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German Pages 668 [676] Year 1999
Geistesleben im 13. Jahrhundert
W DE G
Miscellanea Mediaevalia Veröffentlichungen des Thomas-Instituts der Universität zu Köln
Herausgegeben von Jan A. Aertsen
Band 27
Geistesleben im 13. Jahrhundert
Walter de Gruyter · Berlin · New York
2000
Geistesleben im 13. Jahrhundert
Herausgegeben von Jan A. Aertsen und Andreas Speer
Für den Druck besorgt von Frank Hentschel und Andreas Speer
Walter de Gruyter · Berlin · New York 2000
Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme Geistesleben im 13. Jahrhundert / hrsg. von Jan A. Aertsen und Andreas Speer. - Berlin ; New York : de Gruyter, 2000 (Miscellanea mediaevalia ; Bd. 27) ISBN 3-11-016608-9
ISSN 0544-4128 © Copyright 1999 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechdich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz und Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer, Berlin
Vorwort Wie kaum ein anderes prägt das 13. Jahrhundert das allgemeine Bild vom Mittelalter. Auch in den gegenwärtigen Debatten um das Selbstverständnis der mittelalterlichen Philosophie kommt dem 13. Jahrhundert eine Schlüsselstellung zu. Zwei Kölner Jubiläen verdeutlichen das Gesagte: 1998 war das 750. Jubiläumsjahr der Gründung des Studium generale Coloniense der Dominikaner, dessen Gründungsregens kein geringerer als Albertus Magnus war, sowie der Grundsteinlegung zum gotischen Chor des Kölner Domes. Auch wenn diese Jubiläen nicht im Mittelpunkt standen, so war das Generalthema der 31. Kölner Mediaevistentagung, die vom 8. bis 11. September 1998 in der Universität zu Köln stattfand, gleichwohl dem 13. Jahrhundert gewidmet. Mehr als 200 Mittelalterforscher der verschiedensten Disziplinen aus über 20 Ländern, darunter erneut eine namhafte Zahl aus Mittel- und Osteuropa, kamen auf Einladung des Thomas-Instituts zusammen, um die durch das Tagungsthema vorgegebenen systematischen und historischen Fragestellungen zu erörtern und neue Perspektiven für die Mittelalterforschung aufzuzeigen 1 . Diesen Anspruch hatten die Veranstalter in der Formulierung des Tagungsthemas ausdrücklich erhoben: „Geistesleben im 13. Jahrhundert — Neue Perspektiven". Im Titel des vorliegenden 27. Bandes der Miscellanea Mediaevalia, der über die in den zwölf Sektionen gehaltenen Vorträge hinaus weitere Beiträge umfaßt, welche die Diskussion ergänzen und weiterführen, fehlt der zweite Teil des Tagungsthemas. Was für eine Tagung als herausfordernde These seine Berechtigung hat, sollte mit Blick auf die publizierten Ergebnisse dem Urteil des Lesers, nicht der Herausgeber anheimgestellt bleiben. Diese haben gleichwohl versucht, in einleitenden Beiträgen auf einige solcher Perspektiven hinzuweisen, die in den zehn Themenschwerpunkten dieses Bandes weiter ausgefaltet werden. Bei der Auswahl der Beiträge und ihrer Verknüpfung zu Themenbereichen kann es nicht um ein vollständiges Bild des 13. Jahrhunderts gehen — dieses wird bei den Kölner Mediaevistentagungen nicht zuletzt durch die Themenvorschläge der Referenten mitbestimmt —, wohl aber um die Signifikanz der historischen und systematischen Vermittlung. Angesprochen werden Fragen zur Erkenntnistheorie und praktischen Philosophie, zur Deutschen Dominikanerschule und zum Selbstverständnis der Artes-Magi1
Cf. A.Speer, Geistesleben im 13.Jahrhundert - Neue Perspektiven. Tagungsbericht über die 31. Kölner Mediaevistentagung vom 8. bis 11. September 1998, in: Bulletin de philosophic medievale 40 (1998), 9 1 - 9 9 .
VI
Vorwort
ster — wie die Pariser Verurteilungen von 1277 Ausgangspunkt zahlreicher historiographischer Neuansätze in der jüngeren Mittelalterforschung —, zum Verständnis von Philosophie und Theologie sowie von Theologie und Kirche, ferner zur Frage von Häresie und Literatur sowie zur Entwicklung in den Künsten, zu Bildung und Erziehung, schließlich zum Aufeinandertreffen der Kulturwelten. Auf diese Weise soll ein Beitrag zum Verständnis der intellektuellen Physiognomie eines Jahrhunderts geleistet werden, die auf signifikante Weise durch den Versuch einer synthetischen Verstehensleistung gegenüber den vielfältigen Einflüssen und Traditionen geprägt ist. Abschließend gilt es an dieser Stelle Dank zu sagen für vielfältige Unterstützung, die auch die 31. Kölner Mediaevistentagung erfahren hat. Zu den unabdingbaren Voraussetzungen für einen lebendigen Forschungsaustausch zwischen Gelehrten aus unterschiedlichen mediävistischen Fachdisziplinen und aus verschiedensten Ländern zählt die finanzielle Förderung, die unserer Tagung auch dieses Mal wiederum von verschiedener Seite zuteil geworden ist. Unser Dank gilt namentlich der Deutschen Forschungsgemeinschaft, dem Ministerium für Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen sowie der Rudolf Siederleben'schen Otto Wolff Stiftung, ferner der Stiftung Deutsch Amerikanisches Akademisches Konzil (DAAK) / German American Academic Council Foundation (GAAC), die im Rahmen des TransCoop-Programms ein Forschungsprojekt unter dem Titel „After the Condemnations of 1277 - the University of Paris in the Last Quarter of the Thirteenth Century" zwischen dem Thomas-Institut und dem Medieval Institute der University of Notre Dame fördert 2 . Herzlich gedankt sei ferner dem Prorektor der Kölner Universität Prof. Dr. Erland Erdmann, der in Vertretung des Rektors Prof. Dr. Jens Peter Meincke die Teilnehmer der Mediaevistentagung zu einem Abendempfang in den Alten Senatssaal der Universität zu Köln bat. In diesem Zusammenhang gilt unser Dank auch allen Mitarbeitern der Universität zu Köln, deren Hilfe wir stets großzügig in Anspruch nehmen konnten. Einen besonderen Akzent erhielt die Mediaevistentagung durch die Einladung zur Vorpremiere der Ausstellung „750 Jahre Studium generale Coloniense" im Kölnischen Stadtmuseum. Wir danken den Veranstaltern, insbesondere Pater Dr. Walter Senner OP, der sich mit einer wie stets überaus kenntnisreichen Führung von Köln nach Grottaferrata verabschiedete. Vorbereitung und Durchführung der 31. Kölner Mediaevistentagung lagen wie in den vorausliegenden Jahren in den bewährten Händen der Mitarbeiter des Thomas-Instituts. An dieser Stelle möchten wir allen Kollegen und Mitarbeitern sehr herzlich für ihren engagierten Einsatz und für die vielfältige 2
Cf. K. Emery, Jr. / Α. Speer, After the Condemnations of 1277: The University of Paris in the Last Quarter of the Thirteenth Century. A Project between the Medieval Institute (Notre Dame) and the Thomas-Institut (Köln), in: Bulletin de philosophie medievale 38 (1996), 119-124.
Vorwort
VII
Unterstützung danken. Auch bei den redaktionellen Arbeiten für den vorliegenden Band der Miscellanea Mediaevalia konnten wir auf die zuverlässige Unterstützung der Mitarbeiter des Thomas-Instituts rechnen. Ihnen gilt unser Dank, namentlich Herrn Hermann Hastenteufel Μ. Α., der erneut für das Register verantwortlich zeichnet, sowie insbesondere Dr. Frank Hentschel für die Mithilfe bei der Drucklegung dieses Bandes. Es bleibt der Dank an den Verlag Walter de Gruyter, namentlich an Frau Dr. Gertrud Grünkorn und an Frau Grit Müller, in deren Händen die wie stets umsichtige Betreuung des 27. Bandes der Miscellanea Mediaevalia lag. Köln, im Juli 1999
Jan A. Aertsen Andreas Speer
Inhaltsverzeichnis
J A N A . AERTSEN — ANDREAS SPEER
Vorwort
V
Zur Einleitung (Köln) Geistesleben im 13. Jahrhundert — Neue Perspektiven? J A N A . AERTSEN (Köln) Mittelalterliche Philosophie — ein unmögliches Projekt? Zur Wende des Philosophieverständnisses im 13. Jahrhundert ANDREAS SPEER
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I. Erkenntnis: epistemologische und anthropologische Aspekte (Ottawa) Was There Ever a „First Averroism"? THEODOR W . KÖHLER (Salzburg) Philosophische Selbsterkenntnis des Menschen. Der Paradigmenwechsel im 13. Jahrhundert BURKHARD MOJSISCH (Bochum) Konstruktive Intellektualität. Dietrich von Freiberg und seine neue Intellekttheorie STEPHEN F. BROWN (Boston) The Medieval Background to the Abstractive vs. Intuitive Cognition Distinction B . CARLOS BAZÄN
31
54
68
79
II. Willensfreiheit und praktische Vernunft (Hannover) Absoluter Wille versus reflexive Vernunft. Zur theologischen Anthropologie der mitderen Franziskanerschule FRAN^OIS-XAVIER PUTALLAZ (Fribourg) Entre grace et liberte: Pierre de Jean Olivi GÜNTHER MENSCHING
93 104
χ
Inhaltsverzeichnis
(Tours) Scintilla synderesis. Pour une auto-critique medievale de la raison la plus pure en son usage pratique ROBERTO LAMBERTINI (Macerata) Von der iustitia generalis zur iustitia legalis. Die Politisierung des Gerechtigkeitsbegriffes im 13. Jahrhundert am Beispiel des Aegidius Romanus CHRISTIAN TROTTMANN
116
131
III. Albertus Magnus und die Deutsche Dominikanerschule (Köln/Grottaferrata) Albertus Magnus als Gründungsregens des Kölner Studium generale der Dominikaner PIETER DE LEEMANS (Leuven) The Discovery and Use of Aristotle's „De Motu Animalium" by Albert the Great R U T H M E Y E R (Bonn) Eine neue Perspektive im Geistesleben des Jahrhunderts: Plädoyer für eine Würdigung der Organon-Kommentierung Alberts des Großen NIKLAUS LARGIER (Chicago) Die .Deutsche Dominikanerschule'. Zur Problematik eines historiographischen Konzepts
WALTER SENNER O P
149 170
189 202
IV. Zum Selbstverständnis der Artesmagister (Fribourg) Von den „beatiores pbilosophi" zum „optimus status hominis". Zur Entradikalisierung der radikalen Aristoteliker STEN EBBESEN (Kopenhagen) Radulphus Brito: The Last of the Great Arts Masters. Or: Philosophy and Freedom ZDZISLAW KUKSEWICZ (Warschau) La foi et la raison chez Gilles d'Orleans, philosophe parisien du XHIe siecle
THOMAS RICKLIN
217 231 252
V. Metaphysik und Theologie nach 1277 (Bari) Metaphysics and Theology in the Last Quarter of the Thirteenth Century: Henry of Ghent Reconsidered
PASQUALE P O R R O
265
Inhaltsverzeichnis
(Heidelberg) Die Folgen der Pariser Lehrverurteilung von 1277 für das Selbstverständnis der Theologie
XI
VOLKER LEPPIN
283
VI. Theologie und Kirche (Medford) Literacy, Theology and the Constitution of the Church: Scholastic Perspectives on Learning and Ecclesiastical Structure in the Late Thirteenth Century U L R I C H H O R S T (München) Evangelische Armut und Kirche. Ein Konfliktfeld in der scholastischen Theologie des 13. Jahrhunderts SABINE SCHMOLINSKY (Hamburg) Ordensprophetie nach Joachim von Fiore? Franziskaner und Dominikaner im Apokalypsenkommentar des Alexander Minorita STEVEN P. M A R R O N E
297 308 321
VII. Häresie in der Literatur (Orleans) La crise amauricienne et ses repercussions en litterature (paradis et enfer autour des annees 1215 — 1240 environ) U L R I C H E R N S T (Wuppertal) Die Auseinandersetzung mit häretischen Strömungen in der deutschen Literatur des 13. Jahrhunderts PIERRE D R O G I
335 362
VIII. Entwicklungen in den Künsten (Köln) Der verjagte Dämon. Mittelalterliche Gedanken zur Wirkung der Musik aus der Zeit um 1300 WOLFGANG SCHÖLLER (Regensburg) Annäherungen an die Wirklichkeit des hochmittelalterlichen Kirchenbaues STEFAN SCHULER (Münster) Fabrica et ratiocinatio. Neue Perspektiven für die Bewertung der Zivilisationstechniken in der wissensorganisierenden Literatur des 13. Jahrhunderts am Beispiel von Architektur und Enzyklopädik . . ALEXANDRU CIZEK (Münster) Voraussetzungen und Eigenart der „Poetria Parisiana" des Johannes von Garlandia F R A N K HENTSCHEL
395 422
438 454
XII
Inhaltsverzeichnis
(Helsinki) Der Griff zum Optischen. Zur Entwicklung des deutschen geistlichen Spiels im 13. Jahrhundert BRIGITTE STARK (Bonn) uo facilius cuncti possint intellegere quae dicuntur". Anfänge des volkssprachlichen Theaters in Frankreich CORA DIETL
467
483
IX. Bildung und Erziehung (Braunschweig) Kaiserliche Erziehungsvorstellungen. Friedrich II. und der ideale Falkner ADAM FIJALKOWSKI (Warschau) The Education of Women in Light of Works by Vincent of Beauvais, OP IVAN HLAVÄCEk (Prag) Grundzüge der Schrift- und Bibliothekskultur im böhmischen Staat des 13. Jahrhunderts MARIE BLÄHOVÄ (Prag) Das intellektuelle Leben in den böhmischen Ländern unter den letzten Pfemysliden
JOHANNES ZAHLTEN
499 513 527 540
X. Das Aufeinandertreffen von Kulturwelten (Bonn) Der Beitrag des Nikolaos von Otranto (Nektarios von Casole) zur Vermitdung zwischen den Kulturwelten des 13. Jahrhunderts . . . . GEORGI KAPRIEV (Sofia) Die „errores graecorum" und die ΕΚΦΑΝΣΙΣ ΑΙΔΙΟΣ. Das Zweite Konzil von Lyon — Anstoß zu einer neuen theologischen und philosophischen Entwicklung in Byzanz? ANNA-DOROTHEE VON DEN BRINCKEN (Köln) Die bewohnte Welt in neuen Sichtweisen zu Anfang des 13. Jahrhunderts bei Gervasius von Tilbury und Jakob von Vitry HELMUT G. WALTHER (Jena) Die Veränderbarkeit der Welt. Von den Folgen der Konfrontation des Abendlandes mit dem ,Anderen' im 13. Jahrhundert
574
Namenindex
639
MICHAEL CHRONZ
555
604 625
Zur Einleitung
Geistesleben im 13. Jahrhundert — Neue Perspektiven? ANDREAS SPEER
(KÖLN)
Das Thema der 31. Kölner Mediaevistentagung „Geistesleben im 13. Jahrhundert — Neue Perspektiven" verknüpft drei Elemente miteinander, die jedes für sich, erst recht aber in ihrer Zusammenstellung problematisch erscheinen: Von welchem „Geist" soll hier die Rede sein? Wie läßt sich die Beschränkung auf ein bestimmtes Jahrhundert rechtfertigen? Und welche neuen Perspektiven sollen für das 13. Jahrhundert aufgezeigt werden? Diese Fragen erfordern eine Antwort, zumal es nicht an Versuchen fehlt, sie generell für obsolet zu erklären. Die Skepsis gegenüber einer vermeintlichen Autonomie der Ideen betrifft auch die Philosophie, die ihre Zeit nur insofern in Gedanken fassen könne, als sie eine Funktion in einem gegebenen sozialen Kontext erfüllt. Und an die Stelle einer Geschichtsschreibung einander ablösender, kategorial bestimmbarer Entwicklungen und Epochen tritt zum einen das Bewußtsein einer „longue duree", zum anderen die Wahrnehmung von Brüchen und Diskontinuitäten innerhalb bestimmter Zeitabschnitte. Schließlich scheinen die Herausgeber vor dem im Tagungsthema erhobenen Anspruch, „neue Perspektiven" aufweisen zu wollen, selbst zurückgeschreckt zu sein. Wie anders sollte man das Fehlen dieses Elements im Titel des vorliegenden Bandes erklären? Daß diese kritischen Anfragen nicht schon die Antworten sind, dies soll in der folgenden Annäherung an das Thema des Bandes gezeigt werden, die — den genannten Problemkreisen entsprechend — in drei Schritten erfolgt. I. Den wohl unmittelbarsten Anstoß erregt der Begriff des „Geisteslebens". Martin Grabmann hatte ihn seinerzeit als Titel für seine „Abhandlungen zur Geschichte der Scholastik und Mystik" gewählt, da mit diesem Begriff „das philosophische und religiöse Denken des Mittelalters im innigen und inneren Zusammenhang mit der mittelalterlichen Kultur", ihren Formen und Funktionen erfaßt werden könne 1 . Gewiß steht diese Vorstellung in einem — nicht ausdrücklich reflektierten — Zusammenhang mit dem umfassenderen Konzept einer verschiedene historisch orientierte Disziplinen umfassenden Kulturgeschichtsschreibung, die als Geistesgeschichte — in den Worten Wil-
1
M. Grabmann, Mittelalterliches Geistesleben. Abhandlungen zur Geschichte der Scholastik und Mystik, 3 vol., München 1 9 2 6 - 1 9 5 6 ; hier: Vorwort zum ersten Band, V I I - V I I I .
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Andreas Speer
helm Diltheys — „die fortschreitende Besinnung des Geistes über sich selbst" 2 zum Gegenstand hat. Gerade diese Vorstellung aber und der oftmals mit einer solchen Leitidee verbundene Dogmatismus, der mit dem Anspruch der Erkenntnis des Ganzen der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit als sukzessive Verwirklichung eines auf erkenntnistheoretischer Selbstbesinnung beruhenden Zusammenhanges von Wahrheiten einhergeht 3 , haben nicht zu Unrecht Argwohn erregt und lassen den Begriff des „Geisteslebens" obsolet erscheinen. Doch steht bei Grabmann — wie mir scheint — eine eher pragmatische Absicht im Vordergrund. Anders als etwa Etienne Gilson, der den „Geist" mittelalterlicher Philosophie als „christliche Philosophie" zu bestimmen trachtet 4 , oder als Fernand Van Steenberghen, der das 13. Jahrhundert als Zeitalter des Thomas von Aquin kennzeichnet 5 , sucht Grabmann nicht nach einer alles umfassenden Leitidee, sondern nach einem Begriff, der die relevanten Arbeitsfelder zu erfassen und zwischen diesen einen Zusammenhang zu stiften in der Lage ist: Philosophie, Theologie, Philologie, Literatur- und Institutionengeschichte. In dieser pragmatischen Hinsicht, die den theoriebeladenen deutschen „Geist" in gebührendem Zaum hält und jede weitergehende dogmatische Fesdegung vermeidet, hat Paul Oskar Kristeller von einer „history o f thought" gesprochen und diese als „history o f philosophy in the widest possible sense" bestimmt, die neben der Philosophie selbst Literaturgeschichte und Theologie, die Geschichte der Wissenschaften und Künste umfaßt 6 . Diese Bestimmungen Kristellers entsprechen zwar den „allgemeinen Subjektsbegriffen", mit denen Dilthey die Aufgabe der Geisteswissenschaft zu erfassen sucht 7 , allerdings befreit von dem Anspruch einer zumindest intentional gegebenen allgemeinen Theorie des geschichtlichen Verlaufs. In diesem Sinne verstanden als „intellectual history", stellt die geistesgeschichtliche Annäherung ein offenes hermeneutisches Modell dar, das gerade der Reduktion auf eine der genannten und mögliche weitere Determinanten entgegenwirkt. Dies gilt beispielsweise für die Frage der Wechselwirkung zwi-
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4
5
6
7
W Dilthey, Die Geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. Erste Hälfte: Abhandlungen zur Grundlegung der Geisteswissenschaften (Gesammelte Schriften, V. Band), Stuttgart-Göttingen 1974 (6. unveränderte Aufl.), 340. W. Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung der Gesellschaft und der Geschichte (Gesammelte Schriften, I. Band), Stuttgart — Göttingen 1973 (7. unveränderte Aufl.), 95. E. Gilson, L'esprit de la philosophie medievale, Paris 2 1948, 32 — 33; cf. hierzu J. A. Aertsen, Gibt es eine mittelalterliche Philosophie?, in: Philosophisches Jahrbuch 102 (1995), 1 6 1 - 1 7 6 , bes. 1 6 2 - 1 6 8 (cf. auch Kölner Universitätsreden 75 [nt. 13], 1 3 - 3 0 , bes. 1 5 - 2 1 ) . F. Van Steenberghen, La philosophie au XHIe siecle, 2eme edition (Philosophes medievaux 28), Louvain-Paris 1991, 4 7 4 - 4 8 0 . P. O. Kristeller, The Philosophical Significance of the History o f Thought, in: id., Studies in Renaissance Thought and Letters (Storia e Letteratura - Raccolta di Studi e Testi, 54), Roma 1956, 3 - 9 , bes. 7sq. W. Dilthey, Die Geistige Welt (nt. 2), 342.
Geistesleben im 13. Jahrhundert — Neue Perspektiven?
5
sehen philosophischem Denken und den im weitesten Sinne kulturellen und historischen Kontexten — eine Frage, die in den letzten Jahren Ausgangspunkt vielfältiger Überlegungen und mancher Debatte gewesen ist, wie denn die Geschichte der mittelalterlichen Philosophie zu schreiben ist 8 . Ahnliches gilt für die meisten anderen mediävistischen Disziplinen. In dem vorliegenden Band geht es mithin um die Erhebung und die Vermitdung eines Motivgeflechts, das in Form einer weiterreichenderen Abstraktion den Blick auf übergreifende Zusammenhänge (und auch auf Unverknüpfbares) eröffnet, wobei es zu durchaus unterschiedlichen Antworten auf die Frage nach dem Uberwiegen einer Determinante kommen kann. Dieses Verständnis von Geistesgeschichte — in dem von Kristeller benannten Doppelaspekt als „history of thought in the broader sense" und als „history of philosophy in the narrow sense" 9 — scheint mir recht genau die Grundidee der Kölner Mediaevistentagungen zu treffen, die seit nunmehr fast fünfzig Jahren Mediävisten aus den verschiedenen Disziplinen in Köln zusammenführt. Stellt man die Tatsache in Rechnung, daß die Kompetenz des veranstaltenden Instituts sich vorrangig auf den zweiten Aspekt erstreckt, so geht es darum, den philosophischen Fragestellungen im engeren Sinn einen Rahmen anzuweisen und umgekehrt die Fragen der Philosophie in ihrem Erklärungsgehalt auf den Prüfstand zu stellen, inwieweit diese in der Lage sind, „ihre Zeit in Gedanken zu fassen" — um noch einmal Hegels klassisches Diktum aus der Vorrede zur „Philosophie des Rechts" zu bemühen 10 . II. Gerade eine derartige Annäherung an die Geistesgeschichte setzt aber eine klare Bestimmung des Gegenstandes voraus, wenn sie nicht einfach beliebig sein soll. Dies scheint mit Blick auf das zweite Element des Themas aber alles andere als einfach — eine überraschende Feststellung, wenn man bedenkt, in welchem Maße das 13. Jahrhundert wie kaum ein anderes das allgemeine Mittelalterbild bestimmt. Als Zeitalter der Universitäten und der gotischen Kathedralen, der philosophischen Rationalität, die sich meist mit dem Namen des Aristoteles verbindet, und der religiösen Armutsbewegungen, des Aufeinandertreffens der verschiedenen Kulturen und der wachsenden Bedeutung der Volkssprachen steht das 13. Jahrhundert häufig stellvertretend für das Mittelalter überhaupt. Viele dieser Stichworte — denen sich 8
Cf. e.g. C. Steel, La philosophie medievale comme expression de son epoque, in: J. Follon / J. McEvoy (eds.), Actualite de la pensee medievale (Philosophes medievaux 31), L o u v a i n Paris 1994, 7 9 - 9 3 . R. Imbach, Autonomie des philosophischen Denkens? Zur historischen Bedingtheit der mittelalterlichen Philosophie, in: J. A . Aertsen / A. Speer (eds.), Was ist Philosophie im Mittelalter? Akten des X. Internationalen Kongresses für mittelalterliche Philosophie der S. I. E. P. M., 2 5 . - 3 0 . August 1997 in Erfurt (Miscellanea Mediaevalia 26), Berl i n - N e w York 1998, 1 2 5 - 1 3 7 .
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P. O. Kristeller, The Philosophical Significance of the History of Thought (nt. 6), 9. G. W Ε Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Vorrede, Werke 7 (Theorie-Werkausgabe, Frankfurt a.M. 1970), 26.
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Andreas Speer
leicht andere (auch solche negativer Art) hinzufügen ließen — sind aber nicht so spezifisch, daß mit ihrer Hilfe die eingeforderte Bestimmung des Geisteslebens im 13. Jahrhundert in hinreichender Distinktheit gelingen könnte. So gibt es bereits im 12. Jahrhundert eine überaus rege Ubersetzertätigkeit und die ältesten Universitäten wie Bologna haben sich bereits vor 1200 konstituiert. Auch die gotische Kathedralarchitektur in Frankreich hat im 12. Jahrhundert ihre Wurzeln. Und am Ende des 13. Jahrhunderts kündigt sich mit Dante in Italien bereits die Renaissance an. Ich belasse es bei dieser Problemanzeige und füge eine zweite hinzu: Unser bisheriger Blickwinkel ist derjenige des Lateinisch sprechenden Westens. Am Beispiel der Philosophie wird aber deutlich, in welchem Umfang der Eintritt in andere mittelalterliche Kulturkreise — in den arabischen, jüdischen, byzantinischen und lateinischen — die Philosophie bestimmt und spezifiziert; ähnliches gilt auch für andere Bereiche der Kultur 11 . Doch eröffnet gerade der Blick auf die inhaltliche und institutionelle Verschiedenartigkeit der translatio studii oder translatio studiorumx2 im Mittelalter einen Zugang zum Verständnis jenes Zeitabschnitts, dem in diesem Band das besondere Interesse gilt. Remi Brague hat die mittelalterliche Kultur im lateinischen Abendland als eine Kultur des Endeihens bestimmt und sieht darin den Schlüssel für eine einzigartige Rezeptivität und Dynamik 13 . Diese Dynamik entspringt, wie mir scheint, nicht zuletzt der Notwendigkeit zu verstehen — und zwar Verstehen in einem doppelten Sinne. Zunächst Verstehen im Sinne der „translatio" als Ubersetzung. Im 13. Jahrhundert findet die Ubersetzung des corpus Aristotelicum ihren Abschluß und durch die Revisionen und teilweise Neuübersetzungen Wilhelms von Moerbeke eine verläßliche philologische Grundlage. Dies ist nur ein — allerdings prominentes — Beispiel für die vielfältige Ubersetzertätigkeit. Ebenso bedeutsam ist eine steigende philologische Bewußtheit: die Diskussion von Ubersetzungsvarianten, die Suche nach einer besseren Textgrundlage, die Auswirkungen philologischer Arbeit auf die systematische Interpretation — wie im Falle der „Entdeckung" der proklischen Identität des „Liber de causis" durch Thomas von Aquin im Zusammenhang der Übersetzung der „Ele11
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13
Cf. hierzu J. A. Aertsen / A. Speer (eds.), Was ist Philosophie im Mittelalter? (nt. 8); ferner A. Speer, Qu'est-ce que la philosophie au Moyen Age? Bilan philosophiques du dixieme congres international de philosophie medievale tenu a Erfurt du 25 au 30 aoüt 1997, in: Recherches de Theologie et Philosophie medievales 65 (1998), 1 3 3 - 1 4 6 . Diesen Begriff macht E. Jeauneau zu einem Leitbegriff in „La philosophie medievale" (que sais-je?), Paris 3 1975, 4; cf. auch id., Translatio studii. The Transmission of Learning. A Gilsonian Theme (PIMS —The Etienne Gilson Series 18), Toronto 1995. Diesen Gedanken greift Alain de Libera auf in: La philosophie medievale (puf - Collection Premier Cycle), Paris 1993, 8. R. Brague, Das Studium der mittelalterlichen Philosophie als Teil einer Besinnung auf die europäische Kultur, in: A. Speer (ed.), Philosophie und geistiges Erbe des Mittelalters (Kölner Universitätsreden 75), Köln 1994, 5 3 - 6 5 , bes. 6 1 - 6 5 .
Geistesleben im 13. Jahrhundert — Neue Perspektiven?
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mentatio theologica" durch Wilhelm von Moerbeke 14 , einer Schrift, die in der „deutschen Dominikanerschule" einige Bedeutung erlangt. Auch die massive Kritik Roger Bacons an „der Verkehrtheit, der Unverdaulichkeit und grauenhaften Schwierigkeit" insbesondere der Aristotelesübersetzungen, die kaum jemand verstehen könne, was seinen Grund nicht zuletzt in dem Zusammentragen verschiedener Interpreten und Texte aus verschiedenen Sprachen habe, ist Ausdruck dieses philologischen Bewußtseins 15 . Doch ist die geforderte Kenntnis der „gelehrten" Sprachen 16 — an erster Stelle des Griechischen und Hebräischen, mit Einschränkungen gleichfalls des Arabischen — auch für Bacon nur die Voraussetzung für eine andere Form der Aneignung: Verstehen im Sinne des Begreifens und Durchdringens des auf dem Wege der Sprache übermittelten Wissens. Dies ist der zweite, in unserem Zusammenhang bedeutsamere Aspekt von Verstehen. Gerade in der synthetischen Verstehensleistung gegenüber den vielfältigen Einflüssen und Traditionen, den eigenen und den fremden, besteht — so scheint mir — insbesondere aus der Sicht des lateinischen Westens die nachhaltige Bedeutung des 13. Jahrhunderts. Hierzu gehört auch die Herausarbeitung kontroverser Problemstellungen. Diese synthetische Leistung, die über die Adaptation bestimmter Einflüsse hinausgeht, wird vorzüglich in der spekulativen Grundlegung des Denkens erbracht, die als Metaphysik in Konkurrenz zur christlichen Theologie tritt. Daß die Universität sich gerade im 13. Jahrhundert als der eigentliche institutionelle Ort dieser Verstehensleistung etabliert, ist ebenso Teil einer geistesgeschichtlichen Annäherung wie die besondere Aufmerksamkeit, die gerade den kritischen Reaktionen oder alternativen Bewegungen gilt. III. Sind wir damit aber nicht wiederum bei einem sehr traditionellen Bild des 13. Jahrhunderts angekommen — beschränkt vor allem auf das lateinische Abendland, auf Philosophie und Theologie, und auf die Universitäten? Wo liegen die „neuen Perspektiven", denen die besondere Aufmerksamkeit der 31. Kölner Mediaevistentagung galt? Sicherlich findet man sie nicht, so kann festgehalten werden, indem man lediglich die Lücken anweist, die sich beispielsweise in Fernand Van Steenberghens magistralem Standardwerk zur 14
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Thomas de Aquino, Super librum de causis expositio, prooemium (ed. H. D. Saffrey, Fribourg-Louvain 1954), 3; hierzu C. Steel, Moerbeke et Saint Thomas, in: J. Brams / W. Vanhamel (eds.), Guillaume de Moerbeke. Recueil d'etudes ä l'occasion du 700 e anniversaire de sa mort (1286), Leuven 1989, 5 7 - 8 2 , bes. 7 0 - 7 1 . Roger Bacon, Opus Malus, pars III, cap. 1 (ed. J. H. Bridges, vol. III, repr. Frankfurt a.M. 1964), 82: „Nam tanta est perversitas et cruditas et hornbilis difficultas maxime in libris Aristotelis translatis, quod nullus potest eos intelligere, sed quilibet alii contradiät, et multiplex reperitur falsitas, ut patet ex collatione diversorum interpretum et textuum diversarum linguarum". Roger Bacon, Compendium studii philosophiae, cap. VIII (ed. J. S. Brewer, Fr. Rogeri Bacon opera quaedam hactenus inedita, vol. I, London 1859), 474: „Tertia deäma causa quare necesse est studiosis Latinis, ut sciant linguas, est corruptio, quae accidit in studio propter ignorantiam linguarum sapientialium his temponbus".
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Andreas Speer
Philosophie des 13. Jahrhunderts 17 finden — fast zwangsläufig, so möchte man sagen. Denn selbstverständlich ist die Forschung seitdem weitergegangen; und auch dieser Band ist weit davon entfernt, Vollständigkeit beanspruchen zu wollen. Im folgenden seien daher fünf Themenbereiche angesprochen, die — bezogen auf die in diesem Band versammelten Beiträge — Perspektiven mit Blick auf einen Zeitraum eröffnen, der gewissermaßen im artifiziellen Querschnitt eines Jahrhunderts betrachtet wird — Perspektiven, die jene Zusammenhänge vorzustellen imstande sind, die als Vorzug der geisteswissenschaftlichen Annäherung gelten können und nicht am aktuellen Neuigkeitswert allein gemessen werden sollten. (1) Von einem besonderen Interesse — gerade mit Blick auf das angedeutete generelle Verständnis des 13. Jahrhunderts — sind die erkenntnistheoretischen Fragestellungen; sie stehen jedoch über ihr epistemologisches Eigengewicht hinaus in einem anthropologischen und praktischen Kontext, der die Entwicklung der Problemstellungen im 13. Jahrhundert beeinflußt. Dies gilt etwa für die Frage nach der konstitutiven Funktion des menschlichen Intellekts oder dem Verhältnis von abstraktiver und intuitiver Erkenntnis. Die philosophische Erkenntnisbegründung bleibt rückgebunden an anthropologische und intellekttheoretische Problemstellungen, die ihrerseits wiederum miteinander in einem Spannungsverhältnis stehen. Deutlich präsent ist auch der theologische Ausgangspunkt oder Hintergrund mancher Fragestellungen. In einem weiteren Sinne stellt sich vor dem Hintergrund des Verstehensparadigmas auch die Frage nach den Beziehungen zu den maßgeblichen religiösen und kirchlich-theologischen Strömungen, zu den Entwicklungen in den Künsten und in der Literatur. Was hat die Menschen der damaligen Zeit bewegt, bestimmte Fragen in dieser Weise zu stellen? Diese Frage leitet über zu den folgenden Punkten. (2) In einer Untersuchung zu den philosophischen und theologischen Irrtumslisten von 1270 — 1329 hat Josef Koch auf den methodischen Wert von Lehrverurteilungen, Syllabi und Irrtumlisten etc. für die Beurteilung intellektueller Auseinandersetzungen hingewiesen 18 . Diese Feststellung scheint ihre Gültigkeit behalten zu haben. Denn kaum ein anderes Ereignis hat in den letzten Jahren so sehr im Mittelpunkt des Interesses der philosophischen Mediävistik gestanden wie die Verurteilung von 219 Lehrsätzen durch Bischof Etienne Tempier vom 7. März 1277 19 . Daß die Verurteilung zahlreiche 17 18
19
F. Van Steenberghen, La philosophie au X l l l e siecle (nt. 5). J . K o c h , Philosophische und theologische Irrtumslisten von 1270—1329. Ein Beitrag zur Entwicklung der theologischen Zensuren, in: Melanges Mandonnet, vol. II (Bibliotheque Thomiste XIV), Paris 1930, 3 0 5 - 3 2 9 ; repr. in: J. Koch, Kleine Schriften, vol. II (Storia e Letteratura, Raccolta di Studi e Testi 128), Roma 1973, 4 2 3 - 4 5 0 . Zur Bewertung siehe die Beiträge von Alain de Libera, Luca Bianchi und John Murdoch in: J. A. Aertsen / A. Speer (eds.), Was ist Philosophie im Mittelalter? (nt. 8), 7 1 - 1 2 1 (Plenarsektion 2).
Geistesleben im 13. Jahrhundert — Neue Perspektiven?
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Bezugspunkte in den intellektuellen Debatten — etwa zu Fragen der Intellektlehre, der Willensfreiheit und zum Verhältnis von theologischem und philosophischem Wissen — insbesondere im letzten Drittel des 13. Jahrhunderts hat, ist unstrittig und zeigt sich auch in zahlreichen Beiträgen dieses Bandes. Doch hat die Fixierung auf 1277 als historiographischer Leitidee auch den Blick auf die Breite der Diskussion, der Personen und Themen eingeengt. Nicht alle Fragen werden in dem vom Tempier'schen Syllabus abgesteckten Rahmen diskutiert, nicht immer lassen sich die beteiligten Parteien eindeutig zuordnen. Damit erscheinen aber auch einseitig nach modernen Kriterien wie „konservativ" und „progressiv" vorgenommene Wertungen mehr zu verstellen als zu erklären. Auf eine weitere Folge dieser Fixierung sei ebenfalls noch hingewiesen: Gerade das letzte Viertel des 13. Jahrhunderts stand lange Zeit im Schlagschatten der Verurteilungen. So ist bei Van Steenberghen dieser wichtige Zeitraum bis auf marginale Erwähnungen beinahe völlig ausgespart. Diesem Zeitabschnitt, der zugleich den Ubergang zum 14. Jahrhundert einleitet, gelten nunmehr zu Recht wieder verstärkte Forschungsanstrengungen 20 . (3) Sucht man nach Ereignissen, die mit der vorgenommenen Jahrhunderteinteilung konform gehen, so wird beispielsweise das königliche Privileg für die Pariser Universität vom August 1200 genannt. Die Gründung der Universitäten wird zu Recht als ein für die Wissensvermitdung folgenreicher Umbruch angesehen, der maßgeblich die westlich-abendländische Wissenschaftskultur bestimmt und ihre universale Geltung ermöglicht hat. Die Artesmagister gelten — nicht zuletzt seit LeGoffs „Les intellectuels au Moyen Age" 21 — als die eigentlichen Repräsentanten dieser Institution, das Leben des Philosophen, so Boethius von Dacien, als „optimus status hominis"72·. Dieser „ethische Aristotelismus" findet seinen Ausdruck auch in den Leitvorstellungen, die Radulphus Brito am Ende des 13. Jahrhunderts formuliert: das Verlangen nach Wissen ist ein natürliches Ziel des Menschen; Wissen ist möglich; Wissen macht frei 23 . Das in diesem Zusammenhang als Schlüsseltext geltende zehnte Buch der „Nikomachischen Ethik", das die theoretische Lebensform mit der Möglichkeit einer innerweltlichen beatitudo verbindet, ist gleichwohl erstmals außerhalb der Universität, im Kölner Generalstudium der Dominikaner von dessen erstem Studienregens Albertus Magnus eingehend kommentiert worden. Mit dem vor 750 Jahren begründeten Kölner Studium generale ist die historiographische Idee einer deutschen Dominikanerschule 20
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Cf. K. Emery, Jr. / Α. Speer, After the Condemnations of 1277: The University of Paris in the Last Quarter of the Thirteenth Century, in: Bulletin de Philosophie medievale 38 (1996), 119-124. J. LeGoff, Les intellectuels au Moyen Age, Paris 1957/1985. Boethius de Dacia, De summo bono (ed. N. G. Green-Pedersen, Boethii Daci Opera VI,2), 374, 137 — 139: ,JB,t cum homo est in ilia operations, est in optimo statu qui est homini possibilis. Et isti suntphilosophi, qui ponunt vitam suam in studio sapientiae". Cf. hierzu den Beitrag von Sten Ebbesen in diesem Band (231 - 2 5 1 ) : Radulphus Brito. The Last of the Great Arts Masters. Or: Philosophy and Freedom.
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Andreas Speer
verbunden worden, die eine eigenständige intellektuelle Tradition namentlich in Deutschland begründet habe. Unabhängig von der Aussagekraft einer derartigen These eröffnet sie jedoch den Blick auch auf die volkssprachliche Bildung und auf das intellektuelle Leben außerhalb der großen universitären Zentren, die nur allzuoft das gesamte Interesse absorbieren. (4) Die wachsende Bedeutung der Volkssprache zeigt sich am deutlichsten in der Literatur, in den geistlichen Spielen, dem volkssprachlichen Theater, der moralepischen Dichtung etc. Doch was hat die Entwicklung in den Künsten bestimmt? Gibt es Zusammenhänge zwischen dem Verlangen nach dem Optischen, der Visualisierung der christlichen Myterien und der Aufwertung des Gesichtssinnes bei Aristoteles? Oder laufen die Etablierung der musica als theoretischer Disziplin an der Artesfakultät und die Entwicklung hin zur Polyphonie nebeneinander her? Beispielhaft für die gebotene Vorsicht bei der Übertragung moderner Interpretationsmuster und für den methodischen Paradigmenwechsel in der Forschung kann die Diskussion in der Kunstgeschichte mit Blick auf die Entstehung der Kathedralgotik angesehen werden. Im Unterschied zu den einer spekulativen Leitidee verpflichteten Deutungen Erwin Panofskys oder Otto von Simsons, aber auch Georges Dubys und Martin Warnkes steht, wie auch in dem Beitrag von Wolfgang Schöller, nunmehr der Versuch im Vordergrund, das Baugeschehen gewissermaßen „von unten", von den konkreten Bedingungen am jeweiligen Ort her in historischer Kleinarbeit zu rekonstruieren 24 . Die Kontinuität wird, wie gerade die 750 jährige Baugeschichte des Kölner Domes sehr deutlich zeigt, weit weniger von allgemeinen Leitideen garantiert, denen somit allenfalls eine begrenzte heuristische Funktion zukommt, als vielmehr durch das Institut der fabrica, das bis heute in der Dombauhütte weiter fortbesteht. (5) Schließlich muß eine Tatsache entschieden ins Bewußtsein gerufen werden: Auch für die Menschen des 13. Jahrhunderts war die erfahrbare Welt schon längst nicht mehr eingeschränkt auf das lateinische Abendland sowie auf die bereits etablierten Gesprächspartner in der byzantinischen, arabischen und — in ihrer besonderen Stellung — der jüdischen Welt. Nicht zuletzt der Mongolensturm konfrontiert das Abendland auf nie erfahrene Weise mit dem „anderen" und trägt nicht unerheblich zu einem grundlegenden Wandel im Weltverständnis bei. Der ungeheuren geographischen Erweiterung der erfahrbaren Welt, welche den Christen des lateinischen Abendlandes das Gefühl einer Minorität gibt, entspricht ein neues Bewußtsein von der Veränderlichkeit der Welt, das jedoch, so die These von Helmut G. Walther, als Herausforderung begriffen wird 25 . Es ist gerade die neue sich an Aristoteles 24
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Cf. exemplarisch G. Binding, Baubetrieb im Mittelalter, Darmstadt 1993; G. Binding / A . S p e e r (eds.), Mittelalterliches Kunsterleben nach Quellen des 11. bis 13.Jahrhunderts, Stuttgart 1993, 2 1994. Cf. den Beitrag von Helmut G. Walter in diesem Band (625 — 638): Die Veränderbarkeit der Welt. Von den Folgen der Konfrontation des Abendlandes mit dem .Anderen' im 13. Jahrhundert.
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orientierende Wissenschaft, deren auf Erfahrung und methodischer Stringenz beruhende Vorgehensweise das Bewußtsein für die Veränderbarkeit der Welt als positive Chance erkennen ließ. Nicht ein allgemeines Krisenbewußtsein, so Walther, steht daher am Anfang des letzten Drittels des 13. Jahrhunderts, sondern ein wachsendes Bewußtsein von der technischen Beherrschbarkeit und Vervollkommnung der Welt. Etwas von diesem Zeitgefühl findet sich bei Roger Bacon. Dieser spricht in seinem „Opus maius" nicht nur von den Herausforderungen durch die Tartaren und Sarazenen 26 , er stellt auch Vergleiche hinsichtlich der Überlegenheit der Kulturen an 27 , in denen sich jenes Überlegenheitsgefühl anzudeuten beginnt, das für die westlich-abendländische Kultur so bestimmend werden sollte und bisweilen nur noch wenig von der humilitas der Leihnehmer bewahrt, die sich der Fragilität ihres Standpunktes, der Abhängigkeit ihres Wissens und Könnens von den Leihgebern bewußt sind 28 . Blicken wir von hier zurück auf das in unserem ersten Punkt angesprochene Verhältnis zwischen dem engen und weiten Verständnis von Geistesgeschichte, so erhebt sich die Frage, inwieweit dieser umfassende Prozeß einer intellektuellen Neuorientierung von ungeheuren politischen Konsequenzen an den intellektuellen Zentren der Zeit, den Universitäten, reflektiert oder gar mitbestimmt wird. Welchen Beitrag vermag insbesondere die Philosophie für das Verstehen dieser Vorgänge, für die Deutung der Welt bereitzuhalten? Nicht zuletzt die Debatten um das Verhältnis von Theologie und Philosophie, um die klare Bestimmung des jeweiligen Gegenstands- und Zuständigkeitsbereiches, die im 13. Jahrhundert an Umfang und Bedeutung zunehmen und einen nicht unwichtigen Teil der intellektuellen Auseinandersetzungen ausmachen — auch dies ein charakteristischer Punkt für das Verständnis dieses Jahrhunderts — verweisen auf die sich vollziehende Wende im Philosophieverständnis des 13. Jahrhunderts, die, so die These von Jan A. Aertsen in dem nachfolgenden Beitrag, schließlich zu einer Neubestimmung des Status der Philosophie führt. Auf diese Weise wird jenes kritische Potential freigelegt, das der Philosophie in der Erklärung der sich verändernden Welt einen legitimen Platz beläßt.
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Roger Bacon, Opus Maius, pars IV (ed. J. H. Bridges, vol. I, repr. Frankfurt a.M. 1964), 399-402. Roger Bacon, Opus Maius, pars VII (moralis philosophia), pars 4 (ed. J. H. Bridges, vol. II, repr. Frankfurt a.M. 1964), 3 9 4 - 3 9 6 . Cf. hierzu die Überlegungen bei R. Brague, Das Studium der mittelalterlichen Philosophie (nt. 13), 6 3 - 6 5 .
Mittelalterliche Philosophie: ein unmögliches Projekt? Zur Wende des Philosophieverständnisses im 13. Jahrhundert J A N A . AERTSEN ( K Ö L N )
I. E i n l e i t u n g : N e u e r e D i s k u s s i o n e n ü b e r den S t a t u s der m i t t e l a l t e r l i c h e n P h i l o s o p h i e Im August 1997 fand in Erfurt der vom Thomas-Institut veranstaltete X. Weltkongreß der „Societe Internationale pour l'Etude de la Philosophie Medievale" statt. Als Vorsitzender verantwortlich für das Programm, hatte ich absichtlich die Frage „Was ist Philosophie im Mittelalter?" als Generalthema des Kongresses ausgewählt. Meine Intention war es, die Diskussionen über den Status der mittelalterlichen Philosophie zu erneuern, welche die Gesellschaft seit ihrer Gründung im Jahre 1958 begleitet haben. Bezeichnend sind die Bedenken, die während des ersten Weltkongresses französische Delegierte gegen die Namensgebung der „Societe" erhoben. Es gebe, so meinten sie, im Mittelalter keine Philosophie, getrennt oder isoliert von der Theologie 1 . Jetzt liegen die Erträge des Erfurter Kongresses in einem umfangreichen Band vor. Dieser wird ohne Zweifel eine nachhaltige Wirkung auf die künftige Mittelalterforschung haben. Das zeigt sich bereits in meinem heutigen Vortrag, denn dieser bezieht sich auf einen der Erfurter Plenarvorträge, gehalten von Carlos Steel (dem Präsidenten des Instituts für Philosophie an der katholischen Universität zu Löwen). Sein Beitrag mit dem provokativen Titel „Mittelalterliche Philosophie: Ein unmögliches Projekt?" führt ein neues Element in die Diskussion ein, weil seine Frage nicht mehr dem esse der mittelalterlichen Philosophie gilt, sondern ihrem posse7·. Steels Fragestellung ist durch ein bemerkenswertes Buch des französischen Gelehrten Pierre Hadot angeregt, dessen Titel eine Ähnlichkeit mit dem Generalthema des Erfurter Kon1
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Cf. den Kongreßbericht von H. L. van Breda, in: L'homme et son destin d'apres les penseurs du moyen äge. Actes du premier congres international de philosophie medievale (Louvain - Bruxelles 28 aoüt - 4 septembre 1958), Louvain - Paris 1960, 801sq., 815sq. C. Steel, Medieval Philosophy: An Impossible Project? Thomas Aquinas and the ,Averroistic' Ideal of Happiness, in: J. A. Aertsen, A. Speer (eds.), Was ist Philosophie im Mittelalter? Akten des X. Intern. Kongresses für mittelalterliche Philosophie der Soc. Intern, pour l'Etude de la Philosophie Medievale, 2 5 . - 3 0 . August 1997 in Erfurt (Miscellanea Mediaevalia 26), B e r l i n - N e w York 1998, 1 5 2 - 1 7 4 .
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gresses aufweist: „Qu'est-ce que la philosophic antique?". Der Inhalt des Buches läßt sich in zwei Thesen zusammenfassen 3 . Hadots erste These besagt, in der Antike habe philosophia allererst eine existentielle Dimension. Sie ist nicht sosehr ein Denksystem als vielmehr eine „Lebensweise", eine zur Weisheit vorbereitende geistige Übung. Die philosophische Lebensweise ist eng mit einem theoretischen „Diskurs" verbunden, der die existentielle Wahl begründet und rechtfertigt, aber die praktische Vernunft hat den Primat über die theoretische. Dieses Philosophieideal ist in der Neuzeit fast verschwunden. Heute wird, insbesondere im universitären Bereich, „Philosophie" gemeinhin als eine rein theoretische Angelegenheit verstanden. Wie ist diese Transformation zu erklären? Hadots zweite These besagt, der Grund für den Theoretisierungsprozeß sei der Aufstieg des Christentums. Schon früh hat das Christentum sich als „Philosophie" im antiken Sinne des Wortes verstanden, das heißt, als eine Lebensweise, die aus einer Bekehrung hervorgeht, aus der Entscheidung, ein Leben in der Nachfolge Christi zu führen. Der Ausdruck „Christliche Philosophie" bezeichnet im Mittelalter das Leben des Mönchs 4 . Allmählich vollzog sich in diesem Zeitalter eine Trennung zwischen Lebensform und philosophischem Diskurs. Die Rolle der Philosophie wurde zu der eines Begriffsrahmens, benutzbar in theologischen Kontroversen, herabgesetzt. Philosophie, in den Dienst der Theologie gestellt, war fortan nicht mehr als eine theoretische Lehre. Es ist diese Konzeption, welche die Geschichte der neueren Philosophie bestimmt hat. Mit Bezug auf seine zweite These fügt Hadot noch eine Einschränkung hinzu. Im Mittelalter ist das antike Philosophieideal nicht völlig verschwunden. Er weist auf magistri in der Artes-Fakultät des 13. Jahrhunderts, wie Boethius von Dacien, hin, die wiederentdeckten, daß die Philosophie nicht nur ein Diskurs, sondern vor allem eine Lebensweise ist 5 . In bezug auf Hadots Mittelalterbild möchte ich zwei Bemerkungen einfügen. Erstens: Seine Darstellung stützt sich auf eine neue Tendenz in der Forschung, deren Hauptvertreter Alain de Libera ist 6 . Sie sucht den Ort der mittelalterlichen Philosophie nicht in der theologischen, sondern in der Artes-Fakultät. Professoren dieser Fakultät, wie Boethius von Dacien in seiner Schrift „De summo bono" (oder „De vita philosophi"), betrachteten das Leben des Philosophen als das oberste menschliche Gut, als die vollkom3
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P. Hadot, Qu'est-ce que la philosophic antique?, Paris 1995, bes. 1 7 - 1 9 , 387 — 391 u. 408 — 410. Eine ähnliche Auffassung findet sich in J. Domanski, La philosophie, theorie ou maniere de vivre? Les controverses de l'Antiquite ä la Renaissance, Paris 1996. Cf. J. Leclercq, Pour l'histoire de l'expression ,philosophie chretienne', in: Melanges de science religieuse 9 (1952), 221—226; H. M. Schmidinger, Zur Geschichte des Begriffs ,christliche Philosophie', in: E. Coreth e.a (eds.), Chrisdiche Philosophie im katholischen Denken des 19. und 20. Jahrhunderts, Graz - Wien - Köln 1987, torn. 1, 2 9 - 4 5 . P. Hadot, Qu'est-ce que (supra Anm. 3), 393. Siehe insbesondere A. de Libera, Penser au Moyen Age, Paris 1991.
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mene Realisierung dessen, was der Mensch wesentlich ist 7 . Die intellektuelle Bestimmung des Menschen ist nach de Libera das, was man „den Geist der mittelalterlichen Philosophie" nennen sollte8. Die Formulierung ist deutlich gegen Etienne Gilson gerichtet, der in seiner klassischen Studie „L'esprit de la philosophie medievale" die mittelalterliche Philosophie als „Christliche Philosophie" gedeutet hatte 9 . Mit diesem Begriff wollte Gilson zum Ausdruck bringen, daß die Eigenart der Philosophie im Mittelalter nicht erklärt werden kann, ohne den Einfluß der christlichen Offenbarung zu berücksichtigen. Zweitens: Hadots Mittelalterbild ist gewissermaßen von Gilson, oder genauer: durch ein Paradox in dessen Konzeption, beeinflußt worden. Der Begriff der „Christlichen Philosophie", der ursprünglich dafür gedacht war, die Originalität der mittelalterlichen Philosophie zu charakterisieren, ist bei Gilson immer mehr zu einem Ausdruck der instrumentellen Funktion der Philosophie im Dienst der christlichen Theologie geworden 10 . Andererseits kritisiert Hadot Gilsons Konzeption. Jener versucht, „die Wirklichkeit der christlichen Philosophie" dadurch nachzuweisen, daß die mittelalterliche Philosophie das antike Denken unter dem Impuls des Christentums transformiert hat; sie führt neue Konzepte und Lehren ein. Nach Hadot ist diese Konzeption zu beschränkt, weil sie völlig die existentielle Dimension der Philosophie ignoriert 11 . Gilsons Idee einer „Christlichen Philosophie" hat die Frage nach der Philosophie als Lebensweise außer Betracht gelassen. Wir sind jetzt gespannt auf Steels Stellungnahme. In seinem Erfurter Vortrag kritisiert er de Liberas Annäherung und lehnt dessen Behauptung ab, die Professoren in der Artes-Fakultät verkörperten den wahren „Geist" der mittelalterlichen Philosophie. Sie sind Steel zufolge von historischem, nicht von philosophischem Interesse. Theologen wie Thomas von Aquin haben einen unvergleichbar größeren Beitrag zur Geschichte der abendländischen Philosophie geleistet als alle magistri in den Artes. Jedoch übernimmt Steel nicht Gilsons Konzeption, zumal er ausdrücklich danach fragt, wie sich die Theologen zum Philosophieideal verhalten haben.
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Boethii Daci Opera ... Opuscula (Corpus Philosophorum Danicorum Medii Aevi 6.2), ed. N. G. Green-Pedersen, Kopenhagen 1976, 377: „Philosophum autem vorn omnem homimm viventem secundum rectum ordinem naturae, et qui acquisivit optimum et ultimum ftnem vitae humanae". A. de Libera, La philosophie medievale, Paris 1989, 2 1992, 124. E. Gilson, L'esprit de la philosophie medievale, Paris 1969 (1. Aufl. 1932). De Libera selbst stellt den Gegensatz zu Gilson in einem Aufsatz dar: Les etudes de philosophie medievale en France d'Etienne Gilson ä nos jours, in: R. Imbach, A. Maierü (eds.), Gli Studi di Filosofia Medievale fra Otto e Novecento, Rom 1991, 21 - 3 3 . Cf. J. F. Wippel, Thomas Aquinas and the Problem of Christian Philosophy, in: Metaphysical Themes in Thomas Aquinas, Washington, D. C. 1984, 1 — 33; G. Prouvost, Les relations entre philosophie et theologie chez E. Gilson et les thomistes contemporains, in: Revue thomiste 94 (1994), 4 1 3 - 4 3 0 . P. Hadot, Qu'est-ce que (supra Anm. 3), 388.
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Thomas von Aquin verwirft radikal die Ansicht, es gebe einen philosophischen Weg zur menschlichen Glückseligkeit. In langen Auseinandersetzungen mit griechischen und arabischen Philosophen im dritten Buch der „Summa contra Gentiles" legt er dar, daß alle ihre Versuche, in diesem Leben die Glückseligkeit durch die Erkenntnis „der göttlichen Dinge" zu erreichen, vergeblich sind. Das antike Ideal des philosophischen Lebens sei eine Unmöglichkeit. In dieser Hinsicht, so schließt Steel, scheint mittelalterliche Philosophie ein unmögliches Projekt zu sein 12 . Die von Hadot angeregte Diskussion berührt einen wesentlichen Punkt: die Transformation der Philosophie im Mittelalter. In meinem Vortrag möchte ich diesen Prozeß genauer untersuchen. Die Analyse geschieht in drei Schritten. Um die Natur der Transformation besser zu verstehen, ist es zunächst angebracht, die Aufmerksamkeit auf den „Lehrmeister" des Mittelalters zu richten, Boethius. Danach werde ich Thomas' Kommentar zu einer Schrift des Boethius, „De trinitate", betrachten, weil sein Kommentar die Distanz zum boethianischen Philosophieverständnis dokumentiert und den geänderten Status, den die Philosophie im 13. Jahrhundert erhalten hat, zeigt. Schließlich werde ich der Frage nachgehen, ob von der thomasischen Perspektive her die Transformation der Philosophie notwendig ihre Unmöglichkeit einschließt. II. B o e t h i u s : D i e G r u n d l a g e n der l a t e i n i s c h e n P h i l o s o p h i e Im 12. Jahrhundert hat Peter Abaelard Boethius als „den größten Philosophen der Lateiner" („maximusphilosophus Latinorum") gefeiert 13 . Ein moderner Historiker ist vielleicht zu denken geneigt, daß Abaelard wie üblich übertreibt, aber seine Bezeichnung ist nicht unzutreffend, wenn man die Hinzufügung „der Lateiner" in Rechnung stellt. Boethius hat die Grundlagen der mittelalterlichen, d. h. lateinischen Philosophie gelegt 14 . Philosophie, nach Wort und Wesen griechisch, war im lateinischen Westen ein Importgut. Remi Brague hat die interessante These vertreten, wesentlich für Europa sei „die Kunst des Entleihens"; seine Quellen liegen außerhalb seiner selbst 15 . Roger Bacon bestätigt im 13. Jahrhundert diese Sicht. „Die 12 13
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C. Steel, Medieval Philosophy (supra Anm. 2), 171 - 1 7 2 . Petrus Abaelardus, Theologia ,Scholarium', I, 199 (Opera theologica III, CC CM 13), eds. E. M. Buytaert, C. J. Mews, Turnhout 1987, 404. In den meisten Geschichten der mittelalterlichen Philosophie ist der Einfluß des Boethius vernachlässigt worden. Zwei grundlegende Studien zu seinem Denken sind: L. Obertello, Severino Boezio, 2 tom., Genua 1974; H. Chadwick, Boethius. The Consolations of Music, Logic, Theology and Philosophy, Oxford 1981. R. Brague, Das Studium der mittelalterlichen Philosophie als Teil einer Besinnung auf die europäische Kultur, in: A. Speer (ed.), Philosophie und geistiges Erbe des Mittelalters (Kölner Universitätsreden 75), Köln 1994, 5 3 - 6 5 .
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Lateiner", bemerkt er, „besitzen keine theologischen oder philosophischen Texte, es sei denn aus Fremdsprachen" 16 . Die Übersetzung der Grundtexte war deshalb ein erstes Desiderat. Boethius sah es als seine Sendung an, die Reichtümer der Philosophie an die lateinische Welt zu vermitteln und so Ciceros Aufforderung, die Philosophie von Griechenland nach Rom zu überführen, zu verwirklichen. Dazu formulierte er ein hochstrebendes Programm: die Ubersetzung aller Werke Piatons und des Aristoteles 17 . Obwohl Boethius nur einen Bruchteil dieses Projekts verwirklichen konnte, hat er dennoch der mittelalterlichen Philosophie eine erste materielle Grundlage verschafft durch seine Ubersetzungen der logischen Schriften des Aristoteles, seine Kommentare zu ihnen und die Schöpfung einer lateinischen Terminologie. Durch ihre Uberführung von Griechenland in den lateinischen Westen trat die Philosophie in eine Welt hinein, die nicht nur sprachlich verschieden war. Sie trat in eine Welt, in der das Christentum zu einer gestaltenden Kraft geworden war. Boethius' eigenes Werk spiegelt diese Lage wider; er ist auch der Verfasser von fünf sogenannten „theologischen" Abhandlungen. Die wichtigste ist die Schrift „De trinitate", die beabsichtigt, die christliche Lehre von der Dreieinheit Gottes, nach Boethius „die Burg unserer Religion", rational zu begründen 18 . Sein Vorbild ist, wie er angibt, Augustins Schrift „De trinitate", aber die Vorgehensweise des Boethius ist verschieden von derjenigen Augustins. Er will seine Argumente „den tiefsten Disziplinen der Philosophie" („ex intimis philosophiae disciplinis") entnehmen 19 . Es ist ein methodologischer Grundsatz, daß ein Gegenstand auf eine ihm angemessene Weise betrachtet werden muß. Zur Vorbereitung seiner Darstellung schickt Boethius deshalb eine Dreiteilung der theoretischen Philosophie in Naturphilosophie, Mathematik und Theologie voraus, die auf Aristoteles' Ausführungen im VI. Buch der Metaphysik (c. 1, 1036 a 18) zurückgeht. Der Theologie ist es eigentümlich, daß sie von dem handelt, was nicht in Bewegung und was „abstrakt", d. h. getrennt von der Materie, ist. Ihr Gegenstand ist die unstoffliche Substanz Gottes. Theologie ist die höchste Disziplin in der Ordnung der Wissenschaften — sie ist „Erste Philosophie" —, weil sie die Form betrachtet, die reine Form und das Sein selbst ist 20 .
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Roger Bacon, Opus tertium cap. 28 (Rerum Britannicarum Medii Aevi Scriptores [Rolls Series] 15) ed. J. S. Brewer, London 1857, 102. Boethius formuliert sein Programm in der „In librum Aristotelis Peri hermeneias Commentariorum secunda editio" (ed. K. Meiser, Leipzig 1880, tom. 2, 79). Er verweist auf Ciceros Aufforderung in den „Commentaria in Ciceronis Topica" V (PL 64, 1152 B). Boethius, De fide catholica, in: Boethius, The Theological Tractates. The Consolation of Philosophy, eds. H. F. Stewart, Ε. K. Rand u. S. J. Tester, Cambridge, Mass. 1973, 53: „De qua velut arce religionis nostrae ...". De trinitate, prol. (eds. Stewart e.a., 2 - 4 ) . Ibid., c. 2 (eds. Stewart e.a., 8).
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Die Theologie erhält bei Boethius eine neue Aufgabe, von der Aristoteles nie geträumt hatte, nämlich den intellectus fidei, das rationale Verständnis der göttlichen Dreieinheit. Was bedeutet das für das Verhältnis zwischen der philosophischen Theologie und dem christlichen Glauben? Boethius reflektiert nicht auf diese Frage; die implizite Voraussetzung in seiner Abhandlung ist jedoch, daß die Betrachtungsweise der philosophischen Theologie der Lehre von der Trinität angemessen ist. Seine Darstellung suggeriert die Identität einer auf Offenbarung und einer auf Vernunft gegründeten Erkenntnis. „Theologie" steht bei Boethius in Beziehung zum höchsten Vermögen der menschlichen Vernunft. Boethius hat durch sein einflußreichstes Werk „ D e consolatione philosophiae" das Philosophiebild im Mittelalter nachhaltig geprägt 21 . Es ist ein persönliches Dokument, aber zugleich eine summa der antiken Philosophie. Die Trostschrift bezweckt eine Therapie, die auf die Heilung des Menschen zielt. Frau ,Philosophie' erscheint als eine Ärztin, die eine Diagnose des Patienten stellt und ihm das letzte Ziel aller Dinge und seine wahre Natur in Erinnerung bringen will 22 . Wenn am Anfang des dritten Buches ,Philosophie' ankündigt, sie wolle Boethius „zur wahren Glückseligkeit" führen, spricht sie das Hauptthema der klassischen Philosophie an. Nach Hegel (in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie) ist das allgemeine Prinzip der gesamten Philosophie vor Kant die Glückseligkeitslehre. Und Augustin schreibt in seinem Werk „De civitate Dei": „Nichts anderes treibt den Menschen zum Philosophieren als das Verlangen nach Glückseligkeit, und glückselig macht ihn nur das höchste Gut" 2 3 . In Kontinuität mit dieser Tradition behauptet Boethius, daß alle Bestrebungen des Menschen nur nach einem einzigen Ziel trachten, der Glückseligkeit. Sie ist das höchste Gut, in dem alle andern Güter enthalten sind 24 . ,Philosophie' legt dar, das vollkommene Gut sei nicht nur ein Konzept, sondern eine Wirklichkeit. Ihr stark vom Piatonismus geprägtes Argument lautet: Alles, was unvollkommen ist, heißt „unvollkommen" aufgrund einer Minderung des Vollkommenen. Daher muß es in jeder Gattung, in der es ein Unvollkommenes gibt, auch ein Vollkommenes geben. Nun ist klar, daß es eine unvollkommene Glückseligkeit in einem vergänglichen Gut gibt. Also muß es eine vollkommene und beständige Glückseligkeit geben. In einem nächsten Schritt identifiziert ,Philosophie' dieses höchste Gut mit Gott. „ D a sich nichts denken läßt, was besser wäre als Gott, wer könnte dann zweifeln, 21 22 23
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Cf. P. Courcelle, La consolation de philosophie dans la tradition litteraire, Paris 1967. D e consolatione philosophiae I, 6 (eds. Stewart e.a., 166 — 170). Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II (Sämtliche Werke 18), ed. H. Glockner, Stuttgart 1928, 147. Augustinus, D e civitate Dei X I X , 1 ( C S E L 40,2), ed. E. Hoffmann, Wien 1900. Cf. G. Bien (ed.), Die Frage nach dem Glück, Stuttgart - Bad Cannstatt 1978. Boethius, D e consolatione philosophiae III, 2 (eds. Stewart e.a., 232).
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daß dasjenige gut sei, über das hinaus es kein Besseres gibt?" Denn wäre Gott nicht so beschaffen, so könnte er nicht der Ursprung aller Dinge sein. Das höchste Gut und die wahre Glückseligkeit müssen deshalb in Gott gelegen sein; oder richtiger gesagt, sie sind Gott selber 25 . Aus diesem Argument zieht Boethius einen weiteren Schluß. Da die Menschen durch Erlangen der Glückseligkeit glückselig werden, die Glückseligkeit aber die Gottheit selber ist, so ist klar, daß sie durch Erlangen der Gottheit glückselig werden. Jeder glückselige Mensch ist daher Gott, obwohl es von Natur nur einen einzigen Gott gibt. Doch nichts hindert, daß es durch Teilhabe mehrere Götter gibt 26 . Die Trostschrift des Boethius belegt eindrucksvoll das platonische Philosophieideal, das in dem homo divinus besteht, der Vergöttlichung des Menschen. Boethius' Einfluß erreichte seinen Gipfel im 12. Jahrhundert, das von M.-D. Chenu als die aetas Boetiana bezeichnet worden ist 27 . In diesem Zeitalter wurden die „Consolatio philosophiae" sowie die Schrift „De trinitate" vielfach kommentiert, insbesondere in der Schule von Chartres. Gemäß der boethianischen Dreiteilung der Wissenschaften versteht Thierry von Chartres die „Theologie" als die philosophische Disziplin, welche „die Gesamtheit der Dinge" betrachtet, insofern sie „einfach", d. h. im göttlichen Prinzip, sind 28 . Die Kommentatoren des 12. Jahrhunderts teilten die Voraussetzung des Boethius, daß die philosophisch-theologische Betrachtungsweise der Lehre von der Trinität angemessen ist. Ihr Interesse gilt nicht der Abgrenzung einer auf Offenbarung und einer auf philosophischer Argumentation beruhenden Erkenntnis, sondern der Einheit beider. Zusammenfassend: Boethius gab der mittelalterlichen Welt eine philosophische Orientierung mit Bezug auf zwei grundlegende Themen, die Frage nach der menschlichen Glückseligkeit und die rationale Begründung christlicher Lehren, wie der Dreieinheit Gottes. Sein Philosophieverständnis und sein dauerhafter Einfluß zeigen, daß der Aufstieg des Christentums als solcher nicht die Umformung der Philosophie im Mittelalter erklärt, wie Hadot behauptet. Es ist nicht von ungefähr, daß in seiner Darstellung die boethianische Tradition völlig abwesend ist. Es stellt sich heraus, daß der Transformationsprozeß komplexer ist.
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Ibid., III, 10 (eds. Stewart e.a., 2 7 4 - 2 7 8 ) . Ibid., III, 10 (eds. Stewart e.a., 280). M.-D. Chenu, La theologie au douzieme siecle, Paris 1957, 142 — 158. Zum Einfluß des Boethius siehe die gute Bibliographie in Stephan Gersh, Middle Platonism and Neoplatonism in the Latin Tradition, tom. 2, Notre Dame, Ind. 1986, 6 4 7 - 6 5 1 . Thierry von Chartres, Lectiones in Boethii librum De Trinitate II, 7 - 8 (ed. Ν. M. Häring, Commentaries on Boethius by Thierry of Chartres and his School, Toronto 1971, 156). Zum Theologieverständnis des Thierry, cf. Α. Speer, Die entdeckte Natur. Untersuchungen zu Begründungsversuchen einer ,scientia naturalis' im 12. Jahrhundert (STGMA 45), Leiden - New York - Köln 1995, 2 8 2 - 2 8 8 .
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III. Der K o m m e n t a r des T h o m a s von A q u i n zu B o e t h i u s ' „De t r i n i t a t e " : Die T r a n s f o r m a t i o n der P h i l o s o p h i e im 1 3. J a h r h u n d e r t Das boethianische Zeitalter enthielt in sich den Anfang seines Endes infolge einer neuen Welle von Ubersetzungen, die neue philosophische Horizonte — das ganze corpus anstotelicum und das arabische Denken — eröffnete. Das 13. Jahrhundert stellt eine Wende in der Geschichte der mittelalterlichen Philosophie dar. Ein äußeres Zeichen der Distanz zu Boethius ist die Tatsache, daß dieses Jahrhundert keinen einzigen Kommentar zur „Consolatio" hervorbrachte29. Zu Beginn des 14. Jahrhunderts verfaßte Johannes von Dambach eine Trostschrift nach dem Vorbild des Boethius, aber der Titel seines Werkes ist aufschlußreich: „Consolatio theologiae" 30 . Einen guten Einblick in die Wende des 13. Jahrhunderts bietet der Kommentar des Thomas von Aquin zu Boethius' Abhandlung „De trinitate". Diese Abhandlung war aus der Mode gekommen; Thomas war in diesem Jahrhundert der einzige, der sie kommentierte31. In seinem Kommentar (in der Form von quaestiones) zeigt sich ein anderes Philosophiekonzept als das boethianische. Was im Prolog des Kommentars des Thomas am meisten ins Auge springt, ist seine Betonung des Gegensatzes zwischen den philosophi und theolog. Ihre Betrachtungsweisen, so legt er dar, sind ganz verschieden. „Die Philosophen, welche der Ordnung der natürlichen Erkenntnis folgen, stellen die Wissenschaft von den Geschöpfen dem Wissen von Gott voran [...]. Aber die Theologen gehen in umgekehrter Ordnung vor in der Weise, daß die Betrachtung des Schöpfers der Betrachtung des Geschöpfs vorangeht". Der letzteren Ordnung ist nach Thomas Boethius gefolgt, indem er den Ursprung aller Dinge, nämlich die Trinität Gottes, zum Ausgangspunkt seiner Untersuchung gemacht hat 32 . Thomas' Einschätzung des Boethius als Theologen ist überraschend, weil jener vielmehr von der aristotelischen Einteilung der Philosophie ausgegangen war. Sie ist eine Umdeutung, zu der ein Denker des 13. Jahrhunderts genötigt war, wenn er dasjenige, was bei Boethius selbst noch eine Einheit bildete, einander gegenüberstellt. 29
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P. Courcelle, Etude critique sur les commentaires de la Consolation de Boece, in: Archives d'histoire doctrinale et litteraire du moyen äge 14 (1939), 95 — 96. Cf. A. Auer, Johannes von Dambach und die Trostbücher vom 11. bis zum 16. Jahrhundert, Münster 1928. M. Grabmann, Die theologische Erkenntnis- und Einleitungslehre des hl. Thomas von Aquin auf Grund seiner Schrift ,In Boethium de trinitate'. Im Zusammenhang der Scholastik des 13. und beginnenden 14. Jahrhunderts dargestellt, Fribourg 1948. Thomas von Aquin, Super Boetium De trinitate, prol. (Opera omnia 50), Ed. Leonina, Rom 1992, 75: „Philosophi enim, qui naturalis cognitionis ordinem sequntur, preordinant scientiam de creatuns scientie diuine, scilicet naturalem metaphisice, set apud theologos proceditur econuerso, ut creatoris consideratio consideratione, preueniat creature. Hunc ergo ordinem sequtus Boetius, ea que sunt ftdei tractare intendens, in ipsa summa rerum origine principium sue considerationis instituit, sälicet trinitate unius simplicis dei".
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Der Gegensat2 zwischen philosophi und theologi wirkt sich auf die zwei einführenden Quästionen des Kommentars aus. Die erste quaestio, welche „die Erkenntnis des Göttlichen" {de divinorum cognitione) zum Gegenstand hat, untersucht kritisch die Möglichkeiten der philosophischen Gotteserkenntnis. Der abschließende vierte Artikel diskutiert eine Frage, welche die Abhandlung des Boethius unmittelbar berührt: „Kann der menschliche Geist durch sich selbst zur Erkenntnis der göttlichen Trinität gelangen?" Thomas spricht der menschlichen Vernunft diese Möglichkeit ab. „Daß Gott dreifaltig und eins ist, ist bloß Gegenstand des Glaubens". Es gebe keine „notwendigen" Argumente (der Ausdruck Anselms von Canterbury), welche die Trinität demonstrativ erweisen können 33 . Der Grund dafür ist die Überlegung, welche Thomas in seiner „Summa theologiae" „die Grundlage" seiner Betrachtung Gottes nennt, daß die menschliche Vernunft nur von den Geschöpfen, das heißt von den Wirkungen, zur Erkenntnis von Gott gelangen kann. Was also der menschlichen Vernunft zugänglich ist, ist die Ursächlichkeit Gottes. Daraus kann jedoch die Dreiheit der göttlichen Personen nicht erschlossen werden, da die Kausalität der ganzen Trinität gemeinsam ist. Durch die Kraft seiner natürlichen Vernunft kann der Mensch deshalb nicht zur Erkenntnis der Trinität gelangen 34 . Mit diesem Schluß steht Thomas nicht allein; er vertritt die im 13. Jahrhundert allgemeine Auffassung 35 . Eine Konsequenz dieser Auffassung wird in der zweiten einführenden Quästion ersichtlich, welche die manifestatio der Gotteserkenntnis zum Gegenstand hat. Im zweiten Artikel erhebt Thomas die Frage: „Kann es eine Wissenschaft (scientia) des Göttlichen geben?" Er unterscheidet zwei Arten von „göttlicher Wissenschaft", die eine ist die, welche von den Philosophen überliefert worden ist, die andere ist die Wissenschaft derjenigen, die durch Glauben am göttlichen Wissen teilhaben36. Diese Unterscheidung bringt eine grundlegende Erneuerung des 13. Jahrhunderts zum Ausdruck: Die christliche Theologie wird zu einer von der Philosophie verschiedenen scientia^1. 33
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Ibid., q. 1, art. 4 (Ed. Leonina, 89): „Dicendum, quodDeum esse trinum et unum est solum creditum, et ttullo modo potest demonstratim proban, quamuis ad hoc aliquales rationes non necessarie nec multum probabiles nisi credenti haberi possint". Ibid., q. 1, art. 4 (Ed. Leonina, 90). Cf. Summa Theologiae I, q. 32, art. 1. Cf. A. Stohr, Die Trinitätslehre des heiligen Bonaventura. Eine systematische Darstellung und historische Würdigung, Münster 1923, 7 — 24; M. Schmaus, Der Liber Propugnatorius des Thomas Anglicus und die Lehrunterschiede zwischen Thomas von Aquin und Duns Scotus, Münster 1930, 1 3 - 4 6 . Thomas von Aquin, Super Boetium D e trinitate, q. 2, art. 2 (Ed. Leonina, 95): „Et secundum hoc de diuinis duplex scientia habetur: una secundum modum nostrum, qui sensibilium prinäpia acäpit ad notificandum diuina, et sie de diuinis philosophi säentiam tradiderunt, philosophiam primam säentiam diuinam dicentes; alia secundum modum ipsorum diuinorum, ut ipsa diuina secundum se ipsa capiantur, que quidem perfecte in statu uie nobis est impossibilis, set fit nobis in statu uie quedam illius cognitionis partieipatio et assimilatio ad cogniüonem diuinam, in quantum per fidem nobis est infusam inheremus ipsi prime ueritatipropter se ipsam". Cf. M.-D. Chenu, La theologie comme science au X I I I e siecle, Paris 3 1957; U. Köpf, Die Anfänge der theologischen Wissenschaftstheorie im 13. Jahrhundert, Tübingen 1974.
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Im Zeitalter der Universität findet „eine Wendung zur Theorie" (G. Wieland) statt. Diese für die Scholastik eigentümliche Entwicklung scheint Hadots These eines Theoretisierungsprozesses im Mittelalter zu entsprechen, hat jedoch einen anderen Grund als den von ihm behaupteten. Mehrere Untersuchungen haben darauf aufmerksam gemacht, daß sich die Wendung zur Theorie zuerst in den weltlichen Wissenschaften, wie der Jurisprudenz und der Medizin, vollzog 38 . Die Entstehung der christlichen Theologie als einer säentia ist selbst ein Ergebnis dieser Tendenz zur Verwissenschaftlichung, die durch die Rezeption der „Analytica Posteriora" des Aristoteles verstärkt wurde. Thomas arbeitet die Grenzziehung zwischen der Theologie der Philosophen und der christlichen Theologie in der fünften quaestio seines Kommentars aus, wo er Boethius' Einteilung der Philosophie und dessen Charakterisierung der Theologie — sie betrachte die unstoffliche Substanz Gottes — erörtert. Das Göttliche kann zweifach betrachtet werden, als das Prinzip aller Seienden und als eine Natur in sich selbst. Auf die erste Weise wird das Göttliche von den Philosophen betrachtet, weil die menschliche Vernunft das Göttliche nur durch seine Wirkungen erkennen kann. Deshalb wird das Göttliche in jener Disziplin behandelt, die das, was allen Seienden gemeinsam ist, betrachtet, und deren Subjekt das Seiende als Seiendes ist. Die philosophische Theologie ist die als Seinswissenschaft verstandene Metaphysik. Das Göttliche, insofern es in sich selbst subsistiert, ist nur erkennbar, insofern es sich selbst offenbart. Es gehört deshalb zu einer anderen Theologie, der „Theologie der hl. Schrift", deren Subjekt Gott ist 39 . Die Ausführungen des Thomas gründen in der aristotelischen Wissenschaftslehre, gemäß welcher die Einheit einer Wissenschaft und ihre Unterschiedenheit von anderen Wissenschaften in dem „eigentümlichen Subjekt" (proprium subiectum) dieser Wissenschaft besteht. Seine Unterscheidung zweier Arten von Theologie enthält eine implizite Kritik an Boethius. Die Voraussetzung von dessen Abhandlung, die philosophisch-theologische Betrachtungs38
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Cf. A. Birkenmajer, Le röle joue par les medicins et les naturalistes dans la reception d'Aristote aux XIIC et XIII® siecles, in: La Pologne au 6C Congres International des sciences historiques, Warschau 1950, 1 — 15; P.O. Kristeller, The School of Salerno, in: Studies in Renaissance Thought and Letters, Rom 1956, 4 9 5 - 5 5 1 . Thomas von Aquin, Super Boetium De trinitate, q. 5, art. 4 (Ed. Leonina, 154): „Huiusmodi ergo res diuine, quia sunt principia omnium entium et sunt nichilominus in se nature complete, dupliciter tract an possunt: uno modo prout sunt prindpia communia omnium entium, alio modo prout sunt in se res quedam. [...] Unde et huiusmodi res diuine non tractantur a philosophis nisi prout sunt rerum omnium principia, et ideo pertractantur in ilia doctrina in qua ponuntur ea que sunt communia omnibus entibus, que habet subiectum ens in quantum est ens. Et hec säentia apud eos säentia diuina diätur. Est autem alius (modus') cognoscendi huiusmodi res non secundum quod per effectus manifestantur, set secundum quod ipse se ipsas manifestant. [...] Sic ergo theologia siue säentia diuina est duplex: una in qua considerantur res diuine non tamquam subiectum säentie, set tamquam principia subiecti, et talis est theologia quam philosophi prosequntur, que alio nomine metaphisica diätur; alia uero que ipsas res diuinas considerat propter se ipsas ut subiectum säentie, et hec est theologia que in sacra Scriptura traditur".
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weise sei der christlichen Lehre von der Trinität angemessen, erweist sich als unrichtig. Noch in einer dritten Hinsicht tritt im Kommentar des Thomas der Gegensat2 zu den philosophi zu Tage. Anläßlich der Aussage des Boethius, „in der göttlichen Wissenschaft müssen wir die [göttliche] Form selbst betrachten", stellt Thomas die Frage (q. 6.4): „Kann dies durch irgendeine theoretische Wissenschaft geschehen?" Wie tiefgreifend diese Frage ist, ergibt sich daraus, daß Thomas sie mit der Frage nach der menschlichen Glückseligkeit verknüpft. „Gemäß den Philosophen" besteht das Glück des Menschen in der Erkenntnis der unstofflichen Substanzen. Die Glückseligkeit muß ja in der Tätigkeit des höchsten menschlichen Vermögens, der Vernunft, mit Bezug auf die höchsten Gegenstände bestehen. Nun ist die Glückseligkeit, von der die Philosophen sprechen, eine Tätigkeit, die aus der Weisheit hervorgeht, und Weisheit gehört zu den theoretischen Wissenschaften. Es scheint also möglich zu sein, durch die theoretischen Wissenschaften das Göttliche selbst zu betrachten 4 0 . Thomas' Erwiderung auf die Frage zeigt die Transformation des Philosophieverständnisses im 13. Jahrhundert. Er versucht, durch eine Analyse der Struktur und der Bedingungen der scientia den Anspruch der Philosophie zu widerlegen. Die Wissenschaft geht, sowohl beim Beweis von Sätzen wie auch beim Auffinden von Definitionen, immer von etwas aus, das zuvor bereits bekannt ist. Diese Vorkenntnis kann das Ergebnis eines vorangehenden Beweises sein, aber es ist unmöglich, auf diese Weise bis ins Unendliche vorzugehen, da sich dann jegliche Wissenschaft verlöre; das Unendliche läßt sich ja nicht durchschreiten. Jede Betrachtung der theoretischen Wissenschaften wird daher auf einige „Erste" (prima) zurückgeführt, die nicht mehr durch etwas anderes bekannt sind. Von dieser Art sind die unbeweisbaren Prinzipien des Beweises sowie die ersten Begriffe des Verstandes, wie „Seiendes" und „Eines" 4 1 . Es ist bemerkenswert — ich komme darauf im letzten Teil meines Vortrages zurück —, daß sich dieses Argument auf dieselben Gedanken gründet, die Thomas in der aus der gleichen Zeit stammenden Schrift „De veritate" (q. 1.1) für seine Darstellung der Transzendentalien verwendet. Auch dort 40 41
Ibid., q. 6, art. 4, obj. 3 (Ed. Leonina, 169). Ibid., q. 6, art. 4 (Ed. Leonina 170): „In scientüs speculaßuis semper ex aliquo prius noto proceditur, tarn in demonstrationibus proposiüonum, quam etiam in inuentionibus difftnitionum: sicut ex propositionibus precognitis aliquis deuenit in cognitionem conclusionis, ita ex conceptione generis et differentie et causarum rei aliquis deuenit in cognitionem speciei. Hie autem non est possibile in infinitum procedere, quia sic omnis scientia periret, et quantum ad demonstrationes, et quantum ad diffmitiones, cum infinita non sit pertransire; unde omnis consideratio scientiarum speculatiuarum reducitur in aliqua prima, que quidem homo non habet necesse addiscere aut inuenire, ne oporteat in infinitum procedere, set eorum notitiam naturaliter habet. Et huiusmodi suntprinäpia demonstrationum indemonstrabilia, ut ,omne totum est maius sua parte', et similia, in que omnes demonstrationes scientiarum reducuntur, et etiam prime conceptiones intelkctus, ut entis, et unius, et huiusmodi, in que oportet reducere omnes diffmitiones scientiarum predictarum".
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weist er auf die Notwendigkeit der Vorkenntnisse, die Unmöglichkeit eines unendlichen Fortschrittes und die Zurückführung auf „erste" Begriffe, welche die transcendentia sind, hin. In seinem Boethiuskommentar zieht Thomas aus dem Argument eine Schlußfolgerung mit Bezug auf die Tragweite der philosophischen Erkenntnis. „Daraus erhellt, daß wir im Bereich der theoretischen Wissenschaften [...] nur das wissen können, worauf sich jene naturhaft erkannten Prinzipien erstrecken" 42 . Die ersten Begriffe des Verstandes, die transzendentalen Begriffe, erweisen sich als der Horizont der menschlichen geistigen Erkenntnis. In der weiteren Darlegung seiner Antwort erwähnt Thomas noch eine zweite Grundbedingung der Wissenschaft. Die geistige Erkenntnis des Menschen, auch die der ersten Prinzipien, ist immer von der sinnlichen Erfahrung abhängig. Die Abhängigkeit von den phantasmata schließt grundsätzlich eine Erkenntnis der Wesenheit der unstofflichen Substanzen aus. Durch das Sinnenfällige kann der Mensch zur Erkenntnis des Daseins dieser Substanzen gelangen, aber er vermag nicht zu wissen, was sie sind. In den theoretischen Wissenschaften kann das Göttliche nicht seinem Wesen nach betrachtet werden 43 . Dieser Schluß hat unmittelbar Konsequenzen für das philosophische Lebensideal. Nach Thomas ist die Glückseligkeit, von der die Philosophen sprechen, eine unvollkommene. Die vollkommene Glückseligkeit besteht in der Schau der Wesenheit Gottes. Sie ist aber nicht durch eine theoretische Wissenschaft zu erreichen, sondern wird „durch das Licht der (göttlichen) Herrlichkeit" (lumen gloriae) sein 44 . Die Antwort des Thomas läßt keinen Zweifel daran, daß die Philosophie nur eine unvollkommene Form des menschlichen Glücks herbeiführen kann. Zusammenfassend: Der Boethiuskommentar des Thomas macht klar, daß die Entwicklung der christlichen Theologie zu einer von der Philosophie verschiedenen scientia zu einer Transformation des Status der Philosophie im 13. Jahrhundert führt. Diese Umformung zeigt sich in den zwei Themen, die für die Konzeption des Boethius grundlegend waren: der rationalen Begründung christlicher Lehren, wie der Trinität, und der Frage nach der menschlichen Glückseligkeit. 42
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Ibid., q. 6, art. 4 (Ed. Leonina, 170): „Ex quo patet quod nihil potest sein in säentiis speculatiuis [...] nisi ea tantummodo, ad quepredicta naturaliter cognita se extendunt". Ibid., q. 6, art. 4 (Ed. Leonina, 170): „Et ideo per nullam säentiam speculatiuam potest säri de aliqua substantia separata quid est, quamuis per scientias speculatiuas possimus säre ipsas esse". Ibid., q. 6, art. 4 ad 3 (Ed. Leonina, 171): „Duplex est feliätas hominis: una imperfecta, que est in uia; de qua loquitur Philosophus, et hec consistit in contemplatione substantiarum separatarum per habitum sapientie, imperfecta tarnen, et tali qualis in uia est possibilis, non ut säatur ipsarum quiditas. Alia est perfecta in patria, in qua ipse Deus per essentiam uidebitur et alie substantie separate; set hec feliätas non ent per aliquam säentiam speculatiuam, set per lumen glorie". Cf. H. Kleber, Glück als Lebensziel. Untersuchungen zur Philosophie des Glücks bei Thomas von Aquin, Münster 1988; D. J. M. Bradley, Aquinas on the Twofold Human Good. Reason and Human Happiness in Aquinas's Moral Science, Washington, D. C. 1997.
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IV. M i t t e l a l t e r l i c h e P h i l o s o p h i e : Ein u n m ö g l i c h e s P r o j e k t ? Was sind die Implikationen der Transformation der Philosophie? Heißt das, daß mittelalterliche Philosophie ein unmögliches Projekt geworden ist? Unter „mittelalterlicher" Philosophie verstehe ich hier, Carlos Steels Fragestellung folgend, vor allem das thomasische Denken, ohne dadurch suggerieren zu wollen, daß die „mittelalterliche" Philosophie mit Thomas von Aquin identisch ist. Der letzte Teil des Vortrages sucht eine Antwort auf diese Frage. (1) Wenn wir den Ort der Philosophie in der mittelalterlichen Wissensordnung mit demjenigen in anderen religiösen Kulturen, ζ. B. der islamisch-arabischen, vergleichen, läßt sich ein auffallender Unterschied feststellen. Philosophie ist ein integraler Teil der lateinischen Kultur und besitzt einen eigenen institutionellen Ort innerhalb der Universität. Offensichtlich wird im Mittelalter das Philosophieprojekt als eine legitime Tätigkeit betrachtet. Werfen wir einen Blick darauf, wie Thomas von Aquin die Legitimität der Philosophie deutet. Die Grundlage seiner Darlegung ist das menschliche Verlangen nach Wissen. In verschiedenen Kontexten zitiert er den berühmten Eröffnungssatz der Metaphysik des Aristoteles (980 a 21): „Alle Menschen verlangen von Natur nach Wissen". Dieser Satz bringt etwas zum Ausdruck, das Thomas als wesentlich für den Menschen ansieht. Gerade weil der Mensch Mensch, ein vernunftbegabtes Lebewesen, ist, strebt er nach Erkenntnis als seinem Ziel. Das Wissensverlangen ist „natürlich", das heißt in der menschlichen Natur verwurzelt. Daß alle Menschen nach Wissen verlangen, ist nicht das Ergebnis einer Umfrage, sondern vielmehr eine Aussage über das Wesen des Menschen. Dieser Aspekt wird von Thomas in seinem Kommentar zur Metaphysik herausgearbeitet. Anders als Aristoteles bringt er mehrere Argumente für das Verlangen nach Wissen herbei. Das erste gründet sich auf die Überlegung, daß jedes Ding von Natur nach seiner Vollendung strebt. Etwas ist vollendet, insofern seine inneren Möglichkeiten verwirklicht sind. Das dem Menschen eigentümliche Vermögen ist die Vernunft. Durch seine kognitiven Vermögen besitzt der Mensch Weltoffenheit, allerdings nur der Möglichkeit nach. Wissen ist die Verwirklichung der natürlichen menschlichen Potentialitäten, die Vollendung seiner Natur. Deshalb verlangen Menschen von Natur nach Wissen 45 . Aus diesem Argument zieht Thomas den Schluß, daß jedes Wissen gut ist, da Erkenntnis die Vervollkommnung des Menschen als Menschen ist, die Erfüllung seines natürlichen Verlangens46. 45
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Thomas von Aquin, In I Metaph., lect. 1, 2: „Cuius ratio potest esse triplex: Primo quidem, quia unaquaeque res naturaliter appetit perfectionem sui. Unde et materia diätur appetere formam, sicut imperfectum appetit suam perfecüonem. Cum igitur intellectus, a quo homo est id quod est, in se consideratus sit in potentia omnia, nec in actum eorum reducatur nisi per säentiam, quia nihil est eorum quae sunt, ante intelligere, ut diätur in tertio de Anima: sie naturaliter unusquisque desiderat säentiam sicut materia formam". Sentencia libri De anima I, c. 1 (Opera omnia 45, 1), Ed. Leonina, Rom 1984, 4.
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Mit jenem Schluß stellt sich Thomas einer Tradition gegenüber, die in monastischen Kreisen vorherrschend war. Diese auf Augustin zurückgehende Tradition beklagt eine lasterhafte Wißbegierde im Menschen, die „Neugierde" {curiositas). Bernhard von Clairvaux schreibt: „Es gibt Leute, die wissen wollen, nur um zu wissen, und das ist ekelhafte Neugierde" 47 . Curiositas ist die Versuchung, Erkenntnis nur um der Erkenntnis willen zu suchen. Wissen ist kein Ziel in sich, sondern soll dem menschlichen Heil und dem Glauben dienstbar sein 48 . Thomas, Aristoteles folgend, betrachtet jedoch das menschliche Verlangen nach Wissen als „natürlich". Die Idee der lasterhaften Neugierde spielt in seinem Werk keine Rolle. Im Teil der „Summa theologiae", der von der curiositas handelt, behauptet er, „das Studium der Philosophie sei an sich legitim und lobenswert" 49 . Der Mensch wundert sich über die Dinge und verlangt von Natur, ihre Ursachen zu erkennen. (2) In seinem Kommentar zur Metaphysik führt Thomas noch weitere Argumente für den Satz „Alle Menschen verlangen von Natur nach Wissen" an. Das dritte Argument ist von besonderer Bedeutung, weil es das Wissenverlangen mit einer Grundlehre des Neuplatonismus verbindet. Es ist für jedes Ding erstrebenswert, mit seinem Prinzip oder Ursprung vereinigt zu werden, denn darin besteht die Vollkommenheit jedes Dinges. Aus diesem Grund ist die Kreisbewegung die vollkommenste Bewegung, weil sie das Ende mit dem Anfang verbindet. Nun kann der Mensch durch seine Erkenntnistätigkeit mit seinem Ursprung verbunden werden. Das letzte Ziel des Menschen, das heißt seine Glückseligkeit, besteht mithin in dieser Einigung. Deshalb verlangt der Mensch von Natur nach Wissen 50 . Thomas gründet sein Argument auf die neuplatonische Lehre von der Kreisbewegung der Wirklichkeit, die ein Grundmotiv seines Denkens darstellt. Die Vollendung eines Dinges besteht in der Rückkehr zu demjenigen, aus dem es hervorgegangen ist, dem Göttlichen. Ursprung und Ende, Prinzip und Ziel sind identisch. In der Rückkehr der Dinge zum ersten Prinzip nehmen die vernunftbegabten Geschöpfe eine Sonderstellung ein. Der Mensch ist fähig, durch seine Tätigkeit sich selber Gott zuzuwenden. Seine Rückkehr 47
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Bernhard von Clairvaux, Super Cantica Canticorum, Sermo 36 (S. Bernardi Opera II), eds. J. Leclercq, C. H. Talbot u. H. M. Rochais, Rom 1958, 5: „Sunt namque qui sdre volunt eo fine tantum, ut saant et turpis curiositas est". Zum augustinischen Hintergrund dieses Wissenskonzeptes cf. J. A. Aertsen, Nature and Creature. Thomas Aquinas's Way of Thought, Leiden — New York - Köln 1988, 3 3 - 4 0 . Thomas von Aquin, Summa Theologiae I I - I I , q. 167, art. 1 ad 3. In I Metaph., lect. 1, 4: „ Tertio, quia unicuique rei desiderabile est, ut suo prinäpio coniungatur; in hoc enim uniuscuiusque perfectio consistit. Unde et motus anularis est peifectissimus, ut probatur octavo Physicorum, quia finem coniungit principio. Substantiis autem separatis, quae sunt prinäpia intellectus humani, et ad quae intellectus humanus se habet ut imperfectum ad perfectum, non coniungitur homo nisi per intellectum: unde et in hoc ultima hominis felicitas consistit. Et ideo naturaliter homo desiderat sdentiam".
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vollzieht sich im Verlangen nach Wissen 51 . Die Kreisbewegung schließt sich erst, wenn die erste Ursache aller Dinge erkannt wird. Das letzte Ziel des Menschen besteht nicht in irgendeiner Gotteserkenntnis, sondern nur in der Schau der Wesenheit Gottes (visio Dei). Wie wir gesehen haben, spricht Thomas in seinem Boethiuskommentar der menschlichen Vernunft die Fähigkeit ab, die Wesenheit der unstofflichen Substanzen zu erkennen. Das Glück des Menschen kann deshalb nicht im philosophischen Leben bestehen. Der Mensch gelangt nicht von Natur zu seinem letzten Ziel, sondern nur durch Gnade 52 . Thomas zitiert die Schlußfolgerung des Boethius in dessen „Consolatio", das menschliche Glück bestehe in der Vergöttlichung, zustimmend, aber er fügt eine wesentliche Bedingung hinzu. Es ist nicht aus eigener Kraft, daß der Mensch an der göttlichen Natur teilhat, sondern durch eine Gnadengabe Gottes 53 . Geht daraus hervor, daß die mittelalterliche Philosophie ein unmögliches Projekt geworden ist? Die Antwort wäre bestätigend unter der Annahme, die Konzeption von Philosophie als dem Weg zur Glückseligkeit sei normativ. Aber was Philosophie ist und was sie vermag, ist durch die Philosophie selbst zu bestimmen. Die Transformation im 13. Jahrhundert belegt die Geschichtlichkeit des Philosophiekonzeptes. Die menschliche Vernunft untersucht ihre Möglichkeiten und unterscheidet zwischen dem, was sie wissen kann, und dem, was sie nicht vermag. Das Ergebnis ist eine Selbstbegrenzung der Philosophie. In Antwort auf Steels Fragestellung lautet daher meine These: das Projekt der magistri in der Artes-Fakultät, die das philosophische Leben als höchstes menschliches Gut proklamieren, ist unmöglich, „mittelalterliche" Philosophie dagegen ein mögliches Projekt. (3) In meinem Buch „Medieval Philosophy and the Transcendentals" habe ich zu zeigen versucht, daß die Lehre von den Transzendentalien nicht eine Theorie neben vielen anderen ist, sondern eine Einsicht in die eigentlich philosophische Dimension des mittelalterlichen Denkens vermittelt. Meine Konzeption der mittelalterlichen Philosophie als einer Art von Transzendentaldenken hat nicht jeden Rezensenten überzeugt 54 , aber die Frage nach der
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Cf. Thomas von Aquin, Summa contra Gentiles III, 25. Zur wichtigen Rolle des Kreislaufgedankens im Denken des Thomas cf. J. A. Aertsen, Nature and Creature (supra Anm. 48), 4 2 - 4 5 , 3 7 4 - 3 8 4 ; id., Natur, Mensch und der Kreislauf der Dinge bei Thomas von Aquin, in: A. Zimmermann, A. Speer (eds.), Mensch und Natur im Mittelalter (Miscellanea Mediaevalia 21), B e r l i n - N e w York 1991, 1 4 3 - 1 6 0 . Super Boetium De trinitate, q. 6, art. 4 ad 5 (Ed. Leonina, 171). Summa Theologiae I — II, q. 3, art. 1 ad 1; I — II, q. 112, art. 1: „Donum autem gratiae excedit omnem facultatem naturae creatae: cum nihil aliud sit quam quaedam partiäpatio divinae naturae [...] Sic enim necesse est quod solus Deus deificet". Cf. In De divinis nominibus c. 8, lect. 2, 761. J. A. Aertsen, Medieval Philosophy and the Transcendentals. The Case of Thomas Aquinas, Leiden —New York —Köln 1996. Cf. die Besprechungen von S.-Th. Bonino in: Revue Thomiste 105 (1997), 5 7 5 - 5 7 9 , und J.J. E. Gracia in: Recherches de Theologie et Philosophie medievales 64 (1997), 4 5 5 - 4 6 3 .
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Möglichkeit der mittelalterlichen Philosophie bietet, so stellt sich heraus, ein starkes Argument für sie. In seinem Kommentar zu Boethius' Schrift „De trinitate" fragt Thomas (q. 6.4) nach der Tragweite der menschlichen Vernunft und den Grenzen der wissenschaftlichen Erkenntnis. Wie wir festgestellt haben, zielt seine Reflexion auf das, was das Erste in der Ordnung der geistigen Erkenntnis ist. Diese „Ersten" sind die transzendentalen oder allgemeinsten Begriffe; sie bilden gleichsam den Horizont der menschlichen Vernunft. Die Anfänge der Lehre von den Transzendentalien im 13. Jahrhundert sind vor allem mit einem epistemologischen Interesse verbunden 55 . „Seiendes", „Eines", „Wahres" und „Gutes" heißen die „Ersten", weil diese Begriffe zuerst durch den Verstand erfaßt werden und in allen weiteren Begriffen miteingeschlossen sind. Thomas' systematische Entfaltung der Transzendentalien in der Schrift „De veritate" belegt die kognitive Annäherung. Er bereitet seine Darstellung durch eine reflexive Analyse (resolutio) unserer Begriffe vor, durch eine Rückführung auf einen ersten Begriff, „Seiendes", „ohne welches nichts durch den Verstand erfaßt werden kann" 56 . Die kritische Funktion der transzendentalen Begriffe zeigt sich noch in einer anderen Quästion im Boethiuskommentar des Thomas. In q. 1.3 nimmt er kritisch Stellung in der im 13. Jahrhundert geführten Debatte über das Ersterkannte. Er wirft die Frage auf, die sich auf die Auffassung seines Kollegen Bonaventura bezieht: „Ist Gott das Erste, das der Geist erkennt?" Thomas verneint die Frage. Das Erste in der Ordnung der geistigen Erkenntnis ist nicht das Transzendente, sondern dasjenige, was allen Dingen gemeinsam, das heißt transzendental, ist 57 . Das absolut (simpliciter) Erste, das göttliche Seiende, ist nicht das Erste in der kognitiven Ordnung. Die Transzendentalienlehre des Thomas fungiert in dieser Hinsicht als eine Vernunftkritik. Mittelalterliche Philosophie ist ein mögliches Projekt, weil sie sich der menschlichen Erkenntnisverfassung kritisch bewußt ist. Daher ist die Transformation des Philosophieverständnisses im 13. Jahrhundert nicht als ein Sinnverlust zu betrachten. Im Gegenteil, eine philosophische Vernunftkritik hat die Ansprüche des griechisch-arabischen Lebensideals auf das rechte, menschliche Maß zurückgeführt. Der Weg zur menschlichen Glückseligkeit vollendet sich nicht sola philosophia.
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Cf. J. A. Aertsen, What is First and Most Fundamental? The Beginnings of Transcendental Philosophy, in: J. A. Aertsen, A. Speer (eds.), Was ist Philosophie im Mittelalter? (supra Anm. 2), 1 7 7 - 1 9 2 . Thomas von Aquin, In I Sententiarum 8, 1, 3: „Primum enim quod cadit in imaginatione intellectus est ens, sine quod nihil potest apprehendi ab intellectu". Super Boetium De trinitate q. 1, art. 3 (Ed. Leonina, 87): „Et inter hec ilia suntpriora, queprimo intellectui abstraenti occurrunt; hec autem sunt que plura compreendunt [...]; et ideo magis uniuersalia sunt primo nota intellectui". Cf. ad 3 (88): „illa que sunt prima in genere eorum que intellectus abstrait a phantasmatibus sint primo cognita a nobis, ut ens et unum'\
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(4) Schließt jedoch die Hervorhebung der kritischen Bedeutung der Transzendentalien nicht in sich ein, daß Philosophie primär eine Sache des spekulativen Denkens ist? Hat Hadot dennoch recht, daß im Mittelalter die Rolle der Philosophie zu der eines rein theoretischen Diskurses herabgesetzt wurde? Die Mittelalterforschung dürfte diesen Eindruck verstärkt haben, weil ihr Hauptinteresse zuerst die Metaphysik, dann die Logik und Semantik war. Seit der „Rehabilitation der praktischen Vernunft" hat sich das Bild aber geändert, und mehrere Studien haben die mittelalterliche Ethik in den Mittelpunkt gerückt 5 8 . Aufschlußreich für den Ort der Ethik im mittelalterlichen Denken ist Bonaventuras Einteilung der Philosophie gemäß einem dreifachen Wahrheitsverständnis: Die Veritas rerum bezieht sich auf die Ursache des Seins, die Veritas sermonum oder vocum auf den Grund des Verstehens, die Veritas morum auf die Ordnung des Lebens 59 . Im allgemeinen gilt, daß die Zentralstellung des Handlungswissens erst vor dem Hintergrund des Gedankens der Kreisbewegung der Wirklichkeit verständlich wird. Für den Menschen bildet die Rückkehr zu Gott eine Aufgabe, welche die Rechtheit {rectitude) seines Strebens und Lebens erfordert. Was das thomasische Denken angeht, ist dargelegt worden, „es habe zwischen Aristoteles und Kant keinen gewichtigeren Beitrag zur praktischen Philosophie gegeben als den des Thomas von Aquin" 6 0 . Ein originelles Moment in seiner Ethik, das besondere Beachtung verdient, ist ihre „transzendentale" Grundlegung. Während „Seiendes" das Ersterfaßte schlechthin ist, ist der erste Begriff der praktischen Vernunft das „Gute", denn alles, was handelt, handelt eines Ziels wegen, das den Charakter des Guten hat. Auf diesen Begriff gründet sich das erste Prinzip der praktischen Vernunft, das erste Gebot des Naturgesetzes: „Das Gute ist zu tun und zu erstreben, das Böse zu meiden" 6 1 . Gerade im Denken des Thomas zeigt sich, daß die Grundlegungsfunktion der Transzendentalien die praktische Dimension der Philosophie nicht eliminiert.
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Cf. B. Kent, Virtues of the Will. The Transformation of Bthics in the Late Thirteenth Century, Washington, D. C. 1995, 19-34. Collationes in Hexaemeron IV, 2 - 5 (Opera omnia V, 349). Cf. A.Speer, Triplex Veritas. Wahrheitsverständnis und philosophische Denkform Bonaventuras (Franziskanische Forschungen 32), Werl/Westf. 1987, bes. 4 8 - 5 2 . W. Kluxen, Philosophische Ethik bei Thomas von Aquin, Mainz 1964, 244. Thomas von Aquin, Summa theologiae I —II, q. 94, art. 2: „Sicut autem ens est primum quod cadit in apprehensione simpliciter; ita bonum est primum quod cadit in apprehensione practicae rationis, quae ordinatur ad opus: omne enim agens agit propter finem, qui habet rationem boni. Et ideo primum prinäpium in ratione practica est quod fundatur supra rationem boni, quae est,Bonum est quod omnia appetunt'. Hoc est ergo primum praeceptum legis, quod bonum est faäendum et prosequendum, et malum vitandum".
I. Erkenntnis: epistemologische und anthropologische Aspekte
Was There Ever a „First Averroism"? B . CARLOS BAZÄN (OTTAWA)
I. The purpose of this paper is twofold. First, to emphasize the originality of the doctrine of the agent intellect as faculty of the soul which is form of the body, a thesis elaborated by Latin Masters during the first half of the 13th Century as a valid interpretation of Aristode's „De anima" III, 4 — 5. Second, to challenge the expression „First Averroism", by which this doctrine has been qualified, because this label obscures our understanding of the historical significance and originality of the Ladn contribution to the aristotelian tradition. The expression „First Averroism" was proposed by D. Salman in 1937 to define the thesis of the agent intellect as faculty of the soul 1 . Both the expression and its principal meaning were adopted by R.-A. Gauthier in many of his works 2 , and by Alain de Libera 3 ; I myself used it as recendy as 1989 4 . One of Salman's goals was to put into perspective the historical category of „Latin Averroism", which he considered „equivocal" because it gives the false impression that the only identifiable „Averroism" was the one represented by Siger of Brabant and some other Masters of Arts who held, after 1265, that the possible intellect is one for all humankind. Salman's other objective was to show that the „influence" of Averroes was felt, without heterodox consequences, much before 1265, because of the exegetical value accorded to Averroes' commentaries. The expression „Latin Averroism" is certainly ambiguous, but at least it characterizes an interpretation of Aristode's „De anima" based on an authentic averroistic doctrine. The pervasive influence of Averroes as „Commenta1
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D. Salman, Note sur la premiere influence d'Averroes, in: Revue Neoscolastique de Philosophie 40 (1937), 2 0 3 - 2 1 2 . Cf. also id., Jean de la Rochelle et l'Averro'isme latin, in: AHDLMA XVI ( 1 9 4 7 - 1 9 4 8 ) , 1 3 3 - 1 4 4 . R.-A. Gauthier, Notes sur les dibuts du premier averroi'sme, in: Revue des sciences philos. et theol. [RSPT] LXVI (1982), 3 2 1 - 3 7 3 ; id., Le traite ,De anima et de potenciis eius' d'un maitre es arts (vers 1225), in: RSPT LXVI (1982), 3 - 5 5 (voir p. 18); id., Preface, in: S. Thomae Aq. Sententia libri De anima, ed. Leon. t. XLV-1 (1984), 22*; id., Anonymi Magistri artium (c. 1 2 4 5 - 1 2 5 0 ) Lectura in librum De anima, Grottaferrata 1985, 20*. A. de Libera, La Philosophie Medievale, Paris 1993, 384. B. C. Bazän, On First Averroism and its Doctrinal Background, in: On Scholars, Savants and their Texts, New York 1989, 9 - 2 2 .
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tor" par excellence cannot be denied, but it must be asked whether the doctrine of the agent intellect as faculty of the soul can fairly be called „First Averroism". The expression would be appropriate if the doctrine reflects an averroistic thesis or, at least, if the Latin Masters, in expressing this doctrine, thought naively to find unambiguous support for it in Averroes' Commentary. The search for an answer to this question must follow several lines of inquiry. First of all, the authentic teaching of Averroes on the nature of the agent intellect must be established; second, it must be asked whether the doctrine in question was proposed by anyone prior to the Latin Masters, in order to determine their originality; third, the arguments of the Latin Masters should be analysed, distinguishing the theoretical foundation from the textual evidence they advanced. Concerning the latter aspect, it must be determined whether the doctrine was elaborated only after Averroes' writings were known and it must be explained why and under what conditions some Latin Masters put their thesis of the agent intellect as a faculty of the soul under the sponsorship of Averroes. Finally, and together with this last question, it must be asked whether the Latin Masters were aware of the authentic meaning of Averroes' noetics or whether they were naive readers of his writings. Concerning the first question, it is well known that for Averroes neither the agent nor the material intellect is „ a n i m a " or „pars anime"b. Accordingly, Aristotle's general definition of the soul, which can be predicated analogically of the different species of soul, applies to the intellect(s) only equivocally6. The properly human soul is the soul whose highest faculty is the imaginative or cogitative power, called „intellect" by extension, because of its intrinsic and necessary participation in abstractive knowledge 7 . The intellects (agent and material), which are separate substances, have only an operational relationship with humans. They are, indeed, two distinct and equally eternal separate substances, both unique for all humankind 8 , the difference being that the material intellect is the lowest of all separate intelligences9. The 5
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Averroes, In D e anima II 32, ed. Crawford, 178, v. 33 — 35: „non est anima neque pars anime". Cf. II 21, 160 v. 9. Ibid. II 7, 138 v. 18 — 19: „Perfectio enim in anima rationali et in aliis virtutibus anime fere dititur pura equivocatione". Cf. II 21, 160 v. 25 — 27. Ibid., III, 5, 387 v. 1 7 - 2 0 . In his interpretation of „De anima" 4 3 0 a 2 4 - 2 5 , Averroes hesitates to say whether the intellectus passivus is the imaginative or the cogitative power, or perhaps even the forms of imagination „secundum quod in eas agit virtus cogitativa hominis" (449 v. 173 — 175). In any case, it is the intellectus passivus, supreme sensitive faculty, which gives to the human soul that is form of the body its specificity; cf. Ill 20, 454 v. 3 1 5 - 3 1 6 ; III 33, 4 7 6 - 4 7 7 v. 7 9 - 8 5 . Ibid., III 18, 439 v. 73 — 74: „quamvis agens et reäpiens sint substanüe eterne"\ cf. 165, 87 v. 13 — 19; III 4, 385 v. 57; III 5, 406 v. 5 5 6 - 5 6 5 ; III 18, 441 v. 3 0 - 3 5 ) . That Averroes held the unicity of the agent intellect has never been questioned. The unicity of the material intellect is also explicitly stated in the Long Commentary; cf. III 1, 380 v. 4 4 - 4 5 ; III 5, 401 v. 4 2 4 - 4 2 5 ; III 5, 404 v. 5 1 4 - 5 1 7 ; III 5, 406 v. 576. Ibid., III 19, 442 v. 63 — 64: „ultimus intellectus abstractorum in ordine est iste intellectus matenalis".
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terms used by Averroes to refer to the agent intellect leave no room for doubt: he called it „intelligentia agens" and assigned to it as object of knowledge the realm of pure forms 10 . Whatever the discrepancies he had with his predecessors concerning the best way to explain the operational relationship between the separate intellects and individual human beings, and to account for our participation in the act of knowledge, Averroes accepted a key premise of their teaching: the agent intellect is a separate substance. Averroes' originality was to formulate the same thesis for the material intellect and to explain the operational relationship by means of a sophisticated theory concerning the intelligible object (intellectum speculativum)11. In this respect, the expression „First Averroism" does not seem to define properly the teaching of the Latin Masters who taught that the agent intellect is a faculty of the human soul, because this teaching is not an authentic averroistic doctrine. As for the second question, namely whether the doctrine of the agent intellect as a faculty of the soul was developed prior to our Latin Masters, it can be stated that all previous commentators unanimously held that the agent intellect is a separate substance. This is true not only with respect to the authors who were directly available to the Latin Masters around 1240, but also with respect to authors whose thought was indirectly available to them through Averroes' Commentary. II. (a) For Theophrastus the agent intellect is transcendent by nature, although some sort of operational immanence must be at the same time accepted, due to its role in the process of abstractive knowledge 12 . Nothing in the surviving fragments of his works allows for consideration of the agent intellect as a faculty of the soul. On the contrary, Theophrastus' main effort was to explain how the intellect could be transcendent, essentially active and eternal, while the activity that it renders possible in us is, however, intermittent, subject to falsity and forgetfulness. The notions of mixture and connaturality that he elaborated so carefully in Fragments XII and Ia do not suffice to grant the agent intellect the status of a faculty of the soul. Theophrastus' problem will torment interpreters for centuries to come: how to reconcile 10
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Ibid., III 17, 436 v. 1 0 - 1 1 ; cf. Ill 19, 441 v. 2 5 - 2 6 . The agent intellect does not know the inferior material forms (III 19, 441 v. 1 5 - 1 6 ) . Because its objects are pure forms, its intellectual activity is pura actio (p. 442 v. 53 — 55), achieving perfect identity between knower and object known (III 19, 443 v. 8 6 - 9 0 ) . Cf. B. C. Bazän, Intellectum speculativum: Averroes, Thomas Aquinas and Siger of Brabant on the Intelligible Object, in: Journal of the History of Philosophy, XIX, 4 (1981), 4 2 5 - 4 4 6 . E. Barbotin, La theorie aristotelicienne de l'intellect d'apres Theophraste, Louvain 1954, 214. Cf. also, B. C. Bazän, La etapa aporetica de la psicologia peripatetica, in: Cuadernos de Filosofia, XII, 19 (1973), 6 1 - 8 9 .
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the transcendence of the intellect and the immanence of intellectual activity. This unresolved problem is exactly what Averroes presented in his „Long Commentary" 1 3 . T h e Latin Masters could certainly not have found in Averroes' version of Theophrastus' thought the source for their doctrine of the agent intellect as a faculty of the soul. (b) T h e Latins had direct access to Alexander of Aphrodisias' „De intellectu" (translated by Dominic Gundisalvi), and, through Averroes, indirect access to Alexander's „De anima". Alexander was known not only for his materialistic hylomorphism, but also for asserting that the material intellect is a faculty of the soul. But what, according to him, is the nature of the agent intellect? T h e „De anima" presents the active principle of knowledge as the supreme intelligible, and as cause of the existence of intelligibility in lower forms. From this property, Alexander concluded that the agent intellect was the First Mover. T h e „De intellectu" presents the agent intellect as transcendent and divine: as first intelligible, it actualizes the material intellect, making it capable of accomplishing the act of abstraction 14 . Averroes' faithful account of Alexander's noetics confirms the separate nature of the agent intellect 15 . In short, Alexander cannot have been the source of the Latin doctrine of the agent intellect as a faculty of the soul. (c) Themistius' „De anima" was translated by William of Moerbeke only in 1267, but some of his ideas were known to the Latin Masters through Averroes' Commentary. Themistius asserted the personal nature of the active principle of knowledge in words that echoed faithfully Aristotle's „De anima": „Necesse ergo et in anima existere has differentias"^. Their personal nature is shown from the fact that „in nobis est intelligere quando volumus"xl'. The agent intellect, though divine in nature, is not God, the Prime Mover 18 . His doctrine at first seems very close to the one held by the Latin Masters, but deeper analysis shows fundamental differences. Although the agent and material intellect are multiple and personal, they are not faculties of the soul which is form of the body, but co-principles of separate and eternal substances 19 , and are related to each other as matter and form 2 0 . The true human self is the formal principle of this substance: „esse enim mihi. ..activus intellecius"21. For 13 14
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,8 19 20 21
Averroes, In De anima III 5, 389 v. 5 7 - 3 9 1 v. 116. Cf. P. Moraux, Alexandre d'Aphrodise, exegete de la noetique d'Aristote, Paris 1942, and B. C. Bazän, L'authenticite du De intellectu attribue ä Alexandre d'Aphrodise, in: Revue Philosophique de Louvain LXXI (1973), 468-487. Cf. Averroes, In De anima III 36, 481—487. Averroes underlined the differences between Alexander's two treatises. Themistius, In De anima VI (ed. Verbeke, 2 2 3 - 2 2 4 , v. 77-86). Ibid., 225 v. 19. This fact of experience will play an important role in Averroes' efforts to explain the operational relationship between the separate intellects and human individuals. Ibid., 2 3 3 - 2 3 4 v. 8 2 - 8 8 . Ibid., 227 v. 4 3 - 5 1 . Ibid., 226, v. 2 3 - 2 5 . Ibid., 229 v. 81—91. An analogous reduction of the self to the intellectual substance is found, mutatis mutandis, in Avicenna, De anima I 3: „ipsa verissime est ego".
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Themistius the activity of the agent intellect is identical to its essence 22 , a doctrine that raised even for him formidable difficulties. Indeed, if the agent intellect were unique, all individual receptive intellects which are under the influence of the agent intellect's activity would have to think the same objects. If it were multiple, they would not be able to communicate, their possibilities of thinking being limited to the essence of their corresponding agent intellect. Themistius, consequently, felt forced to reintroduce a superior and unique agent intellect, the primus illustrans, the source of all intelligibility that makes intellectual communication possible between inferior intellectual substances 23 . In addition, the eternal and separate intellectual substances which constitute our true selves are only temporally and operationally related to individual human bodies, which in turn are corruptible substances composed of matter and the highest of natural forms, namely a sensitive soul whose highest power, the intellects passivus (mentioned by Aristotle in 430 a24 — 25), is no other than the pars irascibilis et concupiscibilis that can obey reason (cf. „Nicomachean Ethics" 1102bl3; 1103al—3) 2 4 . Themistius' dualistic position is the closest to the doctrine of the Latin Masters (who themselves were also dualists), except for the fact that, for the latter, the soul whose parts are the agent and receptive intellects is also the form of the human body. Themistius' text, however, was not available until 1267. It is necessary then to determine whether Averroes' version of Themistius' thought could have inspired the Latin doctrine of the agent intellect as a faculty of the soul that is the form of the body. This is unlikely, because Averroes presented Themistius' doctrines only to criticize them, particularly with respect to what Averroes considered an incorrect explanation of the relationship between the agent and receptive intellects and of the multiplicity and temporality of acts of thought 25 . Averroes conveyed in his Commentary some of Themistius' central theses: that the agent and receptive intellects are eternal separate substances, that the result of their relationship (the intellectual activity) is also eternal and separate, and that our true self is the agent intellect. But he never attributed to Themistius the doctrine of a multiplicity of agent intellects; on the contrary, he always assumed the thesis of the unicity of this separate substance. Averroes' final coup was to show that Themistius' noetics 22
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Themistius, In De anima VI (ed. Verbeke, 235 v. 5). Cf. G. Verbeke, Themistius, Coramentaire sur le Traite de l'äme d'Aristote, Louvain 1957, XLIII. Our expose follows Verbeke's. Ibid., 235 v. 7—11: „primus quidem illustrans est unus, illustrati et illustrantes (personal agent intellects) plures...". Ibid., 240 v. 2 6 - 2 4 1 v. 28. The assimilation of the nous pathetikos to the superior part of the sensitive soul became classic in later commentators, though differences remained as to which faculty should be considered the highest (irascibilis, imaginativa, cogitativä). Cf. Averroes, In De anima III 5, 3 8 9 - 3 9 0 ; cf. I l l 5, 406 v. 5 5 6 - 5 7 4 . Averroes' criticism is based on the assumption that both the agent and receptive intellects are eternal and unique substances.
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could not escape the platonic consequence that addiscere est rememorari26. Themistius, as presented by Averroes, cannot have been the source of the Latin doctrine of the agent intellect as a faculty of the soul. (d) The Arab philosophers and commentators will not hold our attention for long, because the doctrine according to which the agent intellect is a separate substance, unique for all mankind, was adopted by all of them. Such is the case of al-Kindi (c. 800-866), whose „Letter on the Intellect" was translated twice in the 12th century (by John of Seville and by Gerard of Cremona) 27 ; it is also the case of al-Farabi (870 — 950), whose „De intellectu" (transl. by D. Gundisalvi) states: „intelligencia agens, quam nominauit Aristoteles in teräo tractatu libri de anima, est forma separata"28. For Avicenna (980—1037) the agent intellect is a separate substance, unique for all mankind, and the last of the Intelligences. Ibn Bajja's writings (Abubacher in Averroes' commentary; Avempace for the Latins), were not directly known to the Latins, but in Averroes' Commentary they could read that according to Ibn Bajja the agent intellect was one and separate, and that he had problems concerning the connection of this separate intellect with humans 29 . Finally, Gha2ali (1058 — 1111), whose „Metaphysica" was translated around 1145, repeats Avicenna's doctrine concerning a unique separate „intelligencia agens"30. Among the Jewish thinkers, it is certainly not in the neoplatonic emanationism of Isaac Israeli or Ibn Gabirol (Avicebron) that the Latin Masters would find the doctrine of the agent intellect as a faculty of the soul. Had they known the writings of Abraham Ibn Daoud (1110 — 1180), they would only have found the same avicennian doctrine concerning the agent intellect 31 . Finally, Moses Maimonides (1135 — 1204), whose „Guide for the Perplexed" was translated in 1240, repeated the avicennian scheme of nine Intelligences plus the agent intellect 32 . None of these authors could have provided the key to interpreting the agent intellect as a faculty of the soul that is form of the body. It can be added that, before the 13th century, even Latin thinkers, as Dominicus Gundissalinus, embraced the avicennian notion of a Separate intelligentia Agens33. 26 27
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Ibid., III 20, 452 v. 2 5 7 - 2 6 0 . Both edited by A. Nagy, Die philosophischen Abhandlungen des Ja'qüb ben Ishaq Al-Kindi (BGPhMA 11,5), Münster 1897. Al-Farabi, De intellectu et intellecto, ed. E. Gilson, in: AHDLMA IV (1929-1930), 121 v. 2 3 3 - 2 4 0 . Cf. Averroes, In De anima III 5, 412 v. 7 2 9 - 7 4 2 . Algazel, Metaphysica II 5, ed. Mückle, Toronto 1933, 183. Cf. C. Sirat, La philosophic juive au Moyen Age, Paris 1983, 172. E. Gilson, History of Christian Philosophy in the Middle Ages, New York 1955, 230; and C. Sirat, op. cit. (nt. 31), 210. Cf. French transl. by S. Münk, Le Guide des egares, Paris 1 8 5 6 - 1 8 6 6 ; English transl. by S. Pines, The Guide of the Perplexed, Chicago 1963. Cf. E. Gilson, Les sources greco-arabes de l'augustinisme avicennisant, in: AHDLMA IV (1929 — 1930), 85, and N. Kinoshita, El pensamiento ftlosöfico de Domingo Gundisalvo, Salamanca 1988, 9 8 - 1 0 1 . Edition by J. T. Mückle, The Treatise De anima of Dominicus Gundissalinus, in: Medieval Studies II (1940), 2 3 - 1 0 3 .
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An important preliminary conclusion can be drawn: the doctrine of the agent intellect as a faculty of the soul is an original contribution of the Latin Masters to the reading of Aristode's De anima III, 4 — 5. The importance of this contribution should not be minimized by a label such as „First Averroism", which risks obscuring its originality. III.
The doctrine appeared during the first three decades of the 13th century, even before Averroes' writings were known or had a decisive influence. Latin Masters of Arts, such as John Blund, and Theologians, such as Philip the Chancellor (whose „Summa de bono" was written between 1228 and 1236, and who quotes Averroes only once), held that the agent intellect is a power of the individual soul. The theoretical foundation of this original thesis was that the soul is not only forma corporis, but also a spiritual substance in itself, a hoc aliquid capable of giving ontological support to both the receptive and the agent intellects 34 . This position would be widely accepted in the faculties of arts between 1235 and 1260. The Franciscan theologians also embraced the thesis of the agent intellect as a faculty of the soul. It is found in the Summa fratris Alexandri (compiled before 1250), which, though a composite of various Franciscan authors, certainly reflects Alexander of Hales' thought. The Summa asserts that „intellectus agens et intellectuspossibilis sunt duae differentiae in anima rationali", and that this soul is form and substance in itself 35 . Alexander's student and successor, John of Rochelle, whose „Tractatus de divisione multiplici potentiarum animae" was written between 1233 and 1239, probably on the basis of his even earlier teaching in the Faculty of Arts, stated that the agent intellect is „vis anime suprema" without invoking Averroes in support 36 . The doctrine also received support among the Dominicans. Albert the Great makes it his own as early as 1242 (cf. infra). 34
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Iohannes Blund, Tractatus de anima, n. 341, ed. Callus-Hunt, London 1970, 93: „intellectus agens est vis anime apprehensiva rerum universalium abstrahendo eas ab acadentibus". Philippus Cancellarius, Ex Summa Philippi Cancellarii Quaestiones de anima (ed. L. Keeler), Münster i. W. 1937, 21 — 22. In the Summa Duacensis, which is a reportatio of Philip's previous teaching, the immortality of the soul is proven by the fact that the soul is the subject of both the agent and receptive intellects; cf. Summa Duacensis (ed. P. Glorieux), Paris 1955, 44 — 45. Cf. also pages 31 and 59 — 60 which present a double consideration of the soul as both form and substance. Summa fratris Alexandri, q. 49 (ed. Quaracchi II, 452 and 385). Cf. J. Rohmer, La theorie de l'abstraction dans l'ecole franciscaine d'Alexandre de Hales ä Jean Peckam, in: A H D L M A III (1928), 1 1 4 - 1 1 8 . Iohannes de Rupella, Tractatus de divisione multiplici potentiarum animae II 20 (ed. P. Michaud-Quantin), Paris 1964, 91. Concerning the date and sources of the Tractatus, cf. ibid. 23 et 29. Averroes is quoted on page 129 v. 57. God is also an active principle of intellection, but only with respect to intelligibles that are beyond the range of our natural abstractive knowledge.
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(a) Reaction against the new doctrine was strong. Roger Bacon recounts that at a general meeting of the University of Paris, the doctrine was denounced as contrary to Aristode and to the teaching of both classical and Christian thinkers: ,JBt sic intellectus agens, secundum majores philosophos, non est pars animae, sed est substantia intellectiva alia et separata per essentiam ab intellectu possibili... Non enim est dubium experto in philosophia quin haec sit sua [Aristotelis] sententia, et in hoc omnes sapientes antiqui experti concordant. Nam universitate Parisiensi convocata, bis vidi venerabilem antistitem dominum Gulielmum Parisiensem episcopum felids memoriae coram omnibus sententiare quod intellectus agens non potest esse pars animae, et dominus Robertus episcopus Uncolniensis etfrater Adam de Marisco et hujusmodi majores hoc idem firmaverunt... Et sic nullo modo sequitur quod intellectus agens sit pars animae, ut vulgus fingit"31. This quotation shows that the matter had achieved enough importance to deserve public scrutiny by the whole corporation of masters before 1249 (the date of William of Auvergne's death); it also shows that many masters were aware of the prevalent position in the Aristotelian tradition, namely that the agent intellect is a separate substance, and considered it to be Aristotle's authentic teaching (there is no mention whatsoever of Averroes as supporting an opposite view). Bacon identified some of the major Latin opponents to the doctrine of the agent intellect as a faculty of the soul. William of Auvergne rejected it on the grounds of the soul's simplicity and the identity between the essence of the soul and its powers; but he also opposed Avicenna's theory of the Separate Intelligence (which he considered to be the authentic Aristotelian teaching) on the grounds that only God can be the agent intellect 38 . Robert Grosseteste also rejected the doctrine of the agent intellect as a faculty of the soul and proposed a theory of knowledge oriented „toward the Augustinian doctrine of illumination" 39 . And, of course, there was Roger Bacon himself, who would not have mentioned the incident had he not been himself an opponent of the doctrine of the agent intellect as a faculty of the soul. It seems, however, that Roger Bacon — according to Salman — went through a first period during which he accepted that the agent intellect is a faculty
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Roger Bacon, Opus majus, Pars II, cap. 5 (ed. J. H. Bridges), London 1900, t. Ill, 45, 47, 48; quoted by E. Gilson, Avicenne en Occident au Moyen Äge, in: AHDLMA XXXV (1969), 1 0 2 - 1 0 3 ; cf. also Roger Bacon, Opus Tertium (cd. J. S. Brewer), London 1859, 74 — 75; quoted by T. Crowley, Roger Bacon. The problem of the soul in his philosophical commentaries, Louvain-Dublin 1950, 25 nt. 43. Guillelmus Alverniensis, De anima VII 4 (p. 2 0 7 - 2 0 9 ) ; VII 5 (p. 210); VII 6 (p. 2 1 1 - 2 1 2 ) , in Opera omnia, Paris 1674, t. II. The expression „augustinisme avicennisant" was proposed (in 1929) by E. Gilson to characterize the symbiosis between Augustine's illumination and Avicenna's noetics. Gilson was himself quite critical of the expression, cf. Avicenne en Occident au Moyen Age, in: AHDLMA XXXV (1969), 99. Further criticism was presented also by A. Masnovo, Da Guglielmo d'Auverge a S. Tommaso d'Aquino, Milan 1945, t. Ill, 128-147. E. Gilson, History of Christian Philosophy in the Middle Ages, New York 1955, 264. No writings of Adam de Marisco have yet been identified.
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of the soul 40 , after which he reversed his position, attributed this doctrine to Averroes, and opposed to it what he considered to be the authentic Aristotelian position, namely that the agent intellect is a separate substance 41 (later Roger Bacon identified the agent intellect with God) 42 . How accurate was Bacon when he attributed to Averroes the doctrine of the agent intellect as a part of the soul? There are, in Averroes' Commentary, some texts that could have induced Bacon to think that for the Arab Master the agent intellect was part of the soul. For example: „Et ideo dicet Aristoteles post quod necesse est ponere in anima rationalϊ has duas dijferentias, scilicet virtutem actionis et virtutempassionis" [III 4, 385 v. 54—56; cf. also III 17, 437 v. 26 — 27; III 18, 437 v. 8 — 9]. But in all these texts Averroes just repeats a terminology borrowed from Aristode's De anima (430 al3 —14). This other text can also be added: „in anima sunt due partes intellectus, quarum una est redpiens ... alia autem agens" [III 5, 406 v. 557 — 559]. But this passage can hardly be considered a source for the doctrine of the agent intellect as a faculty of the soul that is form of the body. The immediate context of the statement shows that, according to Averroes, those „two parts" of the „soul" are in fact two separate substances, unique for all humankind [cf. ibid. 404 v. 514 — 517; 406 v. 5 6 9 574; 407 v. 5 8 4 - 5 8 5 et 602-603]. If indeed Bacon used this text as a basis for attributing to Averroes the doctrine of the agent intellect as a faculty of the soul (and nothing in Bacon's writings allows us to confirm this hypothesis), he would have done so without taking into consideration the context. And if that was the case, the reason is not because he was unable to understand Averroes (he was not a naive reader!) or because Averroes' authentic position was too foreign to Latin minds (the thesis of a Separate Agent Intellect was well known), but because quoting isolated texts out of context was not unusual practice in those times. In any case, since Bacon did not subscribe to the doctrine of the agent intellect as a faculty of the soul, his writings could hardly be proposed as proof of the existence of a „First Averroism". Are there any other authors whose work would fit more accurately into this category? The answer to this question requires careful examination of two other cases treated by Salman in support of his notion of „First 40
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Roger Bacon, Questiones supra undecimum Prime Philosophie Aristotelis, in: Opera Hactenus Inedita (Ο. Η. I) VII (ed. R. Steele), Oxford 1926, 1 1 0 v. 1 - 1 8 . Cf. also T. Crowley, op. cit. (nt. 37), 165 nt. 7. Gilson has proved, however (History [nt. 39], 304), that the agent intellect that is called „pars" of the soul is, according to Bacon, not an abstractive faculty, but the power the substantial soul has to turn itself back on its own essence. Bacon's agent intellect has only the name in common with Aristode's. These are the three texts quoted by Salman and Crowley: „intellectus agens secundum Commentatorem est pars animae, secundum Alpharabium et secundum Anstotelem et Avicennam est aliquid aliud" (Ο. Η. I., Χ, 299); „quocumque modo ponatur ibi agens, sive sit intelligentia utponunt omnesphilosophi excepto Commentatore, sive sit pars animae ut ipse Commentator ponit super tertium De anima" (Ο. H. I., XII, 59 — 60); „ponamus agentem esse intelligentiam separatam, sicut ponunt theologi et verum est" (Ο. Η. I., XII, 11). Cf. T. Crowley, op. cit. (nt. 37), 166; E. Gilson, History (nt. 39), 304.
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Averroism" (Albert and Adam de Bocfeld), and the analysis of the teachings of the Masters of Arts up to 1260. (b) Salman claimed that when Albert the Great proposed his doctrine of the agent intellect as a faculty of the soul, he supported it on Averroes' authority. For the claim to be legitimate, and for Albert's thought to fit into the category of „First Averroism", two things are necessary: that Albert's appeal to Averroes be neither ambivalent nor ambiguous, and that Albert not be aware of Averroes' authentic position („First Averroism" being described as a „naive reading" of Averroes). Neither of the conditions are met. When Albert examined the nature of the agent intellect in his „Summa de creaturis" (1242), he did place Averroes among those who were in favor of the doctrine of the agent intellect as a faculty of the soul, but he also placed him among those who supported the thesis of the separate agent intellect (the „videtur quod sic" n. 20 is based on Averroes' Commentary on the „Metaphysics"). The appeal to Averroes is then ambivalent. Albert's own determinatio is, in turn, ambiguous. He synthesized the different positions concerning the nature of the agent intellect: some have denied its existence; some have identified it with a habitus·, others with the tenth Separate Intelligence, whose relationship with our receptive intellect is similar to the one that exists between a superior Intelligence and the Cosmic Soul, „ita scilicet quod sicut anima caeli movet caelum ita quod conformetur intelligentia agenti, ita etiam intellectus humanus possibilis movet hominem ad hoc quod conformetur intelligentiae deämi ordinis: et hoc modo fluunt bonitates ab intelligentia agente ad intellectum possibilem. Sed hoc nichil horum dicimus; sequentes enim Aristotelem et Averroem, dicimus caelum non habere animam praeter intelligentiam ... Similiter didmus intellectum agentem humanum esse conjunctum animae humanae, et esse simplicem, et non habere intelligibilia, sed agere ipsa in intellectu possibili ex phantasmatibus, sicut expresse dicit Averroes in commento libri De anima"43. The first appeal to Averroes here is not ambiguous, but it concerns only the animation of the celestial bodies. The second, however, is ambiguous, because it is not clear whether Averroes is invoked in support of all three claims — that the agent intellect is part of the soul, that it is simple, and that it does not contain intelligibles in itself — or only of the last. In my view, Averroes' authority is being invoked to support only the abstractive function of the agent intellect [cf. In De anima III 18, 438 v. 36 — 46]. Proof of this is that when Albert formally asked, in the following question, „utrum intellectus agens sit pars animae", the thesis is based exclusively on theoretical grounds: the agent and receptive intellects derive from the two ontological principles that constitute the rational soul considered as a spiritual substance 44 . The human soul can be considered both in itself and in relation
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Albertus Magnus, Summa de creaturis II (De homine), q. 55, a. 3 (ed. Borgnet, t. XXXV, 466 b). Ibid., q. 55, a 4, part. 1 (ed. Borgnet, t. XXXV, 470): „intellectus agens est pars animaefluensab eo quo est, sive actu; possibilis autem pars animae est fluens ab eo quod estt sive potentia
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to the body. In itself, the soul is a spiritual substance. In relation to the body, it is a form (or rather a „perfectio", a term of less hylomorphic committment)45. As a spiritual substance, it is incorruptible 46 and must be composed, not of matter and form, as material substances are, but of quod est and quo est, principles of potentiality and actuality respectively47. The first principle is the root of the possible intellect, the second of the agent intellect. Besides, Albert was no naive reader of Averroes: he was aware, already in 1242, that for Averroes the unity of the intelligible object requires the unicity of the intellect48. Under these circumstances, it seems quite dubious that Albert can be considered a representative of „First Averroism". All possibility of doubt is eliminated by Albert's De anima (written between 1254 and 1257), where he denounced and opposed Averroes' doctrine on the unicity and separateness of the receptive and agent intellects49. Albert's anthropology, centered on the double consideration of the soul as forma et hoc aliquid, and its corollary, the agent intellect as a faculty rooted in the soul as substance, does not fit into the category of „First Averroism". (c) Another example of „First Averroism" given by Salman is Adam of Bocfeld, whose „Sententia De anima" reveals a massive and almost exclusive influence of Averroes' „Long Commentary" 50 . Averroes' influence began around 1240 and continued throughout the 13th century, but in itself does not grant legitimacy to the expression „First Averroism". For the expression to have meaning it must be established that an authentic averroistic doctrine was consciously adopted in opposition to an Aristotelian one; or that what was naively considered to be an authentic and original averroistic doctrine was adopted by a master as his own; or, at least, that Averroes' authentic interpretation of an ambiguous Aristotelian text was preferred over the interpretation of other commentators. It might be argued that, concerning the nature of the intellect as part of the soul, Adam fulfills the second of these conditions because, naively, he thought that this was Averroes' position. But such is not the case. Commenting 4 1 5 a l l —12 („de speculative autem intellectu altera ratio est"), Adam showed himself to be perfectly aware of Averroes' 45
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Ibid., q. 4, a. 1 (ed. Borgnet, t. XXXV, 34); cf. also ad 6 (ed. Borgnet, t. XXXV, 35); ad 15 (ed. Borgnet, t. XXXV, 37); q. 61, a. 2, arg. 32 (ed. Borgnet, t. XXXV, 530), and Ε. Gilson, L'ame raisonnable chez Albert le Grand, in: AHDLMA XVIII (1943-1945), 2 4 - 2 5 . Ibid., q. 7, a. 1 (ed. Borgnet, t. XXXV, 94). Ibid., q. 7, a. 3 (ed. Borgnet, t. XXXV, 102). Ibid., q. 57, a. 3 (ed. Borgnet, t. XXXV, 492): „Tertio quaeritur, Utrum unus et idem numero intellect.us sit in omnibus animalibus rationalibus? Et videtur, quod sic quia 1. Diät Averroes super tertium de Anima, quod una est species intellectus speculativus apud omnes homines". Albert also quotes Averroes among the arguments contra. Albertus Magnus, De anima III, tract. 2, c. 7 (Ed. Colon, t. VII/1, ed. C. Stroick, Münster 1968, 186 v. 5 9 - 6 1 ) and III tract. 3, c. 11 (221, v. 1 1 - 1 4 ) . Cf. R.-A. Gauthier, Preface, in: S.Thomas Sententia libri De anima...(1984), 2 4 7 * - 2 5 1 * (concerning the authenticity of the different versions of the Sententia attributed to Adam of Bocfeld).
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interpretation, and he considered it to be quite remarkable: „intellectus aliam habet rationem ab aliis partibus anime: uidetur enim, ut subdit Commentator, propter sui nobilitatem quod intellectus speculatiuus non sit anima nec pars anime, set uirtus nobilior. Et est ualde notabile"5X. There is no naivete here, but on the contrary, perfect awareness of Averroes' authentic position. This must be taken into consideration when analyzing the text proposed by Salman (and Gauthier) as proof of Adam's „First Averroism". The text deals with a common question for Masters of Arts at that time: utrum una et eadem sit substantia intellectus agentis et possibilis. Aristoteles and Averroes are quoted in support of the thesis of their substantial identity: „Et quod sic sit eadem substantia utriusque, non una intra et alia extra, ut didtur in Secundo, uidetur ex hoc quod dicitur in littera quod ,necesse est in anima has esse differentias'. Idem etiam perplures rationes potest confirmari, tam secundum Aristotelem quam secundum Commentatorem". The opposite thesis, favored by the theologians, is also supported on the authority of Aristotle and Averroes: „Et huius opinionis sunt multi theologi, qui dicunt intellectum agentem in nobis esse intellectum Primi, qui quidem intellectus est lux uera ...Et hoc uidetur haben ab Aristoteleper hoc quod diät intellectum agentem esse habitum ut lumen; similiter etiam propter hoc quod uult hie, secundum Commentatorem, quod substantia intellectus agentis est sua actio..."52. The appeal to Aristotle and Averroes is thus remarkably ambivalent (as was the case with Albert), for both „authorities" provide arguments ad utramque partem. This means that Adam had to solve the question by a personal determination, and that the use of arguments in favor of the substantial identity drawn from the „Long Commentary" does not imply that Adam based his own theory of the agent intellect as a faculty of the soul on Averroes. On the contrary, he knew that for Averroes the intellect was neither the soul nor a part of the soul, as he knew that Averroes' (and Aristotle's) texts could be used to support opposite doctrines concerning'the substantial identity of the agent and material intellects. In short, Adam was just invoking authorities to give textual evidence of the reasonableness of different positions, as the practice of disputatio required. Besides, Adam (and the other masters) did not present the two authorities on equal footing: Aristotle (the auctor) was always quoted first, Averroes (the commentator) second. The Arab Master's Commentary was an interpretive tool that could and should be used (even in favor of opposing doctrines). But neither allegiance to Averroes nor clear attribution of a particular doctrine to Averroes can be inferred from this ambivalent appeal to his writings: Adam is making dialectical use of isolated passages from Averroes for his own purposes, especially passages in which Averroes simply repeats Aristotle's words and which, taken out of context, could very well serve the cause of someone who wanted to make
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Adam of Bocfeld, In De anima (ms. Bologna Univ. 2344, f. 35r; Urb. lat. 206, f. 274r). Cf. supra, nt. 5. Adam of Bocfeld, In De anima (ms. Paris Nat. lat. 6319 f. 130vb), quoted by D. Salman, op. cit. (nt. 1), 2 1 0 - 2 1 1 .
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of the agent and the recipient intellects faculties of the soul. Similar remarks can be made concerning the substantial identity of the agent and material intellects, for there are, in the „Long Commentary", passages that would serve to support this thesis. For instance, III 20, 450 — 451 v. 214 — 222: „quando quis intuebitur intellectum materiellem cum intellectu agenti, apparebunt esse duo uno modo et unum alio modo. Sunt enim duo per diversitatem actionis eorum ... Sunt autem unum quia intellectus materialis perfiritur per agentem et intelligit ipsum. Et ex hoc modo diämus quod intellectus continuatus nobiscum, apparent in eo due virtutes, quarum una est acüva et alia de genere virtutum passivarum". The context shows, however, that the union is not a substantial one, but one between knower and object known 53 . In short, Adam de Bocfeld, like many medieval authors, quoted isolated passages for the sake of enriching the dispute. All these passages needed to be interpreted; Adam's purpose, however, was not to explain Averroes' commentary, but Aristotle's „De anima". In the economy of his pedagogical approach, an isolated reference to Averroes could enrich the discussion. No allegiance whatsoever to Averroes that would grant legitimacy to the expression „First Averroism" can be inferred from this practice.
IV. (a) I will now argue that the doctrine stating the substantial unity of the agent and receptive intellects as faculties of the soul was common doctrine in the faculties of arts; that theoretical foundation of this doctrine was the double consideration of the soul as forma et hoc aliquid, and that the appeal to Averroes was only a tactical move at the textual level. It has already been shown that at the very beginning of the 13th century, even before Averroes was known to the Latins, John Blund (and John of la Rochelle) taught the doctrine of the agent intellect as a faculty of the soul. Later on, when Averroes was already known but the authority of Avicenna was still predominant, Peter of Spain (who was Avicennian in many respects) also taught (around 1240) that the agent intellect is a faculty of the soul, without invoking in its support the authority of Averroes54. The PseudoPeter of Spain, who knew Averroes quite well, wrote (before 1245?) a commentary where he presented the doctrine of the agent intellect as a faculty of the soul as deriving directly from Aristotle's „De anima", without making 53
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R.-A. Gauthier (Anonymi, Lectura in librum De anima, Grottaferrata 1985, 471, nt. 350) refers to this text as the source of the doctrine of the substantial identity between the agent and material intellects. We have shown the equivocity of this reference; cf. B. C. Bazän, Anonymi, Sententia super II et III De anima, Louvain 1997, 109*, nt. 308. Petrus Hispanus, In I - I I De anima I 6 (ed. Alonso, Pedro Hispano, Obras filosoficas II, Madrid 1944, 301 v. 7 — 11): „/» anima intellectiva sunt duepotentie ... Potentia autem qua est omnia fieri appellatur intetlectus possibilis. Alia autem appellatur intellectus agens"\ cf. also ibid., 294 — 295; II 8, 704 v. 6 - 1 1 .
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any reference to Averroes (whom he quotes often for other purposes)55. The Anonymous Master of Arts, whose „Sententia super II —III De anima" (Oxford, Bodleian lat. misc. c. 70) is probably the oldest witness (1246 — 1247) of a course actually taught on the whole of Book III at a faculty of Arts, presented his doctrine of the agent intellect as a faculty of the soul exclusively as an Aristotelian thesis, one supported not by Averroes, but by consideration of the soul's double status as forma et hoc aliquid56. These examples, and those of the Theologians already quoted, suffice to prove that the doctrine was an original contribution of the Latins, and did not evolve under Averroes' influence. (b) There are, however, some ambiguous cases which deserve closer scrutiny. First, there is the Anonymous author of the treatise „De anima et de potenciis eius", written around 1225. We find in it the oldest expression of the doctrine of the agent intellect as a faculty of the soul. According to Gauthier, this treatise presents the doctrine not only in consequence of Averroes' influence, but also as an authentic averroistic position57. There are, of course, many isolated passages where Averroes simply repeats Aristode's words, but in these cases anyone quoting them should be considered as a follower of Aristotle, not of Averroes. The authentic averroistic meaning of those passages (that the material and agent intellects are separate substances) becomes clear only in the larger context and was not adopted by the masters. However, anyone of them could, for practical reasons, quote Averroes out of context in support of his own interpretation of „De anima". But did the Anonymous author really invoke Averroes? He did not, and Gauthier aknowledges the fact : ,,il ne le dit pas, mais il est facile de reconnaitre". But it is not so obvious. The key text is the following: „Et in hoc errauit Auicenna, quia posuit intellectum agentem separatum ab anima ... Set non est dubium hunc intellectum esse potenciam anime, cum in potestate anime sit intelligere quando uult: ex hoc enim sequitur quod etfantasmata sunt semper eipresentia, et intellectus agens qui abstrahlt speäes a fantasmatibus est copulatus anime sicut potencia eius"5S. The words in roman are certainly used by Averroes. For the expression „quando uult" Gauthier refers to a text that does not apply to the agent intellect, but to the intellect in habitu [III 18, 438 v. 25 — 29]. The same words are again found in a passage that, this time, applies to the agent intellect, but could never be proposed as the source of the doctrine of the agent intellect as a faculty of 55
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Ps.-Petrus Hispanus, In II - III De anima (ed. Alonso, Pedro Hispano, Obras filosoficas III, Madrid 1952, 326 v. 8 — 15): „... agens, possibile, sunt in ipsa anima secundum Aristotekm"\ cf. also ibid. 327 v. 2 8 - 3 2 8 v. 3. Anonymus, Sententia super II —III De anima, III 3 (ed. Bazän, Louvain 1997, 338 v. 158 — 163): „in quantum est forma, sic unitur corpori, et ex unione ipsius cum corpore contrahit intellectum possibilem ... in quantum autem anima est hoc aliquid, sic est motor corporis et sic debetur sibi intellectus agens". R.-A. Gauthier, Le traite ,De anima et de potenciis eius' op. cit. (nt. 2), 17. Ibid., 5 1 - 5 2 v. 4 5 3 - 4 5 8 .
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the soul, because in it the true nature of the agent intellect as an eternal substance, distinct from the material intellect, is apparent: „Et fuit necesse attribuere has duas actiones anime in nobis, stilicet retipere intellectum et facere eum, quamvis agens et redpiens sint substantie eterne" [III 18, 439 v. 71—74]. For the word „copulatus", Gauthier refers to seven texts: in the first (III 5, 390, v. 91—92) Averroes presents Themistius thought; in the second (III 5, 404 — 405, v. 512 — 527) Averroes does not speak of the „continuatio" of the intellect {intellectus), but of the object known (intellectum), in perfect harmony with his theory that the intellects are separate and human beings only participate in the activity of understanding by providing images; the same can be said of the third text (III 5, 407 v. 592) except that it deals with the most intelligible of the objects known (the first principles); the fourth and seventh texts (ibid., 411 v. 703-705 and III 36, 499-500 v. 585-590, 596-598) are classic passages where Averroes explains the relationship between the two separate and unique intellects and our participation in (and consequent multiplication of) the activity of knowing by the intermediary of images; and the sixth text (III 20, 444 v. 21 — 22) presents Alexander's noetics. In short, the word „copulatus" as used by the Latin Master does not reflect any authentic averroistic doctrine; it is simply a word taken out of context that the Master did not hesitate in using to explain his own original doctrine of the agent intellect as a faculty of the soul. (c) Another ambiguous case is the Anonymous author of the „Lectura in librum De anima" (1246—1247), edited by Gauthier. After explaining 430 alO, the Master examined the doctrine according to which the agent intellect is God. He gave different arguments against this position, including this one: „Item, Commentator uult quod intellectus possibilis corruptibilis est (in quantum possibilis est, set separabilis est> secundum eius substandam, et idem est secundum substandam cum intellectu agente". This again has been seen as an example of „First Averroism". Averroes, however, is not quoted to support the doctrine of the agent intellect as a faculty of the soul, but rather to oppose the thesis that God is the agent intellect (for that purpose it suffices that the agent intellect that is one in substance with the receptive intellect be a separate substance). Besides, according to Averroes, the agent and the material intellects are united not substantially, but by an act of knowledge, as has been already shown. The dialectical nature of the quotation is confirmed by the analysis of a second opinion according to which the soul is a hylomorphic substance in which the receptive intellect plays the role of matter and the agent intellect the role of form. The Master refuted this doctrine by recalling, among other arguments, that „intellectus possibilis est quedam substanda completa, et intellectus agens similiter"59. This is certainly closer to an authentic averroistic doctrine than is the doctrine of the intellects as faculties of the soul, but it 59
Anonymus, Sententia super II —III De anima III 2, q. 5 (ed. Gauthier, Grottaferrata 1985, 470 v. 3 1 3 - 3 1 4 ) .
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does not support the claim that the doctrine of the agent intellect as a faculty of the soul finds its origin in Averroes. When he finally gave his own opinion, the Master stated that there is, between the agent and receptive intellects, a substantial unity (and Averroes is again quoted in support of this thesis), but this does not imply that the agent intellect is a faculty (pars) of the soul. On the contrary: „Mud autem agens per quod reducitur intellectus possibilis ad actum est agens intellectus, et non est aliud extra animam nec est pars anime, ut probatum est; quare est anima tota"60. This very personal position does not fit the description of „First Averroism", defined as the doctrine that makes of the agent intellect a faculty of the soul on the grounds of Averroes' authority. It is only an ambiguous position that uses averroistic statements taken out of context to support a doctrine that is neither averroistic nor even Aristotelian, and that goes against the teaching of most masters of Arts of the time.
V. (a) Three more witnesses will be called to illustrate the teachings of the Masters of Arts on the nature of the agent intellect around 1250. The first is the anonymous author of the „Questiones super librum De anima" of ms. Siena, Bibl. Com. L 111.21, f. 134ra-177ra. According to Gauthier 61 , this text, probably of English origin, should be dated around 1250, because it uses Grosseteste's translation of the Nichomachean Ethics (1247) and seems to have been used by Albert in his De anima (1254). The close textual links between the Siena Questiones and the Admont Questiones published by Vennebusch, which were written around 1260, might suggest that the texts were closer in time than Gauthier suggests 62 . What is important to underline is that, contrary to Gauthier's opinion, the author of the Siena questiones was not a naive reader of Averroes and knew that for Averroes the Material Intellect is a separate substance, unique for all mankind 63 , which did not prevent him from making extensive use of Averroes' Commentary as his main interpretive tool. This Master, however, is not an example of „First Averroism" because his teaching on the agent intellect is a complex doctrine 60 61
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Ibid., III 2 (ed. Gauthier, 471 v. 344-346). Cf. R.-A. Gauthier, Preface, in: S. Thomae Aq. Sententia libri De anima, 2 5 1 * - 2 5 6 * ; cf. also M. Gardinali, Da Avicenna ad Averroe: Questiones super librum De anima, Oxford 1250 c.a., in: Rivista di storia della filosofia II (1992), 3 7 5 - 4 0 7 , and the excellent Tesi di Laurea by Ms. Paola Bernardini, Universitä degli Studi di Siena, Facolta di Lettere e Filosofia, 1996-1997. Cf. J. Vennebusch, Ein Anonymer Aristoteleskommentar des XIII. Jahrhunderts. Questiones in tres libros De anima, Paderborn 1963. This dependence is far more extensive than Gauthier managed to show within the limits of his brief reference (op. cit. nt. 61, 261*-263*). Anonymus, Questiones in librum De anima III, q. 2 (f. 177va): „utrum intellectus sit unus numero in omnibus hominibus, secundum quod uult Commentator; uel non". Unfortunately, the text ends ex abrupto a few lines below, leaving us without the answer.
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which does not fit into the category and because he did not invoke Averroes in support of it. The theoretical foundation of the doctrine is the same as that found in Masters of Arts discussed above, namely the Avicennian conception of the intellective soul as a substance in itself and a perfection of the body [I, q. 2, f. 136va: „substantia in se ... actus et forma corporis"·, II, q. 2, f. 154vb: „consideratio de anima duplex est sicut diät Avicenna: ... simplex essentia in se ... actus etpetfectio corporis"}. Because it is a spiritual substance [„intellectus est hoc aliquid in se", f. 172vb], the soul must be a composite of spiritual matter and form [I, q. 30, 1, f. 148vb], or of quod est and quo est [II, q. 45, f. 172va]; it cannot be generated from matter but requires divine creation [I, q. 31 f. 149rb; II, q. 14, f. 160vb; III, q. 1 f. 177rb: „intellectus ...a potencia creatoris eductus est"]. The human being is a complex entity: on one side there is a hylomorphic composite of matter and lower souls (vegetative and sensitive), generated by the parents [II, q. 12, f. 160ra]; on the other, there is the intellectual soul, which, being a substance, moves the body {motor) and acts as a „completive" perfection (forma) of the previous composite [I, q. 33, f. 151vb: „anima unitur corpori ut actus materie sue ... et ut artifex instrumento uel motor mobili"]. The term „homo" thus has two referents: „uno modo nominat sensitiuam cum forma ilia ulteriori inducta per naturam, et sic dicitur quod homo generat hominem et sol. Alio modo nominat illud totum cum anima intellectiua superaddita" [II, q. 15 f. 162rb], The union of these two substantial components of the human being requires intermediaries [1, q. 6, f. 150vb]. The term „soul", then, refers to an „aggregate" which includes the intellectual substantial soul that comes from without, and the lower souls generated from matter [II, q. 9 f. 158va: „ex istis diversis essenciis est una anima aggregata"]. This neoplatonic dualism is mitigated by two theses: the animated body and the intellectual soul share in one „esse" [I, q. 2, f. 136vb: „cum unum sit esse utriusque"; q. 31,1, f. 149rb: ,fit unumper essentiam"]·, and the „aggregate soul" is one essence with three faculties or powers [II, q. 10,1, f. 159ra: „anima hominis ... una essentia, non aggregata ex tribus essenciis"]. The intellectual substantial soul has two parts: the agent intellect, which plays the role of form in this spiritual substance, but which does not relate to the body as „petfectio" and is not even „unibilis" to the body; and the material intellect, which plays the role of matter, and is „unibilis" to the body, although in itself it is something more than the act of the body [I, Prologus, f. 135vb: „agens est pars formalis ipsius intellectiue ... alia est eius pars materialis ... secundum primam non est actus corporis nec unibilis ei, set separata secundum esse et substandam, sicut homo a capa sua; per secundam est unibilis et actus corporis, non tamen solus actus set aliquid preter hoc quod est actus"; cf. II, q. 16, f. 147ra: „(intellectus) ... est quedam substantia spiritualis habens exemplaria rerum sibi concreata ...et sub hac ratione < non > copulatur nobis, sicut dicit Averroys ... uel contingit loqui de intellectu ut nobis copulatur, et dicitur iste intellectus materialis, ut dicit Averroys, et intelligere istius non est sine jmaginatione, et licet secundum sui substandam sit separabilis α corpore, sua tamen operatio desinit cum corpore"]. It can be said that, while it is united to the body, the intellectual soul is „extra suam naturam" [II,
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q. 52, 7e, f. 176va]. The central principle of this anthropology, namely that the intellectual soul is both a spiritual substance and a perfection of the body — from which derive all the other developments concerning the nature of the intellects —, is basically Avicennian64, or, to be more precise, a syncretism of Aristotelianism (Aristotle and Averroes) and Neoplatonism (Augustine and Avicenna). For the purpose of our inquiry it is important to underline that, once the intellectual soul has been declared a spiritual substance, many of Averroes' statements can be repeated without having to adopt radical averroistic consequences. There is no problem in saying that the soul is „separate" and „incorruptible", that it is corruptible only „secundum esse quod habet in homine" [III, q. 1, f. 177va], that its „unibility" to the body is not something proper to its essence as such, but an accident that affects it „extra essentiam suam". Briefly, it is within this neoplatonic dualistic theoretical framework that the doctrine of the agent intellect as „part of the soul" must be understood. There is no „Averroism" here — at least not yet: what there is is a doctrine that is dangerously close to an averroistic conclusion that an Aristotelian could easily infer simply by purifying the notions at play. That is precisely what Siger did, five or so years later. (b) The second witness is another Master of Arts whose „Questiones in II et III De anima" are also contained in the ms. Siena, Bibl. Com. L III. 21, f. 177va—191ra. This text could be dated around 1260 and is a good representative of „First Averroism" according to Gauthier65. There is no doubt that Averroes is quoted literally and extensively by this master. Except for a series of questions concerning the Separate Intelligences, where the Liber De causis is often invoked as a main authority, Averroes' Commentary is the main interpretive tool for the Master. The massive presence of Averroes' terminology introduces in the text an obvious ambiguity, which demands careful examination before deciding on its exact meaning. The Master, however was not a naive reader of Averroes; he knew that Averroes had stated, at least for the sake of discussion, that the intellect is not multiple [f. 178rb: „Set tunc queritur an intellectus sit intentio indiuidualis uel non. Et dicunt quidam quod non, secundum Commentator em, et hoc ad minus opponendo diät"], but this does not deter him from using the texts and the authority of Averroes for his own purposes. The thesis that gives theoretical foundation to the Master's whole doctrine has already been found in his predecessors: the intellectual soul is hoc aliquid etforma. Because it is a spiritual substance, it must be composed of a receptive 64 65
Cf. M. Gardinali, op. cit. (nt. 61), 388. R.-A. Gauthier, Preface, in: S. Thomae Aq. Sententia libri De anima, 266*. The Siena manuscript contains only questions on Book III of De anima. Described by J. de Raedemaker, Informations concernant quelques commentaires du ,De anima', in: Bulletin de la S. I. E. P. M., 1 0 - 1 2 (1968-1970), 1 9 5 - 2 0 2 . The same text (although mutilated at the very end) is found in ms. Oxford, Merton Coll. 272, f. 2 4 2 r a - 2 5 3 v b . The ms. Erfurt, Amplon. q. 312, f. 43ra —51rb contains a longer version, including some questions on Book II.
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part analogous to matter (the material intellect) and a formal part analogous to form (the agent intellect) [f. 181va: „necesse est ponere intellectum esse formam in se creatam et corpori infusam, scilicet quod est in se (hoc) aliquid et alteri coniunctum. Prius secundum naturam (mensuram cod.) est hoc aliquid quam alteri infundatur. Set quod causatum ens hoc aliquid et per se non est materia tantum ... nec estforma tantum ... quare necesse est in anima intellectiua (esse) partem intellectus receptiuam, et hec est possibilis, et partem intellectus formalem, et est intellectus agens; (patet ergo quod tam intellectus agens} quam possibilis sint partes anime"\. The intellectual soul can be considered in itself and in relation to the body [f. 179rb: „intellectus potest dupliciter considerari ... aut secundum quod unitur corpori et non intelligit nisi per receptionem ab jmaginatione, et sic proprie est possibilis ... Vel potest considerari in se et absolute, prout est aliquid in se et nonpotencia nisi ipsius efficientis creantis"]. Considered in itself, the soul, the substantial foundation of the intellectual faculties, is neither universal nor particular, but a sort of intermediate nature [f. 178vb: „inpossibile est quod substantia intellectus possibilis, ens in me et in te, sit intencio indiuidualis in tantum contracta, sicut est hoc lignum uel iste homo. Vnde necesse est ponere quod intellectus possibilis ... sit natura indiuidualis media inter uere uniuersale et uere particulare"\. No Averroism should be read into this statement. The soul cannot be universal because, according to a well known Avicennian doctrine, the universal does not include any mode of being in its definition, or exists only in the mind [f. 188vb]. It cannot be particular, because that would imply that it is a material being. Considered as a substance, the soul, though separate from matter, is neither unique nor eternal, but multiplied in different subjects, being individuated by the act of creation that places it in time [f. 178vb: „non causatur a principiis subiecti, set infunditur ab extra, et ideo (non) multiplicatur a multitudine subiectorum in quibus est sicut albedo uel nigredo, uel caliditas uelfrigiditas, set ab actione efficientis"·, cf. f. 182rb: „intellectus agens creatur de nichilo et exit a non esse in esse; ergo non semper est"]. The intellectual soul is also individuated by its operations, as has been shown by Averroes [f. 182va: „intellectus potest dupliciter considerari: aut secundum operationem ad indiuiduum singnatum (sic) ut Sortem uel Platonem; aut prout est aliquid in se et absolute et in uniuersali. Et hoc dicit (Averroes) de toto intellectu composite ex materiali etformali"]. The textual foundation for the Master's doctrine is Aristotle, De anima I, 408bl8—19: „Set intellectus uidetur esse substantia et non corrumpi ... ibi dicit Aristotiles quod intellectus est corruptibilis secundum operationem quam habet in coniuncto, ipse tamen in substantia sua consideratus non; et dititur intellectus possibilis secundum quod est in coniuncto id idem quod dititur intellectus agens prout in se consideratur et homini dat intelligere" [f. 182va], The doctrine of the agent and receptive intellects as parts of the intellectual soul derives, then, direcdy from Aristode. Sometimes it is supported exclusively on Aristode's authority [f. 180va: „secundum Aristotelem, intellectus agens est pars anime rationalis"\, sometimes on Aristode's authority, accompanied by that of Averroes' Commentary [f. 179rb: „si totum compositum esset intellectus possibilis, tunc intellectus agens non esset aliquid ipsius intellectus humani, quod uidetur esse contra illam litteram Aristotelis: Quoniam autem fit in
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omni natura, et eciam contra expositionem Commentatoris, quamuis quidam hoc concedat"]. Of course, the Master did not miss the opportunity to repeat, following his predecessors, that for Averroes the agent and material intellects are „one in substance" [f. 181rb: „Commentator diät (In De anima III 20, 451 v. 215 — 222) quod intellectus agens et possibilis sunt unum in substantia et duo in operationibus tantum"·, cf. f. 179rb]; but, as has been shown, this isolated quotation does not reflect Averroes' theory. Besides, the appeal to Averroes' authority is ambivalent, because the Master also quoted him in support of the opposite thesis 66 . Finally, the thesis is also presented as a necessary consequence of strong rational arguments elaborated by the master [f. 181rb: „Et hoc potest confirmari demonstratione tali: nichil agit naturaliter nisi per suam formam ..."; cf. f. 182vb: „inpossibile estponereprimam causam uel intelligendam esse intellectum agentem, quia ex quo prima causa habet omnia intelligibilia penes se, inutile et supeifluum esset ponere ipsum esse jmaginabile ad hoc ut intellectus per ipsum intelligent ..."]. This doctrine is not only a strong endorsement of the Aristotelian doctrine of abstractive knowledge, but also a clear statement of the autonomy of human knowledge. The Master could not have been unaware that he would encounter (as his predecessors did) formidable opposition, not only from the „auctoritates" (Avicenna and the other commentators), but also from those Theologians for whom only God can be the agent principle of human knowledge. No doubt, then, the Master, like his predecessors, would not mind appealing to isolated texts of the single author who could provide some support, no matter how ambiguous, to the new interpretation of Aristotle's „De anima". Passages from Averroes, taken in their literal meaning and out of context, could serve to strengthen the exegesis that those Masters had proposed for 430 al 0 — 14 against the thesis that made of God the agent intellect [cf. f. 181ra]. Within the theoretical framework of the doctrine that the intellectual soul is a spiritual substance and a form, these Masters could repeat many of Averroes' words without accepting any further averroistic consequences. The use of Averroes as an authority was a tactical move, and a smart one, because, after all, Averroes' Commentary was the best interpretive tool available; but this ambiguous appeal to Averroes does not grant legitimacy to the expression „First Averroism". The Master's doctrine should rather be understood strictly within the framework of his conception of the soul as a spiritual, incorruptible created substance, individuated by the act of creation that gave it being. (c) The last witness is the Anonymous Master who wrote (around 1260) the „Questiones in tres libros De anima" published by J. Vennebusch 67 . Its author knew that for Averroes the agent and receptive intellects are two 66
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Ibid., f. 180vb: „Item, secundum expositionem Commentatoris in ilia littera: ,Qui uero secundum potenciam', etc. [430a20 — 21], uult dare differentiam talem inter inteilectum agentem etpossibikm ... ergo intellectus agens et possibilis non sunt una et eadem substantia numero". This is proof that Averroes' Commentary is a tool for many purposes. Cf. supra, nt. 62.
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separate substances, unique for all humankind 68 . The Master rejects not only both theses, but also Averroes' inference concerning the analogical nature of the general definition of the soul 69 . This disagreement on a fundamental matter does not prevent the Master from using Averroes' Commentary extensively and freely, wherever he deemed it useful to prove his own points of view. To understand how this is possible, it is necessary to grasp the theoretical foundation of his whole doctrine on the intellectual soul and the noetics that follows, namely the double consideration of the soul as hoc aliquid et forma10. The soul, indeed, is a spiritual substance in itself, but is at the same time the perfection that completes the human hylomorphic composite. The metaphysician considers the soul in its esse absolutum\ the physicist, only per relacionem ad corpus71. In itself the soul is incorruptible, as all spiritual substances are, and its function as a form is temporary 72 . The very name „anima" does not express what this spiritual substance is absolute, but only its formal causality, relatively to the body it animates 73 , or its efficient causality vis-avis the body it moves 74 . The intellectual soul, being a substance below the First Cause, must be composed of a potential principle and a principle of actuality75. Within this dualistic anthropology of neoplatonic inspiration, the composite of intellectual soul and body could not be considered a „natural composite" 76 , because their union is not the immediate union that obtains between a natural form and matter, but requires a series of intermediate forms that prepare matter for the reception of the , forma completiva"11. As a spiritual substance, the soul must be created 78 . The soul and the body maxime distant, because they do not participate in the same genus of substance; but as they are related to each other as „perfection" to „perfectible", they are united by a relationship of proportionality based on the essential dispositions that make the union possible, namely the „unibilitas" of the intellectual soul 68
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Anonymus, Q. in tres libros De anima III q. 65 (ed. Vennebusch, 280 v. 3 8 - 3 9 ) : „ad hoc autem sokbat respondere Averrois et Emphace et omnes sustinentes unitatem intellectus possibilis"·, III q. 66 (ed. Vennebusch, 284 v. 8 2 - 8 3 ) : „Ydempatetper Averroym dicentem ibidem, quod agern et possibilis sunt duo intellectus, et uterque est separatus". Cf. Ill, q. 67 (ed. Vennebusch, 301 v. 391 — 392). Ibid., III, q. 61 (ed. Vennebusch, 267 v. 8 1 - 1 0 0 ) . Ibid., I, q. 8 (ed. Vennebusch, 110 v. 6 2 - 6 4 ) . Ibid., I, q. 11 (ed. Vennebusch, 1 1 6 - 1 1 7 v. 2 2 - 2 9 ) . Cf. also I, q. 1 (ed. Vennebusch, 9 3 - 9 4 v. 5 4 - 5 7 ) ; I, q. 3 (ed. Vennebusch, 99 v. 6 9 - 7 0 ) ; I, q. 18 (ed. Vennebusch, 132 v. 4 2 - 4 3 ) . Ibid., I, q. 23 (ed. Vennebusch, 146 v. 7 8 - 8 3 ) . Ibid., II, q. 29 (ed. Vennebusch, 163, v. 5 1 - 5 9 ) . Ibid., II q. 33 (ed. Vennebusch, 181 v. 6 3 - 6 5 ) . Ibid., III q. 62 ed. Vennebusch, 270 v. 85 — 89): „intellectus, cum recedat a pura simplicitate Primi, aliquant habet composicionem, saltim ex forma incompleta et forma que est ipsius complementum ... in quo aggregate incompletum est ipsum quod est, ipsum vero complementum est quo est"; for the rest of this text, cf. infra nt. 81; cf. also III, q. 69 (ed. Vennebusch, 3 0 4 - 3 0 5 v. 1 2 - 1 6 ) . Ibid., II, q. 29 (ed. Vennebusch, 165 v. 1 2 2 - 1 2 7 ) . Ibid., II, q. 22 (ed. Vennebusch, 1 4 2 - 1 4 3 ) . Ibid., III, q. 61 (ed. Vennebusch, 266 v. 7 4 - 8 0 ) .
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and the inferior forms that prepare the body 7 9 . The intellectual soul that comes from without is united to the inferior generated forms (the vegetative and sensitive souls), in a single composite soul (aggregata), which in turn is the single act o f the whole human composite (body and soul) 80 . The nature of the intellects must be understood within this substantialistic conception o f the soul and this anthropological dualism that are the doctrinal foundations o f the Master's noetics. The soul, indeed, being a spiritual substance, must be composite. The two intellectual faculties are linked to the formal and material principles of the composite soul {quod est/quo est): „et secundum hoc, sicut intellectus hec duo habet in sui composidone, per hec duo habet duas potencias in sua potencia completa: racione incompleti quod est ut materiale in ipso, habet potendam qua didtur intellectus possibilis; radone complementi habetpotendam que didtur intellectus agens"sl. This doctrine shows that the theoretical foundation for considering the receptive and agent intellects as parts o f the soul is the conception o f the soul as substance, a thesis that owes as much to Avicenna as to Augustine, and that has been enriched by the addition o f an original (and eclectic) interpretation of Aristotle's „De anima". The textual support o f the doctrine is another question. Since the problem raised by the notion of „First Averroism" concerns mainly the nature o f the agent intellect, I will focus only on this particular faculty. The Master showed a comprehensive understanding o f previous interpretations. Following Albert, he classified them into three categories: a) the agent intellect is a habitus (which he rejects with the support o f Averroes); b) the agent intellect is a separate substance (which he rejects on the basis o f Aristotle's De anima 430 al0—14 and Averroes' interpretation o f this passage, though acknowledging that this is the position held by most o f the Greek and Arab commentators); and c) the agent intellect is a part o f the soul. This position, which is his own, is supported by the same quotation from Averroes' „Long Commentary" that had been invoked by his predecessors, namely III, 20 v. 220 — 222. Had we not seen that the doctrinal foundation of the thesis owes more to Avicenna than to Averroes, we would be tempted to see here an expression of „First Averroism". But even at the textual level there are reasons to reject this qualification. The Master, indeed, explained that among those who say that the agent intellect is part o f the soul there are some who consider that the soul, of which the agent intellect is a part, is in itself unique for all mankind: „ponentes vero intellectum agentem esse partem eiusdem anime cum possibili, in hoc concorditer dicebant idem, prefer quod diversificati sunt in substantia talis anime et in modo intelligendi, quoniam quidam illorum huiusmodi animam posuerunt esse eandem in numero in omnibus"82, which is a thesis that the Master had previously attributed to Averroes
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Ibid., Ibid., Ibid., Ibid.,
I, q. 22 (ed. Vennebusch, 140 v. 6 0 - 7 4 ) . II, q. 32 (ed. Vennebusch, 176 v. 1 1 2 - 1 3 6 ) . II, q. 62 (ed. Vennebusch, 2 7 0 - 2 7 1 v. 8 9 - 9 3 ) . III, q. 67 (ed. Vennebusch, 296 v. 2 2 5 - 2 2 9 ) .
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and rejected. Once his differences with Averroes had been established, he could incorporate into his own conception of the soul as a spiritual substance an isolated averroistic reference: „Propter quod 3a via videtur esse concedenda, cum Averroy qui dicit, quod agens etpossibile sunt due virtutes unius anime"83. This merely tactical quotation does not imply adherence to the whole theoretical complex in which this quotation has its properly averroistic meaning. The appeal to Averroes is the result not of an insufficient understanding of Averroes' doctrine, but of an independent, pragmatic and lucid reading of the „Long Commentary". The independence was again proven when the Master did not appeal to Averroes' support on the question whether the agent and the possible intellects belong to the same substance 84 . The Master's noetics is just another expression of the original (though eclectic) anthropology elaborated by the Latin Masters in their interpretation of Aristotle's „De anima".
VI. Conclusion: The foregoing inquiry has shown the originality of the Latin interpretation of Aristotle's „De anima". By stating that the agent intellect is a faculty of the soul that is the form of the body, the Latin Masters proposed an exegesis never advanced by previous commentators. The theoretical foundation of this thesis is the double consideration of the soul as forma et hoc aliquid. Being a substance, the soul must be composed of potential and actual co-principles, to which the Latins linked the receptive and agent intellects. The textual foundation of this doctrine was De anima 430 alO —14, although some Latin Masters, for dialectical reasons, also appealed to Averroes in its support, quoting him out of context, even if they were aware of the true meaning of his own views. The doctrine is basically an eclectic neoplatonic Aristotelianism. To call it „First Averroism" obscures not only its historical originality, but also its doctrinal meaning.
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Ibid., III, q. 67 (ed. Vennebusch, 297, v. 2 5 5 - 2 5 6 ) . Ibid., III, q. 69 (ed. Vennebusch, 3 0 4 - 3 0 5 ) .
Philosophische Selbsterkenntnis des Menschen Der Paradigmenwechsel im 13. Jahrhundert THEODOR W. KÖHLER (SALZBURG)
Daß „wir ... nicht das theoretische Bedürfnis des 20.Jahrhunderts einer einheitlichen Anthropologie dem 13. Jahrhundert ansinnen [dürfen]" 1 , ist zumindest in der mediaevistischen philosophiegeschichtlichen Forschung wohl unbestritten. Auch die fortschreitende Aufarbeitung bislang noch unerschlossener Quellenbestände bestätigt, daß es so etwas wie eine eigene, einheitliche philosophische Disziplin vom Menschen im dreizehnten Jahrhundert nicht gab und daß auch die gemeinhin als anthropologischer „Weiser" angesehene explizit formulierte Frage „Was ist der Mensch?" in den Textzeugnissen nur eine erstaunlich beiläufige Rolle spielt. Zugleich aber macht die Forschung mehr und mehr Züge eines philosophischen Erkenntnisbemühens um den Menschen sichtbar, das weitgefächert und vielschichtig war und von aufschlußreichen wissenschaftssystematischen Reflexionen begleitet wurde. Diese sind — auf breiter Quellenbasis erfaßt — für uns maßgebliche Zeugnisse für das Selbstverständnis des philosophisch-anthropologischen Diskurses dieser Epoche und seiner grundlegenden Perspektiven. Zu diesen Perspektiven sind vor allem zwei zu zählen. Nach einer ersten erscheint die Erkenntnis alles dessen, was ist, — vollzogen in den einzelnen philosophischen Disziplinen — als Weg und Weise der Selbsterkenntnis des Menschen, nach einer zweiten umgekehrt die Selbsterkenntnis des Menschen als Weg und Weise der Erkenntnis von allem, was ist; nach der ersten kommt der Mensch als Erkenntnisgegenstand in den Blick, nach der zweiten als Erkenntnisprinzip; die erste ist objektivierend, die zweite bringt — ansatzweise — den Menschen als Subjekt zur Geltung. Die erste Perspektive kommt am explizitesten in einer Wissenschaftseinteilung Robert Kilwardbys zum Ausdruck, die in dem zusammen mit seinem Kommentar zur „Ethica nova et vetus" überlieferten Prolog — wohl aus der Mitte der vierziger Jahre — enthalten ist 2 . In dieser divisio scientiae hat die den 1 2
K. Flasch, Einführung in die Philosophie des Mittelalters, Darmstadt 1987, 129. Robert Kilwardby, Commentarius in ethicam novam et veterem Prol. (Cambridge, Peterhouse Library, 206, fol. 285ra —rb). Der künftige Herausgeber des Kommentars, Anthony J. Celano, stellte mir liebenswürdigerweise seine Kollationen zur Verfügung. Dafür sei ihm herzlich Dank gesagt. Celano zog neben der Cambridger Handschrift noch eine Prager heran. Soweit der von Celano akzeptierte Text von der von uns gebotenen Transkription abweicht, ist er mit der Sigle Ce verzeichnet (rein orthographische Abweichungen sind dabei
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wissenschaftssystematischen Äußerungen der Autoren des Untersuchungszeitraums zu entnehmende Uberzeugung ihren formellen Niederschlag gefunden, wonach das philosophische Erkenntnisbemühen um den Menschen prinzipiell in der Philosophie insgesamt ihren Ort hat. Robert setzt diese Konzeption in seiner Wissenschaftseinteilung systematisch um und konkretisiert sie zugleich. Entsprechend der körperlich-unkörperlichen Doppelnatur des Menschen erstreckt sich danach die philosophische Erkenntnisbemühung um den Menschen auf die Naturphilosophie und die Mathematik, die Metaphysik, die Moralwissenschaft sowie auf die Wissenschaft von den sprachlichen Äußerungen 3 . Robert verzichtet darauf, unter den philosophischen Teil-
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nicht beachtet). Für die Cambridger Handschrift ist hier die Sigle Ca verwendet. Zur Zuschreibung an Robert Kilwardby und zur Datierung O. Lewry, Robert Kilwardby's Commentary on the „Ethica nova" et „vetus", in: Ch. Wenin (ed.), L'homme et son univers au Moyen Age, vol. II (Philosophes medievaux 27), Louvain-la-Neuve 1986, 799-807, hier: 806. Cf. D. Luscombe, The Ethics and the Politics in Britain in the Middle Ages, in: J. Marenbon (ed.), Aristode in Britain during the Middle Ages. Proceedings of the International Conference at Cambridge, 8 - 1 1 April 1994 (Rencontres de Philosophie Medievale 5), Turnhout 1996, 337-349, hier: 337. R.-A. Gauthier in der Einführung zu R.-A. Gauthier/J.Y. Jolif, Aristote: L'Ethique ä Nicomaque. Introduction, traduction et commentaire (Aristote. Traductions et Etudes 1/1), Louvain — Paris 1970, 117, ging von einem anonymen Autor und einer Datierung vor 1245 aus. G. Wieland, Ethica — Scientia practica. Die Anfänge der philosophischen Ethik im 13. Jahrhundert (BGPhThMA N. F. 21), Münster 1981, 50, äußerte noch Bedenken gegenüber der Zuschreibung an Robert Kilwardby. Celano hat sich für die Echtheit entschieden (briefliche Mitteilung und mündlich); siehe auch A. J. Celano, Robert Kilwardby and the Limits of Moral Science, in: R. J. Long (ed.), Philosophy and the God of Abraham: Essays in Memory of James A. Weisheipl, OP (Papers in Mediaeval Studies 12), Toronto 1991, 3 1 - 4 0 . Robert Kilwardby, Commentarius in ethicam novam et veterem Prol. (Cambridge, Peterhouse Library, 206, fol. 285ra): „Homo ergo, qui vultphilosophari, debet cognoscereprinäpia constituenäa ipsum et eciam proprieties consequentes esse eius. Sed prinäpia hominis sunt duo, sälicet natura corporalis et natura incorporalis. Oportet ergo eum, qui vult esse philosophus, utramque istarum naturarum cognoscere. Philosophia autem corporalis nature habetur in philosophia naturali; cogniäo autem nature incorporalis, ut anime, habetur in quodam libro naturali, ut in libro de anima; magis tarnen habetur cogniäo anime in methaphisica, ubi (nisi Ca) traditur cogniäoprinäpiorum inmaterialium (/.] et materialium Ca). Ex hits patet, quod qui vult esse philosophus, oportet eäam, ut säat naturalem philosophiam propter cogniäonemprinäpiorum naturalium ipsum constituencium, cuius(modi> sunt quatt(u)or elementa; oportet eäam, ut säat (naturalem philosophiam ... ut säat Ce; om. Ca) methaphisicam propter cogniäonem anime, que est prinäpium eius inmateriale. Item sicut pretactum est, oportet eum, qui vult esse philosophus, {oportet add. CaCe) cognoscere proprietates consequentes esse suum et suas proprias passiones. Sedproprie passiones sive proprietates quedam consequntur (consequenter Ca) esse hominis ex parte nature corporalis, quedam autem ex parte nature incorporalis. Et adhuc passionum consequenäum esse hominis ex parte virtutis corporalis quedam sunt simpliäter naturales, ut ilk, que habentur nos faciunt cognoscere 209 secundum Philosophum libro De sensu 210 . 56Ad-
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Aristoteles, Ethica Nicomachea, trans. Grosseteste, textus recognitus (Arist. Lat. XXVI 1 - 3 , Fasc. 4), ed. R. A. Gauthier, Leiden - Brüssel 1973, VII, 13, 514, 2 1 - 2 4 (53a11sqq.): „Propter quod et non bene habet sensibilem generadonem dicere esse delectadonem, sed magis dicendum operacionem eius qui secundum naturam habitus, pro eo autem quod est sensibilem, non impeditam." 195 om. V 196 + ei V 197 ? Β operations Β 199 + si Β Ρ Τ 200 ibi Ρ uti ρ Aristoteles, Ethica Nicomachea (Anm. 193), X, 5, 572, 3 (75a30): „Coauget enim operacionem propria dekctacio." — Ibid., 572, 20 (75bl4sqq.): ,$uia autem quidem propria delectado confirmat operadones et diuturniores et meliores fadt, aliene autem affidunt, manifestum quod multum distant." Cf. etiam cap. 6 —8. — Auctoritates Aristotelis (Philosophes Medievaux 17), ed. J. Hamesse, Louvain-Paris 1974, 247, n. 203: „Dekdatio tenet operantem in opere." — Ibid., 247, n. 204: „Operatio dekctabilior minus dekäatbikm expellit, unde amantesfistulas nonpossunt intendere sermonibus." sexto Ρ Aristoteles, Politica (Anm. 87), VIII, 7, 433, n. 1167 (1341b36sqq.): ,J)icimus autem non unius utilitatis gratia oportere uti musica, sed plurium gratia: et enim ludi gratia et purißcationis. Qui autem didmus purificationem, nunc quidem simplidter, iterum in iis quae de Poetica, dicemus manifestius." Petrus d'Auvergne, In libros Politicorum Aristotelis Expositio (Anm. 87), VIII, 434, n. 1331, kommentiert: „Didmus quod musica non est simplidter quaerenda gratia alicuius utilitatis unius nec utendum est ipsa propter unum solum, sed gratia plurium. Htenim utendum est eadem causa ludi et purificationis. Quid autem didmus purificationem, nunc quidem simplidter supponatur. In poetica autem magis manifeste didtur de ea. Videtur autem esse purificatio corruptio alicuius passionis nocivae inexistentis. Et quia corruptio unius est per generationem alterius; ideo est corruptio unius passionis velper generationem contrariae, sicut irae corruptio per generationem mansuetudinis." 205 simpliciter Β 206 et aliis ... et audibilibus] om. Ρ sensitiva Ρ PI Τ V 208 accidentia (?) V 209 cognosce Τ 210 consensu (?) Τ cognoscendum (?) PI
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hue autem magis in audibilibus in actu, tum 2 1 1 quia magis 2 1 2 faciunt nos scire, quamvis per accidens secundum eundem, ubi prius 213 . SlSermo214, enim bene audibilis existens causa est diseiplinae, sed secundum accidens. 58Ex nominibus enim constat. S9Nominum unumquodque symbolum est215. 60Tum quia audibilia fortius movent et 2 1 6 pluribus modis, visibilia enim 2 1 7 movent una alteratione solum tenui 218 et quasi spirituali, audibilia autem 2 1 9 magis movent materiali alteratione et etiam secundum localem motum 2 2 0 medii et organi, sicut dictum est prius. 62Et ideo magis et manifestius excitant passiones similitudinem earum habentia 221 . 63Ad secundam: cum dicitur, quod illud, quod est causa motus spiritus ad exteriora, non causat raptum, quia raptus fit per motum eorum ad interiora etc., supponatur. 64Et cum assumitur, quod consonantiae musicae movent spiritus ad exteriora, dicendum, quod non est verum universaliter. 65Primo enim movent eos ad interiora et alterant. 66Ibi 2 2 2 enim maxime movent alterando, ubi causatur passio, quia causa in actu et causatum in actu 2 2 3 sunt simul. 67Quia igitur Organum partis animae appetitivae et sensitivi primi 2 2 4 sunt interius secundum Philosophum 2 2 5 , maxime alterant interius circa idem sensitivum primum 2 2 6 . 68Et hoc apparet in raptu, qui causatur ex apprehensione partis animae interiori et intentione 227 delectationis 2 2 8 circa illud 229 . 69Quia enim intenditur < fol. 85va PI > in ipso appre-
211 213
2 1 2 om. P, tum Τ actu tum] acutum Β Aristoteles, De sensu et sensato, transl. Guillelmi de Moerbeka, in: Thomas de Aquino, Sentencia libri De sensu et sensato (Opera omnia 45, 2), Ed. Leonina, Rom —Paris 1985, I, 1 , 1 1 (437a3sqq.): „Horum autem ipsorum ad necessana quidem melior est uisus, et secundum se; ad intellectum autem et secundum aeädens auditus. Multas quidem enim differendas et multimodas uisus annunäat potencia, quia omnia corpora colore partiäpent. Quare et communia magis per hunc senduntur. Dico autem communia magnitudinem, figuram, motum, numerum. Auditus uero soni tantum differendas; paucis autem et easque uods. Secundum uero aeddens adprudendam auditus plunmam confert partem." — Cf. Aristoteles, Metaphysica, recens. et transl. Guillelmi de Moerbeka (Aristoteles Latinus XXV 3.2.), ed. G. VuiUemin-Diem, Leiden, New York, Köln 1995, I, 1, 11, 7 - 9 [980a25sqq.]: „Causa autem est quia hie [sc. visus] maxime sensuum cognoscere nos fadt et multas differentias demonstrat."
secundum PI Aristoteles, De sensu et sensato (Anm. 210) I, 1, 11 (437a3sqq.) — Cf. Auctoritates Aristotelis (Anm. 201), 196, n. 4: „Auditus magnam partem ad intelligendam prudentiam confert." — Ibid., 196, n. 5: „Sermo audibilis existens ex causa disäplinae non per se, sed per aeddens, id est in quantum, significat aliquid." — Ibid., 196, n. 6: „Visus nobis multas rerum differentias demonstrat." 2 1 8 deum Β Ρ Τ V 216 i n γ 217 m o v e n t ... e n j m ] om. Β Τ 2 1 9 aut Β 2 2 0 modum Ρ Τ V 221 Cf. zum vorangehenden Abschnitt Petrus d'Auvergne, In libros Politicorum Aristotelis Expositio [Anm. 8 η , VIII, 2, 428, η. 1310. 2 2 2 ubi Ρ 2 2 3 actum Ρ Τ 2 2 4 om. Ρ 225 non inveni 2 2 6 primis Τ 2 2 7 interiori et intentione] intentione interiori Β 2 2 9 idem Β 228 om. Β 214
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hensio et delectatio, confluunt spiritus et calor ab exterioribus ad interiora, ubi magis laborat natura. 70Hoc enim est ex sagacitate naturae mittere spiritus230 ad locum, in quo magis indiget 231 .
< QUAESTIO
17: UTRUM
HARMONIAE SEU
MUSICAE
AD MORES
VALEANT
VIRTUTES>
lUltima quaestio fuit, utrum harmoniae musicae ad mores valeant seu virtutes232. 2Et argumentum fuit, quod non, quia omnis harmonia musica vel est vocalis 233 vel Instrumentalis, sed nec haec nec ilia valet 234 ad mores: vocalis non, quia secundum Philosophum octavo Politicae facit banausos, id est male se habentes secundum corpus ad animam 2 3 5 , nec etiam Instrumentalis, quia retrahit a scientia, quae requiritur ad mores secundum eundem, ubi prius 236 , ergo etc. 3In oppositum est Boethius in 237 primo Musicae in 238 prooemio et Philosophus octavo praedicto. 4Ad istam quaestionem dicendum est consequenter 239 primo 240 , quod quaedam consonandae musicae valent241 et disponunt ad mores seu virtutes. 5Cuius ratio primo apparet ex dictis, quoniam si aliquis agit vel disponit ad aliquid, ipsum magis factum agit 242 et disponit ad magis tale, quoniam si simpliciter ad simpliciter et magis ad magis et maxime ad maxime 243 . 6Sed soni consonantes secundum aliquas harmonias agunt ad passiones et excitant eas, sicut apparet ex praecedenti quaestione, ergo magis consonantes et 2 4 4 ad medium reducti agunt et disponunt 245 ad 246 passiones 247 moderatas et ad
2 3 0
231
232 236
237 242 243
244
«Mt
Ρ
Cf. z u m raptus Petrus d'Auvergne, In libros Politicorum Aristotelis Expositio (Anm. 87), VIII, 2, 4 2 6 s q , n. 1 3 0 3 - 1 3 0 5 . 233 234 235 inv. Τ localis V valeat Ρ Τ V materiam Β Aristoteles, Politica (Anm. 87), VIII, 2, 411, η. 1107 (1337b8sqq.): „Banausum enim opus oportet putare esse, hoc, et artem haue, et doctrinam quaecumque ad usus et actiones virtutis efficiunt inutile liberorum corpus, aut animam, aut intellectum. Propter quod tales artes quaecumque faäunt corpus deterius disponi, banausas vocamus et mercenarias operationes; non vacantem enim faäunt mentem et depressam." - Cf. Petrus d'Auvergne, In libros Politicorum Aristotelis Expositio (Anm. 87), V I I I , 1, 415, η. 1266: „Sicut area finem ultimum hominis simpliciter non contingit male se habere; his autem quae sunt ad ipsum, contingit quandoque male uti. Et hoc contingit quando per considerationem vel exercitium in eis retrahitur aliquis, vel a fine, vel ab his quae propinquiora sunt fini; sicut contingit per considerationem in aliqua scientia posteriori respectu alieuius minus scibilis retrahitur aliquis a consideratione in prima respectu maxime scibilis." 238 239 240 241 om. Ρ primo Ρ 9nt (?) Β p o e n a (?) Β valeant Ρ Τ V vel disponit ... agit] om. Τ ad maxime] om. Ρ Τ V - Cf. Auctoritates Aristotelis (Anm. 201), 264, n. 18: „Facilia sunt quaecumque sine tristitia sunt et in modico tempore sunt, sicut simpliciter ad simpliciter, magis ad magis, maximum ad maximum et e contra." 245 246 247 om. Β Ρ Τ et disponunt] om. PI sed V + ad m e d i u m V
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medium reductas magis. 7Sed passiones ad medium reductae disponunt ad virtutes, quoniam sunt materia earum. 8Virtutes enim per se sunt moderativae earum. 9Igitur consonantiae quaedam musicae, quae scilicet magis ad medium reductae sunt, valent et disponunt ad virtutes. lOSecundo hoc idem apparet, quoniam illa, in quibus sunt 248 virtutum similitudines, valent et disponunt ad eas 249 . llSimile enim agendo disponit ad sibi simile. 12Sed in quibusdam harmoniis musicis sunt virtutum similitudines. 13Virtus enim moralis est habitus in medietate consistens determinata recta ratione, quemadmodum sapiens determinaret250. 14Harmoniae autem 251 musicae in media quadam ratione sonorum consistunt252, sicut declaratum 253 fuit in praecedenti quaestione. Igitur harmoniae musicae quaedam valent et disponunt ad virtutes. 15Tertio hoc idem apparet, quoniam auditus in quadam media ratione 254 consistit, sicut apparet secundo De anima255. 16Si igitur movetur ab harmonico sono sibi 256 proportional! est delectatio 257 secundum ipsum. 17Cum igitur anima bene disposita per intellectum in auditu secundum actum iudicat mediam rationem 258 sonorum sibi convenientem, delectatur. 18Delectatio vero in operatione intendit operationem et remittit contrariam , sicut apparet ex decimo Ethicae259, operatio autem intensa delectationem, quam consequitur, propter quod intendit sibi similem. 19Simile enim confortat sibi simile. 20Quia ergo opus virtutis consistentis260 in eadem vel simili proportione illi assimilatur, intenditur, et ipsa intensa delectatio intenditur, et ipsa iterato 261 intensa intenditur virtutis illius operatio 262 . 21Per intentionem vero frequentem 263 ipsius264 operationis augetur virtus illa. 22Igitur harmoniae vel consonantiae musicae bene proportionatae valent et disponunt ad virtutes, improportionatae autem ad contraria. 23Et propter hoc dicit Boethius prooemio Musicae, idcirco magnam265 reipublicae esse custodiam Plato arbitratur musicam moratam optime prudenterque266 coniunctam2(n, ita ut2e& sit modesta et simplex et mascula non effeminata nec fera nec ναήα2ω. 24Et Philosophus dicit octavo Politicae, quod talis reddit 270 innocuam271
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256 260 264 2ί'8 270
2 4 9 + simile enim agendo disponunt ad eas PI secundum PI determinabit Β — Auctoritates Aristotelis (Anm. 201), 235, n. 37: „ Virtus est habitus, quia habentem sepentit et opus ejus laudabile reddit." — Ibid., 235, n. 38: „Omnis virtus consistit in medio, scilicet inter defectum et excessum." — Ibid., 235, η. 42: „ IArtus est habitus electus in mente consistens quo ad nos declarata ratione ut utique sapiens determinabit." 2 5 2 consistit Β Ρ Τ 2 5 3 determinatum Ρ 2 5 4 iter. PI om. V Aristoteles, De anima, transl. Guillelmi de Moerbeka, in: Thomas de Aquino, Sentencia libri De anima (Opera omnia 45, 1), Ed. Leonina, R o m - P a r i s 1984, II, 2, 172b (426a27sqq.): „Si autem symphonia uox quaedam est, uox autem et auditus est sicut unum et est sicut non unnum aut idem, proportio autem est symphonia, necesse est et auditum rationem quandam esse." 2 5 7 om. V 258 + ? V 2 5 9 Siehe Anm. 201 sicut Β Ρ Τ V 261 iterate V 2 6 2 comparatio Β 2 6 3 frequenter Ρ PI Τ V consistit Β 2 6 5 magna Τ 2 6 6 prudentem quia Β 2 6 7 coniuncta Β illius V 2 6 9 Boeth. mus. I, 1, 181, 2 0 - 2 3 . om. Β Ρ Τ 271 in vacuam Β Ρ Τ V reddi Β Ρ Τ, redd'i V
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regionem272. 25Talis autem secundum ipsum est ilia maxime, quae dicitur doria, quae est harmonia quarti toni, deinde autem ilia , quae primi, quae in frequentiori usu habentur in cantibus ecclesiae. 26Sed cum sit musica triplex, scilicet mundana, humana et Instrumentalis, Instrumentalis quidem, quae consistit in instrumentis quibusdam , quorum quaedam sunt naturalia, quaedam ab arte, ilia vero, quae consistit in naturalibus, vocalis est, quia vox naturalibus instrumentis formatur, alia vero Instrumentalis retinens sibi nomen commune, adiungebat273 ille, qui proposuit quaestionem, quae istarum plus valet ad mores: vocalis an 274 Instrumentalis. 27Et dicendum est, quod, si 275 sint eiusdem harmoniae bene moratae differentes in hoc, quod ista vocalis et ilia Instrumentalis reliquis existentibus paribus, vocalis plus valet 276 ad mores seu virtutes. 28Cuius ratio potest haberi libro De problematibus particula277 2 0 278 , quaestione 37. 29Motus enim, qui sunt secundum naturam, sunt delectabiles, cuius Signum est, quod pueri confestim natigaudent ipsos audientes, quia magis ordinati sunt et magis ordinate nos movent. 30Prius enim est motus ordinatus secundum naturam inordinate, quare magis secundum naturam. 2>\ Signum autem est, quoniam laborantes et bibentes et comedentes ordinate salvamus et augemus naturam et virtutem, inordinate autem corrumpimus et stupefacimus ipsam. yiAegritudines enim ordinationis corporis non secundum naturam motus sunt. 33 Consonantia279 autem [quia] est complexio contrariorum proportionem habentium ad invicem·, proportio autem est ordinatio et delectabilis secundum naturam, et proportionatum omne improportionato omni delectabilius est. 34Ex quibus accipitur, quod consonantia bene ordinata et proportionata secundum naturam est delectabilis280. 35Quae ergo magis est secundum naturam 281 , magis est delectabilis natura282, sed consonantia vocalis magis est secundum naturam instrumental!, quoniam ista naturalibus instrumentis causatur, ilia vero non, igitur magis est delectabilis harmonia vocalis instrumental! existente in eadem proportione aliis existentibus paribus. 36Quare, si propter delectationem valet ad virtutem et disponit, manifestum est, quod magis valet et disponit ad ipsam. 37Sic igitur apparet, quod harmonia musica bene proportionata valet ad mores et per oppositum improportionata ad contrarium.
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Aristoteles, Politica (Anm. 87), VIII, 7, 433, n. 1169 (1342al5sqq.): „Similiter autem, et melodiae puriftcativae exhibent innocuam regionem hominibus." Petrus d'Auvergne, In libros Politicorum Aristotelis Expositio (Anm. 87), VIII, 3, 435, n. 1334: „Eodem autem modo huiusmodi melodiae purificativae fadunt regionem innocuam hominibus inquantum passiones reprimunt, propter quas sibi invicem iniunabantur." 2 7 4 aut Τ 2 7 5 om. Ρ PI Τ V 27f· valeat Ρ Τ + autem PI 2 7 8 30 Β 2 7 9 + quia Τ parti'"V Ps.-Aristoteles, Problemata XIX, q. 38. Zit. n. P. Ernstbrunner, Der Musiktraktat (Anm. 66), 291. 2 8 2 Quae ... natura] om. Β est delectabilis ... naturam] om. Β
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38Et quod 2 8 3 arguitur, quod non vocalis, quia facit banausos 284 et male se habere ad animam, dicendum, quod non est verum de ea, quae bene commensurata est, de ea autem, quae incommensurata est 2 8 5 propter intentionem vel remissionem, veritatem habet 286 , quod non valet ad eos sed magis ad oppositum. 39Quod autem arguitur, quod non Instrumentalis, quia retrahit a scientia secundum Philosophum, non est verum de omni, sed de ea, quae incommensurata 287 est, de qua concessum est, quod non facit ad mores, sicut prius. 40Ratio 2 8 8 in oppositum procedit sua via. Explicit ultimum quodlibet a magistro Petro de Alvernia disputatum anno domini millesimo tricentesimo primo 289 .
283 287 288 289
2 8 4 batuausos Τ 2 8 5 quae Τ 2 8 6 habetur Τ quia Ρ commensurata Ρ V. (In Τ wurde das Präfix „in-" später hinzugefügt.) et ideo PI om. B, Expliciunt quaestiones de quolibet disputatae a magistro Petro de Alvernia canonico Parisius anno domini millesimo trecentesimo quarto V, Expliciunt quaestiones disputatae a magistro Petro de Alvernia canonico Parisius P, Expliciunt quaestiones de sexto quolibet disputatae a magistro Petro de Alvernia canonico Parisius Τ
Annäherungen an die Wirklichkeit des hochmittelalterlichen Kirchenbaues WOLFGANG SCHÖLLER
Die Finanzen des Erzstifts sind seit Jahrzehnten zerrüttet 1 ; der Erzbischof, weitgehend insolvent und von päpstlichen Richtern wegen Zahlungsverzugs sogar zeitweilig mit dem Kirchenbann belegt, steht tief bei italienischen Geldhändlern, die der Kurie nahestehen, in der Kreide. Immer wieder neu aufgelegte Sondersteuern, die eher zur Finanzierung neuer politischer Aktionen als zur Schuldentilgung dienen, belasten den Klerus der Diözese und der Kirchenprovinz. Eine neue Münze, die der Erzbischof schlagen läßt, schröpft durch die anfallenden Wechselgebühren Bürger und Kleriker gleichermaßen. Der Erzbischof greift die mit dem Grafen von Jülich verbündete Stadt mit 14 Kriegsschiffen an 2 . In dieser Atmosphäre entsteht in jener Stadt, von Köln ist hier die Rede, die mächtigste gotische Kathedrale auf dem Boden des Deutschen Reiches. Sie ist nicht das Werk des Erzbischofs, sondern das des Domkapitels. Genaugenommen ist ihr Neubau der Initiative einer Gruppe von Domkapitularen zu verdanken, die als die treibenden Kräfte dieses Projekts dadurch in den Quellen in Erscheinung treten, daß sie — spätestens am 22. November 1247 3 — den Thesaurar des Domes davon überzeugen, zur Finanzierung des Ganzen wenigstens für einige Zeit auf bestimmte Teile seiner Amtseinkünfte zu verzichten. All dies legt der berühmte Thesaurievertrag vom 13. April des folgenden Jahres fest, der auch davon berichtet, daß der Betreffende am Ende „wegen Gott und zu Ehren des hl. Petrus und der drei Könige" dem Drängen seiner Mitbrüder nachgab 4 . 1
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M. Werner, Prälatenschulden und hohe Politik im 13. Jahrhundert. Die Verschuldung der Kölner Erzbischöfe bei italienischen Bankiers und ihre politischen Implikationen, in: Hanna Vollrath / Stefan Weinfurter (eds.), Köln. Stadt und Bistum in Kirche und Reich des Mittelalters. Festschrift für Odilo Engels zum 65. Geburtstag, K ö l n - W e i m a r - W i e n 1993, 5 1 1 570; R. Prößler, Das Erzsüft Köln in der Zeit des Erzbischofs Konrad von Hochstaden. Organisatorische und wirtschafdiche Grundlagen in den Jahren 1238 — 1261 (Kölner Schriften zu Geschichte und Kultur, tom. 23), Köln 1997, 3 5 5 - 3 6 8 . M. Groten, Köln im 13. Jahrhundert. Gesellschaftlicher Wandel und Verfassungsentwicklung, K ö l n - W e i m a r - W i e n 1995, 120sq. Cf. W Schöller, Die Kölner Domfabrik im 13. und 14. Jahrhundert, in: Kölner Domblatt 83 (1988), 76. L. Ennen / G. Eckertz, Quellen zur Geschichte der Stadt Köln, Köln 1863, tom. 2, 257sq. n. 255; Schöller 1988 (wie Anm, 3), 75sq. (mit weiterer Lit.).
Die Wirklichkeit des hochmittelalterlichen Kirchenbaues
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Ich will hier nicht über die Gründe spekulieren, die den seit wenigstens 1225 geplanten Neubau so lange hinauszögerten 5 . Wie auch immer scheint dieses Beispiel die integrativen Fähigkeiten solcher Großbauunternehmungen, von denen Warnke spricht, zu bestätigen: die Vorstellung, daß der Bau einer Kathedrale „ein soziales Handlungsfeld darstellte, in dem unterschiedliche, auch widerstreitende gesellschaftliche Kräfte einen Modus fanden, konstruktiv auf ein gesetzes Ziel hin zusammenzuarbeiten" 6 . Denn auch der Erzbischof leistete schließlich seinen Beitrag, indem er, wie ein zeitgenössischer Chronist berichtet 7 , zur Feier der Grundsteinlegung die Prälaten der Kirche, die Edlen des Landes und seine Ministerialen berief, vor allem jedoch durch das mahnende Wort der Prediger eine „unzählbare Menge Volkes" herbeirufen ließ. Aber wer würde auch anderes vermuten angesichts des geradezu beängstigenden Baubooms jener Zeit, der — sich selbst einfachster Pfarrkirchen und Kapellen bemächtigend — in England sogar den Teilnehmern einer Synode nicht mehr geheuer erschien (und die Versammlung demzufolge zu Gegenmaßnahmen veranlaßte) 8 , angesichts der in ihrer Gesamtheit immensen theologischen Aussagekraft von Skulpturenprogrammen und Glasmalereien, des, um mit Claussen zu sprechen, einzigartigen Reformkonzepts „Gotische Kathedrale", das über Jahrzehnte offenbar sogar das Ego ihrer handwerklichen Schöpfer in den Quellen verblassen ließ 9 . Kein Einsatz und keine Anstrengung schienen für die Errichtung eines Gotteshauses zu groß. Nicht bloß Kunsthistoriker zehren von diesem Eindruck. Dubys gotische Kathedrale beispielsweise — sie ist seiner Auffassung nach ausschließlich Bischofskunst, ein Produkt des Strebens der Prälaten nach individuellem Ansehen — kommt wie eine Offenbarung daher; Symbol einer ganzen Epoche, ideale Gottesstadt, die mit ihrer Silhouette die städtische Landschaft verklärt 10 . Was wiegt da schon die Tatsache, daß es jenen Kölner Domherren in Wahrheit nur mit Mühe gelingt, den besagten Thesaurar zu einem Beitrag für den Domneubau zu bewegen und er zu diesem Opfer auch nur bereit ist, weil sein Schaden
5
Ibid., 75. — Streitigkeiten zwischen Erzbischof Heinrich von Müllenark und gewichtigen Teilen des Kölner Klerus sowie Streit innerhalb des Domkapitels nennt als Gründe: M. Matscha, Heinrich I. von Müllenark. Erzbischof von Köln ( 1 2 2 5 - 1 2 3 8 ) (Studien z. Kölner Kirchengeschichte 25), Siegburg 1992, 183.
6
M. Warnke, Bau und Uberbau. Soziologie der mittelalterlichen Architektur nach den Schriftquellen, Frankfurt am Main 1976, 153. Chronica regia Coloniensis cum continuationibus in monasterio s. Pantaleonis scriptis..., rec. G. Waitz (MG. Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum separatim editi 12), Hannover 1880, 294.
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8
Cf. W Schöller, Die rechdiche Organisation des Kirchenbaues im Mittelalter, vornehmlich des Kathedralbaues. Baulast-Bauherrenschaft-Baufinanzierung, K ö l n - W i e n 1989, 117.
9
P. C. Claussen, Kathedralgotik und Anonymität 1130 — 1250, in: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte ( 4 6 / 4 7 ) 1 9 9 3 / 1 9 9 4 , 1 4 1 - 1 6 0 . G. Duby, Die Zeit der Kathedralen. Kunst und Gesellschaft, 9 8 0 - 1 4 2 0 , Frankfurt am Main 2 1 9 8 4 , 193sq.
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zugleich durch Kompensationszahlungen aus dem Fonds der für den Bau bestimmten Einkünfte seines Amtes gemildert wird 11 ; daß die um Almosen bittenden Augustinerinnen von Sinnich durch das gleiche Unternehmen Einbußen erleiden, weil ihnen der Erzbischof 1254 jedwede Sammeltätigkeit in der Stadt und der Diözese Köln untersagt hat 12 ; daß für andere Kirchen und Personen ausgestellte Ablaßurkunden annulliert werden 13 , die Aufstellung von Opferstöcken, sofern sie nicht dem Dombau dienen, verboten wird? 14 Doch war Derartiges beileibe kein Einzelfall. Neugründung und Neubau — Wer dächte in diesem Zusammenhang nicht auch an Streitigkeiten um Begräbnisrechte, Beichtrechte, Predigtrechte usf., mit denen freilich stets auch materielle Interessen, also Einkünfte, verbunden waren. In Troyes läßt die Äbtissin von Notre-Dame-aux-Nonnains 1266 den Bau von St-Urbain, eine Gründung des 1264 verstorbenen Papstes Urban IV., demolieren, nur weil die Kirche auf abteilichem Grund und Boden errichtet worden war 15 ; in Dortmund erwirken die drei Stadtpfarrer beim bischöflichen Offizialgericht Maßnahmen gegen die neuerdings mit Zustimmung Kaiser Heinrichs VII. in der Stadt siedelnden Dominikaner, deren provisorisches Kirchlein schließlich von Rat und Bürgern dem Erdboden gleichgemacht wird 16 . Schon die Siedlungsprobleme der Mendikanten wären hier eine eigene Darstellung wert 17 . Doch waren auch kathedrale Bauunternehmungen keineswegs vor Widrigkeiten gefeit. Niemand sollte glauben, daß alleine ihre schiere Größe, daß der Rang der Domkirche als „Mutter" aller Kirchen der Diözese, daß die hohe Stellung und politische Macht von Bischof und Kapitel die angestammten Rechte Dritter an Grund und Boden hinweggefegt hätten. In Regensburg kennen wir heute ziemlich genau das Ausmaß der baulichen Konsequenzen 18 , das der vom Domkapitel initiierte 11 12
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Wie Anm. 4. R. Knipping, Die Regesten der Erzbischöfe von Köln im Mittelalter, tom. 3 (Publ. d. Gesellschaft f. Rhein. Geschichtskunde 21), Bonn 1909 (künftig: R E K 3), n. 1779 (1254 Juni). R E K 3, n. 2841 (1280 April 1). Schöller 1988 (wie Anm. 3), 86sq. Schöller 1989 (wie Anm. 8), 106. Ausführlich: Th. Rensing, Das Dortmunder Dominikanerkloster ( 1 3 0 9 - 1 8 1 6 ) , Münster i. W 1936, 8sqq. Siehe ebenso B.-U. Hergemöller, Die hansische Stadtpfarrei um 1300, in: H. Jäger / F. Petri / Η. Quirin (eds.), Civitatum Communitas. Studien zum europäischen Städtewesen 1, K ö l n - W i e n 1984, 271sq. In Straßburg ließ die Pfarrgeistlichkeit ohne Not für die eigenen Kirchengebäude sammeln, um dadurch den Mönchen das Erbetteln ihres Lebensunterhalts zu erschweren: L. Pfleger, Kirchengeschichte der Stadt Straßburg im Mittelalter, Colmar 1941, 94. Siehe vorläufig etwa Β. E. J. Stüdeli, Minoritenniederlassungen und mittelalterliche Stadt, Werl 1969. Cf. S. Codreanu-Windauer / K. Schnieringer, Die Ausgrabungen im Regensburger Dom, in: P. Morsbach (ed.), Der Dom zu Regensburg. Ausgrabung — Restaurierung — Forschung. Katalog der Ausstellung Regensburg 1.6. - 4 . 1 1 . 1 9 9 0 und Bonn 12.6. - 15.7.1990 (Kunstsammlungen des Bistums Regenburg, Diözesanmuseum Regensburg. Kataloge und Schriften, tom. 8), München-Zürich 3 1990, 89sq.
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Neubau der dortigen Kathedrale zeitweilig durch die Hartnäckigkeit der Kapitulare des benachbarten Johannesstiftes hinzunehmen hatte, die erst nach zähen Verhandlungen um Entschädigung und der Errichtung einer neuen Heimstatt ihr Areal im Bereich des späteren Westabschlusses des Domes räumten 19 . Auch in Reims, in Amiens, Chälons-sur-Marne, in Köln, Paris und anderswo vermögen die Bauträger den notwendigen Baugrund nur durch Gegenleistungen einzuwerben, während in Narbonne die Westerweiterung der Kathedrale gar an der Opposition der Konsuln der Stadt scheitert, die sich schon aus militärischen Gründen nicht dazu verstehen können, zu diesem Zweck einen Teil der Stadtmauer preiszugeben 20 . Natürlich stellte nicht jede Stadtmauer ein derartiges Hindernis für einen Kathedralneubau dar (König Philipp II. Augustus ζ. Β. gestattete den Kanonikern von Le Mans durchaus, im Hinblick auf die Erweiterung ihrer Kathedrale auch die Stadtmauer zu durchbrechen 21 ), und selbstverständlich stand nicht jedes städtische Ratsgremium kathedralen Bauunternehmungen grundsätzlich hostil gegenüber. Auch das Gebaren der Bischöfe ist da nicht anders zu bewerten, obgleich es zunächst schon einigermaßen erstaunt, daß selbst sie auf Gegenleistungen bestehen mochten, wo es im Zusammenhang mit dem Bau der Kathedrale um die Abtretung von Rechten an Grund und Boden ging. So geschah es in Clermont, wo das Bauamt des Domes 1273 an Bischof Guido die nicht unbeträchtliche Summe von 300 Pfund clarom. zahlte als Ausgleich für die Anweisung von bischöflichem Terrain, das man für die Erweiterung der Kathedrale benötigte. Auch in Rouen trat Erzbischof Wilhelm von Flavacourt 1280 den Grund und Boden, den das Domkapitel für die Errichtung des Nordportals der Marienkathedrale benötigte, keineswegs unentgeltlich ab, sondern tauschte ihn gegen zwei in der Parochie St. Stephan gelegene Kanonikalhäuser samt der an ihnen hängenden Rechte 22 . Natürlich lassen solche Vorgänge ebenso Rückschlüsse auf die Bauherrenschaft zu. Bauen als Bürde. Für viele, gerade im Hinblick auf den hochmittelalterlichen Kathedralbau, sicherlich eine merkwürdige Vorstellung, und doch durch das Institut der Kirchenbaulast hinreichend belegt. Onus fabricae, onus constructionis, onus reparationis oder onus restaurandae, wie ζ. B. der Dekretist Si19
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M. Thiel, Die Urkunden des Kollegiatstifts St. Johann in Regensburg bis zum Jahre 1400, München 1975 (Quellen und Erörterungen zur bayerischen Geschichte, N. F., torn. 28,1), 4 2 2 - 4 2 8 η. 359 (1380 Juli 2). Siehe auch ibid., 2 1 9 - 2 2 4 n. 159 (1325 Juli 8), 2 6 1 - 2 6 3 n. 194 (1341 Juni 6), 264 n. 195 (1341 Juni 23). Schöller 1989 (wie Anm. 8), 277; Chr. Freigang, Imitare ecclesias nobiles. Die Kathedralen von Narbonne, Toulouse und Rodez und die nordfranzösische Rayonnantgotik im Languedoc, Worms 1992, 47sq. Chartularius insignis ecclesiae Cenomanensis quod dicitur Liber Albus Capituli (Institutes des provinces de France, 2C ser., t. II), Le Mans 1869, 6; Dom P. Piolin, Histoire du l'eglise du Mans, torn. 4, Paris 1858, 286. Schöller 1989 (wie Anm. 8), 221.
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mon von Bisignano zwischen 1177 und 1179 die Kirchenbaulast nennt: Wir verstehen unter ihr die (gesetzliche) Verpflichtung, für die Instandhaltung und Wiederherstellung der kirchlichen Gebäude und ihrer inneren Einrichtung zu sorgen. Eine echte Institution von langer Dauer, im dritten Viertel des 5. Jahrhundert durch päpstliche Gesetze zunächst nur für die Bistümer des römischen Metropolitanbezirks inauguriert, und erst — soweit es das kanonische Recht betrifft — am 1. Adventsonntag 1983 mit dem Inkrafttreten des revidierten Codex Iuris Canonici aus dem Gesetzbuch der lateinischen Kirche gestrichen. An ihre Baupflicht gemahnt werden die laikalen Grundherren, die ihre Gotteshäuser ursprünglich zu vollem und freiem Eigentum besitzen, ebenso wie die Inhaber kirchlichen Leiheguts: königliche und bischöfliche Vasallen, denen der Güterbestand einer Kirche oder auch die Kirche selbst gegen einen Anerkennungszins und die Zahlung des sog. Doppelzehnten zur Leihe gegeben ist (denn das Kirchengut war im Prinzip ja unveräußerlich). Gerade hinsichtlich der Baupflicht dieser beneficati haben die Synoden wie auch die kapitulare Gesetzgebung der fränkischen Herrscher einen erheblichen Regelungsbedarf gesehen 23 , denn es lag auf der Hand, daß die Betreffenden zwar an den aus ihren Gütern erwirtschafteten Einkünften, doch weniger an der baulichen Unterhaltung der Gotteshäuser interessiert waren. Gleichwohl war die Regelung der Kirchenbaulast keineswegs nur ein Relikt bestimmter ,archaischer' Gesellschaftszustände, sondern auch spätere Epochen, wie gerade auch das 12. und 13. Jahrhundert, die Hoch-Zeit des mittelalterlichen Kirchenbaues, haben die Promulgation von Baulastgesetzen für nützlich und notwendig erachtet. Päpstliche Dekretalen, soweit sie in die Sammlungen eines Gratian und Gregor IX. eingingen, schufen hier gemeines, Provinzial- und Diözesansynoden partikulares Recht, letztere insbesondere im Hinblick auf das Niederkirchenwesen. Ein Gesetz wie eine Dekretale Innozenz'III. vom 9. Juni 1198 für Rouen, das durch die Aufnahme in den Liber Extra Gregors IX. auch allgemeine Geltung erlangte, erklärt den Handlungsbedarf: einzelne Domherren, die, trotz des gemeinschaftlichen Beschlusses von Kapitel und Bischof über die Beteiligung aller an der baulichen Wiederherstellung der Kathedrale, ihren anteiligen Beitrag verweigerten 24 . Natürlich konnte dies der Papst kaum gutheißen. Die getroffene Vereinbarung sei rechtskräftig, so erklärte er, sofern major et saniorpars capituli, also der größere Teil und die bessere Qualität des Domkapitels, ihr zustimmten, und er mochte sich hierbei auch an den Kirchenrechtslehrer Bernhard von Pavia erinnert haben, der in seiner kurz zuvor verfaßten Dekretsumme lakonisch formuliert hatte: „Eingestürzte oder zerstörte Kirchen sind wieder instand zu setzen, wozu die Kleriker nach Vermögen Unterstützung zu leisten haben." 25 23 24 25
Schöller 1989 (wie Anm. 8), 47sqq. Ibid., 118. Ibid., 119.
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An der Baupflicht der Kanoniker gab es hiernach nichts zu rütteln. Man konnte sie, wie auch Bernhard dies tat, gut mit dem Hinweis auf jene alten Bestimmungen begründen, die den Inhabern von kirchlichen Benefizien auch die Baulast auferlegt hatten. Durch Kirchenrechtssammlungen wie dem zwischen 1012 und 1023 verfaßten Decretum des Bischofs Burchard von Worms waren jene Bestimmungen auch dem Hochmittelalter geläufig geblieben. D o c h war ihr Sinn zu E n d e des 12. Jahrhunderts ein anderer geworden. ,Benefizium' hieß nämlich nicht mehr bloß das weltliche Lehen aus Kirchengut, sondern auch das mit einem Kirchenamt — officium ecclesiasticum — dauernd verbundene Amtsgut, bald aber „jede mit einem bleibenden Vermögensbestand ausgestattete kirchliche Stellung" 2 6 , also das einzelne Kirchenamt selbst wurde als solches bezeichnet. Und es erlangte durch den Leihecharakter eine neue Qualität: Das A m t wurde ,zur nutzbaren Gerechtsame, zur Herrschaft' (Feine). In den Vordergrund traten die Einkünfte, die es erbrachte: Sie waren, um Feine zu zitieren, „nicht mehr Entschädigung für übernommene Amtspflichten, vielmehr waren diese amtlichen Pflichten umgekehrt die Last, die auf der Herrschaft kraft Amtes ruhte und mit ihr übernommen w a r " 2 7 . Gewiß hatte sich ganz vereinzelt schon im 11., vor allem aber im 12. und 13. Jahrhundert an diversen Kirchenanstalten infolge von zweckgebundenen privaten Stiftungen, durch Kollekten, die Übertragung der Gefälle vakanter Präbenden u. a. m. Vermögen gebildet, das von seiner besonderen Zweckbindung her ausschließlich für die Errichtung und Instandhaltung des Kirchengebäudes vorgesehen war (und infolgedessen weder zum bischöflichen noch zum kapitularischen Mensalgut gehörte). Natürlich ruhte damit auch die Baulast primär auf diesem Fundus, dem sog. Fabrikgut (von fabrica ecclesiae, das Kirchengebäude). Für einen Bernhard von Pavia, der, wie gesagt, zu E n d e des 12. Jahrhunderts schrieb, hatte es noch keine Relevanz. Anders dagegen für die Kanonisten der folgenden Zeit: Goffredus von Trano, Bernhard von Bottone, Innozenz IV. und Heinrich von Segusia — sie alle erlegten den Empfängern der bona fabricae (das konnte zunächst selbstverständlich der Bischof sein oder auch der Thesaurar, solange das jeweilige Vermögen nicht von einem eigenen Beamten verwaltet wurde und damit auch technisch von den übrigen Amtsgütermassen separiert war) auch die Instandhaltung des Kirchengebäudes auf. Dagegen sollten Kirchenvorstand und Benefiziare nur subsidiär mit ihren Einkünften herangezogen werden, und zwar dann, wenn das Fabrikgut für die Beseitigung des Baufalles nicht ausreichte. Was änderte dies in der Praxis? I m Falle von Neubauten, Umbauten oder größeren Reparaturmaßnahmen sicherlich wenig, da das reguläre Fabrikvermögen, sofern solches überhaupt vorhanden war, hierfür in der Tat kaum gereicht haben dürfte. So sind denn auch der Bischof und die Domherren 26
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A. Pöschl, Die Entstehung des geistlichen Benefiziums, in: Archiv für katholisches Kirchenrecht 106 (Folge 4, 14) (1926), 449. H. E . Feine, Kirchliche Rechtsgeschichte. Die katholische Kirche, K ö l n - G r a z 4 1 9 6 4 , 212sq.
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von Chartres nach dem vertierenden Brand der Kathedrale von 1194 gezwungen, einen, wie die zeitgenössischen „Miracula beatae Marie Virginis in Carnotensi ecclesia facta" schreiben, „beträchtlichen Teil" ihrer mensalen Mittel für die Wiederherstellung der Kirche zur Verfügung zu stellen. Aber wir kennen, dank dieser Quelle, auch noch weitere ,Interna', die um den Neubau dieses hochbedeutenden Marienheiligtums und Wallfahrtszentrums kreisten. So die Tatsache, daß sich die Bauverantwortlichen überhaupt erst durch das mahnende Wort des zufällig in Chartres weilenden Kardinallegaten Melior von Pisa zum Verzicht bereit erklärten; daß sich ihr Beitrag auf lediglich drei Jahre beschränkte, und daß schließlich nach Ablauf dieses Zeitraumes alles Geld fehlte, „so daß diejenigen", um abermals den erwähnten Wunderbericht zu zitieren, „die den Bau leiteten, nichts zur Verfügung hatten, womit sie die Arbeiter bezahlen konnten, oder was den Arbeitern in Zukunft gegeben werden könne" 2 8 . Ahnliche Zustände muß auch Bischof Durandus d. J. von Mende vor Augen gehabt haben, als er in seiner für das Konzil von Vienne 1311 verfaßten Reformschrift „De modo generalis concilii celebrandi" jene Kuraten und Prälaten geißelte, die weder zur Kirchenbaulast noch zur Unterhaltung der Lichter und zur Wiederherstellung der Bedachung beitragen wollten 29 . Offensichtlich waren hier der Durchsetzung des kanonischen Rechts also Grenzen gesetzt. Daß man sich immer wieder genötigt sieht, die anteiligen Lasten durch Verträge, durch interne Statuten und Verordnungen festzuschreiben, bestätigt dies nur auf eine andere Weise. So kann seit Beginn des 13. Jahrhunderts für eine ganze Reihe von Bauunternehmungen z. B. die Besteuerung der Pfründen- und Amtseinkünfte der D o m - und Stiftsherren nachgewiesen werden. Doch selbst unter diesen Umständen sind Renitenz und Opposition der Kanoniker nicht ausgeschlossen; in Vienne haben die säumigen Zahler nicht einmal mehr das Recht, die Kathedrale oder andere Kirchen zu betreten 3 0 . Doch wie steht es, um noch einmal auf diesen Punkt zurückzukommen, mit den Leistungen der Bischöfe? Sind sie nicht die Säulen, die das Gebäude der Kirche stützen, die, wie Sicard von Cremona (f 1215) schreibt, „ m a c h i n a m ecclesiae verbo et vitae sustentant"}ix Gewiß, die Zeiten haben sich geändert. Anders als noch im 10. oder 11. Jahrhundert sind jetzt die Domkapitel zu unabhängigen Rechtskörperschaften erwachsen. Jeder Bischof bekam dies zu spüren; sei es, daß das Kapitel sein Mitspracherecht an der Verwaltung der bischöflichen Mensa reklamierte, sei es, daß es, etwa im Streit mit dem Ordinarius, kurzerhand die Kathedrale interdizierte, wozu einige französische
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Schöller 1989 (wie Anm. 8), 224sq. Ibid., 224. Ibid., 238sq. Sicard von Cremona, Mitrale seu De officiis ecclesiasticis summa I, c. 4 (Migne PL 213, 22). Siehe desgl. Honorius Augustodunensis, Gemma animae I, c. 131 (Migne PL 172, 586).
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Domkapitel sogar das ausdrückliche Recht besaßen. E s spricht viel für diese veränderte Situation, in der die Kapitel auch die Bauherrenschaft über die Kathedrale an sich reißen, daß nun auch die Bauanteile des Bischofs, dessen Amt sich ja ebenfalls als ein beneficium ecclesiasticum verstehen ließ, genauer bestimmt werden. So ist z. B. der Pariser Ordinarius 1283 dazu gehalten, sich u. a. an der Instandhaltung der (neuen) Glockentürme der Kathedrale zu beteiligen 3 2 ; sein Amtskollege in Poitiers hat zumindest die Kosten für das gesamte Holzwerk der dortigen Kathedraltürme zu tragen 3 3 . Sicher ist dem Bischof die Kontrolle des Fabrikamtes, also der Bauverwaltung, nicht unbedingt gleichgültig; in Köln entbrennt im 14. Jahrhundert hierüber zwischen Erzbischof und Domkapitel ein heftiger Streit 3 4 . D o c h bedeutete dies keineswegs, daß er auch seiner Bauverpflichtung mit Freude nachgekommen wäre. Manche Bischöfe verstehen es, sich ihrer auf durchaus legale Weise zu endedigen, indem die onera reparationis unter ihnen zum bloßen Tauschobjekt verkommen. Schon in Nevers war dies der Fall, als dort B i s c h o f Hugo 1023 der Kanonikergemeinschaft die Einkünfte zweier Altäre der K a thedrale übertrug und sich damit von der Baulast für das gesamte Kirchenschiff und der Instandhaltung des Klaustrums loskaufte 3 5 . In Coutances überlies Bischof Hugo von Morville dem Kapitel 1235 den gesamten diözesanen Novalzehnten extra metas sowie seinen Anteil an den Oblationen des Hauptaltares und war fortan von sämtlichen kleineren Reparaturarbeiten im Bereich der Glockentürme befreit. Von heftigen Streitigkeiten über den Umfang der bischöflichen Bauverpflichtungen hören wir dagegen im Jahre 1253 in Arras. D o r t weigerte sich B i s c h o f Jakob, für die Ausbesserung (oder Wiederherstellung) der Glockentürme und des Klaustrums gerade zu stehen, so wie es das Domkapitel von ihm verlangte, nach dessen Ansicht den Bischöfen überhaupt die Instandhaltung der gesamten Domkirche und bestimmter Teile ihrer Ausstattung obläge. Ein Vergleich beendete schließlich den Streit: Jakob zahlte der Domfabrik eine einmalige Abfindung von 4 0 0 Pariser Pfund zugunsten der Ausbesserung der Kathedrale und erlangte im Gegenzug das Zugeständnis, daß die Bischöfe von Arras, von gewissen kleineren Pflichten abgesehen, künftig von allen Baulasten befreit sein sollten 3 6 . Natürlich kennen wir auch Bischöfe, die diese oder jene Geldsumme für den Bau der Kathedrale spendeten oder, wie Robert von Courtenay in Orleans, Baumaterial und Baugrund zur Verfügung stellten. Ich will die betreffenden Leistungen hier gar nicht im einzelnen aufzählen. Aber wir dürfen hierbei nicht übersehen: Wenn z. B. der — im übrigen hoch verschuldete 3 7 — Kölner
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Schöller 1989 (wie Anm. 8), 222. Poitiers, Archives departementales de la Vienne, G 182, fol. 10r. Schöller 1988 (wie Anm. 3), 88sqq. Schöller 1989 (wie Anm. 8), 223. Ibid., 224. Werner (wie Anm. 1), 5 2 6 - 5 3 1 .
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Erzbischof Engelbert I. (1216 — 1225) dem Kapitel zur AnschubFinanzierung des Domneubaues 500 Mark in Aussicht stellte und hiernach jährlich die gleiche Summe bis zur Vollendung der Kathedrale, wie der Zeitgenosse Caesarius von Heisterbach in seiner Vita des hl. Engelbert berichtet, so war dies im Grunde nur recht und billig. Wer immer von einer Kirche ein Benefizium genoß, hatte ja nach der gängigen Rechtsauffassung dieser Zeit auch zum baulichen Unterhalt derselben beizutragen — freilich nicht aus seinem Privatvermögen, sondern aus seinem Benefizial- bzw. Amtsgut, also, um beim Bischof zu bleiben, aus den Einkünften der mensa episcopalis. Ein testamentarisches Legat, wie es 1277 in Autun Bischof Girard von Beauvoir zugunsten des Dombaues verfügte 38 , war da schon etwas anderes, weil dem Bau eben in dem Fall Privatvermögen zufloß. Darüber hinaus sind die Quellen selten eindeutig; selbst eine Wendung wie nostra pecunia meint, worauf Starke hingewiesen hat 39 , in Wahrheit oft mensales Geld. Keinesfalls geht es jedoch an, mit Warnke ganz undifferenziert nur von „Eigenmitteln" zu reden 40 . Schon hier sehen wir genug, um beiläufig auch eine andere Behauptung als Fiktion zu entlarven; die Behauptung nämlich, daß im Hinblick auf die Abwendung etwaiger Ansprüche Dritter die Baufinanzierung soweit wie möglich auf eben jene „Eigenmittel" abgestellt worden sei. Eine solche Strategie hat es zu dieser Zeit nicht gegeben; dies bedarf nach dem bisher Gesagten keines Beweises mehr, ganz davon abgesehen, daß auch die Annahme, auswärtige private Stifter hätten, zumal durch einseitige Willenserklärung, auch auf die Form und Ausgestaltung der bedachten Kirche Einfluß nehmen wollen und können (!), pure Fiktion ist. Mir ist aus dem Bereich der Hochkirchen, zumindest für das 13. und 14. Jahrhundert, kein einziges derartig formuliertes Testament bekannt. Darüber hinaus zeigt die Durchsicht der Quellen schon quantitativ eine eindeutige Hinwendung zu Mitteln fremder, d. h. nicht dem Umkreis der Kirche selbst entstammender Provenienz, und zwar gleich von Anfang an. Gerade die Kathedralen haben ihre Sonderrolle innerhalb des diözesanen Kirchenverbandes hier gezielt, wenn nicht sogar rücksichtslos ausgespielt. Betroffen davon waren vor allem die Pfarreien, die ja der Jurisdiktion des Hochstifts am weitesten ausgesetzt waren. Nicht selten ersetzte das Mandat bei ihnen den Bittbrief. An die Pfarrer gerichtete Ermahnungen, in ihren Predigten die Belange des Dombaues zu fördern, die von den Parochianen eingehenden Beiträge gewissenhaft zu verwalten und auch dem Bischof die Namen der einzelnen Schenkungsgeber mitzuteilen, damit ihm bekannt werde, „qui in hoc fuerint diligentes et negligentes", wie dies eine 38 39
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Schöller 1989 (wie Anm. 8), 220. R. Starke, Die Einkünfte der Bischöfe von Meißen im Mittelalter, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Meißen 8/3, Meißen 1912, 2 4 7 - 2 9 3 , hier: 278. Warnke (wie Anm. 6), 2 9 - 4 5 et passim. - Siehe desgl. Schöller 1989 (wie Anm. 8). Kritisch ebenso: G. Weilandt, Geisdiche und Kunst. Ein Beitrag zur Kultur der ottonisch-salischen Reichskirche und zur Veränderung künstlerischer Traditionen im späten 11. Jahrhundert, K ö l n - W e i m a r - W i e n 1992.
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zwischen 1219 und 1224 vom Pariser Bischof Wilhelm von Seignelay geleitete Diözesansynode von den Pfarrern verlangte 41 , waren da noch moderat. Doch wer mochte schon bei der geringsten Eigenmächtigkeit Amtsenthebung und Exkommunikation riskieren, selbst wenn die eigene Kirche die Legate und Opfergaben der Pfarreingesessenen genauso nötig hatte wie die Kathedrale? Mit genau diesen Strafen, und dies war beileibe kein Einzelfall, drohte 1255 der Offizial von Chälons-sur-Marne all jenen Pfarrern, die nicht bis zum Zeitpunkt der nächsten Synode an allen Sonn- und Feiertagen die Sache des Dombaues nach besten Kräften förderten, die nicht alle anderen Angelegenheiten hinanstellten resp. aussetzten oder bis zu dem genannten Termin fremde Almosensammler in ihren Kirchen zuließen. Uberhaupt die Almosenkollekten. Gleichviel, ob sie im Zusammenhang mit einem zu erwerbenden Ablaß stehen oder nicht, ist ihre Zahl immens. Vielerorts sind sie im 13. Jahrhundert, sehr zum Mißfallen mancher kirchlicher Oberen, in die Hände berufsmäßiger Kollekteure, questuarii genannt, gelangt. Dies alles bezeugt nicht nur die — auch in anderen Quellen deutlich werdende — eminente Bedeutung der Oblationen für den Kirchenbau, sondern stellt freilich ebenso ein unverhohlenes Stück Kommerzialisierung dar. Schon die hier angezogene Epoche kennt das planmäßige .Absammeln' der Diözese durch die im Auftrag der Domfabrik herumreisenden Quästoren. Vor allen anderen Kollekten, sofern sie überhaupt zugelassen sind, haben die Dombaukollekten den Vorrang; fremde Sammler, wie etwa jene Brüder vom Orden des hl. Antonius von Vienne, die zu Beginn des 14. Jahrhunderts in der Kölner Diözese kollektieren, sind gegen Strafe gehalten, einen Teil ihrer Einnahmen an die Dombaukasse abzuliefern. Dazu kommt eine genaue Vorausplanung: Boten marschieren vorab in die Pfarreien und kündigen für diesen oder jenen Tag die entsprechende Kollekte an. Nicht selten ist der Tag der Ankunft der Sammler als Feiertag zu begehen. Ist die Pfarrkirche mit dem Interdikt belegt, soll er zur Durchführung der Kollekte aufgehoben sein. Der Pfarrer hat die Gläubigen zu versammeln, hat ihnen den Zweck der Kollekte zu erläutern und zu Spenden zu ermahnen. Für die Kölner Diözese verfügt 1327 Erzbischof Heinrich II. sogar, daß die Rektoren der Kirchen und Kapellen nach Verlesung des Evangeliums zunächst die Kollekteure der Kölner Domfabrik zu Wort kommen lassen sollen, damit sie dem Volk das Wort Gottes verkündigen und Oblationen und milde Gaben erbitten können. Etwaige Predigten dürfen erst hiernach gehalten werden, denn die Sammler sollen ohne längeren Verzug zu den nächsten Kirchen gelangen können 42 . So schienen die Opfergaben der Pfarrkinder eine unerschöpfliche Einnahmequelle für den Kathedralbau, und wem sie dennoch nicht genügten, der mochte die Pfarreien noch dadurch schröpfen, indem man die Pfarrkirche der Domfabrik inkorporierte oder — wie z. B. in Limoges in den Jahren 41 42
Schöller 1989 (wie Anm. 8), 264. Ibid., 310.
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1290, 1316, 1320, 1325 und 1344 im Zusammenhang mit dem Neubau der Kathedrale — die Annaten der Pfarrpfründe einzog 4 3 . Von den Rechtsinstituten zu den Menschen. Dies ist kein leichtes Thema. Denn natürlich gehörten zu jeder Baumaßnahme, den größeren allenthalben, ebenso Zeitgenossen, die sich mit all ihrer Kraft und Uberzeugung bedingungslos für die Sache einsetzten, selbst wenn der eigene finanzielle Beitrag womöglich gering blieb. Jene Kölner Domherren um den Dekan Goswin von Randerath, die sich 1247 so sehr um den Neubau der Peterskathedrale verdient gemacht hatten, mögen hier als Beispiel genannt sein. Auch unter den Bischöfen gab es freilich solche Gestalten, obgleich die Bereitschaft der Ordinarien, initiativ zu werden und dem Bau Unterstützung zuteil werden zu lassen, in dem Maße abgenommen haben wird, wie sich die Kapitel die Bauherrenschaft über die Kathedralen zu eigen machten. Daneben die Kritiker. Auch sie spielten ihren berechtigten Part. Namen wie Bernhard von Clairvaux, Hugo von Folietum, Petrus Cantor, Alexander Neckham und Vinzenz von Beauvais mögen hier genügen. Ordensleute und Theologen, die sich aus tiefer religiöser Uberzeugung gegen übertriebenen Baueifer und Prunksucht zur Wehr setzten. Andere dagegen bleiben für uns wegen der fehlenden schriftlichen Zeugnisse stumm: die Pfarrer zum Beispiel, deren eigene Kirche dem Neubau der Kathedrale den Vortritt lassen mußte. Wir kennen nur ihre Handlungen, wissen, daß sie die Sache der Domkirche nicht immer in der Weise förderten, wie von den Oberen verlangt, daß sie deren Kollekteure auch schon einmal abwiesen, es verabsäumten, die Pfarreingesessenen hinreichend zu instruieren. Stumm bleiben auch die Vitenschreiber und Chronisten, deren große Zeit nun im 13. Jahrhundert vorüber ist. Noch in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts standen sie, worauf Gerhard Weilandt hingewiesen hat 4 4 , mit an vorderster Front, wo es den allmählich sich emanzipierenden Domklerikergemeinschaften darum ging, den Baueifer jener Reichsbischöfe zu bremsen, die das Kirchengut, das auch das Gut der Domkanoniker war, für den Bau und die Ausstattung „ihrer" Kathedrale verwandten. Doch war dies eine ganz andere Zeit. Wer sich darum bemüht, die Quellen der hier angezogenen Epoche mit Blick auf die Beziehungen des Einzelnen zum Kirchenbau wirklich vollständig zu durchleuchten, wird freilich immer wieder auch noch auf andere Verhaltensweisen in ihnen stoßen. Diese Verhaltensweisen heißen Kalkül, Gleichgültigkeit, Ignoranz, Selbstsucht und Hostilität. Für uns holen sie den Kirchenbau — und den Kathedralbau allenthalben — aus der Sphäre religiösen Eiferns und entrückter theologischer Sinnbildlichkeit in die Realität zurück. Entscheidungen, wie die der 1274 mit dem Problem der Finanzierung eines neuen Kreuzzuges konfrontierten Kurie, u. a. die Ausgaben für „Gebäude und deren Erhaltung, soweit sie in Städten für die Burgleute entste43 44
Cf. Schöller 1989 (wie Anm. 8), 2 6 7 - 2 7 9 . Weilandt (wie Anm. 40), 253 - 294.
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hen", von der Besteuerung auszunehmen, die Einkünfte der Kirchenfabriken jedoch nicht (was explizit gesagt wird) 45 , gehören hier genannt. Schon Papst Honorius III. hatte dem gegen die Sarazenen kämpfenden Erzbischof von Toledo im Jahre 1219 die Plünderung der Fabrikkassen gestattet 46 , und auch auf eine Aktion Bischof Foulquarts von Toulouse sei hingewiesen, der 1215 mit dem Konsens des Klerus seiner Diözese (consensu capituli ecclesiae b. Stephani et cleH Tolosanae dioecesis) an den ihm unterstehenden Pfarrkirchen die Hälfte des eigentlich für die Instandhaltung der Baulichkeiten vorgesehenen Zehntdrittels kassierte, um mit diesen Einkünften den soeben ins Leben gerufenen, aktiv anti-häretischen Dominikanerorden zu subventionieren 47 . So waren die Baugelder, gerade wo sie reichlich flössen, nicht selten ein bevorzugtes Objekt der Begierde. In Verden streiten sich Bischof und Kapitel zu Ende des 12. Jahrhunderts derart heftig um die Oblationen des Opferstocks der Domkirche, daß sogar der Mainzer Erzbischof schlichten muß 48 . Was zählte für gemeinhin der Wille der Opfernden, wenn erst diese Instanz dafür sorgen mußte, daß die betreffenden Gaben tatsächlich der Kirchenfabrik zugewiesen wurden? Freilich kennen wir ebenso unzuverlässige „Stifter", die am Ende eine Kehrtwende machten, und den Bauträgern das längst versprochene Legat vorenthielten 49 . Doch sehr viel häufiger kam es zur mißbräuchlichen Verwendung der milden Gaben. Die Kette war lang. Sie begann bei kriminellen Quästoren, nachlässigen Testamentsexekutoren 50 und habgierigen Pfarrklerikern, die Teile der in ihren Kirchen gesammelten Baualmosen unterschlugen 51 . Die Kölner Quellen sind der Beweise voll: 1300, 1308,1310, 1327 — immer wieder kommen die hiesigen Diözesan- und Provinzialsynoden auf das gleiche, leidige Thema zurück 52 , und das, obwohl Erzbischof 45
Cf. Die Urkunden des Stadtarchivs Mainz. Regesten von R. Dertsch, Die Urkunden des Stadtarchivs Mainz 1 (Beiträge z. Geschichte d. Stadt Mainz 20,1), Mainz 1962, 77sq. n. 209 (1274 Okt. 23). - Zur Praxis siehe etwa Ch.-E. Perrin / J. de Font-Reaulx, Pouilles des provinces d'Auch, de Narbonne et de Toulouse, tom. 2 (Recueil des Historiens de la France. Pouilles, tom. 10), Paris 1972, 676 (Eine, 1274). Siehe auch J. Auer, Studien zu den Reformschriften für das zweite Lyoner Konzil, Freiburg/Br., Phil. Diss., 1910, 46.
46
Μ. Clement, Recherches sur les paroisses et les fabriques au commencement du XHIe siecle d'apres les registres des Papes, in: Melanges d'archeologie et d'histoire, Ecole franpaise de Rome 15 (1895), 390, 406; P. Pressutti, Regesta Honorii Papae III, etc. (Bibliotheque des Ecoles Franpaises d'Athenes et de Rome, 2 e ser.), Rom 1838/1895, n. 3697 (1221), n. 5 0 7 4 (1224 Juli 3), n. 5578 (1225 Juni 3), n. 5659 (1225 Okt. 2).
47
Cf. Guillaume De La Croix, Series et acta episcoporum cardurcensium quotquot hactenus ... inveniri poterunt, Cardurci 1617, 92sq. Schöller 1989 (wie Anm. 8), 190sq. Cf. etwa U. Vones-Liebenstein, Saint-Ruf und Spanien, tom. 1 (Bibliotheca Victorina 6), Paris-Turnhout 1996, 427sq. K. Janicke, Urkundenbuch des Hochstifts Hildesheim und seiner Bischöfe, tom. 1 (Publikationen aus den k. Preußischen Staatsarchiven 65), Leipzig 1896, 660sq. n. 692 ( 1 2 1 6 — 1218). Siehe die folgende Anmerkung. R E K 3, n. 3 7 1 9 (1300 Febr. 29); W Kisky, Die Regesten der Erzbischöfe von Köln im Mittelalter, tom. 4 (Publ. d. Gesellschaft f. Rhein. Geschichtskunde 21), Bonn 1 9 1 5 , n. 392 (1308 Okt. 2), n. 498 (1310 März 9 - 1 1 ) , n. 1645 (1327 März 2).
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Wolfgang Schöller
Wikbold noch 1298 den Beauftragten der Kölner Domfabrik, einen gewissen Magister Rodenger, sogar mit der Befugnis ausgestattet hatte, alle Priester, Kleriker und Laien, die Spenden für den Dombau zurückhielten oder seiner Förderung widersprächen nach vorangegangener Mahnung suspendieren und bannen zu können 5 3 . Auch woanders wohlgemerkt, in Basel 5 4 , Lüttich 5 5 und Straßburg 56 oder in der Kirchenprovinz Rouen 5 7 , vernehmen wir die gleichen Klagen. Wenn das Hamburger Domkapitel in der politischen Auseinandersetzung mit dem Rat der Stadt allerdings einen bestimmten Ratsherren als Mitverwalter des Dombauvermögens der Veruntreuung von Geldern des Opferstocks bezichtigte, so war dies freilich eine andere Sache 5 8 . Doch war die Kette damit noch nicht zu Ende. Es fällt nicht schwer, sie gleich in Hamburg wieder aufzunehmen; denn wir hören, daß auch der Rat in demselben, sich über Dutzende von Klagepunkten erstreckenden Rechtsstreit seinerseits die Kanoniker beschuldigte, die eigentlich der Dombaukasse zustehenden Opfergaben an bestimmte Personen für 30 Mark verpachtet zu haben. Somit hätten die Domherren, die auch den Kirchenschatz verschleuderten, es gar nicht verdient, die Almosen der Gläubigen in Empfang zu nehmen 5 9 . Man mag von diesen Vorwürfen halten, was man will — die hier zutage tretenden Zustände stellten keineswegs die Ausnahme dar. Beweise dafür gibt es genug: Verbote allenthalben, die Einkünfte der Kirchenfabriken für andere Zwecke zu mißbrauchen. So etwa in dem von 1248 bis 1269 reichenden Visitationsregister des Rouenser Erzbischofs Odo Rigaud 60 ; so in den Statutenwerken verschiedener Mainzer Erzbischöfe des 13. und 14. Jahrhunderts 61 und natürlich auch in diversen Urkunden, wie z. B. in einem Schreiben Papst
R E K 3, n. 3563 (1298 Febr. 24). F. Trouillat, Monuments de l'histoire de l'ancien eveche de Bale, torn. 2, Porrentruy 1854, 660 η. 506 (1297 Nov.). 5 5 Syn. Lüttich (1288), c. 33: J. F. Schannat / J. Hartzheim, Concilia germaniae, tom. 3, Köln 1760, Nachdruck Aalen 1970, 719 (zu 1287). 56 Wigand, Urkundenbuch der Stadt Straßburg, torn. 1 (Urkunden u. Akten der Stadt Straßburg, 1. Abt.), Straßburg 1879, 278 n. 366 (1252 Nov. 5). 5 7 Th. Bonnin (ed.), Regestrum visitationum archiepiscopi Rothomagensis. Journal des visites pastorales d'Eude Rigaud. Rouen 1852, 432; Syn. Coutances (1300), c. 10: J. D. Mansi, Sacrorum conciliorum nova et amplissima collectio, Nachdruck der Ausg. Paris 1903, Graz 1961, col. 27. 5 8 J. Reet2, Rat und Domkapitel von Hamburg um die Mitte des 14. Jahrhunderts, tom. 2 (Veröffentlichungen aus dem Staatsarchiv der Freien und Hansestadt Hamburg, tom. 9, 2), Hamburg 1975, 26 n. 2a, hier: c. 34 ( 1 3 3 7 - 1 3 4 4 ) , 2 4 6 - 2 4 8 n. 26 (1340 Mai 1 5 - 1 3 4 2 J u n i 19). 5 9 Ibid. 26 n. 2 a, hier: c. 31 und c. 33 a. 6 0 E. g. 1262: „iniunximus quod dictum pecuniam ad opus illud speaaliter reservant, inhibentes expresse ne earn in alios usus converterent"\ Bonnin (wie Anm. 57), 432. 61 L. Baur, Hessische Urkunden, tom. 2, Darmstadt 1862, 278sqq. n. 303 (1277 Juni 24); E.Vogt, Regesten der Erzbischöfe von Mainz von 1 2 8 9 - 1 3 9 6 , 1. Abt / h 1 2 8 9 - 1 3 2 8 , Leipzig 1913, 26 n. 164 (1290 Sept. 6); 276 n. 1560 (1313 März 15). Zur Praxis: Dertsch (wie Anm. 45), 51 n. 133 (1255 Jan. 23). 53
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Die Wirklichkeit des hochmittelalterlichen Kirchenbaues
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Alexanders III. von 1173/76 für das Stift St. Gery in Cambrai 62 oder in einer im Jahr 1249 für das Kloster Heiligenberg ausgestellten Ablaßurkunde des Bischofs Eberhard von Konstanz, die den Mönchen ausdrücklich untersagte, den eingehenden Spenden etwas zu entziehen 63 . Doch selbst wenn Kapitel und Fabrikverwalter sich um die redliche Administration der Baugelder bemühten, waren da immer noch die Bischöfe. Sie bildeten gewissermaßen das Schlußglied unserer Kette. Nirgends zeigt sich ihre Opposition zum Kathedralbau, ihre Außenseiterrolle, die sie hinsichtlich dieser Aufgabe seit dem 13. Jahrhundert zunehmend einnahmen, deutlicher als hier. So kennen wir Prälaten, die sich an den von der Domfabrik in der Diözese gesammelten Baualmosen delektierten 64 oder die eigentlich der Fabrik zugesagten Bußgelder zurückhielten: In Amiens tat dies Bischof Bernhard von Abbeville (1259 — 78); eine Lösung führte erst 1265 ein Vergleich mit dem Domkapitel herbei, doch gingen am Ende von der versprochenen Summe von 50 Pfund, dem Bußgeld eines gewissen Mathieu von Belleval, nur 30 Pfund und 12 Solidi ein 65 . In Reims, um nur noch ein anderes Beispiel zu nennen, schafften erzbischöfliche Kapläne die am Hochaltar der Kathedrale während einer vom Erzbischof gehaltenen Totenmesse gespendeten Oblationen mit dessen Wissen und Billigung fort, obgleich die dort niedergelegten Spenden seit langem von rechts wegen der Domfabrik zustanden 66 . Die Kirche, war sie also wirklich jene, wie Reicke sagt, „berufene Wahrerin des Stiftungsgedankens"? 67 62
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J. von Pflugk-Harttung, Acta pontificium Romanorum inedita, torn. 1, Tübingen 1881, 260 n. 285 (1173/76 Juli 15). Wirtembergisches Urkundenbuch, torn. 4, Stuttgart 1883,195. — Solche, stets neu aufgelegte Mahnungen waren keinesfalls unbegründet. Die Quellen bezeugen dies immer wieder. In Lausanne z. B. werden im Jahre 1210 neun neue Domkanoniker u. a. aus dem Fonds der Baukasse bezahlt; Ch. Roth, Cartulaire du chapitre de Notre-Dame de Lausanne, Lausanne 1948 (Memoires et documents publies par la Societe d'histoire de la Suisse Romande, 3 e ser., t. 3), 457sq. n. 533 (1210 Okt. 18). In Worms waren einst wegen der großen Kosten des Dombaues, wie 1286 eine Urkunde Bischof Simons wissen läßt, zwei Präbenden von ihren Stiftern der Fabrik übertragen worden. Und doch mußte man mit ansehen, wie die Einkünfte einer dieser Präbenden zunächst durch die Intervention „irgendeines römischen Kaisers" in die Hände einer seiner Kapellane gelangten, um nach dessen Tod schließlich widerrechdich Sammlern übergeben zu werden; Baur (wie Anm. 61), 384 n. 401. Andere Beispiele: J.-M. Canivez (ed.), Statuta Capitulorum Generalium Ordinis Cisterciensis, torn. 1, Louvain 1933, 133 n. 78; H. Reimer, Hessisches Urkundenbuch, 2. Abt./l. Bd, Neudruck d. Ausg. 1891, Osnabrück 1965 (Publikationen a. d. k. Preuß. Staatsarchiven, tom. 48), 532 n. 731 (1292); Schöller 1989 (wie Anm. 8), 349. Cf. Schöller 1989 (wie Anm. 8), 311; G. Schmidt, Baurechnung des Halberstädter Doms von 1367, in: Programm des königlichen Dom-Gymnasiums zu Halberstadt, Ostern 1888 — 1889, Halberstadt (1889), 6. Schöller 1989 (wie Anm. 8), 337. Ibid., 139. S. Reicke, Das deutsche Spital und sein Recht im Mittelalter, 2 Teile (Kirchenrechd. Abhandlungen 111/112 u. 113/114), Stuttgart 1932. Cf. M. Borgolte, Stiftungen des Mittelalters im Spannungsfeld von Herrschaft und Genossenschaft, in: D. Geuenich/O. G. Oexle (eds.), Memoria in der Gesellschaft des Mittelalters, Göttingen 1994, 273.
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Wolfgang Schüller
Es wäre nun ein leichtes, sich auf diesem Hintergrund der fundamentalen Bischofskritik eines Arnold von Brescia (f 1154), Geroch von Reichersberg (f 1169), Johannes von Salisbury (f 1180) und anderer Zeitgenossen 68 zu erinnern. Ihr Bild des Episkopats war ja ebenso überwiegend negativ beset2t: Verweltlichung, Nachlässigkeiten im kirchlichen Dienst, Raub von Kirchengut, Korruption und Heuchelei, Unzucht, Kleiderluxus und Schlemmerei —
defectus vitae, srientiae, doctrinae, diligentiae, wie es eine Reformschrift für das
große Lyoner Konzil von 1274 im Hinblick auf die Prälaten formulierte 6 9 —, um nur die gängigsten Eigenschaften zu nennen, mit denen die Bischöfe in Verbindung gebracht wurden. Denkt man an gewisse Vorkommnisse in Chartres 7 0 , in Konstanz 7 1 , die Beispiele ließen sich leicht vermehren, an die Eskapaden des Münsteraner Oberhirten Otto III. von Rietberg (1301 — 1 3 0 6 ) 7 2 oder an das Gebaren mancher Avignoneser Abkömmlinge im 14. Jahrhundert, so war dies sicher auch berechtigt. Und doch wird man kaum so argumentieren. Zum einen, weil der Episkopat natürlich nicht durchgängig solchen Extremen verfallen war; zum anderen, weil die oben erwähnten Verhaltensweisen ja nicht nur ihm zu eigen gewesen sind. Eine auch für das Verhältnis des einzelnen Klerikers zum Kirchenbau kaum zu überschätzende Rolle aber spielte ein anderes Phänomen, nämlich die sich schon im 12. Jahrhundert wandelnde Auffassung über A m t und Pfründe. Gemeint sind die Prävalenz des materiellen Nutzens vor den Obliegenheiten des Amtes und, gewissermaßen als Ausfluß dieses Denkens, die Amterhäufung — cumulatio beneficiorum —, die sich bekanntlich, trotz des Widerstandes z. B. der Laterankonzilien von 1 1 7 9 und 1215, in unserer Epoche auch nicht ansatzweise ausrotten ließ 73 . Adelige Kanoniker, für die Officium 68
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Cf. K. Sturmhoefel, Gerhoh von Reichersberg über die Sittenzustände der zeitgenössischen Geistlichkeit, Diss. Leipzig 1888; G. Miczka, Das Bild der Kirche bei Johannes von Salisbury (Bonner Historische Forschungen 34), Bonn 1970; Helga Schüppert, Kirchenkritik in der lateinischen Lyrik des 12. und 13. Jahrhunderts (Medium Aevum, tom. 23), München 1972, 66 — 75; R. Foreville, Le pape Innocent III et la France (Päpste und Papsttum, tom. 26), Stuttgart 1992, 1 6 8 - 1 8 0 . J. J. I. von Döllinger (ed.), Collectio de scandalis ecclesiae (Beiträge zur Politischen, Kirchlichen und Cultur-Geschichte der sechs letzten Jahrhunderte, 3. tom.), Wien 1882, 183. W Maleczek, Petrus Capuanus — Kardinal, Legat am vierten Kreuzzug, Theologe (f 1214), Wien 1988, 108. G. Kreuzer, Das Verhältnis von Stadt und Bischof in Augsburg und Konstanz im 12. und 13. Jahrhundert, in: B. Kirchgässner / W. Baer, Stadt und Bischof (Stadt in der Geschichte, tom. 14), Sigmaringen 1988, 57. Westfälisches Urkundenbuch, tom. 8, Münster 1913, passim. Siehe nur F. Heidingsfelder, Die Regesten der Bischöfe von Eichstätt, Innsbruck-Erlangen 1 9 1 5 - 1 9 3 8 , 310 n. 1004: Das Eichstätter Domkapitel schafft 1286 Mai 9 die Bestimmung ab, daß ein Domherr, wenn er an einer anderen Domkirche Kanoniker wird, seine Eichstätter Pfründe verliert. — Zur Sache: P. Hinschius, System des katholischen Kirchenrechts mit besonderer Berücksichtigung auf Deutschland, tom. 3, Berlin 1883, 243 — 254; B. Schwarz, Klerikerkarrieren und Pfründenmarkt. Perspektiven einer sozialgeschichtlichen Auswertung des Repertorium Germanicum, in: Quellen und Forschungen aus ital. Archiven und Bibliotheken 71 (1991), 2 4 3 - 2 6 5 ; A. Meyer, Der deutsche Pfründenmarkt im Spätmittelalter, ibid., 266-279.
Die Wirklichkeit des hochmittelalterlichen Kirchenbaues
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und Benefizium sich allein auf die Aspekte Reputation und standesgemäße Versorgung reduzierten; kuriale Pfründenjäger, Kardinäle allenthalben, die drei, vier, wenn nicht gar Dutzende 7 4 von Pfründen an Hunderte von Kilometern entfernten Dom- und Stiftskirchen besaßen; ein Bischof, der außer seinem Amt in Autun noch Kanonikate in Langres, Beaune und Vergy innehatte 7 5 und sich dort, wie jeder andere Externe auch, selbstverständlich und notgedrungen von schlechtbezahlten Vikaren vertreten ließ. Welches kirchenbauliche Engagement war von solchen Personen überhaupt zu erwarten? 76 In Köln, so hat Brigitte Klosterberg errechnet, ließen die Kleriker der D o m baukasse „durchschnittlich geringer bemessene Bargeldlegate zukommen als testierende Laien" 7 7 . Lokale Sonderheit oder Symptom klerikaler „Mentalität"? Nicht das eine vermutlich noch das andere. Denn nicht vor- oder halbbewußte kollektive Verhaltensweisen prägten eine solche Einstellung, sondern das jeweilige Umfeld, die spezifischen Institutionen, in deren Grenzen sich der Einzelne bewegte. Will man ihren unwiderlegbaren Unterschieden Rechnung tragen, so aber kann es nur eine Betrachtungsweise geben, die auf der Einsicht beruht, daß es keine Totalitäten, sondern nur ungezählte Facetten gibt, von denen sich einige besser als die anderen über einen gewissen Zeitraum, zu einer Serie verdichtet, miteinander verknüpfen lassen. Für den hochmittelalterlichen Kirchenbau gilt das nicht anders. Schon das Institut der Kirchenfabrik, dessen Entwicklung ja selbst innerhalb kleinster, scheinbar überschaubarer lokaler Einheiten höchst unterschiedlich verlief, macht dies offenkundig. So gibt es keine .einfachen' Lösungen. Weder hier noch im Hinblick auf die Charakterisierung des mittelalterlichen Menschen, dessen Verhalten, durchleuchtet man die Quellen des hier angezogenenen Zeitraumes, uns zuweilen gerade auf dem Gebiet des Kirchenbaues so ambivalent daherkommt im Spannungsfeld zwischen tiefer Gläubigkeit und kaltem Geschäftssinn, Ignoranz und stifterlicher Devotion.
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B. Schimmelpfennig, Zisterzienserideal und Klosterreform. Benedikt X I I . (1334 — 42) als Reformpapst, in: Zisterzienser-Studien I I I (Studien zur Europäischen Geschichte 13), Berlin 1976, 23.
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A. de Charmasse, Cartulaire de l'eglise d'Autun, Paris-Autun 1865, X X X I I s q . Auch das seit der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts verstärkt sich ausbreitende kuriale Provisions- und Reservationswesen, hat — wie immer es auch politisch determiniert war — an diesem Zustand nichts geändert. Zur Sache siehe etwa M. Hollmann, Das Mainzer D o m k a pitel im Späten Mittelalter ( 1 3 0 6 - 1 4 7 6 ) , Mainz 1990, 25sqq.; Schimmelpfennig (wie Anm. 74), 23sqq.
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B. Klosterberg, Zur Ehre Gottes und zum Wohl der Familie. Kölner Testamente von Laien und Klerikern im Spätmittelalter (Kölner Schriften zu Geschichte und Kultur, tom. 22), Köln 1995, 109.
Fabrica et ratiocinatio
Neue Perspektiven für die Bewertung der Zivilisationstechniken in der wissensorganisierenden Literatur des 13. Jahrhunderts am Beispiel von Architektur und Enzyklopädik* STEFAN SCHULER (MÜNSTER)
Das 13. Jahrhundert stellt geradezu das Zeitalter des mittelalterlichen Enzyklopädismus dar 1 , dessen Hauptursache Jacques Le Goff unter dem bezeichnenden Schlagwort „une augmentation significative d'offre et de demande de savoir" zusammenfaßt und mit der Etikette „renaissance encyclopedique" belegt2. Zu den herausragenden Vertretern der Gattung gehören auf der einen Seite Bartholomaeus Anglicus, Thomas von Cantimpre und * Der Beitrag wurde am 17. 12. 1997 als Vortrag gehalten im Rahmen eines interdisziplinären Kolloquiums zwischen dem Sonderforschungsbereich „Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter" und dem Graduiertenkolleg „Schriftkultur und Gesellschaft im Mittelalter" der Westfälischen Wilhelms-Universität zu Münster. Den Diskussionsteilnehmern, vor allem meiner akademischen Lehrerin, Frau Prof. Christel Meier, gilt mein Dank für Anregungen und Anmerkungen. Das Thema wird im Rahmen meiner im Druck befindlichen Dissertation „Vitruv im Mittelalter" vor einem umfänglichen Hintergrund behandelt. 1 Cf. P. Michaud-Quentin, Les petites encyclopedies du XHIe siecle, in: Cahiers d'histoire mondiale 9,3 (1966), 580-595, hier 580; M. De Bouard, R6flexions sur l'encyclopedisme medieval, in: L'Encyclopedisme (Actes du Colloque de Caen, 12 — 16 janvier 1987), ed. A. Becq, Paris 1991, 281-290, hier 282, 285; Chr. Meier, Grundzüge der mittelalterlichen Enzyklopädik. Zu Inhalten, Formen und Funktionen einer problematischen Gattung, in: Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit. Symposium Wolfenbüttel 1981 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 5), eds. L. Grenzmann / K. Stackmann, Stuttgart 1984, 467-500, hier 468. Cf. ferner ead., Art. Enzyklopädie, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, torn. 1, Berlin - New York 1997, 450-453; ead., Organisation of Knowledge and Encyclopedic Ordo: Functions and Purposes of a universal Literary Genre, in: Pre-modern encyclopedic texts. Proceedings of the Second Comers Congress (Groningen, 1 - 4 July 1996), ed. P. Binkley (Brill's Studies in Intellectual History 79), Leiden — New York — Köln 1997, 103 — 126. — Dazu auch L'enciclopedismo medievale, ed. Μ. Picone (Atti del convegno San Gimignano 8 — 10 ottobre 1992) (Memoria del tempo 1), Ravenna 1994; L'Entreprise encyclopedique, eds. J. Bouffartigue / F. Melonio (Litterales 21), Paris 1997; Der Wandel der Enzyklopädie vom Hochmittelalter zur frühen Neuzeit, ed. Chr. Meier (Kolloquium des Projekts D des Sonderforschungsbereichs 231 der Universität Münster; Münstersche Mittelalter-Schriften; im Druck). 2 J. Le Goff, Pourquoi le XIIF siecle a-t-il ete plus particulierement un siecle d'encyclopedisme? in: L'enciclopedismo medievale (wie Anm. 1), 23 — 40, hier 25 und 40. Cf. De Bouard, Reflexions (wie Anm 1), 285, der das „äge d'or" des mittelalterlichen Enzyklopädismus im Zeitraum 1175 — 1275 einordnet.
Fabma
et ratioanatio
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Alexander Neckam, auf der anderen Vinzenz von Beauvais und Brunetto Latini 3 . Die unterschiedliche Konzeption dieser Wissenskompendien und ihre Typologie nach Naturenzyklopädie bzw. allgemeiner Enzyklopädie 4 ist bei einem Vergleich vorauszusetzen. Die eine Gruppe, vertreten durch Bartholomaeus, Alexander und Thomas behandelt die Natur, d. h. die Schöpfungswelt 5 . Dagegen vereinigt die zweite Gruppe drei bis vier der großen Bereiche Natur, Geschichte, Wissenschaften und Ethik in einem allgemeingültigen Ansatz 6 . Ein Wandel von der Konzeption der ersten Gruppe (Naturenzyklopädie) zu der zweiten Gruppe (allgemeinere Enzyklopädie) läßt sich für die Mitte des 13. Jahrhunderts feststellen 7 . Innerhalb der zweiten Gruppe finden sich mehr Varianzen, je nach Ausprägung des Hauptbestandteils des Werkes. So kennzeichnet die allgemeine Enzyklopädie des Vinzenz die Dominanz der Geschichte 8 , während die des Brunetto Latini durch die Ethik geprägt ist 9 . Beide sind progressiv, da sie unter dem Eindruck des gesellschaftlichen Wandels handlungsrelevantes Wissen sammeln und menschlichen Aktionsbereichen zur Verfügung stellen 10 . Trotz des konzeptionellen Unterschieds organisieren die Vertreter beider Typen das Wissen systematisch in einem Weltbuch 11 , gedacht für die Gebildeten, die diese Literatur als Wissensreservoir nutzen 12 . In welcher Weise innerhalb dieser Gattung die Baukunst berücksichtigt wird, soll nun betrachtet werden. 3
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Z u m quantitativen A u s m a ß der literarischen Produktion der Enzyklopädien (Handschriften, U b e r s e t z u n g e n , Bearbeitungen) cf. Meier, G r u n d z ü g e (wie A n m . 1), 468. Cf. Meier, G r u n d z ü g e (wie A n m . 1), 4 8 4 - 4 8 7 . Chr. H ü n e m ö r d e r , Antike und mittelalterliche E n z y k l o p ä d i e n und die Popularisierung naturkundlichen Wissens, in: S u d h o f f s Archiv 6 5 (1981), 3 3 9 — 3 6 5 ; D e B o u a r d , Reflexions (wie A n m . 1), 282; Chr. Meier, V o m H o m o Coelestis z u m H o m o Faber. D i e Reorganisation der mittelalterlichen E n z y k l o p ä d i e für neue G e b r a u c h s f u n k t i o n e n bei V i n z e n z v o n Beauvais u n d Brunetto Latini, in: Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter, E r s c h e i n u n g s f o r m e n u n d Entwicklungsstufen. Akten des Internationalen K o l l o q u i u m s 1 7 . - 1 9 . Mai 1989 (Münstersche Mittelalter-Schriften 65), eds. H. Keller / N. Staubach, M ü n c h e n 1992, 1 5 7 - 1 7 5 , hier 158-166. Meier, G r u n d z ü g e (wie A n m . 1), 484. Meier, H o m o Coelestis (wie A n m . 5), 166. Meier, G r u n d z ü g e (wie A n m . 1), 485; ead., H o m o Coelestis (wie A n m . 5), 1 6 6 - 1 7 3 . Meier, G r u n d z ü g e (wie A n m . 1), 4 8 6 - 4 8 7 , bes. 486 mit Verweis auf den S c h w e r p u n k t der K o s m o g r a p h i e in den allgemeinen E n z y k l o p ä d i e n „ A p e x physicae", „ C o m p e n d i u m philosop h i a e " und der „ I m a g e d u m o n d e " ; Schwerpunkt der W e r k e r ö f f n u n g durch die artes in d e n „ E t y m o l o g i a e " Isidors; cf. ead., H o m o Coelestis (wie A n m . 5), 166 — 173. Chr. Meier, C o s m o s politicus. D e r Funktionswandel der E n z y k l o p ä d i e bei B r u n e t t o Latini, in: Frühmittelalterliche Studien 22 (1988), 3 1 5 - 3 5 6 , hier 3 5 4 - 3 5 6 ; ead., H o m o Coelestis (wie A n m . 5), 158, 1 6 6 - 1 7 5 ; ead., D e r Wandel der mittelalterlichen E n z y k l o p ä d i e v o m „Weltbuch" z u m T h e s a u r u s sozial g e b u n d e n e n Kulturwissens: a m Beispiel der A r t e s mechanicae, in: Enzyklopädien der frühen Neuzeit. Beiträge zu ihrer E r f o r s c h u n g , eds. F. M . E y b l et al., T ü b i n g e n 1995, 1 9 - 4 2 , hier 3 2 - 3 4 . Z u r Weltbuch-Metapher und zur Titelmetaphorik in d e n mittelalterlichen E n z y k l o p ä d i e n cf. Meier, G r u n d z ü g e (wie A n m . 1), 472. M i c h a u d - Q u e n t i n , encyclopedies (wie A n m . 1), 580.
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Stefan Schuler
1.
Naturenzyklopädie
Bartholomaeus Anglicus (gest. nach 1250) behandelt in „De proprietatibus rerum" (vollendet nach 1235) die Natur nach dem Sechstagewerk {ordo rerum)13. Ein ordo artium findet sich hier nicht, ebensowenig eine Werkstoffdiskussion. Dennoch wird in einigen wenigen Texten aus den Büchern 16 De
proprietatibus gemmarum und 17 De proprietatibus plantarum die Verwendung des Naturelements in der Architektur allgemein angesprochen: Im Buch 16 über die Edelsteine wird die Verwendung einiger Elemente in den mechanischen Künsten konkret erwähnt 14 , d. h. Sand, Kalk, Zement, Erz, Eisen, Marmor und Glas. Aspekte des praktischen Gebrauchs werden in einem Gesamtüberblick über die Verwendung der Steine in der Baukunst angerissen: „In lapidibus etiam generaliter requiritur materiae puritas, virtus et preaositas, coloris et figurae diversitas et multiplex utilitas. Nam utiles sunt in aedifiäis construendis, in plateis sternendis pro pontibus faäendis, pro hostibus expugnandis, (...) pro metallis ex eorum substantia extrahendis, pro metallis exornandis, (...) pro turribus regum ampliandis, pro castris et äuitatibus muniendis f...). Lapides itaqite primo de minera extrahuntur, extracti quadrantur etpoliuntur, politi in aedifiäo ordinate collocantur, ordinate maiores sub minoribus componuntur, mediante caemento ad inuicem coaptantur, obducuntur caemento et extrinsecus complanantur." Die Nutzung des Holzes in der Architektur wird in manchen Querverweisen des Buches 17 zu den Pflanzen recht anschaulich dargestellt. Bartholomaeus äußert sich etwa zur Verwendung der Tanne im Mauerbau und zur Zypresse als Stützholz im Turmbau. Die Pinie bringe zweifachen Nutzen für 13
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Bartholomaei Anglici de genuinis rerum coelestium, terrestrium et inferarum Proprietatibus libri XVIII ... procurante D. Georgio Bartholdo Pontano a Braitenberg, Frankfurt 1601 (Nachdruck Frankfurt/Main 1964). Allgemein Michaud-Quentin, encyclopedies (wie Anm. 1), 5 8 4 - 5 8 8 . Umfassender Meier, Homo Coelestis (wie Anm. 5), 1 6 3 - 1 6 6 ; H. Meyer, Bartholomäus Anglicus, De proprietatibus rerum. Selbstverständnis und Rezeption, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 117 (1988), 2 3 7 - 2 7 4 ; L. Sturlese, Florilegi filosofici ed enciclopedie in Germania nella prima metä del duecento. Gli scritti di Arnoldo di Sassonia e di Bartolomeo l'Inglese e la diffusione della scienza araba e aristotelica nella cultura tedesca, in: Giornale Cririco della Filosofia Italiana 69 (1990), 2 3 9 - 3 1 9 ; S. Louis, Le projet encyclopedique de Barthelemy l'Anglais, in: L'Encyclopedisme (wie Anm. 1), 147 — 152; H. Meyer, Die Zielsetzung des Bartholomäus Anglicus in „De proprietatibus rerum", in: Geistliche Aspekte mittelalterlicher Naturlehre. Wissensliteratur im Mittelalter (Schriften des Sonderforschungsbereichs 226 Würzburg/Eichstätt 16), ed. K. Vollmann, Wiesbaden 1993, 8 6 - 9 8 , 1 5 1 - 1 5 9 ; id., Schlußteile, Appendices und Exkurse als Indikatoren für den Wandel des Gattungsverständnisses und der Funktion der mittelalterlichen Enzyklopädie, in: Der Wandel der Enzyklopädie (wie Anm. 1); id., Untersuchungen zur Uberlieferungs- und Rezeptionsgeschichte von Bartholomäus Anglicus, „De proprietatibus rerum" (Münstersche Mittelalter-Schriften; im Druck). Bartholomaeus Anglicus (wie Anm. 13) 16,1, 715sq. (Sand); 16,24, 718 (Kalk); 16,25, 718sq. (Zement); 16,37, 733sq. (Erz); 16,40, 738sq. (Eisen); 16,69, 738sq. (Marmor); 16,100, 768sq. (Glas). Eine Ubersicht zu den Quellenautoren des Buches 16 gibt M. C. Seymour, Bartholomaeus Anglicus and his Encyclopedia, Cambridge 1992, 172 — 182, bes. 172sq.
Fabnca et
ratioänatio
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die Holzverarbeitung mit sich, erstens wegen ihrer Festigkeit in der Gebäudeerrichtung, zweitens wegen ihrer Eignung für den Bau von Wasserleitungen 15 . Die Baukunst in „De proprietatibus rerum" ist also belegt, doch steht sie nicht im Zentrum des Interesses; denn die Naturenzyklopädie behandelt naturkundliche Themen und Aspekte; Hinweise auf eine Werkstoffbearbeitung haben nur marginale Bedeutung; die Architektur als Disziplin ist ohne Ort. Der um 1227/1228 in der Abtei Cantimpre bei Cambrai verfaßte „Liber de natura rerum" des belgischen Dominikaners Thomas gehört ebenfalls zur Gruppe der Naturenzyklopädien 16 . Angaben zum Bauhandwerk sind in den Büchern 10 De arboribus, 13 De fontibus, 14 De lapidibus und 15 De Septem metallis noch spärlicher gesät als bei Bartholomaeus. Thomas ist sogar deutlicher bestrebt, die Architektur und die Werkkünste vom Text auszuklammern. Während in „De proprietatibus rerum" die baupraktische Verwendung des Zedernholzes nach Isidor noch explizit beschrieben wird, fehlt sie im „Liber de natura rerum" ganz, dasselbe gilt für die Kastanie und die Pinie, während Balkenholz gar nicht erst erwähnt wird. Bis auf einen Hinweis zur Verwendung des orientalischen Sethimbaumes beim Bau der Arche Noahs wird die Holzverwendung in der Baukunst von Thomas also nicht berührt, ja gezielt ausgelassen, wie im Vergleich mit Bartholomaeus gezeigt werden kann; auch für das Buch 13 De fontibus bestätigt sich diese Tendenz, eine Werkstoffdiskussion zu übergehen 17 . Das Buch 14 De lapidibus widmet sich in zwei Kapiteln den sculpturae lapidum, beschränkt sich aber auf die allgemeine oder medizinische Wirkung anhand der jeweiligen Gravur eines Edelsteins nach verschiedenen Quellen 18 . 15
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Bartholomaeus Anglicus (wie Anm. 13) 17,4, 793. Zur baupraktischen Verwendung des Zedernholzes cf. ibid. 17,23, 808: „Cedrus est lignum (...) diu durans et numquam a tinea vel teredine, id est lignorum verme exterminator. Unde propter eius perpetuam durabilitatem ex cedris fiunt lacunaria, in regum palatiis et in templis". Ibid. 17,24, 809 (Zeder), ibid. 17,121, 902sq. (Pinie). Eine Ubersicht zu den Quellenautoren des Buches 17 bei Seymour (wie Anm. 14), 183sq. Thomas Cantimpratensis, Liber de natura rerum, Teil 1: Text, ed. H. Boese, Berlin — New York 1973; G. J. J. Walstra, Thomas de Cantimpre, De naturis rerum. Etat de la question, in: Vivarium 5 (1967), 1 4 6 - 1 7 1 ; 6 (1968), 3 4 5 - 3 5 7 ; Chr. Hünemörder, Die Bedeutung und Arbeitsweise des Thomas von Cantimpre und sein Beitrag zur Naturkunde des Mittelalters, in: Medizinhistorisches Journal 3 (1968), 3 4 5 - 3 5 7 ; Meier, Grundzüge (wie Anm. 1), 468, 4 7 6 - 4 7 7 , 485, 489; B. K. Vollmann, La vitalitä delle enciclopedie di scienza naturale: Isidora di Siviglia, Tommaso di Cantimpre, e le redazioni del cosidetto „Tommaso III", in: L'enciclopedismo medievale (wie Anm. 1), 135 — 145; cf. jetzt Chr. Hünemörder, Ist der Text von Thomas III mehr als eine bloße Kompilation aus mehreren naturkundlichen Enzyklopädien?, und B. K. Vollmann, Enzyklopädie im Wandel: Thomas von Cantimpre, „De natura rerum", in: Der Wandel der Enzyklopädie (wie Anm. 1). Cf. Thomas Cantimpratensis (wie Anm. 16) 10,12, 318 (Zeder) und Bartholomaeus Anglicus (wie Anm. 13) 17,23, 808; cf. ebenso Thomas Cantimpratensis (wie Anm. 16) 10,15, 318 (Kastanie) mit Bartholomaeus Anglicus (wie Anm. 13) 17,88, 809; 17,121, 902sq. (Pinie), 17,162, 937sq. (Tafelholz) und 17,163, 938 (Balkenholz). Thomas Cantimpratensis (wie Anm. 16) 14,69, 370sq.: „Relationes quorundam antiquorum de sculpturis lapidum et de virtutibus eorundem signatasperfiguras"·, ibid. 14,70, 371sq.: „Item de sculpturis secundum quendam Tecbelphilosophum Iudaeorum."
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Die handwerklichen Aspekte der Metalle werden ausgeklammert, schon im einleitenden Kapitel werden sie im Kontext der Bibel zur allegorischen Deutung eingeordnet 19 . Thomas beschränkt sich auf die medizinische Wirkung, ihre natürlichen Vorkommensorte und Eigenschaften 20 . Die Bedeutung dieser Werkstoffe für die mechanischen Künste bildet nur einen Nebenaspekt, ausgedrückt in summarischen Randbemerkungen wie zum Gold: ,ylurum est durabilius, tractabilius et magis ductile aliis metallis", oder zum orientalischen Eisen: „Incisionibus aptum est et fit fusile sicut cuprum vel argentum; sed ductile non est sicut fer rum aliarum mundi partium"^. Der englische Augustiner Alexander Neckam (1157—1217) 22 vollzieht innerhalb der Gruppe der Naturenzyklopädie einen deutlichen Wandel. In „De naturis rerum" ist er den anderen Naturenzyklopädien insofern voraus, als er drei Werkkünste aufnimmt. Zwar räumt er selbst ein, daß dies wenig mit seinem Propositum zusammenhänge und er sich dazu nicht berufen fühle 23 : „Diversa sunt instrumenta rebus familianbus deservientia, sed de singulis disserere nec suppetitfacultas, nec res desiderat." Doch er berücksichtigt anhand der jeweiligen Werkzeuge Agrikultur sowie Lanificium 24 und widmet der Architektur das umfangreichste Kapitel De aedificiis innerhalb dieser dreigegliederten Werkkünstegruppe 25 . In den baupraktischen Teil fließen zeitkritische Beobachtung und zeitgenössische Termini ein (Ausmessung, Einebnung des Geländes, Fundament, Mauer, Ausrichtung der Wände, Dach) 26 . Der Abschnitt wird von einem moralisierenden Text eingeleitet und abgeschlossen. Darin verurteilt der Enzyklopädist jede überflüssige Ausgestaltung des Gebäudes. Für ihn reduziert sich die Architektur auf das Errichten zweckmäßiger Bauten. Technische Höchstleistungen und künstlerische Ausgestaltung wie Malerei, Skulptur und Dekoration sollen daher als „tot et tarn 19
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Thomas Cantimpratensis (wie Anm. 16) 15,1, 375: „Sicut Uber Genesis testatur: (...) Lamech genuit Tubalcaym, qui ferrariam artem primus invenit et (...) res bellicas decenter exercuit sculpturasque operum in metallis ad libidinem oculorum fabricavit." Thomas Cantimpratensis (wie Anm. 16) 15,2, 375 (Gold); 15,6, 377 (Werkblei); 1 5 , 2 - 8 , 3 7 5 - 3 7 8 (Eigenschaften). Thomas Cantimpratensis (wie Anm. 16) 15,2, 376; 15,8, 378. Alexandri Neckam de naturis rerum libri duo, ed. T. Wright (Rerum Britannicarum Medii Aevi Scriptores 34), London 1863 (Nachdruck Nendeln 1967); Michaud-Quendn, encyclopedies (wie Anm. 1), 582—584; Meier, Grundzüge (wie Anm. 1) 472sq. Neckams Werk kann der Naturenzyklopädie zugerechnet werden, nicht nur wegen des Titels: dazu Alexander Neckam, De naturis rerum (Vorwort) XIVsq. Alexander Neckam (wie Anm. 22) 2,168, 279. Alexander Neckam (wie Anm. 22) 2,169, 280 zur agricultural ibid. 2,171, 281 zum lanifiaum.; flankiert von 2,168, 279sq. zum Wagen und seinem Gebrauch. Alexander Neckam (wie Anm. 22) 2,172, 281sq.; Cf. E. Battisti, Architettura ed urbanistica nelle enciclopedie medievali, in: Rivista di storia della filosofia 40 (1985), 1 4 7 - 1 5 8 , hier 154sq. ohne Werkstoffdiskussion in der Naturenzyklopädie. Cf. G. F. Wedge, Alexander Neckam's „De naturis rerum", University of Southern California, Ph. D. 1967 (Ann Arbor, Michigan), 258; V. Mortet, Hugue de Fouilloi, Pierre le Chantre, Alexandre Neckam, in: Melanges d'histoires offerts ä Charles Bemont, Paris 1913, 119 — 137, hier 1 2 3 - 1 3 0 .
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illicitae adinventiones excogitatae" oder „superfluae et vanae adinventiones in aedißäis" verbannt sein, wie er auch im Kapitel De luxu ausführt 27 . Alexanders Kritik an Dekoration und hohem Turmbau erinnert an die Reaktion der Zisterzienser auf die Baukunst der Cluniazenser und an das Kapitel Contra superfluitatem aedißciorum aus dem „Verbum abbreviatum" des Petrus Cantor, der Wortlaut greift Bernhards von Clairvaux Geißelung der libido aedißcandi Clunys in der
„Apologia ad Guillelmum" auP8: „Ο vanitas vanitatum, sed non vanior quam insanior!" Alexanders Beschreibung der Architektur zeugt also einerseits von der zunehmenden Bedeutung der Baukunst im Mittelalter, aber auch von der dienenden Funktion, die der Gelehrte dieser Werkkunst zuschreiben möchte. Innerhalb der Naturenzyklopädie des 13. Jahrhunderts wird die Architektur also in drei unterschiedlichen Formen rezipiert: Thomas ignoriert sie wie die anderen Werkkünste auch, ist also der konsequenteste Vertreter des strikt naturkundlichen Konzepts (ordo rerum)·, Bartholomaeus berücksichtigt sie, ohne ihr indes einen festen Platz zuzuweisen: Er geht nur sporadisch auf die Baukunst ein, im Zusammenhang mit der Erklärung natürlicher Stoffe; Alexander schließlich bündelt das Wissen zur Architektur und gibt Einblick in Funktionen und Ansprüche an diese Werkkunst, verbunden mit einer moralisierenden Invektive gegen übertriebene Kunst und Technik. 2. A l l g e m e i n e E n z y k l o p ä d i e Das „Speculum maius" des Dominikaners Vinzenz von Beauvais 29 ist im 13. Jahrhundert der erste Vertreter der Gattung Enzyklopädie, in dem die 27 28
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Alexander Neckam (wie Anm. 22) 2,192, 351. Petrus Cantor, Verbum abbreviatum, cap. 86, MPL 205, col. 255B-257B; Bernhard von Clairvaux, Apologia ad Guillelmum, cap. 12, MPL 182, col. 914C-916B, hier col. 915C. Cf. A. Schneider et al. (eds.), Die Cisterzienser. Geschichte, Geist, Kunst, Köln 3 1986, 39sq., 54—63 mit weiterf. Lit. zur „Apologia" Bernhards und zur Kontroverse mit Cluny; G. Binding, Der früh- und hochmittelalterliche Bauherr als sapiens architectus (61. Veröffentlichung der Abteilung Architekturgeschichte des Kunsthistorischen Insituts der Universität zu Köln), Köln 1996, 215-235. Bibliotheca Mundi Vincentii Burgundi ex ordine Praedicatorum venerabilis episcopi Bellovacensis, Speculum Quadruplex, Naturale, Doctrinale, Morale, Historiale, 4 tom., Duaci 1624 (Neudruck Graz 1964 — 1965). M. Paulmier-Foucart / S. Lusignan (eds.), hector et compilator. Vincent de Beauvais, frere precheur: un intellectuel et son milieu au XHIe siecle. Actes du Colloque de Royaumont des 9 — 11 juin 1995, organise conjointement par ΓΑ. R. Te. M. (Universite de Nancy II), l'Universite de Montreal et le Centre Europeen pour la Recherche et ^interpretation des Musiques Medievales (Rencontres ä Royaumont 9), Gräne 1997. — Zur Einordnung in die Gattung cf. Chr. Meier, Grundzüge der mittelalterlichen Enzyklopädik. Zu Inhalten, Formen und Funküonen einer problematischen Gattung, in: Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit (Symposium Wolfenbüttel 1981) (Germanistische Symposien. Berichtsbände 5), ed. L. Grenzmann / K. Stackmann, Stuttgart 1984, 467 — 500; ead., Organisation of Knowledge and Encyclopaedic Ordtr. Functions and Purposes of a Universal Literary Genre, in: Pre-modern encyclopedic texts (wie Anm. 1), 103-126. Cf. die Home Page Vincent of Beauvais: http://www. let.ruu.nl/C + L/ voorbij/home.htm.
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Architektur in eine Wissenssumme aufgenommen wird: dies ist an und für sich schon ein Zeichen der neuen Perspektiven jener Zeit. Zwei Rahmenbedingungen sind dabei zu berücksichtigen, erstens die wissenschaftstheoretische Bewertung der Baukunst und zweitens die Verfügbarkeit literarischer Fachquellen. Bei Varro und Vitruv hochbewertet, verlor die Baukunst in der Enzyklopädie ihren Disziplinenstatus. In der „Naturalis historia" verteilte Plinius die Inhalte der Architektur über mehrere Bücher (nat. hist. 16, 33 bis 37) und Isidor von Sevilla wies ihr in den „Etymologiae" keinen festen Platz im Disziplinenkanon zu: sie wurde dort ebenfalls in den Büchern 15, 16 und 19 in einzelnen Abschnitten behandelt. Erst bei Vinzenz wird sie wieder als eigenständige Disziplin im System der Artes im „Speculum doctrinale" unter dem Einfluß des „Didascalicon" Hugos von St. Viktor vorgestellt (armatura/
architectura, lanificium, navigatio, agricultura, venatio, medicina und theatrica)'30. Hugo teilte sie als Mechanik den nach Aristoteles definierten philosophischen Bereichen Theorik, Praktik und Logik zu 3 1 , ordnete sie jedoch wegen ihrer Beschränkung auf das Diesseits den liberalen Künsten qualitativ unter 32 . Auch diese latente Abwertung änderte sich im Laufe der zunehmenden Bedeutung von Handwerk und Technik für die Urbanisation; denn die artes mechanicae wurden seit Dominicus Gundissalinus („De divisione philosophiae") und Robert Kilwardby („De ortu scientiarum") aus der SiebenerGruppe gelöst und in eine freiere, weniger dogmatische, sondern eher zeitgemäße Systematik gestellt 33 . 30
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Meier, Wandel (wie Anm. 10), zu den artes mechanicae in der Enzyklopädik; S. Lusignan, Les arts mecaniques dans le „Speculum Doctrinale" de Vincent de Beauvais, in: id. / G. H. Allard (eds.), Les arts mecaniques au Moyen-Age (Cahiers d'etudes medievales 7), MontrealParis 1982, 33 — 50. Zum Corpus der Baukunst cf. Spec, doctr. 11,13 — 32. Die Zivilisationstechniken sind im elften Buch des „Doctrinale" enthalten. Hugo von St. Viktor, Didascalicon 2,20, MPL 176, col. 760A, zur Einteilung der sieben Werkkünste. Cf. F. Alessio, La filosofia e le „artes mechanicae" nel secolo XII, in: Studi medievali, 3C serie, 6, 1965, 71 — 161; id., La riflessione sulle „artes mechanicae" (XII-XIV sec.), in: Lavorare nel Medioevo. Rappresentazione ed esempi dall'Italia dei secc. X-XVI, Convegni del Centro di studi sulla spiritualitä medievale 21, Todi 1983, 257 — 293; P. Sternagel, Die artes mechanicae im Mittelalter. Begriffs- und Bedeutungsgeschichte bis zum Ende des 13. Jahrhunderts (Münchener historische Studien. Abt. Mittelalterliche Geschichte 2), Kallmünz 1966, 67 — 69; E. Whitney, Paradise restored. The Mechanical Arts from Antiquity through the Thirteenth Century (Transactions of the American Philosophical Society 80,1), Philadelphia 1990, 75-128; B. v. d. Hoven, Work in ancient and medieval Thought. Ancient Philosophers, medieval Monks and Theologians and their Concept of Work, Occupations and Technology (Dutch Monographs on ancient History and Archeology 14), Amsterdam 1996, 162-177. Cf. Hugo von St. Viktor, Didascalicon 1,5, MPL 176, col. 745B. Die artes mechanicae bildeten die Natur auf unzulänglich menschliche Weise mit Instrumenten nach: cf. ibid., col. 745D, und die negative Etymologie des Begriffs ibid. 2,2, col. 752C und 2,20, col. 760B. Dazu M.D. Chenu, Civilisation urbaine et theologie. L'Ecole de Saint-Victor au XIIC siecle, in: Annales Economies Societes Civilisations 29 (1974), 1253-1263, hier 1255sq. Meier, Wandel (wie Anm. 10), 32sq.; Chenu (wie Anm. 32), 1256 und 1260.
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Die Verfügbarkeit literarischer Fachquellen ist grundlegend für die Arbeit des Enzyklopädisten, der durch seine Zitate ein Bild von der Disziplin vermitteln will. Für die Architektur steht er allerdings vor einem Dilemma. Im 13. Jahrhundert nämlich befindet sich die Literatur zur Baukunst erst noch in einem Aufbaustadiüm. Seit den Karolingern wurde ein Fachschrifttum in enger Anlehnung an die antike Literatur aufgebaut 34 . Das spezifisch fachliche Wissen aus dem handwerklich-bautechnischen Alltag wird im 13. Jahrhundert noch mündlich tradiert, erst ab dem 14. Jahrhundert steigt die Verschriftung der Werkkünstepraxis sprunghaft an. Ist Vinzenz also ein Vorwurf daraus zu machen, wenn er Vitruvs Fachschrift und Isidors Enzyklopädie heranzieht? 35 An einem zeitgenössischen Beleg wird das subtile Gespür des Dominikaners für das wiedererwachte Interesse an Vitruv manifest. Eine lexikographische Handschrift des Papias aus dem 13. Jahrhundert, der Codex Bern, Burgerbibliothek 276 — Zeuge der reichen Kompilationsliteratur aus Orleans im 13. Jahrhundert — gilt als Indiz für die dort damals verfügbaren Autoren, aus denen Zitate zu seltenen Wörtern an den Rand des Papias-Textes gezogen werden. Unter dem Stichwort a practicen findet sich eine Marginalie, die auf die vitruvianische Dichotomie von Theorie und Praxis hinweist 36 : „ Vitruvius 34
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Zu den wenigen Überlieferungszeugen cf. immer noch B. Bischoff, Die Überlieferung der technischen Literatur, in: Artigianato e tecnica nella societä dell'alto medioevo occidentale, Settimane di studio del centro italiano di studi sull'alto medioevo 18, 2 —8 aprile 1970, tomo primo, Spoleto 1971, 2 6 7 - 2 9 6 , hier 2 7 2 - 2 7 6 ; nur Chroniken berichten von der Bautätigkeit: Binding, Bauherr (wie Anm. 28), 31 - 9 6 . Cf. S. Schuler, Vitruvs „De architectura" und die Baukunst in der Enzyklopädie des Vinzenz von Beauvais: Kompilation und Innovation, in: Chr. Meier / H. Keller (eds.), Schrifdichkeit und Lebenspraxis im Mittelalter. Erfassen, Bewahren, Verändern, Internationales Kolloquium des Sonderforschungsbereichs 231 „Träger, Felder, Formen pragmatischer Schrifdichkeit im Mittelalter" der Westfälischen Wilhelms-Universität, Münster 1995 (Münstersche Mittelalter-Schriften 76), München 1999, 2 4 3 - 2 6 6 ) ; id. (mit M. Paulmier-Foucart), L'Eau dans une encyclopedic medievale. Les emprunts au „De architectura" de Vitruve dans le „Speculum naturale" de Vincent de Beauvais, in: Anthropologie de l'eau (Science et Culture 2), ed. D. Morali, Nancy 1997, 37 — 46; ead., Le discours vitruvien sur l'hydrologie au Moyen Age: le cas de Vincent de Beauvais, in: Der Wandel der Enzyklopädie (wie Anm. 1). Meine Dissertation „Vitruv im Mittelalter. Studien zur Rezeption von ,De architectura' in literarischen Texten von Frontin bis Johann Heinrich Aisted unter besonderer Berücksichtigung der Enzyklopädie des Vinzenz von Beauvais" (Pictura et Poesis 12), Köln —Weimar—Wien 1999, widmet sich den unterschiedlichen Rezeptionsbedingungen des Architekturtraktats. Hs. Bern, Burgerbibliothek 276, fol. 182v° (unten); cf. Vitr. 1,1,15. - Die Vitruv-Marginalien wurden bisher nicht behandelt. Zum Codex cf. R. H. Rouse, Florilegia and Latin Classical Authors in Twelfth- and Thirteenth-Century Orleans, in: Viator 10 (1979), 1 3 1 - 1 6 0 , hier 132 und 142, sowie zuletzt Ε. Stagni, Medioevo francese e classic! latini, un nome ritrovato, in: Materiali e discussioni per l'analisi dei testi classici 34 (1995), 2 1 9 - 2 2 4 . Die Quelle der Marginalien läßt sich teilweise auf Handschriften aus Richards de Fournival „Biblionomia" zurückführen, sofern diese erhalten sind und einen Vergleich ermöglichen; denn Richard und der Schreiber der Randnoten waren Zeitgenossen: cf. Rouse, Florilegia and Latin Classical Authors, 148; id., Manuscripts belonging to Richard de Fournival, in: Revue d'histoire des textes 3 (1973), 2 5 3 - 2 6 9 . Zwar ist der Vitruv-Codex aus der Sammlung Richards verloren, doch erscheint er als Vorlage für die Berner Handschrift plausibel.
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in primo archytecture: Omnes artes composite sunt ex opere et ratione. Per opus intelligit practicam, per rationem theoricam. Idem dicit Gundissalinus in libro de divisione philosophic. " Die antike Trennung der Werkkunst Architektur in fabrica und ratiocinatio wird neben die des fortschrittlichen Gundissalinus gestellt, der die Theoretisierung und Aufwertung der artes mechanicae vertritt, indem er das aktive Handeln (operatio) neben das spekulative Wissen stellt (scientia) und damit zur philosophisch fundierten Grundlage für eine Aufwertung der praktischen Künste beiträgt 37 . Die Aktualität, die Vinzenz mit seiner Zitierung von „De architectura" beweist, ist hier offenkundig. Für ihn gilt die Fachschrift nicht als Fundgrube der „veteris monumenta historiae" wie sie seit Alcuin und Einhard manche Gelehrte des Mittelalters nutzten, sondern als auctor artis und Referenzquelle für die Einordnung der Baukunst in das Wissenssystem entsprechend der Empfehlung Hugos. Vinzenz räumt im Vorwort ein, daß seine Vorbilder Isidor und Hugo die artes nur übergreifend und zu kurz streifen („transeundo brevissittie tangunt")^. Daher sollen heidnische Gelehrte neben die christlichen Modellautoren treten, jedoch nur in geringem Ausmaß („pauca notabilia excerpsi"), um die bisweilen dürftigen Ausführungen zu ergänzen: tatsächlich werden sie aber weit häufiger zitiert und genießen im „Speculum maius" große Autorität als „philosophi scientiarum inventores" und als „periti ac diserti tractatores"39. Zwei Merkmale zeichnen die Architekturdarstellung im „Speculum maius" aus: erstens der Disziplinenstatus, zweitens die Nutzung der für das 13. Jahrhundert aktuellen und fortschrittlichen Fachschrift „De architectura" Vitruvs. Beide Faktoren sind eng miteinander verbunden; denn Vinzenz zitiert recht ausführlich den Fachautor, der die Baukunst als encjclios disciplina über die artes liberales gestellt und sie damit aus dem Kreis der unfreien Künste gelöst hat. Wir finden Vitruv-Zitate sowohl im „Doctrinale", d. h. der Wissenssumme, als auch im „Naturale", das sich der Beschreibung der Schöpfung widmet. Die Teilung in Theorie und Praxis ergibt sich aus der Werkgenese des „Speculum maius" und war nicht von vornherein vorgesehen: zunächst war das 37
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Dominicus Gundissalinus (Gundisalvi), De divisione philosophiae (Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters 4,2/3), ed. L. Baur, Münster 1903, 11 sq. Cf. Meier, Wandel (wie Anm. 10), 34; v. d. Hoven (wie Anm. 31), 1 7 8 - 1 8 5 . Vinzenz von Beauvais, Libellus totius operis apologeticus, ed. S. Lusignan (Preface au Speculum maius de Vincent de Beauvais: Refraction et diffraction, Cahiers d'etudes medievales 5), Montreal — Paris 1979, cap. 6, 122: „ Verum, quoniam omnes hii de singulis transeundo breuissime tangunt, hac de causa etiam ad libros philosophorum diverti, qui de hiis omnibus latius ac diffusius agunt indeque pauca notabilia excerpsi, que predictorum catholicorum doctorum dictis, ut potui, competenter adieä." Vinzenz von Beauvais, Libellus totius operis apologeticus (wie Anm. 38), cap. 10, 127: „Praeterea, quoniam artifiä cuilibet in sua facultate discentem oportet credere seculanum sdenüarum studiosis scolaribus, ut in eis profiäant, necesse est primitus philosophis earum inventoribus vel pentis ac disertis tractatonbus fidem adhibere, verbi gratia, Prisciano in grammatica, Aristotili in logica, Tullio in rethonca, Ypocrati in mediana."
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„Doctrinale" im „Naturale" enthalten (versio bifaria·. 1243 — 1246), wurde später angesischts des anwachsenden Wissens ausgegliedert (versio trifana: 1256 — 1259), so daß die Baukunst in zwei Teilen aufgefächert wurde 4 0 . Die Architektur wird als encjclios disciplina im „Doctrinale" theoretisch reflektiert. Dies ist neu für das 13. Jahrhundert, da sich außer bei Vinzenz bis dahin keine Zeugnisse für die Bewertung der Baukunst im Wissenskanon belegen lassen. Er verweist im ersten Kapitel seiner Darstellung auf Vitruvs grundlegende Dichotomie der Baukunst in Theorie und Praxis, die der scholastischen Trennung der Werkkünste in ratio und administratio entspricht. Es folgen die Bildungsanforderungen an den Architekten (Geometrie, Arithmetik, Musik, Astronomie, Naturphilosophie), die systematische Darstellung der Grundbegriffe der Baukunst (ordinatio; dispositio mit iconographia, orthographia, scaenographia·, decor, distributio) und die Definierung des Aufgabenbereichs des Architekten. Ergänzt wird die Berufsdefinition durch einen systematischen Uberblick über alle Teilbereiche der Baukunst, kurz zusammengefaßt nach Isidor 41 . Zum ersten Mal wird im 13. Jahrhundert ein Eindruck von dem Bild vermittelt, das sich die Scholastik von der Baukunst macht. Der gelehrte Rahmen ist zwar vorgegeben durch Richards von St. Viktor Disziplineneinteilung der armatura in architectoma und fabrilis, die wiederum in Maurer- und Zimmermannshandwerk bzw. Schmiedehandwerk zerfallen. Die Zitierung von „De architectura" jedoch zeigt, daß sich bei Vinzenz ein Wandel in der Bewertung der Baukunst vollzogen hat: Während die Viktoriner Hugo und Richard die Baukunst ausschließlich auf das Handwerk beschränken, wertet sie Vinzenz über die theoretisierenden Zitate aus der antiken Fachschrift auf. In einem der seltenen Kommentare des Enzyklopädisten selbst wird nur die Gliederungsfunktion der viktorinischen Wissenschaftssystematik betont, was den Status des Fachautors Vitruv weiter aufwertet 42 . Das Corpus selbst beginnt mit der nahezu vollständigen Architekturtheorie (Spec, doctr. 11,13—15) nach Vitruv, konkretisiert den Aufgabenbereich mit dem Gebäudebau (Spec, doctr. 11,15), stellt den Beruf des Architekten vor (Spec, doctr. 11,16), die Tätigkeiten der Planung und Errichtung (Spec, doctr. 11,17 — 19), die unterschiedlichen Gebäude- und Raumarten (Spec, doctr. 11,20 — 24), Städte (Spec. 40
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Als erste weist auf die zwei Werkstadien hin M. Paulmier-Foucart, Etude sur l'etat des connaissances au milieu du XHIe siede: Nouvelles recherches sur la genese du „Speculum maius" de Vincent de Beauvais, in: Spicae 1. Cahiers de l'Atelier Vincent de Beauvais (1978), 9 1 - 1 2 2 , hier 99sq. V. etiam Anm. 45. Vinzenz von Beauvais, Speculum doctrinale (wie Anm. 29), Spec, doctr. 1 1 , 1 3 - 1 5 ; Spec, doctr. 1 1 , 1 6 - 3 2 . Cf. das Kapitel zum Festungsbau nach Vitruv: Spec, doctr. 11,21. Cf. Vinzenz von Beauvais, Speculum doctrinale (wie Anm. 29), Spec, doctr. 11,32, col. 1013: „Haec et alia plura iuxta diuisionem magistri Richardi superius positam ad armaturam pertinent." Das Eingangszitat (Spec, doctr. 11,13, col. 1001) stammt aus Richard von St. Viktor, Liber exceptionum, Texte critique avec introduction, notes et tables (Textes philosophiques du moyen äge 5), ed. J. Chatillon, Paris 1958, I 1,16. Cf. die Definition bei Hugo von St. Victor, Eruditionis didascalicae libri VII, in: MPL 176, col. 761A.
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doctr. 11,25 — 26), Werkstoffe (Spec, doctr. 11,27) sowie Nutzgeräte (Spec, doctr. 11,28-32). An einem weiteren Eingriff des Enzyklopädisten in das Corpus läßt sich ein Wandel in der Bewertung der Zivilisationstechnik belegen. Die ratio architecturae erforderte Kompetenzen, die der Handwerker (faber bzw. magister operum) nicht zu leisten hatte: Die Spitzenstellung von Vitruvs Architekturtheorie im „Doctrinale" führt das Berufsverständnis ein, das im Mittelalter wegen der fehlenden Dignität der Werkkünste noch bei Hugo und Richard ausgeschaltet war. Die Betonung des vitruvianischen Architektenideals läßt sich als Indiz für ein innovatives Berufsverständnis werten: vom mittelalterlichen Handwerker ist nicht mehr die Rede, das entsprechende Kapitel wird De architectoribus betitelt und ersetzt die veraltete Uberschrift Isidors De fabricis parietum. Der Gebrauch des aristotelisch geprägten Begriffs zur Bezeichnung des Berufsstandes — noch dazu in einer normierenden Überschrift — ist insofern progressiv, als er im Mittelalter kaum literarisch belegt ist: man spricht in den einschlägigen Texten von Bauherren, Bauleitern und Handwerkern, nur in der allegorischen Literatur wurde der architectus verwendet 43 . Erst im 13. Jahrhundert macht sich bei den gelehrten Dominikanern — unter dem Einfluß der Wiederentdeckung des Aristoteles — ein neues Begriffsverständnis bemerkbar. Thomas von Aquin und Albertus Magnus belegen mit „De architectura" die intellektuellen Ansprüche an den Baumeister und untermauern den Gebrauch des Terminus architector. Die Belege im „Doctrinale" zeigen auch Vinzenz — wie für Psychologie, Recht und Medizin — als einen Träger aktueller Literatur und auch der Aristoteles-Rezeption 44 . Die Materialien der Architektur werden im „Naturale" unter dem Aspekt der fabrica behandelt, zwar in der Reihenfolge ihrer Zugehörigkeit zum Sechstagewerk, jedoch explizit unter der Autorität des Fachschriftstellers Vitruv, um Exempla zur Handhabung der Natur durch den Menschen als handlungsorientiertes Wesen zu liefern 45 . Die Perspektive des Vinzenz entspricht der 43
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Spec, doctr. 11,16, col. 1003 De architectoribus et instrumentis eorum statt mit Isid. orig. 19,8 De fabriäsparietum und Isid. orig. 19,18 De instrumentis aedificiorum. Die Verwendung von architector in der Kapitelüberschrift ist schon in der „Doctrinale"-Handschrift des 13. Jahrhunderts, Paris B. N. lat. 16100, fol. 300r°b bezeugt. Zum Begriff architectus und 1 Cor. 3,10 cf. B. Reudenbach, Säule und Apostel. Überlegungen zum Verhältnis von Architektur und architekturexegetischer Literatur im Mittelalter, in: Frühmittelalterliche Studien 14 (1980), 310 — 351, bes. 3 1 4 - 3 1 7 ; Binding, Bauherr (wie Anm. 28), 2 3 7 - 2 7 0 . Zu Vitruv bei Thomas von Aquin und Albertus Magnus cf. Schuler, Vitruv im Mittelalter (wie Anm. 35). Für mehrere Disziplinen wurde eine Aktualität, ja Modernität des lange als konservativ bezeichneten Vinzenz nachgewiesen. Zur Medizin cf. St. Schuler, Medicina secunda philosophia. Überlegungen zur Begründung und Einordnung der Medizin als theoretischer Super-Disziplin und zur Konstitution ihrer Quellen im „Speculum maius" des Vinzenz von Beauvais (Frühmittelalterliche Studien 32 (1999), im Druck). - Veraltet ist die Ansicht von Le Goff, encyclopedisme (wie Anm. 2), 35. Im „Doctrinale" findet sich die ratio architecturae, im „Naturale" die administrate architecturae der Werkstoffe: cf. zum Ziegelstein Vinzenz von Beauvais, Speculum doctrinale (wie Anm. 29), Spec, doctr. 11,17, Speculum naturale (wie Anm. 29), Spec. nat. 6,80 — 81; Stein: Spec, doctr. 11,17, Spec. nat. 8,2; Steinbrüche: Spec, doctr. 11,17, Spec. nat. 8,1; Kalk: Spec.
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des Aquinaten 46 : „Sicut etiam caeterae artes operationis suae matenam α natura acäpiunt, ut faber ferrum, aedificator ligna et lapides in artis usum assumunt." Daher erscheint der Gebrauch der Naturstoffe als Baumaterialien auch im „Naturale" gerechtfertigt wie die medizinische oder alchemistische Nutzung der Pflanzen, wenn der Enzyklopädist sagt 47 : „Haec et alia plantarum genera (...) ad plurima sunt utilia, quaedam videlicet ad escam, quaedam ad medicinam, quaedam ad fabricarum lignearum opera diversa, quaedam ad diversarum artium mecbanicarum instrumenta, de quibusplenius infra dicendum est." Dieser Funkdonsgebrauch von „De architectura" kann für die zitierten Bücher Vitr. 1 (Winde), Vitr. 2 (Baustoffe) und Vitr. 8 (Hydrologie, Hydraulik) nachgewiesen werden 48 . Eine ähnliche Konzeption wie dem „Speculum maius" liegt dem „Livres dou Tresor" des Brunetto Latini (1220 — 1294) zugrunde: beide lassen sich der Gruppe der allgemeineren Enzyklopädien zuordnen 49 . Wie das „Speculum maius" um 1259, so ist der „Tresor" 1266 fertiggestellt worden. Beide werten den Rang der handlungsbezogenen Wissenschaften und Künste gegenüber der im Mittelalter üblichen Abwertung der πράγματα auf. Die Innovationen im Konzept des Latini bestehen vor diesem Hintergrund in der Gründung der Enzyklopädie auf das Wissenschaftssystem (Spiegelung der Welt in der Wissenschaftsstrategie des Menschen) und der Revision in der Bewertung der Grundwissenschaften Theorik und Praktik: Während die Theorik als Propädeutik behandelt wird, erfährt die Praktik (Private Disziplinen: Individualethik, Ökonomik; öffentliche Disziplinen: Rhetorik und Politik) eine Aufwertung. Die Mechanik wird der Rhetorik, neben der Politik die höchste Disziplin, als praktischer Bereich zugeordnet 50 . Dennoch wird die Baukunst im ersten Buch zur Theorik, nicht im dritten zur Rhetorik vorgestellt51: Noch im einleitenden Kapitel hatte Brunetto die Werkkünste der Politik (drittes Buch) zugerechnet 52 . Bei einem Vergleich der Themen des
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doctr. 11,17, Spec. nat. 8,9; Sand: Spec, doctr. 11,17, Spec. nat. 8 , 7 - 8 ; Holz: Spec, doctr. 11,17, Spec. nat. 1 2 , 3 8 - 4 2 ; Gips: Spec, doctr. 11,17, Spec. nat. 8,11; Natur- und Tonfarben: Spec, doctr. 11,19, Spec. nat. 7,97; Rot: Spec, doctr. 11,19, Spec. nat. 7,98; Bleiweiß: Spec, doctr. 11,19, Spec. nat. 7,100; Zinnober: Spec, doctr. 11,19, Spec. nat. 7,101. Thomas von Aquin, De regimine principum, in: Quaestiones disputatae de virtutibus, Quaestiones disputatae, Quaestiones quodlibetales (S. Thomae Aquinatis opera omnia 3), Opuscula, ed. R. Busa S. J., Stuttgart-Bad Cannstatt 1980, 5 9 5 - 6 0 1 , hier 1,15, 599. Vinzenz von Beauvais, Speculum naturale (wie Anm. 29), Spec. nat. 9,11, col. 560D-E. Cf. Schuler, Vitruvs „De architectura" und die Baukunst (wie Anm. 35). Brunetto Latini, Li livres dou Tresor, ed. F.J. Carmody, Berkeley - Los Angeles 1948 (Nachdruck Genf 1975). Dazu Meier, Homo Coelestis (wie Anm. 5), 166 — 175; cf. ead., Grundzüge (wie Anm. 1), 486sq. Meier, Homo Coelestis (wie Anm. 5), 173. Meier, Cosmos politicus (wie Anm. 10), 349. Brunetto Latini (wie Anm. 49) 1,4,6, 21: „Et si nous ensegne (sc. politique) tous les ars et toz les mestiers ki a vie d'ome sont besonable. Ce est en .ii. manieres, car l'une est en oevre et l'autre en paroles. Cele ki est en oevre sont Ii mestier ke Ten oevre tousjors des mains et des pies, ce sont suers, drapiers, cordewaniers, et ces autres mestiers ki sont besoignable a la vie des homes, et sont apieles mecaniques." Kap. 1—5 Übersicht über das Werk; Kap. 6 — 18
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ersten Buches fällt auf, daß sich neben den großen Abschnitten der Universal- und Naturgeschichte auch das kleinere Gebiet der Architektur behauptet. Von einem festen Platz in den Anforderungen an den auszubildenden Fürsten kann daher durchaus gesprochen werden, handelt es sich doch um die einzige Werkkunst, die überhaupt Eingang findet: Allein diese Tatsache verdient schon Beachtung; denn Brunetto ist aufgrund der Reduktion gezwungen, nur das Notwendige aufzunehmen. Wenn er vor diesem Hintergrund die Baukunst berücksichtigt, so spiegelt sich in diesem Phänomen die gesellschaftliche Entwicklung seiner Zeit und der Platz, den die Architektur darin einnimmt, deutlich wider. Aus der Diktion der Uberschriften geht hervor, daß es sich dabei um handlungsorientierendes Wissen handelt: „comment on doit faire maisons et en quel lieu; comment on doit faire puis et fontaines; con doit on faire cisternes; coment on doit sa maison garnir". Der Leser findet bereits in den Uberschriften Antworten auf seine Frage, wie er sich zu verhalten und wie er zu handeln habe: Die Spitzenstellung des Interrogativum comment sowie die Aufgabenbereiche maisons, lieu, puis, fontaines, ästernes, sa maison garnir weisen deutlich auf menschliche Aktion in einem konkreten Anwendungsbereich, der Baukunst, hin. Der Leser wird darüber informiert, wie er zu bauen, zu graben und zu dekorieren hat. Den Uberschriftentypus, der auf die Praxis menschlichen Lebens zielt, verwendet Latini in den 437 Kapitelüberschriften selten, doch wenn sie in dieser Weise formuliert sind, dann prinzipiell, um Verhaltensmaßregeln und praktisches Wissen zu präsentieren 53 . Dies geht ebenfalls aus der Sprache der Uberschriften hervor: überall findet sich das Verbum modale on doit faire. Die Uberschriften geben nähere Erläuterungen zu Inhalten und Aufgabenbereichen der Architektur, d. h. die Wahl des Platzes für die Gebäude und Brunnen, verbunden mit den Tätigkeiten des Errichtens und Grabens, ergänzt durch die Ausstattung der Gebäude. Auch die Phasen des Bauens werden deutlich erkennbar: Planung (1,126), Errichtung (1,127-128) und Gestaltung (1,129). Brunetto verfaßt die Kapitel im Gegensatz zu Vinzenz selber, ohne die Quellen zu nennen. Die Architektur ist frei von jeder Abwertung, Brunetto selbst führt den Leser gern durch das Gebiet der Baukunst 54 : „Et por ce ke les gens maisonent sovent et volontiers sor bone terre, voldra Ii mestres ensegnier coment on le doit faire." Brunetto deckt wie bei Vinzenz die architectura civilis und militaris ab, weiter unterteilt in Stadt- und Landarchitektur, und bindet auch die Landwirtschaft
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Theologie; Kap. 1 9 - 9 9 Universalgeschichte; Kap. 1 0 0 - 1 2 1 Naturwissenschaften; Kap. 1 2 2 125 Geographie; Kap. 1 2 6 - 1 3 0 Baukunst; Kap. 1 3 1 - 2 0 2 Naturgeschichte. Explizit auch im Text; cf. Brunetto Latini (wie Anm. 49) 1,126, 123. Cf. vor allem ibid. 3,73 — 105 zur Politik mit ganz konkreten Hinweisen, Verhaltensmaßregeln und Handlungsvorschriften. Brunetto Latini (wie Anm. 49) 1,126, 123.
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ein; dies zeigt nicht nur die Palladius-Rezeption, sondern auch die Anbindung der architectura an die agricultura, die in den vorangehenden Kapiteln behandelt wird. Beide wiederum sind eingebettet in die Ökonomie, die die Leitsätze liefert, nach denen der Haus- bzw. Gutsherr seinen Haushalt zu lenken und zu verwalten hat 5 5 . Das Kapitel „Comment on doit faire maisons et en quel lieu" beschreibt O r t und Art des Bauens (Wahl des Platzes, Planen und Errichtung, Angemessenheit der Mittel) 5 6 : diese und andere Angaben Latinis finden sich im Kapitel zum Reichtum innerhalb des Ethikbuches, so daß die Anbindung der Baukunst unter den moralethischen Uberbau der Enzyklopädie gewährleistet ist 5 7 . E s folgen die Ausrichtung des Gebäudes (1,126,2), das Fundament (1,126,3), das Material (1,126,4), das Hausinnere (1,126,5) und die äußeren Anbauten (1,126,6). An der Spitze eines jeden Paragraphen steht das Thema: „Ii frons de ta maison; le merien de ton edifiement; la chaus; ton celier; l'estables des chevaus" 5 8 . Auf diese Weise wird der Zugang zur Einzelheit hergestellt. Auch im Innern der jeweiligen Abschnitte spart der Enzyklopädist nicht mit Fachausdrücken, z. B. im Katalog der Baumaterialien 5 9 . Grundsätzlich nennt er außerdem Zeitpunkt, Windrichtungen und alle Komponenten des zu errichtenden Gebäudekomplexes. Eingangs warnt Brunetto den Bauherrn vor einer Übertreibung der Mittel und erteilt ihm Anweisungen, nach welcher Windrichtung das Gebäude zu orientieren oder auch zu welchem Zeitpunkt das Fundament zu legen sei. Oberstes Ziel der Architektur besteht in der Organisation des Hauswesens und dem Uberblick über die darin ablaufenden Prozesse und Handlungen. Ein wohlgebautes Haus und auch Staatswesen sollen dem Hausherrn und dem Fürsten einen Uberblick erlauben. Die Baukunst wird hier auf den Fürsten ausgerichtet und unter ethischer Anbindung praktisch dargestellt. 55
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Cf. vor allem die Verweise auf die Ethik für das Verhalten des Herrn und auf die Natur der Tiere für die jeweilige Einrichtung der Gebäude: Brunetto Latini (wie Anm. 49) 1,129,1; 1,129,5 — 6, 126sq. Beides wurde von Brunetto an anderer Stelle seiner Enzyklopädie weitergehend behandelt. Brunetto Latini (wie Anm. 49) 1,126,1, 1 2 3 - 1 2 4 , 3 - 6 : „ E t tot avant doit chascuns warder que son edifiement ne trespasseoutre la dignite ou outre la richesce de lui, ou il a grant peril, selonc ce que Ii contes devisera pa avant el livre des iiii. vertus, el capide de richesse; et por ce ne dira il pas ci aleques de cele matire." Brunetto Latini (wie Anm. 49) 1,129,5, 126 verweist ferner auch auf die Dienstbarkeit der Architektur, die dem Fürsten ein ehrenhaftes Leben ermöglichen solle: „ E t la maisnie soit bien ensegnie et ordenee a ce k'il doivent faire chascun a son office dedens et defors, en tel maniere que Ii sires soit frains et mestres de toz, et k'il voie sovent coment vait la chose de son ostel, si k'il puisse mener sa vie honestement, selonc son estat, a la maniere que Ii mestres ensegne pa avant ou livre de vertus." Cf. zum moralethischen Uberbau Meier, Grundzüge (wie Anm. 1), 486sq; ead., H o m o Coelestis (wie Anm. 5), 173sq.; ead., C o s m o s politicus (wie Anm. 10), 3 4 2 - 3 4 7 , 3 5 4 - 3 5 6 . Brunetto Latini (wie Anm. 49) 1 , 1 2 6 , 2 - 6 , 124. Brunetto Latini (wie Anm. 49) 1,126,4, 124.
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Vinzenz und Brunetto vertreten gemeinsam den Typus der Enzyklopädie, der neuen Bereichen der Lebens- und Lehrpraxis geöffnet ist, sei es durch Expansion der Quellen zum Zweck der Offenheit, sei es durch Reduktion auf einen Adressaten. In Zweck und Aufbau unterscheiden sie sich erheblich 60 . Als Reaktion auf die neu ausdifferenzierten Wissenschaftsstrukturen und Tätigkeitsfelder des 13. Jahrhunderts ergibt sich eine Organisation des „Speculum maius", die kumulierend-summativ Quellen zusammenstellt, um eine Multifunktionalität im Gebrauch zu gewährleisten. Brunetto hingegen organisiert den „Tresor" einzig nach Kriterien des Gebrauchs durch das künftige Stadtoberhaupt: Adressaten sind hier eine Person, ein Amt, ein Stand; statt Multifunktionalität ist hier die Professionalisierung des Wissenstransfers bestimmend für die Organisation der Enzyklopädie. Bei beiden Vertretern des allgemeinen Typus findet die Baukunst also ihren der jeweiligen Intention nach angemessenen Ort, bei Vinzenz in der Disziplinensumme des „Doctrinale" (Theorie) und den Naturelementen des „Naturale" (Praxis), bei Brunetto allein im ersten Buch im Rahmen der knapp dargestellten Theorik als Propädeutik der Praktik. Das „Speculum maius" widmet aufgrund seiner Offenheit und Multifunktionalität mindestens 19 Kapitel im „Doctrinale" dem Systemüberblick, der Architekturtheorie (Polymathie, ästhetische Grundbegriffe, Teilgebiete der Baukunst), und im „Naturale" zahlreiche Kapitel der Praxis der Baukunst (Baumaterialien, Malerei, Dekor). Latinis „Tresor" dagegen beschränkt sich auf drei Kapitel, so daß der grundlegende Unterschied in der Quellennutzung und Stoffdarstellung zwischen Expansion bei Vinzenz und Reduktion bei Brunetto manifest wird. Obwohl die untersuchten Wissenskompendien insgesamt der mittelalterlichen Enzyklopädie zugerechnet wurden, muß eine grundsätzliche Differenzierung getroffen werden. Für die allgemeine Gruppe ist die Reorganisation für neue Gebrauchsfunktionen gegenüber der Naturenzyklopädie das entscheidende Kriterium. Sie öffnet sich neuen Aspekten des praktischen Lebens; das „Speculum maius" und der „Tresor" unterscheiden sich dabei in Bezug auf Konzeption, Quellennutzung und Adressaten. Bei beiden indes kann die grundsätzlich schon festgestellte Tendenz der Öffnung für neue Gebrauchs funktionen auch anhand der Baukunstdarstellung nachgewiesen werden, beide sind darin Träger pragmatischer Schriftlichkeit. Die Bedeutung des „Speculum maius" verdient eine Würdigung; denn Vinzenz liefert im „Doctrinale" einen Systemüberblick über alle Komponenten der Werkstoffbearbeitung und verleiht der Architektur einen Disziplinenstatus; im „Naturale" öffnet er durch den Einbezug von Vitruvs Fachschrift die Perspektive der pragmata, d. h. hin zu einer Werkstoffdiskussion. Deshalb nimmt er einen progressiveren und offeneren Rang in der enzyklopädischen 60
Cf. Meier, Homo Coelestis (wie Anm. 5), 174sq.
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Bewertung der Werkstoffdiskussion, aber auch in der Vitruv-Rezeption in der mittelalterlichen Enzyklopädie ein. Dies ist nicht zuletzt auf die intendierte Multifunktionalität des „Speculum maius" zurückzuführen: Gerade im Vergleich mit den anderen Enzyklopädien wird erkennbar, daß Vinzenz für alle Interessen des Lesers ein subtiles Gespür beweist. Die Vitruv-Rezeption in der hochmittelalterlichen Enzyklopädie spiegelte folglich das gesteigerte Ansehen der ars mechanica architectura wider. Von dieser Gruppe unterscheidet sich die Naturenzyklopädik mit ihren Vertretern Thomas, Bartholomaeus und Alexander. Von einer einheitlichen Ausklammerung der artes mechanicae kann jedoch hier nicht gesprochen werden. Thomas übergeht zwar die Architektur, Bartholomaeus erwähnt sie jedoch im Kontext der naturkundlichen Beschreibung mehrerer Elemente, und Alexander gibt ihr einen festen Ort, verbunden mit moralisierender Darstellung, der einzigen innerhalb des hier zugrundegelegten Corpus. Wenn man zur Baukunstpräsentation an einem Corpus von drei Enzyklopädien Vorstufe, Stufe des Wandlungsvollzugs und Stufe einer neu erreichten Form festmachen wollte, so würde Alexander die Vorstufe darstellen, Vinzenz die Stufe des Wandlungsvollzugs und Brunetto die einer neu erreichten Form der Wissenspräsentation und -organisation.
Voraussetzungen und Eigenart der „Parisiana Poetria" des Johannes von Garlandia A L E X A N D R U CIZEK ( M Ü N S T E R ) *
Die sogenannte „Parisiana Poetria" des englischen magister Johannes von Garlandia entstand um 1234 während dessen langjähriger Tätigkeit an der Pariser Hochschule. Die Abfassung dieses Prosa-Traktats bedeutet eigentlich den Höhepunkt der schöpferischen Tätigkeit seines Verfassers und stellt zugleich ein wichtiges Glied in der Kette grammatikalisch-poetologischer Werke dar, deren Entstehung durch die Blüte der Dichtung und der Grammatikstudien in den Schulen des Loire-Kreises während des 12. und 13. Jhs. angeregt wurde. Es sei zunächst einiges zum Berufsweg des Verfassers, der als eine zentrale Gestalt in der Geschichte des spätmittelalterlichen Bildungswesens anzusehen ist, gesagt. Anschließend soll eine Analyse seines Poetiktraktates „Parisiana Poetria" unternommen werden, wobei einige Lehrmeinungen des Verfassers ausführlicher zu erörtern sind, die für ein besseres Verständnis der geistigen Landschaft des 13. Jhs. wichtig sind. Trotz der schon lange Zeit bestehenden Ubereinstimmung der Forschung über die Bedeutung des Johannes fehlt es immer noch an einer umfassenden aktuellen Untersuchung des CEuvres des Pariser Gelehrten. Die ansonsten vorzügliche Abhandlung von L. J. Paetow aus dem Jahr 19271 entspricht nicht mehr, wie leicht einzusehen ist, dem aktuellen Forschunsgsstand in der Mediävistik. Die Untersuchungen von Tony Hunt 2 und Thomas Haye 3 behandeln nur Teilaspekte des CEuvres und der langzeitigen Wirkung des Johannes im Rahmen der Pariser Universität. Nach der Ausbildung in Oxford Anfang des 13. Jhs., die ihn — wie auch den Zeitgenossen Robert Grosseteste und später Roger Bacon und Robert * Für die sprachliche und technische Revision des Textes sei Frau Nina Hard herzlich gedankt. 1 Cf. Morale Scolarium of John of Garland (Johannes de Garlandia). Edited with an Introduction on the Life and Works of the Author... by Μ. J. Paetow (Memoirs of the University of California 4, 2), Berkeley 1927. 2 Cf. Teaching and Learning Latin in Thirteenth-Century England, Cambridge 1991, III 87sqq. 3 Cf. Johannes de Garlandia, „Compendium gramatice". A u f der Grundlage aller bekannten Handschriften erstmals herausgegeben und eingeleitet von Th. Haye, Köln —Weimar—Wien 1995.
Die „Poetria Parisiana" des Johannes von Garlandia
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Kilwardby — tief geprägt zu haben scheint4, wirkte Johannes mit einer kurzen Unterbrechung fast ein halbes Jahrhundert lang, etwa von 1218 bis 1265, an der Pariser faculte des arts. Hier lehrte er in einem der ältesten Schullokale, das mitten im Quartier Latin in einem Obst- und Blumengarten angesiedelt war, im clos de Garlande, der heutigen rue de Galande zwischen den Kirchen St. Julien-le-Pauvre und St. Severin. Die dieser Schule angehörenden Studenten hießen scholares bzw. bachalarii in Garlandia·, daher rührt auch der Gelehrtenname des Johannes 5 . Die so eingerichtete Garlandia läßt fast an die in Athen mitten im Hain des Akademos angesiedelte Schule Piatons denken. Das wissenschaftliche und literarische Prestige des Johannes scheint sehr hoch gewesen zu sein, was uns durch die ehrfürchtige Erwähnung bei Zeitgenossen wie auch durch die Tatsache belegt wird, daß die Handschrift seines „Epithalamium Beate Marie Virginis", das Johnnes selbst für sein Meisterwerk hielt, als Uber catenatus in der benachbarten Kirche St. Julien-le-Pauvre aufbewahrt war, wo sich Pariser Lehrer und Studenten gerne versammelten6. Gleichwohl war Johannes kein typischer oder gar an die herrschende Geistesrichtung der Pariser Universität gut angepaßter Dozent und Gelehrter, wie etwa seine in dem satirisch-moralisierenden Gedicht „Morale Scolarium" vertretenen Ansichten zeigen und noch eindeutiger schon eine bloß oberflächliche Ubersicht über die Titel seiner Werke7. Nur für eine kurze Zeit, nach Turbulenzen in Paris, hat Johann zwischen 1229 und 1232 an der nach dem Albigenser-Kreuzzug von den Dominikanern gegründeten Universität in Toulouse gewirkt8. Seine begeisterte, ja fanatisch anmutende Zustimmung zur Ketzerverfolgung und -ausrottung wie sie im Gedicht „De triumphis ecclesie" zur Sprache kommt, gehört wohl zu den Widersprüchen, die eigentlich dem Zeitgeist eigentümlich sind und die auf uns heute eher befremdlich wirken9. Ansonsten war Johannes wie die oben erwähnten Oxforder Gelehrten ein Anhänger des novus Aristoteles in einer Zeit, in der an der Pariser Universität ein dauernder Kampf zwischen den etablierten klerikalen Lehrern und den Mendikanten als Neuankömmlingen über die Aufnahme des antiken Philoso4 5
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Cf. Paetow (wie Anm. 1), 84 Cf. idem, 86sqq.; A. L. Gabriel, Garlandia. Studies in the History of the Mediaeval University, Notre Dame, Indiana 1969, XIII. Zu den Verhältnissen an der Pariser Universität cf. vor allem P. Glorieux, La faculte des arts et ses maitres au X l l l e siede, Paris 1971. Cf. Paetow (wie Anm. 1), 93, 9 8 - 1 0 3 , 113sq. Cf. die Auflistung ibid., 71sq., und die ausführliche Erörterung, 1 0 7 — 145. Glorieux (wie Anm. 5), 211 sqq., hat diese Liste fast wördich übernommen. Cf. Paetow (wie Anm. 1), 8 9 - 9 2 . Cf. „De triumphis ecclesie", ed. by Th. Wright, London 1856, 101, V. 7sqq.; dazu Paetow (wie Anm. 1), 92, und id., The crusading ardor of John of Garland, in: The Crusades and other historical essays presented to Dana C. Munro by his former students, New York 1927, 207-222.
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phen ins Unterrichtsprogramm bzw. seine Ausschließung daraus ausgetragen wurde 10 . Dieser Streit knüpft außerdem an die schon früher im 12. Jh. stattgefundene Debatte über die zunehmende Dominanz der Dialektik innerhalb des trivium. an. Als vielseitiger, auch dichterisch tätiger Gelehrter konnte Johannes, wie noch zu sehen sein wird, nicht ohne Vorbehalt die an der Pariser faculte des arts erfolgte Uberwertung dieser Disziplin zuungunsten der litterae akzeptieren. Gleichwohl bezeugt sein „Liber de constructionibus" insofern eine gute Vertrautheit mit der spekulativen Grammatik, als Johannes sich hier methodisch an die Gattung der sophismata logicalia anlehnt11. Ihm werden außerdem einige andere dialektische Opuskeln zugeschrieben wie die „Regule magistri Gerlandi" und „Notabilia super tertio de anima", wobei das letztere eindeutig auf den novus Aristoteles verweist. Eine weitere Gemeinsamkeit Johannes' mit seinen Landsleuten aus Oxford wird durch seine zahlreichen naturwissenschaftlichen Werke medizinischer („Memoriale"), alchemistischer („Compendium alchimie", „Libellus de proprietatibus elixir" u. a.), botanischer („Hortulanus") und komputistischer („Computus", „Tabula principalis" u. a.) Art bezeugt. Den Schwerpunkt seiner wissenschaftlichen Tätigkeit bildet jedoch die Domäne der traditionellen grammatica, die die Poetik und die Interpretation der auctores wie auch die Theorie des Dictamens mit einschließt. Darüber zeigt sich aber am deutlichsten zum einen der Dissens Johanns mit den in Paris wirkenden Modisten, zum anderen sein Konsens mit der humanistischen Richtung der Grammatikschule in Orleans, mit der auch die erwähnten Oxforder Gelehrten teilweise übereinstimmten12. So hat Johannes in der notorischen Hochburg der dichtungsfeindlichen Dialektiker die auctores der Antike polemisch verteidigt, wie z. B. in der Schrift „Ars lectoria ecclesie", das am meisten verbreitete grammatikalische Werk Johanns 13 . Die Anhänger der spekulativen Grammatik, so der magister Jordanes von Sachsen, Verfasser eines Priscian-Kommentars, der in Paris zwischen 1220—1240 gewirkt hat, setzten das Konzept einer Grammatik durch, der sie einen universalen Gegenstand
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Zur Rezeption des neuen Aristoteles vornehmlich in Paris während der ersten Hälfte des 13. Jhs. im Spannungsfeld von Weltklerikern und Mendikanten, wozu die zeitlichen Verbote der aristotelischen Lehre durch päpstliche Erlasse von 1210, 1231 gehören, cf. e. g. Glorieux (wie Anm. 5), 45, 385sqq.; M. Grabmann, Die Geschichte der scholastischen Methode, Freiburg 1909, Nachdruck Darmstadt 1961, I, 6 6 - 8 1 ; B. Geyer, Die patristische und scholastische Philosophie, Berlin 1928, 350sqq. (Fr. Überweg, Grundriss der Geschichte der Philosophie, II. Teil); R. Köhn, Monastisches Bildungsideal und weltliches Wissenschaftsdenken, in: Die Auseinandersetzungen an der Pariser Universität im XIII. Jh. (Miscellanea Mediaevalia 10), ed. A. Zimmermann, B e r l i n - N e w York 1976, 1 - 3 7 . P. Schultheiss und R. Imbach, Die Philosophie im lateinischen Mittelalter, Zürich - Düsseldorf 1996, 196sqq., 485; K. Flasch, Das philosophische Denken im Mittelalter, Stuttgart 1986. Cf. Paetow (wie Anm. 1), 125. Cf. Haye (wie Anm. 3), 9. Cf. Paetow (wie Anm. 1), 122sq.
Die „Poetria Parisiana" des Johannes von Garlandia
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2uschrieben. Die dichterischen Texte, die traditionsgemäß den Nährboden und die Hauptstütze der grammatikalischen Theorie bildeten, wurden dabei entbehrlich. Die sprachlichen Schwierigkeiten löste man durch Logik in der Gestalt von quaestiones, die im Laufe des 13. und 14. Jhs. eine Gattung für sich bildeten14. Johannes dagegen hat die auctores der Antike gepflegt und kommentiert, wie u. a. das Integumentum Ovidii bezeugt; er hat sie reichlich benutzt und auch nachgeahmt in seinen Dichtungen, vieles hat er aus der antiken Poetik-, Grammatik- und Rhetoriklehre geschöpft und neu verwendet, wie gleich ausführlicher zu sehen ist. In dieser Hinsicht dürfte die Annahme Paetows nicht stimmen, Johannes von Garlandia sei in Paris als „champion of a losing cause" für die traditionelle Grammatik und für die auctores eingetreten15: seine Beliebtheit und Dauerwirkung an der faculte des arts können keineswegs seinen dortigen Mißerfolg bezeugen. Zu diesem vorschnellen Urteil hat Henri d'Andelis poetische Darstellung des Konflikts zwischen der in den Schulen von Orleans herrschenden Grammatik und der in Paris dominierenden Dialektik beträchtlich beigetragen. In „La Bataille des sept arts" schildert dieser Mitte des 13. Jhs. lebende trouvere auf allegorische Weise die Niederlage der Anhänger der auctores in Orleans durch die Streitmacht der Dialektiker aus Paris. In Wirklichkeit blieben die auctores, sicherlich in einer glanzlosen Stellung, weiter im Programm der faculte des arts. Mit dem Eintreten für den iW^/om-Unterricht verbindet sich bei Johannes, wie auch später bei Roger Bacon, der Anspruch auf Reinheit und Korrektheit des Lateins, was sich in der Geringschätzung der bereits in der Mitte des 13. Jhs. zu Standardwerken gewordenen Leistungen der novi grammatici der früheren Generation, nämlich des „Doctrinale" des Alexander de Villa Dei und des „Grecismus" des Eberhard von Bethune, niederschlug. Das erstere hat er zunächst kritisiert sowohl hinsichtlich des Inhalts als auch der Form; schließlich hat er es unternommen, diese Schrift zu korrigieren und zu überarbeiten16. Außerdem verfaßte er ein eigenes Grammatik-Handbuch, das „Compendium gramatice", das mit dem „Doctrinale" konkurrieren sollte. Beim „Grecismus" beanstandete Johannes wie beim „Doctrinale" inhaltliche 14
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Cf. J. Pinborg, Die Entwicklung der Sprachtheorie im Mittelalter, Münster 1966, 32sqq., 89sqq., 101 sqq. Cf. Paetow (wie Anm. 1), 99. Zu den beanstandeten Mängeln des „Doctrinale" cf. „Morale scolarium" XI, 352sq. (ed. Paetow): „Doctrinale viam claudens adphilosophiam/ Non gerit egregiam linguam, sed tautologiam..."\ s. auch „Compendium gramatice" (wie Anm. 3) III, 3sqq. und 240sqq. Zu der von ihm selbst geleisteten Verbesserung dieses Werks: „Fecit Alexander opus hoc, quo lima Johannis/ Suplet defectus opens; dent huic operosi / Lectores operam..." und weiterhin: „Informans pueros et Doctrinale reformans,/ Que prosunt, formo sub metripaupere forma", zitiert aus dem Prolog dieser Überarbeitung des „Doctrinale" durch Johannes, bei Hunt (wie Anm. 2), 87; s. auch ibid., 91 sq.; cf. M. L. Colker, New Evidence that John of Garlandia revised the „Doctrinale", in: Scriptorium 28 (1974), 6 8 - 7 1 .
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Fehler und femer die Unkenntnis der griechischen Sprache 17 . Griechische Sprachkenntnise dürfen Johannes allerdings schwerlich zugetraut werden. Aufgrund solch kritisch-philologischer Bekenntnisse und Bemühungen könnte man ihm eine frühhumanistische Einstellung wie auch Roger Bacon und Robert Grosseteste zuerkennen, wobei zwischen seinen Absichten und deren Verwirklichung eine tiefe Kluft zu liegen scheint. Dies ist den Renaissance-Humanisten nicht entgangen. Für Rubeanus Crotus und für Erasmus zählt Johannes ebenso wie Remigius von Auxerre, Alexander de Villa Dei, Hugutio, Papias oder Eberhard von Bethune als inkorrekter, obskurer und preziöser Schriftsteller, als Gefolgsmann der Barbaries und nicht der Thalia 18 . Die Lektüre der wichtigsten grammatikalischen und lexikalischen Werke Johanns wie des „Compendium gramatice", „Dictionarius", „Comentarius", der „Exempla honeste vite" und der „Synonyma et Equivoca" macht diese Bewertung vom humanistischen Standpunkt aus verständlich. Die uns hier beschäftigende „Parisiana Poetria" scheint Johannes wohl gegen 1234 etwa auf dem Höhepunkt seiner Pariser Laufbahn geschrieben zu haben 19 . Sie hat gewiß alle Unzulänglichkeiten der eben aufgezählten Werke, weist aber gleichwohl viel an Innovations- und überhaupt an Erfindungsgeist auf. Sie ist wahrscheinlich als Produkt der Lehrtätigkeit des Johannes, nämlich der Praxis des Grammatik- und Dictamen-Unterrichts im clos de Garlande, entstanden; die fehlende Systematik des Werks dürfte dadurch erklärt werden, daß es sich dabei um einen unmittelbaren Niederschlag seiner Seminarien handelt. Dies wird durch Querverweise, Wiederholungen und ergänzende Wiederaufnahmen des gleichen Gegenstands, durch Auflistungen von Musterbeispielen und Digressionen bestätigt, derentwegen der rote Faden oft genug verloren geht. Bei alledem erscheint die „Parisiana Poetria" als Unikum, wenn man von der „Poetria" des Johnnes von Sizilien und von einigen anderen Poetiken des 13.Jhs. absieht, die immer noch brachliegen. Denn es handelt sich um den mutigen Versuch, die Poetik der Dichtung und diejenige des Dictamens auf den gemeinsamen Nenner poetria zu bringen, wobei Johannes bemüht ist, das jeweils Spezifische, aber auch die fließenden Grenzen zwischen den beiden Gebieten zu unterstreichen. Seine Theorie schöpft auf kreative Weise sowohl 17
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Cf. „Morale scolarium" (wie Anm. 16): XIV, 359sqq.: ,JAendax Greäsmus est Greetsphilosophis mus;/ Quando latinismus est turget mons velut ismus... Nee sunt scripta bona que deminuunt Elicona/ Nomina declinantprave, male verba supinant"; dazu einiges bei Hunt (wie Anm. 2), 90sqq. Cf. „Epistolae obscurorum virorum" I, 7; „Conflictus Thaüae et Barbariei", in: Erasmus, Opera omnia, I, 8 8 9 - 8 9 4 ; dazu Paetow (wie Anm. 1), 100 und Anm. 84 u. 85; P. G. Schmidt, Erasmus und die mitteUateinische Literatur, in: Erasmus und Europa (Wolfenbütteler Abh. zur Renaissanceforschung 7), ed. A. Buck, Wiesbaden 1988, 1 2 9 - 1 3 7 ; Haye (wie Anm. 3), 1. Die Datierung ist allerdings umstritten; s. die Erörterungen des zweiten Herausgebers, T. Lawler in: The „Parisiana Poetria" of John of Garland. Edited with Introduction, Translation and Notes by Τ. Lawler, New Haven and London 1974, Xllsqq. Im folgenden wird nur aus dieser Ausgabe zitiert.
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aus dem antiken Lehrgut, an erster Stelle aus Horaz' „Ars poetica" und aus Ciceros „De Inventione", sodann auch aus den Poetiktraktaten Galfreds von Vinsauf, nämlich aus der „Poetria nova" und dem „Documentum de arte versificandi". T. Lawler, der Herausgeber der „Parisiana Poetria", vermutete sogar eine umgekehrte Beeinflussung, nämlich die Abhängigkeit der erweiterten Fassung des „Documentum" von Johanns „Parisiana Poetria"20. Mit Galfred befindet sich Johannes in einem regelrechten Wettstreit, wobei er über sein Modell vielfach hinausschießt. Anders als beim Aufbau der „Poetria nova", die grosso modo die fünfteilige Disposition der antiken Rhetoriklehre befolgt, und zwar die inventio, dispositio, elocutio, memoria und pronuntiatio, bricht Johannes ausdrücklich und sehr selbstbewußt mit dem auktorialen Gliederungsmuster der Alten: „Post inuencionem materie sequitur de electione materie. Tullius post inuencionem ordinat disposiäonem, inde elocutionem, inde artem memorandi, et ultimo pronunciationem; sed poetice scribentibus et dictantibus post inuendonem utilis est ars eligendi" (Parisiana Poetria, II, lsqq.). Das eigentliche Novum dieser von der traditionellen Bestimmung der ars rhetorica stark abweichenden Poetik besteht in der Beanspruchung einer der Dichtung und dem Dictamen eigentümlichen Neugliederung, in der der electio materie, der Stoffauswahl also, eine zentrale Stelle zwischen der inventio und der dispositio zugewiesen wird. Dies ist eine von Johannes kühn erdachte Lehre, für die er sich auf Horaz' Poetik beruft 21 . Im Rahmen der sieben Kapitel zählenden „Parisiana Poetria" wird der inventio, anders als bei Galfred, ein beträchtlicher Raum im ersten Kapitel zugewiesen, wobei die ciceronische Vorlage gewaltig verändert wird. Zunächst werden die Peristasen lakunar und in veränderter Reihenfolge, und zwar: ubi, quid, quale, qualiter, ad quid, bloß aufgezählt (I, 88sq.), dann werden der Ortsperistase ubi auf ungewöhnliche Weise die Person, die exempla und die Etymologie untergeordnet (I, 90sqq.). Bei der sich anschließenden Bestimmung der persona handelt es sich zunächst um die in den Briefstellern übliche Gliederung nach drei Sozialständen, die bei Johannes curiales (eingeteilt in Kirchen- und Edelleute), ciuiles (Bürger) und rurales (Bauern) heißen (I, 124 —134)22. An die äußerst knappe Erörterung der exempla {„In exemplis quid inueniatur..." 1,147 — 151) knüpft eine überdimensionierte Lehre von der Auffindung der proverbia an, womit meistens die Weisheitssprüche gemeint sind {„ars inveniendiproverbia"·. I, 153 — 310). Die Erörterung der proverbia an dieser Stelle erscheint eigentlich als eine Digression innerhalb der Lehre von der persona {„Quid inueniatur in persona'''', I, 140sqq.). 20 21
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Cf. Lawler, ibid., 327sq. Cf. I, 75sqq.: „Sicut diät Oratius in Poetria de inuenäone materie et electione, prius debemus inuenire quam inuenta eligere, et prius eligere quam electa disponere. Dicit ergo: 'Sumite materiam uestris, qui scribitis, equam...". Cf. „suppreme, infime, mediocres" bei Hugo v. Bologna, „Rationes dictandi" (aus dem 12. Jh.), in: Rockinger, Briefsteller und Formelbücher des 11. bis 14. Jahrhunderts, München 1863, I, 55; bei magister Ludolf heißen die Stände „summi, mediocres, humiles" (Rockinger I, 361).
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Von Galfreds Bestimmung des proverbium als schmückenden, amplifizierenden Bestandteils eines kunstgemäßen Erzählanfangs 23 ausgehend, schreibt Johannes dem proverbium zunächst ganz allgemein einen epideiktischen Zweck im Zusammenhang des Dictamens zu, und zwar mit Bezug auf den Sender und den Empfänger des Briefs: „Consideremus laudem vel uituperium in persona mittentis, et in persona recipientis" (I, 152sq.). Anschließend erstellt er eine spitzfindige, weit verästelte topische Kategorisierung der proverbia je nach Personenart, Absicht und Anwendungssituation, so u.a. ad amicos separates, ad scholares, ad matrem, dann de admonitione, de castigatione, Dominus servo, de usuris etc. Es handelt sich offensichtlich um ein dem schulischen Kontext entstammendes Produkt seiner Experimentierfreude. Die herausgearbeitete Topik mutet praktisch unerschöpflich an, und sie erklärt sich durch die enorme Beliebtheit des Sprichworts in allen möglichen Zusammenhängen der Schriftlichkeit. Schon in der Antike bildete das Sprichwort, das gnome oder sententia hieß, neben fabula und narratiuncula den Hauptgegenstand des progymnasmatischen Unterrichts in der Klasse des grammaticus, wie sowohl die einschlägigen griechischen als auch die lateinischen Handbücher bezeugen 24 . Die sogenannten Disticha Catonis vermitteln einen in den Schulen des Mittelalters geläufigen Sentenzenschatz, zu dem sich auch die biblischen Sprichwörter gesellten. Bemerkenswert ist ferner, daß diese Lehre vom proverbium am Vorabend der Ubersetzung der aristotelischen Rhetorik formuliert wurde 25 , in der eine völlig andere Dimension des proverbium im Zusamenhang mit der Theorie des Enthymems begegnet. Wie noch zu sehen sein wird, hat sich Johannes auf den Spuren Galfreds von Vinsauf auch in anderen Kontexten mit dem proverbium beschäftigt. Nach diesem beträchtlichen Exkurs wird der etymologia als letztem Bestandteil der Ortsperistase nur ganz wenig Beachtung geschenkt (I, 310 — 315), indem sie als eine Art ergänzende Bestimmung der Person gedeutet wird. Die dritte Peristase, das quale, wird auf die Rangordnung der materia im Wordaut der ciceronischen Lehre bezogen: „sicut dicit Tullius, 'Est genus cause honestum et turpe"' (I, 318sq.). Die vierte Peristase, das „ad quid inuenitur", wird ohne weiteres auf die Intention des Schreibenden, die die Accessus-Literatur causa finalis zu nennen pflegt, bezogen 26 . Die sich offensichtlich auf den ornatus beziehende Peristase qualiter wird als Oberbegriff von sieben colores rhetorici, 23
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Ein principium artificial, so in „Poetria nova", V. 127sqq., und „Documentum de arte versificandi", I, 10 (bei Faral, Les arts poetiques du X l l e et du X l l l e siecle, Paris 2 1962). Dazu A. Cizek, Imitatio et tractatio. Die literarisch-rhetorischen Grundlagen der Nachahmung in Antike und Mittelalter, Tübingen 1994, 2 2 8 - 2 4 7 . Die Ubersetzung von Hermannus Alemanus soll 1286 zustande gekommen sein, cf. Aristoteles Latinus XXXI, 1—2, Rhetorica. Translatio anonyma sive vetus..., ed. B. Schneider, Leiden 1978, IXsq. „.. .attendendum est quod per hoc denotatur finis inventoris, scilicet utilitas et bonestas..." (I, 327sqq.).
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d. h. von Wort- und Gedankenfiguren (annominatio, traductio, repetitio, gradatio, interpretatio, diffinitio und sermoänatio als ebenso vielen Steigerungsmitteln) verstanden. Das erste Kapitel schließt mit einer Reihenfolge von Vorschriften zur Auffindung von Substantiven, Adjektiven und Verben, die zur jeweils gewünschten Stillage im Gedicht und im Dictamen passen 27 . Dies wäre als eine lexikalische inventio, als Pendant zur sachbezogenen inventio aus den vorigen Kapiteln zu verstehen. Einiges wird auch zum metaphorischen Gebrauch der Verben und zur Figur der Periphrase hinzugefügt (I, 491sqq.). Die Behandlung der electio materie wird hauptsächlich im zweiten Kapitel, aber sporadisch auch in weiteren Abschnitten vorgenommen. Der electio wird in diesem Rahmen die ars memorandi (II, 85sqq.) auf eine überraschende, von der Sache her jedoch vertretbare Weise untergeordnet. Die electio wird nun auf die Kunst des „schweren Schmucks" („ars de d i f f t ä l i ornatu", II, 44sqq.), dann auf diejenige des „leichtes Schmucks" („de facili ornatu per determinationes uerborum, adiectiuorum et substantiuorum", II, 147sqq.) bezogen. Hierbei werden diese aus der Poetik Galfreds entnommenen Begriffe vornehmlich anhand von Musterbeispielen veranschaulicht, die ihrerseits an die im ersten Kapitel angegebene soziale Hierarchisierung der Personentypen nach atriales, duties und rurales (I, 123sqq.: „tria genera personarum...") angepaßt werden. Auf diese Weise wird ein Grundkonzept des pragmatischen Dictamens mit der für die mittelalterliche Dichtung geltenden Theorie vom „Stoff-StilSchema" kombiniert 28 , demgemäß der stilus als materia aufgefaßt wird und dementsprechend Stillage und Stoff aufeinander abzustimmen sind. So wird der anhand von Vergils Dichtung theoredsierte gravis stilus mit „miles dominans" exemplifiziert und auf „curiales cum litteris suis" bezogen; der mediocris stilus wird mit „agricola, Tritolomus, bos" exemplifiziert und weiterhin auf „riuiles" („consul,prepositus") bezogen, der humilis stilus mit „pastor otiosus" („Tytirus", „ouis") verbunden und auf das Sachgebiet „rurales cum instrumentis suis" bezogen (II, 115sqq.). Diese Zusammenführung nennt Johannes „rota Vergilt"29 und verweist dabei auf den mnemotechnischen Hintergrund ihrer Anwendung (II, 117sqq.). Im letzten Teil dieses Kapitels werden ebenfalls unter dem Stichwort electio grammatikalische und stilistische Bestimmungen von Nomen und Adjektiven vorgenommen (II, 210sqq.).
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Cf. „De arte inveniendi nomina substantiva" (I, 491 sqq.); hierbei dichtet Johannes ein „carmen elegiacum'\ ein Hirtengedicht als Musterbeispiel. Für die Adjektive (I, 460sqq.) und Verben (I, 476sqq.) werden lediglich einzelne Syntagmen als Beispiele geboten. Der Begriff wurde von F. Quadlbauer geprägt: Die antike Theorie Act genera dicendi im lateinischen Mittelalter, Wien 1962, passim, vor allem 4, 8sqq., 19, 85, 159sqq. Die Entwicklung dieses Konzepts wird bis in die Zeit Augustins zurückverfolgt. Zur Übernahme der Dreiheitslehre bezüglich der Personentypen aus den Vergilviten cf. ibid., 115. Dazu ibid., 114sq.
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Das dritte Kapitel behandelt in knapper Form die Lehre von inchoatio oder principium ausschließlich in der Dichtung, und zwar in starker Anlehnung an die Lehre Galfreds 30 . Die erste Hälfte des vierten Kapitels wird dem Dictamen und seiner charakteristischen Art des Beginns gewidmet. So heißt es da: „in dictaminibus aliter erit exordiendum" (IV, lsq.). Hier wird die Lehre von einem kunstmäßigen exordium geboten, die in den Dictamen-Traktaten kein Pendant hat 31 . Zunächst wird eine supersalutatio als Komplement der üblichen salutatio erdacht: „additio salutis" (IV, 125sq.). Darauf folgt eine originelle, durchaus vor schulischem Hintergrund zu sehende Lehre von der Ausarbeitung eines proverbium als Bestandteil eben des erweiterten Briefanfangs (IV, 143sqq.): „Wie man einen nackten Stoff bekleiden soll" {„de arte uestiendi nudam materiam"). Nun wird ein schlichtes und sachliches Briefstück („litterae uulgares et nudae") einer „curialen" Person als Ausgangsbasis des Verfahrens angeführt. Es handelt sich um eine an den Grafen von Champagne gerichtete Klage eines Abtes gegen den von einem ritterlichen Untertan des Grafen verübten Machtmißbrauch. Die salutatio lautet „Generoso viro..."; darauf folgt die Schilderung des Vorgangs {„Cum pars terrae laceat..."), also die epistolarische narratio, und schließlich die petitio oder mandatum, wie es bei Johannes heißt 32 , das Ersuchen einer Wiedergutmachung seitens des Grafen („nobilitatem uestram ... exoramus quatinus predictum militem... amoneatis"). Die conclusio wird uns vorenthalten. Die „Bekleidung" (vestitio) — diese Metapher scheint ad hoc erfunden worden zu sein — betrifft nun fast ausschließlich den Briefanfang. Nach der Hinzufügung einer supersalutatio im Anschluß an die salutatio33 erscheint ein zum Sachverhalt passendes proverbium, das seinerseits nach der Lehre vom Epicherem, wie sie im Argumentationsteil von „De inventione" (I, 37, 67) vorliegt, ausgebaut wird. So wird dieses proverbium, das eigentlich ein Weisheitsspruch ist, als Vordersatz (propositio) verwendet; darauf folgen nacheinander seine Bestätigung {„probatio vel declaratio prouerbii"), dann der Untersatz (assumptio) mit seiner Bekräftigung („eins probatio") und die Schlußfolgerung (conclusio). Gleich darauf nimmt Johannes, wie seine antiken Modelle, eine überzeugende Demonstration des Verfahrens vor 34 . Sodann folgt ein Bindeglied zur narratio des Briefs („uinculum sive medium inter prouerbium et narrationem"), das als „hoc declaratur" formuliert wird. Nach dem Abschluß der narratio
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Cf. „Poetria nova", V. 9 0 - 2 0 2 ; „Documentum" II, 1 - 1 2 . Cf. Lawler (wie Anm. 19), 242sqq. Cf. ibid., 244. So heißt die supersalutatio „et perpresentis uite militiam... triumphare" (IV, 164sq.). Das prouerbium als Vordersatz: „Potentes prinäpes terrenis honoribus preficiuntur..."; seine Bestätigung: "'Μ esset tutum aput inferiores nisi metus..."\ der Untersatz: „Sed sunt nonnulli qui non abhorrent abuti..."\ dessen Bestätigung: „quia degrassantur in subditos..."·, die Schlußfolgerung: „Est igitur necesse uel spoliatos conqueri..." (IV, 165—174).
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wird die Figur der exclamatio ausdrücklich als Schmuckmittel hinzugefügt 35 . Auf diese folgen anscheinend ohne Amplifizierung die petitio und die conclusio des Briefs. Lediglich eine sententia generalis wird ganz ans Ende des Musterstücks gesetzt 36 . Auf diese Weise schafft Johannes im Wettstreit mit Galfred ein principium artificiale für das Dictamen als Pendant zu demjenigen, das Galfred für die Dichtung theoretisiert hatte. Auch bei diesem bildete ein proverbium oder exemplum den Kern einer komplizierteren Ausarbeitung, die zugleich die ganze Disposition des literarischen Stücks betreffen sollte 37 . Dies ist, wie im Falle Galfreds, als ein eloquentes Beispiel kreativer und einfallsreicher Übernahme eines traditionellen Rhetorikgutes in die Poetik zu betrachten. Die epicherematische Ausarbeitung des proverbium hat aber ein weiteres Modell außerhalb der Argumentationslehre in „De inventione". Dabei handelt es sich um die Lehre von expolitio- Verfeinerung ebenfalls einer sententia, jedoch im Rahmen des ornatus in der Herennnius-Rhetorik und weiterhin in den Traktaten Galfreds, dessen expolitio von der antiken Quelle abhängig ist. Das einschlägige Schema ist allerdings nicht identisch mit dem Epicherem, wenn auch davon abgeleitet 38 . Auch in den Progymnasmata-Traktaten begegnet eine hiermit offensichtlich verwandte Übung anhand einer Chrie wie auch eines proverbium 39. Im folgenden den traditionell aufgefaßten Redeteilen gewidmeten Kapitel („-De partibus orationis", IV, 192sqq.) bietet Johannes — wahrscheinlich als literarisch-rhetorischen Kontrapunkt zu dieser Dictamen-Lehre — eine eigenartige Rede in Versen als Musterbeispiel. Dieses „Persuasio ad crucem" betitelte Stück ist eine Aufforderung zum Kreuzzug, deren Gliederung wiederum überraschend ist. So etwa heißt hier der Argumentationsteil „confirmatio ampliandi causa", darauf folgt eine „expositio mistica" und erst dann die confutatiound conclusio-Teile der Rede, die von mythologischen Gemeinplätzen ausgefüllt sind (IV, 207-284). Ebenfalls im Anschluß an die Lehre Galfreds verfaßt Johannes seine Theorie „de abbreviatione et ampliatione materie". Die Raffung des Stoffes behandelt er ganz knapp (IV, 285 — 309); der ampliatio hingegen, die wie bei den anderen 35
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39
„Inde ad ornatum et ampliacionem narrationis sequatur exclamatio, sie: Ό, quanta redundat in potentibus maliria...'" (IV, 179sqq.). Cf. IV, 187sq. Cf. „Poetria nova", V. 111-201, „Documentum", I, 7 - 1 7 . Cf. „Herennius-Rhetorik", IV, 43, 56, „Poetria nova", V. 1247 („Expotiam lima...") und anhand eines Musterbeispiels, ibid., 1327sqq. An diesen Stellen besteht die Ausarbeitung aus: „rem simplidter pronuntiare", dann „rationem subicere", was der propositio und der ratio entsprechen würde; darauf folgen „adferre contranum", etwa als Entsprechung der assumptio, dann „simile et exemplum" als Ausschmückung und schließlich die conclusio. Cf. Priscian, „Praeexercitamina", in: „Rhetores latini minores", ed. C. Halm, Lipsiae 1873, 553 — 4; hier heißen die „operationes" dieser Übung wie folgt: „α laude brevi eius qui dixit (vel feat), α simplici expositione ipsius sententiae" (oder usus für die Chrie), dann „α causa, α contrario, a comparatione, ab exemplo, a iudicio, a conclusione".
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Poetologen als Stofferweiterung und zugleich als affektische Steigerung gemeint ist, widmet er mehr Aufmerksamkeit, indem er bald dichterische aus dem eigenen „Epithalamium Beate Virginis", bald aber briefliche Musterstücke als Beispiele heranzieht. Hierbei unterscheidet er elf modi der ampliatio, wovon zehn aus der ampliatioAjzhte. Galfreds stammen, der elfte aber eine eigene Innovation darstellt. Dieser modus trägt nun keinen Namen; es wird lediglich auf die Auswahl (electio) jeweils passender Gedanken (sententie), dann auf die Stillage (grauis, mediocris oder humilis) hingewiesen (IV, 309 — 421). Daran schließt sich als Musterbeispiel die knappe Prosafassung des dialogischen fabliau vom Teufel Guinochet und dem schlauen Bauern an, die als comedia bezeichnet und anschließend in Vers form „ausgeschmückter" („ornatius") umgesetzt wird. Daran knüpft nun eine knappe Theorie der Gattung comedia an, in der m. E. das dramatisch-dialogische Element als gattungsbestimmend vorauszusetzen ist. Als letztes wird in diesem Kapitel eine kurze Ausführung in Versen über einige Arten des pragmatischen Dictamens wie carta, cyrographum, querela oder citatio (IV, 483 — 512) vorgenommen 40 . Dasselbe nimmt Johannes jedoch im siebenten Kapitel viel ausführlicher wieder in Angriff unter Hinzufügung weiterer Arten (VII, 155 — 466). An dieser Stelle bietet er aber zunächst einige Musterbriefe „curialer" Art, die sich auf den fünften Kreuzzug beziehen, so einen Brief des Papstes Honorius an den Kaiser Friedrich II., einen weiteren desselben Kaisers an seine Fürsten und schließlich zwei weitere Briefstücke, diesmal „civiler" Art, die einen Klerikerstreit in Paris behandeln. Die darauf folgenden theoretischen Erörterungen zur Abfassung von pragmatischen Briefen durch Notare („secularia negotia") werden der Reihe nach unter dem Stichwort generalis doctrina" aufgeführt (VII, 247 sqq.): carta (am ausführlichsten 247 — 289), cyrographum (290sqq.), examinaüo (308sqq.), transactio (317sqq.), memorialis (337sqq.), citatio (346sqq.), Privilegium (351 sqq.), petitio (386sqq.) und schließlich littere conversi und littere de indulgentia. Die jeweils gebotenen Musterbeispiele betreffen also die verschiedensten Angelegenheiten privaten oder öffentlichen Lebens und gehören allen drei Stillagen an. Wie bisher deutlich wurde, schenkt Johannes der pragmatischen Briefschreibung weitaus weniger Achtung als der Ausschmückung, der literarischen Gestaltung des Dictamens überhaupt. Ein Vergleich mit den zeitgenössischen Briefstellern aus Italien und Deutschland, etwa mit „Buoncompagnus" oder „Cedrus", mit der „Summa" des magister Goffredus oder mit der Sächsischen Summa erhellt, warum die Vertreter des notarialen Dictamen solch bunte Konstruktionen wie die „Parisiana Poetria" und die Poetik überhaupt der Schule in Orleans als gekünstelt und gesucht verachteten und darüber spotteten 41 . 40
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Diese Verse haben einen mnemotechnischen Charakter: „Carta tenet quid, cur quando, testesque, sigillum/ Quantum, quale, locum, legitimeque datum...". Cf. Η. Brinkmann, Zu Wesen und Form mittelalterlichen Dichtung, Halle 1928, 39sq. mit Belegen; Quadlbauer (wie Anm. 28), 127.
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Das fünfte Kapitel ist ebenso bunt und uneinheitlich wie die vorigen; der erste Teil befaßt sich mit verschiedenen Kategorien von Stilfehlem in der Dichtung überwiegend in Anlehnung an Horaz' „Ars poetica" („De viciis in metro VI specialibus", 1—260). Es ist bemerkenswert, daß erst an dieser Stelle eine Definition des Dictamens gegeben wird, bei der die Akzentuierung der ästhetischen Dimension dieses Genus durchaus augenfällig ist: „Est enim dictamen litteralis edicio, clausulis distincta, uerborum et sentendarum coloribus adornata" (V, 265sqq.). Zur Veranschaulichung der Vorschriften zur Vermeidung der vitia werden zahlreiche Beispiele aus den auctores herangezogen; ebenso zahlreich sind die ad hoc verfaßten Musterbeispiele. Darauf folgt ein viel kürzerer Abschnitt (V, 260 — 302), in dem die vitia einzelner Bestandteile des Dictamens erörtert werden. Nach dem Abschluß der Besprechung der „uitiosa supersalutatio" (V, 297 — 302) macht Johannes jedoch erneut eine beachdiche Digression. Anstelle der „uitia narrationis" bietet er die Lehre von den drei Erzählungsarten (historia,fabula, argumentum) und nimmt dabei eine höchst interessante Erweiterung der traditionellen Gattungsbestimmungen vor. Unter „hystoria" werden nämlich sämtliche Arten der Gelegenheitsdichtung subsumiert: das „Carmen seculare" des Horaz, das Epithalamium und das Epitaphium, aber auch die Tragödie (V, 303 — 372) 42 . Nach diesem lehrhaften Einschub kommt Johannes schließlich auf die vitia narrationis zurück, wobei er sich hier auf die Besprechung der obscuritas beschränkt. Gleich darauf geht er zur Erörterung der hinsichtlich ihrer Klauseln vier Typen von epistolarischen Kurialstilen über, des „stilus Gregorianus", „stilus Tullianus„stilus Hilarianus" und „stilus Isiodorianus"43, und bietet einschlägige Beispiele. In nur wenigen Zeilen (V, 468 — 481) äußert er sich abschließend kurz zum Briefbestandteil mandatum, womit üblicherweise die petitio gemeint ist. Im sechsten Kapitel finden sich zunächst einige Vorschriften zum Satzbau unter dem Stichwort constructio (VI, 1 —70); es folgt eine erneute, diesmal vollständige Aufzählung der Wort- und Gedankenfiguren (VI, 71—416) nach der Nomenklatur der Herrenius-Rhetorik (IV, 12,18 — 55,69). Die beigelegten Musterbeispiele in elegischen Distichen scheint Johannes teils ad hoc gedichtet zu haben, teils sind sie früheren Werken, vor allem dem „Epithalamium Beate Virginis" entnommen. Das siebente Kapitel besteht nach der von Johannes eingangs gemachten Angabe aus drei völlig verschiedenen Teilen. Zunächst werden einige Bestimmungen zur Gattung der tragedia vorgenommen {„de proprietatibus tragedie", VII, 1 —26), daran schließt sich ein von ihm verfaßtes Musterstück im hohen Stil (gravi stilo) in 158 Hexametern (VII, 28—154) an. Dabei handelt es sich um eine sich in einer belagerten Festung abspielende Liebes- und Eifersuchtsgeschichte, die mit einer blutigen Rache und der Zerstörung der Stadt endet. 42 43
Dazu Lawler (wie Anm. 19 ), 254. „De 4 stilis mrialibus preter stilos 3 Poeticos et de Pedibus seruandis in Dktamine"
(V, 402 — 467).
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Dem mittelalterlichen Verständnis gemäß wird die tragedia keineswegs als dramatische Gattung aufgefaßt, sondern als Erzählung von traurigem Inhalt. Der zweite Teil des Kapitels ist sehr umfangreich und enthält in kompakter Form die oben erörterte Lehre von den Gattungen des pragmatischen Dictamens (VII, 155-466). Hiermit endet der eigentliche Poetiktraktat, wie das explicit signalisiert: „explicit de arte prosaica et uersificatoria" (VII, 467). Was darauf folgt, wird betitelt mit „incipit ars rithmica" und ist ein ausführlicher Traktat über die Prosodie, der auch selbständig überliefert wurde und sich großer Beliebtheit erfreute 44 . Auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn als Dozent in Paris, in der notorischen Hochburg der dichtungs- und klassikerfeindlichen Scholastik, behauptete sich Johannes von Garlandia mit seiner „Parisiana Poetria" als Befürworter einer sich an die antike Rhetorik und an die Dichtungstheorie des 12. Jhs. anlehnenden neuartigen Poetik. Die Besonderheit dieses Werks besteht darin, daß ihr Verfasser sich darum bemüht, Dichtungs- und Dictamenlehre aufeinander abzustimmen, wobei das Dictamen stets in den Vordergrund gerückt wird. Dabei tritt der Verfasser offensichtlich in einen Wettstreit mit der Poetik Galfreds von Vinsauf, die er auf vielerlei Weise adaptiert oder umwandelt im Sinne seines Vorhabens. Die Unzulänglichkeiten der Komposition mit ihren zahlreichen Digressionen, ungleichen Teilen und inhaltlichen Überschneidungen sowie die Fülle der Musterbeispiele, die mit der Knappheit der theoretischen Erörterungen kontrastiert, entspringen einer akroamatischen Unterrichtspraxis und sprechen daher für eine schulische Herkunft dieses Werks, das wohl als schriftlicher Niederschlag von Vorlesungen anzusehen ist. Obwohl die „Parisiana Poetria" viel weniger rezipiert wurde als die „Poetria nova" Galfreds von Vinsauf, übertrifft sie diese in ihrer Ideenfülle und auch -dichte und durch ihren Reichtum an Assoziationen. Johannes von Garlandia erweist sich als vielseitiger Theoretiker der litterae-, die Konstruktion und der ornatus der Dichtung und des Dictamens, die Lehre von der narratio und vom proverbium, die Stil- und Figurenlehre, die Theorie der tragedia und der comedia und schließlich die Prosodie werden mutigen und schöpferischen Geistes behandelt und mit einer verblüffenden Vielfalt von Musterbeispielen veranschaulicht. Die „Parisiana Poetria" ist die vielfältigste und zugleich die letzte Poetik von Bedeutung des Spätmittelalters; mit der geistigen Landschaft des 13. Jhs. ist sie tief verwurzelt.
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Cf. Lawler (wie Anm. 19), 264sqq.
Der Griff zum Optischen Zur Entwicklung des deutschen geistlichen Spiels im 13. Jahrhundert CORA D I E T L (HELSINKI)
In Alans ab Insulis „Anticlaudianus" ist der Gesichtssinn das erste Pferd im Gespann der Prudentia, das sie in den Himmel führt. Doch Gottes höchsten Himmel können die Pferde nicht betreten — allein das zweite Pferd, auditus, kann zu Gott vordringen1. — „Sane fides ex auditu, non ex visu" (Fürwahr, der Glaube entsteht aus dem Gehörten, nicht aus dem Gesehenen), erklärt in diesem Sinne auch Bernhard von Clairvaux und verweist auf die Verwandtschaft zwischen Glauben und Hoffen, und vom Hoffen sagt ja Paulus im Römerbrief (Rm 8,24): „Spes quae videtur, non est spes" (Eine Hoffnung auf etwas, das gesehen wird, ist keine Hoffnung). In der Hoffnung wie im Glauben versage die Kraft der Augen, und allein auf die Ohren sei hier Verlaß2. Bernhard steht mit dieser Position keineswegs allein. Gerade im 12./ 13. Jahrhundert erneut sich die Diskussion um die Vorrangstellung unter den Sinnesorganen3, nicht zuletzt bedingt durch die Rezeption der Psychologie und Erkenntnistheorie des Aristoteles, die den Gesichtssinn fraglos an die erste Stelle setzt. Dies bedeutet aber nicht, daß ohne Aristoteles die Hochschätzung des Gesichtssinns nicht denkbar wäre. Im Gegenteil, die Vorstellung vom hohen Erkenntniswert des Sehens und daher der engen Verbindung von Sehen und Erkennen ist im Indogermanischen bereits sprachlich verankert4. Die idg. Wurzel *uid-, Perfekt *uoid- für ,sehen' findet sich wieder im lat. videre — ,sehen' und dem deutschen ,wissen', im griech. ,oida' — ich ,weiß' und dem frz. ,voir' — ,sehen'. Augustinus und Isidor, um nur zwei Beispiele zu nennen, lassen keinerlei Zweifel daran, daß dem Gesichtssinn in Fragen der rationalen Erkenntnis der Vorzug eingeräumt werden muß. So schreibt Augustinus in den „Confessiones" (X,35): „oculi autem sunt ad noscen1
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W. Rath (ed.), Alanus ab Insulis, Der Anticlaudian oder Die Bücher von der himmlischen Erschaffung des neuen Menschen (Aus der Schule von Chartres 2), Stuttgart 1983. Bernhard von Clairvaux, In psalmum Q u i habitat, 8,2, in: P L 183, 21 OD. Cf. G. Schleusener-Eichholz, D a s Auge im Mittelalter, 2 vol. (Münstersche Mittelalter-Schriften 35, I, II), München 1985, 1 9 8 - 2 3 7 . Cf. H. Wenzel, Hören und Sehen. Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter, München 1995, 334.
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dum in sensibus prindpes"5 (die Augen jedoch sind, wenn es um die Erkenntnis geht, unter den Sinnen führend). In übertragenem Sinne werde daher der Begriff „Sehen" auch für die anderen Sinne verwendet, wenn es um das Erkennen gehe 6 . Isidor bemerkt in den „Etymologien" (1,41): ,fllelius enim oculis quae fiunt deprehendimus, videntur, sine mendacio proferuntur"1.
quam quae auditione colligimus. Quae enim
Was geschieht, erfassen wir nämlich mit den Augen besser als mit dem Gehör. Denn in dem, was wir sehen, kann uns keiner belügen.
So ist ja auch bei Lukas die Reaktion der Jünger auf den Bericht der Marien am Ostermorgen (Lk 24,11 sq.): „et non aredebant Ulis/ Petrus autem surgens cucurrit ad monumentumf linteamina solaposita/ et abiit secum mirans quodfactum juerat"8.
et procumbens
videt
Und sie glaubten ihnen nicht; Petrus aber stand auf und lief zum Grab, beugte sich hinein und sah die Leinentücher, die da allein lagen. Und verwundert, was geschehen war, ging er weg.
Petrus muß das leere Grab sehen, um diesen Teil der Erzählung glauben zu können, doch die Erklärung, daß Jesus auferstanden sei, glaubt er deswegen immer noch nicht. In Thomas wiederholt sich dann ausdrücklich das Problem, etwas zu glauben, das man nur gehört hat. „Beati qui non viderunt et crediderunt" (Joh 20,29): Zu glauben ohne zu sehen ist ein besonderer Anspruch an die Christen, ein Anspruch, der Wissen und Glauben scharf trennt. Welche Bedeutung kommt aber dann den Bildwerken zu, die im westlichen Christentum schon früh akzeptiert worden sind? Die wohl berühmteste Äußerung hierzu stammt von Gregor dem Großen. In seinem Brief aus dem Jahre 600 an den Ikonoklasten Bischof Serenius von Marseille lesen wir: ,yAliud est enim picturam adorare, aliud picturae historia, quid sit adorandum, addiscere. Nam quod legentibus scriptura, hoc idiotis praestat pictura cernentibus, quia in ipsa ignorantes vident quid debeant, in ipsa legunt qui litteras nescunt"9. 5 6
7
8 9
J. Bernhart (ed.), Augustinus, Confessiones - Bekenntnisse, München 3 1966, 572. In De Trinitate XI, 1,1 (CCSL 50 [ed. W J . Moutain], 334, 2 8 - 3 5 ) wird er dann noch deutlicher: „iste sensus ...quinquepartitus est; uidendo, audiendo, olfaäendo, gustando, tangendo. Sed et multum est, et non necessarium ut omnes bos quinque sensus id quod quaerimus interrogemus; quod enim nobis unus eorvm renuntiat etiam in caeteris ualet. Itaque poHssimum testimonio utamur oculorum; is enim sensus corporis maxime excellit et est uisioni mentis pro sui generis diuersitate uiänior". Augustinus überträgt die Wahrheitsqualität eines Augenzeugnisses auch auf die Heilige Schrift, die auf Augenzeugenberichten aufbaue (enchir. c.IV, n.i), cf. U. Duchrow, Sprachverständnis und biblisches Hören bei Augustin (Hermeneut. Untersuchungen zur Theologie), Tübingen 1965, 80sq. W. M. Lindsay (ed.), Isidori Hispalensis Episcopi Etymologiarum sive originum libri XX, vol. 1 (Script. Class. Bibliotheca Oxoniensis), Oxford 1911. R. Gryson (ed.), Biblia Sacra iuxta Vulgatam versionem, Stuttgart 4 1994. MGH Ep. 2, 270, cit. M. Curschmann, Pictura laicorum litteratura? Überlegungen zum Verhältnis von Bild und volkssprachlicher Schriftlichkeit im Hoch- und Spätmittelalter bis zum Codex Manesse, in: H. Keller et al. (eds.), Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter, München 1992, 2 1 1 - 2 2 9 , 214.
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E s ist nämlich etwas anderes, o b man ein Bildwerk anbetet oder o b man zum Bild die Geschichte, die zu verehren ist, dazu lernt. D e n n was die Lesenden aus der Schrift erkennen, das erkennen die Leseunkundigen im Bild, denn die Unkundigen sehen im Bild, was sie müssen, die Schriftkundigen lesen es in der Schrift. D i e V o r s t e l l u n g v o n „pictura laicorum litteratura"
ist w e i t v e r b r e i t e t 1 0 : D a s B i l d
diene dem Leseunkundigen als Schriftersatz und damit als ein Medium der Konservierung des Worts. Das bedeutet aber: Innerhalb von Glaubensangelegenheiten wird dem Auge bei Gregor keine Erkenntnis funktion, nur eine Memorialfunktion zuerkannt: Was man im Wort gehört hat, kann der Lesekundige nachlesen, der Leseunkundige im Bild wiedererkennen. Damit ist die Bedeutung des gesprochenen Wortes nicht gemindert. Lernen, das hat Klaus Grubmüller ausführlich dargelegt, bedeutet im Mittelalter Zuhören und dann Memorieren oder Aufschreiben 11 . So lesen wir auch in der „Benediktinerregel", Kap. 6, daß das Hören die eigentliche Haltung des Lernenden ist: „Nam loqui et docere magistrum condecet, tacere et audire disapulum convenit"12. Denn das Sprechen und Dozieren ist Sache des Lehrers, das Schweigen und Zuhören geziemt dem Schüler.
Wie aber verhält sich dies zur Tatsache, daß das lateinunkundige Volk das in der Kirche gesprochene Wort weitgehend nicht verstehen konnte? So zitiert Berthold von Regensburg beispielsweise in seiner Predigt „Von der Messe" (Predigt 31) 1 3 den Einwand seiner Zuhörer: „Ja, bruoder Berhtolt, jä versten wir niht der messe unde kunnen sö wol da niht gebiten als uns not waere unde mügen da von so gröze andäht niht gehaben, alse o b wir die messe verstüenden. Die predige die versten wir wol aller wortigelich: der messe versten wir niht, wir enwizzen waz man singet oder liset: daz künnen wir niht vernemen". Ja, Bruder Bertholt, wir verstehen nichts von der Messe und können uns nicht so gut darauf konzentrieren, wie es für uns gut wäre, und wir können daher keine so große Andacht haben, wie wenn wir die Messe verstehen würden. Die Predigt, die verstehen wir wohl wortwördich, aber die Liturgie verstehen wir nicht; wir wissen nicht, was man singt oder liest: D a s können wir nicht erkennen.
Wenn die Sprache ihre informationsvermittelnde Funktion nicht mehr erfüllt, muß dann nicht das Bild sie ersetzen? Dies ist die traditionelle Erklärung für die Entstehung des geistlichen Spiels. Sie reicht aber nicht dazu aus, zu erklären, weshalb es gerade im 13. Jahrhundert dazu kam — verdeutlichende Ge10 11
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Cf. Curschmann [nt. 9]. K. Grubmüller, Mündlichkeit, Schriftlichkeit und Unterricht. Zur Erforschung ihrer Interferenzen in der Kultur des Mittelalters, in: DU 41 (1989), 4 1 - 5 4 , 47sq. G. Holzherr (ed.), Die Benediktsregel. Eine Anleitung zu chrisdichem Leben, Zürich et al. 2 1982. F. Pfeiffer (ed.), Berthold von Regensburg, vol. 1 (Dt. Neudrucke: Texte des Mittelalters), Berlin 1965, 488-504, 493sq.
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sten sind in der Messe schon immer eingesetzt worden —, und warum nicht schlichtweg zur Volkssprache gegriffen wurde. So empfiehlt Bertholt nicht etwa, statt auf die Liturgie zu hören, die Bilder in der Kirche zu betrachten, sondern er erklärt seinen Zuhörern auf deutsch, was die einzelnen Elemente der Messe bedeuten. — Die andere Frage ist: Wenn sich die deutsche Liturgie nicht durchsetzte, weil das Latein als Sprache des Heiligen unantastbar blieb, weshalb setzten sich dann so schnell volkssprachliche Spiele durch? Weiterhin ist einzuwenden, daß den Spielen nach ihrem eigenen Selbstverständnis mehr als nur eine Memorialfunktion zukommt: Sie wollen überzeugen. Nicht zufällig ist der Lauf der Jünger Petrus und Johannes zum Grab, um sich von der Wahrheit der Erzählung der Marien zu überzeugen, eine der frühesten Szenen, die bereits in der Osterfeier nachgestellt werden 14 . Das „Benediktbeurer Weihnachtsspiel" (HS um 1250) beispielsweise beginnt mit einem Wortstreit der Propheten gegen den Hohenpriester, der schließlich in der Hoffnung Augustins endet, daß die Juden, die nicht dem glauben wollen, „quem docet littera", „Discant nunc, ... nunc ... credant" (V. 106—110): Und hier beginnt das Spiel15. Markanter formuliert dann im 15. Jh. — wenn ein solcher Exkurs hier erlaubt ist — der Augustinus des „Frankfurter Passionsspiels" (1493)16: „Ir Iudden, ir hait wole gehört, alleyn, ir doch sit so verdort, das ir die warheit nit enhort, wie ir is doch geschriben sehot, alleyne ir doch die hertigkeit an uwern herczen wollent tragen, das ir uch nit lasset gesagen, die ir die warheit wollet ihen. des lan wir uch her nach gesehen, das ir ewigliche sere müsset dragen vmmer mere." (V. 3 1 3 — 316, 3 2 6 — 332) Ihr Juden, ihr habt [das] wohl gehört. Doch ihr seid so verblendet, daß ihr die Wahrheit nicht hört, die ihr doch geschrieben seht. ... Doch eure Herzen sind so verhärtet, daß ihr euch nichts sagen laßt und behauptet, ihr sagt die Wahrheit. Das lassen wir euch im folgenden sehen, daß ihr es ewig bereuen müßt.
Wo das Hören nicht reicht, da soll das Sehen überzeugen: Und diese Mission richtet sich keineswegs nur an Juden. In Frankfurt zumindest kommt ein jüdisches Publikum nicht in Frage, da die Juden an den Tagen der Auffüh14
15 16
Die Szene ist zuerst in der um 1100 entstandenen „Augsburger Osterfeier" belegt und scheint eine spezifisch deutsche Erscheinung zu sein. A. Hilka / O. Schumann (eds.), Carmina Burana, vol. 1,3, Heidelberg 1970, 8 6 - 9 2 , 92. J. Janota (ed.), Die hessische Passionsspielgruppe, vol. 1, Tübingen 1996. Der Abschluß der Judenszene war vermutlich schon in der Frankfurter Dirigierrolle um 1330 ähnlich formuliert.
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rung aus Sicherheitsgründen das Ghetto nicht verlassen durften. Überzeugt werden sollen durchaus Christen, solche, die eine Stärkung im Glauben brauchen, wohl auch Häretiker, v. a. aber alle, die eventuell ein Opfer der Häresie werden könnten. Entsprechend wird im „St. Galler Passionsspiel" 17 gegen alle gewettert, die Irrlehren verbreiten: ,wuzent auch die warheit sunder wan, die [die] evangelisten haben gelan: der wollen wir ein deil began. wur vns verirret die mere, der miize haben swere!" (V. 9 3 0 - 9 3 4 ) Ihr sollt auch ohne Zweifel die Wahrheit wissen, die die Evangelisten überliefert haben: Von ihr wollen wir einen Teil begehen. Verflucht sei, der uns den Bericht verfälscht.
Das Dargestellte soll nichts Neues sein, sondern es ist das, was durch die Evangelisten verbürgt ist. Die Aufführung, das „Begehen" desselben aber soll nicht nur an das Gewußte erinnern, es soll die Wahrheit im Nachvollzug bestätigen und Irrlehren überzeugend widerlegen. Uberzeugen aber impliziert eine Form der Erkenntnisvermittlung. Mit anderen Worten, die Spiele unterstellen dem Auge eine hervorgehobene Erkenntnisfunktion in Glaubensangelegenheiten, welche die des Ohrs noch übertrifft. Dieser Gedanke hat im 13. Jahrhundert verschiedene Grundlagen, auf die im folgenden eingegangen werden soll. 1. Die R o l l e des G e s i c h t s s i n n s in der a r i s t o t e l i s c h e n E r k e n n t n i s t h e o r i e des 13. J a h r h u n d e r t s Mit der Rezeption der Erkenntnistheorie und der Psychologie des Aristoteles, die den Gesichtssinn an die erste Stelle stellt, als den besten, objektivsten und geistigsten Sinn, sowie mit der Rezeption des damit verbundenen arabischen Schriftguts, v. a. der Schriften des Alhazen und Al-Farabi, erfährt die mittelalterliche Optik einen enormen Aufschwung. In einer Vielzahl von wissenschaftlichen Traktaten werden die Anatomie des Auges und der Sehvorgang — die neue aristotelische Intromissionstheorie im Gegensatz zur platonischen Extramissionstheorie — diskutiert18. Diese intensive wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Auge und dem Sehen schlägt sich nicht zuletzt auch in einer verstärkten Hochschätzung des Gesichtssinns innerhalb der Erkenntnistheorie nieder 19 . Nach 17
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E. Hard (ed.), Das Benediktbeurer Passionsspiel. Das St. Galler Passionsspiel (ATB 41), Halle 1952, 4 5 - 1 3 1 . Cf. Schleusener-Eichholz [nt. 3], 5 1 - 8 8 . So argumentiert z. B. auch Roger Bacon in Opus Maius V,i, d.l, c.l, daß das Sehen den anderen Sinnen überlegen sei, weil: „ . . . de solo visu scientia separata constituitur apudphilosophos, ut perspectiva, et non de alio sensu". J. H. Bridges (ed.), The ,Opus Majus' of Roger Bacon, 2 vol., Oxford 1897, repr. Frankfurt 1964.
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aristotelischem Vorbild finden wir in naturphilosophischem, aber auch theologischem und volkssprachlich-didaktischem Kontext zahlreiche Auflistungen der fünf Sinne, an deren Spitze jeweils der Gesichtssinn steht 20 . So lesen wir z. B. auch bei Albertus Magnus: „... dicamus singillatim de omnibus sensibus, etprimo de visu, eo quod ipseplurium est differentiarum: comprehendit enim et corruptibilia et incorruptibilia et apprehendit suum sensatum non in una medii dispositione, sed in pluribus"21. (De Anima, 1.2, t.3, c.7) ... wollen wir von allen Sinnen einzeln sprechen, zuerst vom Gesichtssinn, weil er am vielfältigsten ist: Er erfaßt nämlich sowohl Vergängliches als auch Unvergängliches, und er nimmt seine Sinnesobjekte nicht nur in einem Medium wahr, sondern in mehreren. Thomas von Aquin begründet den Vorrang des Gesichtssinns anders: „ Visus autem, quia est absque immutatione naturali organi et objecti, est maxime spiritualis, et perfectior inter omnes sensus, et communior. Et post hoc auditus, et deinde olfactus, qui habent immutationem naturalem ex parte objecti"22. (ST Ia, q.78, a.3, resp.) Da es aber beim Gesichtssinn zu keiner natürlichen Veränderung des Organs und des Objekts kommt, ist er der geistigste unter allen Sinnen und vollkommener und umfassender als die anderen. Und nach ihm kommt das Gehör, und danach der Geruch, bei denen sich eine natürliche Veränderung auf Seiten des Objekts vollzieht. Und Roger Bacon argumentiert im „Opus
Maius":
„Nam Aristoteles dicit in primo Metaphysicae quod visus solus ostendit nobis rerum differentias: per illum enim exquirimus certas experientias omnium quae in coelis sunt et in terra. ...Et auditus facit nos credere, quia credimus doctoribus, sed non possumus experiri quae addisämus nisi per visum". (Ο. Μ. V,i, d.l, c.l) Denn Aristoteles sagt im ersten Buch der Metaphysik, daß einzig der Gesichtssinn uns die Unterschiede der Dinge zeigt: Durch ihn nämlich erhalten wir sichere Erfahrungen von allem, was im Himmel und auf der Erde ist ... Und das Gehör macht uns glauben, so wie wir ja den Lehrern glauben, aber wir können das Gelernte nicht anders als im Sehen erfahren. Für Bacon ist das Glauben einer gehörten Lehre nicht eine dem Wissen entgegengesetzte, sondern eine minderwertigere Erkenntnisform, da ihr der Erfahrungsaspekt fehlt! In der volkssprachlichen Literatur findet sich häufig eine andere „aristotelische" Argumentation für die herausragende Stellung des Auges unter den
20 21 22
Cf. Schleusner-Eichholz [nt. 3], 201sq., nt. 74. C. Stroick (ed.), Alberti Magni De Anima (Opera Omnia VII,i), Münster 1968, 108. P. Fiacciadori (ed.), Sancti Thomae Aquinatis Doctoris Angelici Opera omnia, Parma 1852-73, vol. 1, repr. New York 1948.
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Sinnesorganen — hier ein berühmtes Beispiel aus dem 14. Jahrhundert, „Das Buch der Natur" von Konrad von Megenberg 23 : „Die äugen sint zwai edleu glieder an dem menschen, wan daz gesicht, daz in den äugen sitzet, gibt uns ze erkennen mer ding denn kain ander auzwendich sin. Aristotiles spricht, daz gesicht ist nähen pei dem hirn, wan des gesichtes nätur ist kalt und faucht, reht als des hirns nätür, und das vint man an kainen andern glidern des leibes". (Kap. V) Die Augen sind zwei edle Körperteile des Menschen, denn der Gesichtssinn, der in den Augen seinen Sitz hat, läßt uns mehr Dinge erkennen als irgendein anderer äußerer Sinn. Aristoteles sagt, die Augen seien dem Gehirn nahe, denn die Complexion der Augen ist kalt und feucht, so wie die des Gehirns, und das ist bei keinem anderen Körperteil so. Geradezu simplifizierend klingt Meister Eckharts Erklärung in der deutschsprachigen Predigt Q 7 0 2 4 : „War umbe bekennet min munt oder min ore des himels niht? Daz ist da von, daz sie siner glicheit niht hänt. Sant Bernhart sprichet: min ouge ist gelich dem himel, daz ez sinewel ist unde lüter und an dem obersten teil des lichnamen stät". Warum erkennt mein Mund oder mein Ohr nichts vom Himmel? Das kommt daher, daß sie ihm nicht ähnlich sind. Sankt Bernhard sagt: ,Mein Auge ist gleich dem Himmel, denn es ist rund, hell und liegt im obersten Teil des Körpers.' Bereits um 1 2 1 5 äußert sich Thomasin von Zerklasre in seinem „Wälschen Gast" 2 5 über die Sinnesorgane. Ohne es direkt zu begründen, setzt auch er den Gesichtssinn an die erste Stelle. Interessant ist v.a., wie er im Anschluß an die Aufzählung der Sinne deren Funktion beschreibt: „Jä hat ieglich man und wip vümf tür in sinem lip. ein ist gesiht, diu ander gehoerde, diu dritte waz, diu vierde gerüerde, die vümften ich gesmac heiz. swaz man in der werlde weiz, daz muoz in uns immer vür ze etlicher der vümf tür. so nimt ez Imaginätio und bringetz der frouwen Ratio, wan si bescheiden sol, als ich hän geseit wol. da von sprich ich, swaz zeiner tür 23
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F. Pfeiffer (ed.), Konrad von Megenberg, Das Buch der Natur, Stuttgart 1 8 6 1 , repr. Hildesheim 1962. Meister Eckhart, Predigt 70 Anhang ( 1 3 9 , 1 0 - 1 3 ) , in: J. Quint (ed.), Meister Eckharts Predigten, vol. 3, Stuttgart 1976, 200. Cf. die korrespondierende Stelle in Predigt 7 0 (193 sq.). H. Rückert (ed.), Der Wälsche Gast des Thomasin von Zirclaria (Deutsche Neudrucke, Texte des Mittelalters), Berlin 1965.
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niene get dem leien vür, daz get im doch zer andern in, der leie sol durch der ören tür läzen die guoten lere vür: sperret er der ören tür vast, dar in kumt niht der lere gast". (V. 9 4 4 9 - 9 4 7 2 ) Jeder Mann und jede Frau hat fünf Türen im Leib. Eine ist der Gesichtssinn, die andere ist das Gehör, die dritte der Geruchssinn, die vierte der Tastsinn, und die fünfte nenne ich den Geschmack. Was immer wir im Leben wissen, das muß durch eine der fünf Türen in uns kommen. Dann nimmt es Imaginatio und bringt es der Frau Ratio, denn sie soll, sofern ich das richtig sage, ein Urteil fällen. Ich behaupte: Was dem Leien nicht durch die eine Tür kommt, das kommt doch durch die andere zu ihm . . . Der Leie soll die gute Lehre durch die Ohren hereinlassen. Sperrt er die Tür der Ohren fest zu, dann verweigert er der Lehre das Gastrecht. W e n n ein Sinn aussetzt, kann der nächst unter ihm gelegene ihn ersetzen, so kann das O h r einspringen, w e n n das A u g e versagt. Im speziellen Fall gilt das f ü r den Laien, über den sich Thomasin bereits wenige Verse v o r der zitierten Stelle äußert: „get ez dem phaffn zen ougen in, sö get doch der selbe sin den leien durch diu ören". (V. 9445 - 9447) Nimmt der Priester es mit den Augen auf, so nimmt der Laie denselben Sinngehalt mit den Ohren auf. D e r Laie, das ist der Schriftunkundige, der die geschriebene Lehre hören muß. Traditionell sind die O h r e n der Schrift zugeordnet. Thomasin — o f f e n sichtlich unter dem Einfluß der aristotelischen Erkenntnistheorie (auch an anderen Stellen in seinem Werk ist ein aristotlischer Einfluß zu erkennen) 2 6 — ändert dies hier. A u s der alten Gegenüberstellung v o n Sehen = Wissen und H ö r e n = Glauben macht er die Hierarchie: Sehen = Erkenntnis für Gebildete, Hören = Ersatz f ü r Ungebildete. Damit widerspricht Thomasin aber nicht etwa der Vorstellung v o n pictura laicorum litteratura\ auch diese kennt, erwähnt und modifiziert er: „von dem gemalten bilde sint der gebure und daz kint gevreuwet oft: swer niht enkan versten swaz ein biderb man an der schrift versten sol, dem si mit den bilden wol. der pfaffe sehe die schrift an, sö sol der ungelerte man 26
Cf. Cora Died, Aristoteles und die sehs dinc. Zum VIII. Buch des ,Wälschen Gasts', in: Studi Tergestini sul Medioevo 2 (1995), 3 9 - 6 1 .
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diu bilde sehen, sit im niht diu schrift zerkennen geschiht". (V. 1097-1106) Gemalte Bilder erfreuen oft Bauern und Kinder: Wer nicht erkennen kann, was einem gebildeten Mann ein geschriebener Text sagen soll, dem sei mit Bildern wohl gedient. Der Priester sehe die Schrift an, so soll der ungebildete Mann die Bilder ansehen, da er an der Schrift nichts erkennt.
Bilder sind bei Thomasin im Gegensatz zu Gregor nicht mehr die Erinnerung an ein Gehörtes, sondern sie sind ein, wenn auch minderwertiges, Medium der Erkenntnis! Uberlegen ist ihnen ein anderes optisches Medium, die Schrift. Ahnlich äußert sich auch Thomas von Aquin in seinem Sentenzenkommentar: „Fuit autem triplex ratio institutionis imaginum in Ecclesia. Primo ad instructionem rudium, qui eis quasi quibusdam libris edocentur. Secundo ut incarnationis mysterium et sanctorum exempla magis in memoria essent, dum quotidie oculis repraesentantur. Tertio ad excitandum devotionis affectum qui ex visis efftcacius incitatur quam ex audttis". (In III Sent., d.9, q.l, a.2, sol.2, ad 3 27 ) Aus dreierlei Grund wurden nämlich Bilder in der Kirche eingerichtet: Erstens zur Instruktion der Ungebildeten, die durch die Bilder quasi wie durch Bücher unterrichtet werden. Zweitens damit das Mysterium der Inkarnation und die Vorbilder der Heiligen besser in Erinnerung gehalten werden, wenn sie täglich den Augen vorgehalten werden. Drittens um den Affekt der Devotion wachzurufen, der durch Gesehenes wirksamer hervorgerufen wird als durch Gehörtes.
Bildwerke haben also eine dreifache Funktion, im Erkennen, im Memorieren und im Erregen von (Affekt-) Reaktionen. Auf den letzten Punkt wird unten noch zurückzukommen sein. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, daß Thomas dem Bild nicht wie Gregor nur eine Memorialfunktion zuschreibt, sondern wie Thomasin auch eine Erkenntnisfunktion — wenn auch eine minderwertige. Damit überträgt Thomas die Erkenntnis funktion des Auges also auch auf den Glaubensbereich, gänzlich im Widerspruch zu Bernhard von Clairvaux. — Auf die Fortsetzung, die der Gedanke des auf bildhaften Eindrücken gewonnenen Wissens in Glaubenssachen bei Heirich von Ghent findet, hat Stephen Brown hingewiesen 28 . Hier interessieren aber nicht die Formulierungen des Problems durch einzelne mittelalterliche Gelehrte, sondern eine allgemeine Tendenz, die sich — neben der durchaus weiterexistierenden Trennung von Glauben/Gehör und Wissen/Auge — die Ebene der volkssprachlichen Literatur erreicht. Thomasin interessiert selbstverständlich nicht nur die religiöse Unterweisung, sondern v. a. auch die höfische Lehre. Hier besteht eine Alternative Schrift — Bild nicht, sondern die Alternative Rede — Vorbild, und hier steht das Visuelle fraglos an erster Stelle: 27 28
Opera omnia [nt. 22], vol. 7, 109. S. F. Brown, The Mediaval Background to the Abstractive vs. Intuitive Cognition, im vorliegenden Band, 7 9 - 9 0 .
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„ein ieglich edel kint mac sich selben meistern alle tac. sehende, hoerende, ob er wil, und gedenkent lernt man vil. er sol ouch haben den muot, merke waz der beste tuot, wan die vrumen liute sint und suln sin spiegel dem kint. daz kint an in ersehen sol waz ste übel ode wol. siht er daz im mac gevallen, daz läz niht von sim muote vallen. siht er daz in niht dunket guot, daz bezzer er in sinem muot. man sol gern volgen dem man der bezzer ist ze sehen an denn ze hcEren; daz ist der der also hat der ziihte 1er daz er nach siner rede guot baz danner spreche tuot". (V. 613 — 626, 647 — 652) Jeder Edelknabe kann sich täglich selbst erziehen. Sehend, hörend — wenn er so will — und nachdenkend lernt er viel. Er soll auch so gesinnt sein, daß er darauf achtet, was der Beste tut, denn die tugendhaften Leute sind und sollen sein ein Vorbild für Kinder. Das Kind soll an ihnen sehen, was übel und was gut ist. Sieht der Knabe etwas, das ihm gefallt, dann soll er es nicht vergessen. Sieht er etwas, das ihm nicht gut erscheint, soll er es in seinem Inneren besser machen. ... Man soll es gerne dem Mann nachmachen, der besser anzusehen als zu hören ist: Das ist derjenige, der so wohlerzogen ist, daß er, wenn er etwas Gutes verspricht, seine Rede in seiner Tat übertrifft. Die beste Form der Morallehre ist die abschätzende Wertung und Verarbeitung des visuell Wahrgenommenen. Umgekehrt erweist sich eine Rede erst dann als gut, wenn sie in die Tat umgesetzt wird und als wahr gesehen werden kann: Wahrheit und Erkenntnis spielen eine bedeutende Rolle in der ethischen Lehre, es geht nicht um abstrakte Ideale. — Dies ist sicherlich kein neuer Gedanke. In der Ambrosius 2ugeschriebenen Predigt „ D e Natali sanctorum Martyrum" 2 9 wird bereits die Wirksamkeit des sichtbaren Exempels vor die der gesprochenen Lehre gestellt: ,flLelius ergo docemur facto, quam voce ... melius disco exemplo sanctourm, quam assertione verborum". Besser werden wir durch Taten als durch Rede belehrt, besser lerne ich vom Vorbild der Heiligen als von einer Behauptung in Worten.
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Sermones S. Ambrosio hactenus ascripti, Sermo 60, in: PL 17, 727C-D.
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Durch die Verbindung mit der aristotelischen Erkenntnislehre wird dieser alte Gedanke theoretisch untermauert. Es wird deutlich, daß eine Morallehre, und eben auch christliche Morallehre, am wirksamsten ist, wenn sie ein Akt des Erkennens aus einer optischen Wahrnehmung ist. Von zwei Seiten her also wird der visuellen Präsentation christlichen Gedankenguts im 13. Jahrhunderts durch den Aristotelismus eine Grundlage geschaffen: Zum einen überträgt sich die Betonung des Gesichtssinns in Dingen der Welterkenntnis auf Religiöses, das optisch Erkenntliche gilt als sicherer, als Erkenntnis quasi aus erster Hand. Zum anderen ist die nun auch theoretisch untermauerte Vorstellung, daß das Optische der glaubhafteren und überzeugenderen Präsentation von praktischen Lehren diene, auch auf religiöse Ethik übertragbar.
2. D i e ä l t e r e T r a d i t i o n : die n e u p l a t o n i s c h e B e t o n u n g des Lichts Gerade nicht im aristotelischen, sondern im neuplatonischen Umkreis findet bereits im 12. Jahrhundert gleichfalls eine Aufwertung des Visuellen statt: Die Lichtmetaphorik, die Gott im Bild des Lichts beschreibt, muß das Auge als das Organ, welches das Licht erfaßt, als höchstes Organ der Gotteserkenntnis preisen. Im Sinne des Ps-Dionysius Areopagita kann das Sehen als ein Teil der Gotteserkenntis und damit der Gottwerdung bezeichnet werden: „Dagegen sehen wir die Hierarchie in unserem Bereich entsprechend unserer Stellung im Ganzen in eine Menge verschiedener einzelner sinnlich faßbarer Zeichen aufgeteilt, die uns im Sinn der Hierarchie nach Maßgabe unseres Erkenntnisvermögens zu einer Gottwerdung nach A r t des Einen emporführen; ... wir ... werden durch sinnliche Bilder zu Einsichten in das Wesen Gottes geführt, soweit dies möglich ist" 30 .
In klassischen Formulierungen des mystischen Stufenwegs bildet die Bildmeditation eine wichtige erste Stufe; auf sie folgt die Eigenproduktion innerer Bilder und schließlich die bildlose Gottesschau in der Seele. Beschrieben wird sie in Visionsberichten, die die Gottesschau gleichsam als eine Fortsetzung der natürlichen Bilderfahrung im Wunder darstellen 31 . In dieser Fortsetzung allerdings wird die Kapazität des Bildes in der Regel überschritten. Die Visionsberichte bedienen sich einer äußerst bildreichen Sprache, doch stoßen — was bei Mechthild von Magdeburg besonders deutlich wird — bei der Beschreibung des Göttlichen Bild und Sprache an ihre Grenzen; in sich wi30
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Dionysius Areopagita, De ecclesiae hierarchia, 1,2 (PG 3, 373A-B), cit.: G. Heil (ed. et trad.), Ps. Dionysius Areopagita, Uber die himmlische Hierarchie, Uber die kirchliche Hierarchie (Bibl. der griech. Lit. 22), Stuttgart 1986, 29. Ausführlicher dazu: H. Belting, Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 1990, 4 5 9 - 4 7 0 .
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dersprüchliche und daher nicht nachbildbare Bilder sollen das Unsagbare artikulieren. In mystischer Rede geht es darum — um mit Eckhart zu reden — „Bilder mit Bildern auszutreiben", denn die mystische Gotteserkenntnis ist als ein Sehen Gottes zu verstehen, welches das natürliche Sehen und die verstandesmäßige Erkenntnis Gottes übersteigt. Es ist das innere Auge, nicht das äußere, welches Gott „äne bilde", bild- und gestaltlos schaut 3 2 . Es mag eingewendet werden, Hildegards von Bingen „Ordo virtutum" (um 1151 — 58) 3 3 sei eine Art Visionsbericht im Schauspiel. Tatsächlich liegt aber beim „Ordo" der Schwerpunkt eindeutig auf der Musik, auf dem Akustischen. Das Singspiel bietet eher eine akustische Raumerfahrung als tatsächlich einen optischen Eindruck. Damit ist es den liturgischen Oster- und Weihnachtsfeiern der Zeit verwandt. Nicht in der Wiedergabe der Gotteserkenntnis kann das Bild in der Mystik seinen Zweck erfüllen, sondern auf der bereits erwähnten untersten Ebene, der Anleitung zur Meditation. Für das Spiel bedeutet das, es kann zur Kontemplation führen, zur bildlichen Vergegenwärtigung der göttlichen Liebe. Oben ist bereits Thomas von Aquin dazu zitiert worden, daß durch Bilder Affekte hervorgerufen werden können. Dies trifft speziell auf die Passionsdarstellung der Gotik in bildhaften Texten, v. a. aber in Bildwerken und in Passionsspielen zu 3 4 . Bereits das früheste deutsche Passionsspiel, das in der „Carmina Burana" Handschrift überlieferte „Benediktbeurer Passionsspiel" 3 5 , betont den Aspekt der compassio mit dem leidenden Christus, die durch das Anschauen und Beachten des Leids hervorgerufen werden soll: „ Tunc veniat mater Domini lamentando cum Johanne evangelista, et ipsa accedens crucem respicit crucifixum: Awe, awe, mich hiüt unde immer we! awe, wie sihe ich nv an daz liebiste chint, daz ie gewan ze dirre werlde ie dehain wip. awe, mines shoene chindes lip!
Item: Den sihe ich iemerüchen an. lat iuch erbarmen, wip vnde man. lat iuwer ovgen sehen dar vnde nemt der marter rehte war.
Item: Wart marter ie so iemerlich vnde also rehte angestlich? 32
33 34
35
Cf. Bernhard von Clairvaux, In psalmum Qui habitat [nt. 2], 211B-C: Es gehe darum zu hören und zu glauben, dann öffne sich das innere Auge für Gott. Zur Gegenüberstellung von innerem und äußerem Auge cf. Schleusener-Eichholz [nt. 3], 9 3 1 - 1 0 7 4 . Ed. in: P. Dronke, Poetic individuality in the Middle Ages, Oxford 1970. Cf. W Haug / B. Wachinger (eds.), Die Passion Christi in Literatur und Kunst des Spätmittelalters (Fortuna Vitrea 12), Tübingen 1993. Carmina Burana [nt. 15], 1 4 9 - 1 7 5 .
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nv merchet marter, not vnde tot vnde al den lip von blute rot". (V. 2 4 8 - 2 6 0 ) Dann soll die Mutter Gottes klagend mit dem Evangelisten Johannes kommen, und wenn sie zum Kreuz kommt, betrachtet sie den Gekreuzigten: ,Oh weh, oh weh, weh mir heute und ewig! Oh weh, wie sehe ich jetzt das liebste Kind (an), das je auf dieser Welt eine Frau geboren hat! Oh weh, der Leib meines schönen Kindes!' Ebenso: ,Den betrachte ich klagend. Laßt euch erbarmen, Frauen und Männer! Laßt Eure Augen dorthin blicken und nehmt die Marter im rechten Sinne wahr.' Ebenso: 'Gab es jemals eine so klägliche Marter und eine so schreckliche? Nun beachtet die Marter, die Not und den Tod und den Leib, der vom Blut gänzlich rot ist.'
In einem herben Kontrast steht dazu die wiederholte Formel „Seht mich an, iungen man, lat mich ev gevallen" (V. 39sq., 45sq., 51 sq., 80sq.) (Seht mich an, jünge Männer, habt Gefallen an mir) in der Darstellung des Weltlebens der Maria Magdalena: Gerade durch den sichtbaren Kontrast zwischen sündhafter Welt und unschuldigem Leid Christi soll der Zuschauer der Spiele zur Devotion angeregt werden. Im „Sankt Galler Passionsspiel", das sich durch eine besonders starke Leitung der Zuschauerperspektive durch die Heroldgestalt Augustinus auszeichnet, die vor jeder Szene angibt, wie sie betrachtet werden soll, wird so auch zu Beginn der eigentlichen Passionshandlung (nach der Gefangennahme Christi) dazu aufgefordert, sich das Leid Christi zu Herzen gehen zu lassen: „lant vch gen zu herzen vnsers herren smertzen, den er bit willen geliden hat vor vnser aller missedat!" (V. 926 — 929) Laßt euch alle unseres Herrn Schmerz zu Herzen gehen, den er freiwillig um unserer Sünde willen erlitten hat.
3. D a s S i c h t b a r e a l s T e i l d e r R h e t o r i k Das Erregen von Affekten ist auch ein wichtiges Ziel der Rhetorik, die sicherlich auch eine wichtige Rolle bei der Entstehung der geistlichen Spiele im 13. Jahrhundert spielt. Bei Aristoteles, v. a. aber auch in der „Rhetorica ad Herennium" 3 6 ist die Gestik als ein wichtiger Bestandteil der Redekunst gewertet: ,JAotus est corporis gestus et vultus moderatio quaedam quae probabiliora reddit ea quae pronuntiantur. ... Hoc tarnen sare oportet, pronuntiationem bonam id proßcere, ut res ex animo agi videatur". (III, xiv,26 und xv,27) Unter Bewegung meint man eine gewisse Kontrolle der Gestik und Mimik, die das Dargebrachte wahrscheinlicher macht. ... Das eine jedoch muß man wissen: Eine 36
H. Caplan (ed.), [Cicero] Ad C. Herennium. De ratione dicendi, Cambridge, Mass. 1968.
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gute Präsentation bewirkt, daß das Gesagte dem Redner aus dem Herzen zu kommen scheint.
Die traditionelle christliche Predigtlehre hat rhetorische Fragen ausgeklammert: Nach Augustin ist es für einen Prediger zwar begrüßenswert, aber nicht unbedingt notwendig, Eloquenz zu zeigen, und für diese sei es wiederum nicht nötig, rhetorische Regeln zu lernen, sondern eher guten Rednern zuzuhören und v. a. darum zu beten, „ut deus sermonem bonum det in os eius"37 (daß Gott ihm eine gute Rede in den Mund lege). Letztlich sei aber nicht die Form, sondern die Weisheit des Inhalts entscheidend, denn: enim eloquenter dicunt, suaviter, qui sapienter, salubriter audiuntur. Propter quod non ait scriptum ,multitude eloquentium ...', sed ,multitudo sapientium sanitas est orbis terrarum"'. (IV, 23) Wer nämlich eloquent redet, bringt seinen Zuhörern Genuß, wer weise redet, bringt ihnen Heil. Deswegen heißt es in der Heiligen Schrift nicht: ,Eine große Zahl von guten Rednern ...', sondern ,Eine große Zahl v o n Weisen ist ein Segen für die Welt.' [Sap. 6,24]
In dieser Tradition steht auch Alanus ab Insulis, der in seiner „Summa de arte praedicatoria" bestimmte rednerische Mittel in Predigten entschieden ablehnt, so v. a. die Gestik: Eine Predigt dürfe sich nicht wie eine Theateraufführung oder das Werk eines Mimen geben 38 . Im 13. Jahrhundert aber wird die aristotelische Rhetorik immer weitgehender auf die Predigten übertragen 39 . So erklärt z. B. Roger Bacon in „De praedicatione", auch der Prediger müsse die rhetorischen Uberzeugungsmittel beherrschen. Die theologische Wissenschaft mit all der Wahrheit und Schönheit ihrer Worte reiche nicht aus um zu überzeugen, der Prediger bedürfe auch der Geste, „der recht proportionierten Bewegung seiner Körperglieder" 40 . — Wo aber anerkannt wird, daß die theatralische Geste der Predigt zu stärkerer Uberzeugungskraft verhilft, da muß auch das Theaterspiel als Überzeugungsmittel anerkannt werden. Wenn in der vorausgegangenen Erörterung die Bedeutung des Auges für die Glaubenserkenntnis, die christliche Morallehre, die Meditation und die christliche Rhetorik im 13. Jahrhundert hervorgehoben worden ist, soll das nicht bedeuten, daß das Optische das Akustische vollständig verdrängt habe, vielmehr setzt sich im theologischen und profanen Bereich die Doppelformel 37 38 39
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R. P. H. Green (ed.), Augustine, De Doctrina Christiana, Oxford 1995, IV, 164. Alanus ab Insulis, Summa de arte praedicatoria 52, in: PL 210, 112B-C. Zu der für das 13. Jahrhundert charakteristischen Textgattung der ars praedicandi cf. H. Caplan, Medieval Artes Praedicandi. A hand list (Cornell Studies in Classical Philology 24/25), Ithaca-New York 1924, suppl. 1936. Roger Bacon, De praedicatione, cit. J.-C. Schmitt, Die Logik der Gesten im europäischen Mittelalter. Aus dem Frz. iibertr. von Rolf Schubert und Bodo Schulze, Stuttgart 1992, 269.
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,hören und sehen" für „erkennen" durch 41 . So kommt es v. a. auch Roger Bacon in seiner Theorie einer „musica circa visible" darauf an, die Verbindung von Ton und Gestik zu betonen — unter Berufung auf Augustin und Aristoteles 42 . Ähnlich gilt auch in der mittelalterlichen Historiographie als wirklich wahr nur, was ein Zeuge gesehen und gehört hat. Dennis Green zählt insgesamt 14 deutschsprachige pseudohistorische Werke des 13. Jahrhunderts auf, die sich dieser Formel als einer Wahrheitsbekundung bedienen. Dazu gehören auch das „Passional" und das „Väterbuch". In Rechtstexten und Urkunden des 13. Jahrhunderts finden sich dieselben Bestätigungsformeln: Die Verbindung der beiden Sinne bürgt für höchste Glaubwürdigkeit. Für die Lesekundigen zeigt diese Formel ein Resultat in der zunehmend optisch aussagekräftigen Gestaltung von Handschriften 43 , die in der Schriftlektüre das gesprochene Wort mit dem Bild verbindet. Für die Leseunkundigen aber entwickelt sich eine neue Form der optisch-akustischen Darbietung der Glaubenswahrheiten: das geistliche Spiel. In den Prologen der Spiele findet sich wiederholt die Formel „sehen und hören" oder „die Rede sehen"; Spiele werden wie eine Form der Literatur eingeleitet. Das „Wiener Passionsspiel" beispielsweise beginnt mit den Worten: „Silete, silenüum habete! Hoeret, ir herren unt ir vrouwen, di daz spil wellent schouwen: ir suit alle stille wesen, so muget ir v o n gote hoeren singen und lesen!" (V. 1 — 5 ) 4 4 Ruhe, schweigt! Hört, ihr Herren und Damen, die ihr das Spiel anschauen wollt: Ihr sollt still sein, dann könnt ihr von G o t t singen und lesen hören.
Im „Redentiner Osterspiel" fordert ein Engel das Publikum auf: „vrowet iw an desser tid, gy moghen werden van sunden quyt: up dat jw dat allent sehe, en jewelk höre unde se!" (V. 11 sq., 17sq.) 4 5 Freut euch zu dieser Zeit, ihr könnt von den Sünden erlöst werden: ... Daß euch das alles geschehe, möge jeder hören und sehen!
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44 45
Cf. D. Green, Hören und Lesen: Zur Geschichte einer mittelalterlichen Formel, in: W Raible (ed.), Erscheinungsformen kultureller Prozesse (Script Oralia 13), Tübingen 1988, 2 3 - 4 4 . Cf. Thomas Adank, Roger Bacons Auffassung der Musica, in: Archiv für Musikwissenschaft 15 (1978), 3 3 - 5 6 , 5 1 - 5 6 . Hier sei auf die einschlägigen Arbeiten von J. Zahlten zu den Handschriftenillustrationen im 13. Jahrhundert verwiesen. R. Froning (ed.), Das Drama des Mittelalters, Berlin 1891, repr. Darmstadt 1964, 305. Ibid., 121.
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Und im „St. Galler Passionsspiel" heißt es: „Höre, heiige Christenheit, dir wirt noch hude vor geleit, wie aller der weite schoppere mit zeichen offenbere dar zu mit heiiger lere vn auch bit grozer sere gewandelt hat v f ertrich v n wart gemartelt dorch dich, daz merke wol bit sinnen! die rede sal beginnen, wie er vz wazer mathe win. so sal die ander rede sin, wie er v o n Sancte Johanne, dem vil heiigen manne, gedaufet wart in dem Jordan, daz sollent ir alle wol verstan!" (V. 1 - 1 6 ) Höre, heilige Christenheit, dir wird heute vor Augen gestellt, wie der Schöpfer der Welt mit offensichtlichen Zeichen und mit heiliger Lehre und auch mit großem Schmerz sein Erdenleben bestritten hat und wie er um deinetwillen gemartert wurde; das nimm sorgfältig mit deinen Sinnen wahr. A m Anfang soll die Rede stehen, wie er aus Wasser Wein machte, dann folgt die zweite Rede, wie er von St. Johannes, dem heiligen Mann, im Jordan getauft wurde: Das sollt ihr alle wohl verstehen.
Zusammenfassend möchte ich folgende These formulieren: Die Vorstellung von der Wichtigkeit des Zusammenspiels der beiden Sinne, des Gesichtssinns an erster und des Gehörs an zweiter Stelle, in der Erkenntnis von Glaubenswahrheiten, die durch die Aristotelesrezeption zumindest einen wichtigen Anstoß gefunden hat, ist, so scheint es, dafür verantwortlich, daß in Deutschland im 13. Jahrhundert geistliche Spiele entstehen — und sehr schnell volkssprachliche Spiele, die tatsächlich ein Zusammenwirken der beiden Sinne garantieren. Die Situation in den anderen europäischen Ländern habe ich in diesem Beitrag ausgeklammert; es wäre aber sehr wichtig, hier das Blickfeld noch zu erweitern. Parallel zu den hier beschriebenen Entwicklungen findet eine langsame Aufwertung des Schauspiels und des Histrionenstandes statt, die zum einen durch die Spiele bewirkt ist, zum anderen ihre Entfaltung fördert: 1207 verurteilt Papst Innozenz III. die Theaterspiele, die nach seiner Auffassung die Würde der Priester verletzen. Alexander von Haies, Bonaventura und Thomas von Aquin aber erklären, daß am Spiel und Tanz und am Histrionenstand als solchem an sich nichts Sündhaftes sei, es komme allein auf Maß und Intention an. Schließlich erlaubt Innozenz IV. (um 1250) den Priestern, „das Gestikulieren eines Histrionen auszuführen, ohne dabei befürchten zu müssen, Schändliches zu tun oder zu sündigen", sofern es einem guten Zweck diene 46 . 46
Schmitt [nt. 40], 2 5 2 - 2 5 9 .
,J2U0 facilius cuncti possint intellegere quae dicuntur Anfänge des volks sprachlichen Theaters in Frankreich BRIGITTE STARK
(BONN)
An der Schwelle zum 13. Jahrhundert werden in Nordfrankreich die ersten volkssprachlichen Dramen aufgezeichnet: „Le Jeu d'Adam" (um 1175) und „Le Jeu de Saint Nicolas" von Jean Bodel (1200). Diese Werke — inhaltlich und strukturell trotz der ihnen gemeinsamen religiösen Thematik äußerst verschieden — sind nach dem heutigen Kenntnisstand die frühesten Zeugnisse des französischen Schauspiels, das aus der Tradition und Gleichzeitigkeit mit dem lateinischen Theater hervorgeht und sich unter dem Einfluß von Liturgie und volks sprachlichen Epen und Legenden entwickelt. In beiden Spielen haben Elemente und Gestalten der populären Komödie und des Karnevals eine wesentliche Funktion als Gegenpol und Gegenspieler zu einer feierlich-ernsten Handlung.
I. D a s A d a m s s p i e l . 1.
Zweisprachigkeit
Das einzige erhaltene Manuskript des ersten französischen Theaterstücks beginnt mit den Worten Ordo representacionis Ade2. Der gebräuchliche französisch Titel „Mystere d'Adam" 3 wird in neuerer Zeit oft durch „Jeu d'Adam"
1
2
3
Konzil von Tours (813). Cf. Yvonne Regis-Cazal, La parole de l'autre, in: Medievales 9 (1985), 19. Die Handschrift 927 der Bibl. municipale von Tours enthält ein liturgisches Drama über die Auferstehung und 36 Hymnen und verschiedene Gesänge. Der Ordo representaäonis Ade beginnt auf Folio 20. Paul Aebischer wählt für seine Edition den Titel „Le Mystere d'Adam" (Ordo representacionis Ade), Texte complet du manuscrit de Tours, Geneve-Paris 1964. Ebenso: Paul Studer, Le Mystere d'Adam. An Anglo-Norman Drama of the twelfth Century, in: Modern Language Texts, French Series: Mediaeval Section. Manchester University Press o.J.; sowie: Henri Chamard, Le Mystere d'Adam, Drame religieux du Xlle siecle, Paris 1925.
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ersetzt 4 . Das anonyme Spiel ist vermutlich normannischen, noch wahrscheinlicher anglo-normannischen Ursprungs. Ordo representacionis Ade wird von Charles Mazouer mit „la maniere de proceder qu'il faut respecter pour la representation d'Adam" (das angemessene Verfahren bei der Darstellung Adams) übersetzt 5 . Ordo ist das erste Wort (fz. incipit) in mehreren Manuskripten liturgischer Dramen und weist auf die Notwendigkeit eines geregelten Ablaufs des Kultes hin. Die Wahl des Wortes ordo und die Verwendung der lateinischen Sprache in Responsorien und Regieanweisungen zeigen die enge Bindung des Adamsspiels an die Liturgie. Zwischen den französischen Dialogen verzeichnet das Manuskript liturgische Lesungen (Jectiones) und die vom Chor (chorus) gesungenen Responsorien 6 . Von den lateinischen Lectiones und Responsorien gibt das Manuskript jeweils nur den Anfang an. Es ist notwendig, diese Anfänge zu ergänzen, um einen vollständigen Eindruck des Textes zu erhalten 7 . Zu Beginn des Spiels werden Sätze aus dem Schöpfungsbericht der Vulgata und ein liturgischer Chor vorgetragen: „Formavit igitur Dominus hominem de limo terrae, et inspiravit in faciem ejus spiraculum vitae, etfactus est homo in animam viventem"9,. Die Dialoge — es gibt 18 sprechende Personen — sind französisch. Dieses Prinzip der Zweisprachigkeit gilt für das gesamte Adamsspiel: Die dramatischen Partien sind in der Volkssprache, die liturgischen oder narrativen Texte auf lateinisch verfaßt.
2. Gott als Figura Gott spricht das erste Wort. Er wird als Figura bezeichnet und erscheint in verhüllter Gestalt, da man sich scheut, ein konkretes Bild von ihm zu machen. Durch diese dramaturgische Entscheidung wird das umstrittenene „Sichtbarmachen" Gottes ermöglicht. Gottes Gegenwart kann dem Publikum auf diese Weise suggeriert werden 9 . Bei der Rollenverteilung ist es immer ein Geistlicher, der die Erlaubnis erhält, Gott (oder auch Gottes Sohn) darzustellen.
4
5 6 7 8 9
Cf. Willem Noomen, Le Jeu d'Adam. Etude descriptive et analytique, in: Romania 2 (1968), 145-193. Charles Mazouer, Le Theatre franfais du Moyen Age, Paris 1998, 73. Ibid., 73. Cf. W Noomen, loc. cit. (nt. 4), 163 Cf. Sexagesima-Responsorien des Gregorianischen „Liber Responsalis", PL 78, 748CD. Albert Pauphilet, in: Jeux et Sapience du Moyen Age, Paris 1951, 5.
Anfänge des volkssprachlichen Theaters in Frankreich
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3. Die Bedeutung der ersten Dialoge Das erste Wort, das Gott ausspricht, ist der Name des Menschen 10 . FIGURA
Adam! Qui respondeat Sire!
[ADAM]
FIGURA
Fourme te ai De limo terre. ADAM
Ben le sai! FIGURA
Je te ai fourme a mun semblant A ma imagene t'ai feit de tere: Ne moi deve2 ja mais mover guere! ADAM
Nen frai je, mais te crerrai: Mun creatur oberai! Von den einfachen und feierlichen Worten des Schöpfers und den Antworten seines Geschöpfs geht die Faszination des Erstmaligen aus. Diese Wirkung wird dadurch verstärkt, daß Figura in der Landessprache spricht, die in den Riten der Kirche nicht zugelassen ist. Auch den Ubersetzungen der Heiligen Schrift haftet etwas Verbotenes, Ketzerisches an. Keines der biblischen Bücher, die zu dieser Zeit in die Volkssprache übersetzt werden, ist von Seiten der Kirche offiziell zugelassen, da man Fehlinterpretationen und Irrlehren fürchtet 11 . So werden im Adamsspiel zumindest ansatzweise zwei Tabus berührt: die bildliche Darstellung Gottes und die Übertragung des Gotteswortes in die Sprache des Volkes. Der Text selbst hält sich streng an die Lehrmeinungen der Kirche: Der Mensch wird daran erinnert, daß er nach dem Bild Gottes und aus seiner 10
11
Le Mystere d'Adam, ed. P. Aebischer, loc. cit. (nt. 3), 28 (w. 1 - 8 ) : FIGURA: Adam! - ADAM: Herr! - FIGURA: Geformt habe ich dich aus Lehm. - ADAM: Ich weiß es w o h l . . . FIGURA: Ich habe dich mir ähnlich geformt, nach meinem Bild habe ich dich aus Erde gemacht: niemals dürft ihr mit mir Krieg führen. ADAM: Das werde ich nicht tun, aber ich werde dir vertrauen: ich werde meinem Schöpfer gehorchen. Cf. Les Bibles en franfais, sous la direction de Pierre-Maurice Bogaert, Turnhout 1991, 16sqq.
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Hand entstanden ist. Die Antworten, die Adam dem Schöpfer gibt, sind vorbildlich und ebenfalls im Sinne des kirchlichen Dogmas: Er bestätigt sein Wissen um seine Herkunft, seinen Glauben an Gott, seine Bereitschaft zum Gehorsam. Seine Worte lassen sich zu Recht mit denen eines loyalen Lehnsmannes vergleichen 12 . Sobald Eva die Bühne betritt, erläutert Figura dem ersten Menschenpaar die Bedeutung der Ehe im Schöpfungsplan 13 . In diesen Dialogen werden Glaubensartikel paraphrasiert, die bei den zeitgenössichen Häretikern, insbesondere den Katharern grundsätzlich in Frage gestellt sind: nach ihrer Lehre, die sich auf besondere Offenbarungen stützt 14 , ist die gesamte Schöpfung einschließlich des Menschen ein Werk Satans; die Ehe ist nach ihrer Auffassung ein Akt der Begierde, die Satan dem Mann und der Frau einflößt. Auf dem Hintergrund der theologischen Auseinandersetzungen, die mit den Katharern geführt werden 15 , kann der Anfang des Adamsspiels als eine Visualisierung und Vergegenwärtigung orthodoxer Dogmen gedeutet werden: Die Regie bedient sich der Suggestivkraft lebender Bilder und der lebendigen Volkssprache, um eine große Volksmenge anzusprechen und zu überzeugen. 4.
Re^eanweisungen
Zum Adamsspiel gehören umgewöhnlich detaillierte „didascalies" (Regieanweisungen), die in lateinischer Sprache notiert und offenbar für die Kleriker bestimmt sind, die die Inszenierung besorgen. Der anonyme Autor oder Regisseur gibt zahlreiche Hinweise, die vielfach analysiert worden sind 16 . Sie haben einen besonderen Wert, da vergleichbare Angaben in vielen frühen Bühnenstücken fehlen. Zur Lage des Paradieses, den Kostümen, den Bewegungen und der Mimik findet man folgendes: „Constituatur paradisus loco eminenciori; circumponantur cortine et panni seriä, ea altitudine, ut persone, que in paradiso fuennt, possint videri sursum ad humeros; 12 13 14
15 16
A. Pauphilet, loc. cit. (nt. 9), 4 - 5 . Le Mystere d'Adarn, ed. P. Aebischer, loc. cit. (nt. 3), 2 8 - 3 0 ( w . 9 - 4 8 ) . Cf. Anne Pales-Gobilliard, Cathares (Ecrits), in: Dictionnaire des Lettres franpaises, Le Moyen Age, Paris 1964, 224sqq. Cf. ibid., 2 2 6 - 2 2 7 . Aus der Bibliographie können hier nur einige Titel genannt werden: Michel Mathieu, La mise en scene du Mystere d'Adam, in: Marche romane XVI,2 (1966), 4 7 - 5 6 . Bruce A. McConachie, The Staging of the Mystere d'Adam, in: Theatre Survey XX,1 (may 1979), 27 — 42, stellt sich - in Anbetracht der Architektur normannischer und englischer Kirchen — eine Aufführung vor der Fassade von Saint-Etienne in Caen vor. Maurice Accarie, La mise en scene du Jeu d'Adam, in: Melanges de langue et de litterature franpaise du Moyen Age, offerts ä Pierre Jonin (Senefiance 7), 1979, 1 — 16. Cf. auch G. Cohen (nt. 19).
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serantur odoriferiflores etfrondes; sint in eo diverse arbores etfructus in eis dependentes, ut amenissimus locus videatur. Tunc veniat Salvator indutus dalmatica, et statuantur coram eo Adam et Eva. Adam indutus sit tunica rubea, Eva vero muliebri vestimento albo, peplo serico albo, et stent ambo coram Figura. Adam tarnen propius, vultu composito, Eva vero parum demissiori. Et sit ipse Adam bene instructus, quando respondere debeat, ne ad respondendum nimis sit ve/ox aut nimis tardus. Nec solum ipse, sed omnes persone sic instruantur ut composite loquantur et gestum faäant convenientem rei, de qua loquuntur; et in rithmis, nec sillabam addant nec demant, sed omnes firmiter pronuncient et dicantur seriatim, que dicenda sunt. Quicumque nominaverit paradisum, respiciat eum et manu demonstret"xl. Die Geste der Hinwendung zum Paradies und des wiederholten Zeigens verdeutlicht, daß dieser Ort Ausgangspunkt und Ziel der Schöpfung ist. Aus einigen Textstellen läßt sich schließen, daß die Bühne vor einer Kirche liegt. „ Tunc vadat Figura ad ecclesiam, et Adam et Eva spaäentur, honeste delectantes, in paradiso"18. Gustave Cohen 19 denkt beispielsweise an eine Aufführung auf dem Vorplatz (parvis) einer Kirche. Moderne Inszenierungsversuche des Adamsspiels halten sich an Cohens Hypothese. Ob diese den ursprünglichen Regievorstellungen entspricht, hängt von der Bedeutung ab, in der der anonyme Autor das Wort ecclesia verwendet, das nicht nur die Kirche selbst, sondern auch einen fiktiven Raum innerhalb der Kirche oder eine der mansiones bezeichnen kann 20 .
5. Satan und Dämonen Satan, im Adamsspiel Diabolus genannt, und seine Dämonen zeigen ihre Präsenz, sobald Gott das erste Menschenpaar in den Paradiesgarten eingeführt und vor dem verbotenen Baum gewarnt hat. „Interea demones discurrant per plateas, gestum fadentes competentem; et veniant vicissim juxta paradisum, ostendentes Eve fruetum vetitum, quasi suadentes ei ut eum commedat"2^. Die Ereignisse des Sündenfalls knüpfen an die Responsorien an, die das Gerüst der beiden ersten Teile — Schöpfung / Sündenfall und Brudermord — bilden (cf. nt. 8). Was den Handlungsablauf betrifft, weicht das Adamsspiel 17 18 19
20 21
Le Mystere d'Adam, ed. P. Aebischer, loc. cit. (nt. 3), 27. Ibid., 35. Gustave Cohen, Histoire de la mise en scene dans le theatre religieux franfais au Moyen Age et ä la Renaissance, ed., revue et augmentee, Paris 1951. W. Noomen, loc. cit. (nt. 4), 145sqq. Le Mystere d'Adam, ed. P. Aebischer, loc. cit. (nt. 3), 35.
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von der Gregorianischen Sequenz ab, da diese den eigentlichen Sündenfall ausspart und nur das göttliche Verbot (6. Responsorium) und die Rückkehr des strafenden Gottes (7. Responsorium) darstellt. Das Spiel hingegen hat seinen Schwerpunkt in der Verführungsszene, die über die Hälfte des ersten Teils einnimmt (w. 113 — 386, d. h. 273 von 590 Versen). Der biblische Bericht (Gen 3,1 —6 ), der nur Eva und die Schlange erwähnt, wird im Adamsspiel deutlich erweitert (amplifiziert), da der eigentlichen Verführung wilde Teufelsszenen vorausgehen 22 . Gleich nach dem göttlichen Gebot erscheint hier ein Schwärm von Dämonen, der sich zunächst (nach v. 122) mit herausfordernder Gestik per plateas, also offenbar inmitten des Publikums zu schaffen macht und sich erst dann dem Paradies nähert, um Eva auf die verbotene Frucht hinzuweisen. Aus ihm löst sich alsbald ihr Anführer, Diabolus, er versucht Adam, es mißlingt, er kehrt zum Höllentor zurück, berät sich mit seinen Genossen, macht einen erneuten Gang durch das Publikum und unternimmt dann einen zweiten Versuch (nach v. 172). Wieder scheitert er, wieder kehrt er zum Höllen tor zurück, und wieder macht er eine Runde durch die Zuschauer, bevor er sich endlich an Eva heranmacht (nach v. 204). Nachdem er bei ihr Gehör gefunden hat, zieht er sich ein weiteres Mal zurück, bevor er als die biblische Schlange zurückkehrt und sein Verführungswerk vollendet (nach v. 292) 23 . „Tunc serpens artifiäose compositus ascendit juxta stipitem arboris vetite. Cui Eva proprius adhibebit aurem, quasi ipsius ascultans consilium. Dehinc accipiet Eva pomum, porriget Ade"24.
Aber seine Rolle endet damit noch nicht. Er ist es, der den aus dem Paradies Vertriebenen Dornen und Disteln beschert (nach v. 518; die biblische Vorlage beläßt es bei der Ankündigung dieser Strafe durch Gott), und er führt sie schließlich, assistiert von seinen Genossen, in Ketten und Fesseln ab in die Hölle (nach v. 590). Bald darauf erscheint wieder der Dämonenschwarm unter den Zuschauern, um auch den zweiten Teil, den Brudermord, als Teufelswerk auszuweisen. Konsequent endet auch dieser Teil mit der Abführung Kains und Abels in die Hölle (nach v. 744) 25 . Im Gegensatz zu dem Genesis-Bericht wird hier ein dualistischer Widerpart zu der göttlichen Figura der Eingangs- und Schlußszene anschaulich und in dramatischer Bewegung gezeigt. Diese Möglichkeit hat nur das Spiel, nicht die liturgische Feier. Erst durch die Verlegung des Spiels aus der Kirche ins Freie wird der Teufel als Gegenspieler freigegeben 26 . 22
23 24 25 26
Rainer Warning, Funktion und Struktur. Die Ambivalenz des geisdichen Spiels, München 1974, 123. Ibid., 124. Le Mystere d'Adam, ed. P. Aebischer, loc. cit. (nt. 3), 5 2 - 5 3 . R. Warning, loc. cit. (nt. 22), 1 2 3 - 1 2 4 . Ibid., 124.
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6. Das Adamsspiel: ein Vorläufer der Mysterienspiele In der Konzeption des „Jeu d'Adam" ist bereits der Plan der großen Mysterienspiele des 14. und 15. Jahrhunderts angelegt, die das christliche Erlösungsdrama aktualisieren und interpretieren. Es ist aus drei Teilen von unterschiedlicher Länge aufgebaut: Der erste, längste Teil (ca. 600 Zeilen) stellt die Schöpfung und den Sündenfall dar; der zweite, sehr kurze Teil handelt vom Brudermord, den Kain an Abel begeht; der dritte, nur fragmentarisch erhaltene besteht aus einem Zug der Propheten, die das Kommen des Erlösers ankündigen. Abel, der erste Mensch, der unschuldig eines gewaltsamen Todes stirbt, wird als eine der Präfigurationen Christi gedeutet. So weisen der zweite und der dritte Teil mit dem Ordo Prophetarum auf die zukünftige Befreiung durch Christus hin 27 . Das „Jeu d'Adam" endet mit der Geschichte der ersten Menschen und der Hoffnung auf Erlösung, während die späteren umfangreichen Mysterienspiele zum Teil mit Schöpfung und Sündenfall beginnen und die gesamte Erlösungsgeschichte über die Propheten bis zu Tod und Auferstehung Christi auf der Bühne visualisieren. Zwischen der Entstehung des Adamsspiels und dem ersten „langen" Mysterienspiel liegt ein Zeitraum von über 100 Jahren. Die Passion du Palatinus entstand um das Jahr 1300 und steht am Anfang einer reichen Produktion von Geistlichen Spielen, die durch Manuskripte und Aufführungsdokumente belegt ist 28 . II. V o l k s s p r a c h l i c h e T h e a t e r s t ü c k e im 1 3. J a h r h u n d e r t 1. Herkunft und Datierung der Stücke Aus der Zeit zwischen dem Adamsspiel (um 1175) und der Passion du Palatinus (um 1300) sind insgesamt sechs volksprachliche Spiele überliefert 29 : um vor um nach 27 28
29
1200 1228 1265 1266
Le Jeu de Saint Nicolas von Jean Bodel aus Arras Le Courtois d'Arras Le Miracle de Theophile von Rutebeuf Le Garpon et l'Aveugle
A. Pauphilet, loc. cit. (nt. 9), 4. Unter dem Stichwort „Mystere" sind im Dictionnaire des Lettres franpaises (loc. cit. [nt. 14], 1035sqq.) 37 französische Titel verzeichnet, darunter 15 Mysteres de la Passion. Einige von ihnen — wie „Mystere du Chevalier qui donna sa femme au diable" (ed. Viollet Le Due, Ancien Theatre franfais, Paris 1854—57) — gehören zu den „Miracles de Nostre Dame". Die Datierung der Stücke übernehme ich von Donald Maddox, La Passion au theatre, in: De la litterature franfaise, Paris 1989, 1 0 2 - 1 0 7 .
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Brigitte Stark
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Le Jeu de la Feuillee von Adam de la Halle aus Arras Le Jeu de Robin et de Marion von Adam de la Halle
Bei diesen Stücken gibt es nur wenige thematische Verwandtschaften; die Anlässe, zu denen sie verfaßt und an denen sie aufgeführt wurden, sind selten bekannt; auch hier findet man kaum eine Ubereinstimmung. Gemeinsam ist ihnen die Erstmaligkeit der volkssprachlichen Bearbeitung und Aufführung — dabei ist es immer denkbar, daß die Chronologie durch die Entdeckung eines Manuskripts verändert und die Einmaligkeit eines Textes relativiert wird 3 0 . Zwei von den sechs Dramen aus dem 13. Jahrhunderts sind anonym („Le Courtois d'Arras" und „Le Garpon et l'Aveugle"); die Autoren der übrigen sind bekannt. Die Stücke werden ausnahmslos in einem Urbanen Umfeld geschrieben und inszeniert; vier stammen aus Arras, eins aus der Picardie, eins — „Le Miracle de Theophile" — aus Paris. Von Jean Bodel und Adam de la Halle wissen wir, daß sie in Arras gelebt, geschrieben und gearbeitet haben.
2. Bedeutung der Stadt Arras Diese Stadt zeichnet sich schon seit dem Ende des 11. Jahrhunderts durch eine reiche literarische Produktion aus, die im Zusammenhang mit ihrer ökonomischen Bedeutung zu sehen ist 31 . Arras war nicht nur die Stadt der Kaufleute, sondern auch die Stadt der Dichter, „le centre du mouvement dramatique en France avant le quinzieme siecle" 32 . Bereits im 13. Jahrhundert zeigt sich bei den Bühnenstücken, die dort geschrieben werden, Experimentierfreudigkeit und Unabhängigkeit von herkömmlichen Themen. Diese werden in die damalige Gegenwart und nach Arras projiziert — ein Vorgehen, das man später auch bei den Geistlichen Spielen anwendet. Auch werden dem Publikum neue orts- und zeitgebundene Motive vorgeführt: beispielsweise die Auseinandersetzung zwischen Christen und Nichtchristen oder gesellschaftliche und soziale Konflikte.
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Das Adamsspiel und das Nikolausspiel sind jeweils nur in einer Handschrift erhalten. Die Erhaltung oder Wiederentdeckung von Manuskripten ist zweifellos auch von Zufällen abhängig. Andererseits zeigen Sammlungen wie das Manuskript 837 der B. N. in Paris, daß bereits von Zeitgenossen eine bewußte Auswahl unter den Texten getroffen und für die Erhaltung Sorge getragen wurde: das umfangreiche Ms. aus dem 13. Jhdt. enthält unter vielen anderen: „Le Jeu de la Feuillee" von Adam de la Halle, „Le Lai d'Aristote", „La Bataille des VII Ars" und „La Bataille des Vins" von Henri d'Andeli, „Le Congies" von Jean Bodel, „Le Miracle de Theophile" von Rutebeuf. J. Frappier, Le theatre profane en France au Moyen Age (Xllle-XIVe siecles), Paris 1960, 36. O. Rohnström, Etude sur Jehan Bodel, Diss. Uppsala 1900, 4 4 - 4 5 .
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Die geringe Zahl der überlieferten Werke verbietet Verallgemeinerungen; dagegen ist es notwendig, sie einzeln exemplarisch zu analysieren. Zu den „Geistlichen Spielen" ist keines der Beispiele zu zählen. Eine gewisse Affinität hat allenfalls „Le Courtois d'Arras", ein kurzes Drama von 664 Versen, in dem das biblische Gleichnis vom Verlorenen Sohn in die Zeit des 13. Jahrhunderts und nach Arras verlegt wird 3 3 . Die Tendenz zur Aktualisierung zeigt sich auch bei Jean Bodel, der im „Jeu de Saint Nicolas" einen hagiographischen Stoff bearbeitet.
III. Le „Jeu de Saint N i c o l a s " von J e a n B o d e l 1. Autor, Entstehung und erste Aufführung
Das Nikolaus-Spiel, das Zweitälteste altfranzösische Bühnenstück, entsteht um das Jahr 1200 in Arras und wird — wie F. J. Warne nachzuweisen versucht 34 — am 5. Dezember 1200, dem Vorabend des Nikolausfestes dort zum ersten Mal aufgeführt. Der Autor Jean Bodel, wahrscheinlich um 1165 geboren, gehört der Confrerie des Jongleurs et Bourgeois von Arras an. Er ist von Beruf Dichter, übt aber auch eine Funktion im Dienste der Schöffen aus und genießt den Schutz einflußreicher Familien. Als er sich im Jahr 1202 dem 4. Kreuzzug anschließen will, erkrankt er an Lepra und muß Arras verlassen. Zum Abschied von seinen Freunden schreibt er den „Conges", ein bewegendes Gedicht von 45 Strophen, in dem er auf sein Leben zurückblickt, die Kreuzfahrer ermutigt und allen dankt, die ihm in seiner Nodage beistehen. D e m Totenregister seiner Confrerie kann man entnehmen, daß er Ende 1209 / Anfang 1210 gestorben ist 3 5 . Entstehungszeit und -ort des Nikolaus-Spiels sowie die Erstaufführung sind also relativ genau zu lokalisieren. Auch zeugen realistische Details und sprachliche Merkmale von der engen Verbindung des Dichters mit der Stadt Arras.
2. Gattungsmerkmale des „Jeu de Saint
Nicolas"
Jean Bodel stellt im Nikolausspiel die wunderbare Rettung eines Christen dar, der durch das Eingreifen des Heiligen aus der Gefangenschaft der Sarazenen befreit wird; insofern entspricht das Spiel der Definition des Mirakels 36 . Auch die lateinischen Dramen, die dem Autor als Vorlage dienten, 33 34 35 36
Le Courtois d'Arras, ed. A. Pauphilet, loc. cit. (nt. 9), 1 1 1 - 1 3 3 . F.J. Warne (ed.), Le Jeu de Saint Nicolas, Oxford 1951, Neudruck 1972, X V I . Charles Foulon, in: Dictionnaire des Lettres franfaises, Le Moyen Age, 1964, 7 4 8 - 7 5 1 . Uda Ebel, Das altromanische Mirakel, Heidelberg 1965, 4 5 - 4 6 .
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sind Miraculayl, in denen es ebenfalls um die Bekehrung von Heiden geht. Sie lassen sich taufen, als sie erfahren, daß der Heilige Nikolaus die Rückgabe geraubter Schätze veranlaßt hat. Zu dieser Grundstruktur erfindet Jean Bodel ein komplexes Handlungsgewebe, dem er viele epische und realistische Elemente hinzufügt. Die Gattungsbezeichnung Mirakel ist zutreffend, doch umfaßt sie nicht alle Eigentümlichkeiten des Nikolausspiels.
3. Inhalt des Spiels Die erste Sequenz des Dramas stellt dem Publikum die Situation eines Kreuzzugs vor Augen. Als der „König der Sarazenen" erfährt, daß die Kreuzfahrer sein Land angreifen, läßt er seinen Zorn an der goldnen Statue des Gottes Tervagan aus. Dieser gibt ein zweideutiges Orakel von sich, welches tatsächlich eintrifft: sein Lachen kündigt den Sieg der Heiden über die Christen an, sein Weinen die bevorstehende Bekehrung der Sarazenen und ihres Königs. Die Christen werden, wie es ein Engel vorausgesagt hat, von den Heiden niedergemetzelt — bis auf den „Preudome", einen ehrwürdigen Alten, der sich dem Schutz des Heiligen Nikolaus anvertraut und vor dessen kleiner unscheinbarer Statue kniet. (Diese nimmt unter dem Namen „nicolais" einen Platz unter den Personen des Dramas ein 3 8 .) Die Emire nehmen den Alten gefangen, sie bestaunen das Figürchen, das sie für einen gehörnten Mohammed halten (v. 5134). In der zweiten Sequenz verteidigt der Alte vor dem König seinen Glauben und behauptet, daß die Nikolaus-Statue Macht habe, allein durch ihre Gegenwart einen wertvollen Besitz zu schützen. Darauf wirft der König den Gefangenen in einen Kerker. Um die Heiligenfigur auf die Probe zu stellen, legt er sie auf den königlichen Schatz und läßt bekanntmachen, daß dieser unbewacht ist. In der folgenden Szene trinken sich drei Taugenichtse, Cliquet, Pincede und Rasoir in einer Taverne von Arras Mut an und rauben den Schatz mitsamt der Statuette, die diesen angeblich gegen Räuber schützen sollte. Der gelungene Diebstahl wird in einer weiteren ausgedehnten Wirtshausszene gefeiert (w. 1016 — 1183). In der dritten und letzten Sequenz verdichtet sich die Handlung und kommt schnell zu einer Auflösung. Nach der Entdeckung der Untat ist der christliche Gefangene von schrecklichen Martern bedroht. Er vertraut sich
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Lateinische Nikolausdramen, die Jean Bodel als Vorlage gedient haben: a) Dramen des Klosters Fleury-sur-Loire (E. du Meril, Origines latines du theatre moderne, Paris 1849; O. E . Albrecht, Four latin plays o f Saint Nicholas, Diss. Philadelphia 1935); b) Ludus super iconia Sancti Nicholai des Hilarius (Ε. du Meril, Origines latines du theatre moderne, Paris 1849; J. J. Champollion-Figeac, Hilarii versus et ludi, Paris 1838). Zu den 2 2 Personen kommen der Prediger, der den Prolog vorträgt, und die Nikolausstatue; cf. Albert Henry, Le Jeu de Saint Nicolas d e j e h a n Bodel, Bruxelles (2e ed.) 1965, 56.
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dem Heiligen Nikolaus an, der sofort eingreift, indem er die schlafenden Räuber rücksichtslos weckt und ihnen mit dem Galgen droht, falls sie nicht den Schatz umgehend zurückgeben. Die Räuber gehorchen ihm bereitwillig. Als der König wieder im Besitz seines Schatzes ist, tritt er sofort mit seinem Senechal zum christlichen Glauben über, auch alle Emire — bis auf einen — werden Christen. Das Standbild des Gottes Tervagan fällt von seinem Sockel 39 . 4. Kritik am „Jeu de Saint Nicolas" Die phantastische Vielfalt von Personen und Szenen hat den ersten Kritiker des Spiels P. J. B. Legrand d'Aussy, noch ehe eine Edition vorlag, zu einem recht negativen Urteil bewogen 40 , dennoch räumt auch er ein, daß man viel Bewegung, Handlung und ein großartiges Schauspiel bewundern könne 41 . Die Mehrzahl der Kritiker ist sich seit langem darüber einig, daß das „Jeu de Saint Nicolas" ein Meisterwerk sei, das „eine entscheidende Sonderstellung unter den dramatischen Erzeugnissen des 12. und 13. Jahrhunderts einnimmt" 42 . 5. Aufbau und „innere Einheit" des Nikolausspiels Die Handlung verläuft auf mehreren Ebenen; ihr innerer Zusammenhang ist bei der Lektüre nicht leicht zu erkennen. In der älteren Bodel-Forschung hat man sich darauf beschränkt, das Spiel nach den Auftritten und Abgängen einzelner Personen in Szenen zu gliedern. Die Frage nach einem möglichen Gesamtplan des Spiels wurde nicht gestellt 43 . Die Einteilung in Szenen, wie man sie im Theater der französischen Klassik vornahm, wird von A. Henry als anachronistisch und ungenau verurteilt44. Die Einheit des Nikolausspiels ist seither von mehreren Autoren untersucht und definiert worden. A. Arenz unterscheidet zwischen „äußerer Einheit" und „innerer Einheit", er faßt die Forschungsergebnisse zusammen, die ihm vorliegen, und unternimmt eine detaillierte Analyse. Die „äußere Einheit" erkennt er in zwei thematisch nur schwach miteinander verbundenen Akten, einem Kreuzzugs- und einem Mirakelakt. Innerhalb der beiden Handlungsteile seien „für den Zuschauer erholsame Tavernenszenen" eingescho39 40 41 42
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Michel Rousse, Le Jeu de Saint Nicolas, in: Arras au Moyen Äge, Arras 1994, 1 5 8 - 1 5 9 . P. J. B. Legrand d'Aussy, Fabliaux et contes du X l l e et XHIe siecles, Paris 1779. Arnold Arens, Untersuchungen zu Jean Bodels Jeu de Saint Nicolas, Stuttgart 1986, 11. F. Heithecker, Jean Bodels „Jeu de Saint Nicolas". Ein Beitrag zur Geschichte des altfranzösischen Dramas, Diss. Münster 1885, 63. A. Arens, loc. cit. (nt. 41), 30. A. Henry, loc. cit. (nt. 38), 41.
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ben, weitgehend ohne inhaltlichen Bezug oder kausalen Nexus zu den sie umgebenden Szenen. Die schwache thematische Anbindung werde durch andere Faktoren ausgeglichen: die beiden Akte seien durch Metrum und / oder Personen und /oder den Handlungsort kunstvoll miteinander verbunden 4 5 . Die „innere Einheit" sieht A. Arens in der Parallelität und in den Beziehungen zwischen den drei Aktionskreisen (Schlachtfeld — Königshof — Taverne) und den Personenkreisen (christlicher Personenkreis — Personenkreise des Hofes und der Taverne). „Der Personenkreis der Taverne, deren Figuren Jean Bodel bis ins Feinste nuanciert hat, ist in seiner hierarchischen Struktur, in der Anlage der Charaktere sowie auch in der auf beiden Ebenen verwendeten Sprache weithin eine Kopie des Personenkreises am H o f e " 4 6 .
6. Bedeutung der Tavernen-Svenen Die ausgedehnten Wirtshausszenen (w. 2 5 1 - 3 1 4 , 5 9 5 - 6 4 8 , 6 5 8 - 9 9 8 , 1029—1190) haben zu der Annahme geführt, daß es dem Autor mehr um eine wirklichkeitsnahe Darstellung seiner Mitbürger als um die Vermittlung religiöser Inhalte geht. Daß der Wirt und seine Gäste nicht zum christlichen Personenkreis zählen, ist allerdings eine dramaturgische Idee, die nicht der historischen Realität von Arras entspricht. Der Zuschauer erkennt durch diese Zuordnung, daß am H o f des Königs ähnliche Zustände herrschen wie in der Kneipe. Deutlich kommt dies zum Ausdruck durch das Sprachregister, das Jean Bodel für die beiden Orte wählt: Vulgäre Schimpfwörter und Flüche werden bei Hofe noch häufiger gebraucht als in der Taverne. Dagegen fehlen die Vulgarismen völlig in den Reden der Christen. Aus dieser sprachlichen Affinität schließt A. Arens zu Recht, daß eine parodistische Abwertung der Heiden beabsichtigt ist 4 7 .
7. Visualisierung der „inneren Einheit" Auf der Bühne kann der Zuschauer die Opposition zwischen christlicher Religion und Heidentum optisch wahrnehmen 4 8 . Die erste Sequenz kann als Niederlage der Waffen, die letzte als ein Sieg des Gebets interpretiert werden:
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A. Arens, loc. cit. (nt. 41), 7 6 - 7 7 . Ibid., 132. Ibid., 127sqq. In dieser Opposition sieht Maria Pilar Suarez die innere Einheit des Nikolausspiels; cf. M. P. Suarez, L'Autre dans le Jeu de Saint Nicolas de Jean Bodel, in: Arras au Moyen Age, loc. cit. (nt. 39), 163sqq.
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Den Handlungsmöglichkeiten der Menschen sind Grenzen gesetzt; Vertrauen in das wunderbare Eingreifen der Heiligen kann mehr bewirken als Waffengewalt. Diese spirituelle Einsicht wird in Positionen und Bewegungen umgesetzt. Am Anfang des Spiels befindet sich die Statue des heidnischen Gottes Tervagan, überhäuft von Gold auf einem Thron; vermutlich sieht man in einiger Entfernung den ehrwürdigen Alten in abgerissener Kleidung vor seiner einfachen Nikolausstatue knien. Die Statue des Götzen bewegt sich während des gesamten Spiels nicht — bis sie am Ende zusammenbricht. Die Statue des Heiligen gewinnt an Bedeutung und gliedert die fortschreitende Handlung. In der Schlußszene konkretisiert sich der Sieg des christlichen Glaubens in der ärmlichen Holzfigur, vor der König, Senechal und Emire knien und ihr in der Haltung von Lehnsleuten huldigen. Symmetrisch wird hier eine Szene aus der ersten Sequenz wiederaufgenommen, in der die Edelleute, die in den Krieg ziehen, in höfischer Weise vor dem König auf die Knie fallen. Es zeigt sich, daß die goldene Statue nur ein eides Götzenbild ist, das durch seine Orakel nichts bewirkt; die Nikolausstatue aus Holz sagt nichts und tut nichts von sich aus. Im Spiel wird deutlich gemacht, daß die Statue den Schatz nicht schützt: wirksam ist das Gebet des Alten, wirksam ist der Heilige selbst, der in Erscheinung tritt 4 9 . Michel Rousse vermutet daher, daß der Autor ein Exempel zur Wirksamkeit von Gebeten geben will: das Gebet vor der Heiligenstatue auf dem Schlachtfeld bewirkt praktisch nichts, das Gebet im Gefängnis fern von der Statue bringt die Rettung des Betenden und die Bekehrung der Heiden. Hilfe sei also nicht von der Heiligenfigur zu erwarten, die nur ein Sinnbild ist, sondern von dem Heiligen selbst 50 .
8. Die Rolle des Heiligen Nikolaus Im Prolog des Nikolausspiels, der in 114 Versen den ersten Eindruck vermittelt und den Ausgang der Handlung vorausnimmt, hebt der Autor das wunderbare Geschehen besonders hervor: er konzentriert sich auf das Schicksal des ehrwürdigen Alten und das Eingreifen des Heiligen (die Taverne hingegen wird nicht erwähnt). Das Wundergeschehen hat mit 562 Versen nahezu denselben Umfang wie die Tavernenszenen mit 561 Versen. Diese Ausgewogenheit bedeutet jedoch nicht, daß die beiden Teile auch qualitativ gleichwertig sind. Der Titel des Spiels weist den Heiligen als Protagonisten aus: Seine Rolle ist nicht nur nach seinem persönlichen Auftreten zu bewerten (w. 1281 — 1313), sondern auch nach seiner sinnbildlichen Präsenz in der Holzstatue. Der Heilige Nikolaus bleibt nach der Vernichtung des Kreuzritterheeres die handlungsbewegende Figur, dagegen reagieren alle anderen nur 49 50
Zu dieser Interpretation cf. Michel Rousse, loc. cit. (nt. 39), 1 6 1 - 1 6 2 . Ibid., 162.
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auf sein Erscheinen oder auf sein Bild. Er ist die einzige Gestalt des Stückes, die in allen drei Aktionsfeldern (Schlachtfeld — Hof — Taverne) präsent ist und handelt, zuerst durch die Statue und am Ende in persona. 9. Inszenierung Für das Nikolausspiel sind keine Regieanweisungen überliefert. Die Vorstellungen des modernen Lesers, Herausgebers oder eines potentiellen Regisseurs sind an keine Vorgaben aus der Entstehungszeit gebunden; über die Auffuhrung späterer mittelalterlicher Stücke existieren Dokumente, auf die sich einige Autoren und Herausgeber beziehen51. Ch. Mazouer sieht „la disparate des scenes qui passent d'un lieu scenique ä l'autre, d'une mansion a l'autre" 52 . Er spielt damit auf den ersten Eindruck von Inkohärenz in der Szenenfolge an und stellt sich eine räumlich Ordnung durch mansiones vor, d. h. Konstruktionen, die eine Reihe von Gebäuden (Wohnhaus, Palast, Tempel, etc.) darstellen und den Schauplatz oder Hintergrund für sukzessive oder simultane Aktionen bilden. Diese Bühnentechnik ist aus der Antike übernommen 53 . Die Inszenierung des Nikolausspiels in einem runden Theater rekonstruiert Henri Rey-Flaud 54 . Er spricht von einem „cercle magique" 55 , den die Zuschauer um die Akteure bilden. Auch die Mitwirkenden, die nicht in Aktion sind, werden in den Kreis einbezogen. H. Rey-Flaud stützt seine Hypothese auf das einzige ikonographische Zeugnis eines kreisförmigen Theaters. Es handelt sich um die Miniatur aus dem 15. Jahrhundert „Le Mystere du martyre de Sainte Apolline" von Jean Fouquet 56 . Diese Form der Aufführung könnte nach Auffassung von H. Rey-Flaud den Intentionen des Nikolausmirakels und dem gesellschaftlichen Umfeld entsprechen, in dem es aufgeführt wird. Die Trennung von Spiel und Publikum wird darin weitgehend aufgehoben, da die Zuschauer sich selbst wie in einem Spiegel sehen: Im Spiel wird ihnen die Realität ihrer Stadt (Taverne, Diebesgesindel), ihres Landes (Kreuzzüge) und ihre persönliche Befindlichkeit (Angst und Wunderglaube) vorgeführt. Auf der gegenüberliegenden Seite sehen sie ihresgleichen, Mitbürger, mit denen sie eine verschworene Gruppe bilden, den „magischen Kreis" einer Gesellschaft, die ihre Zusammengehörigkeit im Sieg des christlichen Glaubens und in der Integration der Nichtchristen erlebt. 51 52 53
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Henri Rey-Flaud, Pour une dramaturgie du Moyen Age, Paris 1980, 23sqq. Charles Mazouer, loc. cit. (nt. 5), 92. Diese Art des Bühnenbildes ist beispielsweise in Komödien von Diphilos und Plautus vorgegeben. Eine Abb. der mansiones aus dem „Coliseus sive Theatrum" des Terence de Venise (1497) bringt Henry Rey-Flaud (Le Cercle magique. Essai sur le theatre en rond ä la fin du Moyen Äge, Paris 1973, planche 7). Cf. den Titel seiner Studie (nt. 54). Die Abb. der Miniatur befindet sich auf dem Deckel der Theatergeschichte von Charles Mazouer (cf. nt. 5). Sie wird von Henri Rey-Flaud genau beschrieben und analysiert (H. ReyFlaud, Pour une dramaturgie du Moyen Age, loc. cit. [nt. 51], 23sqq.).
IX. Bildung und Erziehung
Kaiserliche Erziehungsvorstellungen Friedrich II. und der ideale Falkner JOHANNES ZAHLTEN (BRAUNSCHWEIG)
Weder die umfangreiche ältere Literatur zu Kaiser Friedrich II., noch die zahlreichen Publikationen, die anläßlich seines 800. Geburtstags im Jahr 1994 erschienen, haben sich bisher mit seinen Äußerungen zur Erziehung und den in ihr begründeten, verändernden Eingriffen in die Natur der Lebewesen auseinandergesetzt, wie sie in seinem berühmten Falkenbuch zu finden sind 1 . In ihm vertritt er die Auffassung, durch den menschlichen Geist (solo ingenio hominum) als verändernde Kraft sei es möglich, in das Schöpfungswerk der Natur einzugreifen, wie es beim Abrichten der Raubvögel für die Jagd geschehe. Um diese Veränderung durchführen zu können, müsse der Falkner mit besonderen Eigenschaften ausgestattet sein. Die Voraussetzung, selber als Erzieher wirken zu können, sei die Kenntnis des Falkenbuchs und das Vorbild des Kaisers 2 . 1. „ D e arte v e n a n d i c u m a v i b u s " — Die Z w e i t f a s s u n g f ü r K ö n i g M a n f r e d Die heute in der Biblioteca Apostolica Vaticana aufbewahrte Handschrift (Ms. Pal. Lat. 1071) entstand nach 1258 im Auftrag König Manfreds als Ersatz für das 1248 bei der Belagerung Parmas verlorengegangene Original seines Vaters3. Das Buch gilt nicht nur als eines der bedeutendsten naturwis1
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Zuletzt erschienen: Federico II e le science. A cura di P. Toubert / A. Paravicini, vol. 1 - 3 , Palermo 1994. - Intellectual Life at the Court of Frederich II Hohenstaufen, ed. W. Tronzo, Washington 1994. - Federico II. Immagine e potere (Katalog Bari), a cura di M. S. Calö Mariani, Venedig 1995. - Federico II e l'Italia. Percorsi, Luoghi, Segni e Strumenti (Katalog Rom), Rom 1995. — Federico II e le nuove culture. Atti del X X X I Convegno storico internazionale, Spoleto 1995. De arte (wie Anm. 3), vol. 1, 161: „... oportet, ut in se habeat ea, que dicentur iam, et postea scientiam huius libri. Que omnia cum suffiäenter habuerit, α digniore nomen acapiens falconarius mento potent nuncupan ". De arte venandi cum avibus, ed. C. A. Willemsen, 2 vol. Leipzig 1942. - Deutsche Übersetzung von C. A. Willemsen: Kaiser Friedrich der Zweite, Über die Kunst mit Vögeln zu jagen, 2 vol. Frankfurt/M. 1964. - Fredericus II, De arte venandi cum avibus, Ms. Pal. lat. 1071 Biblioteca Apostolica Vaticana, Facsimile-Ausgabe mit Kommentar von C. A. Willemsen, Graz 1969. — Das Falkenbuch Kaiser Friedrich II. Nach der Prachthandschrift der Vatikanischen Bibliothek. Einführung und Erläuterungen von C. A. Willemsen, Dortmund
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senschaftlichen Werke des Mittelalters und der Antike, das zoologische, medizinische und jagdtechnische Fragen behandelt 4 , sondern nimmt auch unter den Bilderhandschriften, die im Umkreis Kaiser Friedrichs II. in Süditalien entstanden sind, eine herausragende Stellung ein 5 . Wurden schon von Zeitgenossen die Miniaturen der originalen Prunkhandschrift Friedrichs als „ingeniosissime depicti" (auf das Einfallsreichste gemalt) gepriesen 6 , so hob man als Charakteristikum der Zweithandschrift 7 „die Natürlichkeit der Bewegung von Mensch und Tier, ein(en) auf der Beobachtung beruhende(n) Naturalismus" hervor 8 , der nur „durch das Eindringen intensiver Naturbeobachtung" in die Buchmalerei möglich wurde 9 . Und Otto Pacht betonte 10 , daß diese Art von bildlichem Naturalismus, erwachsen aus der empirischen Annäherung Friedrichs an die Natur, wie er gerade in den Vogeldarstellungen zum Ausdruck kommt, durchaus vergleichbar ist mit jenen, 150 Jahre später entstandenen Tierporträts Oberitaliens aus der Zeit um 1400. Diese knappen Hinweise machen bereits deutlich, daß es Friedrich II. im Falkenbuch um eine enge Verknüpfung von Funktion und Form, von natur-
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1980 (Bibliophile Taschenbücher, vol. 152). — In zwei jüngst erschienenen Publikationen vertritt J o h a n n e s Fried die T h e s e , das bei Parma verlorengegangene Werk sei nicht die Urfassung von „ D e arte venandi cum avibus" gewesen. E s habe sich vielmehr um die Prunkhandschrift eines K o m p e n d i u m s verschiedener Jagdtraktate im U m f a n g von „zwei Psalterien" gehandelt. Cf. zur ausführlichen Beweisführung: J. Fried, Kaiser Friedrich II. als Jäger oder ein zweites Falkenbuch Kaiser Friedrichs II.?, in: Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. I. Philologisch-Historische Klasse, J a h r g a n g 1996, Nr. 4, 115 — 156. Vor allem 128 — 139. — Id., „ . . . correptus est per ipsum imperatorem" D a s zweite Falkenbuch Friedrichs II., in: Mittelalterliche Texte, M G H - S c h r i f t 4 2 / 1 9 9 6 , 9 3 - 1 2 4 . S o A. Thiery, Federico II e le scienze, in: Federico II e l'Arte del Duecento Italiano, in: Atti della III settimana di studi di storia dell'arte medievale dell'universitä di Roma. A cura di Angiola Maria Romanini. Volume secondo, R o m 1980, 295. - Cf. dazu auch: Jean Theodorides, Orient et Occident au moyen age: L'oeuvre zoologique de Frederic II de Hohenstaufen, in: Oriente e occidente nel medioevo: Filosofia e scienze. Convegno internazionale. Accademia Nazionale dei Lincei, R o m 1971, 5 4 9 - 5 6 7 . - J. Zahlten, Medizinische Vorstellungen im Falkenbuch Kaiser Friedrich II., in: S u d h o f f s Archiv. Zeitschrift für Wissenschaftsgeschichte, 54, 1 9 7 0 , 4 9 - 1 0 3 . - Id., Zur Abhängigkeit der naturwissenschaftlichen Vorstellungen Kaiser Friedrichs II. von der Medizinschule zu Salerno, in: ibid., 1 7 3 - 2 1 0 . A. Nitschke, Federico II e gli scienziati del suo tempo, in: Atti del Convegno di studi su F E D E R I C O II (Jesi 2 8 - 2 9 m a g g i o 1966), Jesi 1976. Cf. A. B r ä m , Friedrich II. als Auftraggeber von Bilderhandschriften?, in: K u n s t im Reich Kaiser Friedrichs II. von Hohenstaufen, edd. K . K a p p e l / D. K e m p e r / A. Knaak, München - B e r l i n 1996, 1 7 2 - 1 8 4 . S o Guilielmus Bottatius in einem Brief an Karl von Anjou. Cf. D a s Falkenbuch 1980 (wie A n m . 3), 232. Fried (wie A n m . 3), 128sq. bezieht diese Äußerung von Bottatius auf das erwähnte K o m p e n d i u m . Diesen B e g r i f f führt F. Mütherich, Handschriften im Umkreis Friedrich II., ein, in: Probleme um Friedrich II. (Vorträge und Forschungen, Bd. 16), Sigmaringen 1974, 14. B. Degenhart / A . S c h m i t t , C o r p u s der italienischen Zeichnungen 1300—1450, vol. I I / 2 Venedig, A d d e n d a zu Süd- und Mittelitalien, Berlin 1980, 196. Ibid., 192. O. Pächt, Early Italian nature studies and the early calendar landscape, in: Journal o f the Warburg and Courtauld Institutes 13, 1950, 2 2 - 2 4 .
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Tafel I
Abb. 1: Falkenbuch Kaiser Friedrichs II. (nach 1258), Zweitfassung für König Manfred. Rom, Bibliotcca Apostolica Vaticana, Ms. Pal. Lat. 1071, fol. 1.
Tafel II
Johannes Zahlten
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Abb. 3: Falkenbuch Kaiser Friedrichs IL, fol. 5 v.
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