge Verbindung mit dem Selbsterleben hinweist (Korosec-Serfaty & Bollit, 1986, 338). Der Einbrecher raubt dem Opfer seine ihm normalerweise zur Verfugung stehende Freiheit und Fähigkeit, seine Selbstdarstellung gegenüber anderen zu bestimmen, sich und seine Sachen selektiv zu verbergen bzw. zu präsentieren. Der Einbrecher bekommt persönliche Dinge und Nischen zu Gesicht, die der Besitzer gewöhnlich anderen vorenthält oder nur selektiv präsentiert, da sie intime Informationen über seine Person enthalten, so persönliche Briefe, Photos, Adressen, unordentliche Ecken und Enden mit Resten und Überbleibseln. Die Wohnung enthält zufällig, in Form von Spuren sowie gezielt angesammelt, in Form persönlichen Besitzes, Identitätsdokumente. Kommt man nach einem Einbruch in die ungeordnete Wohnung zurück, präsentiert sie sich als Tatort; die persönlichen Dinge, die Räume bieten weiterhin Hinweise auf die Identität des Bewohners, doch nach der Einwirkung eines Fremden bieten sie sich auch dem Bewohner so wie der Polizei, dem Versicherungsagenten oder einem Museumsbesucher dar, nämlich als kalt und leblos wirkende Indizien, denen Vertrautheit und Selbstverständlichkeit abgehen. Die Reaktionen auf einen Wohnungseinbruch verdeutlichen erneut mehrere Aspekte der Bedeutung von Wohnung. Sie ist ein der Person sehr vertrauter, sicherer Raum, innerhalb dessen sie sich auf Handlungsroutinen verlassen kann, da der Raum allein von ihr selbst oder gemeinsam mit den dort zusammen Wohnenden gestaltet wird; der Aspekt der Handlungs- und damit Aufmerksamkeitsentlastung wird von Edney (1976) gar als Hauptfunktion menschlicher Heimterritorien genannt. Die räumliche Anordnung der Anforderungsqualitäten ordnet Routinehandlungen: Der Spiegel vor der Haustür fordert zur letzten Kontrolle

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IV. Räume und Orte

der sozialen Konformität des Bildes auf, das man anderen von sich darbietet, die Hygieneartikel im Badezimmer fordern dazu auf, die Körperpflege segregiert abzuwickeln, und der Lichtschalter neben der Tür erinnert den Hinausgehenden, das Licht zu löschen. Und die Ordnung erlaubt den schnellen Griff zu täglich verwendeten Wäschestücken, während die Winterkleidung im oberen Teil des Schrankes versteckt ist. Eine zyklische Zeitordnung manifestiert sich in der Wohnungseinrichtung nicht nur jahreszeitlich, sondern auch gemäß der sich am Tagesverlauf orientierenden Routinen (Werner, Altman & Oxley, 1985). Diese durch die Anordnung der Dinge nahegelegten und erleichterten häuslichen Routinen ermöglichen es, eine entspannte, nicht-vigilante Haltung einzunehmen, in der man die Aufmerksamkeit schweifen lassen kann, ohne auf Außenreize achten zu müssen. Konstitutiv für diesen Bereich ist die Grenze gegenüber dem Fremden, also Unerwarteten, möglicherweise Gefährlichen, der nicht in die gewohnte Ordnung paßt. Ein wichtiger Aspekt dieser Grenze ist der Schutz davor, von anderen, vor allem unbekannten Personen wahrgenommen zu werden und sich auf sie, auf ihre Erwartungen, vor allem ihre normativen Erwartungen einstellen zu müssen.

Ort exklusiver Verfügung: Angesammelte persönliche

Dinge

Da die Wohnung ein Ort exklusiver Verfügung ist, kann der Bewohner an ihm Dinge ansammeln, speziell solche, die er anderen vorenthalten können möchte. Diese Dinge haben weniger einen praktisch-räumlichen als einen symbolischen Wert. Unter Vorgriff auf das nächste Kapitel möchte ich hier den symbolischen Wert der Wohnung und seines Inhalts erwähnen. Korosec-Serfaty (1984) interviewte 96 Personen über die Bedeutung ihrer Speicher und Keller, also der Orte im Haus, die der verborgenen Unterbringung von Dingen dienen, die nicht dem alltäglichen Bedarf dienen oder, wie Kohlen, als nicht präsentierbar gelten. Diese Orte bilden ein Potential der Sicherheit, da sie ökonomische ebenso wie symbolische Ressourcen beherbergen. Letztere bestehen aus Sedimenten vergangener Zeiten, aus Objekten, die nutzlos geworden dennoch aufbewahrt werden, Dingen, die Erinnerungen tragen und eine materielle Biographie der Eigentümer und ehemaligen Benutzer darstellen und als solche diesen teuer sind. Das Aufräumen eines Speichers gleicht dem Kramen in Erinnerungen. Stadien der eigenen Vergangenheit und der Vergangenheit der Vorbewohner und vergangener Generationen können rekonstruiert und dem Gedächtnis wiederübereignet werden. Symbolisch versammelt der Wohnende seine Vergangenheit um sich. Ebenso kann er seine Aspirationen, seine Zukunftsentwürfe, seine Wünsche materialisieren und sich mit ihnen umgeben: die Poster von ange-

4. Persönliche Räume und Orte

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himmelten Vorbildern wie Rockstars, Fußballern, Filmschauspielern, oder die nie genutzten Ballettschuhe im Schrank oder an der Wand. Doch die auf die Zukunft, auf aspirierte Identitäten verweisende Dinge finden sich wohl am häufigsten bei Jugendlichen, und insgesamt weniger als durch ihren dokumentarischen Wert auf die Vergangenheit verweisende und so die Kontinuität der Person mit sich, ihrer Umwelt und Vorfahren sichernde Objekte, die sich fast wie von selbst ansammeln. Schränke, Schreibtische, Schubladen sammeln biographische Informationen tragende Objekte an. Mehr noch gilt dies für intendiert eingerichtete Sammlungen, solche sehr spezieller Objekte wie Skulpturen, Nippes, Tassen, Postkarten, Briefen oder Büchern. Ebenfalls primär symbolischer Natur sind diejenigen Einrichtungsgegenstände, die dem Empfang von Nicht-Bewohnern dienen und in unserer Kultur den Wohnraum schmücken. Sie signalisieren dem Besucher sowohl Gastfreundlichkeit wie die vom Gastgeber aspirierte, für die Selbstpräsentation gewählte Identität. Hier wird die andere Seite der die Wohnung von der weiteren Umwelt trennenden Grenze deutlich, die nicht als eine undurchlässige, sondern als eine vom Bewohner kontrollierbare für die Konstitution der Wohnlich- oder Heimischkeit wichtig ist. Denn die Wohnung kann gleichermaßen der Selbstdarstellung, dem Empfangen von Gästen, der Soziabilität dienen. In diesem Akt der Identitätspräsentation stellt sich der Gastgeber zugleich als Besonderer wie als Mitglied einer bestimmten Subkultur oder sozialen Schicht dar, als Frau bzw. Mann und als einer Altersgruppe zugehörig (s. z.B. Bourdieu, 1979; Vinsel, Wilson, Brown & Altman, 1980; Seile & Boehe, 1986). Aber nicht nur die bislang genannten Dinge, die von selbst auf die eigene Geschichte verweisen oder symbolisch der Selbstdarstellung dienen, sondern auch noch unscheinbarere Dinge, die des täglichen Bedarfs, sind von unschätzbarer Bedeutung für das Wohlbefinden des Bewohners. In jeder Kultur gibt es so etwas wie einen Minimalset persönlicher Objekte (identity-kit). Dazu gehören in unserer Kultur Hygieneartikel wie eine eigene Zahnbürste, Handtuch und Kamm, eigene Kleidung und Schuhe, gegebenenfalls medizinische Hilfsmittel wie Brillen, Prothesen und Hörgeräte, eine Schlafstelle, eigenes, jedenfalls nicht zugleich von Fremden genutztes Bettzeug, eine Handtasche oder ein ähnlicher Behälter mit Ausweis und Geld. Zugleich gehört zu diesem Minimalset ein geschützter Ort, an dem diese Objekte aufbewahrt werden können, ohne daß andere Personen sich einen eigenwilligen Zugriff erlauben würden. Ihre Bedeutung erweist sich erneut im Falle ihres Abhandenseins. Goffman (1961) konnte Institutionen wie Gefangnisse, psychiatrische Anstalten, Klöster und Hochseeschiffe darüber als ein gemeinsames Phänomen, das der totalen Institution, charakterisieren, daß sie die Insassen nicht nur mittels bloßer Gewalt, sondern auch subtilerer Techniken ihrer Handlungsfreiheit und Autonomie berauben. Dazu gehören die physische

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IV. Räume und Orte

Segregation von der normalen Welt und Zwangssozialisierung mit Gleichen, vor allem aber die Entledigung aller persönlichen, individualisierenden Mittel wie der Kleidung, des eigenen Haarschnitts, des Namens, der eigenen Mittel zur Körperpflege und Herstellung eines passablen, präsentierbaren Aussehens. Das individuell gewählte Aussehen und die persönliche Habe werden durch Anstaltseigenes ersetzt, den Einheitshaarschnitt, die Identitätsnummer, das Anstaltsgeschirr und die Anstaltswäsche, die regelmäßig wieder eingesammelt und von möglichen, den Gegenstand individualisierenden Spuren gereinigt werden. Die Zelle als potentieller Ort des Rückzugs und Beisammenseins mit sich selbst muß immer offen stehen bzw. der Zugang zu ihr wird von der Institution bestimmt. Die Person wird entblößt und verunreinigt. Totale Institutionen entziehen ihren Insassen die Möglichkeit, über sich selbst zu verfugen, über ihre Gedanken, ihre Intentionen und ihre Handlungen sowie über ihre persönliche Habe, dasjenige minimale Umweltsegment, über das jede freie Person gewöhnlich exklusiv verfugt. So wird die Person die in der zivilen Gesellschaft übliche Achtung versagt, sie wird entwürdigt und ihre Selbstachtung untergraben.

Binnenbeziehungen Das Innere der Wohnung verweist nicht allein auf die ausgeschlossene oder empfangene Außenwelt und die Identität des Bewohners, sondern reflektiert und strukturiert zugleich die Beziehungen der Bewohner untereinander (Werner, 1987). Die Nähe von Zimmern, die Ausstattung mit verschließbaren Türen und Schlössern, die akustische Isolierung voneinander ermöglichen und laden ein, zueinander zu kommen oder sich voreinander zu verschließen, sich gemeinsam an einen Tisch zu setzen oder stehend einzeln in der Küche am Kühlschrank zu essen. So charakterisieren offene bzw. ausgehängte Türen innerhalb der Wohnung und eine massive geschlossene Eingangstür die interne Zwangsvergemeinschaftung und Abschottung gegenüber der außerfamiliären Welt von Familien mit einer magersüchtigen Jugendlichen (Weber & Stierlin, 1989). Wohnungen weisen eine Binnendifferenzierung auf, die besonders, wenn sie von mehreren Personen bewohnt wird, beziehungsregulierende Funktionen erfüllt. Als Ort besonderer Seklusion fungiert das Badezimmer mit Toilette, das dem Verrichten von Körperfunktionen, speziell dem Ausscheiden und der Pflege des Körpers dient, die in unserer Kultur mit einer besonderen Schamgrenze umgeben sind. Da es im Badezimmer erlaubt ist, sich zurückzuziehen, dient der Ort oft auch anderen Tätigkeiten, die der Geheimhaltung oder des Alleinseins bedürfen (Kira, 1966; Altman & Chemers, 1981).

4. Persönliche Räume und Orte

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4.4 Sich-Einrichten von Wohnumgebungen: Personalisierung und Aneignung Auch an dem der Entpersönlichung entgegengesetzten Vorgang, dem des Sich-Aneignens von Umwelten, des Schaffens oder Rekonstruierens persönlicher Umwelten, lassen sich die wesentlichen Merkmale von Heimterritorien ablesen. Das Opfer eines Einbruchs wird sich mit der verwüsteten Wohnung beschäftigen, indem es die Einrichtung auf Vollständigkeit prüft, sich also ein Bild von ihrem neuen Zustand macht, und sie dann wieder in Ordnung, sei es die alte oder, gelegentlich des ohnehin notwendigen Aufwandes, in eine neue Ordnung bringt. Möglicherweise wird der Bewohner auch die Grenzen der Wohnung verstärken, ein neues Schloß kaufen oder sich angewöhnen, die Tür zu verriegeln. Handelnd eignet sich der Bewohner seine Wohnung wieder an, ähnlich wie er es zuerst beim Einzug getan hatte. Indem er sichtet, orientiert er sich, macht sich die Dinge und ihre räumliche Konstellation wieder vertraut. Einzelne Objekte werden ebenso von den Spuren des Einbrechers befreit wie durch das Aufräumen das Arrangement der Dinge, das Zug um Zug wieder die Handschrift des Bewohners erhält. Handelnd ergreift der Auf- und Einräumende wieder die Herrschaft über seine Dinge und Einrichtung, die ihren Charakter als Einrichtung, als eine mit Bedacht geschaffene Ordnung durch die Hand des Einbrechers verloren hatte. Zur wohnlichen Wohnung gehört also, daß der Bewohner: a) die Ordnung, die er dort vorfindet, auf eigene Handlungen zurückfuhren kann; b) sich seiner Herrschaft über den Ort sicher ist; c) aus der eigenen Urheberschaft resultierend sich an dem Ort gut auskennt und er ihm vertraut ist und d) aus diesen Gründen der Ort zeichenhaft (als Spur seiner Tätigkeit) und symbolisch (aufgrund der von ihm gewählten Elemente und Konfigurationen) auf ihn verweist. Damit das Einrichten einer Wohnung oder auch eines Arbeitsplatzes zu einem Sich-Einrichten wird, muß die Person nicht nur den Ort aktiv selbst gestalten; sie darf dies nicht unwillig, gezwungenermaßen tun, weil sie bestimmter Dinge wie einer Vorrichtung für die Essenszubereitung oder einer funktionalen Schlafstelle einfach bedarf, sondern sie muß darüber hinaus den Ort mit Interesse und affektiver Beteiligung formen, beispielsweise begleitet von Phantasien, wie sie ihn nutzen und sich in ihm befinden wird. Um sich einen Ort einzurichten, muß man sich mit dem Ergebnis, der Einrichtung, identifizieren, sie als eigenes Produkt und Ausdruck eigenen Wählens und Handelns anerkennen, so daß man sich an dem Ort chez soi, bei sich fühlen und andere dort empfangen kann.

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IV. Räume und Orte

In der angelsächsischen ökopsychologischen Literatur wird mit dem Begriff des Personalisierens eine spezielle Form des Einrichtens und Sich-Aneignens von Wohnungen und Zimmern durch ihre Nutzer, die nicht ihre Erbauer sind, gefaßt. Gemeint ist das Schmücken und Dekorieren von einheitlichen, seriell hergestellten Wohnplätzen, denen eine persönliche N o t e verliehen wird. Eine wichtige Untersuchung zum Thema analysierte den Wandschmuck über den Betten von Studenten im Studentenwohnheim, die in diesem wohl kaum andere Flächen und Möglichkeiten hatten, sich ihr Zimmer einzurichten (Hansen & Altman, 1976). Eine andere Untersuchung befragte Bewohner einer für Studentenfamilien errichteten Siedlung danach, wie sie sich die Wohnräume zueigen machten; genannt wurden spezifische, persönliche Objekte, die in der Wohnung disponiert und exponiert werden, das Einrichten mit Möbeln sowie die tägliche Arbeit in und an der Wohnung (Becker & Coniglio, 1975). Die erstgenannte Untersuchung konnte zeigen, daß das Dekorieren des Zimmers mit persönlichen, auf den Bewohner und seine Interessen und Haltungen, seine Beziehungen und Zugehörigkeiten verweisenden Dingen einen Akt der Aneignung und damit auch eine Art Verpflichtung gegenüber dem Ort konstituiert, denn diejenigen Studenten, die während der ersten 2 Wochen ihres Studiums ihre Schlafräume vergleichsweise wenig personalisierten, brachen in der Folge häufiger ihr Studium ab (Hansen & Altman, 1976). In einer größeren Studie konnte dieser Zusammenhang allerdings nicht repliziert werden; hier zeigten sich nur mehr inhaltliche Unterschiede der Zimmereinrichtung dergestalt, daß Abbrecher sich anfangs mehr Dinge an die Wand hängten, die sich auf die Musik- und Theaterwelt, auf persönliche Beziehungen sowie auf den H e r k u n f t s o r t und dort zurückgelassene Familie und Freunde bezog (Vinsel, Brown, Altman & Foss, 1980). Becker und Coniglio (1975) ebenso wie Altman & Chemers (1981) nennen zwei Hauptfunktionen des Personalisierens von Räumen: den symbolischen Ausdruck der Identität des Bewohners und die Regulierung sozialer Interaktionen durch das Markieren von Grenzen. Dies sind sozialpsychologisch gesehen sicher zwei wichtige Funktionen, doch fehlt in dieser Aufzählung einerseits das unspezifischere Kompetenzmotiv, nämlich sich seine Umwelt anzueignen, sie zu beeinflussen und beherrschen (Rapoport, 1981), andererseits fehlt eine elementarere Bedeutung des Sich-Einrichtens, nämlich die, einen vertrauten, Routinehandeln ermöglichenden und affektiv besetzten stabilen Ort zu schaffen, der zugleich als sichere Basis des Rückzugs und der Erholung dient. Damit eine Wohnung als wohnlich und heimisch erlebt wird, bedarf es mehr als des anfänglichen Einrichtens. Hinzu kommt die alltägliche Arbeit in der Wohnung, das Putzen, Aufräumen, Ersetzen, Ergänzen und Modifizieren der Wohnung. Da der Akt der Aneignung nicht nur im Zusammenhang mit W o h nung, als einer des Sich-Einrichtens, sondern auch bezogen auf Dinge

4. Persönliche Räume und Orte

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von Interesse ist, soll hier auf seine weiteren Bedeutungen kurz eingegangen werden. 1 5 Auch andere Weisen der Aneignung implizieren eine Veränderung des Anzueignenden. Wenn Dinge, die gewöhnlich exklusiv von einer Person genutzt werden, Spuren der Benutzung tragen, wie beispielsweise Kleidungsstücke oder Pfeifen, verweisen sie auf den Nutzer und sind ihm vertraut, da individuell wiedererkennbar als die seinigen. Die Individualität mag im Akt der Aneignung dadurch zustande kommen, daß die Person das Objekt so gut kennenlernt, daß sie es von ähnlichen zu unterscheiden vermag, oder sie individualisiert das Objekt durch Nut-

zung (der abgegriffene Teddybär, die geflickten oder passend

ausge-

beulten Jeans), oder sie individualisiert es durch gezielte Anpassung an die eigenen Bedürfnisse (wie eine Brille, die der Kopfform angepaßt, der Schreibtisch, der auf die Arbeitsroutinen abgestellt wird). Oder Dingen werden Zeichen verpaßt, die auf einen Besitzer verweisen, die schon erwähnten territorial markers im Falle von Orten (die Sonnenbrille auf dem Stuhl, die Fahne auf dem Mond), in die Haut eingeprägte Namen oder namensäquivalente Zeichen im Falle lebendigen Besitzes wie Kühen, Namensschilder bei Wohnungen und Häusern. Doch handelt es sich hierbei noch nicht primär um Veränderungen eines Gegenstandes, sondern lediglich um seine Markierung. Korosec-Serfaty (1985) weist daraufhin, daß nicht alle Prozesse der Aneignung notwendigerweise eine Modifizierung des Anzueignenden implizieren, wiewohl dies, wie ich meine, auf die Aneignung eines Ortes qua Sich-Einrichten zutrifft. So kann man sich Ein Stadtviertel auch handelnd dadurch aneignen, daß man es sich erläuft und so kennenlernt, daß man Gewohnheiten entwickelt, z.B. immer bestimmte Routen läuft oder bestimmte Läden nutzt, daß man etwas über das Viertel liest, oder dadurch, daß man es malt oder photographiert. Zur Aneignung gehört, genauso wie zum speziellen Fall des Sich-Einrichtens, eine auf das Anzueignende gerichtete Intention, ein Interesse, eine affektive Besetzung oder Investition. Wird der Weg zur Arbeit gehetzt und ohne nach rechts und links zu schauen zurückgelegt, dann wird er in Kauf genommen, erduldet, nicht aber angeeignet. Im Akt der Aneignung stellt die Person

Der Begriff der Aneignung wurde in der Psychologie z.T. ausgehend von Marx, vermittelt über Vygotsky und seine Schüler rezipiert und hier umfassend im Sinne der aktiv vom Mitglied einer Kultur gestalteten Prozesses der Enkulturation verwendet (s. Wacker, 1977; Keiler, 1988), und z.T., auf Hegeische Denkfiguren zurückgehend, als praktisch-kognitive Assimilation in der Entwicklungspsychologie ausgearbeitet (z.B. von Piaget und Ausubel). In der ökopsychologie taucht der Begriff seit den 70er Jahren vor allem im Zusammenhang mit dem Interesse von Architekten und Stadtplanern daran auf, daß die Benutzer ihrer Produkte sich diese zueigen machen und sie nicht verwüsten und verlassen. Zum Überblick über die psychologische und speziell ökopsychologische Verwendung des Begriffs der Aneignung und für eine umfassende Nennung von Modalitäten der Umweltaneignung s. Kruse & Graumann, 1978; Graumann, 1990.

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IV. Räume und Orte

eine Beziehung des interessierten Kennens und Beherrschens zum Objekt her. Die Aneignung persönlicher Räume, besonders der eigenen Behausung, stellt also nur einen Sonderfall der Aneignung von Räumen dar. Wie verhalten sich Aneignung persönlicher und öffentlicher Räume zueinander? Korosec-Serfaty und Bollit (1986) vermuten, daß in unserer Kultur die eigene Wohnung im Vergleich zu öffentlichen Räumen affektiv überbewertet, und entsprechend auf ihre Personalisierung Wert gelegt wird. Rapoport (1981) setzt das Ausmaß der affektiven Besetzung der eigenen vier Wände in eine reziproke Beziehung zu dem Ausmaß, in dem man in öffentlichen Räumen Einfluß ausüben kann. Dann hinge das Ausmaß, in dem jemand seine persönlichen Orte wie Wohnung, Haus oder Auto personalisiert, davon ab, wie wenig er auf seine weitere Umwelt, vor allem in der Arbeit, Einfluß ausüben und dort seine Spuren hinterlassen kann. Wir stoßen hier auf die stillschweigenden Voraussetzungen und biologistischen Vorannahmen einer Tendenz, die sich in Teilen der Literatur zum Wohnen wiederfindet, nämlich das Wohnliche zum Heimeligen und Existenzial zu überhöhen (s. Bollnow, 1984; vgl. Kruse, 1974, 41f.). Nur in Analogie zum Territorium des von Raubtieren bedrohten Wildes, also unter Voraussetzung gefährlicher, feindlicher, unbeeinflußbarer und damit nicht aneigenbarer öffentlicher Räume kann die Behausung zum überhöhten Heim gerinnen, das vermeintlich allein die Verankerung und Verwurzelung des Menschen in der Welt ermöglicht und sichert. Diese Sicht unterschlägt den Gegenpol der Sicherheitsmotivation, die Neugierde und das Interesse an dem Neuen und Fremden, was sich in unserem Kontext als der öffentliche bzw. weite Raum manifestiert, als außerhäusliche Arbeit, öffentliche Plätze (Korosec-Serfaty, 1991), freie Natur. Fassen wir abschließend die Funktionen persönlichen Raumes und persönlicher Orte zusammen. Den beanspruchten und respektierten oder verletzten körperzentrischen persönlichen Raum haben wir primär in seiner Funktion des Schutzes vor anderen Personen einerseits, der Annäherung an und Intimität mit anderen andererseits erörtert. Persönliche Orte erwiesen sich als komplexere Gebilde mit vielfaltigeren Funktionen: 1. mit seinen physischen und sozialen Grenzen dient ein persönlicher Ort dem Schutz vor dem Unbill der Natur und fremder Menschen; 2. der Person ist der durch den persönlichen Ort gegebene Binnenraum wohl bekannt, da sie ihn eingerichtet hat, ihn regelmäßig frequentiert und instandhält; aufgrund dieser Kenntnis des Raumes und des Ausschlusses adversiver Anderer bietet der persönliche Ort einen Raum, den man exklusiv (oder gemeinsam) beherrscht;

S. Privatsphäre und Alleinsein

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3. aufgrund des Ausschlusses des feindlichen Einflusses anderer und seiner Bekanntheit bietet er einen Ort der Vertrautheit und der Sicherheit; 4. der Ausschluß von der Umwelt ausgehender Anforderungen und die Vertrautheit des Ortes ermöglichen es, sich zu entspannen und regenerieren, also auch sich mit sich selbst zu beschäftigen; 5. die ersten drei Faktoren erlauben es ebenfalls, nicht angepaßt und nicht zielgerichtet zu handeln, so wie es im spielerischen und kreativen Umgang mit der Umwelt der Fall ist; 6. die Regelmäßigkeit, mit der persönliche Orte frequentiert werden, das Sich-Sedieren von Lebensspuren an diesem Ort und der relative Ausschluß nicht-intendierter Veränderungen versichern die Person der Stabilität und Kontinuität ihrer Umwelt und der Kontinuität mit sich selbst; 7. persönlichen Orten können Informationen über ihren ständigen Nutzer entnommen werden, und dieser kann sich seiner bedienen, um sich gezielt selbst darzustellen; 8. persönliche Orte ermöglichen schließlich persönliche und intime Beziehungen, die keine unbeeinflußbaren Einwirkungen Dritter bzw. überhaupt keine Öffentlichkeit vertragen. Bevor wir diese Funktionen persönlicher Räume und Orte auf ihre Identitätsbezüge (6.) und Konsequenzen für persönliche Objekte (7.1) hin untersuchen, wenden wir uns erst noch einem Begriff zu, der sich aus der Literatur zur Territorialität entwickelt hat, dem der Privatheit.

5. Privatsphäre und Alleinsein In der angelsächsischen Sozialpsychologie wurde in den 60er und 70er Jahren ein umgangssprachlicher und politisch-juristischer Begriff, der der privacy, zum Thema. Es findet sich weder im Deutschen noch im Französischen oder Italienischen ein sprachliches Analog; im Italienischen hat sich privacy gar als Fremdwort eingebürgert (Cortelazzo & Zolli, 1985). Lenelis Kruse (1980) schuf für ihn den Neologismus Privatheit. Sie akzentuiert drei Bedeutungskerne des Adjektivs privat, das Private als das dem Öffentlichen und Allgemeinen Entzogene, als das Individuelle und als das Intim-Vertrauliche. Es handelt sich um einen historisch beladenen Begriff, der kaum von der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer besonderen Ausprägung (gerade im angelsächsischen Raum) und ihrem Rechtssystem abstrahierbar ist. Dem englischen right of privacy entsprechen die deutschen Persönlichkeitsrechte als Grundrechte, die der Abwehr illegitim ausgeübter Staatsgewalt dienen (Kruse, 1980).

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IV. Räume und Orte

Dennoch sollen der Begriff der Privatsphäre und die Versuche, privacy als psychologisches Phänomen zu fassen, hier erörtert werden, da sie geeignet sind, noch ein anderes Licht auf persönliche Umwelten zu werfen. Vorgriffe auf die symbolische Bedeutung von Umwelten und Dingen (5.Kap.) lassen sich dabei nicht immer vermeiden, doch da sich der Begriff der Privatheit in der Sozialpsychologie theoriehistorisch von ethologischen Begriffen herleitet und sein Bedeutungskern ein räumlicher ist, soll er hier behandelt werden. Zwar überschneidet er sich mit dem des Heimterritoriums im Falle der grundgesetzlich geschützten Wohnung, hat aber eine umfassendere und komplexere Bedeutung als jener. Dieser Abschnitt beginnt mit Altmans Auffassung von Privatheit als Regulierung des Ausmaßes sozialen Kontaktes, die sich als zu beschränkt erweisen wird (5.1). Deshalb ergänze ich sie um juristische Aspekte der Privatsphäre (5.2) und bestimme deren Kern, die Intimsphäre, die sich weniger durch den Ausschluß Anderer als positiv über die Qualität von Beziehungen definiert (5.3). Auf der anderen Seite wird Altmans Privatheitsbegriff ergänzt durch eine Analyse der psychischen Funktionen des lediglich physisch definierten Alleinseins, das ja mit Privatheit nicht unbedingt etwas zu tun haben muß (5.4).

5.1 Privatheit als Regulierung interpersoneller Grenzen Irving Altman legte 1975 die bisher umfassendste Analyse von Prozessen der Regulierung von Privatheit vor. Er beansprucht, mit seinem Privatheitsbegriff zugleich die Begriffe des persönlichen Raumes, des Territoriums und des crowding, also des mit anderen Menschen auf zu engem Raum Zusammensein-Müssens, zu integrieren. Als Steuergröße bezeichnet er den Grad individuell erwünschter Privatheit als Ausmaß des Kontakts und der Offenheit bzw. der Abschottung gegenüber anderen Personen. Der naheliegende Zusammenhang mit der Persönlichkeitsvariable Extraversion konnte nachgewiesen werden (Stone, 1986). Persönlicher Raum und Territorien fungieren als Mechanismen, die helfen, das erwünschte Ausmaß an Zugänglichkeit gegenüber anderen zu erreichen. Wenn die Mechanismen den Zielwert nicht erreichen, kommt es im Falle von zuviel Kontakt oder Offenheit zum Phänomen des crowding, zur sozialen Isolation hingegen, wenn der hergestellte Kontakt das erwünschte Ausmaß unterschreitet. Altman arbeitet also mit der Metapher der Selbstgrenze, die er, im Unterschied zu im dritten Kapitel genannten Auffassungen, als Verhaltensphänomen faßt. Genaugenommen definiert er Privatheit analog zur Festigkeit der Körperbildgrenze, nämlich als die Fähigkeit der Person, Grad und Ausmaß seiner sozialen Interaktionen durch Rückzug und Zugehen-Auf, Sich-Verschließen und Sich-Öffnen zu regulieren.

5. Privatsphäre und Alleinsein

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Das Ausmaß der Interaktion 16 sei wesentlich regulierbar durch sprachliche Kommunikation, Veränderung der räumlichen Distanz und eine Gestaltung der Umwelt (z.B. territorial markers, Erbauen von Grenzen, Öffnen von Türen). Kulturelle Normen definieren die Bedeutung räumlicher Gegebenheiten, sprachlicher Gesten und räumlicher Bewegung in Termini von Nähe und Distanz und bestimmen zugleich die je angemessene Distanz (Altman, 1975). Doch spielen Normen in Altmans Modell bei der Bestimmung der angestrebten sozialen Distanz keine Rolle, die ihm wesentlich doch ein individuelles Phänomen bleibt (zu dieser Kritik s. Kruse, 1980, 135f.). Altmans Verwendung des Wortes privacy weicht, wie er selbst konzidiert, vom Alltagssprachgebrauch ab. Von Privatsphäre ist gewöhnlich immer nur als defensivem Phänomen die Rede, wenn sie bedroht oder verletzt wird und es sie zu schützen gilt. Erstens hat der andere Pol des Altmanschen Begriffs, das Auf-andere-Zugehen und Sich-ihnen-Öffnen, mit dem Begriff der Privatsphäre wenig zu tun. Zweitens wird der Begriff der Privatsphäre auch nicht verwendet, wenn die Person mit dem gegebenen Ausmaß des sozialen Kontaktes zufrieden ist, sondern nur, wenn sie sich bedrängt fühlt und das Bedürfnis verspürt, sich zurückzuziehen und vor anderen Personen zu schützen. Drittens handelt es sich bei der Privatsphäre um einen Anspruch, der Respekt seitens der Mitmenschen erheischt, und um ein Recht, sofern der Anspruch gegenüber möglichen Interaktionspartnern als einklagbar angesehen wird, mithin nicht allein um ein Phänomen individueller Zielsetzung, sondern um eine normative soziale Größe. Schließlich blendet Altman das Erleben von respektierter und verletzter Privatsphäre zugunsten einer behavioralen Konzeption aus (zum Erleben des Verletztwerdens der Privatsphäre s. Chin, 1975).

5.2 Privatsphäre: Macht über Raum und Wissen Bereits der Begriff der Privatsphäre legt ein räumliches Verständnis dessen, was als privat anzusehen ist, nahe. In diesem Verständnis ist die Person von körperzentrischen Sphären umgeben, deren Privatheitscharakter mit zunehmender Distanz abnimmt (vgl. Lewins Persönlichkeitsmodell, z.B. Lewin 1936b). Zu einer räumlichen Auffassung von Privatheit passen auch Vorstellungen, nach denen privat das zu Verbergende sei. Ein solches Sphärenmodell wird in der deutschen Verfassungsrecht-

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Wenn man es recht bedenkt, meint Altman, wenn er vom Ausmaß sozialer Interaktion spricht, wesentlich so etwas ähnliches wie soziale Distanz, nur daß er diese auf den Augenblick reduziert und als je durch Handlungen konstitutiert begreift.

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IV. Räume und Orte

sprechung verwendet: Sie unterscheidet eine Intim- von einer breiteren Privat- und einer noch weiteren öffentlichen Sozialsphäre, ohne daß diese Unterteilung aber durch Kriterien nun genau bestimmbar wäre (Kruse, 1987; Lampe, 1987; Breitenmoser, 1986). Dem sinnlichen Verbergen der eigenen Person, ihrer Handlungen und Produkte entspricht das Geheimhalten von Äußerungen und Informationen über die eigene Person, die nicht räumlich gebunden sind. Eine zweite Dimension von Privatheit findet sich somit auf der Ebene von Informationen und Wissen. Soziale Nähe und Offenheit können sich nicht nur auf räumliche Nähe und Offenheit beziehen, sondern auch auf sprachlich vermittelte, darauf, wie sehr man sich in einem Gespräch öffnet und anvertraut (self-disclosure). Die verfassungsrechtlich garantierten Persönlichkeitsrechte lassen sich zumindest grob diesen beiden Dimensionen zuordnen. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit und auf Schutz der Wohnung können als rechtlicher Ausdruck des persönlichen Raumes und des Heimterritoriums gelten (s. 4.1 und 4.2), das Brief- und Telefongeheimnis sowie der Schutz vor willkürlichen Identitätskontrollen, Durchsuchungen und Überwachung verleihen der Person ein privilegiertes Verfugen über sie selbst betreffende und von ihr generierte Informationen. Als zentrales Element des Schutzes der Privatsphäre gilt den meisten Auffassungen, daß er der Sicherung der Freiheit der Person, über sich selbst zu verfugen, ihrer Autonomie gilt. Sie entspringt der liberalen angelsächsischen politischen Tradition, die die Grundrechte als Abwehrrechte gegenüber dem Souverän konzipiert (Zippelius, 1987). Der Schutz der Privatsphäre trennt heutzutage zugleich Recht von Sittlichkeit; die Ausbildung einer Vorstellung vom guten Leben wurde dem Individuum anheimgegeben und durch die Privatsphäre geschützt. Entsprechend sind beispielsweise die Wahl der Kleidung, die Art der Nahrungsaufnahme, die Gestaltung persönlicher Beziehungen zwischen autonomen Rechtssubjekten sowie die Wahl einer Religion durch die Privatsphäre geschützt. Wie im zweiten Kapitel erwähnt, gehört der Besitzschutz, neben dem Schutz des Lebens und der Freiheit, in diesen Begründungszusammenhang (Brandt, 1983). Die Privatsphäre gilt hier also als der Raum, innerhalb dessen die Person über sich und ihre unmittelbare nichtmenschliche Umwelt frei verfugt. Auch in sozialpsychologischen Auffassungen von Privatsphäre spielt der Begriff der Kontrolle, der wahlweise als Vermögen, Macht oder Freiheit verstanden werden kann, eine zentrale Rolle. Genannt wurde bereits Altmans (1975) Definition von Privatheit als identisch mit der Kontrolle der Person über ihre interpersonalen Grenzen. Dem in gewisser Weise entgegengesetzt ist Kelvins (1973) Analyse des Begriffs der Privatsphäre, die an die Abwehrauffassung der Privatsphäre anknüpft. Demnach schützt sie vor der Macht und Urteilsmacht anderer und betrifft allein Äußerungen und Handlungen, die gegen Normen verstoßen,

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auf die andere deshalb negativ reagieren, sie verurteilen und bestrafen würden. Die Privatsphäre gewähre die Erlaubnis zur Nonkonformität. Aus dieser Natur der Privatsphäre leite sich ab, daß sie bei erlaubten Handlungen nicht thematisch würde. Das trifft eindeutig auf Äußerungen und Handlungen zu, die in der Öffentlichkeit verpönt sind und von denen erwartet wird, daß sie züchtig verborgen werden, all jene Äußerungen körperlicher Impulse und Affekte, deren Veröffentlichung beim Handelnden Scham, beim Publikum Peinlichkeit oder Spott und Witz hervorrufen würde (vgl. Elias, 1939). Diese Klasse von Handlungen ist dem Intimbereich zuzuordnen (s.u.). Die Privatsphäre schützt also vor dem physischen, kognitiven und symbolischen Zugriff Anderer. Betrachten wir nicht die möglichen staatlichen Eingriffe in die Privatsphäre, sondern beschränken uns auf die psychologisch relevanteren Eingriffe durch Einzelpersonen oder Gruppen, dann bestehen die wichtigsten Möglichkeiten, die Privatsphäre einer Person zu verletzen darin, a) physisch, olfaktorisch oder mit Tönen in ihren persönlichen Raum oder ihr Heimterritorium einzudringen bzw. sich ihrer persönlichen Habe zu bemächtigen; b) in den Privatraum mit den Augen und Ohren einzudringen bzw. ihm durch Beobachten oder Abhören Informationen zu entlocken, und c) sich auf anderen Wegen als privat geschützte Informationen über eine Person zu beschaffen.

5.3 Intimsphäre und intime Beziehungen Die weiter oben getroffene Feststellung, die Privatsphäre schütze persönlichen Raum und persönliche Orte einer Person sowie persönliche Informationen, genaugenommen die Herrschaft der Person über diese als Basis ihrer Autonomie, muß ergänzt werden, wenn man die besondere Qualität des Kernbereiches der Privat-, nämlich der Intimsphäre bedenkt. Der Begriff der Intimität weist zwei Bedeutungskerne auf, die sich in der Szene des sich liebenden Paares treffen. Zum einen spricht man vom Intimbereich einer Person und meint damit hauptsächlich die sexuellen Körperzonen und von ihnen ausgehenden oder sie involvierenden Strebungen; auch wird eine sexuelle Begegnung zwischen zwei Personen als intim bezeichnet. Andererseits geht der Begriff der Intimität gewöhnlich über das Sexuelle hinaus, impliziert es nicht einmal notwendigerweise. Die Rede vom intimen Gespräch, einer intimen Beziehung legt nahe, daß die Beteiligten sich nahe kommen, daß sie sich berühren, sich öffnen, daß sie über sehr persönliche Themen sprechen. Weshalb nun Sexualität und

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IV. Räume und Orte

Vertrautheit in den Begriffen der Nähe und der Intimität zusammengehören, ist nicht prima facie evident. Doch was bedeuten diese räumlichen Metaphern? Das Thema der Intimität ist von der Psychologie kaum bearbeitet worden (Lockot & Rosemeier, 1983; Reis & Shaver, 1988). McAdams (1982) nähert sich dem Thema aus motivationspsychologischer Sicht und definiert (in Abgrenzung vom verwandten Anschlußmotiv, das die Disposition bezeichnet, Kontakt zu anderen Personen aufzunehmen) eine Intimitätsmotivation, nämlich die Tendenz, die Befriedigung intimer Beziehungen zu suchen. Er versteht aufgrund einer Literatursichtung eine Beziehung dann als intim, wenn sie a) Freude und gegenseitiges Entzücken bereitet, in der es b) zu einem Dialog auf der Basis von Gegenseitigkeit kommt, die c) gekennzeichnet ist durch Offenheit, engen Kontakt, Vereinigung, d) Harmonie, e) Sorge um das Wohlergehen des anderen, f) Verzicht auf jegliche manipulative Kontrolle und Bestrebungen, den anderen zu dominieren und g) ihre Nicht-Instrumentalität, d.h. sie wird von den Beteiligten um ihrer selbst willen geschätzt und unterhalten. Orlofsky, Marcia und Lesser (1973) definieren als Kriterien für eine intime Beziehung Offenheit, gegenseitige Achtung und Zuneigung sowie Loyalität. Ihre Kategorien zur Auswertung von Interviews über intime Beziehungen korrelierten je nach Geschlechtskonstellation negativ mit der UCLA-Einsamkeitsskala (Craig-Bray & Adams, 1986). Harry Stack Sullivan (1953, 245ff ), auf den sich McAdams unter anderen beruft, beschreibt Intimität als eine Qualität von Beziehungen, die erst ab der Präadoleszenz, in den für diese Lebensphase typischen, von ihm als chumships bezeichneten gleichgeschlechtlichen engen Freundschaftsbeziehungen zustande kommt. Im Unterschied zur Kind-ElternBeziehung, der wichtigsten liebevollen Beziehung bis dahin, zeichne sich eine intime Beziehung durch ein erwachendes starkes Interesse am Wohlergehen der anderen Person aus, das erstmals eine Gegenseitigkeit ermöglicht, die nicht auf der Ebene von Handlungen, sondern von Interessen liegt; d.h. das Ziel der Beziehung besteht nicht mehr in der wechselseitigen Befriedigung der individuellen Interessen beider Beteiligten, sondern in der eines gemeinsamen Interesses an genau dieser Beziehung, die der gegenseitigen Bestätigung und Bewältigung von Angst dient. In der mittleren Adoleszenz wende sich das Interesse an intimen Beziehungen dann dem anderen Geschlecht zu und müsse die Gegenseitigkeit und Intimität der Beziehung auf die sexuellen Strebungen beider ausdehnen. Bei einer Befragung schließlich nannten 18- bis 20-Jährige in abnehmender Häufigkeit folgende Eigenschaften einer intimen Beziehung: Sich-Einander-Mitteilen {sharing), körperlicher und sexueller Austausch, Vertrauen, Offenheit, Liebe, Sorge um das Wohl des anderen, gegenseitiges Verstehen und Akzeptieren, Gegenseitigkeit und Aufrichtigkeit (Roscoe, Kennedy & Pope, 1987).

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Das Grundelement der intimen Qualität von Beziehungen scheint das der Gegenseitigkeit zu sein, die sich nicht allein auf Handlungen, sondern auf alle spontanen und gefühlsbetonten Äußerungen bezieht. 1 7 Sie ermöglicht es, darauf zu vertrauen, daß einem der andere Respekt und Achtung entgegenbringt und schließt den Mißbrauch, die einseitige Verwendung von Äußerungen des einen durch den anderen aus. Daß diese Gegenseitigkeit unabdingbares Element einer intimen Beziehung ist, zeigen die Beispiele der Beziehung des Patienten zum Arzt bzw. Psychotherapeuten und des Beichtenden zum Beichtvater. In diesen spricht die eine Person zwar über ihre Herzensangelegenheiten, Dinge, die ihr nah und intim sind, bzw. sie erlaubt dem Arzt den Blick, Zu- und Eingriff in ihre intimen Körperteile, doch werden diese Beziehungen trotzdem nicht als intim bezeichnet, da ihnen die Gegenseitigkeit abgeht. In diesen Fällen kann man den Begriff der Intimität nicht auf eine Beziehung, sondern nur auf eine einzelne Person gegenüber anderen Personen anwenden, also von der Intimsphäre der Person sprechen. Der Patient öffnet seine intimen Körperteile und seine intimen Gedanken und Wünsche dem Arzt. Da dies gegen die normale Bedingung der Gegenseitigkeit verstößt, sind in die Arzt- und vergleichbare Rollen starke Sicherungen gegen Mißbrauch eingebaut (so die Schweigepflicht, die Pflicht zur affektiven Neutralität, die allein auf das Wohlergehen und die Genesung des Patienten gerichtete funktionelle Spezifität seiner Handlungen zur Medizinpsychologie der Intimität s. Lockot, 1983). Die körperliche Intimsphäre ist örtlich in der Wohnung verankert, neben dem Schlafzimmer auch im Badezimmer, in dem man sich um die Pflege seiner intimen Körperteile kümmert und dafür von anderen segregiert, mit Ausnahme der intimsten Anderen wie dem Sexualpartner und Kindern. Die körperliche Intimität wird durch die stärksten Peinlichkeits- und Schamgefühle geschützt (Kira, 1966). Unter der Überschrift Selbstoffenbarung (self-disclosure) wird untersucht, wer sich welchen Bezugspersonen wieviel und wie intim anvertraut (Jourard, 1971). Als intime Gesprächsinhalte werden folgende Themen eingeschätzt: persönliche Gewohnheiten; begangene Taten; Handlungen, die man nicht in der Öffentlichkeit ausfuhren würde; die tiefsten Gefühle; Urteile über die eigene Person; die Dinge, die dem Sprecher in seinem Leben am wichtigsten sind; die wesentlichen Identitätselemente; die schlimmsten Befürchtungen; Objekte des Stolzes; enge Beziehungen (Miller, Berg & Archer, 1983). Intime Mitteilungen machen den Sprecher verletzbar (Derlega & Chaikin, 1977). Da das Gegenüber nun weiß, womit der Sprecher sich

Nicht gemeint ist eine strategische Wechselseitigkeit, sondern eine volle Gegenseitigkeit bzw. Reziprozität, wie sie Sullivan (1953) definiert und Selman (1980) für sein Niveau 3 der Perspektivenübernahme bestimmt.

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IV. Räume und Orte

identifiziert und welche von ihm verantworteten Handlungen und Äußerungen gegen Normen verstoßen und somit seine empfindlichsten Punkte kennt, kann das gegenüber Druck auf und Macht über den Sprecher ausüben. Die wichtigste Form der Verletzung besteht darin, den Sprecher lächerlich zu machen und zu beschämen, entweder direkt oder bei anderen, indem das Gegenüber die Mitteilungen nicht, wie bei intimen Inhalten erwartet, für sich behält, sondern weiterplaudert, und damit dem Sprecher die Kontrolle über die Mitteilung und Deutung seiner ihm wichtigsten Regungen und Empfindungen entzieht. Infolge der besonderen Gefährdung des Sprechers durch intime Mitteilungen macht er diese nur unter bestimmten Umständen. Diese sind vor allem in gegenseitigen, intimen Beziehungen gegeben. Zu Beginn einer sich-vertiefenden Beziehung äußert sich die Gegenseitigkeit noch darin, daß beide sich gegenseitig offenbaren (disclosure reciprocity), später ermöglichen Vertrautheit und Sicherheit bezüglich der Haltung des anderen auch Sequenzen einseitiger Selbstoffenbarung. Ebenfalls zu einer gegenseitigen Beziehung gehört, daß der andere nicht über mehr Macht verfugt als der Sprecher, was die Tendenz zur Selbstoffenbarung deutlich beeinträchtigen würde. Ein weiteres konstitutives Element einer intimen Beziehung ist, daß die beiden sehr vertraut miteinander sind, d.h. sie über für beide wichtige gemeinsame Erfahrungen verfugen, die die Gegenseitigkeit stärken und ein gegenseitiges Verständnis füreinander ermöglichen und nahelegen (Luckmann, 1976). Weiterhin gehört zu einer vertrauensvollen, gegenseitigen Beziehung, daß der andere Mitteilungen für sich behält und vertraulich behandelt. Es gibt allerdings eine Situation, in der die Bedingung der Vertraulichkeit keine Rolle spielt, nämlich die einer anonymen, flüchtigen Bekanntschaft zwischen zwei Personen, die sich sicher sein können, einander nie wieder zu treffen und über keine gemeinsamen Bekannten zu verfugen (stranger on the train phenomenon - s. Cozby, 1973; Derlega & Chaikin, 1977; Derlega, Metts, Petronio & Margulis, 1993). Situationen, die zur Selbstoffenbarung einladen, ermöglichen es dem Sprecher, sich unzensiert, spontan zu äußern und keine Rücksicht darauf zu nehmen, welches Bild sich sein Gegenüber von ihm macht. Die Situation entlastet ihn von der Arbeit, seine Äußerungen stets daraufhin zu überprüfen, ob sie den Eindruck des anderen von seiner Person negativ beeinflussen oder mißverstanden werden könnten. Hierin findet sich der Zusammenhang zwischen intimen Mitteilungen und der Äußerung sexueller Regungen, die im Normalfall ein entspanntes, unreflektiertes Verhältnis zum begehrten Anderen voraussetzen, das es ermöglicht, spontan mit dem Anderen zu interagieren, die Grenze zu ihm zu überschreiten und sich ihm hinzugeben. Die Diskussion des Begriffs der Intimität zeigt, daß er sich ebenso auf Aspekte des Einzelnen und seiner Identität beziehen kann wie auf die Kommunikation zwischen Personen und ihre Beziehung zueinander. Die

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Intim-, bzw. weitere Privatsphäre erstreckt sich folglich nicht notwendigerweise konzentrisch um eine einzelne Person, sondern kann gleichermaßen eine Kommunikationsdyade oder auch Gruppe von ihrer sozialen Außenwelt trennen. Das Recht, alleingelassen zu werden, kann sowohl die Form annehmen, mit sich selbst wie mit jemandem alleingelassen zu werden. Der verfassungsrechtliche Schutz von Wohnung, Brief und Telefon schützt exklusive Kommunikationen, die nicht an die Öffentlichkeit gerichtet sind.

5.4 Psychologische Funktionen des Alleinseins Die Altmansche Fassung des Begriffs der Privatheit als Wahlfreiheit bezüglich der Intensität des Kontakts mit anderen Personen vernachlässigt den Schutzcharakter von Privatheit und rückt sie damit in die Nähe jeglicher Situation des Alleinseins. Deshalb sind Situationen des Alleinseins hier separat von Privatheit zu erörtern. In der Literatur wird zwischen verschiedenen Situationen des Alleinseins unterschieden. Kruse (1980, 141fF.) nennt als Voraussetzung für Privatheit, daß die Person sich freiwillig abscheidet und ihr die Abgeschiedenheit einen Freiraum bietet, durch den sie an Autonomie gewinnt; durch dieses Charakteristikum der Wahlfreiheit seien Privatheitssituationen von anderen Situationen der Seklusion zu unterscheiden. Situationen des Eingesperrtseins, des Verlassenseins und Alleingelassenwerdens sind dem Begriff der unfreiwilligen Isolation zu subsumieren und haben psychologisch einen ganz anderen Stellenwert als freiwilliges Sich-Abscheiden (ebenso wie, am anderen Extrem, Situationen der Zwangsvergesellschaftung - s. Altman, 1975). Versteht man aber Privatheit immer auch unter dem Gesichtspunkt der Abwehr des aufgedrängten Kontaktes mit anderen, dann sind nicht einmal alle Situationen des freiwilligen Alleinseins unbedingt Situationen der Privatheit, denn nicht immer gilt es, sie zu verteidigen. Umgekehrt schützt die Privatsphäre nicht immer das Alleinsein, sondern kann ebenso das Zusammensein mit vertrauten Personen, also intime Beziehungen, vor Störungen durch Fremde schützen (Kruse, 1980; Derlega & Margulis, 1982). Konzentrieren wir uns nun auf die Situation des selbstgewählten Alleinseins und betrachten mögliche Motive, sich zurückzuziehen und alleinzusein, also die psychologischen Funktionen des Alleinseins. Wir beginnen vorweg bei einer Untersuchung der Gelegenheiten für und Stimmungen in Situationen des Alleinseins (Larson, Csikszentmihalyi & Graef, 1982). Erwachsene und Jugendliche (zwischen 14 und 18 Jahren) mußten zu zufallig gewählten Zeitpunkten immer wieder einen Fragebogen über ihre momentanen Aktivitäten und Stimmungen ausfüllen. Es

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zeigte sich, daß sie, abgesehen von der Schlafenszeit, circa ein Viertel ihrer Zeit allein verbrachten, und zwar am häufigsten zuhause, speziell bei der Körperpflege, der Hausarbeit und (nur Jugendliche) beim Hausaufgabenmachen. Neben dem Schutz der körperlichen Intimsphäre taucht hier ein weiteres Motiv auf, allein zu sein, nämlich das Bedürfnis, sich auf eine Aufgabe zu konzentrieren. Erwachsene gaben häufiger an, daß sie eigentlich lieber etwas anderes machen würden, wenn sie allein als wenn sie mit Freunden oder ihrer Familie zusammen waren, während Jugendlichen die Situation des Alleinseins zwar weniger attraktiv erschien als mit Freunden zusammenzusein, nicht aber als sich bei ihrer Familie aufzuhalten. Schließlich fühlten sich alle Befragten, wenn sie allein waren, weniger selbstgewahr und etwas konzentrierter (Aufmerksamkeit), weniger wach (alert), stark, aktiv und erregt (Aktivation), aber auch trauriger und einsamer (Stimmung) als wenn sie sich in Gesellschaft befanden. Alle Unterschiede waren bei den Jugendlichen stärker ausgeprägt als bei den Erwachsenen. Kehrten die Probanden in Gesellschaft zurück, fühlten sie sich sehr viel wacher als wenn sie sich schon eine ganze Weile in Gesellschaft befunden hatten. In dieser Untersuchung finden sich erste Hinweise auf andere Funktionen als die für die Privatsphäre bisher herausgearbeiteten der Autonomiesicherung und des Schutzes der Intimität des Körpers, der Person und von Beziehungen. Die möglichen Funktionen des Alleinseins sollen nun systematisch, in vier Gruppen geordnet, genannt werden. 18 a) Entspannung und Erholung. Die Interaktion mit anderen Personen, sogar das einfache Zusammensein ohne explizite Interaktion wie beim Sich-in-öffentlichen-Räumen-Fortbewegen, erfordern eine aktive Leistung des Organismus und eine fokussierte Aufmerksamkeit. Sich von anderen zurückzuziehen erlaubt es, sich zu entspannen, das Aktivationsniveau zu senken und in der Aufmerksamkeit nachzulassen. Die prototypische Situation des erholsamen, weil entspannenden Rückzugs findet sich im Schlaf. Entspannend wirken alle Situationen mit geringer Stimulation und hoher Sicherheit, also des Schutzes vor unerwartet hereinbrechenden Stimulationen (s. die soeben referierte Untersuchung sowie 3.Kap., 2.4). Alleinsein bietet ein Minimum an sozialer Stimulation, noch nicht aber per se Sicherheit. Deshalb suchen Tiere wie Menschen zur Erholung besondere vertraute, sichere Orte, prototypisch ihre Wohnung auf. Zu beachten bleibt aber, daß die Abwesenheit anderer nicht unabdingbare Voraussetzung dafür ist, sich zu entspannen. Denn wenn Alleinsein zu Langeweile, Einsamkeit oder Angst fuhrt, fördert das nicht Siehe hierzu unter anderem die Ausfuhrungen in der Privatheitsliteratur (Kruse, 1980, 155ft; Wolfe & Laufer, 1974, Laufer & Wolfe, 1977) sowie z.T. in der Literatur zu Einsamkeit (s.u., 7.3).

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die Entspannung (dann wird es allerdings meist auch nicht freiwillig gesucht). Entspannung ist ebenso möglich mit vertrauten Personen, die dann gleich der Wohnung Sicherheit bieten und wenig Anforderungen an Aktivation, Aufmerksamkeit und vor allem Selbstkontrolle und das für diese erforderliche Selbstgewahrsein stellen. Seitens des Organismus steigt das Bedürfnis nach Erholung mit dem Grad der physischen und psychischen Ermüdung. Einen Sonderfall stellt eine Erkrankung des Organismus dar, die ihn global schwächt und dazu motiviert, sich zurückzuziehen. b) Für-sich-sein: Als zweite Gratifikation bietet Alleinsein die Möglichkeit, statt mit anderen Personen mit sich selbst zu kommunizieren. Man kann die Aufmerksamkeit den eigenen Gedanken zuwenden, sich besinnen und sammeln, Erfahrungen überdenken, zukünftige Handlungen planen und beide wiederholend oder antizipierend üben (rehearsal). Selbstreflexion dient der aktiven Assimilation und Integration von Erfahrungen. Hier findet sich eine unmittelbar identitätsstabilisierende Funktion des Alleinseins. In der Selbstkommunikation arbeitet die Person explizit an ihrem Bild von sich selbst und dadurch auch unmittelbar an sich selbst, ihren Handlungsdispositionen und intentionen. Indem sie Erfahrungen (im weitesten Sinne, also auch Empfindungen und Handlungstendenzen) in ihr Selbstbild integriert, sichert sie die Kontinuität mit sich selbst, ihre Selbstkonsistenz in verschiedenen Situationen, definiert sie sich in Verbindung mit und Abgrenzung gegenüber anderen (Identitätsaspekte #1, #2 und #3, s. l.Kap). Weiterhin dient die Selbstreflexion der Selbstbewertung (#6) und der mentalen ebenso wie der vorbereitend handelnden aktiven Bewältigung der Interaktionen mit der Umwelt (#4). 1 9 Sich mit sich selbst zu beschäftigen setzt wiederum eine Abschirmung gegen Reize voraus, gegen soziale oder physische Stimulation von außen oder gegen innere Anforderungen, die die Aufmerksamkeit auf sich ziehen; wiederum eignen sich dazu am besten sichere, vertraute Umgebungen. c) Konzentration auf eine Aufgabe: Eine dritte Funktion des Rückzugs von anderen Personen kann darin bestehen, sich ohne abgelenkt zu werden einem Objekt, einer Tätigkeit oder seinen Gedanken hinzugeben. Hierzu gehört einmal die konzentrierte Bewältigung von Aufgaben, wie von Hausaufgaben oder auch der von Csikszentmihalyi untersuchten Tätigkeiten des Operierens, Bergsteigens, professionell Tanzens und Malens (s. 3.Kap, 4 ). Leistungssituationen verlangen, Zur identitätsstabilisierenden Funktion des durch das Alleinsein ermöglichten Selbstkommunikation vgl. Westins (1970) Ausführungen zum Typus des Alleinseins, den er als 'solitude' bezeichnet; s.a. Wolfe und Laufer (1974) sowie Laufer und Wolfe (1977), die zwei Identitätsfunktionen von Privatheitssituationen aufzählen, die der Autonomie (s.o.) und die der Beschäftigung mit sich selbst.

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sich exklusiv auf die Erfordernisse der Tätigkeit zu konzentrieren (Laufer & Wolfe, 1977). Die jede Ablenkung verbietende Aufgabe muß nicht unbedingt als Leistungssituation aufgefaßt werden; der selbstevaluative Aspekt kann auch fehlen, wenn man sich in aller Ruhe, mit Muße und ohne Ziel vor Augen einer Aufgabe widmet. Schließlich kann auch der kreative, innovative Aspekt der Tätigkeit im Vordergrund stehen (Kruse, 1980, 161), bei der die Person Material formt und zu Neuem transformiert, wie beim Malen oder Zeichnen, evtl. beim Nähen und beim Musizieren, beim Schreiben von Gedichten, Aufsätzen oder eines Tagebuches (s. 6.Kap., 4.). Auch setzt die Bewältigung von Aufgaben nicht notwendigerweise voraus, daß man allein ist; Chirurgen operieren gemeinsam und der Tanz erfordert gewöhnlich einen Partner. Doch die soziale Interaktion ist in diesen Situationen eingeschränkt auf all jenes, was der Bewältigung der Aufgabe dienlich ist; auch die Witze und sticheligen bis anzüglichen Bemerkungen, die bei der Arbeit im OP fallen, dienen noch der Bewältigung der Aufgabe, nämlich der Bewältigung der aus der Arbeit resultierenden emotionalen Belastung und Anspannung. d) Flucht vor sozialen Interaktionen: Eine letzte Funktion des Alleinseins besteht in der Negation der Gesellschaft und Interaktion mit anderen. Situationsspezifisch mag man der Gesellschaft bestimmter Personen entfliehen wollen, die einen langweilen, einem unsympathisch sind, von denen man sich belästigt fühlt oder an die man nicht herankommt. Generalisierte Rückzugstendenzen finden sich bei bestimmten Stimmungen wie nervöser Gereiztheit und Ärgerlichkeit ebenso wie bei trauriger Verstimmtheit und Enttäuschung. Die Disposition, sich von anderen zurückzuziehen, findet sich bei vielen Neurosen. In der Agoraphobie findet aus Angst ein radikaler Rückzug aus öffentlichen Räumen und damit von den meisten Menschen statt, doch nicht von allen, denn meist gibt es wenige vertraute, sicherheitsgewährende Personen, denen man sich umso mehr zuwendet. Zu einem generalisierten Rückzug von allen Menschen kommt es hingegen in der Depression und den ihr verwandten Trauerreaktionen. Ebenfalls eine generalisierte Rückzugstendenz weisen schüchterne Personen mit massiven sozialen Ängsten auf. Diese vierte, letzte Motivklasse läßt sich lediglich ex negativo, als Vermeidung definieren, wobei das Gemiedene ebenso heterogen ist wie die resultierenden Situationen des Alleinseins. Die vier genannten Situationen des Alleinseins unterscheiden sich hinsichtlich des Ausmaßes der gesuchten Stimulation und so erzielten eigenen Aktivation, hinsichtlich der Vertrautheit und Sicherheit der aufgesuchten Situationen sowie hinsichtlich der erforderlichen Konzentration der Aufmerksamkeit. Gemeinsam ist ihnen, wie auch die zuletzt berich-

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tete Untersuchung bestätigt, daß das Ausmaß derjenigen Aufmerksamkeit minimiert wird, die dazu dient, sich das anderen dargebotene Bild zu vergegenwärtigen und kontrollieren. Tätigkeiten, die keiner der genannten Motivgruppen eindeutig zuzuordnen sind, sind das Tagträumen und solitäres Spielen. Sie erfordern eine sichere, vertraute Umgebung. Zugleich erfordern Tagträumen und Spielen keine hochkonzentrierte, sondern eher eine frei flottierende, ungerichtete Aufmerksamkeit. Sie überschneiden sich mit der Selbstkommunikation (b) ebenso wie mit kreativen Tätigkeiten (c - s. 6.Kap., 4.) Mechanismen: Alleinsein und In-Ruhe-gelassen-Werden sind am besten durch räumliche Vorkehrungen und Handlungen zu erreichen. Man kann sich von anderen entfernen und einen verlassenen Ort aufsuchen. Ist dieser aber jedem gleichermaßen zugänglich oder lädt gar zum Verweilen auf, dient er kaum seinem Zweck. Deshalb eignen sich manche Orte besser für das Alleinsein, am besten solche, die der räumlichen Intimoder Privatsphäre zugerechnet und als solche respektiert werden. Neben der Möglichkeit, sich örtlich in ein eigenes Zimmer oder Wohnung oder auch nur vorübergehend besetzbare Orte wie eine Toilette zurückzuziehen bietet sich als weitere Möglichkeit alleinzusein, das Weite zu suchen, also solche Räume, die nicht als Privatraum gelten, sondern öffentlich zugänglich sind, aber überhaupt (physisches Alleinsein) oder zumindest von wahrscheinlichen Interaktionspartnern (Alleinsein der Anonymität) wenig frequentiert werden, wie ruhige Zonen in einem öffentlichen Gebäude, Parks, die freie Natur oder besonders unzugängliche Orte wie Berggipfel, das Meer und die Lüfte 20 Vergleichen wir die positiven Funktionen des Alleinseins mit den beiden Hauptfunktionen von Privatheit, nämlich der Sicherung von Autonomie und der Ermöglichung intimer Beziehungen mit sich selbst und anderen, dann zeigen sich auf dieser Ebene der globalen Funktionen weitgehende Überschneidungen. Die Sicherung der Autonomie der Person gilt ebenso für das gesuchte Alleinsein, fällt es doch fast in eins mit der hier besonders gemeinten Situation solitärer Privatheit. Intime Beziehungen können ebenso wie das Alleinsein erstens Entspannung und Erholung bieten, da man sich in ihnen auf den anderen verlassen kann, sich nicht vor ihm schützen und ihm gegenüber nicht strategisch verhalten muß. Zweitens ähnelt die Kommunikation mit einem Intimus am ehesten der Selbstkommunikation, da man sich ihm Eine Form des Suchens von Alleinsein wurde nicht genannt, da sie nicht alltäglich ist, nämlich sich für sehr lange Zeiten in die Natur zurückziehen, sei es, um dort Abenteuer zu bestehen, sei es, um, wie die Eremiten, sich dort lediglich aufzuhalten. Suedfeld (1982; 1988) streicht die positive Erlebnisqualität hervor, die solche Situationen haben können; ähnlich Situationen der sensorischen Isolation könne sich der Mensch in diesen Situationen ganz seinen Gedanken und Gefühlen hingeben und mystisch sich mit Natur und Gott vereint erleben.

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weitestgehend öffnen und erwarten kann, daß er nicht eigene Interessen im Gespräch verfolgt, sondern die des Sprechers ernstnimmt; in intimen Gesprächen kann man ohne Zensur noch unreife Empfindungen und Überlegungen durchspielen. Drittens kann man zu einer intim vertrauten Person vor dem Ärger, den Ängsten und Enttäuschungen fliehen, die in weniger intimen Interaktionen ausgelöst werden, dienen intime Beziehungen doch u.a. zur gegenseitigen Bewältigung negativer Stimmungen und Affekte. Doch ganz geht der Vergleich nicht auf. Obwohl in intimen Beziehungen negative Affekte am ehesten zu verarbeiten und aufzuheben sind, können in ihnen auch Verstimmungen und Konflikte entstehen, sogar solche besonderer Intensität, vor denen man dann flüchten möchte, indem man sich zurückzieht. Und obwohl intime Beziehungen in gewisser Weise das geringste Ausmaß gesteuerter Selbstdarstellung und Selbstaufmerksamkeit erfordern, verlangen sie andererseits ein besonders hohes Ausmaß an emotionalem und kognitivem Eingehen auf eine andere Person, das wie alle Interaktionen Erholungspausen erfordert. Schließlich ermöglicht Alleinsein die Konzentration auf eine objektgerichtete Tätigkeit, bei der auch eine intime Bezugsperson stören würde (dritte Funktion des Alleinseins).

6. Raum und Identität Den persönlichen Raum hatten wir als körperzentrischen und somit singulären, mobilen Raum eingeführt, persönliche Orte hingegen als stationäre, aufsuch- und verlaßbare Räume. Als Prototyp des persönlichen Ortes hatte uns das eigene Zimmer bzw. die Wohnung gegolten. Weiten wir nun den Blick auf weniger personzentrierte Orte und fragen nach dem Charakter der Beziehungen, die Menschen zu Orten unterhalten können. Dies dient uns zugleich dazu, die spezifischen Funktionen persönlicher Räume und Orte auf die vorangegangenen allgemeineren Überlegungen zurückzubeziehen. Im ersten Abschnitt gehe ich von Versuchen aus, die Mechanismen der Sicherheits- und Neugiermotivation auf komplexe Umweltausschnitte anzuwenden, einmal ausgehend vom experimentellen Paradigma, zum anderen von der Bindung des Kleinkindes an seine Bezugsperson (6.1). Im nächsten Abschnitt soll das Verhältnis von Bindung und Identität geklärt werden, und zwar am Beispiel der ökopsychologischen Begriffe der Ortsidentität und der Ortsbindung (6.2). Schließlich werden die einzelnen Funktionen persönlicher Räume auf ihre Bedeutung für die Identität hin zu untersuchen sein (6.3).

6. Raum und Identität

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6.1 Präferenz und Bindung Komplexität und Präferenz von Umwelten Im dritten Kapitel hatten wir unter Rückgriff auf Berlyne das Interesse an und die Präferenz von Objekten auf deren Komplexität bezogen. In experimentellen Studien mit künstlichen visuellen Stimuli zeigte sich, daß ein mittleres Niveau an Komplexität und Neuheit sowohl Interesse als auch Bevorzugung maximiert. Um zu prüfen, inwieweit dieses Modell bzw. das im dritten Kapitel (2.4), am Vorbild der Bindung orientiert, um die Sicherheitsmotivation ergänzte Modell speziell auf persönliche Räume anwendbar ist, wenden wir uns weiteren experimentellen Befunden zu. Wohlwill (1968) übertrug die von Berlyne behauptete Beziehung auf die Bevorzugung von alltäglicheren komplexen Urteilsobjekten, nämlich auf die von Kunstwerken sowie Landschaften und städtischen Umwelten. Doch dabei zeigte sich die erwartete umgekehrte U-Kurve zwischen Komplexität des Objekts und Präferenz nur sehr schwach ausgeprägt. Auch Kaplan und Kollegen (1972) untersuchten dann Photographien von gebauten und natürlichen Umgebungen und fanden unerwarteterweise eine lineare Beziehung zwischen Komplexität und Bevorzugung innerhalb eines jeden der beiden Bereiche. Nahm man jedoch alle Photos zusammen, überwog die Bevorzugung natürlicher Landschaften gegenüber gebauten Umgebungen. Daraufhin versuchte Wohlwill (1976), noch komplexere Aufnahmen in seine Versuche aufzunehmen, und fand statt der linearen dann doch die erwartete umgekehrte U-Kurve für gebaute Umgebungen. Er konnte jedoch keine vergleichbar komplexen Aufnahmen natürlicher Umwelten konstruieren, so daß sich für diese wiederum eine lineare Beziehung ergab. Darüber hinaus bestätigte Wohlwill die sehr viel höhere Attraktivität von Landschaften, also eines Inhaltsfaktors, der nicht informationstheoretisch ä la Berlyne aufzulösen ist. Kaplan und Kaplan (1982) entwickelten schließlich ein an Lynch (1960) anknüpfendes vierfaktorielles Modell, um Präferenzurteile gegenüber Umwelten zu erklären. Zwei Faktoren sind konservativer Natur und maximieren die Verständlichkeit der Umwelt, nämlich die Kohärenz oder Stimmigkeit der Szene sowie die Lesbarkeit oder Einprägsamkeit der Umwelt, die die Leichtigkeit, mit der Hinweisreize zu entschlüsseln sind, bezeichnet. Die beiden anderen Faktoren sind innovativer Natur, da sie zur Exploration der Umwelt einladen, nämlich die Komplexität und die Mysteriosität der Umwelt. Letztere bezeichnet die Andeutung versteckter, noch zu entdeckender Informationen. Konservative Aspekte garantieren ein Minimum an Orientierung, während innovative Aspekte zum Lernen und Verbessern der Beherrschung der Umwelt anregen. Die beiden Aspekte entsprechen der Sicherheit bzw. dem Interesse als

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IV. Räume und Orte

motivierenden Zielzuständen in dem im dritten Kapitel entwickelten Modell. Doch auch diese Konzeption weist die Beschränkung auf, daß sie anhand experimentell manipulierbarer Umwelten, nämlich vom Untersucher ausgesuchter Photographien von Szenarien entwickelt wurde, die den Probanden unbekannt waren. Die Vertrautheit mit der Umwelt und das Ausmaß des persönlichen Bezugs zu ihr konnten mithin nicht berücksichtigt werden. Untersucht wurden Präferenzdeterminanten, die in Bildern von unbekannten Umwelten enthalten sind. Zwar fuhrt Kaplan (1987) die angeborene Suche nach Habitats, also lebbaren, bedürfnisbefriedigenden Umwelten als über informationstheoretische Überlegungen hinausgehendes Argument ein, versteht diese Tendenz aber quasi zoologisch und übersetzt sie nicht psychologisch. 21 Denn dann müßte er konkreter auf menschliche Wohn- und Rekreationsbedürfnisse eingehen, was u.a. bedeuten würde, a) pragmatische Präferenzen praktisch erlebbarer, natürlicher (und nicht photographierter) Umwelten zu untersuchen, und b) die individuelle biographische oder zumindest Zeitdimension zu berücksichtigen, um individuelle Beziehungen zu bestimmten Umwelten zu erfassen. Es gelang ihm zwar, Berlynes Schema zu konkretisieren und differenzieren, doch bleibt auch sein Schema noch zu abstrakt. Jene beiden von Kaplan vernachlässigten Aspekte spielen aber gerade für das menschliche Habitat eine zentrale Rolle. Auch bei der abhängigen Variable schränkt sich Kaplan zu sehr ein. Präferenz ist eine sehr einfache Reaktion im Vergleich beispielsweise zu den beiden emotionalen Bezügen zu partikularen Objekten, die schon im dritten Kapitel genannt wurden, nämlich der emotionalen Bindung an sie und der Identifizierung mit ihnen, die sich auf die Präferenz von Objekten und Umwelten auswirken.

Kaplan (1987) selbst hält die in seinem vierfaktoriellen Modell genannten formalen Aspekte für nicht hinreichend, um Umweltpräferenzen zu erklären. Die präferierten Umwelten müssen nicht nur die Möglichkeit der Informationsverarbeitung optimieren, sondern, so Kaplan, auch dem Überleben dienen, weshalb inhaltliche Aspekte die Wahl mitdeterminieren. So zeigt sich im Alter von 8 bis 11 Jahren eine Bevorzugung savannenähnlicher Landschaften vor allen anderen, die erst im Laufe der Adoleszenz der Bevorzugung anderer, wie Kaplan meint, vertrauterer Landschaften weicht (Balling & Falk, 1982). Außerdem fuhrt Kaplan die Attraktivität von Wasser, Bäumen und Buschwerk als inhaltliche Determinanten an. Die inhärente Attraktivität beider erklärt er evolutionstheoretisch: Die ursprüngliche Umwelt des Menschen sei die Savanne gewesen, und Wasser und Blätter signalisierten Befriedigungsmöglichkeiten für Durst, Hunger und Schutzbedürfnis. Besonders solche Umwelten, die einen Überblick und zugleich eine Rückzugsmöglichkeit bieten, würden bevorzugt (für partielle empirische Evidenzen zu dieser These bezüglich Kleinkindern s. Keller, Rickfelder & Audick, 1989).

6. Raum und Identität

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Raum und Ort - Parallelen zur Bindung des Kleinkindes Gibson definiert aus einer pragmatisch fundierten wahrnehmungspsychologischen Sicht Ort erst einmal abstrakt im Gegensatz zum Punkt im geometrischen Raum. Orte haben eine Ausdehnung, ohne notwendigerweise über scharfe Grenzen zu verfugen, und sind relativ zu anderen Orten lokalisiert. Pragmatisch gesehen sind Orte durch Wege miteinander verbunden. Orte können unterschiedliche Angebote wie Nahrung, Gefahr und Sicherheit bieten. Zu letzteren gehören speziell Behausungen und Verstecke (Gibson, 1979/1982, 35ff.; 147; 217). Der Geograph Tuan (1977) unterscheidet Ort von Raum. Der erlebte Raum zeichnet sich durch Offenheit und Bewegungsfreiheit aus; er lädt dazu ein, sich zu bewegen. Orte hingegen bieten Stabilität und Sicherheit; sie laden zum Verweilen und Pausieren ein. Raum wie Ort konstituieren sich über Bewegung, Raum über die potentielle Bewegung, Orte über den Gegensatz zur möglichen Bewegung. Offene weite Räume vermitteln, werden sie positiv erlebt, ein Gefühl der Freiheit, der Freiheit, sich ohne Hindernisse und Einschränkungen zu bewegen und handeln. Von solcher Freiheit träumen der Gefangene ebenso wie der an sein Bett gefesselte Kranke. Maschinen, speziell Fahrzeuge wie Fahrräder oder Automobile, vermögen diese Bewegungsfreiheit, und damit den Bereich eigenen Wirkens, noch erheblich zu vergrößern (ebd.). Erlebter Raum wandelt sich zum Ort, wenn man ihn erkundet und kennenlernt, sich mit ihm vertraut macht. Tuan nennt persönliche Orte intime Orte und fuhrt für sie all jene Charakteristika auf, die wir der Wohnung zugeschrieben haben: Sie bieten Schutz und Sicherheit, Stabilität und Kontinuität, sind vertraut und verläßlich. Tuan schlägt von diesen Qualitäten persönlicher Orte implizit den Bogen zu den ontogenetisch frühesten motivationalen Determinanten des Raumerlebens, der Bindung an die Mutterfigur. Ebenso wie die Nähe zur Mutterfigur in einem bestimmten Alter die Voraussetzung für die Handlungsfähigkeit des Kindes liefert - in Lewins Terminologie die Festigkeit des Bodens garantiert -, und nur ab und zu aufgesucht werden muß, dienen persönliche Orte als Basis, von der aus die Aktivitäten des Tages unternommen werden. Die Beziehung zu ihnen ist stabil, es besteht ein periodisch auftretender Wunsch nach Nähe, und ihr Verlust verursacht Trauer. Analog entsprächen offene weite Räume den vom Kleinkind neugierig erkundeten Räumen. Bei Kindern fallen Aufenthaltsort der Bindungsfigur und Wohnung meist in eins. Haben sie bis zum dritten Lebensjahr erst einmal eine gewisse Sicherheit ihrer Bindung an die Mutterfigur(en) erlangt, beginnen sie, sich eigenständig von der heimischen Wohnung zu entfernen. Ihr home-range vergrößert sich sukzessive, so wie zuvor ihre Fähigkeit, sich von der Bindungsfigur zu entfernen, gewachsen war.

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IV. Räume und Orte

Trotz der wachsenden Unabhängigkeit von zuhause scheinen sich die genannten Funktionen der Bindungsfigur im Laufe des Lebens, zwar abgeschwächt und bei verschiedenen Personen in unterschiedlichem Ausmaß, auf persönliche Orte übertragen zu können. Auch bestimmten Dingen, persönlichen Objekten, können diese Funktionen zukommen (s. 6.Kap.). Doch bestehen naheliegenderweise auch wichtige Unterschiede zwischen der Bindung des Kleinkindes an seine Bezugsperson und der Bindung des Erwachsenen an seine Wohnung. So ist die Bindung an die Wohnung doch meist sehr viel schwächer. Eine temporäre Trennung verursacht weder Schmerz und noch Protest, was nicht zuletzt in der Objektkonstanz des Erwachsenen begründet liegt, der weiß, daß er seine Wohnung bei Rückkehr wieder vorfinden wird, zumal sie sich nicht wie eine Person autonom fortbewegen kann. Auch umgekehrt findet sich keine völlige Parallele zwischen persönlichem Ort und Bindungsfigur. Von den genannten Funktionen persönlicher Orte (s. Schluß von 4.) weisen die des Schutzes, der Sicherheit und Vertrautheit, der ruhegönnenden Basis und der Stabilität Parallelen zur Funktion von Bindungspersonen, und zwar auch im Erwachsenenalter, auf. Andere Funktionen persönlicher Orte können nur von einem Ort, kaum aber von Personen erfüllt werden. Dazu zählen ihre Funktion als Bühne zur Selbstdarstellung und zum Empfang, als Ort zum Ansammeln persönlicher Objekte und der Körperpflege, als intime Beziehungen schützender Raum sowie als von der Person weitgehend beherrschter Raum. Schließlich können auch schon für das Kleinkind vertraute Räume und Gegenstände die Funktion der Bindungsperson partiell und temporär ersetzen, umgekehrt verfugt es aber noch nicht über eigene persönliche Räume, die zusätzliche Funktionen wie für den Erwachsenen erfüllen könnten. Es bedarf bei dem Vergleich zwischen Bindung an Personen und Bindung an Orte einer weiteren Präzisierung, nämlich der Art der Bindung. Bowlby definiert sie als angeborenes Motivationssystem, wovon bei der Bindung des Erwachsenen an seine Wohnung kaum die Rede sein kann, denn zu groß sind die interindividuellen Differenzen. Die dem Erwachsenen mögliche Reflexion legt denn weniger ein unmittelbar verhaltensregulierendes Steuerungssystem nahe als Handlungstendenzen, den Ort immer wieder aufzusuchen, die zwar selbstverständlich, aber reflektierbar sind und über Empfindungen und Überzeugungen vermittelt werden. So meint die Rede von der emotionalen Bindung an einen persönlichen Ort denn auch eher den rekurrierenden Wunsch, an diesen Ort zurückzukehren, als die automatische Aktivierung eines entsprechenden Verhaltenssystems. Auch offene Räume können eine starke Anziehung ausüben; es kann einen immer wieder an das Meer, in die Berge, in den Wald, überhaupt in

6. Raum und Identität

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die Ferne und die Fremde ziehen. Doch spricht man hier nicht von Bindung, sondern von Anziehung, da es sich nicht um bestimmte Orte, sondern unbestimmte, offene Gegenden handelt. Die Attraktivität ferner Orte entspricht im Bindungsmodell der Aktivierung der Neugiermotivation auf dem Hintergrund einer sicheren Basis - doch wie wir im sechsten Kapitel sehen werden, muß diese Analogie bei genauerem Hinsehen revidiert werden. Schon jetzt läßt sich aber einschränkend sagen, daß die eigene Wohnung zwar nicht zuvorderst, aber doch unter Umständen auch der Befriedigung des Interesses und der Neugierde, also explorativen Tätigkeiten Raum bieten mag. Denn Erwachsene kennen auch andere Formen des Erkundens als räumliche; alle symbolisch vermittelten Lerntätigkeiten erfordern eine gewisse Seklusion und Freiheit von Ablenkungen, die die Wohnung - je nach heimischen Arbeits- und Interaktionsanforderungen oft besser als andere Orte bieten kann. Nicht umsonst sind zwei der drei typischen Situationen des Alleinseins die des Hausaufgabenmachens und Arbeitens. Schließlich schlägt sich der Unterschied zwischen Ort und Person, an die eine Bindung besteht, darin nieder, daß die Bindung an einen persönlichen Ort i.S. eines Heimterritoriums die eigene Autonomie erhöht und sichert, sei es als Handlungsbasis, sei es als Handlungsfreiraum. Kleinkindliche Bindungsfiguren fungieren zwar auch als Handlungsbasis und ermöglichen so analog einer Wohnung Autonomie gegenüber der weiteren Umwelt, involvieren a) selbst aber ein starkes Maß an Abhängigkeit und b) bieten keinen Freiraum. Führer und Kaiser (1992) fanden in einer Fragebogenstudie entsprechend, daß Heimterritorien nicht nur Sicherheit, sondern auch Anregung bieten und Autonomie verleihen, und daß diese drei Angebote gleichstark mit der Bindung an das Zuhause korrelieren. Bislang haben wir die Bindung an einen Ort auf Heimterritorien beschränkt. Doch wenn man Kinder und Jugendliche nach ihren Lieblingsorten fragt, tauchen weitere, nämlich im öffentlichen Raum befindliche Orte auf, an die ebenfalls Bindungen bestehen, ohne daß es sich um persönliche Orte handeln müßte. Zwar bewegen Kinder sich ganz überwiegend innerhalb oder in der Nähe des Hauses, fragt man sie aber nach ihren Lieblingsorten, werden sehr viel häufiger die freie Natur sowie Verstecke außer- und innerhalb des Hauses genannt, die der Kontrolle oder zumindest der Aufmerksamkeit der Erwachsenen entzogen ist. In der Adoleszenz treten kommerzielle Treffpunkte und Autos hinzu (Korpela, 1989; s. Chawla, 1992). In diesen Fällen kann man durchaus von einer emotionalen Bindung an einen Ort sprechen, da Kinder und Jugendliche sich nicht nur gerne an ihnen aufhalten und immer wieder zu ihnen zurückkehren, sondern die Orte als emotional wesentlichen Teil ihres Handlungsraumes erleben. Das zeigt sich auch daran, daß in Erinnerungen Erwachsener an die Orte

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IV. Räume und Orte

ihrer Kindheit die Natur, Naturnischen wie Baumhäuser sowie vergessene oder versteckte Orte im Elternhaus eine überproportionale Bedeutung erhalten (Marcus, 1992). Chawla (1992) weist daraufhin, daß diese Beispiele zeigen, daß Ortsbindung eben nicht einfach das Erbe der frühkindlichen Bindung an die Mutterfigur antritt. Denn Orte, an die man emotional gebunden ist, können, wie sich hier erneut zeigt, gleichermaßen als sichere Basis wie als Erkundungsraum dienen.

6.2 Ortsbindung und Ortsidentität Wie verhalten sich nun die Begriffe der Bindung und der Identität zueinander? Da sich in der Ökopsychologie sowohl der Begriff der Ortsidentität (place-identity) wie der der Ortsbindung {place-attachment) finden, die sich beide auf Städte oder Stadtteile beziehen, wenden wir uns nun diesen zwischen Heimterritorien und offenen Räumen angesiedelten räumlichen Gebieten zu, um Aufschluß über das Verhältnis von räumlicher Bindung und räumlicher Identität zu gewinnen.

Ortsidentität Proshansky, Fabian und Kaminoff unternahmen 1983 in einem programmatischen Aufsatz den Versuch, alle identitätsrelevanten Aspekte von Orten einem einzigen Begriff, dem der Ortsidentität, zu subsumieren. Sie definieren sie als Substruktur der psychosozialen Identität, verstanden als überwiegend bewußte Ansammlung aller selbstbezogenen Überzeugungen und Wertungen. Ortsidentität umfasse die Gesamtheit der diversen Erinnerungen, Vorstellungen, Gefühle, Haltungen, Werte, Präferenzen, Bedeutungen und Auffassungen, die die alltägliche physische Umwelt der Person betreffen (ebd., 58f.). 22 Dieser Begriff von Ortsidentität bleibt reichlich vage. Er umfaßt mal bewußte, mal eher überwiegend nicht-bewußte Kognitionen, mal Gefühle und Handlungstendenzen, mal nur die Gegenwart, mal hauptsächlich die Vergangenheit. Bindung an Orte (place-attachment) fassen sie einfach als Teil der Ortsidentität auf. Ich halte es aber für sinnvoller, zwischen beiden zu unterscheiden. 22

Als Funktionen dieser Umweltkognitionen nennen sie die Sicherung der Wahrnehmung der Kontinuität mit sich selbst, die Unterstützung eingenommener Rollen, die Identität der Person symbolisch auszudrücken sowie gefährliche und unangenehme Teile der Umwelt zu bewältigen. Genaugenommen handelt es sich um Identitätsfunktionen der Umwelt, nicht um Funktionen der Ortsidentität im von den Autoren definierten Sinne eines Sammelsuriums selbstbezogener Kognitionen der Umwelt.

6. Raum und Identität

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Die Bindung an persönliche Orte ist normalerweise mehr eine gelebte als eine reflektierte. Persönliche Orte stabilisieren das Selbstgefühl, die subjektive Identität der Person. Bindung beschreibt eine Handlungsdisposition, die in der Funktion und Erlebnisqualität persönlicher Orte begründet ist. Ortsidentität hingegen läßt weitere soziale Kategorien wie Geschlechtsidentität, Rollenidentität, Gattungsidentität, ethnische und nationale Identität etc. anklingen. Ortsidentität verweist auf Ortsbezüge der Person, die sie mit einer Gruppe von Personen teilt und von anderen, nicht der Gruppe zugehörenden Personen unterscheidet. Sie dienen, ähnlich dem Eigennamen, der Identifizierung: Stellt man sich einem Fremden vor, nennt man außer seinem Namen auch seine Herkunft, seinen Wohn- oder Herkunftsort, vielleicht auch seinen Arbeitsplatz. Ortsidentität in diesem engeren Sinne ist Teil der über die Herkunft bestimmten Identität als Kind bestimmter Eltern und Teil einer größeren Familie. Ortsidentität als reflektierte Identität setzt die kognitive Fähigkeit voraus, sich eine Vorstellung von der Geographie der Stadt oder Landschaft zu machen, innerhalb derer man sich bewegt und die als Rahmen für die Ortung des eigenen Herkunfts- oder Standpunktes dient (cognitive map). Wichtiger noch scheint die Fähigkeit, Orte sozial kategorisieren zu können, als zu bestimmten Straßen, Stadtviertel, Städten oder Ländern gehörend (Piaget, 1924). Ortsidentität soll hier folglich als leicht kommunizierbare Zuordnung der eigenen Person zu bestimmten, für andere identifizierbaren Orten verstanden werden, mittels derer man sich gegenüber anderen identifizieren, d.h. als jemand Bestimmtes ausweisen kann. Die Orte, auf die die Ortsidentität verweist, müssen biographisch zentrale und offensichtliche Bühnen der Person sein oder gewesen sein, so daß die Person auch für andere über sie identifizierbar ist. Essentiell ergeben sich für biographisch mobile Personen zwei mögliche Formen der Ortsidentität, eine historische und eine aktuelle. Straus (1930) unterschied in diesem Sinne zwischen Heimat und Aufenthalt. Wegen der Erfordernis der leichten Kommunizierbarkeit bezieht sich die Ortsidentität hauptsächlich auf öffentliche Orte wie Städte, Stadtteile oder Gegenden, weniger jedoch auf persönliche Räume wie Interieurs von Wohnungen.

Sich-Identifizieren

mit Wohnorten

Zu dieser objektiven, sozialen und zuschreibbaren Identität gehört jedoch auch die subjektive Ortsidentität, die sich darin ausdrückt, daß man nicht nur mitteilt "Ich komme aus Berlin", sondern "Ich fühle mich als Berliner", oder auch regional, "Ich fühle mich als Schwabe". Proshansky übergeht diese aktive subjektive Handlung bzw. Haltung, das Sich-Ver-

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IV. Räume und Orte

halten zum eigenen Lebensraum, das Sich-Identifizieren oder Des-Identifizieren. Die subjektive Ausformung der Ortsidentität hängt dann von den Identifizierungen der Person ab, die sich mit ihrem ursprünglichen Herkunftsort identifizieren bzw. sich in ihre je neuen Wohnorte einleben und mit diesen identifizieren mag. Einflüsse auf die Wahrscheinlichkeit, daß sich eine Person mit einer gegebenen Wohnumwelt identifiziert, sind überwiegend auf der Objektseite, aus der Sicht der Planer und Bauer untersucht worden. Die einen nennen als Einflußgröße das Ausmaß, in dem die Umwelt die physischen und sozialen Bedürfnisse der Person befriedigt (Proshansky et al., 1983, 76), andere nennen global das Ausmaß der Passung zwischen Umwelt und Person; dazu gehöre, daß der Ort Bedürfnisse befriedigt, Handlungsspielraum läßt und Neugier weckt (Stokols & Shumaker, 1981). In einer Befragung nannten Bewohner als Gründe dafür, daß in ihrem Wohngebiet ein lokales Zugehörigkeitsgefühl herrscht, seine Homogenität, die Stabilität des Gebiets und der Bewohner sowie das Ausmaß sozialer Kontakte; außerdem erwies sich die Präsenz distinkter, ja einzigartiger Elemente (landmarks) als förderlich (Schneider, 1986). Subjektseits fanden sich in dieser Untersuchung zwei Haupteinflüsse auf die Identifizierung mit der eigenen Wohngegend, nämlich das Ausmaß biographischer Bezüge der Gegend in Abhängigkeit von der Wohndauer und des dort Geboren- und Aufgewachsenseins sowie das Ausmaß der Beteiligung an lokalen Aktivitäten. Eine besondere Ausformung der Identifizierung mit einem Ort findet im deutschen Begriff der Heimat seinen Ausdruck, der einen gegenüber Veränderungen resistenten Schutzraum emotional überhöht und nostalgisch verklärt: Diesen aus dem 19. Jahrhundert stammenden HeimatbegrifF charakterisiert Bausinger als "Kompensationsraum, in dem die Versagungen und Unsicherheiten des eigenen Lebens ausgeglichen werden, in dem aber auch die Annehmlichkeiten des eigenen Lebens überhöht erscheinen" (Bausinger, 1984, 15). Genauso wie bei der Überhöhung des Wohnlichen zum Heimeligen (s.o.) handelt es sich um eine defensive Identifizierung mit einer idealisierten Sicht bestimmter Arten von Wohnorten (Land, romantische Universitätsstadt, Vergangenheit - s. Bausinger, 1984), die meist durch einen forcierten, nicht selbst initiierten Wandel gewohnter Lebensräume motiviert ist.

Ortsbindung und Ortsidentität Insoweit man sich mit einem öffentlichen Ort identifiziert, fühlt man sich auch diesem Ort zugehörig und ihm verbunden. Hier gehen also doch Ortsbindung und zumindest subjektive Ortsidentität empirisch ineinander auf. Doch kann Ortsbindung als der umfassendere Begriff gelten, der mehr als nur die subjektive Komponente der Ortsidentität umfaßt.

6. Raum und Identität

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Ortsidentität als der soziologischere Begriff der beiden, der aus einer sozialen Kategorisierung resultiert, impliziert die Wahl eines zentralen Ortes als Bezugspunkt der Identität in Abgrenzung zu anderen möglichen Orten ("Ich bin Berliner, aber nicht Hamburger, Münchener, Mailänder"), während die Metapher (und genaugenommen auch der psychologische Begriff) der Ortsbindung a) multiple Ortsbezüge zuläßt; da Ortsbindung zugleich ein subjektiveres Phänomen ist und das Erleben und die Handlungstendenzen von Personen beschreibt, muß sie b) auch nicht die Bedingung der einfachen Kommunizierbarkeit erfüllen, kann sich also auch auf nicht-öffentliche Orte beziehen, die über keine Adresse verfügen. Der ledige und viel herumreisende Banker mit wechselnden Wohnorten in verschiedenen Kontinenten beispielsweise kann starke Bindungen an spezifische Orte ausbilden, die er mag, die ihm vertraut sind, die er gern wieder aufsucht, ohne daß er eine auf sie bezogene Ortsidentität ausbilden müßte. Man kann sich einem Ort verbunden fühlen, auch wenn er nicht einen der momentanen Lebensschwerpunkte darstellt. Während c) emotionale Verbundenheit und emotionale Bindung an einen Ort die positiven, auf den Ort gerichteten Gefühle der Person betonen, akzentuiert der Begriff der Ortsidentität Aspekte der Identität der Person selbst. Ortsidentität kann sich deshalb nicht auf einen zwar geliebten Ort beziehen, an dem die Person aber nie gelebt hat und der keine weitere lebenspraktische Bedeutung hat. Sie muß sich auf den momentanen Lebensraum der Person oder auf ihre örtliche Herkunft beziehen ("Er ist ein gebürtiger Thüringer"). Der Begriff der emotionalen Ortsbindung umfaßt d) sowohl ein faktisches, selbstverständliches und unreflektiertes Verwurzeltsein wie auch das Gewahrwerden und Reflektieren der eigenen Bindung an einen Ort bis hin zur ideologisierenden Überhöhung. Während Tuan (1980) die beiden kategorisch trennen möchte, halte ich eine Art pragmatischen Modells für sinnvoller, das vorsieht, daß emotionale Ortsbindung dann bewußt wird, wenn es zu Unterbrechungen kommt, wie in Form von Einbrüchen (s.o.), Umzügen (Fischer & Fischer, 1981; s.u.) oder außergewöhnlich positiven oder negativen Erlebnissen (s. z.B. Stokols & Shumaker, 1981). Anzumerken bleibt, daß von Ortsidentität und Ortsbindung schließlich die Zufriedenheit mit dem Wohnort zu unterscheiden ist, die von beiden empirisch unabhängig ist (Hummon, 1992). Ortsbindung beschreibt also primär eine aktuelle Handlungsdisposition. Die Möglichkeit, sich an einen Ort zu binden, und die Möglichkeit, ihn aufzusuchen (sowie natürlich seine Qualitäten), wirken sich je nachdem, wie wichtig eine Ortsbindung für das Individuum ist, stabilisierend auf das Selbstgefühl, die subjektive Identität aus, während Ortsidentität keine unmittelbare Handlungsdisposition gegenüber diesem Ort bezeichnet, sondern eine Zuordnung der eigenen Person zu einem Ort, der sich nicht mit dem aktuell genutzten Raum überschneiden muß.

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IV. Räume und Orte

Die hier vorgenommene Begriffsbestimmung fällt ganz offensichtlich sehr viel enger aus als die von Proshansky; der Vorteil der damit gewonnenen größeren begrifflichen Präzision überwiegt den Verlust eines unscharfen und deshalb vielleicht anregenden Konzepts. Proshansky faßt auch die Funktionen von Umwelten für die Identität als Teil seiner place-identity auf, denen wir uns nun als von Ortsidentität und Ortsbindung analytisch trennbarem Phänomen zuwenden.

6.3 Identitätsiunktionen von Umwelten Neben der Möglichkeit, sich mit Bezug auf einen Ort zu definieren (Ortsidentität), sind im Laufe des Kapitels immer wieder Funktionen von Umwelten genannt worden, die mittel- und unmittelbar auch der Identitätsdefinition und -Stabilisierung dienen. Diese Identitätsbezüge sollen hier, nach den sechs Identitätsaspekten gegliedert, zusammengefaßt werden. Räumliche Umwelten ermöglichen es sowohl, sich von anderen zu entfernen wie sich ihnen anzunähern. Beides kann mittels des persönlichen Raums und persönlicher Orte reguliert werden. Räumliche Strukturen können beides erleichtern, so durch Abgrenzungen eigener Räume und Eingrenzungen von Kommunikationsräumen. Sich zu entfernen bzw. anzunähern sind räumliche Ausdrucksformen dafür, sich von anderen zu unterscheiden bzw. zu ihnen zu gehören (Identitätsaspekt #1, s. l .Kap ). Manche Beziehungen, wie die zwischen Nachbarn, und manche Zugehörigkeiten, wie die durch Ortsidentität indizierten, sind gar exklusiv räumlich definiert. Die Stabilität von Umwelten unterstützt kognitiv und emotional die Kontinuität der Person mit sich selbst (Identitätsaspekt #2). Dies gilt gleichermaßen fiir Bezugspersonen wie für persönliche Umwelten mit ihren Möglichkeiten zur Ansammlung biographisch bedeutsamer Objekte und der ihnen eigenen Stabilität. Stabile Umwelten tragen auch zur synchronen Konsistenz von Personen bei (#3), indem sie einerseits Handlungsroutinen organisieren und andererseits einen örtlichen Kristallisationspunkt für die Identität der Person bilden können. Das Motiv, die Fähigkeit, aktiv auf die Umwelt einzuwirken, zu optimieren (#4), zog sich wie ein roter Faden durch dieses Kapitel. Persönliche Räume und Orte definieren Räume, die mehr unter der Herrschaft der jeweiligen Person als der anderer Personen stehen. Da es sich um aktuell bzw. virtuell personzentrische Räume handelt, sichern sie nicht nur die Herrschaft über diesen Raum, sondern zugleich die der Person über sich selbst, also ihre Autonomie gegenüber Außeneinflüssen. Hier stossen wir auf eine strukturelle Übereinstimmung von persönlichen Räumen und dem Besitz von Dingen (s. 2.Kap). Persönliche Räume

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werden selbst unmittelbar besessen: Die Kriterien für den psychologischen BesitzbegrifF treffen alle auch auf persönliche Räume zu (exklusiver, perspektivischer Bezug auf die Person; Nähe und Nutzung; Kontinuität der Beziehung). Auch die im zweiten Kapitel genannten psychologischen Funktionen von Besitz, die alle zu diesem vierten Identitätsaspekt gehören (Herrschaft über ihn, Autonomie gegenüber Dritten, Selbstverwirklichung), treffen auf persönliche Räume zu. Persönliche Räume sind körpernah und fungieren, da sie aktuell oder virtuell körperzentrisch sind, in vielerlei Hinsicht wie eine zweite Haut; sie begrenzen die Person (#5). Wie der Körper bieten sie Schutz, sind vertraut, werden normalerweise als warm erlebt, begrenzen die Person, erfordern ihrerseits keine Aufmerksamkeit, werden mit der Person identifiziert und dienen ihr als Medium der Selbstdarstellung; persönliche Räume sind der Person relativ kontinuierlich verbunden, und ebenso wie der Körper ermöglichen sie intime Beziehungen. All dies gilt nicht für weite, offene Räume, und nur begrenzt für Wohnorte. Schließlich kann sich die Wertschätzung der eigenen Person, das Selbstwertgefuhl (#6) auf alle Räume beziehen, mit denen sie sich identifiziert, also auf persönliche Räume, aber auch auf Wohnorte. Persönliche Räume geben zudem Auskunft über die Person und ermöglichen ihre soziale Kategorisierung durch andere ebenso wie sie es der Person ermöglichen, ihrerseits den Prozess des Kategorisiertwerdens durch Selbstdarstellung zu beeinflussen; Aspekte der Zugehörigkeiten wie der Individualität in Termini einer einmaligen Kombination sozialer Kategorien können so durch die Ausgestaltung von Räumen zum Ausdruck gebracht werden (soziale und personale Identität i.S. Goffmans) (objektive Identität - #7). Zugleich stabilisieren persönliche Räume das Selbstgefühl (subjektive Identität - #7), da sie vertraut sind und dennoch genügend Anregungsgehalt bieten sowie der Regeneration und dem Unterhalt intimer Beziehungen dienen. Zugleich werden sie als ichhaft erlebt, und ermöglichen so eine konkretisierte Arbeit an sich selbst und eine konkretisierte Regulation der Grenzen und Beziehungen zu anderen. In Tabelle 4.2 habe ich die Identitätsbezüge der für persönliche Orte benannten Funktionen aufgeführt (vgl. Tab. 2.1). Es zeigt sich also, daß nicht nur die unmittelbar identitätsstiftenden und expressiven Funktionen persönlicher Orte, nämlich die der Kontinuität und Selbstdarstellung, Identitätsbezüge aufweisen, sondern die anderen Funktionen persönlicher Orte zumindest indirekt ebenfalls die Person definieren und ihr ein Gefühl der Identität mit sich selbst vermitteln können. Auf die Rolle der Kommunikation mit intimen Anderen und mit sich selbst für die Stabilisierung und Fortentwicklung der psychosozialen Identität kommen wir im nächsten Kapitel erneut zu sprechen. Dort werden wir auch erneut auf das Thema der Aufmerksamkeitsfokussierung und -richtung zu sprechen kommen, das wir in diesem und dem vergan-

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IV. Räume und Orte

genen Kapitel immer wieder berührten. In diesem Kapitel zeichnete sich ab, daß persönliche Orte, Privatheit und Alleinsein es erlauben, das Selbstgewahrsein, also die Selbstbeurteilung aus der potentiellen Perspektive eines Gegenüber, zu verringern, was sowohl eine gewisse Entspannung wie die freiere Äußerung spontaner Regungen und Gedanken, sei es im intimen Gespräch, sei es im Spiel oder bei einer kreativen Tätigkeit erleichtert.

Tabelle 4.2

Identitätsbezüge der Funktionen von persönlichen Orten

Funktionen persönlicher Orte: Schutz

Identitätsaspekte:

Herr schaft über Raum

Ver- Regetraut- neraheit tion

Spiel Konti& nuität Kreativität

SelbstdarStellung

intime Beziehungen

1. Zugehörigkeit Abgrenzung 2. Kontinuität

X

X

X

X

X

X

X

X

3. Konsistenz

X

X

X

X

X

X

X

X X

X

4. Autonomie Wirksamkeit 5. Körper 6. Wertschätzung

X

X

X X

Die Bindung an und Funktionen von persönlichen Orten ließen sich teilweise in Analogie zur Bindung des Kleinkindes an die primäre Bezugsperson setzen. Ähnlich primären Bezugspersonen können persönliche Orte verstanden werden als solche Zonen des Handlungsfeldes, denen ein generalisierter AufForderungscharakter zukommt, der nicht primär zu spezifischen Handlungen anreizt, sondern einen Hintergrund der Sicherheit und Selbstversicherung bietet, der für die Befriedigung spezifischer Bedürfnisse eine Voraussetzung darstellt. Sie sprechen ein globales Sicherheits- und Identitätsmotiv an (s. 3.Kap, 1.2).

7. Übergang Adoleszenz

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7. Persönliche Räume, Orte und Objekte: Übergänge - das Beispiel der Adoleszenz Abschließend werde ich persönliche Räume und persönliche Objekte zueinander in Beziehung setzen, erst allgemein (7.1), dann für den aufschlußreichen Fall des räumlichen Übergangs, in dem der Verlust des persönlichen Ortes persönlichen Dingen, so die These, eine verstärkte, nämlich kompensatorische Bedeutung zukommen läßt (7.2). Schließlich werde ich die Adoleszenz als normativen Übergang deuten, für den die zuvor vertretene These verstärkt gelten sollte (7.3).

7.1 Persönliche Räume und persönliche Objekte Was haben nun persönliche Räume mit persönlichen Objekten zu tun? Diese unterscheiden sich von Orten dadurch, daß sie mobiler sind, meist transportabel sind oder gar auf dem Körper getragen werden können. Zu beiden können emotionale Bindungen bestehen, die dazu veranlassen, sie immer wieder aufzusuchen. Im Falle von Dingen kann man sich das Aufsuchen erleichtern, indem man sie entweder immer bei sich trägt, was bei kleinen Dingen wie Schmuck, Talisman, Kleidung oder einem Stift möglich ist, oder sie zumindest so aufbewahrt, daß sie jederzeit zugänglich sind. Als idealer Aufbewahrungsort kann demnach der Ort gelten, an dem man sich am häufigsten aufhält, beispielsweise die Wohnung. Eine erste mögliche Beziehung zwischen persönlichem Objekt und persönlichem Raum besteht also darin, daß persönliche Objekte innerhalb des persönlichen Raums bzw. an einem persönlichen Orten aufbewahrt werden. Doch die einfache Erreichbarkeit ist nicht der einzige oder auch nur wichtigste Grund dafür, persönliche Objekte in der Wohnung bzw. dem eigenen Zimmer aufzubewahren. Vielmehr zeigte sich am Beispiel des Wohnungseinbruchs, daß viele persönliche Objekte durch ihren Aufbewahrungsort anderen Personen entzogen werden. Da persönliche Objekte meist Teil der Privatsphäre sind, legt die Person Wert darauf zu kontrollieren, wer physischen Zugriff auf ihre persönlichen Objekte hat, wer die Dinge selbst (Tagebuch, Liebesbriefe) bzw. die Person im Umgang mit ihnen betrachten oder hören kann, beispielsweise beim möglicherweise infantil wirkenden Umgang mit dem Teddybären oder leicht verrückt wirkenden Selbstgespräch mit dem Foto oder einer Reliquie des Vaters (s. 5.2). Der Ausschluß Dritter von persönlichen Objekten kann verschiedene Gründe haben. Es mag es wichtig sein, uneingeschränkt und damit allein

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IV. Räume und Orte

über sie zu verfugen, wenn es sich um Gebrauchsgegenstände handelt, wie jederzeit das Auto benutzen zu können oder es vor Beschädigung durch andere zu bewahren. Häufiger und wichtiger ist aber wahrscheinlich der Schutz der persönlichen oder gar intimen Beziehung zu dem Ding, die erfordert, daß es niemand modifiziert (s. 4., 5.2). Zweitens kann die Person ihre intimen Äußerungen im Umgang mit dem Objekt bzw. das persönliche Objekt selbst als indirekte Form intimer Äußerung für sich behalten mögen; beobachtet sie jemand oder erfahrt etwas Intimes über die Person via des persönlichen Objekts, wäre dies beschämend (s. 5.3). Schließlich kann der Ausschluß Dritter von einem persönlichen Objekt dadurch motiviert sein, daß man im Umgang mit ihm nicht gestört werden möchte, sei es, um sich zu entspannen (mit einem Buch oder auf der Couch) oder um sich ihm konzentriert zuzuwenden wie beim Musizieren mit einem Musikinstrument oder dem Schreiben auf einem Computer, von Briefen oder dem Tagebuch (s. 5.4). Der Ausschluß Dritter, oder jedenfalls fernstehender, fremder Dritter, sichert zudem die Kontinuität der Beziehung zu dem persönlichen Objekt. Die Kontinuität kann zum einen wichtig sein, wenn es sich, wie oft, um einen individuellen Gegenstand handelt. Bei persönlichen Räumen hatten wir gesehen, wie wichtig der Prozeß der den Raum individualisierenden Aneignung beispielsweise einer frisch bezogenen Wohnung ist, um eine persönliche Beziehung zu ihr aufzubauen. Je individueller der Gegenstand, um so unersetzlicher wird er und umso schwerer wiegt sein Verlust. Zum anderen wächst die Vertrautheit mit einem Ding, je länger man es hat und nutzt, die bereits für sich ein Motiv abgeben kann, das Ding zu behalten. Oft unterstützen die an einem persönlichen Ort aufbewahrten persönlichen Objekte dessen Funktionen: Als vertraute Gebrauchsdinge entlasten sie von Aufmerksamkeitsanforderungen, sie mögen der Entspannung und Regeneration oder der Selbstreflexion dienen, zu spielerischer und kreativer Betätigung anregen, als altvertraute die Kontinuität der Person stützen, ihrer Selbstdarstellung dienen wie auch intime Beziehungen reflektieren (s. 4.4). Manche persönlichen Objekte werden nicht an persönlichen Orten aufbewahrt, sondern im persönlichen Raum i.e.S. ständig bei sich getragen. Durch diese intime Nähe wird das persönliche Objekt quasi Teil der Person in dem Sinne, daß andere es mit ihr identifizieren und ebenso die Person sich mit ihm identifiziert. Das kann öffentliche Identitätssymbole betreffen ebenso wie z.B. nicht als solche erkenntliche Talismane oder symbolische Partner (s. 5.Kap.). Schließlich ermöglicht das Bei-SichTragen persönlicher Objekte einen unmittelbar räumlichen, und das heißt die Nähesinne ansprechenden Kontakt. Besonders die ständige Berührung und feste Verbindung mit dem eigenen Körper läßt das Ding fast zu einem Teil des Körpers werden und stellt zugleich die räumliche Urform von Nähe her.

7. Übergang Adoleszenz

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Persönliche Objekte befinden sich nicht nur typischerweise an einem persönlichem Ort oder im persönlichen Raum, sondern manche sind mit ihnen teilweise gar identisch, d.h. die Objekte definieren zugleich persönliche Orte. So handelt es sich bei einem Schreibtisch, einem Sessel, einem Bett oder einer Badewanne zwar um Gegenstände, doch sind sie stationär und definieren Orte in dem Sinne, daß man sich an, auf oder in ihnen aufhält. Die drei zuletzt genannten Dinge definieren Rückzugsorte und erlauben zugleich, eine entspannte Haltung einzunehmen und zu ruhen. Vor allem das Bett und die als Entspannungsraum genutzte Badewanne stellen so etwas wie den Kern der Wohnung bzw. des eigenen Zimmers dar, je nach Lebensstil möglicherweise gar das Zentrum des Lebensraumes. Schließlich gibt es eine Gruppe mobiler persönlicher Objekte, die der Vehikel, die selbst ein Zwischending zwischen körperzentrischem persönlichem Raum und persönlichem Ort definieren. Das verschließbare Automobil bietet einen mobilen Schutzraum, während alle Vehikel zwar gerade der Entfernung von einem vertrauten persönlichen Ort, der Bewegung durch und Exploration von fremden Gegenden dienen, aber selbst eben doch als vertraute und Bewegungskräfite multiplizierende persönliche Objekte mit in die Ferne oder Fremde genommen werden. Es zeigt sich also, daß persönliche Objekte viel gemein haben mit persönlichen Räumen. Zum Abschluß des Kapitels soll eine Situation thematisiert werden, in der die Beziehung zu persönlichem Orten und persönlichen Objekten möglicherweise auseinandertreten, nämlich die des räumlichen Übergangs, die eine Trennung vom persönlichen Ort, nicht aber notwendigerweise von den mobileren persönlichen Objekten bedingt.

7.2 Übergänge zu neuen Umwelten Umfassende Veränderungen in der Beziehung zwischen Person und Umwelt können sowohl von Veränderungen der Person wie von solchen der Umwelt ausgehen. Übergänge sind eine spezifische Form der Veränderung der Person-Umwelt-Beziehung. Die Person verläßt eine ihr vertraute Umwelt und begibt sich in eine ihr neue Umwelt hinein. Lewin (1939) fuhrt die Adoleszenz als Paradebeispiel der sozialen Lokomotion an, also der Veränderung der sozialen Umwelt oder des sozialen Ortes. Die seit dem dritten Lebensjahr relativ beständige Umwelt des Kindes gerate durch die sexuelle Reifung und den Rollenwechsel vom Kind zum Jugendlichen erneut in eine Übergangsperiode. Es eröffnen sich ihm neue Handlungsmöglichkeiten, die ihm bislang verwehrt geblieben waren; zugleich desorientiert der Übergang, da sich viele neue Feldregionen entwickeln, die dem Jugendlichen noch unstrukturiert sind. Hinzu tritt, daß

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IV. Räume und Orte

ihm bislang vertraute Feldregionen wie der eigene Körper erneut fremd werden. Die Instabilität der psychologischen Umwelt führe zu einer Instabilität der Person; der Jugendliche verliert seinen festen Grund und werde deshalb leichter beeinflußbar. Die geographische, soziale und zeitliche Ausweitung der Umwelt des Jugendlichen geht einher mit einer sozialen Randposition, da der Status des Jugendlichen schlecht definiert zwischen dem des Kindes und dem des Erwachsenen liege, der soziale Ort mithin, an den der Jugendliche sich begibt, ihm nicht nur unbekannt ist, sondern auch per se schlecht definiert sei. Schließlich breche in der Adoleszenz die elterliche Autorität zusammen, womit der induzierte Aufforderungscharakter der Umwelt abnimmt (Lewin, 1931c). Wie schon betont, ist der Begriff des Übergangs nicht innerhalb Lewins Feldtheorie verwendbar, da sie sich auf einen subjektiven Umweltbegriff beschränkt, Übergang aber aus der Beobachterperspektive die Bewegung von einem Kontext in einen anderen beschreibt. Deshalb findet sich der Begriff selbst auch nicht bei Lewin, wohl aber bei Bronfenbrenner. Entwicklung läßt sich für ihn einerseits als die Transformation von Teilen des Exo- in ein Mesosystem beschreiben (1979b); andererseits ist Entwicklung im Zusammenhang mit Übergängen zu verstehen, das heißt sowohl als Konsequenz von als auch als Antrieb für Übergänge. Übergänge versteht Bronfenbrenner als solche von einer Umwelt zu einer anderen, also vom Meso- in bestimmte Teile des vormaligen Exosystems, oder auch als Rollenübergänge (1979a, 26). Übergänge werden umso leichter bewältigt, so Bronfenbrenner (1979a, 211), je mehr Verbindungen zwischen alter und neuer Umwelt bestehen (s. 3.2; Keller, Rickfelder & Audick, 1989). Er nennt als Beispiel Kinder, die von der Mutter in den Kindergarten begleitet werden und so eine Verbindung herstellen. Hormuth (1990) verallgemeinert die Hypothese dahingehend, daß Personen in einer neuen Umwelt anfanglich dazu tendieren, sich eine vertraute Insel zu schaffen. Ich möchte hier nur zwei Beispiele für Untersuchungen im Sinne Lewins bzw. Bronfenbrenners nennen, nämlich Arbeiten des in der Tradition Heinz Werners arbeitenden Seymour Wapner. Zum einen beschreibt er wie viele andere i.S. Lewins, wie sich die kognitive Landkarte im Zuge des Kennenlernens eines neuen Ortes differenziert und, wenn die Person vorhat, von einem Ort wegzuziehen, sie diesen bereits aus einer ferneren Perspektive mental repräsentiert (1981). Zum anderen berichten Wapner und Kollegen (1981) einen Befund, der die Hypothese Bronfenbrenners stützt, daß der Übergang zu einer neuen Umwelt erleichtert wird, wenn vertraute Umweltelemente aus der alten mit in die neue Umwelt hinübergenommen werden. Ähnlich der von Bronfenbrenner für Kinder und Mütter angeführten Beispiele hatte schon eine ältere Studie ergeben, daß jene Personen den Umzug ins Altersheim besser bewältigen, die den Kontakt zu bisherigen Bekannten aufrechterhalten (Bourestone & Tars, 1974). Wapner und Kollegen (1981) fanden

7. Übergang Adoleszenz

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nun, daß dieser Übergang auch von denjenigen besser bewältigt wird, die mehr persönliche Objekte mit sich nehmen. McCracken (1987) fand einen inversen Zusammenhang zwischen der Menge persönlicher Objekte, die bei einem solchen Umzug hatten mitgenommen werden können, und den Schwierigkeiten, die der Umzug bereitete, sowie seiner Bedrohlichkeit. 2 3 In gleichem Sinne fand Toyama, daß diejenigen am besten mit dem Umzug fertig wurden, denen es gelang, den Stil ihrer alten Wohungseinrichtung im Altersheim wiederherzustellen (1988). In einer älteren Studie stellten Morgan und Cushing (1966) fest, daß ehemalige psychiatrische Patienten, die in eine Rehabilitationsinstitution verlegt wurden, im Laufe von drei Jahren umso größere Fortschritte machten, je mehr persönliche Objekte sie anfanglich mitgebracht hatten; dieser Zusammenhang galt jedoch nur fiir Männer, nicht für Frauen, die im Schnitt mit mehr als doppelt so vielen Objekten angekommen waren. Ittelson und Kollegen (1976) erwähnen aus einer Studie von frisch nach New York umgezogenen Personen, daß diese häufig persönliche Objekte nannten, die sie mitgebracht hatten und die ihnen ihre neue Wohnung vertrauter erscheinen ließen. Schließlich geben Haustierbesitzer als Gelegenheiten, zu denen ihnen ihr Tier besonders wichtig ist, eben Trennungssituationen und depressiven Stimmungen auch zu 48% Umzüge an (Cain, 1985). Übergänge in eine neue Umwelt vermögen, je nach Radikalität des Bruchs und der Unterschiedlichkeit der beiden Umwelten, die Identität grundlegend zu verändern. Einzigartigkeit und Zugehörigkeit der Person sind immer relativ zu den Vergleichs- und Bezugspunkten ihrer Umwelt und verändern sich mit dieser; die Kontinuität mit sich selbst wird unterbrochen, wenn die kontinuitätsversichernde, da selbst stabile Umwelt entfallt; in einer neuen Umwelt wird es der Person umso schwerer fallen, selbstkonsistent zu agieren und sich zu erleben, je mehr sich die neue von der bisherigen Umwelt unterscheidet. Der Übergang zu einer neuen Umwelt wird die Identität der Person erst einmal aus dem Gleichgewicht bringen: ihr Verständnis von ihrer neuen Umwelt und entsprechend ihre Handlungsmöglichkeiten sind erst einmal begrenzt, und die Selbstbestätigung, die sie daraus bezieht, aktiv auf ihre Umwelt einzuwirken, ist ihr zum großen Teil entzogen; die Vertrautheit mit dem eigenen Körper wird durch einen Übergang bedroht, da sie in dem vertrauten Umgang mit der Umwelt oder zumindest Teilen von ihr gründet; und schließlich drohen bei einem Übergang die gewohnten Quellen des Selbstwertgefühls zu versiegen, die zu einem nicht unerheblichen Teil eine aktive Bewältigung

Beide Studien werden nur kursorisch berichtet, die eingesetzten Methoden können deshalb nicht beurteilt werden, und auch nicht, ob der berichtete Zusammenhang auch so zu deuten wäre, daß die optimistischeren und fähigeren Personen mehr Objekte mitnahmen, die sich aber nicht wegen der Objekte, sondern aufgrund ihrer besseren subjektiven Ausgangslage besser in ihre neue Situation einfanden.

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IV. Räume und Orte

der Umwelt, zumindest aber die Möglichkeit einer sinnvollen Interaktion mit ihr voraussetzen. Wie schon Lewin verdeutlichte, sind auch starke Veränderungen der Person selbst als Übergänge zu einer anderen Umwelt anzusehen, da der Aufforderungscharakter der Umwelt gleichermaßen von der Umwelt selbst wie von den Bedürfnissen und Motiven sowie den instrumentellen Möglichkeiten der Person abhängen. Veränderungen der Umwelt und der Person bedingen also einander. Hier beschäftigen wir uns erst einmal mit räumlichen Veränderungen in der Beziehung zwischen Person und Umwelt, wie sie der Begriff des Übergangs nahelegt. Wir hatten soeben bereits erste Evidenzen für die erleichternde Rolle der Konstanz persönlicher Objekte in Übergangssituationen, nämlich bei Umzügen, genannt. Wir wenden uns abschließend der Adoleszenz als Lebensphase des Rollenübergangs zu, die ihrerseits gehäuft Übergänge von einer Umwelt zu einer anderen, physisch wie sozial, mit sich bringt.

7.3 Übergänge in der Adoleszenz, Adoleszenz als Übergang Die Adoleszenz gilt traditionell als Phase des Übergangs von dem Status des unmündigen Kindes zu dem eines verantwortlichen Mitglieds der Gesellschaft. In diesem Entwicklungsprozeß individuiert sich der oder die Heranwachsende von den Eltern, entwickelt Individualität und Selbständigkeit, eine Voraussetzung erwachsener Verantwortlichkeit. Universell geht dies einher mit einer gewissen Ablösung, also räumlichen Trennung von Eltern und Elternhaus.

Adoleszenz als räumlicher Übergang - ethnologische

Evidenzen

Der Rollenübergang vom Kind zum Erwachsenen findet so einen auch räumlichen Ausdruck. Der Begriff des Übergangsritus wird heute meist auf Riten angewendet, die den Übergang vom Kind zum Erwachsenen markieren. Doch führte ihn van Gennep (1909) ursprünglich ein, um jegliche Riten zu bezeichnen, die den Übergang eines Individuums "aus einer genau definierten Situation in eine andere, ebenso genau definierte herbeifuhren" (1909/1986, 15). Sie bestehen aus drei Elementen, nämlich Trennungsriten, Schwellen- bzw. Transformationsriten und Angliederungsriten. Van Gennep wählt nun nicht zufällig räumliche Übergänge als Prototyp: Dazu zählen Grenzüberschreitungen (die Schwellenphase ist hier oft durch den Streifen Niemandsland zwischen zwei definierten Territorien gekennzeichnet) und Riten, die beim Durchschreiten einer Tür oder Tores (z.B. eines Triumphbogens) vollzogen werden. Auch Initiationsriten, die die Aufnahme in eine neue soziale Gruppe bewirken,

7. Übergang Adoleszenz

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umfassen eine deutliche liminale bzw. Schwellenphase, in der das Individuum von der alten Gruppe isoliert wird, ohne bereits in die neue aufgenommen zu sein, beispielsweise indem es einige Tage allein außerhalb des D o r f e s in Isolation zu verbringen, Tabus zu beachten und körperliche Strapazen zu ertragen hat. Victor Turner greift van Genneps Schema auf und geht ebenfalls auf den oft räumlichen Charakter der Schwellenphase ein: Diese bestehe oft

aus dem Durchschreiten von Türen oder Schwellen, aus Reisen (Pilgerfahrt) oder aus einem permanenten Wohnortwechsel (Turner, 1982/1989, 36f.). Die Schwellenphase ist in vielerlei Hinsicht der heutigen Adoleszenz als Lebensphase vergleichbar, in der Individuen keiner eindeutigen sozialen Gruppe mehr oder schon wieder angehören, sowie zusehends das elterliche Zuhause verlassen, ohne bereits stabile eigene persönliche Räume erworben zu haben. Turner erweitert van Genneps Schwellenphase zu einem Begriff der Communitas, wie sie, immer nur kurzfristig, in Erweckungsbewegungen angestrebt wird. Die Schwellenphasen von Übergangsriten zeichnen sich ebenso wie solche Erweckungsbewegungen durch den Gegensatz zur etablierten Sozialstruktur aus: Die normalen Gruppenzugehörigkeiten und sozialen Differenzierungen sind aufgehoben. Das zeigt sich in dem Verlust des Namens und in dem Verbot persönlichen Besitzes. "Als Schwellenwesen [besitzen sie] keinen Status, kein Eigentum, keine Insignien, keine weltliche Kleidung, also keinerlei Dinge [...], die auf einen Rang oder eine Position [...] verweisen - sie weisen nichts auf, was sie von ihren Mitneophyten oder -initianden unterscheiden könnte" (Turner, 1969/1986, 95; vgl. 126, 131). Turner verweist in diesem Zusammenhang auf die moderne Adoleszenz und Versuche, in Jugendbewegungen einen solchen Zustand des Übergangs, in dem alle Unterschiede entfallen, zu inszenieren (ebd., 134f.) Ich möchte den Charakter des Übergangs der Adoleszenz als zweiter Phase der Individuation und Ablösung (Bios, 1967) an zwei von der Psychologie untersuchten Phänomenen illustrieren, das der Individuation an Veränderungen des als eigenen Bereich angesehenen Raumes (b) und das der Ablösung an der aus ihr zunächst folgenden Einsamkeit (c); abschließend soll d) die Rolle von persönlichen Objekten als Mittel der Kompensation, als adoleszente Übergangsobjekte skizziert werden.

Die Entwicklung des Begriffs der Privatheit und des eigenen Raumes Mit Beginn der Adoleszenz, speziell mit Eintritt in die Pubertät, verändern sich die Auffassungen von persönlichem Raum, eigenem Zimmer und Privatheit. In einer Interviewstudie mit 5- bis 17-Jährigen fragten Maxine Wolfe und Robert Laufer nach der Bedeutung von privacy (Wolfe & Laufer, 1975; Wolfe, 1978; s.a. Laufer & Wolfe, 1977). Über

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IV. Räume und Orte

die gesamte Altersspanne wurde immer häufiger die Bedeutung des Alleinseins genannt; die Jüngsten nannten sie am seltensten, wohl kaum, weil es sich um einen kognitiv komplexen Begriff handelt, sondern vielleicht eher, meinen die Autoren, weil sie Alleinsein gar nicht so eindeutig als positive Situation empfinden (Wolfe & Laufer, 1974). Die nicht weiter qualifizierte Nennung von Alleinsein trat am häufigsten in der Altersgruppe von 8 bis 12 Jahren auf, während in der Altersgruppe 13 bis 17 Jahre Alleinsein absolut am häufigsten genannt wurde, aber meist mit der Angabe, daß es darum ginge, selbst darüber zu verfugen, ob man allein ist oder nicht. Ebenfalls nimmt in dieser Altersspanne die Auffassung von Privatheit als Verfügung über die eigene Person betreffende Informationen zu. Hingegen werden die Kontrolle über bestimmte Räume und das Nichtgestörtwerden in der ältesten Gruppe schon wieder seltener genannt als von Präadoleszenten. Wolfe und Laufer sprechen von einer Expansion des Privatheitsbedürfnisses gerade in der Adoleszenz, insbesondere gegenüber der eigenen Familie, was sie als Ausdruck des wachsenden Autonomiebedürfnisses verstehen, das mit der Individuation von der Familie einhergeht. Private Räume erlauben Jugendlichen, neue Handlungen auszuprobieren, ohne eine wertende Reaktion der Eltern furchten zu müssen. Adoleszenztypische Phänomene wie verschlossene Türen mit abweisenden Schildern, persönliche Tagebücher und Geheimnisse wiesen ebenfalls auf das gestiegene Privatheits- und Autonomiebedürfnis in dieser Lebensphase hin. Die sehr kleine Privatsphäre von Kindern und ihr geringer persönlicher Raum zeigen ihre geringe Verfugung über sich selbst und Abhängigkeit von anderen Personen (Wolfe & Laufer, 1974; Wolfe, 1978). Auf die Frage nach ihren privaten, eigenen Räumen nennen Kinder überwiegend Teile der elterlichen Wohnung, Jugendliche jedoch immer häufiger Orte außerhalb des Elternhauses wie Autos und Kinos (Laufer & Wolfe, 1977; Wolfe, 1978). Jugendliche weichen also in Räume aus, die dem Zugriff der Eltern entzogen sind, was ihnen durch ihre im Vergleich zu Kindern größere Mobilität zwar erleichtert, aber nicht unbedingt nahegelegt wird. Diese Bewegung verweist erneut auf das Bemühen Jugendlicher, sich von den Eltern abzulösen, allein zurechtzukommen und über sich selbst zu verfugen. Die Form, in der sich die Individuation räumlich vollzieht, wird naheliegenderweise durch die räumlichen Umstände beeinflußt. Jugendliche nennen umso häufiger außerhäusliche Orte als die ihnen am meisten eigenen Räume, über je weniger eigenen Raum sie zuhause verfugen (Laufer & Wolfe, 1977). Eine Untersuchung Heidmets (1983) bestätigt diese Entwicklungstrends und ihre Abhängigkeit von den räumlichen Gegebenheiten: Am häufigsten erhalten Kinder in der frühen Adoleszenz erstmals ein eigenes Zimmer, und zwar umso eher, je größer die Wohnung relativ zur Haushaltsgröße ist; Jugendliche, die über kein eigenes Zimmer verfugen, verbringen mehr Zeit außerhalb von Familie und Wohnung.

7. Übergang Adoleszenz

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Parke und Sawin (1979; Parke, 1978) untersuchten das Ausmaß, in dem Bade- und Schlafzimmertüren verschlossen werden und mit dem Eltern an denen der Kinder anklopfen. Neben der räumlichen Enge w u r d e das Ausmaß des Sich-Abschließens durch die sexuelle Reifung der Kinder bestimmt; die größte Zunahme findet sich folglich zwischen den Altersgruppen 6 bis 9 und 10 bis 13 Jahren. Damit ist das wohl stärkste Motiv der frühen Adoleszenz dafür genannt, eine räumliche Separation zwischen Eltern und Kind einzuführen (vgl. Hill, 1988; Steinberg, 1988) und dem beginnenden Jugendlichen die Verfügungsgewalt über sich selbst, speziell seinen Körper zuzugestehen bzw. ihn zu beanspruchen, ein Körper, f ü r den bis dato die Eltern verantwortlich waren. Lyman und Scott (1967) erklären die Vorliebe gerade Jugendlicher dafür, ihren K ö r p e r zu manipulieren, ihn zu schmücken und perforieren eben damit, daß der Körper der Kern des persönlichen Raumes ist, über den Jugendliche erstmals in ihrem Leben selbst verfugen, lange bevor sie völlig eigene persönliche Orte erwerben, und daß selbstgerichtete Handlungen, zumal solche, die der Selbstdarstellung dienen, in diesem Alter bevorzugt auf den eigenen Körper gerichtet sind. Ausgehend von diesem Kernobjekt der Selbstverfügung weitet der Jugendliche dann im Laufe der Adoleszenz seine Autonomie aus und reduziert die durch die elterliche Autorität induzierten Aufforderungsqualitäten seiner Umwelt. Heidmets (1985) bettet expliziter als Wolfe und Laufer die Entwicklung eigener Räume in der Adoleszenz in ein allgemeines Entwicklungsmodell ein. Die Beziehung zur räumlichen Umwelt möchte er allein als Ausdruck und Medium der Entwicklung sozialer Beziehungen verstanden wissen, und zwar auf den Dimensionen der Entwicklung zur Autonomie (von externer zu interner Kontrolle), der Ausdehnung eigenen Raumes (wachsende Verfügung über die Regulierung interpersoneller Grenzen)

und der Fähigkeit zur Selbstreflexion und Selbstdefinition.

Persönliche

Räume und persönliche Objekte dienen allen drei Entwicklungszielen. Die Individuation von den Eltern als Entwicklung zur Autonomie zeigt sich auch daran, daß Jugendliche sich immer weniger an der Autorität der Eltern orientieren. Diese Abwendung geschieht vermittelt über eine vorübergehende starke normative Orientierung an der Gleichaltrigengruppe. Während die normative Orientierung an den Eltern zwischen dem 9. und dem 18. Lebensjahr beständig abnimmt (Berndt, 1979), nimmt die Orientierung an der Gleichaltrigengruppe bis zur frühen Adoleszenz (12 bis 15 Jahre) deutlich zu, vor allem bezüglich solcher Verhaltensweisen, die mit Erwachsenennormen konfligieren, um dann wieder rapide abzunehmen. 2 4 Auf die dritte von Heidmets benannte Dimension werden wir im nächsten Kapitel zu sprechen kommen.

24

Berndt, 1979; Clasen & Brown, 1986; Brown, Eicher & Petrie, 1986; Steinberg & Silverberg, 1986; Gavin & Furman, 1989.

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IV. Räume und Orte

Ablösung von den Eltern, Alleinsein und Einsamkeit Was bei der Beschreibung der adoleszenten Individuation in Begriffen persönlicher Räume und Objekte zu kurz kommt sind Entwicklungsverluste, diejenigen Regionen, die beim Übergang zurückgelassen werden und im Übergang selbst nicht immer neu konstituiert werden können. Betrachten wir die Adoleszenz also aus der Perspektive der Ablösung von den Eltern. Die adoleszente Ablösung von den Eltern läßt sich am leichtesten an dem Anteil der Zeit festmachen, den Kinder und Jugendliche gemeinsam mit ihren Eltern verbringen. Im Laufe des Heranwachsens sinkt dieser Anteil zusehends: In einem Vergleich 8-, 10- und 13-Jähriger zeigte sich eine stetige Abnahme der gemeinsam mit Eltern, eine ständige Zunahme der mit gleichgeschlechtlichen Freunden, und für die älteste Gruppe auch der mit gegengeschlechtlichen Gleichaltrigen verbrachten Zeit (Buhrmester & Buhrmester, 1987); die Abnahme bezieht sich vor allem auf die mit der Mutter verbrachte Zeit (Montemayor, 1982). Ältere Jugendliche (14- bis 18-Jährige) verbringen im Vergleich zu 12- bis 13-Jährigen weniger Zeit mit ihren Vätern (gleichviel mit ihren Müttern - Montemayor & Brownlee, 1987). In der gründlichsten Studie an 9- bis 15-Jährigen zeigte sich eine Halbierung der mit der Familie verbrachten Zeit in dieser Altersspanne, wobei die Jungen immer mehr Zeit allein zubrachten, die Mädchen ihre freiwerdende Zeit zwar auch verstärkt allein, aber vor allem mehr mit Gleichaltrigen verbrachten (Larson & Richards, 1991; vgl. Montemayor, 1982). Die Partner der intimsten Beziehungen Jugendlicher sind mit 13 Jahren noch überwiegend die Eltern, mit 16 Jahren Gleichaltrige (Hunter & Youniss, 1982). Für die zunehmende Intimität der Beziehungen zu Gleichaltrigen spricht auch, daß Jugendliche sich zusehends gegenüber Gleichaltrigen offenbaren (Jourard, 1971; Gottman & Mettetal, 1986). Subjektiv führt die Ablösung von den Eltern, während der Adoleszenz also sowohl zu einer verstärkten Hinwendung zur Gleichaltrigengruppe wie zu verstärktem Alleinsein. Angesichts dessen verwundert es nicht, daß Jugendliche mehr von Einsamkeitsgefühlen berichten als Kinder und Erwachsene, obwohl letztere mit zunehmendem Alter immer häufiger allein sind. Für Veränderungen innerhalb der Adoleszenz sind die Untersuchungsergebnisse nicht eindeutig: In einer Fragebogenstudie wurde die Aussage "Ich bin so furchtbar einsam" von 12- bis 16-Jährigen häufiger als von 16- bis 20-Jährigen bejaht (Ostrov & Offer, 1978), in einer weiteren Fragebogenstudie mit einer vergleichbaren Aussage sowie solchen zur Isolation innerhalb der Familie, der Gleichaltrigengruppe und gegenüber Lehrern fand sich hingegen kein Alterstrend in einer Gruppe 10- bis 18-Jähriger (Brennan & Ausländer, 1979). In vielen Vergleichen mit Erwachsenen aller Altersgruppen erweisen sich mittlere bis späte

7. Übergang Adoleszenz

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Jugendliche aber konsistent als einsamer (zum Überblick s. Perlman, 1988; Elbing, 1991). Larson und Richards (1991) meinen, in der Adoleszenz würde Alleinsein insgesamt nicht so negativ empfunden wie in der Kindheit, und verweisen auf zwei Untersuchungen (Coleman, 1974; Marcoen, Goossens & Caes, 1987). Larson und Kollegen (1980) hatten in einer früheren Untersuchung bereits festgestellt, daß Jugendliche, die besonders viel allein sind, sich in ihrer globalen Befindlichkeit nicht von anderen Jugendlichen unterscheiden, dies bei Erwachsenen, die besonders oft allein sind, aber sehr wohl der Fall ist. In der Adoleszenz sei wohl ein mittleres Maß von Alleinsein optimal, später ein möglichst geringes. Sie meinen, daß Alleinsein besonders in Zeiten von Übergängen auftrete und dann überwiegend positive Funktionen erfüllt, nämlich der Reorganisation der eigenen Person und der Sicht von ihr, und in der Adoleszenz der Individuation von den Eltern dient (s.a. Larson, 1990; s.o., 5.4). Einsamkeit wird also weniger durch die Häufigkeit des Alleinseins bzw. des Kontakts mit anderen bestimmt, auch nicht durch die Anzahl der Freunde, sondern durch die Qualität der sozialen Beziehungen. Einsamkeit hängt zusammen mit der Zufriedenheit mit Beziehungen (Cutrona, 1982), mit ihrer Intimität und dem Grad der emotionalen Zuwendung gegenüber den Bezugspersonen (Shaver, Furman & Buhrmester, 1986). Im Vergleich bestimmt das Ausmaß der Intimität oder Enge von Beziehungen stärker eine geringe Einsamkeit als die Zufriedenheit mit sozialen Interaktionen. In der letzgenannten, mit Tagebuch arbeitenden Studie an Studenten zeigte sich doch ein Effekt der Kontaktfrequenz auf das globale Einsamkeitsgefühl, nämlich dergestalt, daß die Häufigkeit der Interaktion mit Frauen für beide Geschlechter mit einer geringeren Einsamkeit korrelierte. Ein hohes Maß an interpersoneller Orientierung geht bei beiden Geschlechtern mit weniger Einsamkeit einher, eine Selbstbeschreibungsdimension, die für Frauen sehr viel typischer ist und deshalb oft auch als Feminität bezeichnet wird (Reis, 1986). Bereits während der ganzen Adoleszenz zeichnen sich Beziehungen von Mädchen durch ein größeres Maß an Intimität aus als die von Jungen (Harter & Yoüniss, 1982). 2 5 Ein bestimmtes Ereignis in der Spätadoleszenz kondensiert noch einmal die Situation der Ablösung, nämlich der Auszug aus dem Elternhaus. Dessen Auswirkungen, kombiniert mit dem Rollenübergang vom Schüler zum Studenten, sind wiederholt an Studienanfängern untersucht worden. Die gleichzeitige räumliche Unterbrechung der Beziehung zu Eltern und Freunden stellt einen tiefen Einschnitt in das Beziehungsnetz von zum

Auch bei Erwachsenen fand sich ein negativer Zusammenhang zwischen Einsamkeit und Intimität der Beziehungen sowie zusätzlich mit dem Verfugen über einen Partner, besonders wenn man bereits einmal einen gehabt hatte (de Jong-Gierveld, 1986).

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IV. Räume und Orte

Studienort umgezogenen Studienanfängern dar. Für Studienanfänger, die am bisherigen Wohnort wohnen bleiben, dürfte der Übergang an die Universität in diesem Sinne weniger drastisch ausfallen. Nach den ersten 7 bis 8 Wochen des ersten Semesters fühlten Studenten einer Studie sich noch nicht weniger einsam als in der ersten Woche (Jones & Moore, 1989), die einer anderen Studie schon etwas weniger (Cutrona, 1982 - in diesen Studien immer gemessen mit der UCLA Einsamkeitsskala), und 6 bzw. 7 Monate später fallen die Werte auf der Einsamkeitsskala erheblich ab (ebd.; Shaver, Furman & Buhrmester, 1985; 1986). Das aktuelle Wohnarrangement (im Wohnheim auf dem Campus, allein oder bei den Eltern) machte bei einer Großstadtuniversität keinen Unterschied aus. Als häufigster Grund für Einsamkeitsgefuhle wurde der Wohnortwechsel, also die Trennung von Familie und Freunden, angegeben (Cutrona, 1982). Einsamkeit korreliert erwartungsgemäß deutlich mit einer Globaleinschätzung der Qualität des eigenen Beziehungsnetzes. Auch diese sinkt dramatisch zu Studienbeginn und hat sich nach neun Monaten noch nicht ganz erholt. Wie zu erwarten nahm die Zufriedenheit mit den Beziehungen zu alten Freunden und Partnern während des ersten Studienjahres ab, die mit Beziehungen zu neuen Freunden und Partnern zu. Zufriedenheit und Enge der Beziehungen zu Eltern und Geschwistern nahm während dieser Zeit zu, sogar bei denjenigen, die zuhause wohnengeblieben waren. Das relative Gewicht des Einflusses der verschiedenen Beziehungen auf die Globaleinschätzung des Beziehungssystems veränderte sich, und zwar sank der Einfluß der familiären Beziehungen, der der Partnerschaften blieb konstant und der der Freundschaftsbeziehungen stieg an. Für Männer bedeutete der Studienbeginn einen größeren Einbruch in ihre Zufriedenheit mit ihren Beziehungen und größere Einsamkeit als für Frauen, und die Männer brauchten länger als diese, um neue Beziehungen aufzubauen (Shaver et al., 1986; s.a. Fisher & Hood, 1987). Betrachtet man, welche Studenten noch nach einiger Zeit weiterhin angeben, sich einsam zu fühlen, dann spielen dabei prospektiv weder die aktuelle Wohnsituation noch die Anzahl von persönlichen Beziehungen noch die Entfernung zum Wohnort der Eltern (alles zu Beginn des Studiums erhoben) eine Rolle. Hingegen spielte eine Rolle, als wie einsam in den letzten Jahren sie sich einschätzen, wie gering ihre Fähigkeiten sind, Kontakte zu knüpfen (Shaver et al., 1986) und wie hoch die anfänglichen Erwartungen der Studenten an zukünftige Beziehungen waren: Je höher sie anfangs ausfielen, umso mehr hatten ihre Einsamkeitsgefuhle nach 7 Monaten abgenommen (Cutrona, 1982). Sich nach einem Umzug in einer neuen Umgebung nicht zurechtzufinden führt nicht nur zu Einsamkeit, sondern äußert sich auch oft in Heimweh, also der gedanklichen Flucht vom neuen Ort durch ständiges verklärendes, sehnsüchtiges Denken an zuhause. In einer Studie korrelierte Heimweh bei Studienanfängern mit der Entfernung von zuhause

7. Übergang Adoleszenz

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(Fisher & Hood, 1985), im Unterschied zum genannten mangelnden Zusammenhang mit Einsamkeit in einer anderen Studie. In einer weiteren Studie zeigten Studenten im Vergleich von unmittelbar vor Studienbeginn und sechs Wochen nach Studienbeginn einen Anstieg psychischer Beschwerden, insbesondere von Depressionswerten und Geistesabwesenheit, wobei die Beschwerden bei den Studenten mit Heimweh stärker zunahmen. Allerdings, und dieses erstaunliche Ergebnis stellt die Zentralität von Heimweh für die Schwierigkeiten des Studienbeginns in Frage, unterschieden sich diejenigen Studienanfänger, die weiterhin bei ihren Eltern wohnten, im Ausmaß der psychischen Beschwerden zu keinem Zeitpunkt von den Studenten, die aus anderen Städten zur Universität gezogen waren (Fisher & Hood, 1987)! In einer weiteren Studie wurden die Veränderungen der Einsamkeitsgefiihle nach den ersten 5 Monaten des Studiums in Abhängigkeit davon untersucht, welche Qualität die Bindung an ihre Eltern die Studenten (nach Maßgabe eines dafür entworfenen Interviews) aufwiesen. Im Anschluß an Main und Goldwyn (1985) wurden die Studenten als sicher gebunden, als die Beziehung aufgebend oder als ängstlich eng-gebunden klassifiziert, in Fortführung der Kleinkindkategorisierung als sicher, vermeidend oder ängstlich-ambivalent gebunden (s.o.). Einzig die Gruppe der sicher gebundenen Studenten war nach 5 Monaten weniger einsam als zu Beginn des Studiums, während die beiden anderen Gruppen ebenso einsam wie zu Beginn des Studiums blieben, und zwar die beziehungsaufgebenden Studenten sehr einsam, die ängstlich Gebunden so einsam wie es die sicher Gebundenen nur zu Beginn gewesen waren (Kobak & Sceery, 1988).

Adoleszente

Übergangsobjekte

Begreift man die Adoleszenz als gestreckten Übergang von einer Umwelt zu einer nicht nur neuen, sondern auch qualitativ anderen Umwelt, als Übergang von dem kindlichen Angewiesensein auf und der Bindung an die Eltern zur Individuation und Ablösung von den Eltern, an deren Ende die Wahl eigener Räume und neuer Bindungspersonen steht, und wendet hierauf die bislang erörterten Mechanismen an, mittels derer Übergänge bewältigt werden können, insbesondere Bronfenbrenners Hypothese, dann müßte ein möglicher Mechanismus für die Bewältigung der Transformationen der Adoleszenz darin bestehen, Verbindungen zu den zu verlassenden Regionen aufrechtzuerhalten bzw. Teile dieser sozusagen mitzunehmen. Da die Beziehung zu den Eltern selbst zentral für den bisherigen Zustand war, und gerade diese Beziehung verändert und die Eltern verlassen werden müssen, bieten sich weniger Personen als vielmehr Dinge als Überbrückungshilfen an. Sie können eine Teilkontinuität und Teilver-

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IV. Räume und Orte

trautheit der näheren Umwelt inmitten einer neuen Umwelt bieten, wie dies die Untersuchungen zur Rolle persönlicher Objekte bei Umzügen zeigen, und so die Einsamkeit der Schwellenphase lindern. Zudem haben Objekte während der Adoleszenz gegenüber vertrauten Personen den Vorteil, daß von ihnen keine Autorität ausgeht, sie in der neuen Umwelt nicht qua Autorität Aufforderungsqualitäten induzieren. Zugleich können sie aber sehr wohl die Aufforderungsqualitäten des Feldes beeinflussen, indem sie als Sicherheitsobjekte fungieren und einen, in Lewins Terminologie, festen Grund abgeben. Hierfür bieten sich besonders handliche und hantierbare Dinge an, die nicht an eine Umwelt gebunden, sondern mobil sind, so daß sie zum körperzentrischen persönlichen Raum gehören und nicht zu festen Orten, über die Jugendliche noch nicht verfugen. Da persönliche Objekte unter Bedingungen eingeschränkter Selbst- und Raumverfiigung mehr als einen persönlichen Raum, aber weniger als einen persönlichen Ort darstellen, nämlich einen dinggebundenen, mobilen, beherrschten persönlichen Raum, bieten sie auch ein Medium, eine gewisse Kontrolle über einen beschränkten Bereich und damit eine gewisse Autonomie zu verwirklichen. Betrifft diese Hypothese die gesamte Adoleszenz (im Vergleich zur mittleren und späten Kindheit ebenso wie im Vergleich zum Erwachsenenalter), so läßt sich zudem vermuten, daß die Überbrückungsfunktion persönlicher Objekte ganz besonders wichtig wird, wenn zum adoleszenten Übergang auch noch eine räumliche Trennung durch den Auszug aus dem Elternhaus und gar, damit häufig verknüpft, ein formaler Rollenübergang beispielsweise zum Gesellen- oder Studentenstatus hinzutritt.

V. Symbolische Bedeutungen von Dingen

"Über die seelische Entwicklung des Kindes wissen wir durch ... [die] Entwicklungspsychologie Entscheidendes. Über die Entwicklung der [kulturellen] Formen haben Etnographie, Kulturgeschichte und Soziologie ein ungeheures Tatsachenmaterial bereitgestellt. Aber wie das Triebwesen Kind in die historisch gewordenen Formen, aus welchen Motiven und unter welchen Bedingungen es sie übernimmt oder die Übernahme verweigert, welche Mittel die Gesellschaft zur Verfügung hat und anwendet, das Kind in ihre Normen und Formen einzupassen, wie Trieb und Tradition im Jugendalter sich zueinander verhalten - darüber ist konkretes noch kaum festgestellt" (Bernfeld, 1931, 3)

Nachdem wir im zweiten Kapitel vor- und übergreifend die psychologische Bedeutung von Besitz einkreisten, im dritten Kapitel die Bedeutung von Objekten für die Identität aus der Perspektive des Selbstempfindens und im vierten Kapitel Identitätsaspekte der räumlichen Beziehung der Person zu ihrer Umwelt thematisierten, nähern wir uns nun dem Kern unseres Themas. Im Unterschied zum vorangegangenen Kapitel, in dem wir Beziehungen zu persönlichen Umwelten behandelt haben, geht es von nun an auf um von ihrer Umwelt abgehobene oder abhebbare Dinge. Zudem hatten wir im vierten Kapitel versucht, uns auf die räumlichen Aspekte der Beziehung zu Umwelten zu beschränken, was sich als nicht durchgehend möglich erwies, so daß die symbolische Bedeutung von Objekten in persönlichen Umwelten ab und an bereits zur Sprache kam. In diesem Kapitel werden diese Hinweise aufzugreifen sein. Systematisch werden funktionale und vor allem symbolische Aspekte der Beziehung von Personen zu Dingen, speziell zu persönlichen Objekten, zu beschreiben sein. Dabei werden besonders folgende Gesichtspunkte berücksichtigt werden: 1. Welche spezifischen Funktionen erfüllen persönliche Objekte und wie beziehen sich diese auf die Stabilisierung der Identität?

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V. Symbolische Bedeutungen

2. Welche psychischen Funktionen und Mechanismen wie beispielsweise des Erinnerns werden von Dingen erleichtert, welche aktivieren sie? 3. In welchen Situationen und in welchen Lebensphasen werden persönliche Objekte besonders virulent und weshalb? 4. Gibt es interindividuelle Unterschiede in der Nutzung persönlicher Objekte, beispielsweise bestimmt durch Geschlecht, soziale Schicht oder Persönlichkeitsmerkmale? 5. Welche Eigenschaften von Dingen, welche Arten von Gegenständen eignen sich besonders dazu, bestimmte Funktionen zu erfüllen? Die symbolischen Funktionen von persönlichen Objekten werden in sechs Schritten erarbeitet werden. Es beginnt mit einem selektiven Überblick über nicht primär psychologische, sondern soziologische bzw. kulturelle Perspektiven auf Formen und Funktionen von Dingen, die den wesentlichen Rahmen für die psychischen Bedeutungen von Dingen abgeben. Dieser Abschnitt wird vorangestellt, so daß wir uns im Folgenden auf die Psychologie von Dingen konzentrieren können, aber auch, um bereits einige auch für die Psychologie wesentliche Bestimmungen einzuführen (1). Eine erste Orientierung bietet die Lektüre zweier Klassiker, nämlich Lev S. Vygotskys (2.) und George Herbert Meads (3.). Der eine bietet eine Verknüpfung von kultur- und individualpsychologischer Auffassung von der praktischen und kommunikativen Funktion von Dingen, der andere eine sozialpsychologische Auffassung von Dingen im Kontext der Identitätsbildung. Beide situieren Dinge in der Kommunikation mit anderen und sich selbst. Der Ertrag der Diskussion der beiden Klassiker orientiert die folgenden Analysen symbolischer Funktionen von Objekten, nämlich der Funktion, eine öffentliche Identität zu signalisieren (4.), die Kommunikation mit sich selbst zu erleichtern (5.) sowie die Person an abwesende bzw. vergangene Personen, Orte und Ereignisse zu erinnern (6.). Als Analyseinstrument wird anknüpfend an Mead und Vygotsky der Begriff der Perspektivenübernahme verwendet werden, der hier als Mechanismus der sozialen Interaktion mit Dingen expliziert werden soll. Die aufgeführten fünf Leitfragen kommen im Laufe des Kapitels immer wieder zur Sprache und werden abschließend zusammen beantwortet (7.). Vorerst noch ausgespart bleiben Funktionen persönlicher Objekte für die Bewältigung von Affekten, die an wichtige Andere geknüpft sind, die im nächsten, sechsten Kapitel zu besprechen sein werden.

1. Dinge als Kulturgegenstände

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1. Dinge als Kulturgegenstände: Soziologische und kulturanthropologische Aspekte "Für die meisten, vielleicht alle Kulturformen [...] dürfte solch eine materielle Form, ein Werkzeug nachweisbar sein, das ein Wissen um die Form auf unmittelbarste Weise vermittelt, das, selbst ein Niederschlag der Formgeschichte, deren vollen Gehalt verbreitet" (Bernfeld, 1931, 133)

Als Rahmenbedingung jeglicher individueller Bedeutung persönlicher Objekte muß ihre kulturell vorgegebene Bedeutung gelten. Das Individuum kann allein aus dem vorgefundenen Universum bedeutsamer Objekte auswählen, und nur innerhalb dieses Rahmens kann es Objekte und ihre Bedeutung individualisieren. Deshalb gebe ich in diesem ersten Teil einen Überblick über einige Auffassungen von der kulturellen Ordnung von Dingen. Die ersten drei Unterabschnitte sind sozialen und kulturellen Funktionen von dinglichen Zeichen gewidmet, und zwar der Analyse formaler Strukturen dinglicher Zeichensysteme (1.1), ihrer Funktion bei der Überlieferung von Kultur (1.2) sowie der Darstellung und Stabilisierung sozialer Struktur (1.3). In den beiden folgenden Unterabschnitten weise ich auf Phänomene und Praktiken hin, in denen die Aufnahme kultureller Dingbedeutungen durch Individuen sichtbar wird, nämlich bei dem Markt entzogenen Gegenständen (1.4) und individuellen Deutungen und Dramatisierungen dinglicher Zeichen (1.5).

1.1 Autonome Systeme von Objekten, syn- und diachron Einleitend seien einige Versuche erwähnt, Objektgruppen als strukturierte Systeme zu verstehen, sowie Versuche, diese Strukturelemente auf kulturelle und soziale Strukturen zurückzubeziehen. Gemeinsam ist den meisten zu nennenden Versuchen der Rekurs auf die soziologische Tradition Emile Dürkheims bzw. die linguistische Tradition Ferdinand de Saussures, da sie von den transindividuellen Systemen der faits sociaux bzw. der langue ihren Ausgang nehmen (s. z.B. Lepschy, 1966, 46, 77; Barthes, 1964a). Anknüpfend an de Saussures (1915) Definition der Semiologie als Wissenschaft aller kultureller Zeichensysteme wie Ritualen, Höflichkeitsformen und militärischen Abzeichen, Nahrung und Kleidung forder-

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V. Symbolische Bedeutungen

te Roland Barthes (1964a) zu einer Erkundung solch gegenständlicher Zeichensysteme auf. Jedoch kehrt er de Saussures Unterordnung der Linguistik unter die Semiologie um, da es kein ausgedehnteres System von Objekten gäbe, das seinerseits ohne die Sprache auskäme. Kurz darauf legte er eine beispielhafte Analyse des Systems der Kleidungsmode vor (Barthes, 1967). Er unterscheidet drei Strukturen eines Bekleidungsstückes, eine technologische (Machart, textile Struktur), eine ikonische (photographische Abbildung) und eine verbale (Beschreibung). Seine Analyse richtet sich nun nicht auf die technologische Struktur, sondern auf die verbale, nicht auf die "reale Kleidung", sondern auf ein Ensemble sozialer Vorstellungen (Durkheim), nicht auf die parole, sondern auf die lattgue (ebd., 19, 27f.). Die individuelle Aufmachung generiert sich aus dem kulturellen System der verbalen Bedeutungen der Mode, dessen detaillierter Analyse in Gattungen, Varianten etc. er sich dann zuwendet. Barthes interessiert sich primär für die formalen Struktureigenschaften des Systems Bekleidungsmode, sozusagen Grammatik und Syntax des vestimentären Codes, also der Rede über Mode. Bei dieser unterscheidet er zwei Aspekte, ihren denotativen und ihren konnotativen bzw. rhetorischen Charakter. Mit letzterem suggerieren Texte in Modezeitschriften Bedeutungen bestimmter Kleidungen, vor allem ihre Angemessenheit für bestimmte Tätigkeiten und Situationen sowie zur Darstellung bestimmter Identitäten (ebd., 254-266). Moles (1972) versucht sich an einer allgemeineren Beschreibung von Klassifikationssystemen von Gegenständen anhand diverser Beispiele wie Kaufhäusern, Museen, Wohnungen, Sammlungen und Ähnlichem mehr. Er beschreibt die Bedeutung einzelner Objekte in Anlehnung an ihre praktische (Denotation) und ästhetische Funktion (Konnotation) sowie wiederum vor allem an die Syntax von Systemen von Objekten (Moles, 1972, 185). Ebenfalls nach übergreifenden Systemeigenschaften sucht die strukturale Anthropologie, nämlich nach kulturellen kognitiven Ordnungskategorien, die sich in allen möglichen kulturellen Subsystemen wiederfinden, beispielsweise in der Ordnung der Küche und Nahrung (Lévi-Strauss, 1964-1971). Die in dieser Tradition untersuchten kulturellen Codes sind binärer Natur, d.h. die Kategorien bestehen aus Oppositionen. Ebenso wie das System der Kleidung verfügt die Ordnung der Nahrung und Ernährung über syntaktische und semantische Strukturen, die den Umgang mit Speisen bestimmen (s. Färb & Armelagos, 1980; Fischler, 1990). Systeme von Objekten und ihre formale Ordnung sind auch in der zeitlichen Dimension untersucht worden. So setzte sich der Kulturanthropologe Kroeber zum Ziel, formale Gesetzmäßigkeiten in der Entwicklung beispielsweise chinesischer Skulpturen oder von Abendkleidern über Jahrhunderte hinweg zu analysieren (Richardson & Kroeber, 1940).

1. Dinge als Kulturgegenstände

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Barthes greift Kroebers These auf, um mit ihr zu belegen, daß Mode zwar eine diachronische, also zeitliche Struktur habe, aber keine historische, da die zeitlichen Strukturveränderungen zyklischer Natur seien (Barthes, 1967/1985, 305ff.). Daß Kroebers Analyse der Veränderungen der Proportionen des Abendkleides für die neuere Zeit z.T. falsifiziert und Veränderungen in der Mode doch auf parallele historische Veränderungen bezogen werden konnten (Lowe & Lowe, 1982; 1985), spricht gegen einen ontologisch, nicht aber gegen einen methodisch verstandenen semiotischen Strukturalismus (Eco, 1968) als der Analyse kultureller Objekte als autonomen Zeichensystemen. Im Anschluß an Kroeber entwarf Kubler (1972) ein analoges Programm für die Kunstgeschichte. Stilistische Entwicklungen sollten konzipiert werden als formale Sequenzen von Lösungen bestimmter formaler Probleme, ein Kunstwerk verstanden werden zugleich als historisches Ereignis wie als Glied in dieser Kette von Lösungsversuchen; in diesem Kontext kann dann zwischen Originalen und Nachahmungen unterschieden werden. Kublers Entwicklungsmodell bildet die Geschichte von Dingen als Zeichen explizit dem Modell der Evolution nach. Das Modell beschränkt sich nicht auf Kunstgegenstände, sondern läßt sich ebenso auf Gebrauchsgegenstände wie Pflüge und Instrumente anwenden. Für die historische Entwicklung von Gebrauchsgegenständen hat Giedion (1948) eine biologische Metapher verwendet, die an die technische und Designentwicklung das Modell der Evolution heranträgt, und in seiner Unterscheidung von konstituierenden und transitorischen Tatsachen klingt die Dichotomie von Geno- und Phänotyp an. 1 Auch die Formentwicklung einzelner Objekt- bzw. Produkttypen ist mit der Evolutionsanalogie untersucht worden. Die Veränderung der Figur der Mickey Mouse ebenso wie die Veränderung der typischen Form von Teddybären im Laufe dieses Jahrhunderts werden durch Selektion qua Verkaufserfolg erklärt, der wiederum durch die biologische Präferenz von kindlichen Formen bestimmt sei (Hinde & Barden, 1985). Die analog konzipierte sukzessive Selektion von industriell gefertigten Instrumenten erfolgt nicht nur nach Kriterien ihrer Funktionalität; vielmehr werden diese oft durch ästhetische Gesichtspunkte überlagert, wie Norman am Beispiel des Telefonapparats aufweist (1988, 142-177). Der Paläontologe Leroi-Gourhan (1964) schließlich wendet den Evolutionsbegriff nicht ganz so metaphorisch auf die Entwicklung von Werkzeugen, Kunstgegenständen und sprachlichen Zeichensystemen an, da er sie immerhin im Zusammenhang mit und in Abhängigkeit von der biologischen Evolution des Menschen untersucht.

1

Zur Evolutionsmetapher in der Designgeschichte s. Steadman, 1979.

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V. Symbolische Bedeutungen

1.2 Überlieferung von und durch Gebrauchsgegenstände Gebrauchsgegenstände und symbolische Objekte Gegenstände können nach ihrer semiotischen Spezifität (Eco, 1975, 239) grob in zwei Klassen unterteilt werden, in Gebrauchsgegenstände und symbolische Gegenstände. Als symbolische Objekte möchte ich kurzerhand solche Dinge bezeichnen, die explizit und primär dazu dienen, etwas zu bedeuten, wie Schilder und Fahnen, aber auch Bilder und Figuren sowie ästhetische Objekte. Als Gebrauchsgegenstände seien solche Gegenstände bezeichnet, die primär eine praktische Aufgabe erfüllen, also sowohl Manipulanda wie auch instrumenten einzusetzende Utilitanda. Gebrauchsgegenstände ermöglichen oder erleichtern bestimmte Handlungen. Durch ihre Form legen sie bestimmte Handlungen und Handlungsweisen nahe (Aufforderungscharakter), zugleich lenken sie Handlungen, indem sie nur auf eine bestimmte Art und Weise genutzt werden können (physische Restriktionen), und schließlich können sie sich selbst kommentieren in Form von Gebrauchshinweisen, also Informationen über die Beziehung zwischen mit ihnen auszuführenden Handlungen und den resultierenden Effekten (mapping - Norman, 1988) - letzteres trifft besonders auf Maschinen zu. Nicht nur symbolische Objekte, auch Gebrauchsgegenstände bedeuten etwas, nämlich primär die mit ihnen durchzuführenden Handlungen (praktische Bedeutung). Diese Bedeutungen sind kulturell kodifiziert nur als Hammer erkennbare Gegenstände fordern zum Hämmern auf, auch wenn mancher Schuh sich gleichermaßen dazu eignet, aber nicht als Hammer aufgefaßt wird. Darüber hinaus kann jenseits der kulturellen Kategorisierung eines Gegenstandes dieser qua faktischer funktionaler Äquivalenz einen anderen Gegenstand symbolisieren: ein Schuh kann sekundär einen Hammer bedeuten, wenn er als solcher brauchbar ist. Solche funktionalen Äquivalenzen machen sich Kinder im Symbolspiel zunutze, wenn sie auf einem Stab reiten wie auf einem Pferd (Piaget, 1945). Gombrich (1951) ergänzt die funktionale Ähnlichkeit zweier Gegenstände als Bedingung für das Erkennen funktionaler Äquivalenzen um einen zweiten Faktor, den des Ausmaßes des Bedürfnisses, die in Frage stehende Handlung durchzufuhren - es handelt sich hier um nicht mehr als eine Abwandlung des Lewinschen Prinzips der Ersatzhandlungen. Schließlich erwerben Gebrauchsgegenstände sekundär, also anknüpfend an ihre Funktion, weitere symbolische Bedeutungen, die man als Konnotationen bzw. praktische, funktionale Bedeutungen bezeichnen kann. Ein Sportwagen symbolisiert in diesem Sinne Kraft und Freiheit, eine weiße Gardine ordentliche, abgegrenzte Lebensführung (Barthes, 1964b; Eco, 1968, 194f., 202ff).

1. Dinge als Kulturgegenstände Gebrauchsgegenstände,

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die tradieren

Gebrauchsgegenstände wie symbolische Objekte spielen wegen ihrer Haltbarkeit und ihres formenden Einflusses auf menschliche Handlungen eine eminente Rolle für die Überlieferung kulturellen Wissens. Da Gebrauchsgegenstände immer einem Typus entsprechen (und das nicht erst in der Zeit der Massenproduktion), fuhren sie allein schon mechanisch zu einer gewissen Einheitlichkeit menschlicher Handlungen in ihrem Verbreitungsraum, was durch die kulturellen Gebrauchsnormen verstärkt wird. Norman (1988, 21 Off.) verdeutlicht die Beeinflussung von Handlungen durch die verwendeten Instrumente am Beispiel der Entwicklung der Schreibinstrumente; so habe die Mechanisierung des Schreibens beispielsweise aufgrund der leichteren Korrigierbarkeit von Texten zu einer Beschleunigung der Produktion und Verringerung der für die einzelnen Formulierungen aufgewandten Aufmerksamkeit geführt. Leroi-Gourhan (1964) beschreibt die Menschheitsgeschichte von Technik und Sprache als eine der Exteriorisierung der Werkzeug- und Antriebsfünktionen des menschlichen Körpers sowie des Gedächtnisses und der Zeit. Instrumente und Maschinen ersetzen historisch sukzessive nicht nur Gebiß und Hand des Menschen sowie seine Muskelkraft, sondern speichern auch Wissen, vor allem prozedurales Wissen über die Sequenzen ihrer Funktionsweisen und Bedienung. Neben technischem Wissen speichern Gebrauchsgegenstände zugleich normatives Wissen und normative Aufforderungen. So fordern Artikel der persönlichen Hygiene, Kleidungsstücke oder Tischinstrumente zu einem sozial angemessenen Verhalten auf. Elias (1939/1977, I, 164ff.) beschreibt am Beispiel der Entwicklung von Messer und Gabel die Entwicklung der Tischsitten; die Form des Messers, seine Schärfe und Spitzheit legt bestimmte Verwendungsweisen nahe bzw. verbietet sie, so das Fischmesser das Schneiden, ein kleiner Griff das Führen mit der ganzen Hand; die Gabel verbietet, Speisen mit der Hand anzufassen. Halbwachs (1950) erklärt die Bedeutung des Bewahrens der gewohnten Konstellation von Objekten und räumlicher Struktur sowie der zu ihnen passenden Gewohnheiten und den entsprechend unangenehmen Charakter von Veränderungen und räumlichen Übergängen als Folge a) ihrer Funktion für die Bequemlichkeit, also Handlungsökonomie der Person, b) ihrer ästhetischen Attraktivität, vor allem aber c) als Folge der Identitätsfunktion des Raumes. Die Gruppe prägt ihren Ort und wird ihrerseits durch ihn geprägt, so daß er ihre Identität reflektiert und mitkonstituiert. Deshalb ist eine wichtige soziale Funktion von Orten und der zu ihnen gehörenden Objekte die, als kollektives Gedächtnis zu operieren. In der Form einer Stadt tradiert sich zugleich die soziale Organisation ihrer Bewohner, in die neue Generationen unmerklich hineinwachsen und in der sie sich zurechtfinden. So haben sie unmerklich an

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V. Symbolische Bedeutungen

einem kollektiven Gedächtnis teil, dem sie Handlungsanweisungen und Gewohnheiten entnehmen. 2 Diese wenigen Beispiele mögen genügen, um die Bedeutung von Gebrauchsgegenständen und räumlichen Konfigurationen für das Überliefern von Kultur anzudeuten. Parallel zu der gesprochenen und geschriebenen Sprache, und zugleich interpretiert durch sie, fungieren sie als Speicher von und Erinnerung an kulturelles Wissen. Sie übernehmen in Prozessen der Enkulturation wie der Akkulturation eine wichtige Mittlerrolle.

1.3 Soziale Kategorien, Struktur und Position in symbolischen Objekten Naheliegenderweise eignen sich auch symbolische Objekte dazu, Kultur zu überliefern. Ein einziges Beispiel mag genügen (s.u.). Die Verwendung symbolischer Objekte für die Symbolisierung sozialer Struktur und Positionen unterliegt aber selbst einem historischen Wandel. Mit steigender sozialer Mobilität werden soziale Positionen immer weniger übernommen als vielmehr individuell errungen (ascribed vs. achieved status); mit diesem Prozess geht einher ein Wandel der Sozialstruktur- und Statussymbole, die sich von primär symbolischen, ja gar rituellen Objekten in nur mehr sekundär symbolische Gebrauchsgegenstände verwandeln.

Primäre Symbolisierung

durch rituelle und andere symbolische

Objekte

Unter den symbolischen Objekten läßt sich eine Untergruppe ausmachen, die zugleich prototypisch für die gesamte Klasse der symbolischen Objekte ist, nämlich die ritueller Objekte. Bei ihnen tritt zu der primär symbolischen Qualität eine rituelle Verwendungsweise hinzu; als Beispiele können die Oblate der Kommunion, der Ehering in der Trauzeremonie oder die Schultüte am ersten Schultag gelten. Mary Douglas (1966) begründet die Bedeutung von Riten und rituellen Objekten nicht so sehr mit der von ihnen erhofften, magisch vermittelten instrumentellen Wirkkraft (Beeinflussung von Natur und Göttern), sondern mit ihrer Funktion fiir die Artikulation und zugleich Konstitution kultureller Kategorien. Diese seien sinnkonstitutiv, ohne sie sei die Welt

2

Erst in den letzten Jahren ist Halbwachs' Arbeit auch in der Psychologie aufgegriffen worden - s. Graumann (1986) und Hejl (1990). Der Kulturhistoriker Burke (1989) greift zwar auch auf Halbwachs zurück, nennt aber unter den als Gedächtnis fungierenden Medien nicht einzelne Objekte.

1. Dinge als Kulturgegenstände

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gar nicht zu erfahren. Alltagsrituale strukturierten Aufmerksamkeit und Zeit und lenkten Denken und Handeln. Zugleich dienten sie, argumentiert sie in der Tradition Dürkheims und der britischen sozial-funktionalen Schule der Anthropologie, der Aufrechterhaltung der sozialen Strukturen. Ein ethnologisches Beispiel für die Symbolisierung sozialer Struktur und damit zugleich ihre Stabilisierung und Tradierung durch Objekte liefert Parmentier (1985a). Die Objekte erfüllen zugleich eine soziale Identitäts- und kollektive Gedächtnisfunktion. Beispiel: Parmentier berichtet von drei verschiedenen Arten von Steinen in der Inselgesellschaft von Belau in der Südsee. Erstens findet sich in jedem der vier Hauptdörfer ein großer heiliger Monolith aufgestellt; die vier Steine symbolisieren die vier Kinder der mythischen Urmutter und zugleich Einheit und Unterschiede der vier Dörfer, in denen sie aufgestellt sind. Historische und politische Ereignisse und Konstellationen werden unter Bezug auf die von den Steinen symbolisierten vier göttlichen Kinder gedeutet. Die Steine sind Gegenstand von Gesängen und Erzählungen. Mit ihrer physischen Härte und Solidität, die sie mit Naturgestein gemeinsam haben, symbolisieren sie die unveränderliche, gottgewollte soziale Ordnung der Insel. Zweitens finden sich in jedem der Dörfer wiederum die vier Haupthäuser der vier wichtigsten Clans, um die herum die weiteren Häuser gruppiert sind. Vor diesen Haupthäusern sind rechteckige Grabstätten des jeweiligen Clans angelegt, die mit Grabsteinen gekennzeichnet sind. Die Menge der Grabsteine signalisiert auf diese Weise augenfällig die Tiefe der genealogischen Linie des Clans. Drittens schließlich wird neben dem US-Dollar weiterhin das traditionelle Zahlungsmittel verwendet, das aus individuell benannten und auf Ketten aufgereihten kostbaren Perlen und Keramikringen besteht. Sie werden ständig öffentlich zur Schau gestellt, als Schutzzeichen am Haus oder um den Hals getragen. Sie wechseln in wichtigen politischen und Familientransaktionen den Besitzer. Die Dorfbewohner kennen eine große Menge dieser Objekte und ihre individuellen Geschichten. Diese Geldsteine zeichnen also Individuen aus und lokalisieren sie im Verwandtschaftssystem und der Verdiensthierarchie. Auf Belau symbolisieren die drei Arten Steine Gruppen-, Familien- und individuelle Identitäten und wesentlich deren Geschichte. In gewisser Weise handelt es sich bei den Steinen auf Belau um magische, rituelle Objekte, die eine symbolische Bedeutung im Rahmen symbolischer, ritueller Handlungen und Sprechhandlungen einnehmen, denen eine Macht zur Transformation der Wirklichkeit zukommt. Ein Ritual definiert Douglas als "eine fixierte Kommunikationsform, der magische Wirksamkeit zugeschrieben wird" (Douglas, 1973/1981, 202).

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V. Symbolische Bedeutungen

Nun hat die industrialisierte Welt einen Prozeß der Deritualisierung und Informalisierung durchgemacht, Rituale sind selten geworden. Als Beispiele für noch verbliebene Rituale nennt Douglas (1966) Wochenstruktur, Abfolge und Durchfuhrung von Mahlzeiten, Körperpflegerituale sowie Übergangsrituale wie Taufe, Konfirmation und Hochzeit. In all diesen Ritualen bzw. überwiegend nur mehr ritualisierten Handlungsskripten figurieren symbolische Objekte wie die Sonntagskleidung, be-

stimmte Bestecke und Tischdecken, Klopapier, Badezusätze und Deo, Tauflecken, Konfirmationskleidung und Ehering.

Sekundäre Symbolisierung durch Konsumgüter Im Zuge der Deritualisierung des Alltagslebens und der Mobilisierung der Positionszuweisungen wird immer weniger die soziale Struktur und immer stärker die individuelle soziale Position durch Konsumgüter symbolisiert, die primär Gebrauchs-, genauer Ferbrauchsgüter sind und deshalb erst sekundär symbolischen Wert erhalten. Der Zugang zu ihnen ist nicht mehr normativ geregelt, sondern durch Kaufkraft und Geschmack bestimmt. Der soziale Status ist informeller, weniger festgelegt und damit weniger durch Objekte definierbar. Schon im vergangenen Jahrhundert hatte Veblen (1899) auf die Funktion des ostentativen Konsums hingewiesen, sich von anderen Menschen sozial abzuheben und einen gehobenen sozialen Status zu beanspruchen. Bourdieu (1979) gründet seine Theorie der sozialen Distinktion ausschließlich auf das Konsumverhalten. Es geht ihm dabei weniger um die ungleiche Verteilung der Kaufkraft und ihre Folgen für Konsumgewohnheiten als um soziale Unterschiede im Geschmack. Unterschiede in ästhetischen Urteilen über Konsumgüter ebenso wie über Kunstobjekte gründeten in sozial determinierten Unterschieden im Habitus gegenüber Gegenständen, der wiederum Teil der unterschiedlichen Lebensstile sei. Der Habitus stiftet eine stilistische Affinität zwischen den verschiedenen Praktiken und Präferenzen einer Person und einer sozialen Schicht. Der soziologisch durch die soziale Position bestimmte Lebensstil wird früh im Leben erworben und prägt gar die spontanen körperlichen Reaktionen auf Objekte, wie insbesondere Ekel. Bourdieu deutet die Auswahl von Konsumgütern also nicht primär als sozial konforme oder individuell bewußt getroffene Wahl von Konsumgütern als Zeichen mit definierten Statusimplikationen; vielmehr haben sich die Schichtunterschiede faktisch in den individuellen Geschmack eingeschrieben, der diesseits jeglicher reflektierter Entscheidung die Wahl von Status- und Identitätszeichen bestimmt. Auch Douglas und Isherwood (1978) deuten soziale Unterschiede im Konsum als Indiz dafür, daß Konsumgüter nach ihren Implikationen für den sozialen Status ausgewählt werden. Douglas subsumiert diese Funk-

1. Dinge als Kulturgegenstände

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tion aber wieder der grundlegenderen Funktion von Objekten, ein verstehbares Universum zu konstituieren: "Im Rahmen des ihm Möglichen benutzt das Individuum seinen Konsum, um etwas über sich selbst, seine Familie, seine momentane Position zu sagen [...]. Seine Aussagen sind solche über seine Welt, in der er lebt" (ebd., 68). Die Freiheit zum Konsum bestimme heute die Freiheit, über die eigene soziale Identität zu verfugen und sich nicht fremddefinieren zu lassen, einer Grundbedingung der geistigen Gesundheit, wie Douglas meint (ebd., 88). Zugleich tendierten unterschiedliche Konsummuster dazu, dominanten Gruppen ihre Herrschaft zu sichern, da diese verstärkt solche Güter konsumieren, die ihnen die Teilnahme an der Kultur ermöglichen, also Kommunikationsmedien. Je stabiler die Gesellschaft, desto eindeutiger f u n gierten Objekte und Güter als Indikatoren für die soziale Position. Die Autoren schreiben grundsätzlich allen Gütern die Funktion zu, den sozialen Status des Konsumenten zu signalisieren. Manchen Gütern kommt diese Funktion jedoch in verstärktem Ausmaß zu; je stärker diese Funktion, desto exklusiver und seltener sowie vor umso größerem Publikum werden sie benutzt (z.B. Sonntagsgeschirr, Abendrobe, exquisite Speisen). Manche Güter und Objekte dienen gar einzig und allein der Markierung des sozialen Status wie beispielsweise das beste Geschirr, Erbstücke und Porträts von Vorfahren (ebd., 115ff.), die j e d o c h kaum mehr als Konsumgüter, sondern schon wieder als symbolische Objekte zu bezeichnen sind.

1.4 Waren zwischen Kultur und Individuum Die berichteten kulturtheoretischen und anthropologischen Arbeiten zur Bedeutung von Dingen weisen diesen, bezogen auf das Individuum, primär eine Rolle für die Markierung und Signalisierung von (Gruppen-, Familien- und individuellen) sozialen Identitäten zu. In dieser Funktion werden sie auch von der Sozialpsychologie thematisiert (s. 4 ). Außerdem w u r d e deutlich, daß Objekte eine wichtige Funktion in der Überlieferung und Sozialisation von kulturellen Normen und Praktiken erfüllen. Die meisten der genannten Perspektiven sind f ü r die Psychologie j e doch nicht unmittelbar interessant, da sie gezielt die psychologische und individuelle Perspektive ausschalten, um in Reinkultur soziale und kulturelle Phänomene bzw., noch abstrakter, soziale Strukturen und Systeme studieren zu können. Die Frage nach der Vermittlung zwischen Kultur und Individuum wird nicht gestellt, sondern aus methodischen Gründen bewußt ignoriert. Gerade die strukturalistisch inspirierten Ansätze enthistorisieren sogar Gesellschaft und Kultur, um nicht die Genese neuer Strukturen erklären zu müssen. Auch die nicht-strukturalistischen Ansätze, die beispielsweise die Funktion von Objekten als soziales Ge-

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V. Symbolische Bedeutungen

dächtnis hervorheben, betonen einseitig die konservierende Funktion von Objekten. In den letzten beiden Teilen dieses ersten Abschnitts (1.4, 1.5) werden überwiegend soziologische und anthropologische Versuche gesichtet, diese exklusiv soziale bis formal-soziale Sichtweise aufzuweichen, eine flexiblere Auffassung von Kultur zu entwickeln und so Brücken zur Psychologie zu schlagen. Objekte als soziale Bindemittel: Kommensalität und Geschenk Die berichteten Analysen von Konsumgütern in Termini sozialer Schichtung und Position beleuchten nur einen Aspekt von Konsumgütern. Konsumgüter im engeren Sinne, also nicht jegliche von Privatpersonen erworbenen Waren, sondern nur solche, die zum Verzehr, zur Zerstörung durch körperlichen Verbrauch, meist durch Einnahme, bestimmt sind, haben eine weitere elementare kulturelle bzw. sozialpsychologische Funktion, die ebenfalls wiederum eine Identitätsfunktion ist. Die körperliche Einnahme von Substanzen, erfüllt nicht nur die Funktion der Ernährung, sondern elementare soziale Zwecke. Meist werden diese Aktivitäten in Gemeinschaft mit anderen durchgeführt (Kommensalität: gemeinsam tafeln). Von der gleichen Speise zu essen, dem gleichen Getränk zu nehmen und die gleiche Pfeife zu rauchen sind Handlungen, die in allen Gesellschaften, eine Gemeinschaft herstellen, also eine Gruppe, deren Mitglieder Gemeinsamkeiten aufweisen, die sich nicht auf die Identität des Magen- oder Lungeninhalts beschränkt, sondern durch sie symbolisiert wird, wie auch im christlichen Abendmahl. Der gemeinsame Verzehr stiftet eine gemeinsame Identität und damit Frieden - das Gastmahl, die Friedenspfeife, das Versöhnungsessen oder auch das Geschäftsessen. Er stellt die elementarste, da körperlichste Form der Identitätsstiftung durch Dinge dar: Durch die Aufnahme von Substanzen verändert sich die materielle Substanz der Person (Fischler, 1990). Den Leichenschmaus deutete Freud (1917a) entsprechend als die symbolische Verspeisung des Toten, der so in den Hinterbliebenen weiterlebt. Die körperliche Transformation gilt hier zugleich als eine soziale. Konsumgüter im engeren Sinne, also zum Verzehr bestimmte Güter, unterscheiden sich von anderen Gütern und Objekten einerseits durch ihre auch physische Transformationskraft, andererseits durch ihre Vergänglichkeit. Daraus folgt, daß sie nie als individuelles Objekt, sondern immer als Exemplar ihrer Art erworben und verspeist werden. Sie sind von Natur aus vergleichbar und damit zählbar, wenn nicht gar unzählbar. Um über sie zu verfugen, genügt nicht der einmalige Erwerb, sondern bedarf es der längerfristigen Sicherung einer Quelle. Zu dieser Gruppe von Dingen gehören auch Drogen und Medikamente.

1. Dinge als Kulturgegenstände

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Ganz anders die Klasse von Gütern, die als Geschenke zusammenzufassen sind. Sie überdauern und haben einen individuellen Charakter gerade dadurch, daß sie von einer bestimmten Person zu einem bestimmten Anlaß geschenkt wurden, auch wenn sie sich sonst nicht von anderen Exemplaren ihrer Art unterscheiden. Mauss (1924) untersuchte die soziale Funktion von Geschenken in nicht-industrialisierten Gesellschaften. Er zeigte, daß der systematische Austausch von Geschenken, im Zusammenhang mit einer Norm zum Schenken und der Pflicht zu Gegengeschenken, ein System von gegenseitigen Verpflichtungen etabliert, das die sozialen Beziehungen einer Gruppe strukturiert und die Gruppenkohäsion stärkt. Dies zeigt sich auch in weitgehend kommerzialisierten Gesellschaften wie der unseren noch bei ritualisierten Geschenkanlässen wie Einladungen, Weihnachten und Übergangsriten wie Taufen und Hochzeiten (Schwartz, 1967). Besonders bindend seien, so Mauss (1924), das Schenken von Nahrung, also Einladungen zum Mahl. In diesem Falle gilt allein das Ereignis und die phantasierte somatische Folge, kein bleibendes Geschenk erinnert an die eingegangene Verpflichtung.

Tauschwert und Individualität von Objekten Nicht alle Dinge sind Konsumgüter oder käuflich erwerbliche Waren. Die Markierung sozialer Identität durch den Erwerb von Waren kann immer nur die Zugehörigkeit zu einer größeren sozialen Kategorie signalisieren; allein durch die individuelle Kombination solcher in großer Zahl existierender Objekte können sie die Funktion der persönlichen Distinktion erfüllen (Goffmans persönliche Identität als einmalige Kombination sozialer Identitätszeichen). Waren setzen voraus, daß sie mit der völlig heterogenen Gruppe aller Waren hinsichtlich ihres Tauschwertes vergleichbar sind. Nicht alle Objekte werden in einer Kultur als käuflich oder ertauschbar angesehen. Vom Markt ausgenommen sind oft Geschenke, Kunstwerke, heilige oder königliche Gegenstände, öffentliche Ländereien, Insignien, rituelle Objekte und, ein modernes Beispiel, menschliche Organe. Appadurai (1986) beschreibt kulturelle Prozesse der Integration von Objekten in den Warenaustausch (Diversifizierung) bzw. umgekehrt des Ausschlusses vom Markt (Enkapsulierung). Als Beispiele für die Ausgliederung von Objekten aus dem Warenverkehr nennt er die Ästhetisierung von ursprünglich technischen oder instrumentellen Objekten und ihre Einfuhrung in das Wohnzimmer, wie bei 'gefundener Kunst', exotischen Werkzeugen und dem Anlegen von Sammlungen von Briefmarken oder Telefonkarten.

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V. Symbolische Bedeutungen

KopytofF (1986) formuliert als Gegenstück zur Ware das individualisierte Ding. Es zeichnet sich von vergleichbaren Dingen durch bestimmte, identifizierende Merkmale aus, die ein Wiedererkennen des individuellen Exemplars erlauben. Als eine Möglichkeit der Individualisierung von Waren nennt er dessen langfristige Nutzung, die Spuren des Gebrauchs hinterlassen. Die gezielte Individualisierung hatten wir bereits als einen Aspekt des Personalisierens von Räumen gefaßt, die eben besonders dann nötig ist, wenn es um die Aneignung von nicht selbst hergestellten Räumen, speziell anonym gefertigten Räumen geht. Auch für die Aneignung und das Herstellen einer besonderen Beziehung zu einem Objekt ist seine Individualisierung ein notwendiges Element; besondere Beziehungen zu nichtindividualisierten Objekten sind zwar auch möglich, dann erstrecken sie sich aber auf Kategorien von Objekten, wie eine bestimmte Speise. Ein besonderer Mechanismus der Individualisierung ist der der Namensgebung. Eigennamen setzen die Wiedererkennbarkeit eines individuellen Objekts voraus und heben seine Singularität hervor. Sie ermöglichen es, im Gespräch auf sie zu verweisen, ohne sie spezifizieren zu müssen; darüber hinaus ermöglichen sie die direkte Anrede. Gewöhnlich verfugen nur Menschen und Orte über Eigennamen; wird ihnen der Name genommen, verlieren sie ihre distinkte Identität und erwerben gegebenenfalls mit einem neuen Namen eine neue Identität, beispielsweise Orte bei ihrer Eingemeindung oder bis vor kurzem Frauen bei ihrer Heirat. Totale Institutionen üben sich oft in der Praxis, ihren Insassen neue Namen zu verleihen (eine auch bei Konversionen geübte Praxis) oder sie gar jeglichen Eigennamens zu berauben und durch Nummern zu ersetzen. Seltener hingegen erhalten Objekte Eigennamen. Prominente Gebäude in einer Stadt tragen meist einen Namen, wenn sie hervorstechen und sich als Orientierungsmarke eignen, auf die man in der Rede bezugnehmen können möchte. Große Vehikel wie Flugzeuge, Schiffe und Lokomotiven werden getauft und tragen individuelle Namen. Neben diesen öffentlichen Namensgebungen kommen auch individuelle, private Namensgebungen vor, die sich häufig ebenfalls auf Häuser und Vehikel, so das Eigenheim, das eigene Auto, das eigene Boot beziehen. Aber auch wichtige Instrumente wie ehemals besonders Waffen wie Schwerter, Speere, Gewehre und Kanonen wurden von ihren Nutzern und Besitzern getauft und mit Namen angesprochen. Aber auch noch weniger öffentliche Dinge wie Stofftiere werden mit Eigenamen versehen. Wenn wir Tiere als Grenzfall zu persönlichen Objekten zählen, werden natürlich besonders diese mit Eigennamen versehen, da sie lebendig sind, und wahrscheinlich besonders dann, wenn es sich um einzelne Haustiere handelt, die die Wohnung mit einem teilen. Schließlich bilden diejenigen Objekte, die für eine Person stehen, einen Grenzfall, da sie mit dem Eigennamen dessen, für den sie stehen, angesprochen werden können.

1. Dinge als Kulturgegenstände

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Rogan (1990) nennt als die zwei wichtigsten Funktionen der Namensgebung an Dinge: a) ein Eigenname individualisiert das Objekt und macht es identifizierbar (s.o.), und b) er singularisiert auch im evaluativen Sinne, macht das Ding einmalig und damit wertvoll. Wird einem Objekt ein Eigenname verliehen, deute dies, jedenfalls bei der Namensgebung durch einzelne Personen, meist darauf hin, daß a) das Objekt von vitaler Bedeutung für den Namensgeber ist: der Ritter benennt sein Schwert, der Trucker seinen Lastwagen, die Crew ihr Schiff; die Abhängigkeit von dem Objekt führe oft gar dazu, daß ihm ein Eigenleben zugeschrieben wird; b) gehe dies manchmal so weit, daß der Namensgeber dem Objekt magische Kräfte zuerkennt. Auf diese Tendenzen gegenüber persönlichen Objekten werden wir unten erneut zu sprechen kommen. Von methodischem Interesse für unser Thema erscheint die von Rogan mit Belegen erhärtete These, daß Objekte, die dem Besitzer wichtig und individuell genug sind, um ihnen einen Namen zu verleihen, einen Fokus für persönliche Konnotationen bilden, so daß sie kognitive Strukturen des Individuums anzeigen, die anders als über das Objekt gar nicht zugänglich sind. Dies leitet zur Frage nach der Allgemeingültigkeit der Bedeutung von Objekten als Zeichen über.

1.5 Dinge als Zeichen zwischen Kultur und Individuum Strukturalisten wie Barthes deuten Systeme von Objekten mittels der Sprachmetapher und suchen analog zur sprachlichen eine objektale Struktur. Diese weitgehende Metapher läßt der Psychologie keinen Spielraum, da sie vom Sprach- bzw. Objektbenutzer abstrahiert. Andererseits muß auch eine Psychologie persönlicher Objekte sich mit der Symbolfunktion von Objekten auseinandersetzen und deshalb auch mit ihren sprachlichen Eigenschaften oder Deutungen. Denn spätestens die Deutung von Objekten, das Explizieren von Bedeutungen, bedarf der Sprache. Zuerst vergleichen wir sprachliche mit nichtsprachlichen Zeichen und Zeichensystemen, um dann an zwei Beispielen, nämlich einzelnen symbolischen Gegenständen und an Ritualen, den Spielraum des Individuums bei der Verwendung dinglicher Zeichen zu untersuchen.

Sprachliche und dingliche

Zeichen

Wie weit kann man die Analogie zwischen Objektsystemen und Sprache treiben? Inwieweit unterscheiden sich Dinge als Symbole von sprachli-

190

V. Symbolische Bedeutungen

chen Zeichen, und welche Anhaltspunkte fur Motive, sprachliche oder dingliche Symbole zu verwenden, ergeben sich? Auch Barthes (1967) deutete das System der Kleidungsmode nicht einfach als Sprache, sondern als Code, der durch die Sprache der Modezeitschriften interpretiert wird. Bei modernen Konsumgütern konstatiert er eine Überlagerung der Denotationen symbolischer Objekte durch ihre Konnotationen; ihre symbolische Funktion werde zusehends verleugnet, durch funktionale Begründungen überlagert und durch die impliziteren Konnotationen ersetzt, die eine ideologische Funktion erfüllten. Baudrillard unterscheidet eine Ebene der technologischen Rationalität von einer Ebene der kulturellen Bedeutungen von Objekten; jene gehorche technischen Anforderungen und einer "objektiven" Logik, diese der "Irrationalität der Bedürfnisse". Die "harte" Realität der materiell-technischen Erfordernisse und Eigenarten von Objekten treffe auf die sozialpsychologische Realität des Erlebens der Objekte, die ihre eigenen Zwänge auf die Objekte ausübe und so die technische Ebene ständig störe und modifiziere. Aus diesem Grund könne nicht die technische Ebene als Struktur oder langue, die sozialpsychologische als Realisation dieser Struktur oder parole gedeutet werden, da es jener an Autonomie mangele (Baudrillard, 1968, 12ff). Der traditionelle Objektgebrauch habe in deren praktischer Nützlichkeit gegründet, während moderne Konsumgüter nur mehr als konnotative Zeichen behandelt würden (ebd., 276). Während Barthes und Baudrillard de Saussures Unterscheidung von langue und parole, von zugrundeliegender, autonomer Struktur und ihren jeweiligen spezifischen Realisationen beibehalten, um die formalen Aspekte kultureller Systeme von Objekten studieren zu können, griff ebenfalls in den 60er Jahren Umberto Eco (1968) auf die Arbeiten von Charles Sanders Peirce zurück, um seine Kritik am strukturalistischen Modell der Analyse materieller kultureller Zeichen zu untermauern. Zwar seien Zeichen relativ überdauernd, doch ihre Referenten oder Signifikate änderten sich historisch. Im Unterschied zu de Saussures Dichotomie von Signifikat und Signifikant und seiner Ausklammerung der Zeichenverwendung hatte Peirce die Zeichenfunktion als eine triadische beschrieben: Die drei Elemente seien das physische existierende oder wahrnehmbare Zeichen (z.B. Wort oder Objekt), das zweite das, wofür es steht (Referenz, Denotation), das dritte der Interprétant als der letztlich konventionell bestimmte Akt der Deutung des Zeichens, wie sie sich in jedem konkreten Akt des Lesens realisiert, in diesen konkreten Akten aber nicht aufgeht. Welche systematischen Unterschiede gibt es zwischen Sprache und materiellen Codes? Peirce unterschied drei Arten von Beziehungen zwischen Zeichen und Objekt: Symbole sind konventionell bestimmte Zeichen, die keine natürliche Beziehung zu ihrem Referenten aufweisen; dies trifft auf die meisten Worte natürlicher und künstlicher Sprachen zu;

1. Dinge als Kulturgegenstände

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Indizes stehen in einer natürlichen Verbindung zu dem Objekt, auf das sie sich beziehen: beispielsweise in einer Teil-Ganzes- oder einer kausalen Beziehung wie bei Spuren, Anzeichen und Symptomen; ikonische Zeichen schließlich weisen formale Homologien mit dem Bezeichneten auf, wie Bilder und Skulpturen, manche Gesten, Modelle oder onomatopoetische Worte. Fungieren Objekte als materielle Zeichen, kann es sich um alle drei Arten von Zeichen handeln. Als Symbole i.S. Peirce' kann man die meisten Straßenschilder, so das quadratische Vorfahrtszeichen, verstehen; als Indices sind die Haarlocke einer Person oder Aspekte von Objekten anzusehen, die auf eine bestimmte Nutzung hinweisen, so die Abgegrif-

fenheit

des Teddybärs, die Verwaschenheit und Ausgebeultheit

Jeans, als ikonische Zeichen schließlich können Familienphotos anderen Bilder gelten, oder die Sterne auf dem Sternenbanner, die 50 Staaten stehen.

einer

und alle die f ü r

D a ß die drei Arten der Beziehung zwischen Zeichen und Referent sich nicht wechselseitig ausschließen, liegt im Falle von Objekten als Zeichen auf der Hand. Barthes zeigt bei der Untersuchung der Konventionalität von Kleidung als Zeichen, daß es bei Objekten außer indexikalischen und ikonischen noch eine sehr wichtige weitere nicht-arbiträre, natürliche Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem gibt, 3 nämlich die praktische Bestimmung oder überhaupt Verwendbarkeit des Objekts, die seine praktische, aber eben auch konnotative Bedeutung mitbestimmt. So können Fahrrad und Auto Mobilität und Unabhängigkeit symbolisieren (Barthes, 1967/1985, 222ff.). Solche funktionalen Bedeutungen kommen, wie wir bereits gezeigt haben, allen Gebrauchsgegenständen zu. Sequenzen indexikalischer Zeichen, wie bei der tierischen und der nonverbalen menschlichen Kommunikation, und ikonischer Zeichen, wie im Traum, weisen einige Spezifika gegenüber sprachlichen Mitteilungen auf, die Freud (1900) auf die Funktionsweise unbewußter Denkprozesse generalisierte (.Primärvorgang). U.a. sind mit ikonischen und indexikalischen Zeichen keine Negation, keine Tempora und kein M o d u s (Indikativ/Konjunktiv) auszudrücken. Ebensowenig können Metaphern als solche gekennzeichnet, überhaupt metakommuniziert werden. Es gibt auch keinen Hinweis darauf, worauf die Metapher sich bezieht, noch gibt es ein Symbol für die erste Person. Solche Kommunikation ist deshalb extrem kontextabhängig (Bateson, 1967; 1968).

3

Die Rede von natürlichen Verbindungen muß relativiert werden - auch sie vertrauen auf Konventionen. Eco (1968) zeigt, daß das Erkennen formaler Analogien mitbestimmt ist durch ikonographische Konventionen und Seh- und Bedeutungsgewohnheiten.

192

V. Symbolische Bedeutungen

Dinge unterscheiden sich weiterhin von der Sprache, aber in dieser Beziehung auch von der nonverbalen Kommunikation und dem Traum dadurch, daß sie nicht sequentiell, und überhaupt weit weniger universell zu einem Text oder einer Aussage kombinierbar sind (McCracken, 1988, 68); ebensowenig sind sie in bedeutsame Komponenten zerlegbar, wie es ein Text ist - Jakobson (1968) bezeichnet solche Zeichensysteme als idiomorph. Insofern ist ein Objekt mit symbolischer Bedeutung weniger mit einem Wort zu vergleichen als mit einer Aussage, wie dies Eco generell für ikonische Zeichen und Barthes (1964b) speziell für Gegenstände vorschlägt. Zugleich sind die ikonischen Codes einer Kultur für Dinge extrem variabel, was ihre Beschreibung praktisch sehr erschwert (Eco, 1972, 244f ). Ikonische Zeichen, und noch mehr symbolische Objekte, sind weit vieldeutiger als zumindest einzelne sprachliche Zeichen. Da Dinge also eher mit Aussagen als mit einzelnen Zeichen vergleichbar sind, ziehe ich es von nun an vor, sie nicht mehr mit ikonischen und indexikalischen Zeichen zu vergleichen, sondern ihre Beziehung zum Bezeichneten mit den rhetorischen Figuren der Metapher und Metonymie zu vergleichen. Die Metapher steht für ein Anderes aufgrund einer Ähnlichkeitsbeziehung, die Metonymie aufgrund einer Kontiguität (räumliche, zeitliche, kausale, Teil-Ganzes-Beziehungen). Jene ähnelt dem ikonischen, diese dem indexikalischen Zeichen. Vielleicht kommen die Kommentare von Semiotikern über den Zeichengehalt von Kunstwerken der symbolischen Bedeutung von Dingen noch am nächsten, wiewohl nicht alle Objekte ästhetisch rezipiert werden. Morris (1939) zeichnet ästhetische Objekte dadurch aus, daß sie selbstreferentiell sind, da sie die "unmittelbare Wahrnehmung von Werteigenschaften vermittels der bloßen Gegenwart dessen, was selbst den Wert besitzt, den es designiert" (1939/1988, 98), ermöglichen, da das materielle Zeichen selbst etwas von dem in sich verkörpert, was es darstellt. So symbolisiert ein Kiesel Harmonie und Perfektion dadurch, daß er selbst so rund und glatt ist. Im Unterschied zu anderen Zeichen spielt also ftir das ästhetisch aufgefaßte Objekt seine konkrete, materielle Dinglichkeit eine wesentliche Rolle für seine Bedeutung - dies dürfte im Prinzip für alle, auch die nicht primär ästhetisch verstandenen Objekte gelten (vgl. Miller, 1987, 99). Eco (1968) ergänzt, in Anlehnung an Roman Jakobson, die Vieldeutigkeit als notwendiges Kriterium für eine ästhetisches Objekt, seine Offenheit für vielfaltige Deutungen und Antworten - eine Eigenschaft, die in der Zeichenfunktion von Gegenständen bereits angelegt ist. Belassen wir es bei dieser vorläufigen Bestimmung der Zeichenfunktion von Dingen und wenden uns der Frage zu, ob die strukturellen Unterschiede zwischen Sprache und Objekten unterschiedliche Verwendungsweisen und Funktionen nach sich ziehen. 1. Bateson (1968) schreibt der nonverbalen Kommunikation ebenso wie Träumen und Kunstwerken die Funktion zu, formale Beziehungen

1. Dinge als Kulturgegenstände

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darzustellen, die im Fall von Träumen und nonverbaler Kommunikation interpersonelle Beziehungen sind. Der analogische (indexikalische und ikonische) Charakter der Zeichen gebe keine Subjekte und Objekte vor, sondern lediglich Beziehungen zwischen Elementen, deren Referenzobjekte situationsabhängig zu erschließen sind. Das ist zumindest auf solche Dinge übertragbar, die in der nonverbalen Kommunikation als Identitäts(ab)zeichen fungieren; sie weisen dem Träger/Bewohner/Besitzer eine soziale Position und Identität zu, die die Beziehung zu anderen bestimmt (s.u., 4 ). 2. Symbolische Objekte sind potentiell bedeutungsoffener. Zwar haben symbolische Objekte gewöhnlich für eine bestimmte Person auch spezifische Bedeutungen, für eine anonyme Gruppe von Rezipienten ist ihre Bedeutung aber relativ wenig festgelegt. Darüber hinaus sind ihre Bedeutungen meist impliziter als die Zeichen sprachlicher Kommunikation, es sei denn, es handele sich um konventionelle Zeichen wie Straßenschilder (Mick, 1986). Dabei werden sie unreflektierter, selbstverständlicher gelesen und beantwortet. Deshalb ist es schwieriger, die durch Objekte vermittelten Botschaften in Frage zu stellen als sprachlich vermittelte: "The artifact seems to imply a certain innocence of facticity" (Miller, 1987, 106). McCracken hält materielle Bedeutungsträger aus diesem Grund für besonders prädestiniert dazu, "fundamentale kulturelle Wahrheiten" zu symbolisieren, die jedem selbstverständlich sind, wie durch das Aufhängen eines christlichen Kreuzes oder einer Nationalflagge (1988, 68). 3. Die Haltbarkeit von Objekten impliziert eine weitere konservative Funktion, nämlich die, Mitteilungen über die Zeit hinweg zu machen; ein heute hergestelltes Objekt kann u.U. noch in Jahrzehnten gelesen werden. Besonders eignen sich hierfür haltbare, resistente Objekte wie steinerne Gebäude und Denkmäler, die individuelle oder Gruppenidentitäten konservieren (Firth, 1973, 81). 4. Die Haltbarkeit von Objekten verleiht darüber hinaus dem abstrakten Referenzobjekt des Dings eine Konkretizität und Dauer, die es sonst nicht hätte; kollektive symbolische Objekte wie Fahnen, Kirchen, Totemtiere, Wappen u.ä. ermöglichen einen unmittelbaren und sinnlichen Bezug zu abstrakten sozialen Einheiten wie den Vorfahren und der Nation (Firth, 1973, 131, 328ff.; vgl. Dürkheim, 1913). 5. Die Bedeutungsoffenheit von Objekten ermöglicht schließlich die Integration von einander widersprechenden Aussagen in ihrer gleichzeitigen Darstellung durch ein einziges materielles Symbol. Das zeigt sich wiederum speziell an politischen Symbolen, die den Vorteil haben, unterschiedlichste Interessen symbolisieren und symbolisch ideologisch integrieren zu können (McCracken, 1988, 69). Bislang haben wir immer noch die transindividuellen Bedeutungen von Objekten innerhalb einer Kultur, kulturelle Codes besprochen, die von einem individuellen Zeichenbenutzer mehr oder weniger genutzt

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V. Symbolische Bedeutungen

werden. Mehr sagt die Semiotik nicht zu individuellen Bedeutungsprozessen. Eco weist der Psychologie die Aufgabe zu herauszufinden, ob "die Wahrnehmung des wirklichen Gegenstandes reicher ist als die, welche die ikonische Aussage anbietet, die eine konventionalisierte Zusammenfassung dieser Wahrnehmung bietet" (Eco, 1972, 245). Zu diesem Zwecke wenden wir uns zwei kulturanthropologischen Debatten zu, in denen es beide Male um eine Annäherung an die Psychologie des individuellen Zeichenbenutzers geht.

öffentliche und private Zeichen Der Kulturanthropologe Firth bezeichnet als öffentliche Symbole solche, die in Mythen und Ritualen vorkommen und sich auf die Gruppe beziehen, als private Symbole hingegen solche, die in Träumen, Halluzinationen und Erleuchtungen so wie in persönlichen kreativen Produkten sprachlicher und materieller Art vorkommen, jedenfalls wenn sie allein für die Person selbst bestimmt sind (Firth, 1973, 207). Leach (1958) hatte versucht, öffentlichen Symbolen eine kommunikative Funktion vorzubehalten, und privaten Symbolen eine allein expressive Funktion zuzugestehen, was ihm dann eine saubere Trennung von Anthropologie und Psychologie gestattete. Firth argumentiert methodologisch gegen eine solche klare Unterscheidung. Die öffentliche Bedeutung von Symbolen sei nur über eine Sammlung individueller Berichte und Beobachtungen zu gewinnen, aus denen ein typisches kulturelles Deutungsmuster extrahiert wird. Leachs Unterscheidung mag als eine methodische Vorentscheidung zur Eingrenzung eines Forschungsgebietes legitim erscheinen. Doch als Behauptung über einen Gegenstand kann sie nicht überzeugen. Reaktionen auf Symbole umfassen doch immer beide Aspekte. So können Symbole mit privater Bedeutung, die beispielsweise durch ganz individuelle Assoziationen bedingt sind, für andere nachvollziehbar werden, wenn sie über die Informationen verfugen, über die die Person selbst verfugt, und somit der die Privatheit des Symbols bedingende exklusive Zugang des Individuums zu seinen Erinnerungen und Gedanken aufgehoben wird. Auf einer solchen Aufhebung basieren psychoanalytische Traumdeutungen, wenn sie nicht allein den Traum selbst (als privates symbolisches Gebilde) deuten, sondern wenn sie auf die Assoziationen, die Empfindungen und Informationen des Träumers gründen, die die privaten Bedeutungen der Traumsymbole aufzuklären vermögen. Eco nennt sie noch nicht kodifizierte Texte (1975, 349). Ebenso können ursprünglich private Symbole, die von einer Person kreiert werden, Eingang in die Kultur finden. Firth nennt als eines von vielen Beispielen das der Marguerite Marie Alacoque, die mit ihren Visionen den Kult des heiligen Herzens begründete (1973, 231ff ); letzt-

1. Dinge als Kulturgegenstände

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lieh müssen alle Innovationen auf dem Feld materieller Codes von Individuen und kleinen Gruppen ausgehen, deren ursprünglich private Symbole von anderen verstanden und aufgegriffen werden. Dies gilt für alle Moden wie Kleidungs- und Haarmode, für politische Symbole, usw. Im Prozeß der Konventionalisierung erhalten Symbole kulturelle Standardbedeutungen, die von den ursprünglichen individuellen Assoziationen abstrahieren (Obeyesekere, 1981). Viele Modelle erklären die Verbreitung kultureller Symbole immer noch als von den oberen Schichten ausgehenden Prozeß (vgl. McCracken, 1988), doch kann er genauso gut von Subkulturen bzw. von Individuen ausgehen, die nicht zu den herrschenden Gruppen gehören (Sommer, 1989). Erik Erikson versucht, die innovative Kraft der Ideen einzelner historischer Personen wie Luther oder Gandhi mit der Typizität der sie peinigenden Konflikte und ihrer individuellen Gabe, neue symbolische Lösungen zu finden, zu erklären. Auch Firth deutet im Gefolge des psychoanalytischen SymbolbegrifFs als wichtigste individuelle Funktion persönlicher Symbole die, symbolische Lösungen zu persönlichen Konflikten zu bieten (1973, 207). Obeyesekere (1981) greift das von Leach gewählte Beispiel des Haares auf und demonstriert an ihm das Ineinandergreifen öffentlicher und privater Bedeutungen. Er schildert die Bedeutung verfilzten Haares in Indien, das den Status innerhalb eines bestimmten Kultes signalisiert. An einzelnen Fallgeschichten macht er dann plausibel, daß den dem Kult beigetretenen Personen nach einer Reihe traumatischer Erlebnisse mit dem verfilzten Haar und dem speziellen, durch dieses signalisierten Status eine symbolische Integration zentraler Konflikte und unbewältigter Lebensthemen gelingt, also das, was Freud für die unfreiwillige und erstarrte Symbolisierung im hysterischen Symptom prosaischer als Kompromißlösung bezeichnet hatte.

Rituelle Symbolik - Darstellung und

Transformation

Zuletzt soll mit Hilfe von Victor Turners Deutung des Rituals exemplarisch der Prozeßcharakter und die transformative Potenz der Verwendung von dinglichen Symbolen gezeigt werden. Turner mißt der starren Ansammlung gegenständlicher Symbole in Form von Besitz selbst wiederum einen symbolischen Wert zu: Besitz symbolisiere und stabilisiere soziale Struktur, Besitzlosigkeit negiere sie. In der Schwellenphase von Übergangsriten verfügen die Beteiligten über keinerlei persönliche Habe, und in Erweckungsbewegungen, denen Turner eine dem sozialen Schwellenzustand homologe Struktur zuschreibt, gilt praktisch immer ein Armutsideal. Er verweist auf die symbolische Homologie der Gegensatzpaare Besitz versus Besitzlosigkeit und Ehe versus romantische, nicht besitzergreifende Liebe (1969/1989, 151).

196

V. Symbolische Bedeutungen

Doch Turner interessiert weniger das starre Bedeuten von Objekten als vielmehr der Prozeß der Symbolmanipulation im Ritual. Wie wir weiter oben gesehen hatten, versteht Mary Douglas das Ritual als erstarrte Darstellung und Bestätigung zentraler Elemente der sozialen Ordnung der Gruppe. Indem Turner das Ritual als Geschehen in der Zeit auffaßt, kann er, in Anlehnung an van Genneps Übergangsritual, in allen Ritualen drei Phasen entdecken, eine Trennungs-, eine Übergangs- bzw. Schwellen- sowie eine Angliederungsphase. Die Schwellenphase zeichne sich u.a. durch eine zeitlich begrenzte Auflösung der sozialen Ordnung (im Rahmen des vorgegebenen Rituals) aus, die in der dritten Phase erneut gefestigt wird. Die Symbolik von rituellen Objekten, Räumen und Handlungen sei im Vergleich zu profanen Symbolen hoch verdichtet. Diese Symbole vereinen besonders viele Bedeutungen gleichzeitig in sich. Rituale stellen symbolisch die soziale Ordnung dar, sowohl affirmativ wie sie symbolisch invertierend, sind selbst eine soziale Ordnung, und erlauben zugleich eine quasi kathartische Erregung und Befreiung der Sinne; auf diese Weise integrieren sie die moralisch-soziale Ordnung mit der biologisch-körperlichen (Un-)Ordnung der Triebe und sinnlichen Bedürfnisse und ordnen diese in jene ein (Turner, 1967, 28; 1969/1989, 55ff ). Rituale dienen aus Turners Sicht der Bewältigung und antizipierenden Vermeidung sozialer und individueller Konflikte und Krisen. Soziale Spannungen, individuelle Erkrankungen und soziale Übergänge können so bewältigt werden. Nur wenn man Rituale als Prozesse ernstnimmt, eröffnet sich neben ihrer kommunikativen auch ihre transformative Funktion. Sie wirken nicht nur einfach stabilisierend, die soziale Ordnung bestätigend, sondern schützen sie aktiv, indem sie drohende Krisen abwenden. Turner hält deshalb an der Bedeutung der religiösen bzw. magischen Komponente des Rituals fest und definiert es als dramatisches, "vorgeschriebenes, förmliches Verhalten bei Anlässen, die keiner technologischen Routine überantwortet sind und sich auf den Glauben an unsichtbare Wesen oder Mächte beziehen, die als erste und letzte Ursache aller Wirkungen gelten" (1982/1989, 126). Erst die Teilnahme am und aktive, gelungene Durchfuhrung des Rituals verleiht ihm seine integrative Wirkkraft. Die magische Wirksamkeit von Ritualen führt Tambiah (1970) auf die besondere Übereinstimmung von Wort und Handlung sowie die Bedeutung analogischer Symbolik zurück, die erlaubt, qua Nähe und Ähnlichkeit Handlungen an Objekten und Körpern auszufuhren, die übertragene Bedeutungen haben und aufgrund ihrer sinnlichen und symbolischen Qualität als wirksam gelten. Tambiah vergleicht die magische Wirksamkeit ritueller Handlungen mit der Kategorie performativer bzw. illokutionärer Akte, demjenigen Aspekt von Sprechhandlungen, der ihre intendierte Wirkung bezeichnet, und der ge- oder mißlingen kann (Searle, 1969). Heilrituale fuhren die symbolische Reintegration des Kranken in

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die Gruppe, Übergangsrituale die Transformation von Identitäten durch, die ohne das Ritual nicht zustandekämen. Turner betont also die Wirkung von Ritualen auf die Beteiligten durch ihren Charakter als Darstellung, der fiir die Beteiligten zu einem Erlebnis wird, einem Erlebnis, das in der Schwellenphase dem Fließerlebnis gleicht (1982/1989, 88ff.). Die Beteiligung aller Sinne verstärkt entscheidend die Wirksamkeit von Ritualen. Die zeitlich begrenzte Befreiung von normativen Zwängen in der liminalen Phase des Rituals, das Verschmelzen von Sprechen und Handeln und die transformatorische Potenz von Ritualen läßt sie dem kreativen Element des Spiels ähneln. Dies gilt besonders in modernen Gesellschaften. Doch die Deritualisierung des modernen Lebens hat zu einer Wandlung des Liminalen (als Charakteristikum von Übergangszuständen) zum Liminoiden gefuhrt. Darunter versteht Turner moderne Formen des Übergangs und sozialen Zwischenraums, die er vor allem als Muße, Freizeit, Kunst, Sport und Spiele identifiziert. Im Gegensatz zu genau definierten liminalen Zuständen in traditionellen Gesellschaften definieren sie sich nicht durch Pflicht, sondern Freiwilligkeit, nicht als kollektive, sondern individuelle Zustände, treten nicht zyklisch, sondern kontinuierlich auf, sind nicht im Zentrum sozialer Prozesse, sondern an ihrem Rande lokalisiert, und wirken nicht stützend gegenüber der Sozialstruktur; schließlich arbeiten sie nicht mit sozialen Repräsentationen, die innerhalb einer Kultur über eine universelle Gültigkeit verfugen und die Gruppenidentität und ihre Geschichte zum Ausdruck bringen, sondern sind idiosynkratisch, "ihre Symbole sind dem persönlich-psychologischen näher als dem objektivsozialen Pol" (Turner, 1982/1989, 85ff ). Die Psychologisierung von Symbolen entspricht also nicht allein einer Methoden- und Perspektivenwahl, sondern zugleich auch einer historischen Tendenz. So stellt sich die Frage nach Bedeutung und Funktion persönlicher Objekte im adoleszenten Übergang als moderne Version des Interesses des Ethnologen an Übergangsritualen in traditionellen Gesellschaften dar. In den beiden letzten Abschnitten (1.4, 1.5) habe ich Versuche von Anthropologen dargestellt, die allein soziologische Deutung dinglicher Zeichen (1.1, 1.2, 1.3) auf die individuelle Zeichenverwendung zurückzubeziehen. Zwar gelingt es ihnen, allein gesellschaftszentrierte Modelle aufzuweichen und Schnittstellen zwischen Kultur und Individuum anzugeben. Doch die Schwelle zur Betrachtung des individuellen Dingbezugs, seiner Formen, seiner Bedingungen und seiner Mechanismen, und damit zur Psychologie, überschreiten wir erst mit den nächsten beiden Abschnitten, die der individuellen Genese und den Modi der Zeichenverwendung gewidmet sind. Von den bislang rezipierten bzw. erarbeiteten Einsichten und Begriffen werden wir einige später aus psychologischer Perspektive wieder aufgreifen können.

198

V. Symbolische Bedeutungen

2. Vygotskys Theorie der kulturellen Genese der höheren mentalen Funktionen Die im ersten Abschnitt erörterten Ansätze zeichnen sich dadurch aus, daß sie sich primär an kulturellen bzw. gesellschaftlichen Bedeutungen und Funktionen von Objekten orientieren. In diesem zweiten und dem folgenden Abschnitt gehen wir auf zwei Klassiker der Psychologie zurück, die unabhängig voneinander in den 10er bis 30er Jahren dieses Jahrhunderts aus einer ähnlichen Perspektive und aus einer ähnlichen Unzufriedenheit mit der damaligen sowjetischen bzw. amerikanischen Variante der Theorie des klassischen Konditionierens heraus nach der Phylo- und Ontogenese der menschlichen Intelligenz, speziell der symbolisch vermittelten Intelligenz fragten, nämlich Lev Vygotsky (2.) und George Herbert Mead (3.). Von den beiden Autoren verstand sich Vygotsky als auch experimentell arbeitender Psychologe, Mead als theoretischer Sozialpsychologe und Philosoph. Die umfassenden Theorien dieser beider Autoren bieten die Grundlage für die folgende systematische Darstellung der Funktionen persönlicher Objekte, die ohne einen derartigen theoretischen Rahmen allzu disparat nebeneinander träten. Vygotsky rezipierte die zeitgenössische deutsche, französische und amerikanische Psychologie und Kulturanthropologie in einer Breite und verwendete sie so kreativ zu seinen Zwecken, wie dies wohl keinem Zweiten zu seiner Zeit gelang. Er begann seine Laufbahn mit Arbeiten zur Psychologie der Kunst, speziell literarischen Schaffens. Dabei wurde er von zeitgenössischen Literaturtheoretikern und Linguisten beeinflußt, was sich später in seinen Auffassungen von der Genese und Funktionen der Sprache niederschlagen sollte (s. Kozulin, 1990). Seine psychologischen Interessen richteten sich von Beginn an auf die von ihm als höhere mentale Funktionen bezeichneten Kulturleistungen von Individuen. Hinzu trat seine Überzeugung, allein mit der genetischen Methode die Genese menschlicher Intelligenz adäquat erfassen zu können. Wie viele seiner Zeitgenossen suchte er Parallelen zwischen Phylo- und Ontogenese sowie scheinbar defizitären Formen menschlicher Intelligenz, wie geistiger (und körperlicher) Behinderung und Schizophrenie. Im Unterschied jedoch zu Heinz Werner (1940), der formale Homologien zwischen dem Denken in primitiven Gesellschaften, Kindern und Verrückten und deren Evolution zu reifem Denken suchte, die er dem Begriff der Orthogenese subsumierte, insistierte Vygotsky auf wichtigen Unterschieden zwischen diesen. So ließen sich die Intelligenz von geistig Behinderten und Geisteskranken nicht geradewegs als Regressionsphänomene begreifen; vielmehr seien Kompensationsleistungen und zwischenzeitig erfolgte Entwicklungen zu berücksichtigen, die das Denken geistig Behin-

2. Kulturelle Genese mentaler Funktionen

199

derter und Schizophrener von dem von Kindern unterscheide (Vygotsky, 1932a; 1935). Ähnliches gelte für Phylo- und Ontogenese. Im Unterschied zur Phylogenese vollzieht sich die Ontogenese im Kontext einer bereits bestehenden Kultur und unter deren wesentlicher Beteiligung. Anders als der späte Piaget, der die Intelligenzentwicklung als autochthone Entwicklung des Organismus in Auseinandersetzung mit seiner natürlichen Umwelt konzipierte, hält Vygotsky das Erlernen kultureller Techniken und Wissens durch Lernerfahrungen mit Erwachsenen für den wesentlichen Katalysator der Ontogenese höherer mentaler Funktionen. Die individuelle Entwicklung ist mithin als kulturelle zu verstehen. Im Unterschied zur Fortentwicklung des Menschenaffen zum Menschen basiert die Kulturentwicklung nicht mehr auf Veränderungen der biologischen Ausstattung, sondern auf Veränderungen, die außerhalb des einzelnen Menschen liegen und nicht vererbt, sondern tradiert werden, was wiederum das Verfugen über ein symbolisches Medium, die Sprache, voraussetzt (Vygotsky & Luria, 1930/1987, 75f ). Vygotsky rezipierte Dürkheims Begriff der faits sociaux, der transpersonalen sozialen Repräsentationen, dessen Rezeption durch LevyBruhl (ebd., 67), Dürkheims Deutung des Totemtieres als Symbol der Gruppe ebenso wie Halbwachs' Begriff des sozialen Gedächtnisses, und machte es sich zur Aufgabe, den Prozeß der individuellen Aneignung sozialer, kultureller Begriffe zu untersuchen (s. Kozulin, 1990, 123 ff ). Vygotsky wies neben der Sprache auch der materiellen Kultur eine bedeutende Rolle für den Prozeß der kollektiven Tradierung und der individuellen Enkulturation zu, weshalb sein Werk hier von Interesse ist. Als interessant wird sich besonders Vygotskys parallele Konstruktion von Instrumenten- und Dinggebrauch als vermittelnden Instanzen sowie die Funktion erweisen, die er der Selbstkommunikation, und in dieser dinglichen Zeichen zuweist. Um diese Konzeptionen verständlich zu machen, bedarf es jedoch einer gewissen Einführung in seine Theorie.

2.1 Niedere und höhere mentale Funktionen Vygotsky (1931a) kritisiert an der zeitgenössische Reflexologie und behavioristischen Psychologie, daß sie versuchen, die komplexeren menschlichen Fähigkeiten durch die elementareren zu erklären. So unterschieden sie nicht zwischen sprachlichen und nicht-sprachlichen Reizen. Solange man an der Reiz-Reaktions-Formel festhalte, vermöge man die menschliche Fähigkeit, sich zwischen zwei gleich starken Stimuli zu entscheiden, also das Phänomen des Willens, nicht aufzuklären; ohne diese Fähigkeit führt die Situation zur experimentellen Neurose, wie sie Pavlov an Hunden demonstriert hatte.

200

V. Symbolische Bedeutungen

Es bedarf der Konzeption einer vermittelnden Instanz zwischen Reiz und Reaktion, die den zwingenden Charakter der Verbindung aufhebt. Das Paradigma für diese Vermittlung findet Vygotsky in fossilen Verhaltensmechanismen, die beim Erwachsenen überlebt haben, obwohl sie einer früheren Entwicklungsphase entstammen. Als Beispiele nennt er Methoden der Entscheidungsfindung wie das Würfeln, Münze werfen, Karten legen und das Deuten von Träumen, dazu gehören weiterhin Abzählregeln z.B. fürs Knöpfeabzählen oder Abziehen von Blütenblättern (sie liebt mich, sie liebt mich nicht, ...), Abzählreime, um Rollen im Spiel zu verteilen, das Legen von I Ging, das Horoskop und vieles mehr. All diese Techniken fuhren zwischen Reizsituation und Reaktion ein Drittes Element, einen Hilfsreiz ein, mit dem das Individuum die Situation umstrukturiert und sie so kontrolliert (1931a/1974, 11 Off.). So nutzt der Mensch die Wirksamkeit von Reiz-Reaktionsverbindungen, indem er neue dingliche Reize in die Situation einfuhrt, um das eigene Verhalten zu lenken. Auch die Funktion des Gedächtnisses steigert der Mensch mit externen Hilfsmitteln, angefangen bei ganz einfachen wie dem Knoten im Taschentuch. Vygotsky zitiert Pierre Janets Studie über das Gedächtnis (Kozulin, 1990, 138), das dieser als aktive Handlung der Person versteht, die sozialer Natur ist und sich erst in der Situation des EtwasJemandem-Erzählens konstituiert. Janet nennt in diesem Zusammenhang als Beleg für den aktiven Charakter des Gedächtnisses "das, was wir auch heute noch als Souvenirs bezeichnen": "Die ersten Erinnerungen sind Erinnerungen an Objekte und bedienen sich der Hilfe von Objekten. Eine Person, die sich an etwas erinnern möchte, ergreift etwas, das sie mit sich fortträgt; man bindet einen Knoten ins Taschentuch, steckt einen kleinen Kiesel in die Tasche, nimmt ein Papier oder Blatt mit. [...] Aus fremden Städten bringen Sie Souvenirs mit nachhause [...]; sie sind Ihre Eselsbrücken, Ihre Erinnerungsstützen. Das Gedächtnis ist sehr oft materiell" (Janet, 1928, 262) In der Folge Janets nennt Vygotsky weitere elaborierte kulturelle materielle Erinnerungssysteme wie Knotensysteme und Bilderschrift bis hin zur Schriftsprache. 4 Für die psychische Funktion des Rechnens führt er das Zählen mit Hilfe der Finger als Beispiel eines externen Hilfsmittels auf.

4

Vygotsky & Luria, 1930/1987, 83ff.; Vygotsky, 1931a/1974, 116f.. - Die Verwendung materieller Gedächtnisstützen, um sich an eine geplante Handlung zu erinnern, ist in einigen wenigen Studien untersucht worden (z.B. Harris, 1978; 1984; Meacham & Leiman, 1982). Kreutzer und Kollegen erfragten die Verwendung solcher Hilfsmittel bei Kindern (Kreutzer, Leonard & Flavell, 1975). Neisser (1982) weist darauf hin, daß Gedächtnisstützen auch für retrospektives Erinnern verwendet werden - solche sind in der Gedächtnispsychologie allerdings noch seltener untersucht worden.

2. Kulturelle Genese mentaler Funktionen

201

All diese vom Menschen geschaffenen, also künstlichen und sich selbst gesetzten Reize-qua-Objekte, die dazu dienen, die Reizsituation zu verändern und so das eigene oder auch das Verhalten anderer zu steuern, bezeichnet Vygotsky als Zeichen. Sie sind doppelt über ihre Artifizialität und ihre Funktion der Verhaltenssteuerung definiert (ebd., 123). Ursprünglich handele es sich um konditionierte Reize. Vom dem höheren Tieren und Menschen gemeinen Prozeß des Signalisierens mittels konditionierter Reize i.S. Pavlovs, unterscheidet sich der eben beschriebene, genuin menschliche Prozeß des Bedeutens durch die Schaffung und Setzung von Reizen; das wichtigste Zeichensystem schuf sich der Mensch mit der Sprache (ebd., 125). Somit sind die höheren mentalen Funktionen des Menschen keine natürlichen, sondern kulturelle, die ohne die Kultur nicht immer wieder je individuell erlernt werden könnten.

2.2 Gegenstände als Werkzeug und Symbol Vygotsky zieht eine Parallele zwischen der Funktion von Zeichen und von Werkzeugen, die beide eine instrumenteile Rolle gegenüber den Objekten von Handlungen erfüllen. Beide vermitteln zwischen dem Menschen und dem Objekt seiner Handlung, fuhren ein Drittes in die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt ein. 5 Der Gebrauch beider gehört zu den genuin menschlichen höheren mentalen Fähigkeiten, beide erlauben die Herrschaft über die Umwelt. Sie unterscheiden sich voneinander durch die Objekte der durch sie vermittelten Handlungen. Werkzeuge dienen einer Veränderung des Objekts selbst, und zwar der Natur, während Zeichen das Verhalten anderer oder der eigenen Person psychologisch beeinflussen, also nicht der Beherrschung der Natur, sondern der des Menschen selbst dienen (ebd., 136ff.; 1930a). Vygotsky meint, damit eine präzisere Definition des Phänomens des Willens bzw. der Kontrolle der Situation geben zu können als dies Lewin gelungen war. Zudem definiert er mit dem Zeichengebrauch eine Entwicklungsphase, die andere nur unvollständig begriffen hatten; anknüpfend an Bühler und Köhler (1917) definiert er zunächst drei Entwicklungsphasen, zu deren dritter eine rudimentäre Form des Instrumentenund Zeichengebrauchs gehört (ebd., 175ff; 203f ). Diese sind: 1. Steuerung des Verhaltens durch Instinkte und konditionierte Reaktionen; 5

Für einen rezenteren Rekurs auf Hegel für die Deutung der Rolle von Artefakten für die Kultur s. Miller, 1985.

202

V. Symbolische Bedeutungen

2. Erwerb der Fähigkeit, bestimmte psychische Funktionen durch andere zu ersetzen oder auf Umwegen zum Ziel zu kommen. Paradigmatisch nennt er Kompensationsleistungen bei Behinderungen bzw. die von Köhler für Affen erfundenen Umwegprobleme; 3. Der Einsatz von vermittelnden Reizen, mittels derer die Person auf Verhaltensobjekte, also auf die natürliche (Dinge als Instrumente) und soziale Umwelt (Zeichen als Signale) einwirkt. Als Beispiel kann der Stockgebrauch der Köhlerschen Affen dienen, die entdecken, daß sie mit langen Gegenständen an die eigentlich für sie zu hoch hängenden Bananen herankommen, als Beispiel eines sozialen Zeichens die Drohgebärde des Zähnefletschens. Von diesen drei Phasen trennt Vygotsky eine 4. Phase, die sich a) in der Phylogenese durch die selbstreflexive Wendung des Zeichengebrauchs zur Steuerung des eigenen Verhaltens bestimmt, b) in der Ontogenese hingegen durch die Internalisierung der Zeichen; das Individuum bedarf dann nicht mehr der Unterstützung durch materielle Zeichenträger. 6

2.3 Von der Fremd- zur Selbstimulierung Hier knüpft Vygotsky an die Hegeische Figur von Herr und Knecht an, deren ursprünglich auf zwei Personen verteilte Funktionen von Befehlen und Gehorchen in einem weiteren Entwicklungsschritt von einer einzigen

6

Die Differenzierung von dritter und vierter Entwicklungsphase fällt bei Vygotsky nicht eindeutig aus. An anderen Textstellen scheinen Zeichengebrauch gegenüber Anderen wie gegenüber sich selbst zu ein- und derselben Entwicklungsphase zu gehören, (z.B. ebd., 125). Im Kontext der Diskussion der Phylogenese hingegen entspricht Vygotskys Stadieneinteilung wiederum der hier wiedergegebenen: Er diskutiert die Unterschiede zwischen dem Instrumentengebrauch der Köhlerschen Affen, die Situationen umstrukturieren und somit neue Lösungen erfinden können, solange sie dazu nicht auf etwas außerhalb der gegebenen, gleichzeitig wahrgenommenen Situation Liegendes zurückgreifen müssen (begrenzte Einsichtsfähigkeit), und die Instrumente aufgrund ihrer funktionellen Äquivalenz benutzen (3.Phase), und dem Menschen, der über Zeichensysteme verfügt und sein eigenes Verhalten kontrollieren kann und so zum Werkzeuggebrauch im Rahmen von Arbeit fähig ist (4.Phase - Vygotsky & Luria, 1930/1987, 52ff.). Wenn aber schon Menschenaffen auf der dritten von vier Entwicklungsstadien stehen, wie sind dann die systematischen Unterschiede, die Vygotsky zwischen dem primitiven und dem zivilisierten Menschen findet (ebd., 2.Kap.), in Termini der Entwicklungsstadien zu verstehen? Hier zeigt sich, daß die vier Entwicklungsstadien ein Denkmodell liefern, das je nach seiner Anwendung auf Phylogenese (Vergleiche Affe-Mensch, Primitiver-Zivilisierter), Ontogenese bzw. geistige Behinderung unterschiedlich zu konkretisieren ist.

2. Kulturelle Genese mentaler Funktionen

203

Person verinnerlicht werden. Dadurch befähigt sich diese, sich selbst Befehle zu erteilen, die eigenen Handlungen zu kontrollieren. In der Psychologie kann Vygotsky an James Mark Baldwin und die von diesem beeinflußten späten Janet und frühen Piaget anknüpfen. Janet (1930) hatte formuliert, daß das Kind diejenigen Verhaltensweisen beginnt gegenüber sich selbst an den Tag zu legen, die andere ihm gegenüber gezeigt haben (s. van der Veer & Valsiner, 1988). Piaget (1924) hatte Denken und Urteilen als verinnerlichten Dialog mit anderen Personen aufgefaßt. Vygotsky selbst formuliert als Grundannahme, daß "jede psychische Funktion zweimal in der Entwicklung auftritt, zuerst als kollektive, soziale Handlung, also als interpsychische Funktion, und dann zum zweiten Mal als individuelle Handlung, als dem Denken des Kindes inhärentes Phänomen, also als intrapsychische Funktion" (Vygotsky, 1934a/1974, 306; vgl. 1931a/1974, 201) Als Beispiel fuhrt Vygotsky die Genese der Zeigegeste an: Aus dem vergeblichen Greifen nach einem Objekt und der Reaktion des Erwachsenen darauf, der die Bewegung als Äußerung eines Wunsches versteht, folgt schließlich die Übernahme dieser Bedeutung durch das Kind selbst, das dann gezielt einem Erwachsenen auf ein Objekt deuten und die Bewegung zu einer Geste verkümmern lassen kann. Auf diese Weise behauptet Vygotsky nicht nur die Soziogenese der höheren mentalen Funktionen, global der Intelligenz, zugleich vermag er so auch, zumindest prinzipiell, wenn auch nicht im Detail, die Vermittlung sprachlich gefaßter kollektiver Repräsentationen und kultureller Kategorien zu konzipieren. Zugleich erhellt er aus einer ganz anderen Perspektive die Ontogenese der Zeichenfunktion von Objekten. In seinen Experimenten wurden Dingen künstlich Bedeutungen zugemessen und getestet, wieweit Kinder mit diesen arbeiten können, um sich ihre jeweilige Aufgabe zu erleichtern. Beispielsweise sollten in einem Entscheidungs- bzw. Diskriminationstest Kinder auf fünf bis sechs verschiedene Farben eines Lichtes jeweils eine spezifische motorische Reaktion zeigen, beispielsweise auf eine bestimmte Taste drücken. Nach den ersten paar Versuchen fragen die älteren Kinder systematisch erneut nach den Verbindungen zwischen Stimulus und erforderlicher Reaktion, während die jüngeren noch gar nicht ihre Überforderung, und das heißt ihre Fähigkeit, einzuschätzen wissen und deshalb nicht fragen. In einem zweiten Schritt, und dieser ist das Kennzeichen der Vygotskyschen Versuche, werden dem Kind Hilfszeichen zur Verfügung gestellt. Auf die Tasten werden Figuren geklebt, und als Stimuli dienen weitere Figuren, die in einem sinnvollen Bezug zu den Figuren auf den Tasten stehen (Pferd - Schlitten, Brot - Messer). Ab ca. dem 7. Lebensjahr erhöht sich die Leistungsfähigkeit der Kinder dadurch erheblich.

204

V. Symbolische Bedeutungen

Doch wenn die sinnvollen Bezüge zwischen den beiden Zeichenserien durch sinnlose ersetzt werden, bestehen die Jüngeren aufgrund einer Art magischen Denkens auf den alten Verbindungen, darauf, daß gedanklich zusammengehörende Dinge auch physisch zusammengehören (2. Phase, magischen Denkens). Nur die älteren, 10-11-jährigen Kinder können auch diese willkürlichen Verbindungen nutzen, um ihre Leistung zu steigern (3. Phase, des Gebrauchs konventioneller externer Zeichen). In der vierten Phase schließlich lernen Kinder, sich durch Übung von den externen Zeichen unabhängig zu machen, sich die Verbindungen ohne ihre Hilfe zu merken, sie zu internalisieren. 7 Die methodische Grundidee Vygotskys besteht darin, automatisierte Verhaltensweisen zu erschweren und so zu deautomatisieren, um dann externe psychologische Instrumente, also Zeichen, als Hilfe anzubieten. Dinge werden also von der Kultur, d.h. konkret von Erwachsenen gegenüber dem Kind mit einer bestimmten Bedeutung verwendet, auf die das Kind reagiert und so dann lernt, das Objekt-Zeichen auch als Zeichen für die Steuerung des eigenen Verhaltens einzusetzen. Wird nun der Gebrauch externer Zeichen auf der vierten Entwicklungsstufe völlig aufgegeben? Vygotsky vertritt einen starken Entwicklungsbegriff. Er konzipiert Entwicklungsstufen als qualitativ neue Strukturen, die durch die Integration zuvor nicht miteinander verknüpfter Funktionen erreicht wird (s. 2.4); sie heben die älteren Formen in sich auf, integrieren sie. Dennoch bleiben die älteren Formen mentaler Funktionen bestehen, so wie eine ältere Erdschicht unter einer neueren liegt. Jene zeigen sich beim Erwachsenen zum einen in Form fossiler Verhaltensweisen (s.o.), zum anderen werden sie reaktiviert, wenn das Individuum vor besonders schwierigen Aufgaben steht. Wenden wir uns nun noch der Sprachentwicklung selbst zu, in der Vygotsky die praktische und kommunikative Entwicklung zueinander in Beziehung setzt.

2.4 Vom Gespräch zum Denken Die wichtigste höhere mentale Funktion ist die des Denkens, das wichtigste kulturelle Zeichensystem die Sprache. In seinem im Westen bekanntesten Werk Denken und Sprechen, begründet Vygotsky (1934b) seine Theorie der Ontogenese von Intelligenz und Sprache. Beide ent-

7

Ebd., 212ff.; vgl. ausführlicher Vygotsky & Luria, 1930, 3.Kap., sowie Vygotsky, 1932b; die Stufenfolgen und Altersangaben variieren erheblich von Text zu Text und Experiment zu Experiment; ich habe hier die ausführlichere, vierphasige Sequenz geschildert.

2. Kulturelle Genese mentaler Funktionen

205

wickelten sich anfanglich unabhängig voneinander, die Intelligenz als vorsprachliche praktische Intelligenz i.S. Piagets sensumotorischer Intelligenz, zu der bereits der Erwerb der Fähigkeit gehört, Objekte instrumenteil einzusetzen (Piagets tertiäre Zirkulärreaktion, Vygotskys dritte Entwicklungsstufe), und die kommunikativen Fähigkeiten als vorsprachliche Kommunikation durch Laute, Blicke, Mimik und Gesten, die der sozialen Interaktion und dem Ausdruck emotionaler Regungen dienen. Mit dem im zweiten Lebensjahr einsetzenden Erwerb der Symbolfunktion i.S. Piagets, - die dieser als den sprachlichen Fähigkeiten (sowie den mentalen Bildern und dem Symbolspiel) zugrundeliegend versteht, während Vygotsky die Symbolfunktion als primär sprachlich auffaßt, verquicken sich die beiden Entwicklungslinien miteinander: Die Kommunikation wird intelligent, die Intelligenz sprachlich. Letzteres demonstriert Vygotsky an dem von Piaget (1923) beschriebenen Phänomen des egozentrischen Sprechens. Piaget hatte dokumentiert, wie Vorschulkinder nicht nur miteinander und mit Erwachsenen sprechen, sondern auch, durchaus in Anwesenheit anderer, vor sich hinsprechen, ohne sich dabei auf einen Hörer einzustellen oder ihn anzusprechen. Piaget hatte das egozentrische Sprechen als Symptom der mangelnden Dezentrierung bzw. Perspektivenübernahme des Kindes gedeutet, das erst ab ca. dem 5. Lebensjahr, wenn das egozentrische Sprechen zusehends verschwindet, die Sprache sozial verwendet, indem es sich auf den Hörer einstellt. Vygotsky hingegen deutet das egozentrische Sprechen der Vorschulkinder fast in umgekehrtem Sinne: Es handele sich nicht um eine defizitäre Kommunikation, sondern um ein Entwicklungs-, ein Übergangsphänomen in dem Prozeß der Versprachlichung des Denkens. Zuerst finde das versprachlichte Denken als lautes Denken statt, und werde erst sukzessive verinnerlicht zu einem mentalen, stillen Sprechen, dem sprachlich vermittelten Denken. Kohlberg, Yaeger und Hjertholm (1968) spezifizieren diese Sequenz der Entwicklung privaten Sprechens und können sie weitgehend experimentell bestätigen. Wie Vygotsky konzentrieren sie sich auf die selbstlenkende Funktion inneren Sprechens. Inzwischen konnte eine ganze Reihe von Studien belegen, daß aufgabenfokussiertes Sprechen mit sich selbst die Fähigkeit zur Meisterung motorischer und Gedächtnisaufgaben, zum Aufschub von Befriedigung, zur Impulskontrolle und zur Meisterung interpersoneller Konflikte, z.T. entwicklungsabhängig, steigern kann. Copeland (1983) vermutet darüber hinaus eine wichtige Funktion des Selbstgesprächs in der Bewältigung intrapsychischer Konflikte. Vor schwierige Probleme gestellt, wird das innere Sprechen bei älteren Kindern und Erwachsenen deautomatisiert und wieder reexternalisiert (vgl. Kohlberg et al., 1968; zum Überblick s. Fuson, 1979; Copeland, 1983). Das egozentrische Sprechen des Vorschulkindes bzw. die Selbstgespräche älterer Personen sind ein weiteres Beispiel für Vygotskys Grund-

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V. Symbolische Bedeutungen

these von der sozialen Konstitution mentaler Funktionen, die zuerst in Interaktion mit anderen, dann allein mit äußeren Hilfen und schließlich automatisiert und internalisiert ablaufen. Daraus ergibt sich ein dialogischer Charakter des Denkens, der, so meint Kozulin (1990, 177), bei Vorschulkindern mitunter noch in an bestimmte Personen erinnernder Intonation und Inhalt bestimmter Phrasen identifizierbar ist. Auch an der Entwicklung des Denkens ist zu sehen, wie der Zeichengebrauch erst sozial, dann abgelöst vom Anderen selbstreflexiv und schließlich verinnerlicht vonstattengeht. Die Übergangsphase des egozentrischen Sprechens bietet ebenso wie die Phase des Gebrauchs externer Zeichen den methodischen Vorteil, eine sonst still ablaufende mentale Funktion beobachten zu können. So zeichnet sich das egozentrische und private Sprechen durch einige Besonderheiten aus, von denen anzunehmen ist, daß sie auch dem stillen Denken zueigen sind (Vygotsky, 1934b; Ushakova, 1985/1986): 1. An sich selbst gerichtetes Sprechen ist syntaktisch verkürzt, da das Subjekt häufig fehlt und allein das Prädikat (und Objekt) erscheinen, also Bekanntes vorausgesetzt {Thema) und nur das Neue {Rhema) genannt wird (prädikative Sprache). Dies ist typisch für eine Kommunikation zwischen einander sehr vertrauten Personen, die über einen großen Schatz gemeinsamen Wissens verfugen, aus dem lediglich per Implikation etwas ausgewählt werden muß, um dem anderen etwas darüber zu bedeuten; überdies ist es typisch für gesprochene Sprache, die in starkem Maße darauf beruht, daß das Gesagte sich durch die situativen Umstände klärt, per Implikation oder per deiktischem Ausdruck (kontextualisierte Sprache). Da der Adressat des Selbstgesprächs die eigene Person ist, verfugen in diesem Falle Sprecher und Hörer über die größtmögliche Übereinstimmung hinsichtlich des Wissens, auf das sich das Gesagte bezieht. 2. Vygotsky unterscheidet zwischen der Bedeutung eines Wortes, seiner abstrakten, kontextunabhängigen Denotation, und seinem Sinn, der sich in einer konkreten Situation für einen bestimmten Rezipienten realisierenden Bedeutung des Wortes, also alle Bedeutungsaspekte und Implikationen, die durch den Kontext nahegelegt werden. Egozentrisches Sprechen, Sprechen mit sich selbst zeichnet sich nun durch ein Überwiegen des Sinns vor der Bedeutung der Worte aus. 3. Damit hängen die beiden anderen Eigenarten des Sprechens mit sich selbst zusammen. Es tritt das Phänomen der Agglutination von Worten auf, die miteinander verschmelzen, sich dabei verändern und einen neuen, komplexen Sinn bekommen. 4. Schließlich kommt es zu einem gegenseitigen Einfluß des Sinns der Worte aufeinander; mehr als die Bedeutung wird der Sinn eines Wortes durch den textualen Kontext determiniert (Vygotsky, 1934b, 343ff.).

2. Kulturelle Genese mentaler Funktionen

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Selbstgespräche und inneres Sprechen weisen also alle Merkmale einer hochintimen und deshalb verdichteten und implikativen Sprache auf.

2.5 Symbolische Funktionen von Dingen Den Beitrag Vygotskys zu unserer Frage nach der symbolischen Bedeutung persönlicher Objekte kann man in drei Punkten zusammenfassen. Der erste besteht in der Auffassung von Instrumenten und Symbolen als vermittelnder, triadisierender Instanz, der zweite in der Spezifizierung der Dimension öffentlicher versus intimer Kommunikation und der besonderen Eignung von Dingen fiir letztere sowie drittens der Rolle von dinglichen Zeichen für die Selbstkommunikation.

Die Vermittlung von Mensch und Umwelt, Kultur und Individuum durch ein Drittes Im vierten Kapitel hatten wir, soweit es um die Person-Umwelt-Beziehung ging, eine zweistellige Relation behandelt, mit der Person auf der einen, ihrer Umwelt auf der anderen Seite. Diese Beziehung erweiterte sich, jedenfalls potentiell, zu einer dreistelligen Relation, sobald wir Objekte in der Umwelt isolierten und somit von ihr trennten. Speziell bei der Diskussion des Privatheitbegriffs, aber auch der persönlicher Territorien, hatten wir die symbolische Funktion von Dingen besprochen, die Umwelt in eine persönliche und eine öffentliche zu teilen. Das Individuum setzt sie zwischen sich und andere, verbindet sich so mit diesen anderen, indem es ihnen etwas mitteilt, und trennt sich von ihnen, indem es ihnen bedeutet, nicht in seinen Raum einzudringen. Peirce hatte den Begriff der Vermittlung einer Beziehung zwischen zwei Elementen durch ein drittes als wesentliche Qualität der Zeichenfunktion herausgearbeitet. Doch unterscheiden sich die drei Arten von Zeichen, nämlich Ikon, Index und Symbol, hinsichtlich der Qualität der Vermittlung. Die ikonische Zeichenbeziehung ist eine doppelt degenerierte Triade, da weder die Beziehung zwischen Zeichen und Objekt noch der Interprétant notwendig sind; die indexikalische Zeichenbeziehung ist einfach degeneriert, da zwar die Verbindung zwischen Zeichen und denotiertem Objekt eine notwendige ist, die beider bedarf, jedoch nicht des Interpretanten; allein die symbolische Zeichenbeziehung ist eine genuin triadische, die nicht ohne alle drei Elemente möglich ist. In einer genuin triadischen Beziehung nimmt das dritte Element eine zwischen dem ersten und einem zu ihm in Kontrast stehenden zweiten Element eine vermittelnde Rolle ein; das dritte Element ist nicht auf die ersten beiden reduzierbar, setzt sie aber voraus. In der Zeichenbeziehung ver-

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V. Symbolische Bedeutungen

mittelt das Zeichen zwischen dem Objekt und dem Interpretanten (s. Apel, 1975, 225ff.; Parmentier, 1985b). Die Bedeutung der Vermittlung der Subjekt-Objekt-Beziehung läßt sich vielleicht am besten im Vergleich von Vygotskys mit Lewins Modell erläutern. In Lewins Feldmodell war der Akt der Umstrukturierung des Feldes, beispielsweise mit dem Effekt, daß aus einem Umweg der kürzeste und damit am stärksten motivierende Weg wird, nicht selbst abbildbar, sondern nur seine Konsequenzen. Wie weit eine Person ihrer Umwelt, den strukturierten Valenzen ihrer verschiedenen Teile ausgeliefert ist bzw. sie selbst verändern kann, hatte Lewin mit der Metapher der Undurchlässigkeit der Selbstgrenzen bzw. der Grenzen zwischen verschiedenen Teilen der Person erfaßt, die Entwicklung der Selbständigkeit des Kindes durch eine Verdichtung dieser Grenzen. Nicht in diesem deskriptiven Modell enthalten ist jedoch eine Erklärung der Genese der Fähigkeit, selbst die Umwelt zu strukturieren. Schließlich unterscheidet Lewin nicht zwischen symbolischen und nicht-symbolischen Objekten, oder besser, symbolischen und nicht-symbolischen Funktionen von Objekten im Feld. Vygotsky hingegen kann durch den Begriff der Vermittlung der Person-Umwelt-Beziehung durch ein Drittes, ein Werkzeug oder Zeichen, die Emanzipation vom Feld, die Entwicklung von Feldunabhängigkeit und damit der Kontrolle über sich selbst konzipieren. Zugleich gelingt es Vygotsky, einen Mechanismus der Vermittlung von Kultur und Individuen zu entwerfen, bei dem das Individuum nicht in kulturellen Kategorien und Zwängen aufgeht, sondern durch die Enkulturation zugleich das Vermögen entwickelt, die Instrumente, Zeichen und Begriffe der Kultur umzuformen und weiterzuentwickeln (vgl. Vygotsky, 1930b). Das von der Kultur übernommene Zeichen erlaubt ihm die Herrschaft über seine Situation und sich selbst und verleiht ihm die Fähigkeit, die Zeichen und ihren Gebrauch zu modifizieren.

Allgemeine

und persönliche,

sprachliche

und dingliche

Zeichen

Die bisherigen Ausfuhrungen sind nicht unmittelbar auf die Analyse persönlicher Objekte anwendbar: Zum einen müssen wir die Unterscheidung zwischen dinglichen und sprachlichen Zeichen präzisieren, zum anderen zwischen kulturellen Bedeutungen von Dingen/Sprache und ihren individualisierten Bedeutungen unterscheiden. Wertsch (1985) hebt hervor, daß Vygotsky für die sprachliche Vermittlung eine Dimension entwirft, die durch die Pole dekontextualisierter versus kontextualisierter Vermittlung charakterisiert ist. Dekontextualisierte Zeichen sind typisch für Schrift- und wissenschaftliche Sprache, kontextualisierte Zeichen für den gesprochenen, spontanen Dialog, und

2. Kulturelle Genese mentaler Funktionen

209

besonders für den Sprachgebrauch zwischen einander sehr vertrauten Personen, von Kindern und für das innere Sprechen. Je größer die Kontextabhängigkeit des Sprachgebrauchs, desto spezifischer ist die Bedeutung der Zeichen für die jeweilige Situation. Wenn nun der relevante Kontext weniger die konkrete interpersonelle Situation der Äußerung ist als vielmehr das individuelle Wissen des bzw. der Zeichenbenutzer(s), dann erwirbt das Zeichen eine persönliche Bedeutung, die anderen umso besser verständlich wird, je mehr sie an dem individuellen Wissensbestand teilhaben. So sind Mitteilungen von Kindern oft nur zu verstehen, wenn man die Geschichte ihres Sprachgebrauchs, also die idiosynkratischen Bedeutungen von Worten, sowie seine Erfahrungen kennt, also beispielsweise die Situation des vorangegangenen Tages, auf die sich das Kind bezieht (vgl. Pillemer & White, 1989, 320). Gleiches gilt für Anspielungen zwischen engen Freunden oder Parinern wie für belauschte Selbstgespräche. Kozulin (1990, 188) macht auf Parallelen zwischen den formalen Eigenarten des egozentrischen Sprechens und den Bedeutungsmechanismen des Traumes aufmerksam, bei dem ja ebenfalls Produzent und Rezipient miteinander identisch sind. Auch bei Traumsymbolen überwiegt der Sinn sensu Vygotsky ihre Bedeutung, sie sind verdichtet so wie sich Worte in der Kommunikation einer Person mit sich selbst kontextabhängig mit Sinn aufladen, oder, wie Vygotsky sich ausdrückte, Sinn von anderen Elementen des Textes und der Situation in Worte einfließt. In einem Symbol verdichten sich verschiedene Bedeutungen, es sind immer multiple Lektüren möglich. Die Parallele zwischen Traum und innerem Sprechen scheint weniger eindeutig hinsichtlich der Prädikativität des letzteren. Zwar fehlt im Traum das Bild des Träumers selbst, so wie beim inneren Sprechen die erste Person fehlt, doch sind die Identitäten der handelnden Subjekte nie die, die sie zu sein scheinen. Da es sich beim Traum, wie beim inneren Sprechen, um idiosynkratische Symbolbildungen handelt, sind Traumsymbole nur unter Rekurs auf den individuellen Erfahrungshintergrund des Träumers zu verstehen. Dinge sind nun noch weniger manipulierbar, da konkreter, als Worte bzw. Sätze oder als (Traum-)Bilder. Der Zeichenträger selbst steht mehr im Vordergrund, seine Materialität, seine Widerstandsfähigkeit, seine Dauerhaftigkeit und seine manuelle Manipulierbarkeit. Objekte sind als Zeichenträger immer auch individuelle Exemplare mit eigener Geschichte und Form. Während Worte und Bilder primär als Bedeutungsträger, als Zeichen fungieren, erfüllen Objekte für gewöhnlich auch praktische Zwecke bzw. lassen sich, auch wenn sie nicht dafür vorgesehen sind, für solche verwenden. Häufig knüpft ihre Zeichenfunktion an ihre praktische Bedeutung an bzw. bedient sich ihrer. So dient das entfaltete Taschentuch dem Schneuzen; es wird gefaltet und versteckt in der Tasche bereitgehalten, da es verpönte Ausscheidungen enthält bzw. zumindest an den Akt des Ausscheidens erinnert. Der

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V. Symbolische Bedeutungen

berühmte Knoten im Taschentuch verwandelt es in ein Erinnerungszeichen, da er ihm eine Form verleiht, die seine gewohnte Funktion auf eine Weise behindert, die nicht zufallig zustandegekommen sein kann, sondern auf eine intendierte Blockade der Handlung des Schneuzens durch den Benutzer selbst hinweist. Die Materialität des Taschentuchs transportiert diese Intention in der Zeit und macht unweigerlich auf sie aufmerksam, da sie eine spätere Handlung blockiert und so den Nutzer in eine reflektierende Haltung zwingt, in der er darüber nachdenkt, weshalb seine Handlung blockiert ist, und ihm dann einfallt, daß er sich an etwas erinnern wollte. Objekte erfüllen meist neben einer Zeichenfunktion, für etwas anderes zu stehen, eine Funktion, die ihnen eine funktionale Bedeutung verleiht. Sie stehen dann für diese Tätigkeit oder Funktion, verweisen auf sie. So wird ihre Bedeutung noch flexibler, da sie kulturell vorgesehene Funktionen haben, sich aber auch individuell in andere Handlungsmuster einfügen lassen. So dient ein Ast den Köhlerschen Affen als Verlängerung des Armes, als Gabel, als Sprungstab, etc. Schließlich kann auch die symbolische Bedeutung von Objekten an funktionalen Charakteristika ansetzen, wie es im kindlichen Symbolspiel geschieht, wenn das Kind einen Stock als Pferd benutzt, auf dem es Reitbewegungen vollführt. Trotz aller Unterschiede zwischen Dingen einerseits und sprachlichen bzw. bildlichen Texten andererseits kann man eine Parallele zwischen den Dimensionen der Privatheit und der Kontextabhängigkeit der Bedeutung von Zeichen ziehen, die auch auf Dinge zutrifft: Gegenstände erwerben in der Kommunikation zwischen zwei Vertrauten und in der Kommunikation einer Person mit sich selbst Bedeutungen über Bezüge vielerlei Art, die allein die beiden Dialogpartner kennen; noch stärker ist dieser Effekt, wenn ein Objekt nicht neu in die Kommunikationssituation eingeführt wird, sondern bereits eine Geschichte aufweist und somit allein per eigener Geschichte metonymisch auf vergangene Situationen verweist. Hier erweist sich erneut die größere Bedeutungsflexibilität von dinglichen Zeichen, womit sie sich besonders dazu anbieten, in Kurzform persönliche Bedeutungen zu vermitteln. Die Vertrautheit des Adressaten bestimmt also die mögliche Breite persönlicher Bedeutungen von Dingen in der Kommunikation. Nehmen wir als Beispiel das Übermitteln von Identitätsaussagen. Dinge, mit denen sich Personen sichtbar ausstatten, um öffentlich Aussagen über ihre Identität zu treffen, überhaupt öffentlich bemerkbare Objekte, auch wenn sie nur sekundär eine Identitätsfunktion übernehmen, können die Identität des Trägers nur dann signalisieren, wenn es sich um ein öffentliches Zeichen handelt, das von anderen erkannt wird (s.u., 4 ). Als Grenzfall können versteckte Identitätszeichen gelten, die nur Eingeweihte als solche bemerken oder verstehen, wie Erkennungszeichen diskriminierter Minderheiten, die nicht von der Mehrheit, aber doch von ihresgleichen erkannt werden wollen, nur innerhalb einer Gruppe oder

2. Kulturelle Genese mentaler Funktionen

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Subkultur verstandene Zeichen, Erkennungszeichen von Geheimgesellschaften, speziell vereinbarte Zeichen beim Treffen einander unbekannter Personen. Noch individueller kann die Identitätszeichenfunktion von Objekten innerhalb intimer Beziehungen werden, so wenn beide je ein Exemplar eines Paares von Dingen haben, wie eine zerbrochene Münzenhälfte oder gleiche Schmuckstücke (s.u., 6.; Kraft, 1995).

Selbstkommunikation

mit externen

Hilfsmitteln

Vygotsky hält die Zuhilfenahme von Zeichenträgern für die höheren mentalen Funktionen, entwicklungslogisch gesehen, für einen Übergangsmodus, phylo- wie ontogenetisch. Dem steht jedoch für die Phylogenese die Konzeption Leroi-Gourhans entgegen (s.o.), der die Kulturentwicklung gerade dadurch bestimmt, daß sie nicht mehr auf der biologischen Evolution, der biologischen Veränderung des Menschen beruht, sondern auf der Entwicklung von materialisierten Techniken und Technologien, die außerhalb des Menschen angesiedelt sind. Die Kulturentwicklung löst sich vom Körper des Menschen, der Mensch exteriorisiert zusehends seine Fähigkeiten in Form von Maschinen und Informationsspeichern wie Büchern und Computern. Auch bezüglich der Ontogenese jedenfalls des Gedächtnisses scheint mir die Behauptung eher vertretbar, daß sie sich durch immer intensivere Nutzung externer Speicher auszeichnet, so daß der Mensch sich immer abstraktere und allgemeinere Organisationsprinzipien und Suchstrategien, aber immer weniger partikulare Informationen merken muß; entsprechend schneiden Erwachsene beim Erlernen einzelner neuer Worte schlechter ab als Jugendliche (Vygotsky & Luria, 1930/1974, 175). Die Differenz zur Vygotsky'schen Konzeption liegt vielleicht in der Differenz zwischen Experiment und Alltag. In seinen Experimenten müssen neue, arbiträre Verbindungen und Zeichen erlernt werden, die keinen Bezug zu bisherigen Erfahrungen aufweisen, eine Situation, die für Kinder typischer als für Erwachsene ist, da Erwachsene im Alltag sich erinnern, indem sie Verbindungen zu ihrem sonstigen Wissen herstellen. Alltägliche Erinnerungsleistungen von Erwachsenen sind zudem sehr viel komplexer als sie experimentell herstellbar wären, da sie sich eines enormen strukturierten Wissens bedienen können und nicht nur einer einzigen Zeichenserie wie in Vygotskys Experimenten. Diese Argumentation richtet sich nicht gegen die von Vygotsky vertretene Hauptentwicklungsrichtung; das Erinnern durch das Herstellen von Verbindungen ist ja nichts anderes als das Erinnern mittels komplexer Zeichenverbindungen. Nur nutzt der Erwachsene dennoch weiterhin, und dies intelligenter als das Kind, externe Zeichen und Texte, um die Leistungsfähigkeit seines Gedächtnisses zu maximieren.

212

V. Symbolische Bedeutungen

Gleiches gilt beispielsweise für Rechenleistungen, für die nicht nur die Finger, sondern auch Bleistift und Papier als Gedächtnisstütze, und Rechenschieber und Rechenmaschine als operative Instrumente benutzt werden, für deren Nutzung nicht mehr die Kenntnis einzelner Operationen, sondern nur noch der Ausgangs- und Endbedingungen nötig ist. Was nun die Kommunikation mit sich selbst im engeren Sinne, Gespräche mit sich selbst betrifft, tendieren Erwachsene unter bestimmten Bedingungen dazu, diese wieder laut und nicht nur als stilles Nachdenken durchzuführen. Dies sind Situationen, in denen besonders schwierige kognitive Probleme zu lösen sind, oder besonders schwierige soziale Situationen bevorstehen, die man laut übt. Neben diesen kognitiven Funktionen können Selbstkommunikationen offensichtlich auch der Bewältigung emotionaler Probleme und Integration emotionaler Konflikte dienen: so spielen Kinder für sie konflikthafte oder emotional bedeutsame Szenen immer wieder durch, Jugendliche spielen in ihrer Phantasie, im Selbstgespräch und in ihrer literarischen Produktion, die meist allein für sie selbst bestimmt ist, konflikthafte Situationen durch (Vygotsky, 1930b). Die Erörterung dieser Funktionen der Kommunikation mit sich selbst sowie der möglichen Funktionen konkreter Objekte in der Selbstkommunikation, auf die Vygotsky selbst nicht eingeht, auf die aber sehr wohl einige seiner Überlegungen angewendet werden können, möchte ich vorerst aufschieben (s. 5.), um zuerst (3.) die Überlegungen G.H.Meads zur symbolischen Funktion von Objekten und den Mechanismen der Kommunikation mit sich selbst einzuführen.

3. Meads Theorie symbolischer Interaktion und des Aufbaus der Identität Meads sozialpsychologische Theorie der Entstehung der selbstreflexiven Identität aus der symbolischen Interaktion liefert wichtige konzeptionelle Ergänzungen zu Vygotsky, vor allem zum Zusammenhang von sozialer Interaktion, deren Internalisierung in Form inneren Sprechens und psychosozialer Identität. Seine Ausführungen zur Bedeutung von Dingen in diesem Zusammenhang gehen nicht in die hier interessierende Richtung, weshalb seine Überlegungen zum Aufbau der Identität auf symbolische Objekte eigens zu beziehen sein werden. Meads Grundkonzeption wird knapp und, wie überhaupt in dieser Arbeit, ohne exegetischen Anspruch berichtet werden. Ich stütze mich dabei auf die ins Deutsche übersetzten Publikationen, allen voran die von Joas herausgegebenen Aufsatzsammlungen, die den Vorteil haben, Origi-

3. Symbolische Interaktion und Identität

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naltexte zu enthalten, sowie auf das englische Original von Mind, Seif and Society, das auf Vorlesungsmitschriften beruht. Ich beginne mit einer Skizze von Meads Rekonstruktion der Entwicklung symbolischer Interaktion (3.1), seiner Analogie der Perspektivenübernahme gegenüber Personen mit der gegenüber Dingen (3 .2), behandele dann seine Konzeption der intrapsychischen Dynamik zwischen verinnerlichten Anderen und spontanen Tendenzen der Person (3.3) und komme schließlich zu pragmatischen Bedingungen der Einnahme einer reflektierenden Haltung sowie der Rolle der Phantasie bei dieser (3.4). Im letzten Abschnitt vergleiche ich Meads mit Vygotskys Konzeption, reinterpretiere einige Befunde der vorangehenden Kapitel und fasse Meads Beitrag zum Verständnis symbolischer Funktionen von Dingen zusammen (3.5).

3.1 Die Konstitution des Selbstbewußtseins in der symbolischen Interaktion Vygotsky hatte den Erwerb der Zeichenfunktion und ihre selbstreflexive Wendung zum Kriterium für den Übergang von der Evolution zur Kulturentwicklung gemacht. Mead fragt nun genauer, wie es zu dieser reflexiven Wendung des Zeichengebrauchs kommen kann, und entwirft eine Entwicklungslogik, die im Prinzip für Phylo- wie Ontogenese gelten soll. Vygotsky hatte zwar immer wieder auf die Sprache als dem elaboriertesten menschlichen Zeichensystem verwiesen, doch bleibt es Mead vorbehalten, die Genese des Zeichens im Medium der gesprochenen Sprache zu rekonstruieren. Mead widmet dem Übergang von der präverbalen zur symbolischen Interaktion mehr Aufmerksamkeit als Vygotsky: Akustische Zeichen entwickeln sich aus den Anfangsphasen von Handlungen, die einem Gegenüber die noch ausstehenden Teile der Handlung anzeigen. In der tierischen Interaktion, beispielsweise einem Kampf zwischen zwei Hunden, fungiert eine solche Anfangsphase einer Handlung als Reiz für das zweite Tier, dessen beginnende Reaktion wiederum für das erste Tier als Reiz fungiert. Wie Vygotsky (s. das Beispiel der Entwicklung der Zeigegeste) konzipiert Mead die Bedeutung einer beginnenden Handlung als die Reaktion des Gegenüber; diese interpretiert jene. Die Bedeutung einer Handlung ist also eine objektive, die zuerst auf der Verhaltensebene gegeben ist, bevor sie im nächsten Schritt bewußt werden kann (1934, 78ff). Um zu einem signifikanten Symbol zu werden, muß die Bedeutung der Handlung reflexiv werden, d.h. die Person muß sich damit auch selbst bedeuten, ihr muß die Bedeutung ihrer Geste selbst bewußt wer-

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den, was in der tierischen Interaktion nicht der Fall ist. Dieses reflexive Selbstbewußtsein der Bedeutung eigener Äußerungen kann nur dadurch Zustandekommen, daß die Person selbst auf ihre Äußerung so reagiert wie ihr Gegenüber. Doch eine Geste erscheint im visuellen Feld des Handelnden selbst anders als in dem seines Gegenübers. Änknüpfend an Wundts Begriff der Lautgebärde, einer von Vokalisierung begleiteten Geste, findet Mead in Lautäußerungen ideale Bedingungen für die Entwicklung eines reflexiven Zeichengebrauchs, da allein akustische Äußerungen der Person selbst ebenso erscheinen wie ihrem Gegenüber (1904). Diese Reflexivität verwandelt einen Handlungsbeginn in ein Zeichen, eine soziale Interaktion in eine symbolische. Sie ermöglicht es, die Reaktion des Gegenüber zu antizipieren; bedeutet die Person zuerst verdeckt sich selbst, dann kann sie verschiedene Interaktionssequenzen mental durchspielen (i.S. von Probehandlungen) und dann diejenige mit dem erwünschten Ausgang auswählen. Das Zeichen ermöglicht der Person somit, ihr eigenes Verhalten zu kontrollieren und aus der Bestimmung der eigenen Handlungen durch Reize, durch die Situation, auszubrechen. Denken konzipiert auch Mead als internalisierten Dialog. Meads triadischer Zeichenbegriff ist pragmatischer als der Vygotskys. Ein von Person A geäußertes Zeichen verweist einerseits auf seine Interpretation in Form der Reaktion von Person B, andererseits auf die zu vollendende Handlung As, bzw. auf die gemeinsame Handlung von A und B bzw. deren Ziel (1934, 7 5 f ) . Mead legt weniger Wert als Vygotsky auf die Internalisierung mentaler Funktionen, deren ursprüngliche Exteriorität Vygotsky eine wichtige methodische Pforte zur empirischen Untersuchung von Entwicklungsprozessen öffnete. In Meads Rekonstruktion der Entwicklungslogik vollzieht sich die Internalisierung von signifikanten Äußerungen zwar nicht gleichzeitig mit deren Reflexiv-Werden, wohl aber mit ihrer Verwendung zur Antizipation und Selbstkontrolle, die Vygotsky an die noch externe Verwendung von Zeichen geknüpft hatte. Dies war ihm möglich, da er eine solitäre Selbstkontrolle untersuchte, nicht aber die Entstehung der Selbstkontrolle in der sozialen Interaktion, die er lediglich postulierte. Nun übt der zum Zeichengebrauch und Selbstbewußtsein fähige Mensch sich nicht immer auch aktuell in der Selbstreflexion. Kommunikation und Denken setzen diese Fähigkeit voraus, sie läuft aber meist automatisiert ab. Im normalen Handlungsvollzug konzentriert sich der Mensch ganz auf seine Situation. Eine urteilende, reflektierende Haltung nimmt er erst ein, wenn seine Handlung gehemmt wird, durch eine Blockade der gewöhnlichen Handlung oder durch einen Konflikt zwischen einander widersprechenden, aber gleichstarken Handlungstendenzen. Vertraute Objekte und Handlungsabläufe bleiben vorbewußt.

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Erst eine Handlungshemmung desorganisiert Gewohnheiten und fuhrt zur Reflexion, meist in Form einer Analyse der Reizsituation. Dadurch, daß das Individuum die Elemente einer Situation benennt, isoliert es sie voneinander und von ihrer Verbindung sei es zum Zeichen, sei es zur eigenen Reaktion (1910; 1934, 91ff., 132; 1983b, 99ff.). Dies ermöglicht eine Reorganisation der Situation und damit auch der Handlung. Dieses reflexive Selbstbewußtsein ist vom präreflexiven Selbstgefühl zu unterscheiden, an dem die eigene Person nur qua Implikation beteiligt ist, da es sich lediglich in einer subjektiven Färbung der Welt- wie Selbstwahrnehmung äußert (1934, 165f).

3.2 Perspektivenübernahme gegenüber Objekten Indem der Mensch auf das eigene Zeichen verdeckt antizipatorisch reagiert wie sein Gegenüber, versetzt er sich an dessen Stelle bzw. übernimmt dessen Rolle oder Perspektive. Diese in der sozialen Interaktion erworbene Fähigkeit wendet der Mensch nun, laut Mead, in gewisser Weise auch gegenüber Dingen an. Während Mead anfangs noch vor allem die Unterschiede zwischen gegenständlichem Objekt und Anderem hervorhebt (1913), modelliert er später die gezielte Manipulation von Dingen nach dem Modell der symbolischen Interaktion (1925; 1983b; 1983c; 1934). In der Distanzwahrnehmung erhalten Gegenstände dadurch eine Bedeutung, daß sie mit vergangenen Kontakterfahrungen verknüpft werden, die die momentane Erwartung gegenüber dem Objekt bestimmen. Insofern ist "der Wahrnehmungsgegenstand die existierende Zukunft der Handlung" (1925/1980, 324), eine Auffassung, die sich u.a. bereits bei Lewin und Gibson fanden: der Stuhl lädt zum Hinsetzen ein, das Bett verfuhrt uns, uns daraufzulegen (Mead, 1934, 280). In gewisser Weise lernt der Mensch auf die gleiche Weise, mit Dingen zu hantieren, wie er lernt, mit Menschen zu kommunizieren. In der Kontakterfahrung mit einem Gegenstand bemerkt das Kind oder auch das Tier einen Widerstand bzw. eine Anstrengung, die es zuerst in dem Gegenstand lokalisiert. Indem nun der Mensch die Perspektive des Gegenstandes einnimmt, also den Widerstand des Gegenstandes gegen den eigenen Druck antizipiert, lernt er einerseits, zielgerichtet mit ihm umzugehen - der Ingenieur, der eine Brücke entwirft, nimmt beim Denken die Perspektive der Natur ein (wie wird sie reagieren) - andererseits bildet er sich so einen Begriff vom eigenen Körper als einem physischen Gegenstand unter anderen (1983b, 162ff.; 1983c, 226ff.; vgl. Joas, 1980, 7.Kap.). Nach Mead überträgt also das Kind einen Mechanismus, den es in der symbolischen Interaktion erlernt hat, auf die Interaktion mit Gegenstän-

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den. Ursprünglich, phylo- wie ontogenetisch, würden Gegenstände wie Personen behandelt: "Die frühesten Objekte sind soziale Objekte, und alle Objekte sind anfangs soziale Objekte" (1983b, 164). Mead nennt als Beispiele eines animistischen Dinggebrauchs magische Riten primitiver Völker (1927/1983, 218) und die unmittelbare Reaktionen von Kindern auf Objekte. Auch die unmittelbaren Reaktionen von Erwachsenen auf Objekte sind sozialer Natur, so wenn sie den Stuhl, über den sie stolpern, wütend treten, wenn sie zärtliche Regungen für Gegenstände entwickeln, mit denen sie arbeiten oder spielen, oder wenn sie gegenüber "kleinen Dingen" und kleinen Tieren eine fürsorgliche Haltung einnehmen, die auf der Tendenz zur Fürsorge für kleine Menschen, also Kinder, beruht (1934, 183f). Im Laufe der Entwicklung lerne der Mensch dann, physische von sozialen Objekten zu differenzieren. Der Gegenstand resultiere aus einer Abstraktion vom sozialen Objekt i.S. von anderen Personen. Nur am Rande geht Mead auf die für Vygotsky so zentrale vermittelnde Funktion von Gegenständen gegenüber der Natur ein. Er erwähnt die Manipulation von Dingen mit Hilfe des Denkens, das auf der Zeichenfunktion beruht, um sie instrumentell, als Werkzeug einzusetzen (1927/1983, 219f.; 1934, 249). Aus seiner Argumentation fällt ein Aufsatz über das Wesen ästhetischer Erfahrung heraus (1926). Hier kontrastiert er zwei Funktionen von bzw. Haltungen gegenüber Gegenständen, nämliche eine instrumenteile und eine ästhetische Haltung. Der instrumentelle Gebrauch von Dingen entspricht der mittleren Phase von Handlungen; sind die Handlungen genügend komplex, und in der modernen arbeitsteiligen Gesellschaft ist das in der Regel der Fall, ist das Individuum ganz vom Interesse erfüllt, "Mittel auf Zwecke zuzuschneiden, Hypothesen aufzustellen und zu testen, Kunstfertigkeiten zu üben", ohne daß ihm das Handlungsziel präsent wäre. "Dies ist die Provinz des Handelns, nicht die des Verstehens." (1926/1983, 350). Ästhetisches Erleben stellt sich hingegen dann ein, wenn Teilphasen der Handlung von der Befriedigung über das antizipierte Gelingen erfüllt sind: "Die Freude am Gebrauch des fertigen Gegenstandes muß sich schon in den Zwischenstufen der Fertigung ahnen lassen und ungezwungen in die Geschicklichkeit einfließen, die das Objekt erzeugt" (ebd., 352). Mead überträgt diese am Beispiel der individuellen Herstellung eines Objekts entwickelte Vorstellung auf kooperative Handlungen mit weit entferntem Ziel: Nur wenn der Einzelne seine Rolle in dem arbeitsteiligen Produktionsprozeß versteht, und d.h. die Perspektiven aller Beteiligten übernimmt, kann er sich seine Teilhabe am Gesamtprozeß und Resultat vorstellen, so daß sich die Befriedigung über das Resultat auf seine Teilarbeit überträgt. Neben dem genannten antizipierenden ästhetischen Gefallen hatten wir oben (1.5) bereits ein ästhetisches Erleben von Gegenständen nach deren materieller Fertigstellung genannt, das sich durch eine rezeptive

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Haltung auszeichnet. In beiden Fällen ist der Gegenstand nicht Manipulandum oder instrumentelles Utilitandum, sondern ein zu Genießendes, das eine Bedeutung in sich trägt und nicht auf ein entfernteres Handlungsziel verweist - Morris hatte von der Selbstreferentialität des ästhetisch rezipierten Dings gesprochen. Hier kann ergänzt werden, daß das Kunstwerk sich nicht nur aktuell auf sich selbst bezieht, sondern auch auf Prozeß und Umstände seiner Herstellung, weshalb der Produzent darauf Stolz sein kann. Auch der von Mead genannte Stolz über ein eigenes Produkt involviert wiederum den Mechanismus der Perspektivenübernahme, nämlich mit dem bzw. den Produzenten sowie den potentiellen Betrachtern. Mead nennt also Dinge in vier Bedeutungen. Ihn interessiert primär a), wie sie als Wahrnehmungs- und Hantierobjekte, die Naturgesetzen gehorchen, konstituiert werden, eine Frage, die nicht im Zentrum unseres Interesses steht. Dabei geht es ihm darum zu erklären, wie die Person die Reaktion des Gegenstandes zu antizipizieren vermag. Sodann b) erwähnt er den Aufforderungscharakter von Umweltausschnitten, den Körper in bestimmter Weise in ihr zu bewegen (beispielsweise sich auf einen Stuhl zu setzten). Mit c) der instrumentellen Funktion von Gegenständen, bei denen das Individuum seine Manipulation des Gegenstandes zu deren Wirkung in der weiteren Natur in Beziehung setzen muß, beschäftigt er sich nicht, obwohl der Mensch erst dann in eine vermittelte Beziehung zur Natur tritt. Der instrumentelle Gebrauch von Gegenständen wäre analog zu Meads anderweitigen Ausfuhrungen zu konzipieren als Perspektivenübernahme mit dem Objekt der Operation, das auf das Instrument genauso reagiert wie der Körper des Individuums. Schließlich d) nennt Mead eine ästhetische Bedeutung von Objekten als Produkten, die dem Produzenten das reflexive Erleben der eigenen Kompetenz erlauben, indem sich in ihnen seine Handlungen materialisieren und ihm gegenübertreten.

3.3 Der soziale Aufbau der Persönlichkeit: Ich, Mich, Selbst Kehren wir noch einmal zur sozialen Interaktion und dem sich in ihr konstituierenden Selbstbewußtsein zurück. Mead hatte seine Entstehung am Beispiel einer einfachen Interaktion, ja gar eines einfachen Handlungsbeginns und der Reaktion auf diesen erklärt. Anknüpfend an James' Begriffen des Ich als Denker und des Mich als der in der Selbstreflexion gewahrwerdenden eigenen Person erklärt er, daß das Ich immer aus der Perspektive eines Anderen des Mich, der eigenen Person, gewahr wird (s.o.). In der selbstreflexiven Einstellung objektiviert die Person sich selbst vom Standpunkt eines Anderen.

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Zugleich fuhrt Mead eine zweite Verwendungsweise der Begriffe Ich und Mich ein, die nicht mehr den Denker und das Gedachte, Subjekt und Objekt bezeichnen, also formal bestimmt sind, sondern inhaltlich. Er fuhrt diese zweite Verwendungsweise ein, um die Sedimentierung vieler einzelner Akte der Perspektivenübernahme in der Persönlichkeit zu beschreiben. Die potentiellen Reaktionen anderer, die die Person qua Perspektivenübernahme antizipiert, verdichten sich zu einem Teil, einer Partei des selbstreflexiven Geistes, des Selbst, nämlich als Mich2. Als Gegenpartei /c/»2 erscheinen dann die spontanen Tendenzen und Bestrebungen der Person. Im folgenden werde ich, wenn nicht anders spezifiziert, die Begriffe Ich und Mich in diesem zweiten Sinne verwenden. Das Mich enthält folglich alle für die Person bedeutsamen Anderen, bzw. genaugenommen die Reaktionen dieser auf die Person, kurz, die Beziehungen zu diesen. Ursprünglich reale soziale Interaktionen wandeln sich im Laufe der Ontogenese zu antizipierten oder auch nur vorgestellten Interaktionen; auf der "inneren Bühne" (1913, 246) spielt das Kind Situationen durch, um die Richtung seiner Handlungen zu bestimmen. Sichtbar wird diese innere Bühne im Rollenspiel des Vorschulkindes, in dem es spielerisch verschiedene Möglichkeiten von Interaktionen in der eigenen wie in komplementären Rollen durchspielt. Die Komplexität der Perspektivenübernahme steigert sich im Laufe der Ontogenese. Sie beginnt bei der Übernahme der Reaktion auf ein Zeichen. Als nächste Stufe bestimmt Mead das Rollenspiel, in dem das Kind typisierte Reaktionsmuster eines Gegenübers übernimmt (Rollen). Als weiteres Beispiel für diese Entwicklungsstufe nennt er das Phänomen, daß Kinder ihr eigenes Tun begleitend kommentieren - was nichts anderes als eine Form des egozentrischen Sprechens ist -, sowie das Phänomen des imaginären Gefährten (1934, 150, 370 - s.u.). Die nächste Komplexitäts- und Organisationsstufe wird durch das Mannschaftsspiel veranschaulicht. Während im Rollenspiel jeweils nur die Rolle eines einzelnen Gegenübers übernommen wird, die Perspektivenübernahme also auf dyadisch strukturierte Interaktionen beschränkt bleibt, muß das Schulkind beim Mannschaftsspiel die Handlungen aller Mitglieder zweier Mannschaften übernehmen, um seine Spielweise auf sie abzustellen. Das Mich besteht dann aus den miteinander koordinierten Perspektiven zweier Gruppen. Schließlich wird die Perspektive Anderer universalisiert zu der Perspektive eines generalisierten Anderen, in dem alle möglichen Perspektiven zueinander in Beziehung gesetzt sind (1925; 1934). Mit der Struktur der Perspektivenübernahme verändert sich die Form des Selbstbewußtseins. Von der dramatischen Form, sich sich selbst mit konkreten Anderen in einer konkreten Interaktion vorzustellen, wird zusehends abstrahiert, "die Charakterzüge und Stimmen der dramatis personae werden undeutlicher, die Betonung fallt auf die Bedeutung des inneren Sprechens, und die bildlichen Vorstellungen beschränken sich auf

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die notwendigen Stichworte und Fingerzeige" (1913/1980, 246). Das Mich verliert im Laufe der Entwicklung die Färbung durch seine Abstammung von konkreten Reaktionen bestimmter Anderer. "Die Haltungen der verschiedenen Rollen, in denen das Kind sich an sich selbst gewandt hat, amalgamiert" das Kind zu einer "Einheit der Persönlichkeit" (1922/1980, 296), dem Mich. Es zeigt sich, daß Mead die Entwicklung des Denkens, des Selbstbewußtseins und der Selbstkontrolle ganz analog zu Vygotsky konzipiert, nur daß er ihre soziale Genese ausfuhrlicher rekonstruiert und dank des Begriffs der Perspektivenübernahme weitergehende Überlegungen anstellen kann.

3.4 Reflexion und Identität, Phantasie und Zeit Überträgt man Meads Überlegungen zu den Bedingungen der Aktualgenese der selbstreflexiven Einstellung von einer einzelnen Handlung auf die umfassendere Situation eines erwachsenen Individuums, dann kann analog zur habitualisierten Handlung das nicht-selbstbewußte Individuum als eine Organisation von Gewohnheiten, als der Charakter einer Person aufgefaßt werden (1913/1980, 247). Taucht ein Handlungskonflikt, ein Problem auf, das nicht mit den habituellen Reaktionen zu bewältigen ist, "ergibt sich eine Desintegration dieser Organisation, und es treten unterschiedliche Tendenzen im reflexiven Denken als verschiedene Stimmen auf, die miteinander einen Konflikt austragen" (1922/1980, 247). Es kommt also zu einer Reorganisation des Selbst im Prozeß der reflexiven Neuanpassung an eine zu reorganisierende Umwelt. Die Reorganisation geschieht durch die wechselseitige und organisierte Abstimmung aller relevanten Perspektiven aufeinander. Am Ende dieses Prozesses steht eine reorganisierte Situation bzw. allgemeiner Umwelt, derer sich die Person eher gewahr ist als der Veränderung, die die Reorganisation simultan für die Person selbst bedeutet, die nun "umfassender und tüchtiger" geworden ist (1913/1980, 248). Das Ergebnis der in der reflektierenden Haltung durchgeführten Reorganisation setzt sich ab und gerinnt erneut zu einem nun veränderten habitualisierten Mich, das die lebensgeschichtlich angesammelten Erfahrungen mit der Übernahme der Perspektiven Anderer amalgamiert enthält. Sie gehen in das postreflexive (Graumann, 1984) Selbstgewahrsein im Sinne des Selbstgfuhls ein. Mead spielt diese Reorganisation einer problematischen Situation für Handlungsprobleme gegenüber der Natur (1983b, l O l f f ) , wissenschaftliche Probleme und moralische Konflikte durch (z.B. 1913/1980, 249; 1934, 386ff). Die vom Anderen übernommene Perspektive hat ursprünglich einen zumindest auffordernden, später einen normativen Charakter, der auf die

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Ursprünge des Zeichens in Reiz-Reaktionsverbindungen zurückgeht. Deshalb fuhrt die erfolgreiche Reorganisation einer Situation durch gelungene Perspektivenübernahme nicht nur zu einer praktikableren Lösung, sondern auch zu einer Veränderung der Interessen der Person durch ihre Orientierung an nun besser verstandenen gemeinsamen Interessen, die durch das Mich repräsentiert sind. Soziale Kontrolle und die normative Regulierung von Individuen vollzieht sich in der Gesellschaft durch die Orientierung der Individuen an generalisierten Zielen gemeinsamer Handlungen und sozialen Institutionen wie Eigentum, Tausch und Sitten (1925; 1934, 156ff., 260f). Aber wird die Reorganisation einer problematische Situation denn wirklich allein durch das Mich, die selbstkritische Instanz, die Mead mit Freuds Über-Ich vergleicht (1934, 210), durchgeführt? Dem setzt Mead mit der Instanz des Ich die spontanen Tendenzen (und zumindest implizit Motivationsquellen) entgegen. Welche Rolle spielen sie bei der Rekonstruktion der Situation? Sie erscheinen bei Mead als der "Beitrag der Person zu einem gemeinsamen Unternehmen" (ebd., 211), die die Person mit den Beiträgen der anderen Personen koordiniert. Diesen Prozeß bezeichnet Mead als Selbst, von dem Ich und Mich Phasen sind. Das völlige Überwiegen der sozialen Anpassung gegenüber den spontanen Tendenzen der Person führt zu einem Erliegen des Prozesses, des Selbst. Situationen, in denen hingegen das Ich über die internalisierte soziale Kontrolle, das Mich, prävaliert, sind solche, in denen die Person zum gemeinsamen Handlungsziel dadurch beiträgt, daß sie ihr Können unter Beweis stellt, andere übertrumpft, in ihrem Beruf oder einer schöpferischen Tätigkeit. In dieser Situation erfährt die Person Anerkennung durch die anderen, die ihr Selbstwertgefühl steigern, sie als anerkanntes Mitglied der Gesellschaft bestätigen. Jegliche Form der Selbstverwirklichung, des Ausdrucks eigener Tendenzen, fuhrt, solange sie nicht mit den Standpunkten der anderen konfligiert, zu der Anerkennung der Individualität der eigenen Person, ihrer Identität. Die Individualität der Person resultiert prinzipiell aus der Einzigartigkeit ihres Standpunktes im System der Perspektiven, empirisch aber eben darüber hinaus aus der Fähigkeit, das Ich mit dem Mich in Einklang zu bringen. Denn das einfache Überwiegen des Ich über das Mich fuhrt nicht zur Entwicklung einer individuellen Persönlichkeit, sondern einem "engen Selbst", das selbstsüchtig und kurzsichtig die eigenen Interessen verfolgt (ebd., § 23). 8

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Die von Mead in Mich und Ich gefaßten Tendenzen der Anpassung des Individuums an seine Umweh bzw. der Anpassung der Umwelt an ihn finden sich als Grundkategorien in vielen psychlogischen Theorien wieder, bei Piaget als Akkomodation und Assimilation, bei Freud als auto- und alloplastische Tendenzen mit ihren intrapsychischen Pendants des Über-Ich und Es. Während Meads Ich vage bleibt, besteht seine Leistung in der Definition des Mich als Niederschlag der Perspektivenübernahme.

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Eine besondere Situation tritt ein, wenn Mich und Ich sozusagen an einem Strang ziehen, völlig ineinander aufgehen. Das tritt dann ein, wenn das Individuum sich völlig mit einer politischen oder religiösen Bewegung identifiziert, in einer gleichgesinnten Masse aufgeht. Der Entdifferenzierung innerhalb der Persönlichkeit entspricht eine soziale Entdifferenzierung: statt reziproker Interaktionen, die für der Arbeitsteilung erforderlich sind, handeln die Mitglieder einer solchen Masse gleichsinnig. 9 Wenn nun die Realität zu geringe Möglichkeiten zur Selbstbestätigung bietet, können die spontanen Tendenzen kathartisch in impulsivem Verhalten oder kompensatorisch in Schadenfreude, Witz und Klatsch ausgelebt werden (ebd., 206, 213). Oder das Individuum produziert, wie Mead in Anschluß an Freud formuliert, Tagträume und Fluchtphantasien, oder es weidet sich an von der Gesellschaft gebotenen Phantasiebestätigungen in Form der Identifizierung mit Heldenfiguren in Boulevardblättern und Filmen (1926). Hier erweist sich die ambivalente Funktion der Phantasie (imagery). Zum einen kann sie der Flucht aus der spontane Tendenzen frustrierenden Realität dienen, indem sie Ersatzbefriedigungen bietet (vgl. auch Lewin). Zum anderen aber kann sie als konkrete, bildhafte Form des Denkens gelten: Ohne Phantasie wäre es nicht möglich, die Antwort des Gegenüber zu antizipieren, geschweige denn, längere Handlungsfolgen durchzuspielen: "Die primäre Funktion der Phantasie in der Reflexion ist zu bestimmen, welcher Weg eingeschlagen werden soll, indem sie die Ergebnisse der verschiedenen Handlungsmöglichkeiten vor Augen führt" (1934, 373). In der konkreten Form der Phantasie zeigt sich Denken beispielsweise beim imaginären Gefährten und dem symbolischen und Rollenspiel des Vorschulkindes. Noch grundlegender ermöglicht Phantasie Raum, da sie erlaubt, die Distanzwahrnehmung auf Kontakterfahrungen zu beziehen (ebd., 374), und vor allem Zeit, da sie es erlaubt, die gelebte Gegenwart in Zukunft und Vergangenheit auszudehnen (ebd., 374, 345). In Meads Theorie der Konstitution der Zeit werden Vergangenheit und Zukunft ständig von der Gegenwart aus konstruiert, und zwar qua Implikation durch die Struktur der Gegenwart, deren ermöglichende Bedingung sie gewesen sein muß. Die Vergangenheit wird einerseits ausgehend von dem, was in der Gegenwart bedeutsam ist, konstruiert, andererseits nach unseren Wünschen, worin sie "unseren Fluchtphantasien verwandt" ist. Doch "ein vergangener Triumph ist einer Fluchtphantasie unendlich überlegen und

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Dieses Phänomen wird in der Sozialpsychologie als Deindividuierung bezeichnet und erinnert an Freuds Massenpsychologie, an Turners Communitas und Csikszentmihalyis Fließerlebnis.

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wird völlig aufgebraucht, bevor wir wieder zu der Sphäre der Phantasie Zuflucht nehmen" (1929/ 1983, 341). Auf die Zukunft gerichtet erlaubt die Phantasie nicht nur die optimale Anpassung der Handlung an eine Situation, sondern auch, Neues in die Situation und die Gesellschaft einzuführen. Erfindung, Kunst und sozialer Wandel hängen von dem Gebrauch der Phantasie ab. "We look before and after, and sigh for what is not" (1934, 345). Die motivierende Kraft der Wünsche bedient sich der Phantasie, um sie zu realisieren. Meads Überlegungen zu Entstehungsbedingungen und Funktion der Phantasie finden ein Pendant bei Vygotsky, der die Entstehung von Phantasie und Vorstellung ebenfalls in der Situation eines Handlungsproblems lokalisiert (1930b/1972, 48), und der ebenfalls ein ungezieltes, primitives Vor-Sich-Hin-Phantasieren von einer realitätsorientierteren, zur Verwirklichung drängenden kreativen Imagination als den zwei Extremformen der Phantasie unterscheidet (ebd., 64).

3.5 Zusammenfassung und integrierende Rückschau Bevor wir darangehen, die Implikationen der Theorien Vygotskys und Meads für das Verständnis der Funktionen persönlicher Objekte auszubuchstabieren und mit neueren empirischen und konzeptionellen Arbeiten zu ergänzen (4. bis 7.), halten wir inne und betrachten die vorangegangenen Kapitel im Lichte des bislang Erreichten.

Mead und Vygotsky Mead und Vygotsky verfolgten ähnliche Interessen und kamen zu einander ähnelnden Schlüssen. Beide interessierten sich für die Entstehung der höheren mentalen Funktionen, die sie als sozial konstituiert begründeten (vgl. Glock, 1986). Vygotsky interessierte sich für die Vermittlung der Kultur in materialisierter Form als Werkzeug, Zeichen-Objekt und Schriftsprache, während Mead die Bedeutung der gesprochenen Sprache für die Genese der mentalen Fähigkeiten hervorhob. Jener versuchte den ontogenetischen Prozeß der Internalisierung ursprünglich sozialer Fertigkeiten empirisch zu demonstrieren, während dieser mehr an der Rekonstruktion einer (ontogenetisch groben) Entwicklungslogik interessiert war, um philosophische Probleme zu lösen. Eine für unsere Zwecke wichtige Ergänzung der Überlegungen Vygotskys bietet Meads Konzeption des Selbst, der selbstreflexiven Persönlichkeit. Die Fähigkeit zur Selbstreflexion ermöglicht es, zu sich selbst und damit zur eigenen Identität Stellung zu beziehen und sie zu

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verändern. 1 0 Mead erörtert alle sechs Aspekte der psychosozialen Identität, die wir im ersten Kapitel genannt hatten, und unterscheidet zwischen prä- bzw. postreflexiver und reflexiver Identität. Er erklärt die Genese der Identität aus den Reaktionen der sozialen und natürlichen Umwelt, 1 1 die die durch Perspektivenübernahme geformte Zugehörigkeit und Individualität (#1, 2) bestätigen ebenso wie sie die Person bewerten (#6). Sie erlauben der Person in unterschiedlichem Ausmaß, aktiv auf ihre Umwelt einzuwirken (#4), was Mead ergänzt durch die Freiheit gegenüber den internalisierten Anforderungen und Normen. Den eigenen Körper erkennt das Individuum als solchen über die Reaktionen seiner dinglichen Umwelt (#5). Und die Kontinuität mit sich selbst (#3) erklärt Mead mit seiner Zeittheorie ebenfalls im Rahmen seiner Theorie der Perspektivenübernahme. Komplexität und Umfang der Identität sind also abhängig von der Entwicklung der Fähigkeit zur Perspektivenübernahme, die Mead lediglich andeutete. Selman (1980) arbeitete eine detailliertere ontogenetische Sequenz der Perspektivenübernahmefahigkeit und der parallelen Strukturierung des Selbst aus und belegte sie empirisch (s. 5.4), und weiter unten werden einige Modi der Übernahme der Perspektive von Dingen bzw. von Personen, wenn in der Beziehung zu ihnen Dinge eine Rolle spielten, differenzieren (s. 4.2). Zugleich situierte Mead das Selbst in einem Handlungskontext, der erst dann eine reflektierende Haltung notwendig macht, wenn Handlungsroutinen blockiert werden, genau die Bedingung, die Vygotsky für die Reexternalisierung des Denkens angibt. Über Vygotsky hinausgehend beschreibt Mead die Problemlösung nicht nur a) als Prozeß der Restrukturierung der Situation, sondern b), ganz im Sinne Lewins, zugleich als Restrukturierung der Person selbst, und c) mittels der vermehrten Übernahme und verbesserten Koordination der Perspektiven der involvierten Gegenstände (physisches Handlungsproblem) bzw. signifikanten Anderen (soziales Handlungsproblem). Wie weit die Reorganisation der eigenen Person greift, hängt von dem Ausmaß des Handlungsproblems und damit der Reorganisation von Perspektiven sowie der Komplexität und Integra-

10 Joas (1980; Mead 1980) übersetzt Meads seif mit Identität oder Ich-Identität, womit er sich am Ich der idealistischen Philosophie orientiert, auf die auch Mead sich mitunter bezieht, und an Erik Erikson, der im Anschluß an die Freudsche Instanz des Ichs von Ich-Identität sprach. In der Sozialpsychologie jedoch ebenso wie in der Psychoanalyse wird überwiegend der Begriff des Selbst verwendet. Aus Gründen der Treue zum Original und zur folgenden sozialpsycholgischen Rezeption benutze ich hier die wörtliche Übersetzung von Meads seif, Selbst, während ich psychosoziale Identität, die eher auf Erikson zurückgeht, in dem im ersten Kapitel eingeführten Sinne weiterbenutze. 11

Vgl. James' analoge Aussage zur Antwort der materiellen Umwelt (s. 2.Kap.), die erst in Meads Bezugsrahmen Sinn ergibt.

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tion des Selbst ab. Sie mag sich allein auf eine spezifische Handlungsroutine beziehen, auf eine dyadische Beziehung (Stufe des Spiels), die Beziehung in und zu einer sozialen Gruppe (Stufe des Mannschaftsspiels) oder auf die Beziehungen zu allen vernünftigen Wesen (Stufe des generalisierten Anderen).

Selbstgefühl und räumliche Beziehungen im sozialen Kontext Aus Vygotskys und Meads Theorien ergibt sich die Notwendigkeit, einige der in den bisherigen Kapiteln entwickelten Gedanken zu ergänzen, indem wir sie in den Kontext der Theorie der sozialen Genese des Denkens und der Identität versetzen. Dies soll hier kursorisch in einem Zwischenresümee geschehen. 1. Das unmittelbare, aktualgenetisch präreflexive Selbstgefühl oder Identitätsgefuhl wird nach Mead ontogenetisch erst postreflexiv zu einem auf die eigene Person bezogenen Gefühl, zuvor bezieht es sich wie alle Wahrnehmungen auf die Umwelt. Die beiden zentralen Eigenschaften des Selbstgefühls, das Empfinden der Lebendigkeit und der Vertrautheit, hängen a) beide von der Ungestörtheit, der relativen Reibungslosigkeit der Handlungen der Person in einer entsprechend wohlstrukturierten Umwelt ab, und b) das der Lebendigkeit von dem Ausmaß, in dem das Ich an der Motivierung der Handlungen teilhaben kann. Da das Ich selbst andererseits neue Elemente in die Situation einbringt, relativiert diese zweite Bedingung wiederum die erstgenannte. Eine Beeinträchtigung des Selbstgefühls kann sich aus der Einnahme einer urteilenden Haltung ergeben, in der man sich mit den Augen eines Anderen betrachtet und so von den eigenen unmittelbaren Empfindungen distanziert. In eine solche distanzierte Haltung zu sich selbst können Individuen unwillentlich fliehen, um unangenehmen, überwältigenden Empfindungen zu entgehen (Mead, 1934, 137, 169f.; Habermas, 1989). 2. Bei den Phänomenen des Besitzes und der Privatsphäre waren wir auf den Mechanismus des gegenseitigen Respektierens dieser Rechtsgüter gestossen. Die dabei involvierte Gegenseitigkeit findet sich auch bei manchen Säugetieren, nicht aber ihr normativer Charakter. Das scheinbare Respektieren persönlicher Territorien beruht bei Tieren auf instinktgeleitetem Verhalten, bei den Instituten des Besitzes und der Privatsphäre hingegen auf Einsicht in ihre normative Notwendigkeit (die zugleich die Möglichkeit eröffnet, sie anderen Rechtsgütern unterzuordnen). Die Einsicht in die Notwendigkeit, anderer Eigentum zu respektieren und zugleich das eigene zu beanspruchen, beruht auf dem Mechanismus der Perspektivenübernahme - der Übernahme der normativen Erwartungen der Eltern bzw. der Gruppe der Erwachsenen durch das Kind (Mead, 1922/1980, 295), der reziproken Übernahme der Rolle aller anderen, die

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ebenfalls die exklusive Kontrolle über ihr Eigentum beanspruchen (Mead, 1934, 161f.), sowie der in der Gesellschaft geltenden Normen der möglichen Transformationen von Eigentum (Tausch, Kauf, etc. - 1925/1980, 316f ). Gleiches gilt für die normativ geregelte Beanspruchung von Raum, Informationen und Äußerungen (Privatsphäre). 3. Bei der Begründung der Privatsphäre als Persönlichkeitsrecht war uns die Definition der Intimsphäre und die Begründung ihrer Schutzwürdigkeit nicht vollends geglückt. Vygotskys Konzeption des inneren Sprechens und Meads Konzeption der Persönlichkeit liefern weitere Anregungen, die von Rüpke (1975) aufgegriffen wurden. Er argumentiert, daß mit der Privat- und Intimsphäre im Prinzip alle Äußerungen einer Person geschützt werden, die sie nicht an einen völlig unbestimmten Kreis von Personen richtet (ebd., 71). Je weniger eine Kommunikation durch Rollen geregelt ist, je persönlicher und intimer sie damit ist, umso offener in ihrer Bedeutung und kontextabhängiger in ihrer Deutung kann sie sein, wie Vygotsky gezeigt hat. Aus Meads Theorie des Selbst ergibt sich als systematischer Unterschied zwischen Kommunikationen mit vertrauten Einzelnen und anonymen Vielen ein systematischer Unterschied bezüglich des Ausmaßes, in dem Perspektiven anderer übernommen werden, auf die die spontanen Tendenzen des Ich abgestimmt werden müßen. Es ergibt sich also ein Zusammenhang zwischen dem Grad der Intimität einer Kommunikation, der Vieldeutigkeit und Kontextabhängigkeit der Bedeutungen der Äußerungen sowie der Befreiung von einer normativen Selbstkontrolle durch das Mich. Diese Situation ist nun besonders wichtig für den Prozeß der Persönlichkeit, wie Mead betonte, da gerade in solchen Situationen die Person ihren spontanen Tendenzen folgen und sie gegenüber einem signifikanten Anderen äußern und ausprobieren kann, ungeachtet der Normen, die außerhalb dieser Dyade gelten. Der Schutz intimer Kommunikation gilt also zum einen dem Schutz des Prozesses des Selbst (Rüpke, 1975, 77f.); zum anderen birgt die Vieldeutigkeit der Kommunikation, die nicht auf ein anonymes Publikum abgestimmt ist, für das sie sehr viel expliziter und kontextunabhängiger und damit eindeutiger formuliert würde, die Gefahr mißverstanden zu werden. Das Individuum überläßt in dieser Situation die Definition der eigenen Äußerungen und damit der eigenen Person anderen (ebd., 53). Jeglicher Beobachter der Handlungen einer Person, der nicht mit ihr interagiert und dessen Reaktion und damit Verständnis nicht von ihr beeinflußt werden kann, verstärkt außerordentlich den normativen Druck auf den Handelnden. Deshalb können Auftritte so belastend sein, bei denen man sich immerhin noch auf ein Publikum einstellen kann. Bei der unwillentlich abgehörten intimen Kommunikation ist auch diese Möglichkeit der Einflußnahme noch ausgeschaltet. Auch dieser zweite Aspekt intimer Kommunikationen bedeutet im Falle eines Mit- oder Abhörens wiederum eine Minimierung des Einflusses auf die Reaktionen anderer

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V. Symbolische Bedeutungen

und somit die eigene Identität, und damit der Phase des Ich im Prozeß des Selbst. 4. Im letzten, vierten Kapitel behandelten wir die Beziehung der Person zu ihrer räumlichen Umwelt. Eine Form der generalisierten Handlungsblockade i.S. Meads hatten wir dort als Folge einer radikalen Veränderung der Beziehung zwischen Person und objektiver Umwelt kennengelernt. In der Lewinschen Feldtheorie bildet sie sich als eine Aufweichung des Handlungsgrundes bzw. eine Entdifferenzierung des Handlungsfeldes ab. Besonders prägnante Veränderungen hatten wir als Übergänge bezeichnet. Sie können durch einen Übergang in eine anders strukturierte Umwelt oder durch eine Veränderung der Person bedingt sein. Dabei hatte ich argumentiert, daß die Mitnahme von persönlichen Objekten aus alten in neue Umwelten, aus vergangenen Entwicklungsphasen in neue eine stabilisierende Funktion für das subjektive Selbstgefühl, die Vertrautheit mit der Umgebung sowie für die Handlungssicherheit zu geben vermöchten. Meads pragmatistische Überlegung, daß Handlungsblockaden zu Versuchen führen, das Problem reflexiv zu lösen, würde erwarten lassen, daß Personen in krassen und deshalb (in Abhängigkeit von den individuellen Kompetenzen und Flexibilität) problematischen Übergängen dazu neigen, verstärkt über ihre Situation und sich selbst in dieser zu reflektieren. Nimmt man die (empirisch belegte) Behauptung Vygotskys hinzu, daß in problematischen Situationen intelligente Funktionen reexternalisiert werden, womit er lautes Denken, die Zuhilfenahme von Dingen als Zeichen und soziale Interaktionen meint, dann läßt sich weiter ableiten, daß in problematischen Situationen Personen dazu neigen, Dinge und andere Menschen dafür zuhilfezunehmen, bzw. spezifischer, eingedenk der Meadschen Argumentation, mit anderen Personen ihre Probleme zu besprechen, um ihre Situation und Identität zu klären bzw. Dinge dazu zu nutzen, über sich und ihre Situation nachzudenken. Was dies bedeuten kann, soll weiter unten genauer geklärt werden (5.u. 6.Abschnitt). 5. Vygotsky formuliert die Konsequenzen einer Handlungsblockade weniger abstrakt als Mead und fügt wichtige Aspekte hinzu, die noch nicht genannt wurden und hierzu ergänzen sind, nachdem wir Meads Auffassung über die Rolle der Phantasie kennengelernt haben. Vygotsky betont neben dem kognitiven den emotionalen Aspekt der Situation. Eine Blockade von Handlungsroutinen "ruft eine heftige emotionale Reaktion hervor. Jedesmal, wenn unsere ausgeglichene Beziehung zur Umwelt zusammenbricht, provoziert dies in uns einen Zustand emotionaler Agitiertheit" (Vygotsky, 1930b/1972, 82). 12 Dieser emotionale Aufruhr führt zu Vgl. Meads Diskussion von Darwins und Wundts Erörterung der Gebärde als ehemaligem Handlungsbeginn, der nach Wegfall der Handlung die Funktion übernahm, Emotion auszudrücken - Mead, 1904; 1906; 1934, 19ff. An dem zuletzt angegebenen

3. Symbolische Interaktion und Identität

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einer Intensivierung der Phantasieproduktion, die je nach Kompetenz des Individuums eher der Flucht vor oder der Bewältigung der gestörten Beziehung zur Umwelt dienen kann. Neben strategischen und moralischen Handlungsproblemen, wie Mead sie diskutiert, kann eine Blockade der Handlung und damit eine Erschütterung der Person-Umwelt-Beziehung auch auf emotional begründete Handlungskonflikte zurückgehen, die von Vygotsky (1930b; 1925) diskutiert werden. Im Falle einer der Bewältigung emotionaler Konflikte dienenden Phantasietätigkeit drängt diese auf Äußerung, auf Verwirklichung in einem kreativen Produkt. Künstlerische Tätigkeit (Vygotsky, 1930b) und ästhetischer Genuß (1925) dienen der Lösung unbewußter emotionaler Konflikte. Künstlerische Produkte konzipiert er analog den psychologischen Instrumenten: "Die Amalgamierung der Gefühle findet außerhalb unserer selbst mit Hilfe sozialer Affekte statt, die in Kunstobjekten objektiviert, entäußert, materialisiert und gebannt werden, die ihrerseits zu Werkzeugen der Gesellschaft geworden sind" (1925/1976, 295). Hier findet sich eine bislang nicht genannte Funktion von Objekten, von künstlerischen Objekten und dem ästhetischen Erleben, das weit über Meads partikulare Formulierung hinausgeht (6.Kap.). 6. Schließlich weist Mead der gesprochenen Sprache die Rolle zu, Grundlage aller kulturellen Bedeutungen und Normen zu sein, was von den im ersten Abschnitt behandelten Autoren oft nicht erwähnt (beispielsweise in der Rede von den kulturellen Kategorien), von den meisten aber auch nicht bestritten wird. Mead insistiert auf der grundlegenden Universalität von Zeichenbedeutungen, die erst Kommunikation und damit die reflexive Verwendung von Zeichen ermöglicht. Alle als persönlich zu bezeichnenden, 'privaten', d.h. innerhalb limitierter Kommunikationssysteme - deren beschränktestes eine einzelne Person ist geltenden Bedeutungen von Zeichen müssen von den allgemeinen Bedeutungen ihren Ausgang nehmen.

Das Selbst und seine Objekte Anders als Vygotsky behandelt Mead Dinge nicht als Zeichen. Er untersucht ihre Rolle:

Ort weist Mead in einer Fußnote darauf hin, daß die Entstehung von Emotionen durch Handlungskonflikte auf Dewey zurückgehe, den Vygotsky wiederum rezipiert hatte. Doch Mead selbst interessierten mehr die kognitiven als die emotionalen Aspekte von Handlungskonflikten, mehr die kreative Reflexion als die artistische Kreativität als Antwort auf Handlungskonflikte.

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V. Symbolische Bedeutungen

a) als hantierbare und deshalb unmittelbar in der Kontaktwahrnehmung erfahrbare Ausschnitte der Natur, an denen das Individuum lernt, den eigenen Körper als physische Einheit aufzufassen und von der umgebenden natürlichen Umwelt abzugrenzen; b) als zu Handlungen einladende Gegenüber: der Stuhl als Sitzgelegenheit, die Tür als zu Öffnende oder Schließende, etc.; c) als Instrumente zur Beeinflußung eines weiter entfernt liegenden Naturausschnitts; d) als ästhetisch genossenes Ergebnis einer Handlung, als Produkt, in dem sich erfolgreiche Handlungen materialisieren. Mit Ausnahme der instrumenteilen Funktion von Gegenständen (c) handelt es sich jeweils um zweistellige Beziehungen, der Gegenstand vermittelt nicht die Beziehung zu einem Anderen, sondern ist selbst das Andere. In den ersten drei Fällen besteht die Handlung gegenüber dem Ding aus einer Bewegung des Körpers, die in Fall (b) bereits das Handlungsziel ist: der Gegenstand dient hier als Umweltausschnitt, der Veränderungen der Lage des Körpers ermöglicht. In den Fällen (a) und (c) sind die Handlungsziele eine Veränderung des Gegenstandes selbst (a) bzw. eines dritten Objekts (c). Fall (d) geht zwar aus Fall (a) hervor, bezieht sich aber auf die abgeschlossene Handlung (a), bei der das Produkt nicht mehr aktiv hantiert wird, sondern passiv bewundert. In allen vier Fällen fungieren Objekte nicht primär als Zeichen in dem Sinne, daß sie für etwas anderes stünden, aber sie haben eine Bedeutung, die ihnen dann doch sekundär einen Zeichencharakter verleiht. - Alle Gegenstände haben neben ihrer Widerstandskraft in Form von Härte, Gewicht und Volumen sekundäre, sinnliche Eigenschaften wie taktile Oberflächenqualitäten (weich, rauh, glatt) oder optische (Farbe, Mattheit oder Glanz), auch akustische, olfaktorische und gustatorische. Sie geben also auf bestimmte Handlungen spezifische Antworten, die je nach Bedürfnislage des Organismus angenehm oder unangenehm sein können. Ein weiches Stofftier und ein harter Stein ergeben ganz unterschiedliche taktile Erfahrungen, duftende Blumen und stinkender Müll provozieren entgegengesetzte Reaktionen. Sinnliche Eigenschaften von Gegenständen bieten spezifische körperliche Objekt- und Selbsterfahrungen, die sie zugleich metaphorisch anzeigen. - Gegenstände ermöglichen Handlungen und laden zu ihnen ein, sei es als Umweltausschnitte, die Körperbewegungen ermöglichen (b), sei es als Dinge (a,c). So kommt ein weiches Bett den Bedürfnissen eines müden Organismus entgegen, ein hartgefedertes dem Kind, das gerne darauf herumspringt. Hieraus ergibt sich die funktionale Bedeutung von Gegenständen. Sie wird einerseits durch die physischen Eigenschaften des Gegenstandes (Form, Gewicht etc.) relativ zum Körper des Menschen bestimmt, andererseits durch die von der Kultur vorgesehenen Verwendungsweisen (s.o., 1.2).

3. Symbolische Interaktion und Identität

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- Artefakte verweisen schließlich auf den Akt der Herstellung. Sie sind in einen komplexen sozialen Prozeß eingebettet, auf den sie hinweisen. Die Auswahl derjenigen Aspekte des Prozesses, die sie jeweils bedeuten, ist wiederum sehr situationsabhängig. Mead greift den Verweis auf das Können des Produzenten für diesen selbst heraus; darüber hinaus verweisen Produkte aber auch auf den Geschmack des Produzenten, seine soziale Position, einen bestimmten Herstellungsort, ein Zeitalter. Worauf Mead hindeutet, und was Vygotsky nicht untersucht, ist die Funktion von Gegenständen als Interaktionspartnern (Fall a). Das wäre hier wahrscheinlich nicht weiter interessant, wenn es sich um eine physische, nicht-symbolische Interaktion handeln würde. Mead behauptet aber, daß alle Interaktionen anfänglich sozialer und symbolischer Natur seien, auch die mit Dingen. Doch dieses Postulat muß mit Vorsicht gedeutet werden. Denn als eine krude Auffassung vom Animismus als der Tendenz, Unbelebtem Eigenschaften des Lebendigen zuzuschreiben, läßt sich Meads These für die Ontogenese jedenfalls kaum halten. Dennoch ist das Phänomen unbestreitbar, daß Individuen mit bestimmten Gegenständen sprechen und sich von ihnen Kräfte erhoffen. Nur weiß in diesen Fällen das Individuum, daß der Gegenstand ihm nicht antworten wird und es nur magisch beschützen kann; es nutzt ihn, um so zu tun, als ob er antworten könnte, verwendet ihn also symbolisch anstelle eines Gegenübers, der wirklich antwortet, um so laut zu denken und mit sich selbst zu sprechen. Das Individuum übernimmt dann nicht die Perspektive des Gegenstandes, sondern die soziale Perspektive eines Phantasmas, die von dem Gegenstand lediglich verkörpert wird (s.u., 5.3). Dies ist die einzige konkrete sozialpsychologische Funktion von Dingen für die Identität, auf die Mead hinweist. Weitere Funktionen lassen sich an Meads Grundkonzept des Selbst, nicht aber an der Perspektivenübernahme mit Gegenständen anknüpfen, wie McCarthy (1984) in seiner Diskussion der sozialen Bedeutung von Dingen bei Mead irrefuhrenderweise nahelegt. 1 3 In den folgenden Abschnitten sollen im Anschluß an kulturanthropologische Theorien sowie die von Vygotsky und Mead einige spezifische sozialpsychologische, symbolische Funktionen von Dingen, und speziell persönlichen Objekten, im Einzelnen analysiert werden. Dabei gehe ich 13

Rochberg-Halton (1984), Hormuth (1990) und Dittmar (1992) zitieren eine Fußnote in den Mitschriften von Meads Vorlesungen (1934, 154), in der er auf die Möglichkeit hinweist, daß auch mit Dingen soziale Interaktionen eingegangen werden und diese Teil des generalisierten Anderen ausmachen können. Rochberg-Halton deutet Mead in dem Sinne, daß Gegenstände ebenso wie Menschen soziale Rollennormen vertreten, während Dittmar die Stelle als Beleg für ihre Auffassung von der triadischen Funkion persönlicher Objekte anführt, eine vermittelnde Eigenschaft, die Mead physischen Dingen gerade nicht explizit zuschreibt!

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V. Symbolische Bedeutungen

von der zentralen Rolle der Perspektivenübernahme und ihrer selbstreflexiven Wendung sowie der Bedeutung der Unterscheidung zwischen anonym-öffentlicher und intim-privater Kommunikation aus, wie sie bislang entwickelt wurden. So unterscheide ich zwischen der Funktion von Dingen, anderen Personen im Rahmen der (im Extrem) anonymen symbolischen Interaktion etwas zu bedeuten (4.), und den Funktionen von Dingen in der intimsten Form der Kommunikation, der mit sich selbst (5 ). Quer zu dieser Unterscheidung steht die Zeitdimension, weshalb ich das Bedeuten von zeitlichen Bezügen, die Funktion von Dingen, zu erinnern bzw. zu entwerfen, getrennt behandele (6.).

4. Öffentliche Symbolisierung von Status und Identität Im ersten Abschnitt sahen wir, daß eine der wichtigsten Funktionen, die Kulturanthropologen Objekten zuerkennen, die ist, soziale Position und Identität dessen anzuzeigen, der über das Objekt verfugt. Hier wenden wir uns nun den individuellen Notwendigkeiten, Modi und Motiven dafür zu, dingliche Identitätssymbole zu verwenden. Vorweg bedarf es der Erläuterung einer Redeweise, die ich im folgenden aus Gründen der Kürze übernommen habe, nämlich der von Identitätsobjekten, Reflexionsobjekten, Erinnerungsobjekten etc.. Diese Redeweise legt irreführenderweise nahe, daß die je gemeinten Dinge immer oder gar exklusiv die genannte Funktion erfüllen. Jedoch gehe ich weiterhin von der unter Rekurs auf Lewin begründeten Auffassung aus, daß jedes Ding multiple Funktionen erfüllt und daß es einer Person umso wichtiger ist und sich umso eher als persönliches Objekt eignet, je vielfaltigere Funktionen es erfüllt. In einem ersten Schritt werden diejenigen Aspekte von Dingen zu beschreiben sein, die sie dazu prädestinieren, als Status- und Identitätssymbole verwendet zu werden; zugleich begründe ich die funktionelle Notwendigkeit von Identitätsobjekten für soziale Interaktionen (4.1). In einem zweiten Schritt wird der Begriff der Perspektivenübernahme weiterentwickelt. Wie wir bei Mead sahen, involviert jegliche Zeichenverwendung den Mechanismus der Perspektivenübernahme. Da ich vorhabe, die Modalitäten der symbolischen Verwendung von Dingen zu spezifizieren, werden hier verschiedene Verwendungsmodi der Perspektivenübernahme bestimmt, was sich im weiteren als hilfreich erweisen wird (4.2). Schließlich werden zwei sozialpsychologische Konstrukte zu Bedingungen der Verwendung von Identitätssymbolen vorgestellt. Das eine benennt ein spezifisches Motiv, öffentliche Identitätssymbole zu verwenden, das andere behauptet, daß Individuen sich danach unterscheiden,

4. Öffentliche Identität

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wie sehr sie dazu tendieren, sich den Eindruck, den sie auf andere machen, zu vergegenwärtigen (4.3).

4.1 Materielle Symbole sozialer und persönlicher Identität Soziale Positionen und Zugehörigkeiten In starren, traditionellen Gesellschaften stehen jedem Rang und jeder sozialen Position bestimmte Kleidungsstücke, Insignien, Behausungen und auch Werkzeuge zu. Im Übergang zur modernen Gesellschaft kamen eindeutige Zuweisungen in Fluß, so daß beispielsweise Luxusgesetze erlassen wurden, um den eigenmächtigen, dem Status nicht angemessenen Gebrauch von Objekten wie Konsumgütern und Kleidungsstücken zu reglementieren. Heutzutage haben sich die Bezüge von Objekten zu sozialen Positionen informalisiert, ihr symbolischer Charakter ist nur mehr implizit. Welche Eigenschaften müssen Dinge aufweisen, um sich dazu anzubieten, Status und Position zu symbolisieren? Bei den heutigen Statusund Identitätssymbolen handelt es sich fast ausschließlich um Konsumgüter (s.o., 1.3). Besonders wichtige Orte der Symbolisierung der sozialen Identität sind solche, die besonders mit dem Individuum verbunden sind, also persönliche Räume und Orte, nämlich der Körper und seine konstante Umgebung sowie die Wohnung oder das Zimmer. Zu letzteren gehören alle Einrichtungsgegenstände, mit denen der Bewohner seine Behausung schmückt und sich anderen präsentiert: Die Möbel, der Wandschmuck, der Bodenbelag, die audiovisuellen und anderen Geräte, die Bücher, die funktionale Aufteilung der Räume, die Sauberkeit. Dazu gehört ebenfalls die Behausung selbst mit ihrer Größe, ihrer Lage und eventuell dazugehörenden Außenräumen wie einem Garten. Überhaupt eine eigene Wohnung mit der Möglichkeit, sich einzurichten, zu haben, bedeutet, daß man "auf eigenen Beinen steht", über eine auch räumlich festgelegte Position in der Gesellschaft mit dem damit verbundenen Freiraum verfügt, sich niedergelassen und etabliert hat. Kinder und Jugendliche verfügen für gewöhnlich nicht über eine eigene Wohnung, und selbst wenn sie ein eigenes Zimmer in der elterlichen Wohnung haben, behalten doch die Eltern die letzte Jurisdiktion über diesen persönlichen Raum. Jugendliche haben Kindern immerhin voraus, über ihren Körper zu verfugen, der ebenfalls der Symbolisierung der sozialen Identität dient. Alle Objekte, die am Körper in weitestem Sinne befestigt werden können und so zusammen mit ihm erblickt werden, können als Identitätssymbole dienen: vom Kopfschmuck über Brillen, Ohrschmuck, Schleier, Hals- und anderem Schmuck, Kleidungsstücke bis zum Schuhwerk (zu Kleidung s. Holman, 1980; Solomon, 1983). Gar

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V. Symbolische Bedeutungen

der Körper selbst erfüllt die Funktion, soziale Identität zu symbolisieren: die Haare als besonders flexibler und manipulierbarer Körperteil, Bemalungen, künstliche Körperteile wie Toupets, falsche Brüste oder Korsetts. Die Körperausstattungen können unterschiedlich standardisiert bzw. uniformiert und damit auch unterschiedlich formal ausfallen. Andere Identitätsobjekte sind loser mit dem Körper verbunden. Dazu gehören alle Dinge, die in den Körper aufgenommen und von ihm ausgeschieden werden. Jene, also Nahrungs- und Genußmittel, unterliegen einer hochdifferenzierten sozialen Normierung und weisen eine entsprechende Bedeutungsvielfalt auf. Weiterhin sind häufig genutzte und mit dem Körper eng verbundene Instrumente zu nennen, wie ein Speer, ein Schwert, ein Hammer, oder heutiger, ein Stift, eine Aktenmappe, eine Handtasche, ein Rucksack oder ein Stock. Aus demselben Grund können kleinere Vehikel hier genannt werden, wie Skateboard, Fahrrad, Motorrad, Auto und Boot, die sich ebenfalls zusammen mit dem Körper bewegen, ja als motorische Verlängerungen des Körpers fungieren. Schließlich sind Identitätsdokumente zu erwähnen, die explizit eine soziale Identität und entsprechende Rechte verleihen, wie Personalaus-

weis, Geburtsurkunde,

Zeugnisse, Mitgliedsausweise

Berechtigungsausweise wie Führerschein,

Monatskarte,

und persönliche Theaterabon-

nement. Die Zugehörigkeit zu sozialen und kulturellen Subkulturen mit ihren entsprechenden Werten und Lebensorientierungen äußert sich jedoch meist weniger in der Wahl eines einzelnen Symbols als vielmehr in der gesamten Gestaltung der eigenen materiellen Umwelt und Konsums, die einem Lebensstil Ausdruck verleihen und durch einen einheitlichen Habitus zusammengehalten werden (Bourdieu, 1979). Prentice (1987) fand entsprechend einen Zusammenhang zwischen der Wahl persönlicher Objekte und materialistischer versus idealistischer Lebensorientierung. Die stilistischen Affinitäten der Gestaltung der materiellen persönlichen Umwelt erleichtern das Erkennen von einzelnen Identitätssymbolen und das Schließen auf soziale Identitäten wie auf andere Lebensbereiche. 1 4 Status bzw. soziale Position läßt sich einmal als Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe, zum anderen als Einnahme bestimmter Rollen bestimmen. Zu den grundlegenden Rollenidentitäten gehören die Geschlechts- und Altersrolle sowie die Familienzugehörigkeit, die sich im Namen zeigt. Später kommen einfache Gruppenzugehörigkeiten dazu wie die Mitgliedschaft in einer Schulklasse, die Zugehörigkeit zu einer Schule und einem Wohnort und gegebenenfalls zu einer Ethnie und Religionsgemeinschaft, sowie zu spezifischeren Gruppen wie den Pfadfindern oder einem Sportverein. In der Adoleszenz treten die Zugehörigkeit zu Sub-

14

Belk, 1980; Dittmar, Manetti & Semin, 1989; Burroughs, Drews & Hallman, 1991; zum Oberblick s. Dittmar, 1992, 149f.

4. Öffentliche Identität

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kulturen wie den Pferdeliebhabern, Motorradgangs, Fußballfans oder Computerfreaks oder weiteren Kulturen wie den Punks oder Skinheads hinzu, im Erwachsenenalter Staatsbürger-, Berufs- und Elternrollen.

Persönliche

Identität

Die Notwendigkeit von öffentlichen Identitätssymbolen liegt in den Erfordernissen sozialer Interaktion begründet. Denn je unbekannter sich miteinander interagierende Personen sind, umso weniger können sie Erwartungen aufbauen und mittels dieser ihre Handlungen aufeinander abstimmen. Das anfangliche Signalisieren von sozialen Identitäten ermöglicht es Interaktionspartnern, von einer gemeinsamen, durch die signalisierten Rollen bzw. Identitäten gegebenen Definition der Situation auszugehen, die die Interaktion vorstrukturiert und es ermöglicht, im weiteren Verlaufe eine tatsächlich geteilte Definition der Situation auszuhandeln. Dinge eignen sich besonders dazu, diese vorweg erforderlichen Identitätssignale zu geben. Denn Gegenstände, die man zugleich mit dem potentiellen Interaktionspartner erblickt, liefern zum frühestmöglichen Zeitpunkt, weil auf Distanz, Informationen über den anderen. Identitätssymbole sind die standardisierteren Teile dessen, was den ersten Eindruck von einer Person ausmacht. Zu diesem tragen auch "natürliche" Identitätsmerkmale wie Geschlechtsmerkmale, Hautfarbe, Beschaffenheit der Haut, Körperproportionen, Körperumfang, Körpergröße und Ausstattung mit Muskeln bei. Dazu zählen ebenfalls noch nicht auf den Betrachter gerichtete Ausdrucksmerkmale wie Körperhaltung, Mimik, Stimme und Art der Bewegung, die situationsspezifische Informationen vermitteln. All diese Zeichen bedeuten einem möglichen Interaktionspartner normative und faktische Handlungsbereitschaften. Je informeller und persönlicher eine mögliche Interaktion ist, desto unwichtiger werden Identitätssymbole im Vergleich zu den "natürlichen" person- und situationsspezifischen Signalen. 15 Nun signalisieren auch Dinge mehr als soziale Zugehörigkeiten bzw. die Übernahme der entsprechenden Gruppen- bzw. Rollennormen. Vielmehr können mit ihnen spontane oder reflektierte Handlungstendenzen angezeigt werden, die nicht allein dem Mich, das die sozialen Normen

Die Urteilsbildung aufgrund solcher Zeichen wird in der Psychologie unter den Titeln Eindrucksbildung, implizite Persönlichkeitstheorien und auch Stereotype untersucht (z.B. Argyle, 1969), wobei die kommunikative Funktion und der soziale Charakter dieser Prozesse mitunter verloren gehen. Besonders im Rahmen der Marktforschung sind viele Untersuchungen zu Inferenzen aufgrund von exhibierten Konsumgütern unternommen worden.

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V. Symbolische Bedeutungen

der Gruppe oder Rolle vertritt, sondern dem Ich bzw. beiden Phasen des Selbst i.S. M e a d s entspringen. Schon zu seinem Geschlecht und Alter, die in der Beschaffenheit des menschlichen Organismus gründet und an ihr ablesbar sind, verhält sich der Mensch, indem er seinen Körper so präpariert und kleidet, daß er damit seinem Geschlecht und Alter entspricht, sie besonders betont oder verleugnet, sich jünger oder älter oder alterslos, männlicher oder weiblicher oder geschlechtslos macht. Bereits mit dem Aussehen allein signalisiert der Mensch also eine bestimmte Haltung zu einer Rolle, die er sich nicht ausgesucht hat - er kann sich nicht nur mit ihr identifizieren oder sich von ihr distanzieren, sondern sie individuell interpretieren und ausfüllen (Stone, 1962). Umso mehr können Objekte dazu dienen, persönliche Handlungsbereitschaften und eine persönliche Identität zum Ausdruck zu bringen, und zwar persönlich nicht allein im Sinne Goffmans als einmaliger Kombination sozialer Identitäten, sondern in dem zweiten von Mead gemeinten Sinne, daß die Person sich aktiv zu den Identitätsangeboten verhält, eine persönliche Wahl trifft und ihre Rollen individuell ausfüllt (s.o., 3.4). Mittels Identitätsobjekten kann die Person folgende Aussagen über sich selbst treffen: a) Sie bezieht zu ihrer natürlichen Identität Stellung, zu ihrem Geschlecht, Alter, Herkunft wie Familie, Rasse, Ethnie, soziale Schicht und Region. Die Stellungnahme bewegt sich zwischen den Extremen des Sich-Bekennens und des Sich-Distanzierens. b) Die Person entscheidet sich, bestimmte soziale Identitäten im Sinne von gewählten Zugehörigkeiten zu betonen und öffentlich zu signalisieren; oder sie signalisiert ihre Besonderheit und Individualität, indem sie Objekte wählt, die eine andere Identität ankündigen als von der Person gemeinhin zu erwarten wäre. Diese beiden Aspekte sind immer relativ zu den Erwartungen einer signifikanten Bezugsgruppe oder eines Publikums zu formulieren. Das Individuum bringt jeweils seine W e r t e und Lebensorientierung zum Ausdruck. c) Die Person wählt Objekte, die nicht allein oder primär eine Orientierung bezeugen, sondern eine vollbrachte Leistung oder Fähigkeit, die sie nicht nur von anderen unterscheidet, sondern sie in bestimmter Hinsicht als überlegen ausweist. Als Objekte eignen sich hier erstens solche, die die Zugehörigkeit zu einer besonders geachteten Gruppe symbolisieren, wie Luxusgüter und Designermöbel, Doktortitel und ein gefülltes Bücherregal. So ruft eine wohlhabende Ausstattung nicht nur den Eindruck hervor, genügend zu verdienen, sondern auch den, über größere Fähigkeiten, mehr Verdienste und gar mehr persönliche Wärme zu verfügen, und zwar unabhängig vom sozialen Hintergrund (Dittmar & Pepper, 1994). Zweitens eignen sich Objekte, die

4. Öffentliche Identität

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auf individuelle Leistungen und Fähigkeiten in einem spezifischen Rahmen verweisen, beispielsweise Sport- und Jagdtrophäen, offizielle Auszeichnungen und Zeugnisse, aber auch eigene, beispielsweise artistische Produkte. Die einfachste Art des Identitätsobjekts sind Abzeichen, Buttons und Aufkleber. Sie werden häufig von Jugendlichen verwendet und von diesen korrekt identifiziert (Zinnecker, 1983, 259). Jugendliche nannten in einer explorativen Befragung als Gründe für das Verwenden von "Abzeichen und Bildmotiven": Bezeugen der Bewunderung für ein Idol, gutes Aussehen, Sammeln solcher Objekte, Ausdruck persönlichen Lebensgefuhls und der eigenen, besonderen Persönlichkeit (ebd., 172). An der Haltung gegenüber der Verwendung solcher plakativer Identitätszeichen zeichnet sich in der Adoleszenz vor allem die Haltung zur Gruppe der Gleichaltrigen ab. Genauso wie die Konformität mit der Gleichaltrigengruppe bis zum 15. Lebensjahr ansteigt, um dann wieder abzufallen (s. o ), individualisiert sich in der Spätadoleszenz die Verwendung von Abzeichen und Jugendliche beginnen, sich kritischer zu standardisierten Alters- und Gruppenzeichen in Kleidung und Aufmachung zu äußern. 16 Die unter dem zweiten und dritten Punkt genannten Verwendungsweisen von Identitätssymbolen zielen also auf das Signalisieren von Zugehörigkeit bzw. Einmaligkeit sowie des Wertes der Person i.S. bestimmter Rollen- und Exzellenznormen. Alle drei genannten Verwendungsweisen von Identitätssymbolen rechtfertigen es, von einer persönlichen Verwendungsweise zu sprechen, da sie nicht lediglich feststehende Identitätsaspekte anzeigen, sondern gerichtete Äußerungen des Individuums über seine Identität sind, in der es sich zwar auf soziale Identitäten bezieht, sie aber persönlich auslegt.

4.2 Modi der selbstreflexiven Perspektivenübernahme Identitätssymbole in dem definierten weiten Sinne sind für das Selbst von eminenter Bedeutung, da sie es erlauben, nicht allein passiv durch die Antworten der anderen definiert zu werden, sondern sich selbst Anderen gegenüber auszuweisen, um sich die selbstgewählten oder -entworfenen Identitäten von ihnen bestätigen zu lassen. Aber treten wir erst noch einmal einen Schritt zurück und fragen, welche mentalen Mechanismen hier involviert sind. Nach Mead kann das 16

Zinnecker, 1983, 160ff.. Belk, Bahn und Mayer (1982) fanden entsprechend in einer Querschnittsstudie ab dem Grundschulalter die Tendenz, aufgrund von Auto- bzw. Haustyp auf die Besitzer zu schließen, die in der mittleren Adoleszenz ihren Höhepunkt erreicht.

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V. Symbolische Bedeutungen

Individuum sich allein aus der Perspektive eines Anderen selbst reflektieren und beurteilen. Präzisieren wir nun den Begriff der Perspektivenübernahme für unsere Zwecke, und zwar speziell in der Form der selbstreflexiven Perspektivenübernahme, bei der die eigene Person im Zentrum des Interesses und der Aufmerksamkeit steht. Ich werde einige wichtige Unterscheidungen einfuhren, die ich mit Groß- und Kleinbuchstaben kennzeichnen werde, um mich im folgenden leichter auf sie beziehen zu können. Die Perspektive auf die eigene Person kann aus unterschiedlichen Positionen übernommen werden (Schlenker, 1985, 66; 1986; Holz-Ebeling & Metzger, 1988): A.a) aus der Position einer anwesenden Person oder Gruppe ("Wie wirke ich in diesem Moment auf... ?"), b) aus der Position einer vorgestellten Person oder Gruppe ("Was würden ... von mir denken, bzw. was denken sie von mir?"); besonders wichtig sind die Perspektiven signifikanter und autoritativer Anderer wie der Eltern (Baldwin & Holmes, 1987), die, je mehr man sich mit ihnen identifiziert, in c) übergehen, c) oder aus einer abstrakten Perspektive ("Wie sehe ich mich?"). Im folgenden konzentrieren wir uns auf die Perspektiven anwesender Anderer (und der Vorstellung von diesen), da Selbstdarstellungen immer eines Adressaten bedürfen; auf die abstrakte reflexive Perspektive (A.c) kommen wir im nächsten Abschnitt (5.) zu sprechen, auf die mit vorgestellten Anderen im darauf folgenden (6.). Jede Perspektivenübernahme hat ursprünglich einen normativen Aspekt, d.h. die Reaktion des Anderen bestimmt ursprünglich die Bedeutung und Bewertung der eigenen Handlung. Für die selbstreflexive Perspektivenübernahme läßt sich deshalb weiterhin unterscheiden, welche Haltung das Individuum gegenüber den Werten und Standards der Person oder Gruppe einnimmt, deren Perspektive sie übernimmt (Turner, 1956): B.a) derivative oder identifikatorische Perspektivenübernahme, in der die Werte und Wertungen der übernommenen Perspektive vom Individuum ebenfalls übernommen werden; b) validative oder moralische Perspektivenübernahme, in der die Werte und Wertungen der übernommenen Perspektive gegenüber den eigenen abgewägt werden; c) implementative oder strategische Perspektivenübernahme, in der die Werte und Wertungen der übernommenen Perspektive ignoriert werden.

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Die drei Haltungen sind gegenüber anwesenden und gegenüber vorgestellten konkreten Anderen oder Gruppen (A.a, A b) möglich. Die Perspektive eines anwesenden Gegenüber auf die eigene Identität (A.a) kann mit unterschiedlichen Zielen übernommen werden (vgl. Turner, 1956, 322ff ): C.a) manipulativ: Wenn das Ziel ist, einen bestimmten Eindruck beim Anderen hervorzurufen, aber unwichtig, ob man selbst glaubt, daß dieser Eindruck zutreffend ist, man Anderen also etwas vorspielt und sie täuscht, da man nicht wahrhaftig ist und aufrichtig eine bestimmte Identität beansprucht, dann dient das impression-management allein der Manipulation des Anderen. Dies ist der Fall, wenn man sich in einem Bewerbungsgespräch bemüht, einen den Erwartungen entsprechenden Eindruck zu machen, oder sich verkleidet, um nicht identifiziert zu werden oder Autorität zu beanspruchen {Uniform). b) identitätsbestätigend: Es kann das Ziel sein, vom Gegenüber in einer selbstgewählten Identität bestätigt zu werden. In diesem Fall wählt die Person selbst ihre Standards und Identität (B.c), möchte aber erreichen, daß eigene Zugehörigkeit bzw. Distinktheit sozial validiert werden dadurch, daß andere reziprok reagieren (s. z.B. Gollwitzer, 1986). Alle auffallenden Manifestationen von Identitätsansprüchen gehören zu dieser Klasse, da sie darauf ausgerichtet sind, Reaktionen zu provozieren: eine besonders luxuriöse Einrichtung (Reichtum), eine betont ärmliche Kleidung (Bescheidenheit), Trachtenkleidung (regionale Zugehörigkeit), Krawatte (Seriosität), Poster (Interessen). Reaktionen auf auffallende Identitätssymbole bestätigen nicht nur die Identität in Termini von Zugehörigkeit und Distinktheit (Identitätsaspekte #1 und 2), sondern auch die Fähigkeit und den Willen der Person, ihre Identität selbst zu wählen und auszuformen bzw. sich zu einer natürlichen Identität zu bekennen (Identitätsaspekt #4). Dies gilt insbesondere für allgemein eher negativ gewertete soziale Identitäten: in den 60er Jahren betont krauses Haar (Afro-Look) amerikanischer Schwarzer (Rasse) und lange, ungepflegte Haare (Hippies), kahlgeschorene Köpfe (Skinheads) - nicht zufallig sind die Identitätssymbole von Minderheiten oft Körpersymbole, da Minderheiten sich durch ihre marginale Position und damit relative Besitzlosigkeit auszeichnen. c) wertbestätigend: Die Bewertung der eigenen Person war bei C.b von untergeordneter Bedeutung, ja das Ziel kann dort auch in einer negativen Reaktion bestehen (vgl. Eriksons Begriff der negativen Identität). Ein drittes mögliches Ziel der reflexiven Übernahme der Perspektive anwesender Dritter kann schließlich darin bestehen, nicht allein zu beeindrucken, sondern in seinem Wert bestätigt zu werden. Im Prinzip können die Standards dieser Bewertung a) die eigenen, ß) die eines Dritten (Normen) oder y) die des Gegenüber sein. Im ersten Falle a )

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V. Symbolische Bedeutungen

versucht die Person aktiv, ihr Gegenüber von ihren Standards sowie davon zu überzeugen, daß sie sie gut erfüllt. Im zweiten Fall ß) können es beispielsweise Rollenstandards sein, und das Ziel, eine Rolle gut auszufüllen, so ein guter Vater zu sein oder ein männlicher Mann (forsches Auftreten, männliche Kleidung und männliche Identitätssymbole wie Waffe, Pfeife, schnelles Auto). Der dritte Fall schließlich y) beschreibt jemanden, der dem Gegenüber gefallen möchte, und für den es deshalb wichtig ist, die Erwartungen des Gegenüber zu verstehen und zu erfüllen; es handelt sich hier um eine Form der sozialen Konformität und Orientierung am Urteil Anderer. 17 Identitätssymbole sind als Mittel für die meisten der genannten Ziele einsetzbar. Eine Ausnahme stellt der Versuch dar, jemanden von der Validität der eigenen Ansprüche an sich selbst zu überzeugen (C.c.a), da Objekte zwar Identitäten anzeigen können, aber eine Wertung der Identität voraussetzen. Ebenfalls umso weniger einsetzbar sind sie, je generalisierter der Wunsch ist, immer den jeweils Anwesenden zu gefallen (C.c.y), da umso unterschiedlichere Erwartungen zu befriedigen sind, was eine Flexibilität erfordert, die Identitätsobjekte nur in Grenzen bieten. Schließlich sind Grade der Reflektiertheit der Perspektivenübernahme zu unterscheiden. Mead hatte zwischen zwei Graden unterschieden, zwischen einer natürlichen und einer objektivierenden, urteilenden Haltung (1934, 169f.), wobei jene nicht völlig unberührt von der Fähigkeit zur Perspektivenübernahme sein muß, sondern eine postreflexive, und damit durch Perspektivenübernahme informierte Haltung sein kann. Genaugenommen ist die natürliche Haltung noch einmal zu differenzieren:

17

Dies kann sogar die Form annehmen, um der Bestätigung durch den Anderen halber selbständig zu wirken - heutzutage eine gängige Rollenerwartung an Frauen (vgl. Habermas, 1990, S.Kap.). In der Sozialpsychologie werden ähnliche Unterscheidungen von verschiedenen Autoren vorgeschlagen. Tedeschi, Lindskold und Rosenfeld (1985) unterscheiden kurzfristig-taktische von langfristig-strategischer Selbstdarstellung, eine Unterscheidung, die der zwische C.a und C.b zu entsprechen scheint; doch genaugenommen handelt es sich bei dem Ziel der Anerkennung der eigenen Identität zwar um ein längerfristiges Ziel, nicht aber um ein strategisches in dem Sinne, daß es ein einseitiges Ziel ist, das die Interessen des Gegenüber ignoriert und Gegenseitigkeit ausschließt. Baumeister und Tice (1986, 64) referieren weitere Unterteilungen und plädieren für eine dichotome Unterscheidung, die C.a und C.c zu einer einzigen Kategorie des "Jemandem-etwas-Vormachens" zusammenfaßt. Für eine Liste typischer Modi der Selbstdarstellung s. Tedeschi (et al., 1985) und Mummendey (1990). Die Möglichkeit, die genannten drei Zielsetzungen der Perspektivenübernahme mit einem aktuellen Publikum voneinander zu unterscheiden, spricht gegen Wicklund und Gollwitzers (1987) Behauptung, öffentliches Selbstgewahrsein (s.u.) falle mit sozialer Konformität begrifflich zusammen.

4. Öffentliche Identität

239

D.a) grundlegend äußert sich die Übernahme von Perspektiven auf der sprachlichen Ebene beispielsweise in der Verwendung deiktischer Ausdrücke; b) auf einer mittleren Ebene, immer noch in der natürlichen, prä- bzw. postreflexiven Haltung, geschieht Perspektivenübernahme automatisiert in der ablaufenden sozialen Interaktion und ermöglicht alltägliches gegenseitiges Verstehen; c) auf der explizitesten Ebene geschieht die Perspektivenübernahme in einer reflektierenden Haltung, in der die Handlung suspendiert ist (Meads urteilende Haltung). In der Sozialpsychologie ist mit dem Begriff des Selbstgewahrseins (s.u.) immer diese Ebene gemeint. Das Verstehen sprachlicher und nichtsprachlicher Zeichen und damit auch von Identitätssymbolen geht normalerweise auf einer unreflektierten Ebene vonstatten, ja letztere wirken gar noch unmerklicher als sprachliche Mitteilungen (s.o., 1.). Je selbstverständlicher Identitätssymbole ihren Nutzern sind, je situations- und addressatenunabhängiger sie getragen werden, umso unreflektierter geschieht dies. Am bewußtesten ist ihr Einsatz, wenn sie der Täuschung des Anderen dienen (C a), am wenigsten bewußt, wenn die Person sich mit ihrer Mitteilung identifiziert. Weitere Gründe für die reflektierte Verwendung von Identitätssymbolen werden im nächsten Abschnitt zu nennen sein.

4.3 Situative und dispositionelle Determinanten Unter welchen situativen und persönlichen Bedingungen neigen Menschen nun dazu, sich den Eindruck, den sie auf andere machen, zu vergegenwärtigen und entsprechend bewußt Identitätssymbole einzusetzen? Die Situationen, in denen Identitätssymbole reflektiert eingesetzt werden, zeichnen sich dadurch aus, daß in ihnen die Person erwartet, daß andere auf sie achten werden, daß diese ihr unvertraut sind, daß es viele sind, und daß sie eine beobachtende Position einnehmen (vgl. Buss, 1980; Carver & Scheier, 1981; Hormuth, 1990, 37ff ). Dies ist der Fall, wenn: a) jemand Blickkontakt aufnimmt oder die Person auffällt, weil sie in einer Situation besonders herausgehoben ist, beispielsweise weil sie die einzig unbekannte Person ist, weil sie beobachtet wird, weil sie auf einer Bühne steht oder aus anderen Gründen vor einem Publikum agieren muß, oder weil sie beurteilt wird; b) wenn das Gegenüber nicht mit der Person interagiert, sondern sie beobachtet, ihr also keine unmittelbare Reaktion liefert, an der die Person sich orientieren kann;

240

V. Symbolische Bedeutungen

c) wenn die Person sich in einer ihr unvertrauten Umgebung befindet, Handlungsroutinen also unterbrochen sind und die Reaktionen der sozialen Umwelt erst exploriert und Identitäten neu verhandelt werden müssen; d) wenn die oder neu nicht nur ker dazu,

Person ihrer Rolle unsicher ist, weil sie schlecht definiert für die Person ist. Dann ist sie sich ihrer Identitätsobjekte bewußter, sondern, meint Solomon (1983), neigt auch stärIdentitätsobjekte zu Hilfe zu nehmen;

e) erhöhte Aufmerksamkeit auf die Wirkung der eigenen Person stellt sich schließlich in Situationen ein, in denen Andere nur virtuell zugegen sind, nämlich wenn die Person sich sinnlich aus einer anderen Perspektive erfahrt, wie beispielsweise durch das Sich-Betrachten im Spiegel oder Sich-Hören in einer Tonband- oder Videoaufnahmen; allein schon das Bewußtsein, auf Tonband oder Video aufgenommen zu werden, motiviert dazu, sich der eigenen potentiellen Wirkung (besonders auf ein unbekanntes Publikum) gewahr zu werden. Auch personenspezifische Determinanten der Verwendung von Identitätssymbolen sind untersucht worden, von denen ich hier zwei vorstelle. Wicklund und Gollwitzer haben es in ihrem Buch Symbolische Selbstergänzung (1982) unternommen, das wohl am bekanntesten von Alfred Adler untersuchte Motiv der Kompensation von Minderwertigkeitsgefühlen mit sozialpsychologischen Theorien und Mitteln zu rekonzipieren. Ausgehend von Mead sprechen sie von einem Bedürfnis nach Selbstdefinition, was wohl nichts anderes meint als den Begriff der Identität im engeren Sinne (Aspekte #1 bis 3), die sozial validiert werden muß. Die Validierung kann gestört werden durch eine Unterbrechung des präreflexiven Prozesses der Selbstsymbolisierung (wenn die Person ein Studium nicht schafft und kein Arzt wird), durch unmittelbare Bewertung durch andere (Prüfungssituation) sowie durch Vergleiche mit anderen (Gruppenprüfung). Alle drei 'Unterbrechungen' fuhren zur Einnahme einer selbstreflexiven Haltung, in der die Person sich selbst (negativ) bewertet und nach Wegen sucht, in der erstrebten Identität dennoch anerkannt zu werden. Eine Möglichkeit dazu besteht darin, sich Evidenzen für das Verfügen über die erwünschte Identität zuzulegen, die besonders augenfällig soziale Validierung erheischen, was Wicklund und Gollwitzer als Selbstergänzung bezeichnen. Als derartige Symbole gelten den Autoren so heterogene Phänomene wie Handlungen, Gesten oder Objekte wie Aussagen

über sich selbst, Leistungsnachweise wie Zeugnisse und Zugehörigkeiten zu Gruppen und ihre Manifestationen - materielle Identitätssymbole können als eine Teilmenge von ihnen gelten. In ihren Versuchen induzieren Wicklund und Gollwitzer (1982) einen Zustand der unterbrochenen Selbstsymbolisierung beispielsweise da-

4. Öffentliche Identität

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durch, daß sie Probanden bei einer Beschreibung der eigenen Person unterbrechen. Braun und Wicklund (1989) hingegen gehen davon aus, daß Novizen in einem Beruf oder einer Tätigkeit sich in ihrer Identität noch unsicher sind bzw. sie als unvollständig empfinden. Sie führen als weitere Voraussetzung dafür, daß Personen selbstergänzende Aktivitäten an den Tag legen, an, daß die inkomplette Identität ihnen wichtig sein muß. Sie zeigen, daß beide Bedingungen gemeinsam beeinflussen, ob jemand glaubt, diese Identität in seinem Aussehen zu signalisieren und ob man sich tatsächlich mit entsprechenden Abzeichen ausstattet (Universitätsabzeichen bei Studienbeginnern, Markenkleidung bei TennisAnfangern). Symbolische Selbstergänzung zielt auf die Anerkennung der Identität (C.b), die zu unterscheiden ist von der positiven Wertung dieser Identität (C.c). Beide Male geht es um eine positive Bewertung der Person, bloß das eine Mal gemessen an den Standards der Person selbst, das andere Mal an denen des Gegenübers (s. Wicklund & Gollwitzer, 1982, 105). Ich habe weiter oben argumentiert, daß die Verwendung von Identitätssymbolen den Mechanismus der Perspektivenübernahme impliziert. Symbolische Selbstergänzung erfordert, folgen wir den früheren Ausführungen, die Übernahme der Perspektive anwesender Anderer (A.a), wobei die Interessen des Anderen ignoriert werden (implementative Perspektivenübernahme - B.c), mit dem Ziel der sozialen Validierung der eigenen Identität durch den Anderen (C.b). Eine reflektierende Haltung (D.c) nimmt die Person nach Wicklund und Gollwitzer als Folge der Unterbrechung seiner Selbstsymbolisierung ein; doch in der Folge, während der interpersonellen Kompensationsbemühungen, handle die Person aus der Position des Mead'schen Ichsj (ebd., 56ff., 87ff.; Gollwitzer, 1986). Hier übernehme die Person gerade nicht die Perspektive des Anderen. Das ist jedoch nur in dem Sinne richtig, daß die Person die Äußerungen des Anderen allein als Reaktion auf die beanspruchte Identität versteht, sich aber in dieser Situation nicht für den Anderen interessiert, für seine Interessen oder Erleben und auch nicht an einer Kooperation, einem gemeinsamen Handlungsziel interessiert ist. Doch widerspricht das nicht der Auffassung, daß die Person auch in dieser Situation die Perspektive des Anderen übernimmt, aber eben nicht in der reflektierenden, sondern der handelnden, automatisierten Haltung (D.b), und sich dabei eben nicht auf den Anderen konzentriert, sondern die Perspektive des Anderen auf sich selbst übernimmt. Die Perspektive des Anderen wird selbstreflexiv oder autofokal, nicht allofokal eingenommen. Diese 'egozentrische' Interpretation aller Äußerungen des Anderen in der symbolischen Selbstergänzung zeigt sich in der Korrelation zwischen der Disposition zum öffentlichen Selbstgewahrsein (s.u.) und der Tendenz, Äußerungen und Handlungen Anderer auf sich selbst zu beziehen (Fenigstein & Vanable, 1992).

242

V. Symbolische Bedeutungen

Ein i d e n t i t ä t s b e z o g e n e s Insuffizienzgefühl kann s o w o h l s p e z i f i s c h ausfallen und s i t u a t i o n s b e z o g e n auftreten, so w i e in den v o n Wicklund und K o l l e g e n untersuchten Fällen, als auch situationsübergreifend stabil das g e s a m t e Selbsterleben einer Person charakterisieren. 1 8 Einen Schritt früher setzt die Disposition zum öffentlichen Selbstgewahrsein {public self-consciousness) an. 1 ® Damit wird die T e n d e n z b e zeichnet, sich d e s eigenen Auftretens gewahr zu sein, sich v o r A u g e n zu halten, w i e man a u f Andere wirkt. Fenigstein, Scheier und B u s s ( 1 9 7 5 ) konstruierten einen F r a g e b o g e n zur Erhebung der D i s p o s i t i o n zu ö f f e n t lichem und privatem (s. nächster Abschnitt) Selbstgewahrsein s o w i e sozialer Ängstlichkeit. W e m nun sind seine Identitätsobjekte besonders wichtig, w e r wählt D i n g e als persönliche Objekte, die als Identitätssymbole fungieren? D a s m ü ß t e n z u m einen P e r s o n e n sein, die zu symbolischer Selbstergänzung neigen, z u m anderen aber auch all diejenigen, die ihre S e l b s t b e w e r t u n g stark am Urteil anderer ausrichten und sich deshalb ihres A u f t r e t e n s g e wahr sind. In der Tat finden sich Zusammenhänge z w i s c h e n einer evaluativen Außenorientierung, der D i s p o s i t i o n zu öffentlichem S e l b s t g e w a h r sein und der D i s p o s i t i o n , die eigenen Handlungen auf ihre E f f e k t e hin zu b e d e n k e n und lenken ( s e l f - m o n i t o r i n g ) . 2 0 Und auch ein Z u s a m m e n h a n g

In diesem Sinne ist der Mechanismus der symbolischen Selbstergänzung typisch für die sogenannte narzißtische Persönlichkeit (Kernberg, 1975), die unter ständigem Minderwertigkeitsgefühl leidet, das sie durch Selbstüberhöhung abzuwehren versucht. Andere Personen dienen primär als Quelle der Bestätigung des eigenen Wertes. Die Interessen, Eigenarten und Empfindungen Anderer sind aber kaum zugänglich - dies entspricht genau der für die symbolische Selbstergänzung charakterisierten Form der automatisierten reflexiven Perspektiventtbernahme. Self-awareness wird gewöhnlich mit Selbstaufmerksamkeit übersetzt; ich halte es jedoch für stilistisch günstiger, eine der Umgangssprache nähere Übersetzung zu wählen, nämlich Selbstgewahrsein. Es liegen mehrere Übersetzungen des Fragebogens ins Deutsche vor. Am besten abgesichert ist der von Filipp und Freudenberg (1989), doch unterscheidet er sich in den Itemformulierungen und enthält keine Skala zu sozialer Ängstlichkeit. Die amerikanische Skala für öffentliches Selbstgewahrsein korreliert wie erwartet (niedrig) mit der Skala für self-monitoring. Darüberhinaus korreliert sie zwar nicht mit der Skala für soziale Erwünschtheit (Turner et al., 1978), aber doch mit verschiedenen Maßen von Konformität und Ausrichtung an Anderen (s. Wicklund & Gollwitzer, 1987). Die deutsche Skala zeigte kaum Zusammenhänge mit anderen Persönlichkeitsmaßen mit Ausnahme des Bedürfnisses nach Anerkennung (Filipp & Freudenberg, 1989). Aus klinischer Perspektive kann die Tendenz zum öffentlichen Selbstgewahrsein chronisch mit negativen Affekten verknüpft sein, da die Person dazu neigt, sich vom Gegenüber negativ bewertet zu wähnen, was u.a. als soziale Neurose (Schilder, 1938) oder Disposition zu sozialer Angst (Buss, 1980) bezeichnet wird. Buss zählt zu den sozialen Ängsten Verlegenheit, Scham, Publikumsangst und Schüchternheit. Die Disposition zu sozialen Ängsten korreliert positiv mit der Disposition zum öffentli-

5. Selbstkommunikation

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zwischen der Disposition zum öffentlichen Selbstgewahrsein und der Wahl von Identitätssymbolen wie Kleidung, Schmuck und Einrichtungsgegenständen als persönlichen Objekten ist zu vermuten. 21 Empirisch bestätigt wurden Zusammenhänge mit dem Ausmaß, in dem man sich mit der eigenen Kleidung beschäftigt (Solomon & Schopler, 1982) und in dem Frauen sich schminken (Miller & Cox, 1982); schließlich nannten Studenten mit hohen Werten auf der Skala öffentliches Selbstgewahrsein häufiger Kleidung und Telefon, seltener Bücher als persönliche Objekte (Habermas, 1994a).

5. Der Selbstkommunikation dienende Objekte Haben wir soeben die Funktion von Dingen betrachtet, den Eindruck zu beeinflussen, den man Anderen von sich vermittelt (A.a), wenden wir uns nun weiteren selbstreflexiven Funktionen von Dingen zu, und zwar solchen, die im Rahmen der Kommunikation mit sich selbst eine Rolle spielen. Dabei kommt nicht die Perspektive anwesender, konkreter Anderer ins Spiel, sondern eine abstrakte Perspektive des Anderen (A.c) oder die eines imaginierten Anderen (A b). Auch Identitäts- und Statusobjekte können der Selbstkommunikation dienen, in der die Person sich selbst belegt, daß sie über eine bestimmte Identität verfugt (Solomon, 1983) so wenn sie sich vor dem Spiegel in ihrer neuen Uniform bewundert, - so daß wir hier nicht völlig andere Gegenstände behandeln werden, sondern lediglich eine andere Funktion. Ausgehend von einem Vergleich mit Mechanismen der Selbstdarstellung (5.1) werden in diesem Abschnitt lediglich diejenigen Formen der Selbstkommunikation behandelt, in denen das durch das Ding verkörperte Gegenüber nicht eine reale Person ist, sondern eine imaginierte oder gar eine abstrakte Perspektive, und zwar deshalb, im Unterschied zum folgenden Abschnitt, zugleich eine aktuelle, gegenwärtige. Zuerst werden Formen der Selbstkommunikation behandelt, in denen das Gegenüber unpersönlich-anonym ist (5.2), sodann solche Formen, in denen dem Gegenüber eine fiktive Identität verliehen wird (5.3). Schließlich skizziere ich die Ontogenese der Fähigkeiten zur Perspektivenübernahme chen Selbstgewahrsein (beide mit den amerikanischen Skalen erhoben; meist um r = .30).

21 Daß die Skala Öffentliches Selbstgev/ahrsein viele Items zum Aussehen enthält, ist zwar gegenüber dem zu operationalisierenden Phänomen selektiv, sollte den empirischen Zusammenhang mit der Wahl von Identitätsobjekten als persönlichen Objekten aber noch stärken.

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V. Symbolische Bedeutungen

und ihrer Nutzung, die für den öffentlichen und privaten kommunikativen Umgang mit Dingen nötig sind (5.4). Die Gliederung ist also durch die Form der Kommunikation bzw. Perspektivenübernahme bestimmt, die es zugleich näher zu bestimmen gilt. Weiterhin interessieren wir uns wie bisher dafür, welche Funktionen Dingen bei den verschiedenen Formen der Selbstkommunikation zukommen können, welche situativen und persönlichen Bedingungen eine bestimmte Form der Selbstkommunikation und entsprechende Verwendung von Dingen nahelegen, sowie welche Dinge sich besonders dazu eignen, diese Funktionen zu erfüllen.

5.1 Öffentliche und private selbstreflexive Verwendung symbolischer Objekte W o d u r c h unterscheidet sich die im vorigen Abschnitt besprochene öffentliche selbstreflexive Verwendung symbolischer Objekte von ihrer Verwendung in der Kommunikation mit sich selbst? Ein wichtiger Unterschied zwischen privater und öffentlicher symbolischer Verwendungsweise von Dingen besteht darin, daß in der privaten Kommunikation mit einem Gegenstand dieser tendenziell, wenn auch nicht in jedem Fall, die Rolle des Ansprechpartners, des Gegenübers übernimmt, während er beim Exhibieren von Identitätssymbolen als Medium der Kommunikation, als Träger von Botschaften an andere Personen fungiert. In diesem Falle kommt die Antwort von einer anderen Person, in der Selbstkommunikation gibt sich die Person selbst die Antwort, wenn auch aus einer anderen Perspektive, nämlich der, die durch das Ding vertreten wird. Für die Selbstkommunikation gehen wir als Regelfall also von der von Mead angedeuteten dyadischen Situation aus, in der Dinge als Interaktionspartner dienen (s. 3.5). Freilich zielte auch Vygotsky auf die Situation der Selbstkommunikation, als er die vermittelnde Funktion von Dingen gegenüber der Natur, anderen und sich selbst beschrieb. Der scheinbare Widerspruch läßt sich aufheben, wenn man eine weitere Unterscheidung einfuhrt, nämlich die, wie spezifische Bedeutungen einem Ding zukommen. Vygotskys Knoten im Taschentuch fungiert als spezifisches Zeichen, das auf eine Handlungsintention verweist, während in den in diesem Abschnitt zu behandelnden Fällen Dinge weniger bestimmte B o t schaften vermitteln, also als Zeichen zu konzipieren sind, denn f ü r eine über spezifische Botschaften generalisierte Perspektive stehen. Die im folgenden sechsten Abschnitt zu behandelnde Erinnerungsfunktion von Dingen nähert sich dann wieder dem spezifischeren dinglichen Zeichen Vygotskys an.

S. Selbstkommunikation

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Ein weiterer wichtiger Unterschied zwischen privater und öffentlicher symbolischer Verwendungsweise von Dingen besteht in dem Ausmaß des gemeinsamen Wissens von Person und Interaktionspartner: Im prototypischen Falle der öffentlichen Selbstdarstellung verfugt der Andere über keine weiteren Informationen über die Person als die, die er ihrem momentanen Auftreten entnehmen kann, während in der Selbstkommunikation, der privatesten möglichen Verwendung selbstreflexiver Objekte, beide Seiten über alle Informationen verfugen, da sie faktisch miteinander identisch, da zur selben Person gehörig sind. Definitionsgemäß besteht ein Unterschied im sozialen Kontext der Verwendung. Identitätsobjekte werden öffentlich exhibiert, der Selbstkommunikation dienende Objekte hingegen erfordern, daß die Person allein ist. Da dabei Informationen und Tendenzen verhandelt werden, zu denen z.T. nur die Person selbst Zugang hat, kann hinzutreten, daß die Person ihre Selbstkommunikation nicht nur gegen ablenkende Andere, sondern auch gegen zuhörende Andere aktiv schützt. Betrachten wir die involvierten Formen der reflexiven Perspektivenübernahme, dann stellt die Übernahme der Perspektive eines imaginierten Anderen ( A b ) einen Übergangsfall zwischen Selbstdarstellung und Selbstkommunikation dar. Wenn der imaginierte Andere eine existierende Person und Adressat einer imaginierten, oder besser noch geplanten zukünftigen Selbstdarstellung ist, ähnelt dies eher der Übernahme der Perspektive eines anwesenden Anderen (A.a). Wenn der imaginierte Andere hingegen eine Phantasiegestalt oder eine vertraute Person ist, die kommentierend auf imaginierte Handlungen und Gedanken der ersten Person reagiert, ähnelt die übernommene Perspektive eher der des Alter Ego in der Selbstkommunikation (A.c). Welche Ziele verfolgt das Individuum in der Selbstkommunikation, speziell der, in der es sich mit sich selbst beschäftigt? Im Unterschied zur Selbstdarstellung (vgl. C.a,b,c) kann sie u.a. folgenden Zielen dienen: a) sich ein Bild von einem selbst zu machen, so von der Zugehörigkeit zu Gruppen und der eigenen Distinktheit, eigenen Leistungen und Fehlschlägen, Wünschen und Zielen, miteinander konfligierenden Tendenzen. Dies geschieht immer auch in einer beurteilenden Haltung mit dem Ziel, verschiedene synchrone Aspekte eines selbst zu integrieren; b) sich ein Bild von einem selbst in der zeitlichen Dimension zu machen, also bisherige Kontinuitäten und Entwicklungen zu beurteilen sowie für die Zukunft Ziele und Pläne zu entwerfen, was auf eine zeitliche Integration eines selbst zielt; c ) sich zu unterhalten; d) die Stimmung zu beeinflussen, sich beispielsweise zu trösten. Die zeitliche Dimension klammern wir bis zum nächsten Abschnitt aus, die, sich zu trösten, bis zum nächsten Kapitel. Die zuerst genannte

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V. Symbolische Bedeutungen

Funktion der synchronen Selbstintegration wird in beiden folgenden Teilen (5.2, 5.3), die Funktion, sich zu unterhalten, im übernächsten Teil (5.3) behandelt.

5.2 Situative und dispositionelle Determinanten der Selbstkommunikation Wir beginnen mit zwei Formen der selbstreflexiven Übernahme einer unpersönlichen Perspektive. Die erste Form fällt etwas aus unserem Rahmen, da es sich um eine unfreiwillige und unangenehme Reaktion auf Dinge handelt, die also nicht als persönliche Objekte gewählt werden; sie wird hier als Grenzfall und da sie einen wichtigen Platz in der Sozialpsychologie einnimmt, dennoch aufgeführt. Bei der zweiten Form handelt es sich einfach um Nachdenken über sich selbst.

Induktion eines evaluativen

Selbstgewahrseins

Duval und Wicklund (1972) haben dingliche situative Bedingungen untersucht, unter denen man seiner aktuellen Handlungen und Empfindungen kritisch gewahr wird. Sie konnten experimentell belegen, daß die Präsenz eines Spiegels oder von möglicherweise eingeschalteten Aufnahmegeräten wie eines Tonbandgeräts oder einer Kamera die Aufmerksamkeit auf die eigene Person lenkt, und zwar mit dem Effekt, daß man Empfindungen und Handlungen aus der Perspektive des Mich, eines generalisierten Anderen und seiner Normen beurteilt, bevor man sie zuläßt bzw. umsetzt. Es handelt sich also um die Übernahme einer abstrakten (A.c) normativen (B.a) Perspektive in einer tendenziell urteilenden Haltung (D.c). Die verwendeten Normen sind je nach Kontext moralische oder Exzellenznormen. Letzteres erweist sich in den Befunden, daß derart induziertes kritisches Selbstgewahrsein nicht nur, wie nach Mead zu erwarten, die Ausführung komplexer und automatisierter Handlungen behindert (Wicklund, 1982), sondern bei einer ängstlich um ihr Auftreten besorgten Person auch die Übernahme der Perspektive konkreter Anderer beeinträchtigt, da sie nur mehr um ihr eigenes Auftreten bangt (Stephenson & Wicklund, 1983). Diese Form des kritischen Selbstgewahrseins werde als unangenehm erlebt. Der negative Affekt hängt wohl damit zusammen, daß die beschriebene Situation der eines erzwungenen Auftritts ähnelt, und man Empfindungen und Handlungen so beurteilt, als ob man sie öffentlich zu verantworten hätte. In der experimentellen Situation befinden sich die

5. Selbstkommunikation

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Probanden allein in Gegenwart eines der genannten Gegenstände. Diese stellen ein potentielles Publikum her und transformieren so die Situation des Allein- und Unbeobachtetseins, der Privatheit i.S. Westins (1970), in eine öffentliche Situation, in der der Proband dann, obwohl allein, verstärkt sozialen Normen unterworfen ist. Da es in dieser Situation kein spezifisches Publikum gibt, auf das die Person einen guten Eindruck machen möchte, fuhrt es die Selbstbewertung aus der abstrakten Perspektive des generalisierten Anderen durch (A.c). Ein Vergleich zwischen der Handlungsorientierung allein vor einem Spiegel und vor einem Publikum zeigte, daß in dem einen Falle eigene, im anderen Falle Normen des Publikums handlungsleitend wirken (Froming, Walker, & Lopyan, 1982). Die Selbstbewertung in der Situation mit einem Spiegel betrifft zudem weniger das Bild von der eigenen Person als spezifische Empfindungen oder Handlungen, also weniger den Wert der eigenen Person als die Verantwortbarkeit von Empfindungen und Handlungen. Duval und Wicklund behaupten nun, der Zustand des Selbstgewahrseins werde als unangenehm erlebt, da fast immer das tatsächliche Verhalten und Empfinden den Standards nicht genüge. Deshalb würden Situationen, die dazu geeignet sind, Selbstgewahrsein hervorzurufen, fast durchweg gemieden. Das würde bedeuten, daß es keine intrinsischen Motive gibt, sich mit Spiegeln zu konfrontieren oder sich einem Publikum zu präsentieren. Wie wir im letzten Abschnitt sahen, kann es aber durchaus nicht nur das starke Angewiesensein auf, sondern gar eine Hoffnung auf soziale Wertschätzung geben, und selbstobjektivierende Geräte wie Spiegel und Waagen werden von vielen freiwillig verwendet. Doch in diesen Fällen werden die Geräte nur für Augenblicke genutzt; eine ständige Begleitung durch sie wird wohl in der Tat überwiegend als negativ empfunden. Der unangenehme Effekt akuten Selbstgewahrseins mag zusätzlich damit zusammenhängen, daß in der akut selbstbeurteilenden Haltung die Person sich quasi mit sich selbst desidentifizieren kann, sich von sich als in erster Person handelnder und empfindender Person distanziert, um sich auf die Position einer beobachtenden dritten Person zurückzuziehen, was zu dem unangenehmen Erleben der Selbstentfremdung fuhren kann. In manchen Situationen ist aber gar ein entfremdetes Selbsterleben relativ positiv und funktional. Mead nennt als typische Situationen der Selbstentfremdung solche der Bedrohung wie im Gefecht oder beim Ertrinken (Mead, 1934, 137, 170; vgl. Jacobson, 1959). Die Person zieht sich hier unwillkürlich auf die Position eines Beobachters bzw. des Mich zurück, während das körpernahe Ich mit seinen Handlungsimpulsen und Empfindungen als nicht zur eigenen Person gehörend empfunden wird. Der Vorzug der Selbstentfremdung besteht darin, sich starken aversiven und überwältigenden Empfindungen zu entziehen und so handlungsfähig zu bleiben. Wir haben es hier mit einer aktiveren Form der Entfremdung zu tun als bei der im dritten Kapitel erörterten. Dort rührte der Effekt

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V. Symbolische Bedeutungen

der Entfremdung von einer Veränderung in der gewohnten Person-Umwelt-Beziehung her, hier von der aktiveren, defensiven Enteignung des Ichs i.S. Meads. Gurevitch (1990) nennt weitere Situationen, in denen eine selbstreflexive Bezugnahme auf sich selbst mit einem Empfinden des SichFremd-Seins verbunden ist: in der Fremde oder unter Fremden zu sein, 2 2 im eigenen Selbstverständnis in Frage gestellt zu werden, sich auf Tonband oder Video wahrzunehmen, bei Körperveränderungen in Adoleszenz und Schwangerschaft sowie in Situationen, in denen man sich sinnlich an sich selbst erinnert. Der Effekt der Entfremdung hänge von der Andersheit und Distanz der selbstreflexiv übernommenen Perspektive ab. 2 3 Das aktuelle Selbstgewahrsein in Abwesenheit Anderer ähnelt stark der selbstzentrierten Perspektivenübernahme bei öffentlichen Auftritten (s.o.). Wir kommen nun zu der genuinen Form des inneren Sprechens, der Selbstreflexion, und kehren damit zur freiwilligen Verwendung von Dingen zurück.

Disposition zur Selbstreflexion Fenigstein, Scheier und Buss (1975) transformierten die Theorie von Duval und Wicklund in zweierlei Hinsicht. Zum einen interessieren sie sich nicht für moralische Selbstreflexion, genaugenommen überhaupt nicht für die Funktion der Selbstreflexion, sondern allein für ihre Form. Das schlägt sich darin nieder, daß sie nicht nach der Position der übernommenen Perspektive (A.) und nicht nach ihren Werten und Standards (B.) unterscheiden, sondern nach der Zugänglichkeit des Objekts der reflexiv gewendeten Aufmerksamkeit:

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Wicklund und Frey (1980) fanden, daß ausländische Touristen, wenn sie zum ersten Mal im Land waren, ihrer selbst stärker gewahr waren als wenn ihnen das Land weniger fremd war, und dies galt stärker für Alleinreisende als fttr Gruppenreisende.

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Myers (1976) stellt, wie auch andere von ihm zitierte Autoren, einen Zusammenhang zwischen Spielen vor dem Spiegel (und imaginären Gefährten - s.u.) sowie Spiegelträumen und Entfremdungszuständen bei Jugendlichen und Erwachsenen her, bei denen es jeweils zu einem Zerreißen des Zusammenhanges zwischen handelndem und selbstbeobachtendem Ich kommt (Arlow, 1966), einer Unterscheidung, die der Meads zwischen Ich und Mich partiell entspricht. In Ergänzung zu den Ausführungen im dritten Kapitel kann für das Zustandekommen von Entfremdungserlebnissen die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme als unerläßlich gelten, sei es, um die Entfremdung durch die Einnahme einer selbstbeobachtenden Haltung herbeizuführen, oder sei es nur, um das Wissen um die Realität trotz veränderten präreflexiven Ichund Realitätsgefühls aufrechtzuerhalten (Habermas, 1989).

5. Selbstkommunikation

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E.a) öffentliche Aspekte der eigenen Person, womit sie die anderen Personen sinnlich zugänglichen Aspekte und Äußerungen der Person meinen (s.o.), und b) 'private' Aspekte der Person, worunter sie die allein von der Person selbst wahrnehmbaren Aspekte wie Empfindungen und Gedanken verstehen. Hier ist eine Nebenbemerkung über die theoretische Fassung selbstreflexiver Prozesse durch Scheier und Kollegen (und zum Teil auch Duval und Wicklund) am Platz. Denn sie arbeiten mit einem an der Wahrnehmung orientierten Modell der Aufmerksamkeit, mittels dessen man zwar Richtung (Umwelt vs. eigene Person) und Objekt der Aufmerksamkeit (z.B. öffentliche vs. private Aspekte) beschreiben kann. Für das von uns hier adoptierte Modell der Perspektivenübernahme inklusive ihrer selbstreflexiven Verwendung sprechen nicht nur seine größere Erklärungsbreite und Relevanz für die Erklärung symbolischer Verwendungen von Dingen, sondern auch, daß sich in ihm zusätzlich spezifizieren läßt, welche Perspektive eingenommen wird (s. unsere Punkte A. und B ). So wäre es naheliegend, unter private self-consciousness Selbstbeobachtung bzw. Introspektion als aktuellem Wahrnehmungsprozeß zu verstehen. Doch Scheier und Kollegen meinen damit, wenn man ihre Skala betrachtet (s.u.), nichts anderes als ein Nachdenken über sich selbst, über eigene Empfindungen, Tendenzen, Gedanken, Motive, Handlungen und Gewohnheiten. Objekte dieser Selbstreflexion, um die es im folgenden gehen soll, müssen nicht in der aktuellen Situation gegeben sein wie bei der Selbstwahrnehmung, sondern können in der Vergangenheit oder Zukunft liegen. Welche Situationen laden nun dazu ein, über sich selbst nachzudenken? Buss (1980, 17) nennt als Situationen solche, in denen die Person allein ist (Hansell, Mechanic & Brondolo, 1986), die Umgebung langweilig ist, die Aufforderung zu dieser Form der Selbstbeobachtung erteilt wurde, Tagträumen und das Schreiben eines Tagebuchs. D o c h diese Situationen sind nicht unbedingt allein für das Nachdenken über sich selbst typisch. In allen diesen Situationen ermöglicht eine Handlungsentlastung es, die Aufmerksamkeit von der Umwelt abzuwenden. Situationen des Alleinseins und Nicht-Abgelenktseins durch eine interessante Umwelt fuhren zwar zu einer Senkung des Aktivationsniveaus (s. 3.Kap.) und man tendiert dazu, sich gedanklich zu beschäftigen. Das kann aber verschiedene Formen annehmen, nämlich die des konzentrierten, gelenkten Nachdenkens über etwas, nicht notwendigerweise aber die eigene Person, oder die des unaufmerksam die Gedanken schweifen Lassens und Träumens. Für die Situation des Nachdenkens, sei es über sich selbst, sei es über andere, ist sicherlich die Situation des Tagebuchschreibens günstig, da es dazu zwingt, Gedanken auszuformulieren und in eine Reihenfolge zu bringen. Hingegen verleiten andere Situationen

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V. Symbolische Bedeutungen

des Allein- und Nicht-Abgelenktseins, wie solitärer Drogenkonsum oder Sich-Ausruhen im Bett eher zum Träumen als zum Nachdenken. Die Situationen, die nach Vygotsky und Mead typischerweise Nachdenken auslösen sollten, nennt Buss nicht, nämlich Situationen strategischer, moralischer und emotionaler Handlungsprobleme und -konflikte, in denen habitualisiertes Handeln unterbrochen wird. Mehr noch als einzelne Handlungskonflikte motivieren grundsätzlichere Unstimmigkeiten innerhalb des Selbst bzw. zwischen Selbst und Umwelt dazu, über sich nachzudenken und so generalisierte Handlungsvoraussetzungen zu verbessern, die durch die Konsistenz und Kontinuität des Selbst gegeben werden. Inkonsistenzen und Diskontinuitäten können so reflexiv in einer kohärenten Sicht der eigenen Person aufgehoben werden, die wiederum zu einer konsistenteren Selbstlenkung beiträgt (s.o., 3.4). Im Unterschied zum induzierten kritischen Selbstgewahrsein (s. 5.2.a) erfüllt die Selbstreflexion für das Individuum also wichtige Funktionen und kann deshalb eher positiv erlebt werden. Neben ihrer Funktionalität gibt es weitere Gründe für eine positive Bewertung der Selbstreflexion. Diejenigen mit hohen Introspektivitätswerten (auf Mechanics Skala für Introspektivität, die der für privates Selbstgewahrsein inhaltlich entspricht) gaben an, gern über sich nachzudenken, da es ihr Verständnis von sich selbst und anderen vertiefe, wiewohl das Nachdenken sich manchmal auf beunruhigende Weise verselbständige (Hansell et al., 1986). Welche personspezifischen Bedingungen tragen nun dazu bei, daß jemand dazu tendiert, mehr oder weniger nachzudenken, oder, anders gefragt, mit welchen anderen Personmerkmalen korreliert die Disposition zum selbstbezogenen Nachdenken? Neben der Skala zur Erfassung der Disposition zu öffentlichen Selbstgewahrsein entwarfen Scheier, Fenigstein und Buss (1975) eine weitere Skala zur Erfassung der Tendenz dazu, über sich selbst nachzudenken. Eine inhaltlich weitgehend ähnliche Skala stammt von Mechanic. Mit diesen Fragebögen wurden Korrelationen der Disposition zur Selbstreflexion gefunden, nämlich mit: - einer genaueren Kenntnis der eigenen Person: die Skalen korrelieren mit der Ausführlichkeit und Wahrhaftigkeit von Selbstbeschreibungen und Aussagen über sich selbst (Turner et al., 1978; Bernstein & Davis, 1982), aber auch der Bereitschaft, sich anderen mitzuteilen (self-disclosure, Franzoi & Davis, 1985; Davis & Franzoi, 1986) sowie einer genaueren propriozeptiven Körperwahrnehmung (Filipp & Freudenberg, 1989) und Menge angegebener körperlicher Symptome (Hansell et al., 1986); - einer intensiven künstlerischen und Phantasietätigkeit (Turner et al., 1978; vgl. Elliott, 1984; Hansell et al., 1986);

S. Selbstkommunikation

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- aber auch mit pathologischen Motiven nachzudenken, nämlich mit Depression (Pyszczynski & Greenberg, 1987), aber auch mit anderen psychischen Störungen (Ingram, 1990), mit Depressivität und Ängstlichkeit (Hansell et al., 1986); - Schließlich korreliert die Skala von Scheier und Kollegen positiv mit ca. .30 mit der Disposition zu öffentlichem Selbstgewahrsein, in der deutschen Fassung noch höher (zwischen .43 (Studenten) und .64). - Die Korrelation mit angegebener Einsamkeit (Heigl, 1987) wird durch das Ausmaß der Tendenz zur Selbstoffenbarung vermittelt (Davis & Franzoi, 1986) und ist deshalb nicht als eigenständiger Zusammenhang anzusehen. Welche Dinge eignen sich nun dazu, eine selbstreflexive Haltung einzunehmen und mit sich selbst zu kommunizieren? 1. Objekte, die einen entspannenden Rückzug und Alleinsein ermöglichen bzw. typischerweise mit ihm verbunden sind, sollten sowohl dem Nachdenken und dem Träumen förderlich sein (eigenes Zimmer, Walkman, Bett - vgl. Kap.4. zu Alleinsein). 2. Objekte, die die Wahrnehmung auf die eigene Person lenken, sollten zu einer an Standards orientierten Kontrolle des Verhaltens und Empfindens fuhren, wie dies Duval und Wicklund belegten (Spiegel, Kamera, Tonbandgerät). Von welchen Objekten aber könnte schließlich das Nachdenken über sich selbst, die Selbstreflexion angeregt werden bzw. welche Objekte könnten es erleichtern? 3. Das prototypische und in diesem Sinne einmalige Objekt ist das Tagebuch, das dazu dient, Nachdenken über persönliche Themen zu externalisieren. Das Individuum spricht nicht mehr primär mit sich selbst, wie es das Vorschulkind tut, sondern denkt schreibend. Schreiben stellt eine entwicklungspsychologisch spätere Form des Externalisierens inneren Sprechens i.S. Vygotskys dar. Doch verhält sich das Individuum gegenüber dem Tagebuch aktiver als gegenüber Spiegel, Kamera und Publikum, die ihm eine selbstgewahre Haltung aufdrängen. Vom Tagebuch geht lediglich eine Aufforderung aus, es zur Reflexion zu nutzen, es kann aber auch liegengelassen werden. Das Tagebuch eignet sich als Objekt also weniger zur experimentellen Induktion eines Zustandes des Selbstgewahrseins, bzw. präziser, eines Prozesses der (Selbst-)Reflexion, als vielmehr als erleichterndes Mittel, das bei entsprechendem Bedürfnis aufgesucht wird. 4. Objekte können noch auf eine andere Weise zur Selbstreflexion anregen, und zwar indem sie auf das Individuum symbolisch, und nicht qua Wahrnehmung, verweisen. Solche dem Individuum die eigene Person bzw. Aspekte seiner selbst repräsentierende Objekte sind zum einen alle mit dem persönlichen Raum und persönlichen Orten assoziierten Identitätssymbole, wenn die Person sich mit ihnen nicht Anderen präsentiert, sondern sie für sich selbst betrachtet, wie wenn sie beispielsweise zuhau-

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V. Symbolische Bedeutungen

se aufräumt oder ein altes Kleidungsstück im Schrank wiederentdeckt. Es können weiterhin alle explizit auf die eigene Person verweisenden Identitätsdokumente und ikonisch die Person darstellenden Dinge sein wie Fotos, Gemälde und Skulpturen von ihr. Sodann sind Objekte zu nennen, die Zeugnis ablegen von Leistungen und Taten der Person, wie Prüfungszeugnisse, Trophäen und Produkte. 5. Aber auch alle Objekte, die mit Erinnerungen verbunden sind und sie deshalb symbolisieren (s.u., 6.), erinnern immer auch an die Person selbst und können dazu anregen, über sich bzw. die involvierten Personen und Orte nachzudenken. Schließlich ist 6. eine Gruppe von Objekten zu nennen, die zum Nachdenken (nicht nur über sich selbst) anregen können, weder indem sie primär die Gelegenheit zum Rückzug bieten (1.) noch als Spiegel aktuellen Verhaltens fungieren, noch 3.) dazu anregen, die Selbstkommunikation zu veräußerlichen und dokumentieren (2 ), noch auf die Person selbst symbolisch verweisen (4., 5 ), sondern indem sie die Perspektive eines generalisierten Anderen symbolisieren. Die unter 1.) genannten Objekte schaffen Voraussetzungen für die Reflexion, die unter 2.) genannten lenken die Aufmerksamkeit auf die eigene Person, und (4., 5.) erinnern an bestimmte Aspekte der eigenen Person, das Tagebuch (3.) fordert zum Verbalisieren der Reflexion auf und dokumentiert sie, während die nun zu besprechenden Dinge (6.) als erfundener Gesprächspartner, als Alter Ego, als Konkretisierungen des Michj fungieren. Sie unterscheiden sich von den physisch ein beobachtendes Publikum präsentierenden Vorrichtungen wie Spiegel und Kamera dadurch, daß sie symbolisch einen individuellen Anderen repräsentieren und somit eine imaginierte symbolische Interaktion möglich wird. Personifizierte Dinge sind zwischen anwesenden (A.a) oder potentiell anwesenden Anderen und der abstrakten Perspektive des Nachdenkens (A.c) anzusiedeln (A b).

5.3 Objekte als symbolische generalisierte Andere - Personifizierung Im Anschluß an Mead hatten wir die Möglichkeit ins Auge gefaßt, Objekte als Interaktionspartner zu konzipieren, und zwar nicht allein als physische Interaktionspartner, sondern als soziale (s. 3.5). Wir werden vorerst allein den Fall behandeln, daß ein Objekt nicht einen bestimmten Anderen symbolisiert (s.u., 6.4), sondern als eigenständiges Gegenüber erscheint oder als Symbol für einen generalisierten Andern fungiert, so wie das Kreuz für Gott. Als Beispiele für Personifizierungen werden wir all jene Objektverwendungen verstehen, bei denen das Ding weder eine allein instrumentelle Bedeutung hat noch physisch oder symbolisch die

5. Selbstkommunikation

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Beziehung zu einem Anderen vermittelt (triadische Beziehung), sondern in denen das Objekt einige Qualitäten eines sozialen Anderen selbst übernimmt (dyadische Beziehung). Wir beginnen mit dem Beispiel einer analogen Phantasie, dem imaginären Gefährten und dem Grenzfall von Tieren als Gegenüber, und werden sodann die möglichen Formen der Interaktion mit personifizierten Objekten und die involvierten Formen der selbstreflexiven Perspektivenübernahme am Beispiel zur Personifizierung sich eignender Objekte klären.

Phantasien erfundener Anderer: Imaginäre Gefährten Als imaginäre Gefährten werden Phantasiegestalten von Kindern bezeichnet, denen, wie Svendsen in der vielleicht immer noch wichtigsten Studie zum Phänomen definiert, "das Kind einen Eigennamen verleiht, auf die es sich im Gespräch bezieht oder mit dem es spielt, und zwar mindestens über mehrere Monate, und die für das Kind eine gewisse Wirklichkeit haben. Diese Definition schließt Phantasiespiele aus, in denen Objekte personifiziert werden oder das Kind selbst eine Rolle spielt" (1934, 988). Zu dem Phänomen ist wenig geschrieben worden, wohl weil es sich methodisch nicht leicht erschließt. Neben retrospektiven Berichten Erwachsener finden sich Fallbeschreibungen von Kindern, einige von Adoleszenten sowie einige systematische Studien an Vorschulkindern. 2 4 Imaginäre Gefährten treten meist zwischen dem dritten und sechsten bis siebten Lebensjahr auf und verschwinden mit dem Schulalter, wenn eine schwierige Zeit vorübergegangen ist, oder auch wenn Erwachsene in den Phantasiecharakter des imaginären Gefährten eingreifen (s. Benson & Pryor, 1973). Doch auch aus der Adoleszenz werden vereinzelt imaginäre Gefährten berichtet (Seiffge-Krenke, 1987). Ihre Prävalenz im

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Die systematischen Studien sind alle älteren Datums: Jersild, Markey & Jersild, 1933; Svendsen, 1934; Griffiths, 1935; Arnes & Learned, 1946. In den etwas neueren Studien von Manosevitz, Prentice & Wilson, 1973, sowie Manosevitz, Fling & Prentice, 1977, wurden lediglich Eltern befragt. Die Fragebogenstudien von Schaefer, 1969, und Seiffge-Krenke, 1987, enthalten nur kurze Fragen zu imaginären Gefährten, letztgenannte Studie betraf aber immerhin aktuelle imaginäre Gefährten Jugendlicher. Allein Taylor, Cartwright & Carlson, 1993, untersuchten imaginäre Gefährten experimentell, indem sie Kinder mit ihnen interagieren ließen. Im Folgenden nenne ich einige ausgewählte Sammlungen von Fallberichten, die oft auch Fälle aus anderen Veröffentlichungen wiedergeben. Fallberichte von Kindern finden sich u.a. bei Stern & Stern, 1931; Friedman, 1932; Bender & Vogel, 1941; Sperling, 1954; Nagera, 1969; Bach, 1971; Benson & Pryor, 1973. Fallberichte über Adoleszenle finden sich u.a. bei Harriman, 1937, und über einen pathologischen Fall bei Benson & Pryor, 1973. Retrospektive Fallberichte finden sich u.a. bei Hurlock & Burnstein, 1932; Nagera, 1969; Myers, 1976.

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V. Symbolische Bedeutungen

Vorschulalter wird sehr vorsichtig auf 10 bis 20% in dieser Altersgruppe geschätzt. Ungefähr 90% der imaginären Gefährten sind Personen, andere Tiere. Sie scheinen häufiger bei Mädchen als bei Jungen aufzutreten, sind fast immer gleichgeschlechtlich und oft gleichaltrig. Sie tragen Phantasienamen, mit denen Kinder im Gespräch auf sie verweisen. Kinder stellen sich vor, sie seien im Raum lokalisierbar, d.h. sie bewegen sich, kommen und gehen und nehmen Raum ein. Sie sind auf zwei Weisen präsent: Entweder a) das Kind verweist im Gespräch auf sie oder bezieht sie in ein Spiel mit anderen ein, so wenn die Eltern beim Abendessen einen Platz am Tisch für ihn decken oder vor die Tür gehen und dem Gefährten etwas mitteilen sollen; oder b) das Kind spielt und spricht allein mit dem imaginären Gefährten. Im Gespräch mit Erwachsenen auf den imaginären Gefährten zu verweisen scheint eher für jüngere, die solitäre Beschäftigung mit ihm, in der das Kind ihn direkt anspricht, eher für ältere Vorschulkinder typisch zu sein (Svendsen, 1934). Die imaginären Gefährten von Schulkindern und Adoleszenten unterscheiden sich von denen jüngerer Kinder dadurch, daß sie strikt verborgen werden und keinen physischen Raum mehr einnehmen. Der einzig konsistent gefundene Unterschied zwischen Vorschulkindern mit und Vorschulkindern ohne imaginären Gefährten ist, daß jene phantasiereicher sind. 25 Ausgehend von den typischen Ausgestaltungen imaginärer Gefährten werden als ihre psychischen Funktionen immer wieder vor allem die ersten drei der folgenden fünf genannt: a) Gesellschaft zu leisten, so daß es sich nicht allein fühlt; darauf weist auch hin, daß ein imaginärer Gefährte überhäufig bei Einzelkindern bzw. Kindern auftaucht, denen gerade ein Geschwister geboren wird. b) Als Sündenbock zu dienen (untugendhafter Gefährte). Das Kind verweist im Gespräch darauf, daß nicht es selbst, sondern der imaginäre Gefährte etwas getan hat, oder darauf, welch bösen Dinge er im Unterschied zum Kind tut, um sich selbst in ein besseres Licht zu rücken. Das Kind verlegt hier seine ihm inakzeptablen Handlungstendenzen oder Handlungen auf den imaginären Gefährten (Nagera, 1969). c) Dem Kind als idealisierte Figur zu dienen, d.h. als omnipotenter Beschützer, tugendhaftes Vorbild und allwissender Ratgeber. Der Gefährte erfüllt hier die Funktion, mangelndes Selbstwertgefühl und Ohnmacht des Kindes zu kompensieren und ihm das Gefühl der Macht

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Widersprüchliche Befunde finden sich hinsichtlich Intelligenzunterschieden (Svendsen, 1934; Seiffge-Krenke, 1987; Manovitz et al., 1977), keine Unterschiede hinsichtlich der Leistungen auf einem Kreativitätstest und der Fähigkeit, zu warten (Manovitz et al., 1977) sowie der Fähigkeit, zwischen Phantasie und Realität zu unterscheiden (Taylor et al., 1993); in Lehrerbeurteilungen fanden sich keine Unterschiede hinsichtlich des Ausmaßes der Soziabilität (Galloni, 1993).

5. Selbstkommunikation

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und Größe zu verleihen (s. besonders Stern & Stern, 1931; Friedman, 1932; Benson & Pryor, 1973); so berichten Singer und Singer (1990, 98), daß blinde Kinder fast immer imaginäre Gefährten erfinden, die sehen können. d) Dem Kind ein Gefühl des Könnens und der Kompetenz zu vermitteln, indem es sich gegenüber dem imaginären Gefährten als hilfreich erweist, sich um ihn kümmert und ihn pflegt wie eine Mutter ihr Kind (Vostrovsky, 1895; Nagera, 1969) - hier sind gegenüber c) die Rollen verkehrt, die Funktion ist aber eine analoge. Jungen neigen eher dazu, einen idealisierten, Mädchen dazu, einen hilfsbedürftigen Gefährten zu entwerfen (Harter & Chao, 1992). e) Dem Kind als moralischer Wegweiser zu dienen, der ihm sagt, was richtig und falsch ist und es auffordert, sich an die elterlichen Regeln zu halten. Das kann auch die Form annehmen, daß das Kind den imaginären Gefährten dazu benutzt, die Eltern dazu aufzufordern, sich ihrerseits an Regeln zu halten (Sperling, 1954). Alle fünf Funktionen ermöglichen dem Kind eine gewisse Selbständigkeit gegenüber den Eltern: a) Es vertreibt sich auch ohne sie die Zeit, besonders wenn die Eltern anderweitig beschäftigt sind, z.B. mit einem neugeborenen Geschwister, oder wenn sie um den Verlust einer nahestehenden Personen trauern; oder das Kind ersetzt nicht vorhandene Spielkameraden durch den Gefährten; b) es entzieht sich der unmittelbaren Verantwortung für verpönte Regungen und Handlungen und sichert so das Wohlwollen der Eltern; c+e) es ersetzt partiell die Eltern in ihrer Funktion als Beschützer, Vorbilder, Allwissende sowie als moralische Instanz durch das eigene Produkt, das ihm auch gegenüber den Eltern beisteht, oder d) es übernimmt selbst die fürsorgliche Funktion der Eltern gegenüber der Phantasiegestalt. Es ist argumentiert worden, daß die Altersspezifität des Phänomens und seine Funktionen, vor allem als bewunderter Stärkerer bzw. als hilfloser Kleiner sowie als moralische Instanz dafür sprechen, daß es sich um ein Übergangsphänomen und Zeichen dafür handelt, daß eine selbstreflexive Urteilsfunktion auf dem Weg dazu ist, verinnerlicht zu werden, als Modus des moralischen Urteilens und der Selbstwertregulierung, in psychoanalytischen Begriffen als Über-Ich und Ich-Ideal (Nagera, 1969; Benson & Pryor, 1973), analog, wie wir ergänzen können, zu dem privaten Sprechen in Vygotskys Konzeption. Inwieweit unterscheiden sich nun imaginäre Gefährten von verwandten Phänomenen, dem Rollenspiel des Vorschulkindes und dem Spiel mit Puppen und Stofftieren? Das Rollenspiel ähnelt der Interaktion mit imaginären Gefährten, da Anwesende aufgefordert werden, sich auf die gespielte Situation einzulassen und mitzuspielen. Das Rollenspiel, auch das solitäre, ist jedoch gewöhnlich auf die Spielsituation beschränkt.

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V. Symbolische Bedeutungen

Puppen und Stofftiere ähneln den imaginären Gefährten am meisten, da sie nicht nur als Personen phantasiert werden, sondern weil das Kind sie auch mit einer spezifischen und überdauernden individuellen Identität ausstattet. Sie unterscheiden sich allein durch die materielle Präsenz eines Objektes, das ein Tier bzw. einen Menschen ikonisch darstellt. Dies begrenzt einerseits ihre Verwendungsmöglichkeiten und die Plastizität ihrer Bedeutung, andererseits verleiht es ihnen eine größere Konstanz. Darüber hinaus bieten sie materielle Eigenschaften wie Widerstandskraft gegenüber Aggressionen, materielle Formbarkeit durch das Kind, taktile und olfaktorische Stimulation sowie eine leichtere Verwendbarkeit flir gemeinsames Spielen.

Haustiere Ähnlichkeiten bestehen auch zur Interaktion mit und Beziehung zu Haustieren wie Hunden und Katzen. Sie verfugen über den Vorzug, nicht imaginär, sondern lebendig präsent zu sein und sich dennoch akzeptierend dem Kind zuzuwenden. Mit ihnen kann das Kind ungehemmter und jederzeit schmusen, herumtollen und spielen. Haustiere werden vor allem in der späten Kindheit und Präadoleszenz sowie später wieder im höheren Alter wichtig (Levinson, 1972; 1978). In der späten Kindheit wird ein Haustier nicht selten zum guten Freund des Kindes, mit dem es nicht nur spielt, sondern dem es auch ebenso häufig von seinen traurigen, ängstlichen, ärgerlichen oder glücklichen Gefühlen erzählt und Geheimnisse anvertraut wie seinen Geschwistern (Bryant, 1982). In freien Selbstbeschreibungen von Kindern und Jugendlichen tauchen neben Eltern und Freunden auch Haustiere auf: mit 7 Jahren machen sie 9%, mit 9 Jahren 19%, mit 13 Jahren wieder 10%, und mit 17 Jahren nur mehr 3% aller in Selbstbeschreibungen genannter signifikanter Anderer aus (McGuire & McGuire, 1982). In Untersuchungen mit normalen Kindern trösten sich die sensibleren und anderen zugewandteren Kinder häufiger mit einem Tier (Wolfe, 1977) und vertrauen sich die empathischeren Kinder ihrem Haustier häufiger an als andere Kinder (Bryant, 1982). Rochberg-Halton (1985) unterstreicht in seinen Fallberichten vom Umgang psychisch gestörter Jugendlicher mit Tieren, daß sich in der Qualität der Beziehung zum Tier die Beziehungsfahigkeit des Jugendlichen erweise. 26 Eine wichtige Funktion von Haustieren besteht darin, Gesellschaft zu leisten, weshalb Ein-

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Andererseits fand sich, daß straffällig gewordene Jugendliche sehr viel häufiger als eine Kontrollgruppe berichteten, ihr Tier für emotionale Unterstützung und Trost zu brauchen (Robin et al., 1983), doch sagt dies noch nichts über die Qualität der Beziehung zum Tier aus.

5. Selbstkommunikation

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zelkinder, und unter Erwachsenen Unverheiratete und kinderlose Paare mehr an ihren Haustieren hängen und weshalb im Alter Haustiere wieder wichtiger werden. Haustiere erfüllen für das Kind, ähnlich imaginären Gefährten, die beiden Funktionen, ihnen Gesellschaft zu leisten (a) und ihnen ein Gefühl der Kompetenz zu vermitteln, da sie sich um das Tier kümmern und für es Verantwortung übernehmen (d), wobei das ältere Schulkind sich eben nicht mehr mit Phantasien zufriedengibt, sondern das anfaßbare und wirklich zu meisternde und versorgende Tier bevorzugt. Hinzu treten Funktionen des Vertrauten und eines Gegenübers, mit dem spielerisch sinnliche, aggressive wie zärtlich-sexuelle Strebungen ausprobiert werden. Tiere verlieren ab der Früh- bis mittleren Adoleszenz an Bedeutung, je mehr Beziehungen zur Gleichaltrigengruppe und sexuelle Beziehungen an Bedeutung gewinnen (Davis & Juhasz, 1985).

Formen der Personifizierung und ihr dienliche

Objekteigenschaften

Die Form der Perspektivenübernahme gegenüber imaginären Gefährten ist die gleiche wie beim Rollenspiel und Spiel mit Puppen und Stofftieren. Je wird eine dyadische Interaktion durchgespielt. Dabei a) versteht das Kind den Spielcharakter der Situation und b) die sprachlichen Äußerungen des Gegenüber; c) übernimmt das Kind im wörtlichen Sinne auch die Rolle des Anderen, da es seine Antworten selbst produziert. Das Spielen mit phantasierten Charakteren wird zwar nicht in der urteilenden Haltung durchgeführt, sondern in einer natürlichen, in der die Aufmerksamkeit auf den Anderen gerichtet ist (D a). Aber da die Reaktionen des Anderen die des Kindes sind, auf die es wiederum in erster Person reagiert, kann die Interaktion mit einem imaginären Gefährten als eine in gewisser Weise, nämlich objektiv reflexive Form der Perspektivenübernahme begriffen werden. Das Gegenüber ist auch nicht die Phantasie eines realen Anderen, sondern eine Kreation der Person mit eigener Identität. Die Interaktion mit Phantasiecharakteren kann als konkretisierte Form des privaten Sprechens und damit ebenfalls als ontogenetischer Vorläufer einer internalisierten dyadischen Perspektivenübernahme, des inneren Dialogs oder Nachdenkens, der Selbstkritik und der Selbstkontrolle im Sinne Vygotskys gelten. Für diese entwicklungspsychologische Deutung spricht nicht zuletzt die Altersspezifität von Puppenspiel und imaginären Gefährten. Überlegen wir nun systematisch, welche Aspekte von Personen auf Gegenstände übertragen werden können, die es rechtfertigen, von Personifizierung zu sprechen, und auf welche Dinge dies auch noch nach dem Vorschulalter zutrifft. Als umfassendstes Beispiel kann das Spiel mit Puppen und Stofftieren gelten, da hier alle Eigenschaften einer Person spielerisch auf einen Gegenstand übertragen werden, der sich hierzu

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V. Symbolische Bedeutungen

besonders eignet, weil er eine Person (oder ein Tier) repräsentiert. Doch das ausgiebige Spielen mit Puppen und Stofftieren ist im Erwachsenenalter eher die Ausnahme. Welche Formen der Personifizierung lassen sich also für das Jugend- und Erwachsenenalter denken? Wenn Puppen oder Stofftiere in späterem Alter verwendet werden, dann vielleicht dazu, nicht mehr Szenen mit ihnen durchzuspielen, sondern mit ihnen zu sprechen. Dies geschieht wohl meist in dem Sinne, daß sich die Person ihm anvertraut und sich von ihm ggf. trösten läßt, und dabei dem Objekt unterstellt, sie schweigend zu verstehen, da es ja genausoviel weiß wie sie selbst - es handelt sich mit anderen Worten um eine intime Interaktion. Sich-Anvertrauen bedeutet hier mehr als nur aussprechen, nämlich auch, die eigenen Empfindungen zu durchdenken. Grundsätzlich verfugen Dinge über den Vorteil, daß von ihnen ein maximales Verständnis zu erwarten ist. 27 Folgende Eigenschaften sind dieser Form der Personifizierung dienlich: Dinge, die a) Menschen darstellen wie Puppen oder Bilder von Personen wie die Poster Jugendlicher von ihren Idolen, die zwar keine erfundenen Personen sind, aber doch nicht als konkrete Interaktionspartner der Jugendlichen gelten können, sondern von der Kultur angebotene Klischees sind, auf denen sich die Phantasie der Jugendlichen entfalten kann; b) die die Selbstreflexion erleichtern und darüber hinaus personifiziert werden können, wie Tagebücher - in einer Untersuchung von SeiffgeKrenke (1987) gaben 33% der männlichen und 60% der weiblichen befragten tagebuchschreibenden Jugendlichen an, sich ihr Tagebuch als Person mit bestimmten Eigenschaften auszumalen, und zwar meist als Idealfiguren; c) die tröstende sinnliche Eigenschaften haben, wie daß man sich in sie hineinkuscheln, sie beruhigend anfassen (Stofftiere, Tiere) und sich hemmungslos bei ihnen ausweinen kann (auch Kissen, Bett). Als weiteres Anzeichen für die Personifizierung eines Gegenstandes kann gelten, daß ihm ein Eigenname verliehen wird (s.o., 1.4). d) Objekte, die häufig Eigennamen erhalten, sind, wie wir oben sahen, Instrumente, die für die Person von zentraler Bedeutung, ja überlebensnotwendig sind, ebenso wie Vehikel, also Objekte, die als Verlängerung des Körpers füngieren, seine Fähigkeiten potenzieren und die

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Sie erfüllen optimale aktualgenetische Bedingungen für Perspektivenübernahme, da sie dem Individuum nah, d.h. interessiert und optimal informiert sind und sich in keinem Konflikt mit ihm befinden, da sie Ober keine Autonomie verfügen und keinen festen inhaltlichen Standpunkt vertreten - s. zu diesen die Perspektivenübernahme erleichternden Bedingungen Steins und Wicklund (1993).

5. Selbstkommunikation

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Person häufig begleiten. Die Tendenz zur Personifizierung scheint hier daher zu resultieren, daß die Beziehung zum Objekt eine intime, und die Person von dem Objekt abhängig ist. Das Objekt scheint über eine eigene Kraft zu verfugen, die sie der Person leiht. Ein Füllfederhalter beispielsweise fungiert zwar als Verlängerung des Körpers, wird oft am Körper getragen, von seinem Funktionieren ist die Person aber nicht abhängig - ihm wird wahrscheinlich kein Name verliehen; e) eine weitere Gruppe von Dingen erhält magische Kräfte zugesprochen, die sonst höchstens von anderen Menschen erwartet werden, und zwar solche, die mit unsichtbaren göttlichen, teuflischen und ähnlichen Kräften in Verbindung stehen, nämlich religiöse und magische Objekte wie Kruzifixe, Rosenkränze, Marienbilder und Talismane. Es können auch Objekte sein, die mit bestimmten Anderen in Beziehung stehen, vor allem mit Verstorbenen. Diese Objekte haben als Gruppe kaum spezifische inhärente Qualitäten, außer daß sie klein genug sind, unauffällig getragen zu werden; f) Objekte, denen ein gewisses Eigenleben und Unvorhersagbarkeit ihres Verhaltens zueigen ist. Das trifft auf zwei Gruppen von nicht-menschlichen Körpern zu. Tatsächlich ein Eigenleben weisen Organismen, Tiere und Pflanzen auf. Obwohl sie keine Dinge sind, werden sie hier als Grenzfall mitbehandelt, da mit ihnen kaum symbolische Interaktion möglich ist. Spricht man mit einer Pflanze oder einem Tier, dann reagiert zumindest das Tier zwar, aber nicht, weil es die Worte verstanden hat; dies eröffnet die Möglichkeit, die Reaktion des Tieres weitgehend zu interpretieren, als Zustimmung, Verständnis, etc. Zudem trifft auf viele Tiere zusätzlich Kriterium c) zu, daß sie taktile Kontakte ohne die sexuellen Implikationen bieten, die Körperkontakte zwischen Menschen, vor allem ab der Pubertät, erschweren. Die zweite Gruppe von Objekten, denen ein Eigenleben zukommt, sind Maschinen, die genügend komplex sind, um ihre Reaktionen nicht evident erscheinen zu lassen. Dazu gehören heutzutage besonders motorisierte Vehikel und Computer bzw. Computerprogramme,28 Wir haben fünf Eigenschaften genannt, die Dinge dazu prädestinieren, vor anderen personifiziert zu werden, sowie typische Beispiele für diese Eigenschaften. Als Anzeichen dafür, daß Objekte personifiziert werden, können gelten, daß sie: - als Dialogpartner dienen - und einen Eigennamen erhalten;

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Zu der Psychologie von Heimcomputern s. beispielhaft Turkle, 1980; 1982; 1984; Krafft & Ortmann, 1989; zum Überblick Huebner, 1989.

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V. Symbolische Bedeutungen

- ihnen individuelle soziale Haltungen und Dispositionen zugesprochen werden, - sowie daß ihnen Intentionen zugeschrieben werden (vgl. d, e, f). Die personähnlichen Fähigkeiten, die Objekten dabei zugesprochen werden, sind vor allem die des Empfindens, des Verstehens sprachlicher Mitteilungen sowie des intentionalen Handelns. Nach den bisher genannten Beispielen zu urteilen kann vermutet werden, daß personifizierte Objekte primär vier Funktionen erfüllen: - die des Vertrauten, dem man sich anvertrauen kann und der einen intim und seit langem kennt und deshalb versteht; - die des hilfreichen Gefährten, der einem mittels magischer oder mechanischer Kräfte hilft; - die des Vorbildes (speziell für Jugendliche); - die des treuen Begleiters, der einem Gesellschaft leistet und einen nicht allein läßt. Die letzgenannte Funktion tritt meist zusammen mit einer der ersten drei auf. Vergleichen wir diese Funktionen mit denen imaginärer Gefährten, dann treten überwiegend funktionale Kontinuitäten zutage. Die Funktionen des Gesellschafters, des hilfreichen Stärkeren und des Vorbildes finden sich beide Male, und die Funktion, einen Schwächeren zu pflegen, könnte zumindest für Tiere hier ergänzt werden. In der Rolle des Sündenbocks treten personifizierte Objekte bei Erwachsenen wohl seltener auf, höchstens vielleicht mal Maschinen, denen die Schuld zugeschoben wird, so wenn bei der Arbeit am Computer eigene Fehler nicht entdeckt und auf diesen wütend wird. Zweitens fehlt auch die Funktion der moralischen Instanz, doch Spuren von ihr finden sich in der Funktion des Vertrauten (die wir für imaginäre Gefährten nicht genannt hatten), da das Objekt als Vertrauter zwar nicht eindeutige moralische Befehle erteilt, aber doch auch dazu dient, sich Klarheit über die richtige Beurteilung von Situationen, Gefühlen und Handlungsoptionen zu verschaffen - auch dabei geht es um richtig und falsch -, sowie die Validität von Handlungen und Gedanken zu bestätigen und damit wiederum das Selbstwertgefuhl zu stabilisieren. Die Interaktion mit einem vertrauten Objekt kann, wie jegliches Phantasieren, sowohl der realitätsorientierten Verarbeitung von Erlebnissen und Empfindungen dienen wie auch der phantastischen Kompensation, indem die Person sich als jemand Anderes, Größeres, Tolleres vorstellt und vom Objekt-Gegenüber bestätigen läßt. Die Unterschiede zwischen der moralischen Funktion imaginärer Gefährten und der Vertrautenfunktion von personifizierten Objekten weisen auf kognitive Entwicklungen hin, die sich zwischen dem Vorschul- und dem Erwachsenenalter vollziehen. Ein weiterer Unterschied zwischen dem imaginären Gefährten bzw. der Puppe des Vorschulkindes und dem

5. Selbstkommunikation

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personifizierten Objekt des Jugendlichen und Erwachsenen besteht in der weitgehenden Reduzierung der physischen Inszenierung einer Interaktion auf die gesprochene bzw. gedachte sprachliche Interaktion. Das stille oder laute Sprechen mit einem Objekt ist eine Form des privaten Sprechens. 29 Anknüpfend an Vygotsky ist zu vermuten, daß die Reexternalisierung kognitiver Prozesse nach dem Vorschulalter besonders in solchen Situationen und Lebensphasen auftreten, in denen habitualisierte Handlungsroutinen auf Probleme stossen, die neuer, kreativer Lösungen bedürfen. Zu der Bildung stabiler imaginärer Gefährten und Personifizierungen gehört dann eine umfassendere Krise, ob sie nun idiosynkratischer Natur oder eine normative Entwicklungskrise ist, die das gesamte Selbst als generalisierter Handlungsvoraussetzung betrifft. In Ermangelung empirischer Beobachtungen läßt sich, ausgehend von den genannten Funktionen, nur vermuten, welche Personen dazu tendieren, Objekte zu personifizieren. Personen, die überdauernd oder situationsbedingt dazu tendieren, ausgewählte Objekte zu personifizieren, könnten sich folgendermaßen auszeichnen: -

sie verfugen über eine ausgeprägte Vorstellungskraft; sie sind häufig allein und wünschen sich Gesellschaft; sie haben niemanden, dem sie sich anvertrauen können; sie sind in hohem Ausmaß von einem bestimmten Objekt oder Tier abhängig; - sie müssen ein geringes Selbstwertgefiihl kompensieren; - sie haben ein geringes Vertrauen in ihre Fähigkeit, den Lauf der Dinge in ihrem Sinne beeinflussen zu können.

5.4 Entwicklungspsychlogische Bedingungen öffentlicher und privater selbstreflexiver Perspektivenübernahme In diesem und dem vorigen Abschnitt haben wir die Identitätsfunktionen persönlicher Objekte anhand des Mechanismus der Perspektivenübernahme erläutert. Nun möchte ich für öffentliche wie private selbstreflexive Perspektivenübernahme gemeinsam die entwicklungspsychologische These begründen, daß Dinge, die als Identitätsobjekte oder der stillen

In einer Untersuchung sprachlicher Äußerungen gegenüber Hunden zeichneten sich diese dadurch aus, daß sie kurz waren, mehr Imperative und Fragen und weniger Aussagen enthielten, im Präsens formuliert waren, jedoch nicht mehr deiktische Ausdrücke verwendeten (Hirsh-Pasek & Treimann, 1982). Dies kann nur als sehr indirekter Hinweis auf den privatsprachlichen Charakter der Kommunikation mit Dingen aufgefaßt werden, ist das Ziel bei der Kommunikation mit einem Hund zum Teil doch wirklich, sich ihm verständlich zu machen.

262

V. Symbolische Bedeutungen

Selbstkommunikation dienen, gerade in der Adoleszenz eine besondere Bedeutung erringen. Dafür werden erst die Evidenzen bezüglich der Häufigkeit selbstreflexiver Gedanken in der Adoleszenz präsentiert, um diese dann auf die strukturelle sozialkognitive Entwicklung der Perspektivenübernahmefahigkeit und des Personenverständnisses rückzubeziehen.

Häufigkeit reflexiver Perspektivenübernahme

in der Adoleszenz

In der klassischen Entwicklungspsychologie wird das Jugendalter als die Lebensphase angesehen, in der das reflexive Selbstbewußtsein erwacht. Stern (1922) sprach von einer neuen Form des Ichbewußtseins, Spranger (1924) vom Erwachen des Selbst und der Wendung des Blicks nach innen. Mit der introspektiven Wendung werden Stimmungen und Gefühle nicht mehr in Handlungen umgesetzt, sondern genossen. Die Jugendliche überläßt sich dem Gefühl und genießt es als Erlebnis (Bühler, 1923, 87ff). Bezüglich der altersabhängigen Entwicklung der mit Fragebögen erhobenen Disposition, über sich nachzudenken, findet sich in den meisten Untersuchungen eine Zunahme im Laufe der frühen bis mittleren Adoleszenz und eine erneute Abnahme zum Erwachsenenalter hin. Zwar fanden Enright und Kollegen (1980) mit der amerikanischen Skala für privates Selbstgewahrsein fast keine Alterstrends für die Adoleszenz, und mit der deutschen Skala findet sich im Vergleich von vier Altersgruppen (11-12 Jahre; 15-19 Jahre; 19-39 Jahre (Studenten); 35-75 Jahre) ein nichtlinearer Zusammenhang mit dem Alter. Mit anderen Instrumenten jedoch stellen Adoleszenzforscher eine deutliche Zunahme der Häufigkeit der Selbstreflexion im Laufe der Adoleszenz fest. Fend fand mit einem einzelnen Item, das er mehr als eintausend Jugendlichen wiederholt zwischen ihrem 12. und 16. Lebensjahr vorlegte, im 12. Lebensjahr noch keine Geschlechtsunterschiede; in den folgenden Jahren nimmt die Selbstreflexivität bei den Mädchen jedoch ständig zu, bei den Jungen erst ab dem 16. Lebensjahr (Fend, 1990, 90; 1994, 106). Hansell und Kollegen (1986) fanden in einer großen Studie mit Mechanics Introspektionsskala eine beständige Zunahme der Selbstreflexion zwischen dem Alter von 11 und 18 Jahren, mit jeweils höheren Werten für die weiblichen Jugendlichen. Seiffge-Krenke (1989) fand mit einem Einzelitem für Reflexivität bei 15- bis 19-Jährigen ebenfalls noch eine Zunahme mit dem Alter, jedoch keine Geschlechtsunterschiede. Bei der Inhaltsanalyse freier Selbstbeschreibungen von achtzig 6-, 9-, 13-, 17- und 21-Jährigen fand Peevers (1987) erst ab dem 17. Lebensjahr eine nennenswerte Häufung der Zuschreibung selbstreflexiver Haltungen und Handlungen, die bis zum 21. Lebensjahr noch zunahm.

5. Selbstkommunikation

263

Auch das öffentliche Selbstgewahrsein scheint in der Adoleszenz zuzunehmen. Elkind hatte 1967 im Anschluß an klassische Adoleszenzauffassungen zwei für die Adoleszenz typische Phänomene des Selbstgewahrseins vorgeschlagen. Als imaginäres Publikum bezeichnet er die Tendenz, sich die Wirkung der eigenen Person auf ein vorgestelltes Publikum, als persönliche Legende die Tendenz, sich für einmalig und unverwundbar zu halten. Mit der amerikanischen Skala für öffentliches Selbstgewahrsein wurden zwar keine bedeutsamen Altersunterschiede gefunden (Enright et al., 1980), mit der deutschen Skala jedoch eine erhebliche Zunahme bei Jugendlichen gegenüber Präadoleszenten; bei Studenten nehmen die Werte wieder etwas ab, um sich bei den Erwachsenen ab dem 35. Lebensjahr auf einem noch etwas niedrigeren Niveau zu stabilisieren. Bei allen Gruppen außer den Studenten erzielten Frauen höhere Werte, wobei die Geschlechtsunterschiede auf der Skala zu öffentlichem Selbstgewahrsein größer sind als auf der zu privatem Selbstgewahrsein (Filipp & Freudenberg, 1989). Mit Skalen zum Phänomen des imaginären Publikums fanden sich durchaus Alterstrends, die öfters auf einen Höhepunkt in der Frühadoleszenz verweisen; doch die Inkonsistenz der mit verschiedenen Skalen erzielten Ergebnisse (Elkind & Bowen, 1978; Riley et al., 1984; Buis & Thompson, 1989) hat zu begründetem Zweifel an der Validität der verwendeten Skalen geführt (Gray & Hudson, 1984). Trotz der Evidenz, die die Behauptung für sich hat, in der Frühadoleszenz komme es zu einem ersten Schub auch des öffentlichen Selbstgewahrseins, kann sie mit den vorliegenden Fragebogenstudien nicht eindeutig gestützt werden.

Strukturelle Aspekte reflexiver

Perspektivenübernahme

Die Zunahme der Selbstreflexivität und vermutlich auch des Gewahrseins des eigenen Auftretens in der Adoleszenz hängt mit motivationalen wie kognitiven Entwicklungen zusammen, ihre Abnahme vor allem mit motivationalen. Hier möchte ich vorerst allein den Einfluß der kognitiven Entwicklung der Perspektivenübernahmefahigkeit auf die Zunahme dieser beiden Arten selbstreflexiver mentaler Aktivität und auf weitere Themen dieses Kapitels erörtern. Robert Selman (1980) hat das entwicklungspsychologisch umfassendste und überzeugendste Konzept einer strukturellen Entwicklung der Perspektiventibernahmefähigkeit vorgelegt. Er bezieht sich dabei nicht auf visuelle, sondern explizierbare Verständnisperspektiven. Auf Niveau 0 realisiert das Vorschulkind überhaupt nicht, daß es unterschiedliche Perspektiven gibt. Auf Niveau 1 (ca. 5 bis 9 Jahre) vermag das Kind zu verstehen, daß Personen unterschiedliche Perspektiven, also Verständnis und Bewertung von Situationen haben. Auf Niveau 2 (ca. 7 bis 12 Jahre) kann das Kind dann die zuvor nur voneinander differenzier-

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V. Symbolische Bedeutungen

ten Perspektiven wechselseitig aufeinander beziehen (2. Person-Perspektive; nach dem Muster "Du denkst, daß ich denke, daß du denkst, daß ich denke..."); damit versteht es beispielsweise erstmals die Möglichkeit, die eigenen Intentionen oder Gefühle vor anderen zu verbergen. Auf Niveau 3 (ca. 10 bis 15 Jahren) kann die Jugendliche eine 3. PersonPerspektive konstruieren und damit eine einer dyadischen Beziehung externe Beobachterperspektive auf diese selbst einnehmen. Damit rückt neben den beiden individuellen Perspektiven die Beziehung selbst als Drittes ins metaphorische Blickfeld. Von dieser Perspektive kann der Jugendliche sich erstmals selbst beobachten während er handelt. Auf Niveau 4 (frühestens ab 12 Jahre) schließlich werden persönliche dyadische Beziehungen in ein Netz abstrakter und anonymer Beziehungssysteme integriert. Diese Grundlogik der Entwicklung der Perspektivenübernahmefahigkeit strukturiert die Entwicklung sozialen Verstehens, also unter anderem das Personenverständnis, da die sich entwickelnden eigenen Fähigkeiten zugleich allen Personen genügender Reife zugeschrieben werden müssen. Auf Niveau 0 werden Personen über ihr Aussehen, über die moralische Qualität ihrer Handlungen (brav) und ihren Besitz charakterisiert, auf Niveau 1 über ihre Vorlieben und Fertigkeiten und auf Niveau 2 als Summe voneinander unabhängiger interpersoneller Haltungen, Stimmungen und Gewohnheiten; auf Niveau 3 wird ein Begriff der einheitlichen Persönlichkeit konstruiert, so daß alle Aspekte einer Person einem Stereotyp subsumiert werden, und auf Niveau 4 wird anerkannt, daß Persönlichkeit sich nicht allein einem Stereotyp unterordnen läßt, sondern aus mehreren solcher organisierter Eigenschaftscluster besteht, die miteinander integriert sind und von denen einige weniger dem Bewußtsein zugänglich sind als andere. Dämon und Hart (1988; Hart, Maloney & Dämon, 1987) kommen in ihrem Modell der Entwicklung des Selbstverständnisses zu vier Entwicklungsphasen, die mit denen Selmans praktisch übereinstimmen. Auf diese strukturelle und inhaltliche Entwicklung läßt sich die Entwicklung des öffentlichen wie privaten Selbstgewahrseins beziehen. Sie durchlaufen dieselbe strukturelle Entwicklung. Sie unterscheiden sich hinsichtlich der selbstreflexiv eingenommenen Perspektive, die einmal die anwesender oder imaginierter Anderer ist, das andere Mal eine abstrakte eigene Perspektive (A.a/b vs. A.c). Erst Niveau 3 ermöglicht es, sich selbst und ein Gegenüber oder Publikum simultan zu beobachten, also ein imaginäres Publikum zu konstruieren. Ebenso argumentieren auch Lapsley und Murphy (1985), die Elkinds Egozentrismus-Argumentation konterkarieren, indem sie zeigen, daß das Phänomen des imaginären Publikums eine Fähigkeit zur Perspektivenübernahme des Niveaus 3 sensu Selman voraussetzt (s.a. Lapsley & Rice, 1988). In der Kindheit gibt es durchaus Formen des

5. Selbstkommunikation

265

öffentlichen Selbstgewahrseins, die beispielsweise mit der Sozialtechnik des Beschämens bereits bei Kleinkindern angesprochen werden. Doch hier ist sich das Kind der tatsächlichen Reaktionen des Publikums gewahr, macht sich aber keine Gedanken über dessen verborgene Reaktionen. Die Skala zur Disposition zum öffentlichen Selbstgewahrsein differenziert hier zu wenig, als daß strukturelle Entwicklungen erfaßt werden könnten. Aber zum einen sind Fragebögen ohnehin erst ab der Präadoleszenz sinnvoll einsetzbar, zum anderen mißt der Fragebogen Häufigkeiten und nicht Qualitäten. Doch ist anzunehmen, daß neue kognitive Fähigkeiten anfangs besonders geübt werden und bereits deshalb häufiger zur Anwendung kommen als später. Dies würde ausreichend die relative Stärke der Disposition zum öffentlichen Selbstgewahrsein in der mittleren Adoleszenz gegenüber der Präadoleszenz (s.o.) erklären. Auch die Fähigkeit zur Selbstreflexion wird durch die Perspektivenübernahmefahigkeit strukturiert. Erst ab Niveau 2 wird die Perspektive des Anderen reflexiv auf die eigene Person und Perspektive gewendet. Nur so können Kinder verstehen, daß sie selbst einen privilegierten Zugang zu ihren Gedanken und Gefühlen haben, die sich vor anderen verbergen lassen. Doch bleibt die Selbstreflexion auf einzelne Handlungen, Gedanken und Gewohnheiten beschränkt, und erst Niveau 3 ermöglicht es, über einen integrierten Begriff der eigenen Persönlichkeit nachzudenken. Doch die oben genannten Untersuchungen legen nahe, daß die intensivste Phase der Selbstreflexion in der Adoleszenz etwas später liegt als die intensivste Phase des imaginären Publikums und des öffentlichen Selbstgewahrseins. Das deutet darauf hin, daß eine weitere, spätere sozialkognitive Entwicklung der Selbstreflexion erst so recht auf die Sprünge hilft. Als eine solche bietet sich die Entwicklung des Verständnisses der Lebensgeschichte als umfassender zeitlicher Organisation der Identität an, auf die wir weiter unten im Zusammenhang mit autobiographischen Objekten zu sprechen kommen werden (6.5). Insgesamt weist die geschilderte kognitive Entwicklung darauf hin, daß erst im Jugendalter die reiferen selbstreflexiven Fähigkeiten erworben werden, die die reflexive und gezielt symbolische Verwendung von persönlichen Objekten ermöglicht. Mithin dürften explizit symbolisch verwendete Objekte erst mit Beginn der Adoleszenz auftauchen.

Weitere Gründe für die Bedeutung selbstreflexiv verwendeter persönlicher Objekte in der Adoleszenz Erikson (1956) beschrieb die Adoleszenz als diejenige Lebensphase, die durch die Entwicklungsaufgabe bestimmt ist, zu einer eigenen, nicht mehr notwendig durch die Eltern vorgegebenen Identität zu finden. Der soziale und körperliche Übergang zum Erwachsenen bringt drastische

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V. Symbolische Bedeutungen

Veränderungen mit sich, die Jugendliche aktiv bewältigen und sich zueigen machen müssen. Für die aktive Bewältigung dieser umfassenden Reorganisation der Person und Persönlichkeit bedarf der Jugendliche selbstreflexiver Fähigkeiten, die ihm, wie wir gesehen haben, gerade in der Adoleszenz erwachsen. Nach Mead fuhren umfassende Veränderungen zum einen zu einer Suspendierung des gewohnten Handelns und der Einnahme einer selbstbeurteilenden Haltung im Nachdenken und in der Selbstkommunikation, um so die Persönlichkeit erneut zu integrieren. Zum anderen definiert sich die Identität nicht solipsistisch allein aus der abstrakten Selbstreflexion, sondern bedarf der aktuellen sozialen Validierung. Für beide Wege der Identitätsfindung und -reorganisation können Dinge hilfreich sein. Zum einen erleichtern sie nach Vygotsky die Selbstkommunikation, zum anderen erleichtern sie in der Kommunikation das Beanspruchen von Identitäten, zumal wenn man über andere kommunikative Mittel, eine Identität zu beanspruchen, noch nicht sicher verfügt, wie die Theorie der symbolischen Selbstergänzung zeigt. Die Identitätsfindung der Adoleszenz betrifft nicht allein Berufsrollen bzw. transitorische, generationsspezifische subkulturelle Rollen, sondern auch die körpernahe Geschlechtsrolle. Die körperliche Reifung bietet einen evidenten Grund für die eminente Bedeutung des Aussehens, und damit zugleich öffentlicher Identitätssymbole. Frühadoleszente beschäftigen sich immer mehr mit ihrem Aussehen (Simmons, Rosenberg & Rosenberg, 1973), und für die meisten Mädchen wird es eine zeitlang zum entscheidenden Kriterium ihrer Selbstbeurteilung (Lerner & Karabenick, 1974). Doch wie kann es sein, daß Jugendliche ihre Identität auf so konkrete Weise definieren? Denn es sind vor allem Vorschulkinder, die Personen über ihr Aussehen und ihren Besitz definieren (Selman, 1980). Und ist es nicht so, daß im Verlaufe der Kindheit und der Adoleszenz Personen zusehends weniger über Besitz und Aussehen (Secord & Peevers, 1974; Montemayor & Eisen, 1977; Ries, Schlossarczyk & Fischer, 1988) und immer mehr über psychologische Eigenheiten (Livesley & Bromley, 1973) definiert werden? Aber auch die sozialkognitive Entwicklung leistet der Bedeutung des Aussehens in der Adoleszenz Vorschub. Denn mit dem einheitlichen, stereotypisierten Persönlichkeitsbegriff des Niveau 3 erlangt das Aussehen erneut an Bedeutung als ein Indikator für die Persönlichkeit. Im Unterschied zum Vorschulkind, das das Aussehen tatsächlich als Teil der Persönlichkeit versteht, begreifen Jugendliche in der frühen und mittleren Adoleszenz besonders die manipulierbaren Aspekte des Aussehens als intendierten Ausdruck einer bestimmten Persönlichkeit und Identität (de Jong, 1980; Habermas, 1988). Und zu den manipulierbaren Aspekten des Aussehens gehören neben Körperteilen wie Haar und Körperaspekten wie dem Gewicht zuvorderst Identitätssymbole.

6. Erinnern

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Zugleich verändert die sexuelle Reifung radikal das Gefühlsleben Jugendlicher, das ihnen mit unvertrauten und verbotenen sexuellen Wünschen und seiner triebhaften Autonomie fremd gegenübertritt. Eine Art, auf solche emotionalen Konfliktsituationen zu reagieren, besteht nun darin zu versuchen, sie reflektierend zu lösen. Und da die emotionalen Konflikte in der Pubertät ausgeprägt und die Fähigkeit zur Selbstreflexion relativ neu ist, liegt es nahe, dabei die Selbstkommunikation erleichternde Dinge zuhilfe zu nehmen.

6. Souvenir und symbolische Bindungen Wir kommen nun zu einem der psychologisch interessantesten Aspekte persönlicher Objekte, ihrer im engeren Sinne symbolischen Funktion für die Person selbst. Sie dienen nicht lediglich in einer dyadischen Beziehung als Spiegel oder Phantasieprodukt, sondern auch als über sich hinaus auf etwas in der Welt Weisendes. Das Objekt steht dann für ein abwesendes Drittes und wird wegen seiner Fähigkeit, das Andere im Hier und Jetzt zu evozieren, geschätzt. Objekte, die solche Funktionen erfüllen, überwinden Distanzen, zeitliche Distanzen zu Vergangenheit und Zukunft wie räumliche Distanzen. Sie können im weitesten Sinne als Erinnerungsobjekte, oder geläufiger, aber im Deutschen normalerweise in zu restriktivem Sinne als Mitbringsel von einer Reise verstanden, mit Janet als Souvenirs bezeichnet werden (1928, 262). Auch Erinnerungsobjekte erfordern einen Akt der Perspektivenübernahme, jedenfalls wenn wir Meads Theorie der Zeit akzeptieren, nämlich die Übernahme einer zeitlich oder geographisch entfernten Perspektive. Der Akt der Perspektivenübernahme kann minimal ausfallen, wie wenn ein Ding einen lediglich kurz an den oder das Bezeichnete erinnert, oder elaborierter, wenn man sich in vergangene Situationen und die Beteiligten oder in eine entfernte Person hineinversetzt. Die Perspektivenübernahme muß nicht selbstreflexiv autofokal geschehen, die Erinnerung sich nicht auf die eigene Person konzentrieren, kann es aber.

6.1 Erinnernde Gegenstände und Erinnerungsobjekte Vergegenwärtigen wir uns, was wir bereits über die Erinnerungsfunktion von Objekten wissen. Vertraute Objekte sind immer Objekte, mit denen die Person Erfahrungen gesammelt hat und die deshalb auf ihre Erfahrungen mit und vergangenen Anpassungen an ihre Objekte und Umwelten, bzw. dieser an die Person, verweisen (3.Kap.). Vertrautheit ermög-

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V. Symbolische Bedeutungen

licht routiniertes, nichtbewußtes Handeln, das selbstverständlich ist und so als Bewußtseinshintergrund fungiert, dem keine Aufmerksamkeit gewidmet werden muß. Gerade deshalb involvieren vertraute Umwelten und Objekte, solange sie unproblematisch bleiben, die Person in Handlungen und nicht Reflexionen und verweisen sie so auch nicht auf ihre Vergangenheit. Vertraute Objekte bleiben Teil der gegenwärtigen materiellen und funktionalen Gesamtsituation. Es kommt zu keiner reflektierenden Perspektivenübernahme. Im vierten Kapitel hatten wir persönliche Orte unter anderem dadurch ausgezeichnet, daß man an ihnen persönliche Objekte ansammelt, ja daß sich dort auch ohne willentliches Zutun Dinge ansammeln. Diese persönlichen Objekte sind nicht nur vertraut, sie tragen auch mehr oder weniger Spuren der Nutzung durch die Person und verweisen so auf sie. Doch auch sichtlich genutzte Objekte werden normalerweise wenig beachtet; die Aufmerksamkeit richtet sich erst auf sie, wenn Handlungsroutinen unterbrochen, der private Ort verletzt wurde. Erst dann, im Akt des Aufräumens nach einem Einbruch, vergegenwärtigen die am persönlichen Ort angesammelten Objekte die nun der Vergangenheit angehörenden, weil unterbrochenen und zu rekonstruierenden Gewohnheiten und häusliche Lebenspraxis. Einen Spezialfall stellen Objekte dar, die sich in solchen Teilen des persönlichen Ortes befinden, die selten frequentiert werden, wie dem Speicher oder Keller. Hier sammeln sich Objekte an und lagern sich in chronologisch geordneten Schichten ab. Sie werden nicht mehr genutzt und gelten deshalb eindeutig als alt und zur Vergangenheit gehörig. Da man sie nicht handelnd ergreift, keine Routinen mehr mit ihnen ausführt, provozieren sie eine reflektierende Haltung, die das bewußte Erinnern erleichtert. Solche Ensembles weisen auf vergangene Verwendungen und damit Gewohnheiten und Handlungen der Person hin und sind mit bestimmten Ereignissen, Orten und Personen assoziiert. Auch wenn dieser Vorrat erstarrter Gewohnheiten Erinnerungen hervorruft, ist er doch weder primär dazu auserkoren noch handelt es sich um einzelne Objekte, sondern um eben mehr oder minder zufällige Ansammlungen. Bei der Übersicht über kulturanthropologische Auffassungen von der Rolle von Gegenständen im ersten Abschnitt dieses Kapitels war die Dauerhaftigkeit von Dingen als dasjenige Merkmal benannt worden, das sie dazu prädestiniert, der kollektiven, aber eben auch überhaupt der Erinnerung zu dienen. Zugleich zeigte sich, daß Dinge, im Vergleich zu sprachlichen Dokumenten, auf eine stillschweigendere Weise der Erinnerung dienen. Ihre Bedeutung ist impliziter und vieldeutiger als die des geschriebenen Textes. Bei Gegenständen mit öffentlicher Bedeutung kann wiederum zwischen einer allgemeinen Gedächtnisfunktion überdauernder Objekte und materieller Strukturen i.S. Halbwachs1 einerseits und solchen Objekten unterschieden werden, die explizit und aus-

6. Erinnern

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schließlich dem kollektiven Gedächtnis dienen, wie Denk- und Mahnmale oder Museumssammlungen. Vygotsky hatte für die Entwicklungspsychologie materielle Gedächtnisstützen als Übergangsphänomene auf dem Weg zur Verinnerlichung der symbolischen Erinnerungsfunktion entdeckt und Bedingungen für ihre Reexternalisierung angegeben. Diese Überlegungen sind auf überdauerndere Erinnerungsobjekte, wie persönliche Objekte es sind, zu übertragen. Doch dürften sie, wenn sie von Jugendlichen oder Erwachsenen verwendet werden, weniger an einzelne Handlungsintentionen oder spezifische Verbindungen erinnern als vielmehr an globalere, nicht auf Handlungen, sondern auf die Identität der Person bezogene Handlungstendenzen. Mead verwies auf den rekonstruktiven Charakter der Erinnerung. Die Rekonstruktion geht immer von der gegenwärtigen Situation aus und erfaßt die Vergangenheit als deren ermöglichende Bedingung im Interesse der Lösung aktueller Handlungsprobleme. Gegenstände können aufgrund ihrer Dauerhaftigkeit die Kontinuität mit der Vergangenheit bezeugen, ja herstellen, und sind als vieldeutige Erinnerungszeichen besonders offen gegenüber neuen Deutungen. Janet, Vygotsky und Halbwachs ergänzten gegenüber Mead den sozialen Charakter des Erinnerns, das ursprünglich ein erzählendes Erinnern ist. Dinge können so dem Erinnern dienen, indem sie Anlaß zum Erzählen einer Geschichte geben (vgl. Middleton & Edwards, 1990). Ausgehend von diesen Grundannahmen sollen in diesem Abschnitt solche Dinge behandelt werden, die intentional primär der Erinnerung dienen und deshalb aus den Alltagsroutinen ausgegliedert sind. Im Unterschied zu anderen Objekten, die automatisch auch eine Gedächtnisfunktion haben, dienen sie keinen praktischen Zwecken. Allein solche symbolischen Objekte mit primärer Zeichenfunktion, die der Erinnerung dienen, sollen hier als Erinnerungsobjekte oder, in weiterem als dem umgangssprachlichen Sinn, als Souvenirs bezeichnet werden (vgl. Radley, 1990). Erinnerungsobjekte oder Souvenirs bilden somit eine Untergruppe symbolischer Objekte. Symbolische Objekte werden also nicht wie Kleidung, Fahrzeuge oder Instrumente praktisch genutzt, sondern sind an einer bestimmten Stelle deponiert. Da sie primär betrachtet oder angefaßt, aber nicht manipuliert werden, haben sie, wenn sie öffentlich exhibiert werden, oft auch eine ästhetische, dekorative Funktion. Systematisch lassen sich die Bezüge von Erinnerungsobjekten zwei analytischen Dimensionen mit jeweils zwei Hauptkategorien zuordnen. Der Bezug kann einmal sowohl eine räumliche wie eine zeitliche Distanz überbrücken, letztere in die Vergangenheit wie in die Zukunft; zum anderen kann sich das Objekt auf unterschiedliche Referenten beziehen, auf die eigene Person oder auf Andere, Personen oder Orte. Meist verweist ein einzelnes Ding jedoch mehrere Bezüge gleichzeitig auf, weshalb es

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V. Symbolische Bedeutungen

sich nicht exklusiv einer der drei resultierenden Klassen zuordnen läßt: zeitlich entfernte eigene Person/ zeitlich entfernter Anderer/ räumlich entfernter Anderer - die vierte kombinatorisch mögliche Klasse bleibt virtuell, da die räumlich entfernte eigene Person immer eine der Vergangenheit oder Zukunft ist. Wir beginnen mit Dingen, die unpersönlich auf vergangene oder entfernte Welten verweisen, nämliche antiken und exotischen Gegenständen (6.2). Sodann betrachten wir Erinnerungsobjekte, die auf persönliche Erlebnisse und Hoffnungen verweisen (6.3), und solche, die abwesende Andere vertreten (6.4). Zusammenfassend werden schließlich einige entwicklungs- und differentialpsychologische Spekulationen entwickelt (6.5). Da es zu diesem Thema kaum empirisch-psychologische Arbeiten gibt, liefern wir hier hauptsächlich eine Übersicht über die Formen symbolischer Objekte.

6.2 Die Nostalgie des Antiquarischen, Exotischen und Natürlichen Manche Dinge verweisen auf vergangene und entfernte Welten, die nicht spezifisch der eigenen Person zuzuordnen sind. Dies sind einmal Antiquitäten, also Einrichtungsgegenstände und kleine Instrumente, die nicht nach ihrer Funktionalität, sondern nach ihrer sichtbaren Zugehörigkeit zu einem anderen Zeitalter ausgewählt werden. Damit überwiegt, selbst bei auch aktuell genutzten Objekten wie antiquarischen Möbeln oder Büchern, die Zeichenfunktion ihre praktische: Sie dürfen nur noch besonders vorsichtig oder zu bestimmten Anlässen genutzt werden. Antiquarische Objekte können, wenn sie besonders teuer, da inzwischen rar sind, den sozialen Status des Besitzers ausweisen. Neben den stilistischen Eigenarten des Objekts belegen auch die materiellen Spuren der Nutzung des Objekts wie Schrammen, Unebenheiten, Ausbeulungen und Farbveränderungen sein Alter. Diese Patina legitimiert zusätzlich den mit antiquarischen Objekten beanspruchten Status, da sie auf die schon lange bestehende Beziehung zwischen Eigentümer und Objekt verweisen (McCracken, 1988, 32ff.). Für das Individuum selbst repräsentieren antike Objekte oft mehr. Die Emaillefigur einer ländlichen Idylle, das Spinnrad in der Ecke, das Wagenrad im Gartentor, die alte Kaffeedose, alte Gläser oder die Puppen der Kinderzeit im Regal deuten auf vergangene bessere Zeiten. Sie symbolisieren eine idyllische, intakte Welt der Vorvergangenheit, eine Welt der authentischen Erfahrung und des ursprünglichen Lebens noch ohne Trennung vom Anderen und Entfremdung von sich selbst. Nostalgische Objekte symbolisieren einen Mythos von Heimat, Ursprung und Authentizität, eine in sich geschlossene Welt, getrennt von und besser als die gegenwärtige, aus der sie die träumende Flucht erlauben.

6. Erinnern

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Desgleichen läßt sich von exotischen Objekten wie Masken aus der Südsee, mexikanischen Wandteppichen oder indianischen Pfeifen sagen, die ebenfalls auf einen erträumten, fernen Zustand der Ursprünglich- und Natürlichkeit verweisen, dem die Qualität des Verlorenen anhängt. Die Utopie liegt vermeintlich in der Urvergangenheit wie in der Zukunft, doch ist sie, wie Baudrillard sich ausdrückt, nicht historisch, sondern anachron und, wie hier zu ergänzen ist, alokal (Baudrillard, 1968, 106fF.). Diese Annahme liegt auch einer Therapie der Nostalgie zugrunde. Mit diesem Namen belegte der Baseler Medizinstudent J.Hofer in seiner Dissertation Ende des 17. Jahrhunderts das Heimweh, das er zugleich zur Krankheit erklärte. Als beste Therapie galt, die Betroffenen in ihre Heimat zurückzuschicken; den Erfolg der Therapie erklärte Kant mit der eintretenden Enttäuschung ob des Vergleichs der ersehnten mit der wirklichen Heimat (s. Prete, 1992). Der tagträumenden Flucht aus dem Alltag dient das zeitliche respektive örtliche Ziel nur als Vor-, besser Leinwand. Solche nostalgischen Objekte gehören ganz an den Meadschen Tagtraumpol des Erinnerns, das dennoch gegenwärtigen Zwecken dient, da es, wenn auch allein in der Phantasie, aktuelle Defizite kompensiert. Zu der Klasse nostalgischer Objekte lassen sich auch der Natur entwendete Objekte, Naturalia, zählen: die getrocknete Blüte oder Blatt,

der versteinerte Abdruck eines Fisches, der getrocknete Tannenzapfen, der Kiesel, die Muscheln, tierische Knochen, Häute und Pelze, ausgestopfte Tiere und getrocknete Blumensträuße. Auch sie haben einen Prozeß der Zähmung und Domestizierung erfahren. Es sind ihrem Kontext entfremdete Partikel, tote Natur, wie sie auf Stilleben dekorativ arrangiert wird. Die idealisierende Funktion nostalgischer Objekte wird durch ihre Kleinheit und die Verkleinerung des solcherweise Erinnerten erleichtert, die eine Zähmung und Domestizierung des Dargestellten bewirken. In der Miniatur verschwindet jegliche Bedrohlichkeit des Natürlichen, jegliche Härte des Landlebens, jegliche Eintönigkeit und Enge der Heimat, jegliche Ohnmacht und Schrecken der Kindheit (Stewart, 1984). Mit dem Wandel ihrer Funktion von einer praktischen zu einer symbolischen wandeln sich die Objekte selbst, sie werden kleiner und passen sich den Bedürfnissen des Besitzers an. Appadurai (1986) beschreibt die Veränderung von Objekten im Prozeß dieses Wandels am Beispiel von Objekten sogenannter primitiver Kunst, Stewart anhand der Zeichen rustikaler Einfachheit wie handgeflochtenen Körben und Wagenrädern (1984, 140f ). Naturalia verlieren ihre Lebendigkeit wie antike und exotische Objekte ihre praktische Bedeutung. Sie werden veredelt und damit zivilisiert, wie schon seit dem ausgehenden Mittelalter Naturalia und Mirabilia erst in die Kirche, dann die Studierstube und das Museum gebracht wurden, wo sie verziert, in Edelmetall gefaßt, kunstvoll beschnitzt und mit Edelsteinen besetzt aufbewahrt wurden (Lugli, 1983).

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V. Symbolische Bedeutungen

Die Verarbeitung hat den Effekt, die Objekte aus einem lebendigen Prozeß und damit aus der sich ständig wandelnden Geschichte herauszuheben und sie in zeitlose zu verwandeln. Das erlaubt den Objekten, eine hermetische, vom Zeitlichen unberührte Traumwelt zu repräsentieren. Die Verarbeitung zielt zugleich auf eine Ästhetisierung der Objekte, die ihrerseits wiederum zur Abstraktion von der Handlungszeit beiträgt und der Idealisierung Vorschub leistet. All dies entspricht dem typischen Aufbewahrungsort dieser Objekte, die meist zur ständigen Dekoration des persönlichen Ortes gehören und so gleichzeitig die Person schmükken wie ihr ihre Traumwelt privatim ständig präsentieren. Genaugenommen sind nostalgische Objekte zwar symbolische Objekte, aber keine rechten Erinnerungsobjekte, da sie weder auf eine Vergangenheit noch eine Zukunft verweisen, sondern auf eine Welt jenseits des Alltags, eine beschauliche Fluchtwelt der Nostalgie und der Sehnsucht.

6.3 Autobiographische Souvenirs - persönliche Erinnerungsobjekte Kommen wir nun zu persönlichen Erinnerungsobjekten, die auf das eigene Leben verweisen und an es erinnern. Wir beginnen mit den autobiographischen Varianten von antiquarischen und exotischen Objekten, um dann systematisch vier Arten autobiographischer Souvenirs danach zu unterscheiden, wie sie sich auf die Vergangenheit beziehen. Im folgenden konzentrieren wir uns auf nichtsprachliche und nichtbildliche Erinnerungsgegenstände; wir gehen von einigen anschaulichen Beispielen solcher Objekte aus und untersuchen dann, auf welche Ereignisse der Lebensgeschichte Souvenirs sich vorzugsweise beziehen könnten; wichtig ist hierbei, das Ausmaß der Organisation und Verdichtung der Lebensgeschichte in einem Ding zu konzipieren, was wir unter Rückgriff auf Theorien über die Organisation von Lebensgeschichten versuchen. Schließlich finden sich, besonders bei Jugendlichen, nicht nur auf die Vergangenheit, sondern auch in die Zukunft weisende persönliche Objekte.

Erbstücke und Reiseandenken Wenn exotische und antike Gegenstände persönliche Bezüge aufweisen, handelt es sich um Erbstücke und Reiseandenken. Erbstücken muß ihr Alter anzusehen sein, um nicht lediglich als Teil einer Hinterlassenschaft zu gelten, ja gar ihre Qualität als Erbstück sollte zu erkennen sein. Deshalb eignen sich nur bestimmte Dinge zum Erbstück. Sie müssen aus kostbarem Material und edel verarbeitet, alt und dauerhaft sein, so daß sie auch über mehrere Generationen hinweg vererbt werden können:

6. Erinnern

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schwere Möbel, Silberbesteck, Porzellan, ein teures Zigarettenetui, ein veredelter Wanderstock und vor allem Schmuck. In manchen Fällen wird die Zugehörigkeit des Objekts zu einer Familie durch Initialen oder Familienwappen ausgewiesen. Erbstücke ordnen ihren Besitzer einer Familie zu und verleihen ihm seinen Platz in der Generationenabfolge. Sie verbinden ihn mit seinen Vorfahren, die er selbst nicht mehr erlebt hat, deren Nachfolge er aber antritt. Erbstücke verleihen eine soziale (Familien-)Identität (Distinktion und Zugehörigkeit) sowie eine historische Identität. Sie symbolisieren diese Identität Anderen ebenso wie ihren momentanen Besitzer. Persönliche Souvenirs oder Reiseandenken hingegen beziehen sich auf eigene Erlebnisse. Sie verweisen ebenso wie exotische Objekte zwar auf den fernen, fremden Ort, erinnern aber vor allem an das vergangene Erlebnis, die bestandenen Abenteuer und die Selbsterfahrung im Fremden. Es können aus der Fremde stammende, ungewöhnliche Gegenstände sein, unauffällige, alltägliche Gegenstände, die mit auf der Reise waren oder auf dieser eine Rolle spielten, ein Reisetagebuch, oder Fotografien und Bilder von den Orten, an die man reiste. Wichtig ist der persönliche Bezug der Gegenstände, die die historische Authentizität der Reise bezeugen. Deshalb werden persönliche Reisesouvenirs gekauften meist vorgezogen, lieber eigene Fotos, wie ungeschickt auch immer, von bekannten Monumenten geschossen als sehr viel bessere Aufnahmen in Form von Postkarten gekauft; am besten, die Reisenden befinden sich mit dem Monument auf einem Foto, so daß es untrüglich seinen Zweck erfüllt, zu belegen "I was here" bzw. "there" (Stewart, 1984, 136ff ). Ja nicht selten werden zu erinnernde Erlebnisse geradezu für die Erinnerung erst hergestellt (Graumann, 1986).

Bedeutungsweisen

materieller

Erinnerungsobjekte

Reiseandenken sind persönliche Erinnerungsobjekte, die sich auf eine besondere Gelegenheit beziehen, sich sonst aber nicht von anderen unterscheiden. Persönliche Erinnerungsobjekte werden gezielt zum Zwecke des Erinnerns, des Andenkens gesammelt. Manche Dinge eignen sich dazu besonders gut. Meist sind sie klein, um im Schatze der Erinnerung Platz zu haben (der normalerweise irgendwo verstaut ist), um als Dekor den persönlichen Ort zu verzieren oder den Körper zu schmücken. Erinnerungsschätze bestehen aus heterogenen Objekten wie ersten Zähnen, kleinen Utensilien wie Brillen oder Pfeifenstopfern, Abzeichen, verfallenen Dokumenten, Rechnungen oder Eintrittskarten des ersten gemeinsamen Ausgangs und Ähnlichem mehr. Systematischere Erinnerungssammlungen sind Sammlungen von Dokumenten wie Zeugnissen, Impfbüchern, abgelaufenen Pässen sowie Fotoalben und Film- oder Videosammlungen. Als vierter wichtiger autobiographischer Sammlungstyp

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V. Symbolische Bedeutungen

sind Kollektionen von Briefen und empfangenen Postkarten zu nennen (s. Bernfeld, 1931). Speziellere biographische Sammlungen werden durch die Tätigkeiten und Vorlieben der Person bestimmt. Spezielle Sammlungen von Reiseandenken können beispielsweise Autoaufkleber von Orten sein, die besonders in den 60er Jahren populär waren, Streichholzschachteln, geklaute Bierkrüge oder Hotelhandtücher. Noch deutlicher wird der Trophäencharakter solcher biographischer Objekte bei Sammlungen von Geweihen, Pokalen und Adressen von Geliebten, bei denen die einzelnen Objekte bestimmte Ereignisse und Leistungen belegen. Doch Trophhäensammlungen grenzen schon sehr an systematische, nicht-biographische Sammlungen (s. 2.Kap.), da bei ihnen der Erinnerungswert der einzelnen Elemente gegenüber dem Triumph der schieren Anzahl zu verblassen beginnt. Erinnerungsobjekte müssen nicht in Sammlungen landen. Die wichtigeren können auch als singuläre Bedeutung haben und besonders herausgestellt sein. Das betrifft vor allem Abbildungen, die an prominenter Stelle aufgehängt werden oder ständig präsent sind, indem sie den Schreibtisch zieren oder im Portemonnaie oder Medaillon herumgetragen werden, sowie Objekte, die weder Text noch Bild sind. Die eingangs genannten vier Arten biographischer Souvenirs - offizielle Schriftstücke wie Zeugnisse, persönliche Schriftstücke wie Briefe, Abbildungen sowie Dinge, die weder sprachliche Texte enthalten noch ikonische Zeichen sind (hier: Erinnerungsge genstände) - können nach der Explizitheit ihrer Zeichenfunktion und ihrer Beziehung zum zu Erinnernden geordnet sowie nach der Bedeutung ihrer Materialität unterschieden werden. Am eindeutigsten weisen Dokumente und Urkunden die ehemaligen Identitäten der Person aus, da sie von Anfang an eigens dazu destiniert sind, die soziale und personale Identität der Person öffentlich und möglichst kontextunabhängig auszuweisen. Das spezifische Material dieser Objekte hat die Funktion, ihre Authentizität zu belegen (Wasserzeichen und andere Maßnahmen zur Fälschungssicherung) sowie manchmal die, die Bedeutung des Dokuments durch die relative Kostbarkeit und Haltbarkeit des Materials zu unterstreichen. Immer noch explizit, da sprachlich gefaßt, verweisen Tagebuch und Briefe auf die Vergangenheit, jenes auf vergangenes Selbstverständnis, diese auf die eigene Identität in den Reaktionen der signifikanten Anderen. Doch sie sind nicht nur sprachliche Texte, sondern als handschriftliche Produkte zugleich materielle Spuren körperlicher Tätigkeit wie auch Produkte der expressiven, generativen Tätigkeit eines selbst wie anderer mit entsprechenden persönlichen stilistischen und ästhetischen Merkmalen. Abbildungen, meist Fotos von sich selbst oder wichtigen Anderen, tragen nicht per se, wie die bisher genannten Objekte, Datumsangaben, obwohl sie in einem präzisen Moment entstanden sind, zumal Schnapp-

6. Erinnern

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schüsse. Es sind nichtsprachliche, bildliche Zeichen, die vor allem Gesichter enthalten müssen. Sie überliefern scheinbar am unmittelbarsten historische Momente: Man sieht, was man damals sah. Doch sie liefern andere Informationen als sprachliche Texte. Sie informieren genauer über das Aussehen, vergegenwärtigen quasi die sinnliche Wahrnehmung, wenn auch im Medium des optischen Distanzsinnes und in einer fixen Perspektive erstarrt. Doch die Befindlichkeit, die Ereignisse und ihre damalige Bedeutung können sie nur andeuten; dem Betrachter bleibt bezüglich der Bedeutung der Situation ein größerer Deutungsspielraum als bei sprachlichem Material. Fotos erinnern an öffentlich zugängliche Identitätsaspekte wie Aussehen, expressive Bewegungen, Mimik sowie Verbindungen mit bestimmten Anderen (Gruppenfotos) und Orten. Das Material spielt bei Fotos eine untergeordnete Rolle; seine Verfärbung und die Art der Vergrößerung weisen höchstens auf das Alter des Fotos hin. Bei Porträtgemälden und Skulpturen ist das Material wichtiger. Gegenstände schließlich, die weder sprachlich noch bildlich auf das zu Erinnernde verweisen, obwohl sie vielleicht sprachliches oder bildliches Material enthalten, sind am vieldeutigsten (Erinnerungsgegenstände). Auch sie stammen aus der Zeit, auf die sie verweisen. Meist sind sie mit dem, woran sie erinnern, durch raumzeitliche Kontiguität verbunden, sie fungieren analog der rhetorischen Figur der Metonymie (vgl. Butler, 1989, 17): das Opernprogrammheft enthält Libretto und Bühnenaufnahmen, doch sind dies nicht die primär zu erinnernden Begebenheiten, sondern lediglich Bindeglieder; es erinnert vielmehr an einen Opernabend, an dem sich zwei kennenlernten, an dem sie besonders glücklich waren oder an dem sie einen wichtigen Entschluß faßten; es kann aber auch an den ersten Auftritt oder den größten Erfolg erinnern, oder an einen letzten glücklichen Augenblick. Dieser Erinnerungsgegenstand erschließt sich dem Uneingeweihten am wenigsten, seine Mitteilung ist am stärksten kontextabhängig. Formal ähnelt er deshalb am weitestgehenden einer privatsprachlichen Mitteilung. Seine materielle Beschaffenheit kann eine große Rolle spielen, da es meist nicht zufallig aus den vielen möglichen mit einer Begebenheit oder Periode verbundenen Objekten als zu bewahrendes Souvenir ausgewählt wurde. Oft spielen taktile und optische Qualitäten eine Rolle, die das Objekt ästhetisch genießbar erscheinen lassen, aber auch die Fähigkeit des Objekts, multiple signifikante Bezüge aufzuweisen. Damit eignen sie sich sehr viel besser als die drei anderen genannten Arten von Erinnerungsobjekten dazu, öffentlich sichtbar und zugänglich zu sein, ohne die mit ihnen verbundenen persönlichen Erinnerungen preiszugeben. Die vier Arten von Souvenirs ermöglichen auch unterschiedliche Erinnerungshandlungen. Dokumente eignen sich dazu, in vergangenen Leistungen oder Handlungen gründende Ansprüche - auf einen Titel (Zeugnis), auf ein Visum (Impfungen), auf Rente etc. - öffentlich zu belegen, indem sie vorgewiesen werden. Tagebücher und Briefe werden gelesen,

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V. Symbolische Bedeutungen

gewöhnlich wegen ihres intimen Inhalts allein - die solitäre Lektüre ähnelt einer Selbstkommunikation, einer einseitigen, monologischen Kommunikation mit einer vergangenen Stimme (als Rezipienten), wie wir sie im letzten Abschnitt besprochen haben (5.2). Abbildungen werden betrachtet. Man kann sich allein den durch sie evozierten Erinnerungen überlassen oder sie anderen zeigen. Man schlägt das Fotoalbum auf oder, ftir den, dem die Bilder gezeigt werden, noch beengender, man verdunkelt den Raum und zeigt Dias oder Filme, und erzählt anläßlich einzelner Fotos Geschichten, von denen die Fotos einen Moment darstellen. Da die Abbildungen nur für den mit dem Gezeigten Vertrauten biographische Assoziationen wecken, sind solche Vorführungen für den Uneingeweihten schnell ermüdend, der bald nur noch aus Höflichkeit dem in Erinnerungen schwelgenden Erzähler zuhört. Gegenstände, die sich weder sprachlicher noch ikonischer Zeichen bedienen, sind noch enigmatischer als Abbildungen. Sie dienen primär der Person selbst dazu, sich in besinnlichen Momenten Episoden ihres Lebens zu vergegenwärtigen, sie sich selbst zu erzählen und bildhaft vorzustellen, ja vielleicht beim Berühren der Oberfläche oder dem Einatmen des Geruchs sinnliche Eindrücke wiederzuerwecken. So legen beispielsweise geschenkte Kerzen nahe, den Raum zu verdunkeln und sich zu besinnen, Schmuck und Fotos, sie zu betrachten. Im Unterschied zu Stewart (1984) behaupte ich hier also, daß diese letzte Gruppe von Erinnerungsgegenständen weniger dazu dient, Anderen Erinnerungen zu erzählen als vielmehr sie sich selbst zu erzählen. Das einsame und stille Erinnern kann mit bestimmten Handlungen einhergehen, wie den Gegenstand aus dem Schrank zu holen und in der Hand zu halten, vor sich auf den Tisch zu stellen, etc.

Metonymische Souvenirs als privatsprachliche

rituelle Objekte

Der Volkskundler Kuntz (1989a,b; 1990) führte Interviews mit 60-Jährigen, die er bat, anhand von Erinnerungsgegenständen (nichtsprachlichen und nichtbildlichen Souvenirs) in ihrer Wohnung ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Er berichtet ausfuhrliche Fallbeispiele, in denen als Gegenstände genannt werden eine Art Skizzenbuch, eine Tasse mit einer

Lebensweisheit, ein silberner Bowlenlöffel, eine Konfirmationsuhr und zur Pensionierung vom Betrieb geschenkte Uhr, ein "Bunkerkoffer" und ein hölzerner Weihnachtsbaumschmuck. In den Interviews wird deutlich, daß diese Gegenstände zentrale lebensgeschichtliche Themen symbolisieren. Die Objekte in den Beispielen Kuntz' stehen für eine gescheiterte Lebensalternative, für eine zentrale, im Gegenstand gemilderte Kränkung, für den Vater und die familienhistorische und eigene Identität als Arbeiter und Mitglied der Gewerkschaftsbewegung, für zentrale biographische Übergänge wie Konfirmation und Pensionierung, für eine be-

6. Erinnern

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drohliche Situation, in der das Erinnerungsobjekt Koffer die überlebensnotwendige minimale Familiensammlung von Identitäts- und Erinnerungsobjekten enthielt, und für ein verstorbenes Kind. An Kunts Untersuchung von Familienfotografien (1984) anknüpfend betont Kuntz, wie sich in Erinnerungsgegenständen subkulturell geteiltes Wissen mit Familien- und individuellem Wissen, Bräuchen und Geschichte überschneidet. Er zeigt an seinen Beispielen, wie Erinnerungsgegenstände meist mit bestimmten Handlungs- oder Erzählritualen verbunden sind. Besonders aber belegt er exemplarisch, wie Erinnerungsgegenstände sich dazu eignen, Erinnerungen auf eine verdeckte Weise zu speichern. Da ihre Bedeutung nur Eingeweihten vertraut ist, können sie persönliche oder Familiengeheimnisse verkörpern, ohne sie zu verraten. Sie können gar den Geheimnischarakter sichern, indem sie das Geheimzuhaltende vor dem Vergessen bewahren und zugleich als ein solches markieren. Kuntz nennt drei besonders prägnante Beispiele. Das erste stammt von Kunt (1990), das Objekt sind drei an der Wand hängende Männerhüte. Drei Bäurinnen zündeten dreimal jährlich Kerzen unter ihnen an und beteten. Sie hatten dem Untersucher die drei Hüte nicht genannt, vielmehr hatte er ihre Bedeutung erst auf Nachfrage erfahren, nachdem er Wachsspuren unter ihnen entdeckt hatte. Es stellte sich heraus, daß die drei Hüte für die drei verstorbenen Männer stehen, die aus politischen Gründen umgekommen waren - zu Zeitpunkten, die die Höhepunkte der offiziellen nationalen Geschichtsschreibung darstellen. "Das Schweigenmüssen und das Sprechenwollen über die eigene Geschichtserfahrung wurde kodiert in der Wandschmuckgruppe dreier Hüte und zeitigte m.E. ein Schweigeritual" (Kuntz, 1990, 65). Ein weiteres Beispiel ist das Skizzenbuch eines Malermeisters, das aus dessen Zeit in englischer Kriegsgefangenschaft stammt. Es symbolisiert seine gescheiterten Berufswünsche als künstlerischer Maler, die für ihn wiederum auch mit seiner fast verschwiegenen SS-Mitgliedschaft zusammenhängt, die einem Studium nach dem Kriege entgegengestanden habe. Als drittes Beispiel sei ein Weihnachtsschmuck in Form eines Holzpferdchens genannt, das die Mutter der Familie unmittelbar nach dem durch Unachtsamkeit mitverschuldeten gewaltsamen Tod eines ihrer Kinder auf der Straße gefunden hatte - so nimmt das tote Kind am alljährlichen Ritual der Familienharmonie teil, ohne erwähnt werden zu müssen. 3 0 Erinnerungsgegenstände bewahren oft Erinnerungen auf, die "nicht verloren gehen, andererseits normalerweise nicht ständig präsent sein" sollen. Kuntz resümiert, daß Erinnerungsgegenstände "etwas Erinnerns-, oft aber nicht Erzählenswertes beinhalten" (ebd., 1990, 65f ).

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Vgl. die Fallbeschreibung der biographischen Bedeutung eines Teppichs bei Seile, 1992.

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V. Symbolische Bedeutungen

Bevorzugte biographische Bezüge von Souvenirs Welche sind nun die biographischen Elemente, die typischerweise für würdig befunden werden, in Erinnerungsgegenständen aufgehoben zu werden? Allgemein läßt sich davon ausgehen, daß es für die Biographie zentrale, konstitutive Elemente sein müssen, die sich, nach der These von Kuntz, zusätzlich eventuell durch eine besondere Intimität und Unveröffentlichbarkeit auszeichnen. Was als besondere Augenblicke des Lebens gilt, hängt auch von den kulturellen Mustern ab, Biographien abzufassen. Nach Fischer (1978) werden Lebensberichte in hohem Maß durch Lebenskrisen organisiert, was Strube darauf zurückführt, daß biographisches Wissen generell stark durch solche Übergänge strukturiert wird (Strube & Weinert, 1987). In der Psychologie werden als kritische Lebensereignisse Belastungsituationen mit möglicherweise negativen Folgen wie körperlichen oder psychischen Erkrankungen aufgefaßt (Filipp, 1981). Dazu zählen normative Krisen, erwartbar datierbare Rollenübergänge wie Schuleintritt, Konfirmation, Studienbeginn, Heirat, Geburt eines Kindes und Pensionierung ebenso wie nicht-normative Veränderungen, vor allem Verluste, wie die Trennung von einem Partner, die Geburt oder der Tod einer nahestehenden Person, der Gesundheit durch eine Krankheit, der gewohnten Umgebung durch einen Umzug oder Emigration. Beide Arten von Ereignissen können das Individuum in eine Krise stürzen, da sie eine Veränderung ihrer Identität erfordern, ein aktives Bewältigen und Aneignen der Veränderung der eigenen Person und der sie definierenden Beziehungen und Umgebungen. Man könnte hierauf bezogene Objekte einmal mit Kuntz (1990, 74) als Rite-de-passage-Objekte, das andere Mal als Verlustsouvenirs oder Reliquien bezeichnen. Doch Objekte, die sich auf normative Übergänge beziehen, knüpfen historisch immer weniger an entsprechende Riten an (Hochzeitsphoto, Konfirmationsuhr, Graduierungsur künde). Mir scheint der Begriff des Übergangssouvenirs treffender als der von Kuntz vorgeschlagene, weil nicht an eine bestimmte Form des Übergangs geknüpft. Als weitere biographische Bezugspunkte von Erinnerungsobjekten hatten wir bereits die familiäre Abstammung (Erbstücke, genealogisierende Souvenirs) sowie Reiseandenken genannt. Jene betten die individuelle in eine umfassendere Familiengeschichte ein und verleihen der individuellen Biographie eine größere soziale Validität, während diese sich auf ritualisierte Ausnahmesituationen beziehen, wie sie die temporäre Enthebung von den Routinepflichten der Arbeit und Schule und die Entfernung aus der gewohnten Umgebung darstellen. Außerdem hatten wir Trophäen genannt, die auf für die Selbstschätzung zentrale Errungenschaften verweisen. Genauso können Erinnerungsobjekte als Symbole persönlicher Niederlagen unverwundene

6. Erinnern

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Enttäuschungen und Kränkungen festhalten, die eine wichtige Leitlinie für die Konstruktion von Lebensgeschichten darstellen (Lehmann, 1983). McAdams (1985, 61f.) fand bei Interviews zu "den schlimmsten und den schönsten Erlebnissen meines Lebens" zwei Typen von Antworten, einmal durchgehende, immer wieder auftauchende Themen, vor allem Ursprungsthemen, zum anderen Berichte von einmaligen Wendepunkten und Übergängen. Metonymische bzw. metaphorische Souvenirs eignen sich im Vergleich zu schrift- oder bildlichen Erinnerungsobjekten in einer weiteren Hinsicht besser als gehütete und bewahrte Erinnerungsobjekte, da ihre Bedeutungsoffenheit nicht nur private Mitteilungen erlaubt, sondern auch multiple Mitteilungen und Bezüge. Deshalb sind unsere Bezeichnungen von einzelnen Dingen beispielsweise als Übergangssouvenir insofern irreführend, als sie einem Gegenstand eine einzige Funktion zuzuweisen scheinen. Im vierten Kapitel hatten wir aus der Diskussion des Lewinschen Feldkonzepts gefolgert, daß Objekte umso wichtiger sind und ihnen ein umso stärkerer generalisierter Aufforderungscharakter im Sinne einer generalisierten Tendenz, das Objekt in der Nähe zu bewahren, zueigen ist, je mehr unterschiedliche Bedeutungen das Objekt für die Person hat. Dies läßt sich auf die Erinnerungsfunktion von Gegenständen übertragen: Je mehr unterschiedliche biographische Bezüge ein Objekt auf sich vereint, umso umfassender repräsentiert es seine Biographie und umso bedeutsamer ist es der Person. Ein Ding kann also zugleich Übergangs- wie Verlustsouvenir wie auch Trophäe in einem sein. Eine Möglichkeit, nicht nur die Summe von vielen unterschiedlichen biographischen Bezügen zu bieten, sondern etwas noch Wichtigeres, besteht darin, die durch das Schicksal zufällig zusammengewürfelt erscheinenden Einzelelemente des Lebens zu organisieren und zu einer Gestalt zu integrieren. Denn jede Lebensgeschichte konstruiert aus den quasi rohen Daten des Lebens eine strukturierte Erzählung mit Anfang, Verlaufsstruktur, zentralem Motiv und Nebenmotiven sowie Schluß. Schütze (1984) bezeichnet die thematische Verknüpfung von Episoden der Lebensgeschichte unter einem dominanten Gesichtspunkt als Erzähllinie (vgl. Fischer, 1978; Sarbin, 1986). Je mehr wichtige, formierende Erlebnisse und ihre Verarbeitung, je mehr resultierende Identitätsaspekte und Motivstränge in eine Lebensgeschichte integriert werden können, umso besser findet die Person sich in ihr wieder und fühlt sich in ihrer aktuellen Identität erkannt und anerkannt; die rekonstruktive Arbeit der Psychoanalyse ist in diesem Sinne reinterpretiert worden (Spence, 1982; Schafer, 1981; Wetzler, 1985). Ja die Identität einer Person läßt sich überhaupt als durch ihre Lebensgeschichte konstituiert begreifen (McAdams, 1985; Strube & Weinert, 1987). Ein Organisationsmittel von Lebensgeschichten sind Motive oder Lebensthemen (McAdams, 1985), die sich wie in anderen sequentiellen

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V. Symbolische Bedeutungen

Strukturen wie Romanen oder Musikstücken als roter Faden durch die Erzählung ziehen und in immer neuen Variationen und Fortentwicklungen wieder auftauchen. Lebensthemen verdichten sich in Kernepisoden der Lebensgeschichte (Tomkins, 1979). Dieses Phänomen der Verdichtung mehrerer einander ähnelnder Erinnerungen zu einer einzigen Erinnerung findet sich nicht nur bei einem so komplexen Gebilde wie der Lebensgeschichte, sondern auch bei einfacheren Erinnerungsleistungen; Neisser (1981) bezeichnet solchermaßen kondensierte Erinnerungen als repisodisch, d.h. als Repräsentation wiederholter Episoden. Lebensthemen und Kernepisoden von Lebensgeschichten enthalten zentrale, vor allem noch konflikthafte Beziehungskonstellationen, in die Bedürfnisse, Bedrohungen bzw. Ängste und Bewältigungsmodi eingebaut sind, die sich in unterschiedlichen Kontexten und Lebensphasen wiederfinden (Carlson, 1981). 31 Verwandte Begriffe sind die der individuellen Schlüssel- und Kernepisoden, die von individuellen "Diskursen", die aus begrifflichen Gegensatzpaaren bestehen, als Tiefenstruktur der Persönlichkeit mittels metaphorischer Ähnlichkeitsbeziehungen generiert werden (Gregg, 1991). Boeschs (1976; 1980; 1991) eigenwillige Terminologie erfaßt Ähnliches. Er unterscheidet in zunehmender Abstraktheit und Umfassendheit Phantasien von Phantasemen und Phantasmen. Phantasmen definiert er als übergreifende subjektive Themen, die die Ziel- oder Motivstruktur einer Person hinsichtlich der dominanten Wünsche und Ängste bestimmen und organisieren; als Beispiele von Kategorien von Phantasmen nennt er Bedrohungs-, Ich- und Partner- sowie Ordnungsphantasmen. Sie bestimmen Phantaseme (Boesch, 1991), spezifische Themen, die sich in konkreten Phantasien niederschlagen. Phantasmen fungieren als affektiv-subjektives Bedeutungsraster, das das Erleben von Situationen färbt und ihre Valenz bestimmt. Lebensgeschichten können nun als sequentiell durch solche Phantasmen organisiert verstanden werden, die den obengenannten Kernepisoden gleichen. Nun ließe sich einwenden, daß auch in persönlichen Objekten, die sich nicht auf die Lebensgeschichte beziehen, Lebensthemen seines Nutzers zum Ausdruck kommen. Als Besonderheit von Souvenirs ist deshalb präziser zu formulieren, daß sie auf ein Lebensthema nicht allein in der aktuellen Form, sondern in vielfältigen, historisch geordneten und auseinander hervorgehenden Formen verweist. Souvenirs, speziell metapho-

Kinder erzählen bereits im dritten Lebensjahr spontan überwiegend Erinnerungen an negative Ereignisse, was bei ihnen heißt körperliche Verletzungen (Miller & Sperry, 1988). Eine ältere Übersichtsarbeit (Bock, 1980) kommt jedoch zu dem Schluß, daß negative oder positive Erinnerungen Erwachsener nicht unterschiedlich häufig erinnert werden, sondern vor allem solche, die starke Emotionen hervorriefen; sie werden zudem am ehesten dann erinnert, wenn sie zur aktuellen Befindlichkeit und Situation passen.

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rische und metonymische Erinnerungsgegenstände, können aus der biographischen Distanz ein Lebensthema umfassender symbolisieren als nicht primär symbolische und erinnernde Objekte. Fassen wir zusammen: Nichtsprachliche bzw. -bildliche Erinnerungsgegenstände sind aufgrund ihrer Bedeutungsoffenheit besonders dazu geeignet, biographische Bezüge gleich zweifach zu integrieren. Einmal leisten sie dies durch die gleichzeitige Darstellung multipler Bezüge in einem einzigen Text, wobei widersprüchliche Bezüge und Aussagen koexistieren und zumindest in dieser Ausdrucksform zusammengeführt werden. Erinnerungsgegenstände ähneln in dieser Hinsicht, jedenfalls aus psychoanalytischer Sicht, neurotischen Symptomen, die Kompromisse zwischen antagonistischen Strebungen symbolisch realisieren. Zum anderen können Erinnerungsgegenstände eine Biographie integrieren, indem sie ein solches Lebensthema symbolisieren, das seinerseits vielfältige biographische Bezüge aufgreift und integriert. Oft sind es Objekte, die anfangs auf eine entscheidende oder typische Situation verweisen und im Laufe der Zeit sich dann mit Assoziationen an ähnliche Konstellationen quasi aufladen. 32 Straub und Sichter (1989) argumentieren, daß Metaphern sich besonders dazu eignen, zentrale Elemente einer Lebensgeschichte verdichtet zum Ausdruck zu bringen. Durch ihre Bedeutungsoffenheit können Metaphern unterschiedliche Elemente einer Lebensgeschichte thematisch zusammenfassen, und bleiben für die Assimilation neuer Elemente an die Metapher offen. Sie beziehen sich besonders auf Kernepisoden der Lebensgeschichte, deren Geschichtenstruktur sie verdichten. Tomkins (1979) meint, daß bei positiven Kernepisoden eher die Besonderheit und Einmaligkeit hervorgehoben wird, bei negativen hingegen ihre Wiederholungsqualität; jene werden als Varianten, diese als Analoga konzipiert. Wenn dies zutrifft, würden sich besonders negative Episoden mit unbewältigten Konfliktthemen dazu eignen, in einem dinglichen Gegenstand symbolisch verdichtet zu werden. In einem dritten, noch grundlegenderen Sinne erfüllen Erinnerungsgegenstände eine integrierende Funktion für die Lebensgeschichte, insofern sie die Kontinuität der Person mit sich selbst sichern, und zwar sehr viel konkreter als dies im Medium der Phantasie möglich ist. Das Souvenir holt die Vergangenheit in die Gegenwart und macht sie sinnlich erfahrbar. Die Person versichert sich mit ihrer Hilfe auf fast täuschende Weise sinnlich ihrer aktuellen Version von ihrer Kontinuität mit sich selbst. Kehren wir nun noch einmal zu denjenigen Punkten der Lebensgeschichte zurück, auf die Souvenirs sich beziehen, und betrachten diese nicht, wie oben, inhaltlich, sondern nur auf das Lebensalter bezogen, aus

Vgl. die Geschichte der Teetasse mit dem Spruch "Frau, ärgere deinen Mann nicht!" bei Kuntz, 1990, 68f.

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V. Symbolische Bedeutungen

der die Erinnerung stammt. Zwar Hegen keine Untersuchungen dazu vor, auf welches Alter sich Erinnerungsobjekte beziehen, aber doch Studien zu dem Lebensalter, auf das sich spontane Erinnerungen beziehen, die in freier Assoziation auf vorgegebene Stichworte hin produziert werden. In diesen zeigen sich regelmäßig drei Effekte: a) je rezenter die Lebensphase, desto mehr Erinnerungen beziehen sich auf sie (Äecewcy-Effekt); b) auf die ersten drei bis sechs Lebensjahre beziehen sich fast keine Erinnerungen (Kindheitsamnesie); c) auf das frühe Lebensalter beziehen sich mehr Erinnerungen als bei alleiniger Gültigkeit von a) erwartbar wäre (Rubin, Wetzler & Nebes, 1986)! Sehr alte und sehr rezente Erinnerungen werden schneller erinnert (Fitzgerald, 1986). Eine Reihe späterer Untersuchungen präzisiert c dahingehend, daß bei alleiniger Gültigkeit des Recency-Effekts Erinnerungen aus der Adoleszenz überhäufig auftreten, und zwar bei Probanden ab ungefähr dem 40. Lebensjahr (Conway & Rubin, 1992). Dieser Adoleszenz-Effekt ist relativ schwach, wenn Erinnerungen auf Stichworte produziert werden sollen, hingegen so stark, daß er den Recency-Effekt fast völlig überlagert, wenn offen nach den wichtigsten oder lebendigsten Erinnerungen des eigenen Lebens gefragt wird (Fitzgerald, 1988; 1992; Cohen & Faulkner, 1988; Benson et al., 1992; Fromholt & Larsen, 1992). Es ist naheliegend, für den Adoleszenzeffekt die Bedeutung der Adoleszenz für die Identitätsfindung verantwortlich zu machen (Neisser, 1988). Und es gibt auch Evidenzen dafür, daß man sich an spezifische Situationen des Übergangs leichter erinnert und diese sich durch eine hohe emotionale Valenz auszeichnen. Das zeigt sich, wenn man Studenten im ersten Studienjahr und ehemalige Studenten zwei, zwölf und 22 Jahre nach Studienbeginn nach den ersten vier Erinnerungen fragt, die sich einstellen, wenn sie an das erste Studienjahr denken. 40% der Erinnerungen bezogen sich auf den ersten der neun Studienmonate, den September, und von diesen wiederum gar 37% auf den ersten Studientag! Das Ergebnis ist nicht mit dem Primacy-Effekt zu erklären, da er sich auch ergibt, wenn man nach Erinnerung aus einer 9-Monatsperiode fragt, die mit dem Oktober des ersten Studienjahres abschließt, mit zusätzlich einer kleineren Häufung im Juni, der Zeit des Abiturs, eines weiteren Übergangs (Pillemer et al., 1986; 1988).

Utopische Objekte -

Zukunftsentwürfe

Ebenfalls der Sicherung der Kontinuität mit sich selbst und zugleich, deutlicher noch als Erinnerungsobjekte, der aktiven Gestaltung der eigenen Identität dienen Objekte, die eine kollektive bzw. persönliche Zukunft repräsentieren. Sie greifen vorweg, vertreten das Erträumte oder Angezielte in der Gegenwart und schlagen so eine Brücke zwischen Gegenwart und Zukunft, verwandeln das Nicht in ein Noch-Nicht.

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Auch Zukunftsobjekte bewegen sich zwischen den Polen des Phantastischen und Realistischen. Sie mögen ebenso persönliche Utopien wie realistische, bereits in Angriff genommene Ziele vertreten. Kinder nutzen Objekte in dieser Funktion im Rollenspiel, in dem sie Erwachsenenrollen spielen, die sie bewundern und später einnehmen wollen. Sie vertreten noch keine individuellen Wahlen, sondern stereotype Vorbilder, die der Rollensozialisation dienen. Erst in der Adoleszenz kommt es zu persönlicheren und zunehmend realistischeren Zukunftsobjekten, die erträumte und angestrebte Ziele verkörpern. In dem Maße, in dem Jugendliche beginnen, eigene, nicht mehr automatisch von den Eltern übernommene Zielvorstellungen für ihr eigenes Leben zu entwickeln, kommt es zu dem für die Adoleszenz typischen Phänomen der Idolsuche und der probeweisen Identifizierung mit kulturellen Wertsystemen, die durch die Entwicklung des formal-operationalen Denkens gefördert wird (Inhelder & Piaget, 1955). In der frühen Adoleszenz werden überhöhte Phantasien von sich selbst in bestimmten Berufsrollen ausgearbeitet und gepflegt, bis sie realistischeren Einschätzungen und Plänen weichen (Benson, 1980). Zukunftsentwürfe repräsentierende Dinge verkörpern mithin nicht nur Wünsche, sondern auch Ansprüche an sich selbst. Als Beispiele für auf die Zukunft verweisende persönliche Objekte der Adoleszenz seien die Gitarre oder das Klavier genannt, mit der der Jugendliche sich als Rockstar oder Konzertpianist träumt, der unspezifischere Fuß- oder Basketball, artistische Utensilien wie Malerstaffel, Farben und Pinsel, oder Bücher über ein entferntes Land, in das man reisen möchte, oder über ein Wissensgebiet, in dem man arbeiten möchte. Bei diesen Beispielen handelt es sich um Instrumente, die der Person erlauben, eine Fähigkeit zu erwerben, mit der sie zu reüssieren hofft. Auch symbolische Objekte können auf Zukunftsentwürfe verweisen, wie das Poster eines Vorbildes. Auf die Zukunft verweisende Objekte erfüllen nicht lediglich instrumenteile Funktionen, sondern fungieren zugleich als Motor, als Anreiz, sich fortzuentwickeln. Unter den Zukunftssymbolen finden sich keine Analoga zu Identitätsdokumenten, Tagebuch und Briefen oder Fotos von der eigenen Person als Dokumenten der Vergangenheit. Im Tagebuch kann die Schreiberin sich jedoch inhaltlich mit ihrer Zukunft auseinandersetzen, weshalb es auch für die Zukunft stehen kann.

6.4 Vergegenwärtigungen des abwesenden Anderen Auf die persönliche Vergangenheit bzw. Zukunft verweisende Objekte evozieren nicht nur die eigene Person, sondern mehr oder weniger immer auch andere Personen. Eine weitere mögliche Funktion von persönlichen Objekten besteht darin, sich nicht diffus auch auf andere Personen zu be-

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V. Symbolische Bedeutungen

ziehen, sondern primär auf eine bestimmte andere Person. Ja sie fungieren als deren Stellvertreter im Hier und Jetzt, da das Individuum daran gehindert ist, mit dem Anderen zusammenzusein. Solche Objekte symbolisieren einen Anderen, den das Individuum vermißt. Insofern symbolisieren sie nicht exklusiv den abwesenden Anderen, sondern eigentlich die Verbindung bzw. das Zusammensein von Besitzer und Anderem. Die Objekte, die spezifische Andere symbolisieren, sind in drei Gruppen zu unterteilen. Die erste Gruppe eignet sich am besten dazu, den Anderen zu vertreten, im Hier und Jetzt physisch an seine Statt zu treten. Ich möchte sie hier übergreifend als Reliquien bezeichnen. Es sind dem Körper des Anderen besonders nahe Objekte: Körperteile des Anderen wie die Gebeine oder eine Haarlocke, und Gegenstände, die mit seinem Körper in enger Berührung waren, wie Kleidungsstücke, Schmuck und Uhren, Taschen, bevorzugtes Geschirr, Arbeitsinstrumente, oder Utensilien wie ein Kamm, eine Pfeife oder eine Brille. In gewisser Weise sind auch Abbildungen des Anderen als Reliquien zu betrachten, wie Fotos oder Totenmasken, da man auch mittels ihrer sich des Körpers des Anderen zumindest symbolisch versichert. Materialeigenschaften, die die Nähesinne ansprechen, Gerüche und taktile Merkmale suggerieren besonders wirksam die Nähe des Anderen. Als weitere Art von Objekten bieten sich Geschenke dazu an, den Geber zu symbolisieren. Bei Geschenken tritt die Funktion des Vertretens hinter die des Verbindens zurück (verbindende Objekte). Im Prinzip eignen sich alle ästhetischen Objekte als Geschenke. Ihr symbolischer Wert kann durch ihren materiellen Wert unterstützt werden, der demonstriert, wie teuer der Beschenkte dem Anderen ist; doch der materielle Wert darf den symbolischen nicht in den Hintergrund treten lassen, wie es bei großen oder profanen Objekten wie einer Waschmaschine der Fall wäre. Schmuck kann als Prototyp des teuren verbindenden Geschenks gelten. Auf der Grenze zur Reliquie bewegen sich Geschenke, die der Andere selbst verfertigt hat, und die somit auf dessen Tätigkeit verweisen und intensiver mit seinem Körper in Kontakt waren; bei Briefen vom Anderen tritt seine Schrift und vielleicht Geruch hinzu. Einen besonders stark verbindenden Charakter nehmen Objekte an, die lange gemeinsam genutzt wurden, speziell wenn es sich um geteilte persönliche Objekte oder Orte handelt wie ein geteiltes Bett, Auto oder Bibliothek. Einen Sonderfall stellen verbindende Objekte dar, die paarweise auftreten, von beiden (oder allen, wenn es sich um eine Gruppe handelt) getragen werden und durch ihre Identität die Besitzer miteinander verbinden (Objektpaare). Klassisches Beispiel dieser Art ist das Paar identischer Ringe. Hier verbindet neben dem Charakter des Geschenkes und der Erinnerung an gemeinsame Situationen das Wissen um die Verdopplung die Verbindung zum Anderen, als ob die beiden identischen Objekte miteinander kommunizierten. Hier kommt das zweite Prinzip gegenständlicher Symbole und speziell magischer Objekte, das der Ähnlich-

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keit (neben dem der Kontiguität) zum Tragen. Zwar weisen solche Objekte meistens die Träger auch öffentlich als einander zugehörig aus, die Bedeutung für die Person selbst kann ihr jedoch viel wichtiger sein, zumal in Situationen der Trennung, in denen uneingeweihten Betrachtern die Bedeutung des Objekts nicht klar ist, da sie nicht unbedingt von der Existenz des Doppels wissen. Die dritte Art von Objekten, die auf einen bestimmten Anderen verweisen, tun dies aufgrund ihres zufälligen Kontaktes mit dem Anderen bzw. einer Situation, in der beide zusammen waren; sie verweisen metonymisch auf den Anderen. Sie unterscheiden sich von den weiter oben besprochenen metonymischen Bx'mncTungsgegenständen nur durch die Spezifität ihres Referenzobjekts. Das Objekt bezieht sich weniger allein auf den Anderen als auf eine Situation, in der die momentane Trennung noch nicht eingetreten war. Auch Geschenke erinnern an eine gemeinsame Situation, nämlich die des Schenkens. Der Andere, auf den das Objekt verweist, kann räumlich und zusätzlich zeitlich entfernt sein. Allein zeitlich entfernte Personen sind Verstorbene, deren Verlust aktuell wird, oder zumindest Personen, die unabänderlich verloren sind, die Trennung von denen nicht aufzuheben ist, wie wenn einen die Geliebte verlassen hat. Es handelt sich um Objekte des Verlusts und der Trauer. Räumlich entfernt erlebte Personen sind solche, die man wiederzutreffen hofft, da die Trennung eine temporäre ist. In dieser psychologisch ganz andersgearteten Situation gilt es, eine Verbindung zum Anderen symbolisch, im Herzen aufrechtzuerhalten, um beim Wiedertreffen wieder an der alten Beziehung anknüpfen zu können. Doch ganz so unterschiedlich sind die Situationen nicht, da auch im Falle einer endgültig verlorenen Person das symbolische Objekt dazu dient, sie nicht ganz aufzugeben, sondern eine Verbindung zu ihr aufrechtzuerhalten (s. 6.Kap.). Symbolische Objekte, die einen bestimmten Anderen vertreten oder die Verbindung mit ihm aufrechterhalten, unterscheiden sich nicht prinzipiell von Erinnerungsobjekten oder Souvenirs, wie sie im letzten Abschnitt beschrieben wurden, da der oder die Symbolisierte in der Erfahrung immer einer der Vergangenheit ist. Die Unterscheidung zwischen den drei genannten Funktionen von Erinnerungsobjekten, nämlich an die Vergangenheit zu erinnern bzw. auf die Zukunft zu verweisen, eine Verbindung herzustellen und einen Anderen im Hier und Jetzt zu vertreten, ist eine graduelle. Die Gradunterschiede betreffen das Ausmaß, in dem einerseits die Vergegenwärtigung allein kognitiv-abstrakt, die Trennung deutlich bewußt und das Objekt nur als Zeichen erlebt wird, oder andererseits das Symbol mit dem Symbolisierten identifiziert und so das Symbolisierte als sinnlich präsent erlebt wird. Im ersten Fall handelt es sich um eine triadische Beziehung zwischen Subjekt, Zeichen und Bezeichnetem, im zweiten Falle tendiert diese Beziehung dazu, zu einer dyadischen Beziehung

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zum Gegenstand selbst zu degenerieren, in dem Zeichen und Bezeichnetes kollabiert sind. Die Tendenz, gerade solchen Objekten Kräfte zuzuschreiben, die man gemeinhin als magische bezeichnet, korreliert mit dem Ausmaß, in dem die Differenz zwischen Zeichen und Bezeichnetem verschwindet. Je mehr das Objekt an die Stelle der symbolisierten Person tritt, umso mehr werden ihm menschliche Eigenschaften zugeschrieben, und umso mehr ähneln die Handlungen solchen, die sonst Menschen vorbehalten sind. Doch eine solche partielle Animierung und Personifizierung von Gegenständen entspricht nicht einer rein kognitiven Regression auf eine frühkindliche Konzeption von Gegenständen, die diese nicht von Menschen unterscheidet, wie Mead en passant annahm (s.o., 3.2). Bereits in den ersten Lebensmonaten reagieren Kinder auf Menschen anders als auf Gegenstände (Gelman & Spelke, 1981). Gegen Ende des ersten Lebensjahres erwarten Kinder von Menschen, daß sie sich selbst bewegen, nicht aber von Gegenständen (Poulin-Dubois & Shultz, 1990). Die bewußte Reflexion darüber, was Leben definiert und Menschen von Tieren und Pflanzen sowie von Gegenständen unterscheidet, entwickelt sich hingegen langsam (Piaget, 1926). Als Kriterien für Leben gelten erst Aktivität, dann Bewegung, später Eigenbewegung und noch später schließlich die Fähigkeit zu wachsen und sterben. Erst gegen Vollendung des zehnten Lebensjahres vermögen Kinder konsistent nicht-animistisch urteilen (Laurendeau & Pinard, 1962; Carey, 1985; Richards & Siegler, 1986). Magische Praktiken Erwachsener finden im Kontext des Wissens statt, daß eigentlich den Objekten keine Kraft inhärent ist. Eine entscheidende Bedingung für animistisch-magische Praktiken im nicht-pathologischen Bereich scheint das Bedürfnis zu sein, erlebte Ohnmacht zu kompensieren (Freud, 1914b). Besonders in Übergängen zwischen Lebensphasen scheinen Menschen auf solche Bewältigungsmodi zurückzugreifen (Dopfer, 1992, 231).

6.5 Entwicklungs- und persönlichkeitspsychologische Bedingungen des Gebrauchs von Souvenirs Erinnerungsobjekte bzw. Souvenirs unterscheiden sich von anderen, ebenfalls mit Erinnerungen verbundenen Objekten dadurch, daß es ihre primäre Funktion ist, zu erinnern. Sie fordern nicht zum Handeln, sondern zum Innehalten und Reflektieren auf, und gleichen darin den zum Nachdenken einladenden Objekten (s.o., 5.2), nur daß sie das Thema der Reflexion genauer vorgeben, da sie weniger eine abstrakte Perspektive symbolisieren als auf eine in der Welt befindliche Perspektive verweisen.

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Während die allgemeinen Reflexionsobjekte nur eine reflektierende Haltung induzieren, sind Souvenirs präziser auf ein bestimmtes Bedürfnis abgestimmt, nämlich auf den momentan unerfüllbaren Wunsch, einer bestimmten Person nahe zu sein oder selbst ein Anderer, der Vergangenheit oder Zukunft, zu sein. Dabei erfüllen Souvenirs die doppelte Rolle als Stimulus und als Instrument: Sie fordern dazu auf, einzuhalten und eines Abwesenden zu gedenken und können gezielt aufgesucht werden, um die Sehnsucht zu lindern. Welche Umstände könnten den Gebrauch von Erinnerungsobjekten bedingen? Ohne eine erschöpfende Antwort anzustreben, sollen hier erste Überlegungen genügen, die im nächsten Kapitel zu ergänzen sein werden. Beginnen wir mit dem Alter, in dem Erinnerungsobjekte verwendet werden, und überlegen sowohl, wie sich das relative Verhältnis der auf die Vergangenheit zu den auf die Zukunft bezogenen Objekten gestaltet, wie auch die mögliche Altersabhängigkeit der absoluten Intensität der Nutzung beider. Getrennt werden wir mögliche Alterseinflüsse auf die Bedeutung von Reliquien, d.h. für Andere stehende Objekte erörtern. Schließlich werden erste Überlegungen zu personspezifischen Bedingungen und Korrelaten der Verwendung von Erinnerungsobjekten anzustellen sein.

Alierseinfliisse auf die Nutzung autobiographischer Objekte Eine erste Vermutung könnte lauten, daß unter den autobiographischen Objekten einer Person auf die Vergangenheit bezogene Objekte umso stärker überwiegen, einen je größeren Teil der erwartbaren Lebensspanne die Person bereits hinter sich hat. Darüber hinaus kann vermutet werden, daß mit zunehmendem Alter auch die absolute Anzahl von Erinnerungsobjekten im engeren Sinne zunimmt und diese einen immer prominenteren Platz unter den persönlichen Objekten einnehmen. Dafür spricht die Bedeutung, die Erinnerungen für viele alte Menschen haben und die sie auch in Form persönlicher Objekte bei ihrem Tod an die Hinterbliebenen weiterreichen (Unruh, 1983). Sie haben seit Butler (1963) als Reminiszenzen Eingang in die Psychologie gefunden. Coleman (1986) unterstreicht jedoch, daß auch wenn das häufige Sich-Erinnern, sei es solitär oder erzählend, besonders typisch für das Alter ist, es doch große interindividuelle Unterschiede in dem Ausmaß gibt, in dem die Lebensgeschichte dabei aktiv integrierend rekonstruiert und evaluiert wird. Als Funktionen des Erinnerns nennt er als erstes die, die eigene Identität zu stabilisieren, sowie beim Lebensrückblick im Alter sich mit dem eigenen Leben zu versöhnen und kulturelles Wissen weiterzuvermitteln. Die Identitätsstabilisierung erfolgt gehäuft bei Übergängen wie dem

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V. Symbolische Bedeutungen

zum Altersheim (Lieberman & Falk, 1971) und dann oft durch die Schaffung einer Art persönlichen Mythos (Lieberman & Tobin, 1983). D o c h diese erste These stellt nicht in Rechnung, daß sich die Perspektive auf das eigene Leben nicht nur relativ zum bereits gelebten Leben verändert, sondern sich selbst erst als Teil des Selbstbewußtseins und der reflektierten Identität entwickelt. Also dürfte zweitens die Verwendung von Erinnerungsgegenständen von der Entwicklung des Blicks auf das eigene Leben abhängen. Die Psychologie hat das Thema des autobiographischen Gedächtnisses und des Entwurfs der eigenen Lebensgeschichte bislang erstaunlich vernachlässigt (zum Überblick Conway, 1990; Ross, 1991; Robinson, 1992). D o c h finden sich in der Literatur immerhin einige Anhaltspunkte. Das autobiographische Gedächtnis bestimmt sich im Unterschied zum allgemeinen Gedächtnis darüber, daß es sich auf zeitlich strukturiertes und datiertes Material, auf historisch lokalisierte Episoden bezieht sowie mit der Überzeugung verbunden ist, daß man selbst es erlebt hat. Nicht das semantische, sehr wohl aber das episodische Gedächtnis unterscheidet den Mensch vom Tier (Tulving, 1983). Während das semantische Gedächtnis sich bereits beim Säugling entwickelt, beginnt autobiographisches Erinnern erst im Laufe des 3. Lebensjahres. Eine Schwierigkeit in der Entwicklung des autobiographischen Gedächtnisses scheint darin zu liegen, besondere Episoden nicht mit den allgemeinen Repräsentationen von typischen Situationsabläufen, sogenannten Skripten zu vermengen (Nelson & Gruendel, 1981; Nelson & Hudson, 1988). In Monologen beginnen Kinder in diesem Alter, sich auf Ereignisse zu beziehen, die "nicht jetzt" stattfinden (Nelson, 1989b). D o c h mehr als ein einfacher Hinweis auf die Vergangenheit, nämlich das Zustandebringen einer rudimentären Geschichte, gelingt Kindern zwischen dem dritten und sechsten Lebensjahr allein in Interaktion mit Erwachsenen, die das Kind systematisch dabei unterstützen, erinnernd zu erzählen (Eisenberg, 1985; Miller & Sperry, 1988; Snow, 1991; Peterson & McCabe, 1994). Die Intention, gezielt zu erinnern, geht dabei noch vom Erwachsenen aus. Dazu paßt, daß Kinder erst zwischen dem sechsten und achten Lebensjahr lernen, autonom Geschichten in dem Sinne zu erzählen, daß sie nicht nur eine gleichberechtigte zeitliche Aneinanderreihung von Ereignissen zustande bringen, sondern auch einen, wenn auch noch primitiven, Spannungsbogen mit einem zu lösenden Konflikt und einer übergreifenden intentionalen Struktur (Sutton-Smith, 1986; Trabasso et al., 1992). Diese Abfolge entspricht Vygotskys Entwicklungsgesetz der sozialen Genese höherer mentaler Fähigkeiten und spezifisch Janets Auffassung von der Genese des Gedächtnisses aus dem Erzählen (1928). Diese Entwicklung wird von Nelson (1989a, 1992) als Erklärung für das Phänomen der kindlichen Amnesie angeführt. In der Tat reichen die frühesten Erinnerungen Erwachsener meist nur bis in das vierte Lebens-

6. Erinnern

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jähr (Kihlstrom & Harackiewicz, 1982; Wetzler & Sweeney, 1986; Pillemer & White, 1989; Usher & Neisser, 1993; Müllen, 1994). Nelson hält das autobiographische Gedächtnis fiir von dem Ende des Vorschulalters an ausgereift. Das widerspricht jedoch der Beobachtung vieler Autoren, die einen weiteren Entwicklungsschritt in der Adoleszenz lokalisieren. Er betrifft nicht mehr die Fähigkeit, einzelne Episoden aus dem eigenen Leben zu erzählen und erinnern, sondern die Fähigkeit, diese Episoden zu einer strukturierten Lebensgeschichte zu integrieren. So nennt Selman (1980) als Charakteristikum des Personenkonzepts auf Niveau 4, daß die Persönlichkeit nicht mehr nur als einfaches integriertes Ganzes begriffen wird wie auf Niveau 3 (s.o., 5.4), sondern aus der Integration mehrerer komplexer, unterschiedlich bewußtseinsfahiger Komponenten besteht. Erst Jugendliche verstehen, daß nichtbewußten Motive teilweise, aber eben auch nur teilweise durch Reflexion aufspürbar sind. Erst in dieser Entwicklungsphase gehört zum Verständnis von Persönlichkeit, daß sie auch über die bisherigen Erfahrungen einer Person, über ihre Lebensgeschichte verständlich wird (Selman, 1979, 98). Chandler und Kollegen (1987) legen eine ähnliche Entwicklungslogik für das Verständnis der Kontinuität mit sich selbst vor. In der vorletzten Phase ihrer fünfstufigen Entwicklungssequenz wird die persönliche Kontinuität so konstruiert, daß die Vergangenheit einer Person eine notwendige Voraussetzung für ihre aktuelle Persönlichkeit ist, und in der fünften und letzten Phase wird die Persönlichkeit als in einer möglichst kohärenten und umfassenden Lebensgeschichte aufgehend verstanden. Die beiden letzten Auffassungen von Persönlichkeit und ihrer Identität über die Zeit wurden in einer explorativen Studie nur von Jugendlichen genannt, die zugleich über eine formal-operationale kognitive Kompetenz verfügen (vgl. Rosenthal, 1995). Rees (1978) schließlich illustriert die Entwicklung des Verständnisses der eigenen Vergangenheit anschaulich anhand der Fallgeschichten von einem Vorschul-, einem Schulkind und einer Adoleszenten. McAdams (1985, 60) datiert den Beginn der Fähigkeit, die eigene Lebensgeschichte zu konstruieren, ebenfalls auf die Adoleszenz und weist dem Erwerb formal-operationaler Operationen eine ermöglichende Rolle zu. Cohler (1982) deutet umfassend die Konstruktion der Lebensgeschichte entwicklungspsychologisch. Mißverständlich macht er die Entwicklung der psychosozialen Identität i.S. Eriksons zur Voraussetzung für die Entwicklung einer reflektierten Lebensgeschichte (ebd., 212). Meines Erachtens gehören beide Prozesse derart zusammen, daß die Lebensgeschichte eine mögliche und wohl die umfassendste Form ist, die die Identität annehmen kann, nicht aber die einzige. Zugleich datiert Cohler den Beginn einer gezielten Erinnerungstätigkeit und Beschäftigung mit der eigenen Lebensgeschichte in die Adoleszenz. Schließlich ist eine kognitive Entwicklung, die zu der Fähigkeit, ab der Adoleszenz

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V. Symbolische Bedeutungen

Lebensgeschichten zu konstruieren, beitragen mag, das erst dann sich vollends entwickelnde Verständnis für Metaphern (Marschark & Nall, 1985) und symbolische Geschichtenverständnis (Jepson & LabouvieVief, 1992). Auch wenn erstaunlicherweise keine systematischen Untersuchungen vorliegen, spricht doch vieles dafür, daß man erst in der mittleren bis späten Adoleszenz beginnt, sich Gedanken darüber zu machen, wie man zu dem geworden ist, der man ist, also selbstreflexiv die eigene Lebensgeschichte zu konstruieren. Daraus läßt sich die Vermutung ableiten, daß Erinnerungsobjekte, wie wir sie oben definiert hatten, nämlich als primär der Erinnerung dienende Objekte, gehäuft erst ab der mittleren bis späten Adoleszenz genutzt werden. Gleichzeitig mit dem beginnenden Sinn für die eigene Geschichte wächst der Sinn für die eigene Zukunft und ihre Planbarkeit, die Beschäftigung mit möglichen zukünftigen Identitäten (Cohen, 1982). Zugleich befinden sich Jugendliche in unserer Gesellschaft in einer Phase des psychosozialen Moratoriums, während dessen sie sich sozial noch nicht festlegen müssen, so daß sie experimentieren können. Dazu gehören Probehandlungen in der Realität, aber auch allein im Denken. Die auf zukünftige Identitäten zielenden Handlungsimpulse sind gehemmt und deshalb auf Reflexion und Phantasie verwiesen, da zum einen Jugendlichen erwachsene Identitäten noch verwehrt bleiben, und zum anderen die Wünsche noch so wenig mit der Realität vermittelt sind, daß sie einen größtenteils phantastischen Charakters haben. Sobald Zukunftsträume beginnen umgesetzt oder enttäuscht zu werden und sich die psychosoziale Identität des Individuums durch Lebensentscheidungen zu festigen beginnt, dürfte die Rolle von Zukunftsträumen und entsprechenden Objekte abnehmen, da die Möglichkeiten, die eigene Zukunft handelnd zu beeinflussen, wachsen und sich der denkbare Spielraum durch diese Entscheidungen verengt. Fassen wir den zweiten Gesichtspunkt thesenförmig zusammen: Da erst ab der Adoleszenz eine ausgedehnte Perspektive auf die eigene Vergangenheit und Zukunft eingenommen werden kann, bildet die Adoleszenz eine Schwelle für die Verwendung von solchen Erinnerungsobjekten, die auf die biographische Vergangenheit bzw. Zukunft verweisen. Ergänzen wir die bisherigen Überlegungen durch die motivationale Annahme, daß die Adoleszenz diejenige Lebensphase ist, in der das Individuum am intensivsten an seiner Identität arbeitet, sie erstmals reflektiert und sich erarbeitet, dann spricht dies dafür, daß die Adoleszenz nicht nur eine Schwelle, sondern zugleich ein erster Höhepunkt der Verwendung von autobiographischen Objekten darstellt. Als dritter Faktor dürfte das durchaus lebensalterabhängige Ausmaß, in dem die Person in Handlungskontexte eingebunden ist und über wieviel Muße sie mithin verfügt, die Intensität der Nutzung von symbolischen Objekten negativ beeinflussen. Dieser Faktor läßt für die Adoles-

6. Erinnern

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zenz und das Alter eine häufigere Nutzung von Erinnerungsobjekten erwarten. Kombinieren wir nun die drei Gesichtspunkte, läßt sich für die gesamte Lebensspanne erwarten, daß a) die absolute Nutzung autobiographischer, vergangenheits- wie zukunftsbezogener Objekte in der Adoleszenz erst so recht beginnt und zugleich einen ersten Höhepunkt erreicht. Mit Stabilisierung einer Grundidentität und zunehmenden Einbindung in Rollenpflichten dürfte sie wieder absinken und erst langsam mit zunehmendem Alter erneut steigen und gegen Lebensende einen zweiten Höhepunkt erreichen; b) das Verhältnis von auf die Vergangenheit und auf die Zukunft weisenden Objekten sollte sich aufgrund des ersten Gesichtspunktes zusehends zugunsten jener verändern.

Alterseinflüsse auf die Nutzung von Reliquien und verbindende Objekte Etwas anders dürfte es um Reliquien stehen, Objekte, die eine andere Person vertreten oder mit ihr verbinden. Verbindende Objekte spielen von frühester Kindheit an eine Rolle, wie wir im nächsten Kapitel sehen werden. Doch kindliche Bindungsobjekte werden nicht bewußt ausgewählt, um eine Verbindung zu symbolisieren. Deshalb ist es wahrscheinlich, daß explizit als Reliquien und als symbolisch verbindende Objekte verstandene Dinge kaum vor der Adoleszenz verwendet werden. Die seltenen Reliquien von Kindern verweisen auf einen zweiten Faktor, nämlich auf die Anzahl und Schwere der vom jeweiligen Individuum erlittenen Trennungen von signifikanten Anderen. Personen, die schwere Verluste zu erleiden hatten, dürften in besonderem Ausmaß dazu disponiert sein, Reliquien und verbindende Objekte zu benutzten. Als besonders schwere Verluste sind Tod und erzwungene Trennung von den Eltern während der Entwicklungsjahre anzusehen sowie, im späteren Leben der Tod eines Partners oder Kindes, mit anderen Worten Trennungen von den signifikanten Bindungspersonen. Doch auch das Erleben von Verlusten und Trennungen ist zum Teil wiederum mit der Normalbiographie und somit dem Alter verbunden. Eine biographisch erwartbare Trennung in der ersten Lebenshälfte ist einmal die vom Elternhaus. Sie konkretisiert sich jedoch nur, wenn es zu einem Umzug, vielleicht gar in eine entferntere Stadt kommt, der dann weitere Trennungen von Freunden und der gewohnten Umgebung mit sich bringt. Auch ohne Umzug schließlich kann es zu Trennungen von ersten und späteren Geliebten kommen. Eine erste Häufung überdauernder Trennungen ist in den meisten Kulturen also in der Spätadoleszenz zu erwarten, wenn der oder die Jugendliche das Elternhaus und vielleicht auch die Heimatstadt verläßt. An vergangene oder entfernte Andere erinnernde Objekte dürften mithin einen ersten Höhepunkt in der Adoleszenz finden, dann abnehmen und im weiteren Verlaufe des Lebens

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V. Symbolische Bedeutungen

durch die langsam wachsende Anzahl von verstorbenen Bezugspersonen (oder ausgezogenen Kindern) wieder wachsen. Unterscheidet man noch einmal zwischen Objekten, die sich auf endgültige und solchen, die sich auf temporäre Trennungen beziehen, dann dürften jene diese im höheren Alter zu überwiegen beginnen. Für die Nutzung und Bedeutung von Reliquien und verbindenden Objekten lassen sich also ebenfalls lebensalterspezifische Erwartungen formulieren. Informelle Evidenz für den Gebrauch von symbolischen Objekten in der Adoleszenz nennt Zinnecker (1983, 116, 201). In einer Interviewstudie mit Jugendlichen über ihre Accessoires nannten diese u.a. Erinnerungsobjekte. Manche konstruieren sich einen wahren Reliquienaltar, während andere eher unauffällig Andenken in ihrem Zimmer verstreut haben. Es werden u.a. zwei alte Bilder von sich selbst genannt, Stofftiere, Urlaubsfotos, auch Reliquien und verbindende Objekte wie

Ringe, ein Lederband mit Porzellananhänger und Schmuck. Es bleibt noch eine Annahme zu explizieren, die bislang stillschweigend gemacht wurde und die es ermöglichte, Ergebnisse der allgemeinen Gedächtnisforschung auf unser Thema zu übertragen, nämlich die, daß sich die Häufigkeit des spontanen Erinnerns unmittelbar in die Verwendung entsprechender Erinnerungsobjekte übersetzt. Redfoot und Back (1988) weisen daraufhin, daß diese Annahme nicht ohne weiteres zutreffen muß. In ihrer Untersuchung persönlicher Objekte zeigte sich beispielsweise, daß religiöse Frauen ihre Erinnerungen nicht an Dinge hefteten, sondern darauf beharrten, daß irdische Güter ihnen nichts bedeuteten. Aber außer unterschiedlichen persönlichen Tendenzen, überhaupt Wert auf persönliche Objekte zu legen, spricht erstmal wenig für weitere systematische Einflußfaktoren auf die Übersetzung von spontanem Erinnern in Erinnerungsobjekte.

Personspezifische

Determinanten

Sind über die bisher genannten Determinanten hinausgehende Erwartungen formulierbar, welche Personen eine Disposition zur Nutzung von symbolischen Objekten entwickeln und welche nicht? Kehren wir zu der bislang unwidersprochenen These von der nostalgischen Funktion antiker und exotischer Objekte zurück, die sich auf alle anderen symbolischen Objekte übertragen ließe. Denn auch auf persönliche Erinnerungen und auf signifikante Andere verweisende symbolische Objekte lassen sich nostalgisch verwenden, und das würde heißen, als Medium der Flucht aus der aktuellen Realität in eine erstarrte Scheinwelt. Ein solches repetitives und erstarrtes Ausweichen kontrastiert mit einer auf das Finden von Lösungen ausgerichteten Reflexion mit einer progressiven Funktion für das Handeln. Nostalgischer Dinggebrauch spricht entweder a) für die (erlebte) Ohnmacht des Individuums in ihrer

7. Symbolische Funktionen

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aktuellen Handlungssituation und ihre Tendenz, dies im Modus des Tagträumens zu kompensieren, oder, spezifischer, b) im Falle von Erinnerungsobjekten, für die Ohnmacht angesichts eines unverarbeiteten Verlusts, zu dem sie wie unter Wiederholungszwang immer wieder zu ihm zurückkehren muß. Doch im Anschluß an die Diskussion von exotischen und antiquarischen Objekten hatten wir überwiegend progressive Funktionen von symbolischen Objekten genannt, mit Ausnahme der These von Kuntz, daß Objekte dazu dienten, aus der öffentlichen Rede verbannte Elemente der Biographie zu markieren. Doch nicht aller Gebrauch von symbolischen Objekten muß, wie es Baudrillard und Stewart nahelegen, zur Nostalgie erstarren und Erinnerungsobjekte können, müssen aber nicht ausgeschlossene, abgespaltene Elemente der Biographie vertreten. Als ein personspezifischer Faktor für das autobiographische Gedächtnis konnte das Ausmaß der Offenheit gegenüber neuen Erfahrungen ermittelt werden: erfahrungsoffene Personen erinnern mehr und rezentere Episoden sowie etwas langsamer als Personen, die sich gegenüber Neuem eher verschließen (Sperbeck, Whitbourne & Hoyer, 1986). Einen dritten personspezifischen Faktor, der die Nutzung von Erinnerungsobjekten beeinflussen könnte, haben wir bereits erwähnt, nämlich das Ausmaß der individuell erfahrenen Verluste und Trennungen. Dies sind wenige und unbefriedigend bleibende erste Thesen zu individuellen Determinanten der Verwendung von Erinnerungsobjekten. Es bleibt dem nächsten Kapitel vorbehalten, hierzu systematischere Hypothesen zu entwickeln.

7. Symbolische Funktionen persönlicher Objekte "Die Integration und Konturierung der Persönlichkeit sind Prozesse, die sich im wesentlichen unbewußt vollziehen, die aber bei jedem Menschen unter Leistung bewußter seelischer Arbeit - Reflexion, Anschauung, Phantasie - sich vollenden und fixieren. [...] Nichts fördert die Selbstauffassung so sehr wie die Selbstdarstellung" (Bernfeld, 1931, 36)

Dieses Kapitel über symbolische Funktionen persönlicher Objekte hat sich bereits über Gebühr ausgedehnt, so daß ich es abschließend nicht eigens zusammenfassen werden, zumal in den einzelnen Abschnitten bereits Rückbezüge und Resümees erfolgten. Vielmehr sollen quer zu den

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V. Symbolische Bedeutungen

Abschnitten des Kapitels einige integrierende Gesichtspunkte aufgegriffen bzw. ergänzt werden, nämlich die zum Eingang des Kapitels genannten fünf Fragen. Zuerst nenne ich einige analytische Unterscheidungen zwischen verschiedenen Typen symbolischer Funktionen und Typen persönlicher Objekte, wobei die Klasse von Dingen, die als Medien dienen, hier ergänzt wird (7.1 - Frage 5); dann werden die von symbolischen Objekten angesprochenen und aktivierten psychischen Prozesse erneut genannt und auf das Konstrukt der Perspektivenübernahme bezogen sowie auf ihre Funktion für die Stabilisierung der Identität hin geprüft (7.2 - Fragen 1 und 2); schließlich nenne ich knapp noch einmal die Grundzüge jener Situationen, in denen persönliche Objekte zur Selbstdarstellung, zum Nachdenken und zum Erinnern eingesetzt werden (7.3 - Fragen 3 und 4).

7.1 Einige Grundbestimmungen persönlicher Objekte Wesentliche Ordnungsgesichtspunkte für persönliche Objekte sind in diesem Kapitel zur Sprache gekommen, die ich erneut aufführen und ergänzend erläutern möchte. Die Gesichtspunkte sind: 1. Gebrauchsgegenstände versus symbolische Objekte; personifizierte Objekte und Medien; 2. Bezug auf Perspektive der zweiten oder ersten Person; 3. Symbolische Referenz auf Alter oder Ego; 4. Öffentlichkeit versus Privatheit der symbolischen Bedeutung; 5. Dyadische versus triadische Beziehung zu Objekt. 1. Dinge habe ich unterteilt in primär praktischen Zwecken dienende Gebrauchsgegenstände und primär symbolische Objekte. Jene können zusätzlich zu ihren auf ihre Verwendung bezogenen Bedeutungen sekundär weitere symbolische Bedeutungen annehmen, die in der Folge überhand nehmen können; wenn der Gegenstand ausrangiert wurde, mag er sich in ein nur mehr symbolisches Objekte verwandeln. Diese grobe Einteilung kann weiter spezifiziert werden. Erstens stellt das personifizierte Objekt eine Sonderform symbolischer Objekte dar, da es mehr eine Perspektive symbolisiert als daß es spezifisch auf ein Drittes verwiese. Zweitens passen Pflanzen und Tiere nicht zu der grundlegenden Unterscheidung von Personen und Dingen. Da sie nicht über Sprache verfugen, sie keine oder nur minimale Rechte genießen und da sie vor allem oft ähnlich Dingen als persönliche Objekte gewählt werden, zähle ich sie hier als Grenzfall zu ebendiesen. Tiere erfüllen dabei meist eine Rolle, die der personifizierter Dinge am nächsten kommt.

7. Symbolische Funktionen

295

Drittens haben wir bislang eine Gruppe von Gegenständen noch nicht erwähnt, die zwar Gebrauchsgegenstände sind, deren praktische Funktion aber dennoch darin besteht, Kommunikation zu ermöglichen. Da sie wegen ihrer Zwischenstellung bislang nicht zur Sprache kamen, gehe ich hier kurz auf sie ein. Wie bei anderen Gebrauchsgegenständen auch liegt ihre primäre Bedeutung in ihrer praktischen Funktion, im Unterschied zu anderen Gebrauchsgegenständen dienen sie aber dennoch der Kommunikation, das heißt der Vermittlung von Symbolen. Diese Kommunikationsmedien lassen sich ihrerseits unterteilen in solche, die eine wechselseitige Kommunikation ermöglichen, und solche, bei denen der Informationsfluß nur in eine Richtung fließt. Das im Alltag wichtigste Medium, das eine wechselseitige Kommunikation ermöglicht, ist das Telefon. Die funktionale Bedeutung des Telefons ist die, mit anderen in Kontakt zu sein, sei es, sie erreichen zu können, sei es, erreichbar zu sein. Seine Funktion überwiegt bei weitem die Bedeutung, die es als materielles Ding hat, da es wenig individuell ist, den Sinnen kaum Reize bietet und darüber hinaus, jedenfalls bis vor kurzem, standardisiert von der Post geliefert wurde und ihr Eigentum blieb. Seine Funktion erfordert es geradezu, daß es selbst in den Hintergrund tritt und bei der Kommunikation nicht störend auffällt. Dennoch kann auch das Telefon symbolische Bedeutungen annehmen, die nicht an seiner Funktion anknüpfen, so das mobile Funktelefon die eines Statussymbols. Nur mit zeitlicher Verzögerung erlauben weitere Medien wie der Brief oder das Fax Kommunikation in zwei Richtungen. Eine exklusiv einseitige Kommunikation erlaubende dingliche Medien dienen gewöhnlich der Massenkommunikation. Dazu gehören zuvorderst Radio- und Fernsehapparat, die das Individuum mit der weiteren Welt passiv verbinden, es über den Gang der Dinge unterrichten, sowie die Druckmedien wie Zeitungen. Wiederum persönlicher, wenn auch immer noch lediglich einseitige Kommunikation erlaubend, sind Medien, die Informationen weniger aktuell übermitteln als aufbewahren und jederzeit der Person zur Disposition stellen. Hier sind in erster Linie Bücher zu nennen, aber auch Abspielgeräte wie Plattenspieler, Tonband- und Videogerät bzw. die respektiven Informationsträger wie Platten und Bänder. Bei diesen als Medien dienenden Gegenständen kann auch die Ausstattung der Gegenstände selbst eine Rolle spielen: Ob man das Taschenbuch überallhin mitnehmen kann oder der Klassiker einen schönen Ledereinband hat oder gar ein Erstdruck ist, ob das Tonbandgerät einen guten Ton hat oder man überall ungestört mit dem Walkman Musik hören kann. Doch auch bei diesen persönlicheren als Medien fungierenden Gegenständen treten diese selbst meist hinter ihre Funktion zurück. Medien unterscheiden sich von symbolischen Objekten also dadurch, daß sie transparent sind für viele verschiedene Aussagen, die sie transportieren können, meist ohne dabei selbst primär als Zeichen zu fungie-

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V. Symbolische Bedeutungen

ren. Medien können als kontakterleichterndes Medium zum persönlichen Objekt werden, oder sie werden als Träger spezifischer Daten auch wegen ebendieser gewählt, so wie bestimmte Bücher, alte Briefe oder Tagebücher. 2. Objekte unterscheiden sich hinsichtlich ihres Bezuges zu den Perspektiven der eigenen und der anderen Person. Identitätsobjekte sind symbolische Attribute der sie tragenden Person, eine Selbstattribuierung, eine Aussage über sich selbst. Der Selbstkommunikation dienende Reflexionsobjekte sind keine einer Perspektive zuzuordnende Aussagen, sondern symbolisieren die Perspektive selbst; entweder sie spiegeln die Handlungen der Person oder diese kann sich die Aussagen des durch das Objekt repräsentierten Anderen beliebig vorstellen. Souvenirs und Reliquien können als Aussagen verstanden werden, die von einer räumlich oder zeitlich entfernten Perspektive ausgehen und auf diese verweisen. Je mehr Reliquien ihren Zeichencharakter verlieren und selbst an die Stelle der abwesenden Person treten, umso mehr fungieren sie als Symbole (der Perspektive) des Individuums selbst (s. Tabelle 5.1, 1. Spalte).

Tabelle 5.1

Bedeutungsweisen symbolischer Objekte Perspektive

Objekt Privatheit d.Aussage d. Bedeutung

1. Identitätsobjekte

Aussage in erster Person

selbst

öffentlich bis privat

2.phys.Refl.objekte

Perspektive eines Anderen

-

öffentlich

symbol.Refl.obj.

Perspektive eines Anderen

-

öffentlich bis privat

3. Souvenirs & Reliquien als Symbole

Aussage in zweiter Person

Reliquien als Ersatz

Perspektive eines Anderen

selbst, öffentlich bis privat sign. Andere oder Orte öffentlich bis privat -

3. Symbolische Objekte können auf die eigene Person oder einen signifikanten Anderen verweisen. Bereits Bernfeld (1931, 18) traf diese Unterscheidung und bezeichnete die selbstbezüglichen Objekte mißverständlich als Reliquien, die alterbezüglichen Objekte als Fetische (ich werde weiter an den eingeführten engeren Bedeutungen dieser beiden Worte festhalten). Identitätsobjekte verweisen auf die eigene Person, während (symbolische) Reliquien immer auf einen Anderen verweisen. Souvenirs weisen nicht eindeutig nur einen der beiden Bezüge auf; sie verweisen auf die eigene Vergangenheit und damit einen selbst sowie meist auch

7. Symbolische Funktionen

297

zugleich auf involvierte signifikante Personen und Orte. Doch ist im Falle eines spezifischen persönlichen Objekts die Zuweisung entweder eines Selbst- oder eines Anderenbezugs meist nicht eindeutig möglich. Erinnerungsobjekte verweisen fast immer zugleich auf die eigene wie andere Personen, und für andere Personen stehende Objekte verweisen zugleich auf eine Aufhebung der Trennung und damit das Zusammensein von E g o und Alter (s. Tabelle 5.1, 2. Spalte). 4. Weiterhin können symbolische Objekte danach unterschieden werden, wie weit ihre Bedeutungen öffentlich geteilt sind. Identitätsobjekte müssen über eine Bedeutung verfugen, die von einem Addressatenkreis geteilt wird. Physische Reflexionsobjekte spiegeln allein sinnlich Wahrnehmbares, das die Person ebenfalls mit den Augen eines Anderen mißt und deshalb in seiner öffentlichen Bedeutung. Symbolische Reflexionsobjekte, Souvenirs und Reliquien hingegen haben neben öffentlichen meist auch private Bedeutungen, die einem Uneingeweihten nicht unmittelbar zugänglich sind (s. Tabelle 5.1, 3. Spalte). 5. Eingangs hatte ich symbolische Objekte und Instrumente von den meisten in den vorigen Kapiteln besprochenen Objekten dadurch unterschieden, daß sie zwischen Mensch und Umwelt vermitteln, also eine triadische Beziehung erlauben. Es zeigte sich jedoch, daß manche symbolischen Objekte nicht primär auf etwas Drittes verweisen, sondern selbst als ein Anderes, ein Gegenüber genommen werden (personifizierte Objekte; Reliquien, die einen Ersatzcharakter annehmen). Auf die Unterscheidung zwischen einer dyadischen und einer triadischen Beziehung zwischen Person und persönlichem Objekt, der Funktion, eine Person quasi zu ersetzen, und der, sie lediglich zu symbolisieren, werden wir im nächsten Kapitel zurückkommen. Bei den soeben genannten Unterscheidungen handelt es sich um analytische Trennungen, bei den Beschreibungen von Objekttypen um Idealisierungen, die sich empirisch nicht in Reinform wiederfinden, da persönliche Objekte sich gerade durch ihre praktische und vor allem symbolische Bedeutungsoffenheit (s.o., 1.5) sowie ihre Multifunktionalität und motivationale Polyvalenz (Bedeutungsplastizität) auszeichnen (s. 4.Kap.). Da bisher immer wieder bestimmten Dingen typische Funktionen zugewiesen wurden, kann die grundlegende Multifunktionalität und Polyvalenz gerade persönlicher Objekte leicht in Vergessenheit geraten. Deshalb sei hier ein einziges Beispiel genannt, das des Autos, um dieses fundamentale Charakteristikum erneut zu veranschaulichen. Ein A u t o ist ein Gebrauchsgegenstand, das dem schnelleren Transport einer bis mehrerer Personen dient. Gewöhnlich gehört es einer Person oder Familie, meist über Jahre hinweg, und kostet eine gewisse Menge Geld bei der Anschaffung wie beim Unterhalt, was dem Auto zugleich anzusehen ist. Doch das Auto gewinnt meist sehr viel mehr Bedeutungen als die eines transporterleichternden Instruments. Schon die eng an der Art und

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V. Symbolische Bedeutungen

Weise, wie es seine Funktion erfüllt - nämlich als individuelles Verkehrsmittel -, angelehnte Bedeutung von Autonomie geht über das allein Praktische hinaus, generalisiert eine spezifische erleichternde Funktion zu der Erhöhung der Handlungspotenz der Person (Identitätsaspekt #4). Das Auto erschließt geographische Weiten und Höhen, die zu erobern sind. Das Auto potenziert die motorischen Fähigkeiten des Fahrers, er kann sich an der Geschwindigkeit berauschen, die sein Körpergefühl intensiviert. Das Auto bietet einen geschlossenen privaten Raum, in dem man sich sicher durch die nächtliche Stadt bewegen kann und sich damit den Abend erschließt; es bietet einen ungestörten Raum zum Nachdenken-, und mangels Alternativen bietet es Raum für nächtliche (da zwar abgeschlossen, aber transparent) Intimitäten. Das Auto fungiert meist auch als Status- und Identitätssymbol, es verweist auf Geld, Geschlecht, Alter, Geschmack und subkulturelle Orientierung. Nicht selten wird das Vehikel Auto zum Begleiter des Fahrers, das bald Züge einer eigenen Person annimmt und nicht selten gar getauft wird. Schließlich verknüpfen sich Erinnerungen mit den meisten Autos; sie können an vormalige Besitzer (beispielsweise die verstorbene Mutter) erinnern, sie eignen sich zur Datierung von Ereignissen ("Als wir noch den Borgward hatten"), und sie erinnern an mit und in ihnen, allein und mit anderen gemachte Erfahrungen. Schließlich können sie auch auf realistischere und weniger realistische Zukunftsentwürfe verweisen, den Wunsch, Automechaniker oder Rennfahrer zu werden, oder der Kauf bereitet den nahenden Berufsantritt vor, für den man ein Auto braucht. Exklusiv symbolische Funktionen erfüllt das Auto, wenn es nicht zum Fahren verwendet wird, sondern allein repräsentativ vor der Haustüre steht, nostalgisch als Wrack in der Garage überlebt, in Form eines amerikanischen Straßenkreuzers als Teil eines Kunstwerks einen Verkehrskreisel am Berliner Rathenauplatz schmückt oder in Figur eines pazifistischen verrosteten und rosa bemalten Kleinbaggers den einst stolz in die Luft ragenden T 40 der Roten Armee am ehemaligen Grenzkontrollpunkt Dreilinden ersetzt.

7.2 Mechanismen und Funktionen: Perspektivenübernahme und Identität Symbolische Objekte sprechen die grundlegende menschliche Fähigkeit zur Perspektivenübernahme an. In einem, wie hier geschehen, weiten Sinne verstanden, ermöglicht sie das Verstehen von Symbolen (D.a). Spezifischer verstanden ist sie eine spätere ontogenetische Entwicklung und ermöglicht es, sich in andere hineinzuversetzen und deren Blick auf einen selbst zu konstruieren (öffentliche Symbolverwendung). Dabei

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7. Symbolische Funktionen

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