Gedächtnisräume: Geschichtsbilder und Erinnerungskulturen in Norddeutschland 9783847102434, 9783847002437, 3847102435

Die Hanse, das Hamburger Bismarck-Denkmal oder die Schlacht von Düppel - Norddeutschland beherbergt eine Vielzahl von &#

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Gedächtnisräume: Geschichtsbilder und Erinnerungskulturen in Norddeutschland
 9783847102434, 9783847002437, 3847102435

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Formen der Erinnerung

Band 56

Herausgegeben von Jürgen Reulecke und Birgit Neumann

Janina Fuge / Rainer Hering / Harald Schmid (Hg.)

Gedächtnisräume Geschichtsbilder und Erinnerungskulturen in Norddeutschland

Mit 53 Abbildungen

V& R unipress

zeit+geschichte

Band 33

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0243-4 ISBN 978-3-8470-0243-7 (E-Book) Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Sparkassenstiftung Schleswig-Holstein und des Vereins zur Förderung des Landesarchivs Schleswig-Holstein. Ó 2014, V& R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Ó Janina Fuge Druck und Bindung: CPI Buch Bücher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Janina Fuge, Rainer Hering, Harald Schmid Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Raum und Erinnerung. Theoretische Annäherungen Martin Sabrow Der Raum der Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

Harald Schmid Regionale Gedächtnisräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33

Claudia Fröhlich Geschichtspolitische und erinnerungskulturelle ZeitRäume. Vom Reiz einer analytischen Kategorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

Alina Bothe Raum, Stadt und Gedächtnis bei Walter Benjamin – die Berliner Kindheit um neunzehnhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

55

Dietmar von Reeken, Malte Thießen Regionale oder lokale Geschichtskulturen? Reichweite und Grenzen von Erinnerungsräumen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

71

Fallstudien: Lokale und regionale Erinnerungskulturen in Norddeutschland Hiram Kümper Europäische Erinnerungsorte in Norddeutschland? Zum Beispiel: Hanse und Magdeburger Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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6

Inhalt

Knud Andresen Historische Erzählungen über Altona als Elemente von Stadtteilidentität und lokaler Geschichtskultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Jörg Schilling Gedächtnis und Rezeption – Spielräume der Aneignung. Das Hamburger Bismarckdenkmal im Kontext regionaler und nationaler Bedeutungsebenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Tobias Arand, Christian Bunnenberg »Ohne Düppel kein Königgrätz, ohne Königgrätz kein Sedan, ohne Sedan kein deutsches Kaiserreich!« Der Gedächtnisort Düppel/Dybbøl und seine Entwicklung in der deutschen und dänischen Erinnerungskultur von 1864 bis in die Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Jelena Steigerwald Das Danewerk – ein historischer Erinnerungsort zwischen nationaler, regionaler und lokaler Aneignung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Dirk Thomaschke »Es sind Leistungen vollbracht worden, die zumindest im Rahmen einer Dorfchronik Würdigung verdienen, auch wenn der Staat die Leistungen nicht verdiente…« Räumliche Aspekte des Kriegergedenkens in nordfriesischen Ortschroniken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Nina Hinrichs Gedächtnis- und Erinnerungslandschaften: Weltnaturerbe Wattenmeer und Nordsee in der Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Andreas Wagner Vom Lebensraum zur Erinnerungslandschaft: die ehemalige innerdeutsche Grenze zwischen Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern. Überreste, Denkmale und fragmentierte Erinnerungspraktiken entlang der Trennlinie zwischen zwei Erinnerungskulturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Matthias Manke Erinnerungsort im Gedächtnisraum? Die Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung im Bezirk Schwerin und die Kommission zu ihrer Erforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265

7

Inhalt

Thomas Küster Erinnerung oder Identität? Deutungen der Varusschlacht im Osnabrücker Land und in Westfalen-Lippe . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Günter Riederer Kollektive Erinnerung in einer Stadt ohne Tradition – die Geschichte der Straßenbenennungen in Wolfsburg nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . 309 Arne Hoffrichter, Sascha Schießl »Tor zur Freiheit« – »Schauplatz erschütternder Tragödien«. Die Lager Friedland und Uelzen in der lokalen, niedersächsischen und bundesdeutschen Erinnerungskultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325

Praktizierte Erinnerung. Geschichtsbilder und historisch-politische Bildung Marcus Meyer Historische Räume und forensische Pädagogik: Die Konzeption des »Denkortes Bunker Valentin« in Bremen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 Andrea Brait Wege zu vielschichtigen Gedächtnisorten auf lokaler, regionaler, nationaler und transnationaler Ebene. Eine Analyse unter besonderer Berücksichtigung der Neugestaltung der Gedenkstätte Ahlem . . . . . . . 367 Nina Fehrlen Die Konzeption der »Schwedenstraße« als deutsch-schwedischer Erinnerungsort des Dreißigjährigen Krieges . . . . . . . . . . . . . . . . 385 Wiebke Johannsen Im Raume lesen wir die Zeit. In welcher Zeit liest wer warum welchen Raum? Oder : Haithabu, vom Kampfplatz deutscher Geschichtspolitik zum Ausflugsziel für die ganze Familie. Ein Essay . . . . . . . . . . . . . 405

Ausblick Janina Fuge, Rainer Hering, Harald Schmid »Gedächtnisraum Norddeutschland«? Abschließende Überlegungen . . . 425 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 Personenregister

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437

8

Inhalt

Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449

Janina Fuge, Rainer Hering, Harald Schmid

Einleitung

Die erinnerungskulturelle Forschung hat den Gegenstand von Gedächtnisräumen – sprich: sich in geografisch oder soziokulturell begrenzten Räumen bewegende Erinnerungskollektive oder auch auf Räume bezogene Erinnerungsinhalte – in den vergangenen zwei Jahrzehnten immer stärker in den Blick genommen. Gerade Forscher/innen in den Geschichts- und Kulturwissenschaften haben diesen Ansatz aufgegriffen und in konkrete Forschungsvorhaben umgesetzt.1 Sie konnten herausarbeiten, dass und wie der geografische Raum in seinen subnationalen wie transnationalen Erfahrungen und Deutungsangeboten kollektiv relevante Geschichtsbilder prägt. Eine Region ist somit selbst ein Gedächtnisraum als auch eine Summe kleinteiliger Einheiten, in dem und in denen lokale, regionale, nationale und transnationale Geschichtsbilder zu finden sind. Dass sowohl der Begriff »Region« als auch der des »Raumes« nicht mehr nur geografisch zu verstehen sind, ist inzwischen größtenteils eine Selbstverständlichkeit. Selbst der Terminus Gedächtnis ist in den analytischen Konzeptionen der erinnerungskulturellen Forschung längst über die überkommene Vorstellung eines Speichers hinausgegangen. Vielmehr stehen die wechselseitigen Verbindungslinien zwischen physikalisch-materiellem, sozialem und imaginärem Raum im Fokus des Nachdenkens. Zugleich ist eine größere Offenheit zu konstatieren für die Spannungsfelder zwischen primärer historischer Erfahrung und deren individueller wie kollektiver Vergegenwärtigung. Neu ist dabei die

1 Der Begriff »Gedächtnisraum« wird mit vielfältigen Inhalten gefüllt – Beispiele der vergangenen Jahre sind folgende: Guido Hausmann: Mütterchen Wolga. Ein Fluss als Erinnerungsort vom 16. bis ins frühe 20. Jahrhundert. Frankfurt/Main [u. a.] 2009; Natan Sznaider: Gedächtnisraum Europa. Die Visionen des europäischen Kosmopolitismus. Eine jüdische Perspektive. Bielefeld 2008; Barbara Breysach: Schauplatz und Gedächtnisraum Polen. Die Vernichtung der Juden in der deutschen und polnischen Literatur. Göttingen 2005; Susanne Brandt: Vom Kriegsschauplatz zum Gedächtnisraum. Die Westfront 1914 – 1940. BadenBaden 2000; Eike Wenzel: Gedächtnisraum Film. Die Arbeit an der deutschen Geschichte in Filmen seit den 60er Jahren. Stuttgart [u. a.] 2000; Elz˙bieta Dzikowska: Gedächtnisraum Polen in der DDR-Literatur. Fallstudien über verdrängte Themen. Wrocław 1998.

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Verknüpfung mit den Wechselwirkungen zwischen Räumlichkeiten und Gedächtnis, die hier besonders in den Blick genommen wird. Dieser Perspektivwechsel von materiell-mechanischen Konzepten hin zu sozialkonstruktivistischen Ansätzen und die geschilderte doppelte Sensibilisierung sind der Hintergrund für die Frage nach der Entstehung, Wahrnehmung und Konstruktion von Identitäts- und Handlungsfunktionen von Räumen im Medium des Gedächtnisses wie umgekehrt nach dem Stellenwert von Erinnerung, Geschichte und Gedächtnis in Raumbezügen. Hierbei rücken komplexe Vorgänge im Feld kollektiver, historisch fundierter Selbstbilder in ihrem wechselseitigen Wirkungsgefüge ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Ziel der Forschungen und auch dieses Bandes ist es in diesem Zusammenhang, zu einem umfassenderen und genaueren Verständnis gesellschaftlicher, politischer und kultureller Aneignung von Vergangenheit beizutragen. Unsere These lautet: Regionale Gedächtnisse sind als subnationale Vergegenwärtigungsmuster von Vergangenheit gleichsam Schaltstellen im räumlich politischen Schichtaufbau von Gesellschaften. Sie befinden sich in einer engen Wechselwirkung mit den Gedächtnisorten wie mit der nationalen und sogar internationalen Ebene. Das regionale Gedächtnis hat also eine Vermittlungsfunktion zwischen den Ebenen des Raumes und den politisch-staatlichen Organisationen. An dieser Stelle lassen sich überdies Schnittmengen mit dem Konzept der »Heimat« feststellen; das regionale Gedächtnis, die aktive Erinnerung einer auf einen engen lokalen Raum begrenzten Gruppe, ist gleichsam ein konstitutiver Akt, sich den Raum anzueignen – was wiederum ein notwendiges Kriterium für die Definition von »Heimat« ist, die Hermann Bausinger versteht als »Nahwelt, die verständlich und durchschaubar ist, als Rahmen, in dem sich Verhaltenserwartungen stabilisieren, in dem sinnvolles, abschätzbares Handeln möglich ist – Heimat also als Gegensatz zu Fremdheit und Entfremdung, als Bereich der Aneignung, der aktiven Durchdringung, der Verlässlichkeit«2. Im engeren Sinne ist »Heimat« zu verstehen als geformtes »Satisfaktionsterritorium«, für welches das Zusammenwirken von Gemeinschaft, Raum und Tradition im Sinne der Schaffung von Sicherheit und Identität sowie der Möglichkeit zur Aktivitätsentfaltung3 strukturgebend ist. Das »regionale Gedächtnis«, so könnte man es zuspitzen, wird zu einem wesentlichen modus operandi zur Verwandlung eines bezugslosen Raumes in einen »Identitätsraum«, der gleichsam als Gefäß einer »Heimat« taugt. Obwohl erinnerungskulturelle Fragestellungen vielfach untersucht worden 2 Bausinger, Hermann: Kulturelle Identität – Schlagwort und Wirklichkeit. In: Konrad Köstlin u. a. (Hrsg.): Heimat und Identität. Probleme regionaler Kultur, Neumünster 1980, S. 9 – 24, S. 20. 3 Nach Greverus, Ina-Maria: Auf der Suche nach Heimat, München 1979.

Einleitung

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sind, fehlen für Norddeutschland noch fundierte Darstellungen und Analysen mit dieser inhaltlichen Ausrichtung, die zudem die vielfältigen Aspekte dieser Region vorstellen. Dieser Band hat daher auch das Ziel, die unterschiedlichen Herangehensweisen und Forschungsansätze repräsentativ aufzuzeigen und so den Fokus auf diese vielfältige Erinnerungslandschaft zu lenken. Wir beziehen dabei den norddeutschen Raum auf die heutigen fünf Bundesländer SchleswigHolstein, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Bremen und Niedersachsen, wobei je nach dem konkreten historischen Kontext die Grenzen variabel sind und sein müssen. Damit erweitern wir geografisch und von der Fragestellung her unseren 2010 vorgelegten Sammelband zur Erinnerungskultur, der sich mit Geschichtsbildern in Hamburg und Schleswig-Holstein befasst.4 Wir fragen nach historisch fundierten, regionalen, grenzüberschreitenden und transnationalen kollektiven Selbstbildern, nach dominierenden Narrativen und kritischen Gegenerzählungen, nach regionalen Gedächtnissen und Erinnerungskulturen sowie ihren Akteuren, Themen und Konfliktlinien in einer konkreten Region. Um diesen Fragen am Beispiel Norddeutschlands nachzugehen, fand am 15. und 16. Juni 2012 im Hamburger Warburg-Haus die interdisziplinäre Tagung »Gedächtnisräume. Geschichtsbilder und Erinnerungskulturen in Norddeutschland« statt, deren Beiträge wir in diesem Band vorlegen. Mitveranstalter waren die Arbeitsstelle Regionale Geschichtskulturen der Universität Oldenburg, der Verein Erinnern für die Zukunft in Bremen, die Evangelische Akademie der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland in Hamburg, die Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg, die HeinrichBöll-Stiftung Schleswig-Holstein in Kiel, die Historische Kommission für Niedersachsen und Bremen in Hannover, das Landesarchiv Schleswig-Holstein in Schleswig und die Politische Memoriale e.V. Mecklenburg-Vorpommern in Schwerin. In der anregenden Atmosphäre der ehemaligen Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg, die seit 1995 für Veranstaltungen offen steht, erörterten die Vortragenden und die weiteren Tagungsteilnehmer/innen die vielfältigen Aspekte von Erinnerungskultur und Gedächtnisräumen anhand der Impulsvorträge intensiv.5 Um die thematische Vielfalt der Themen und des Raumes angemessen widerspiegeln und spannende Gesichtspunkte vertiefen zu können,

4 Janina Fuge/Rainer Hering/Harald Schmid (Hrsg.): Das Gedächtnis von Stadt und Region. Geschichtsbilder in Norddeutschland (Hamburger Zeitspuren 7). München-Hamburg 2010; 2. korr. Aufl. 2011. 5 Vgl. Sebastian Diziol: Tagungsbericht Fünf-Länder-Tagung »Gedächtnisräume. Geschichtsbilder und Erinnerungskulturen in Norddeutschland«. 15. 06. 2012 – 16. 06. 2012, Hamburg, in: H-Soz-u-Kult, 10. 07. 2012, .

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Janina Fuge, Rainer Hering, Harald Schmid

wurden noch einige weitere Aufsätze ergänzt, deren Autoren wir im Zuge der Tagungsausschreibung für einen Beitrag gewinnen konnten. Strukturiert ist der Band in drei Teile. Die ersten Beiträge vollziehen eine theoretische Annäherung an Raum und Erinnerung. Die Autorinnen und Autoren befragen und präziseren die bisherigen Konzepte von Gedächtnisräumen und raumspezifischer Erinnerung – insbesondere von Maurice Halbwachs und Pierre Nora entwickelt und seither vielfach rezipiert und teilweise kritisch weitergeführt – auf ihre Tauglichkeit für regionale und städtische Räume. So gelingt es, das »Gedächtnis der Stadt« ebenso wie das »Gedächtnis der Region« konzeptionell und strukturell zu fassen und von nationalen oder transnationalen Erinnerungskonzeptionen abzugrenzen. Martin Sabrow gibt in seinem Beitrag, der auf den öffentlichen Abendvortrag der Tagung zurückgeht, einen instruktiven Überblick über den Raum der Erinnerung. Das theoretisch-methodische Fundament der regionalen Gedächtnisräume formuliert Harald Schmid. Claudia Fröhlich befasst sich mit der analytischen Kategorie »ZeitRäume«. Ihre theoretischen Reflexionen verbinden mit konkreten Beispielen Alina Bothe (Walter Benjamin) sowie Dietmar von Reeken und Malte Thießen (Zweiter Weltkrieg), sodass sie die Reichweiten und Grenzen von Erinnerungsräumen verdeutlichen. Der umfangreichste zweite Abschnitt präsentiert Fallstudien zu lokalen und regionalen Erinnerungskulturen in Norddeutschland. Erkenntnisleitend für jeden Beitrag ist die Frage, inwiefern sich stadt- und regionsspezifische Besonderheiten an Erinnerungsinhalten und Akteursinteressen ausbildeten und/ oder entwickelten. So entsteht ein breit gefächertes Sample an Beispielen Hamburgs, Bremens, Niedersachsens, Schleswig-Holsteins und MecklenburgVorpommerns, das Vergleiche ermöglicht und Unterschiede erkennbar werden lässt. Die breite Vielfalt der vorgestellten Themen können wir hier nur kurz ansprechen: die Hanse als deutscher und europäischer Erinnerungsort (Hiram Kümper), die Identität des Hamburger Stadtteils Altona, der bis 1937 eine selbstständige Stadt war, (Knud Andresen), Wahrnehmungsperspektiven des Hamburger Bismarck-Denkmals (Jörg Schilling), der binationale Erinnerungsort Düppel/Dybbøl (Tobias Arand, Christian Bunnenberg), die Verwendung historischer materieller Überlieferung am Beispiel der Kieler Gesellschaft für die Sammlung und Erhaltung vaterländischer Alterthümer (Jelena Steigerwald), die Darstellung des Nationalsozialismus in nordfriesischen Ortschroniken (Dirk Thomaschke), das Weltnaturerbe Wattenmeer und die Nordsee in der Kunst (Nina Hinrichs), die innerdeutsche Grenze zwischen Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern (Andreas Wagner), die Geschichte der lokalen Arbeiterbewegung im Bezirk Schwerin (Matthias Manke), Deutungen der Varusschlacht in der Region Südniedersachsen- Westfalen-Lippe (Thomas Küster), Erinnerungen in einer Stadt ohne Tradition am Beispiel Wolfsburgs (Günter

Einleitung

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Riederer) sowie die Lager Uelzen und Friedland in der norddeutschen Erinnerungskultur (Arne Hoffrichter, Sascha Schießl). Der dritte Teil widmet sich der praktizierten Erinnerung und beschäftigt sich mit dem Verhältnis von Geschichtsbildern und historisch-politischer Bildung am Beispiel geografisch vielschichtiger Erinnerungsorte wie der Gedenkstätte Ahlem (Andrea Brait), des Bunkers Valentin in Bremen (Marcus Meyer) und der Schwedenstraße als deutsch-schwedischem Erinnerungsort (Nina Fehrlen). Den Abschluss bildet der Essay Wiebke Johannsens zum Umgang mit der Erinnerung an die Wikinger im Schleswiger Museum Haithabu. Zuvorderst danken wir unseren Mitveranstaltern, die die Organisation der Tagung möglicht gemacht haben; zudem danken wir allen Beitragenden, die ihre Texte mit uns erörtert und für die Publikation überarbeitet haben; mit aktiven Diskussionsbeiträgen, die Aspekte aus der Praxis heraus konkretisiert und zugespitzt haben, bereicherten auch die Teilnehmenden die Tagung – ihnen gilt ebenso unser Dank. Bei Marianne Pieper und Eva Landmann bedanken wird uns herzlich für die Möglichkeit, das eindrucksvolle und inspirierende WarburgHaus als Tagungsort nutzen zu können, und für die hervorragende Begleitung vor Ort. Unser Dank gilt auch Saskia Heller, Caecilia Maag und Carmen Smiatacz, die für einen reibungslosen Verlauf der Veranstaltung sorgten. Susanne Linnig von der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg danken wir für die Übernahme der Tagungsabrechnung. Die Korrektur- und Registerarbeiten übernahm freundlicherweise Claudia Kuhn. Ihr und dem Verlag V& R unipress danken wir für die gute Zusammenarbeit bei der Drucklegung. Mehrere Institutionen haben die Veröffentlichung dieses Buches ermöglicht. Wir danken der freundlichen Unterstützung der Sparkassenstiftung SchleswigHolstein, der Landeszentrale für politische Bildung Schleswig-Holstein und des Vereins zur Förderung des Landesarchivs Schleswig-Holstein. Persönlich danken wir besonders Annette Wiese-Krukowska, Dr. Bernd Brandes-Druba und Dr. Klaus Alberts.

Raum und Erinnerung. Theoretische Annäherungen

Martin Sabrow

Der Raum der Erinnerung

Der Raum der Erinnerung stellt einen auf den ersten Blick leicht zu umreißenden Topos dar : Erinnerungen sind räumlich verankert, sie begegnen dem verzehrenden Lauf der Zeit mit der Konstanz des Raumes. Was die Zeit entrückt, das speichert der Raum. Er birgt die Überreste von tausend und abertausend Jahren menschlichen Lebens, er bietet einen Zugang zum Fahrstuhl in die Vergangenheit, in dem die Abfolge der Kulturen in ihrer zeitlichen Schichtung sichtbar wird. Der Raum bewahrt die Erinnerung, im Großen geschichtlicher Denkmäler und letzter Ruhestätten wie im Kleinen des täglichen Lebens, wenn wir dorthin zurückgehen, wo wir einen entfallenen Gedanken wiederfinden wollen. Kurz: Im Raume lesen wir die Zeit, wie Karl Schlögel (*1948) so großartig formulierte,1 und der Raum gehört zur Erinnerung wie das Wort zum Gedanken.

I.

Der ungewisse Raum

Doch so fest die Verbindung von Raum und Erinnerung sich zunächst präsentiert, so unsicher wird sie bei näherem Hinsehen. Als die Journalistin Ulla Lachauer (*1951) Anfang der 1990er-Jahre mit deutschen Heimwehtouristen nach Ostpreußen reiste, sprach sie an der Bar ihres Kaliningrader Hotels ein Mitreisender an: »Ich war zu Hause heute. (…) Gestern bin ich durchgefahren. Immer am Haff längs, und plötzlich stehe ich vor der Kirche von Brandenburg, also vor dem Stumpf von dem Turm natürlich. Zu weit! Wo ist das Dorf ? Heut hab ich es gefunden. Es ist nicht mehr da. (…) Die Endmoräne, der Hügel, da stand das Elternhaus. Die Drainage, da begann das Feld. Denken Sie, mittendrin seh ich eine Ölpumpe! Auf dem Acker meines Vaters! Fünfzig Meter von der Reichsstraße 1. Alles hab ich gefunden. Es ist nichts mehr zu sehen. Links das Öl, rechts ein Feld. Luzerne, so hoch. (…) Ich in die Luzerne bis hier. 1 Vgl. Karl Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik. Frankfurt/Main 2009.

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Martin Sabrow

So fruchtbar war das Land meines Vaters. Keine Grundmauern, nichts. Kein Brunnen, nichts. Von fünfzehn Bauerndörfern in der ganzen Umgebung nichts. Aber ich hab alles gefunden. Einen Ziegel zum Beispiel, da steht ›Cadienen‹ drauf, daraus war unser Haus gemacht. Der Ententeich – früher war er fast doppelt so groß. (…) Alles ist noch da. Auch die Kiesgrube, wo wir im Winter Ski gelaufen sind. Der Wald, wo wir ›Räuber und Soldat‹ gespielt haben. Da staunen Sie, das hab ich alles gefunden. Ich ahnte, daß nichts mehr steht. (…) Ich hätte den Sonnenuntergang filmen müssen. Doch was ist? Im Hotel ist Abendessen! Wie die Sonne versinkt, der große Ball über Pillau. Das Gold verströmt im Haff und ergießt sich bis zu den Füßen. So war das. (…) Das glaubt mir keiner.«2

Was wir in diesem Monolog an einer trostlosen Königsberger Hotelbar der historischen Wendejahre miterleben, ist eine sehnsüchtige Suche nach dem Raum der Erinnerung. Der Held der Erzählung sucht nach seinem Zuhause. Er weiß, wo es liegt, und hat es tausend Mal aus der Erinnerung beschworen. Es befindet sich in der Heimat seines Herkommens, auf die der Schmerz der nie verwundenen Vertreibung zuläuft. Der Erzähler hat die strapaziöse Reise als alter Mann auf sich genommen, um seine Erinnerung wieder mit der Landschaft zu verbinden, aus der sie stammt – und er findet sie. Aber als er den Raum erreicht hat, ist der Ort verschwunden, und seine Erinnerung, die mit ihm durch Felder und Luzernen streift, kann sich in der Leere nirgends anklammern. Und dann erlebt der Reisende, wie die Gegenwart sich dazwischen drängt und ihm buchstäblich den Raum nimmt: »Doch was ist? Im Hotel ist Abendessen!« Am Ende macht der Erinnerungstourist seinen Frieden mit einem Raum der Erinnerung, der da ist und nicht mehr da ist, weil die Zeit ihn aufgefressen hat oder weil er eine bloße Imagination ist, die der Realität nicht standgehalten hat: »Als ich ankam hier, hab ich nicht geschlafen, die ganze Nacht. Jetzt hab ich es gesehen und jetzt kann ich schlafen. […] Einmal eben wollte ich es sehen. Ein Abschiedsbesuch, würde ich sagen.«3

Der Raum der Erinnerung ist von eigentümlicher Beschaffenheit, und er wird umso ungewisser, je entschlossener wir uns ihm nähern. Es ähnelt dem Phänomen der zum Aufstieg lockenden Burg, deren Zauber verfliegt, sobald man sie erreicht hat: Was am Horizont die geheimnisvolle Entführung ins Mittelalter versprach, entpuppt sich beim Näherkommen als leerer Innenhof mit Grillstelle, dessen historische Aura der enttäuschte Besucher allenfalls dann wiedergewinnt, wenn er sich umdreht und in den Schießscharten den Blick in die lockende Ferne schweifen lässt, aus der er selbst kam. Der Befund einer eigentümlichen Unsicherheit über den Raum der Erinnerung lässt sich geschichtstheoretisch erhärten. Wohl war der seit den 1980er2 Ulla Lachauer : Die Brücke von Tilsit. Begegnungen mit Preußens Osten und Rußlands Westen. Reinbek 1995, 162 – 165. 3 Ebd., 164 f.

Der Raum der Erinnerung

19

Jahren zu beobachtende Aufstieg der Erinnerung zum Leitbegriff der Vergangenheitsverständigung in der Tat im wörtlichen Sinne raumgreifend, und er besetzte in einem atemberaubenden Richtungswechsel unserer Gegenwartskultur in kürzester Zeit den Platz, den zuvor der Fortschrittsgedanke eingenommen hatte. Aus Willy Brandts (1913 – 1992) Aufbruchsappell von 1971 »Die Zukunft wird nicht gemeistert von denen, die am Vergangenen kleben«4 wurde das Motto unseres Aufarbeitungszeitalters: »Ohne Erinnerung keine Zukunft«. Nur versprach die Erinnerung eine Räumlichkeit, die sie nicht zu besetzen vermochte. Als Pierre Nora (*1931) das Verschwinden der milieux de m¦moire durch die Schaffung von lieux de m¦moire konstatierte, meinte er damit zum wenigsten die raumgebundenen Erinnerungen. Erinnerungsorte bezeichnen Nora zufolge die anerkannten Ausdrucksformen des gemeinschaftlichen Gedächtnishaushaltes, mit denen sich Gesellschaften insgesamt oder einzelne Milieus ihrer Vergangenheit versichern.5 Die Topoi der gemeinsamen Erinnerung können im wörtlichen Sinne reale Orte und stoffliche Dinge sein, aber eben auch alle anderen denkbaren Spiegelungen des Gestern im Heute: Ereignisse und Institutionen ebenso wie Vorstellungen und Begriffe; Bilder und Kunstwerke wie Bücher und Dokumente, die die Vergangenheit in der Gegenwart lesbar machen. Dass der Raum in der Sprache häufig gar nicht in seiner konkreten Bedeutung, sondern vor allem als Metapher genutzt wird, gilt nicht allein für die Geschichtswissenschaft. Wir denken räumlich, wenn wir die Zeit meinen, und sprechen deswegen vom Zeitraum, vom Zeitfluss, vom Zeitpunkt, vom Zeitfenster.6 Die Welt des Internets übersetzt den elektronischen Datenaustausch in Raummetaphern: chatroom, cyberspace und Datenautobahn7 – aber es sind ortlose, abstrakte Räume, die wir damit bezeichnen. Freilich sollte die kulturalistische Auflösung der greifbaren Gewissheiten nicht zu weit gehen. Aber schon dort, wo wir physische Räume in politische und kulturelle Räume übersetzen wollen, erfahren wir die Unsicherheit, dass sich Räume leichter von außen als von innen erfassen lassen. Sie geben sich oft nur schwer als das zu erkennen, was sie sind; aber sehr viel leichter als das, was sie nicht sind. Räumliche Identität definiert sich zuerst durch Abgrenzung. Die Altonaer wussten im 4 Willy Brandt: Rede auf dem Außerordentlichen Parteitag der SPD am 18. November 1971. In: Ders.: Reden und Interviews: Herbst 1971 bis Frühjahr 1973. Hamburg 1973, 23 – 37, 25. 5 Pierre Nora: Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Berlin 1990, 11. 6 »Die Zeit«, heißt es bei Reinhart Koselleck (1923 – 2006), »läßt sich bekanntlich sowieso nur in spatialen Metaphern ausdrücken.« (›Erfahrungsraum‹ und ›Erwartungshorizont‹ – zwei historische Kategorien. In: Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt/Main 1992, 349 – 375, 356.) 7 Vgl. Jörg Döring/Tristan Thielmann: Einleitung: Was lesen wir im Raume? Der Spatial turn und das geheime Wissen der Geographen. In: Dies. (Hrsg.): Spatial turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Bielefeld 2008, 7 – 45, 15.

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Martin Sabrow

19. Jahrhundert, dass sie keine Hamburger waren, und die Holsteiner, dass sie keine Schleswiger waren – aber was altonaisch und was holsteinisch sein sollte, war darum nicht leichter zu sagen. Was im Kleinen gilt, gilt nicht anders im Großen: Als der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy (*1955) am Abend des ersten Wahlgangs bei den Präsidentenwahlen 2012 seinen Helfern und Sympathisanten ein pathetisches »Danke für Ihre große Liebe zu Frankreich!« zurief, fragte sich die französische Publizistin Pascale Hugues (*1959), »was genau das heißen soll: Frankreich lieben? Man kann Mousse au Chocolat lieben, die Frau seiner Träume oder einfach das Leben, aber Frankreich? Eine ungeheure Zärtlichkeit überschwemmt mich, wenn ich an die sanften Landschaften der Drúme am Herbstanfang denke. Ich fühle wahre Verbundenheit, wenn ich die alten Schwarzweißfilme mit Gabin und Arletty sehe oder die Schlager der 80er vor mich hin singe. Ich schmelze vor Wonne für die Tarte Tatin, die Loire-Weine, das Licht der Provence und ganz besonders für Jean Dujardin (›The Artist‹)! (…) Aber Liebe?«8

Wir alle schließlich, die wir hoffend und zagend am Projekt Europa Anteil nehmen, meinen doch erst in den USA oder in Südafrika zu wissen, was eigentlich europäisch ist. Alle fachlichen Bemühungen, Europa in seinen Grenzen und seinem Charakter essentialistisch zu definieren, sind so sehr gescheitert, dass die Forschung zu einem strikten Nominalismus Zuflucht genommen und Europa dort für präsent erklärt hat, wo es als Begriff auftaucht.9

II.

Das Paradigma des natürlichen Raums

Kehren wir noch einmal zu unserem Königsberger Heimwehtouristen zurück: Er war in die Region gereist, in der er seine Heimat wusste, aber er fand sie nicht mehr. Er war einer Vorstellung des Bedeutung tragenden Raums gefolgt, die ihm auf der Reise immer lockerer erschien, bis er sich am Ende ganz von ihr zu lösen vermochte. Das unterscheidet ihn von den Vertriebenen der ersten Nachkriegsgeneration, die an der unversehrten Integrität ihres Gedächtnisraumes festhielten und seine Rückverwandlung in die Gegenwart einforderten: »Schlesien, Pommern, Ostpreußen und Ostbrandenburg: Im Herzen immer deutsch. Das dürfen wir niemals vergessen!«10 Die lockere Beziehung zwischen Raum und Gedächtnis trennt den zitierten Heimwehtouristen aber auch von der vorherrschenden Denkhaltung der zweiten Nachkriegsgeneration, die sich die 8 Pascale Hugues: Mon Berlin. Wer darf in Frankreichs Bett schlüpfen? In: Der Tagesspiegel, 05. 05. 2012. 9 Vgl. Wolfgang Schmale: Geschichte Europas. Köln-Weimar-Wien 2000, 13 f. 10 http://www.youtube.com/watch?v=xMJr-u4gHLc, Äußerung fischkopf84 (10. 06. 2012), Dieses Video ist im Internet nicht mehr verfügbar.

Der Raum der Erinnerung

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räumliche Verortung ihres Herkommens mehr oder weniger ganz verbat; die Kinder der Vertriebenen wollten mehrheitlich ihre Identität bewusst nicht länger in der Erinnerung an eine verlorene Heimat finden und ließen die nie ganz erloschene Neugier auf das eigene Herkommen allenfalls im Alter und nach dem Verschwinden aller Revisionsansprüche von der politischen Agenda verschämt wieder aufkeimen. Diesem doppelten Konjunkturwandel unterlag die Kategorie Raum nicht nur im Geschichtstourismus, sondern auch in den Geistes- und Sozialwissenschaften. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts führte die gedankliche Verknüpfung von Raum und Volkstum bekanntlich zu schrecklichen Konsequenzen. Sie folgte aus der auf Johann Gottfried von Herders (1744 – 1803) Klimatheorie zurückgehenden Annahme, der zufolge jedes Volk schon in der Völkerwanderung »an demjenigen Orte« gesiedelt habe, »der seinem Charakter am meisten zusagte«.11 In Friedrich Ratzels (1844 – 1904) Anthropogeografie wandelte sich der Raum dann zu einem »Geschick, dem wir nicht entgehen, aus dem wir nicht herauskommen«, also zum »Lebensraum«, in dem nach Karl Haushofer (1869 – 1946) alles politische Geschehen »von dauernden Bedingungen der Bodengestalt« abzuleiten war.12 Dieses Denken brach einer deterministischen und geodarwinistischen Raumvorstellung Bahn, die in den 1920er- und 1930er-Jahren nach der »Übereinstimmung von Kulturkreisen und Stammesräumen« Ausschau hielt13 und in der rassisch aufgeladenen Lebensraumideologie des Nationalsozialismus gipfelte. In der historischen Übersetzung verband sich der Raum mit der Volkstumsgeschichte, aus der sich die Heimatbewegung des späten 19. Jahrhunderts ebenso speiste wie die geschichtliche Landeskunde, die das »volksdeutsche Erscheinungsbild« einzelner »Raumindividualitäten« zu erfassen suchte14 und schließlich die mörderische »völkische Flurbereinigung« der NS-Herrschaft fachlich begleitete. Adolf Hitler (1889 – 1945) selbst fand noch in der Leere des Raums und »unserer Sehnsucht nach Ausdehnung unseres Raumes« eine Rechtfertigung der nationalsozialistischen Eroberungspolitik: »Was würden wir sein, wenn wir nicht wenigstens die Illusion der Weite unseres Raumes hätten?«15 11 Wilhelm Roscher: System der Volkswirthschaft. Ein Hand- und Lesebuch für Geschäftsmänner und Studierende. Bd. 1. 2. Aufl. Stuttgart-Augsburg 1857, 59. 12 Zitiert nach Manfred Görtemaker : Politischer Zeitgeist und Geopolitik – Über die zeitbedingten Voraussetzungen anwendungsorientierter Wissenschaft. In: Irene Diekmann/Peter Krüger/Julius H. Schoeps (Hrsg.): Geopolitik. Grenzgänge im Zeitgeist. Band 1.1, 1890 bis 1945. Potsdam 2000, 15 – 36, 22. 13 Michael Fahlbusch: Grundlegung, Kontext und Erfolg der Geo- und Ethnopolitik vor 1933. In: Ebd., 103 – 146, 114. 14 Willi Oberkrome: Raum und Volkstum in der deutschen Historiographie des frühen 20. Jahrhunderts. In: Ebd., 301 – 324, 313, 316. 15 Adolf Hitler : Monologe im Führer-Hauptquartier, 70 (25. 09. 1941), 78 (13. 10. 1941), 398 f.

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Diese Indienstnahme, die sich in der Ideologie eines »Volks ohne Raum« zu einem historischen Phantomschmerz der nationalsozialistischen Gesellschaft mit völkermordenden Folgen steigerte,16 hat nach 1945 die Kategorie Raum förmlich aus dem politischen und historischen Denken ausgelöscht, wie die jahrzehntelange Ächtung des Begriffs »Geopolitik«17 belegt. Unberührt von dieser tendenziellen Tabuisierung des Raums, die die Grenzen des Sagbaren in der Bundesrepublik für den Heimatvertriebenen ebenso definierte wie für den Historiker, blieb allein die »Raumerfassung« der Landesgeschichte. Sie verfolgte in der Tradition des deutschen Föderalismus unbeirrt die Verklammerung von historischen und politischen Räumen und forscht, vom Zeitgeist einigermaßen unbeachtet, bis heute gern nach historischen Bestätigungen für landsmannschaftliche Besonderheiten. Hier wurzelt eine wirksame geschichtspolitische Indienstnahme der Vergangenheit zum Zweck der regionalen Identitätsbildung, die auch heute noch in den einzelnen Ländern der Bundesrepublik mehr oder minder stark zu erleben ist und auf die politische Akzeptanzstärkung ebenso zielt wie auf die Herausstellung von landestypischen Attraktionsmerkmalen im Wettbewerb um die Touristengunst. Die Frage nach einem Landesgedächtnis unterhalb des Nationalgedächtnisses ist, wie Willi Oberkrome (*1959) spitz formulierte, darauf gerichtet, »der Bevölkerung mit Hilfe einer (…) historisierenden Staffage aus Hochglanzbänden, TV-Reportagen und gefälligen Ausstellungen eine vergangenheitsgesättigte Landesidentität zu vermitteln«.18 Gerecht ist dieses Urteil freilich nur, wenn man hinzufügt, dass der nach 1945 in Deutschland vollzogene Übergang von der Heldenverehrung zum Opfergedenken auch die Konturierung historischer Landesidentitäten nicht unberührt gelassen hat: Längst haben mit Schuld und Scham belastete Verbindungen von Raum und Erinnerung dieselbe identitätsstiftende Bedeutung für die jeweiligen Landesgedächtnisse errungen wie ehedem mythenstiftende Schlachtorte. Und ebenso wie ausgangs des 19. Jahrhunderts deutsche Kulturlandschaften um Bismarcktürme und Kaiserdenkmäler wetteiferten, so sorgt sich heute ein Bundesland wie Mecklenburg-Vorpommern um seine landesgeschichtliche Verarmung, weil es mit Prora, Peenemünde und Alt-Rehse höchstens drei NSbezogene Gedenkorte geltend machen kann, oder engagieren sich die Kulturverwaltungen der ostdeutschen Länder darum, den Opfern der stalinistischen (13. 06. 1943), zitiert nach David Blackbourn: Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der deutschen Landschaft. 2. Aufl. München 2007, 356. 16 Ulrike Jureit: Eine Art Phantomschmerz. Entwürfe vom Lebensraum in der Zwischenkriegszeit. In: Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung 21 (2012), Heft 6, 37 – 50; vgl. auch dies.: Das Ordnen von Räumen. Territorium und Lebensraum im 19. und 20. Jahrhundert. Hamburg 2012, 250 ff. 17 Görtemaker (Anm. 12), 15. 18 Oberkrome (Anm. 14), 302.

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Repressionen einen ebenso breiten Erinnerungsraum zu gewähren wie den Opfern der nationalsozialistischen Verfolgung und Vernichtung.

III.

Der kulturelle Raum des spatial turn

Von solcher geschichtspolitischen Inanspruchnahme zum Zweck erst nationaler und imperialer oder später regionaler und föderaler Identitätsbildung ist die heutige Wiederbelebung des Raumbegriffs im Zeichen des spatial turn weit entfernt. Sie sucht nicht mehr kulturelle und natürliche Raumgrenzen in politischer Absicht zur Deckung zu bringen, denn ihr Raum ist keine gegebene, natürliche Größe, sondern ein kulturelles Konstrukt, eine gesellschaftliche Vorstellung. Der Raum der modernen Kulturgeschichte wird nicht mehr durch Berge und Ozeane bestimmt, sondern durch die Bedeutung, die soziale Gruppen und Gemeinschaften ihm verleihen. Noch die schroffsten Gipfel der Alpen, die einst den Charakter des verschlossenen Bergbauern geprägt haben sollen, stellen im modernen Wissenschaftsdenken ganz unterschiedliche Raumbezüge und Raumerfahrungen bereit, je nachdem, ob dasselbe abgeschlossene Bergtal in den Alpen von einem großstadthungrigen Dorfkind hinter sich gelassen, von einem schneehungrigen Skitouristen aufgesucht, von einem Fernfahrer durchquert oder einem Klimaforscher ergründet wird. Im Raumdenken der Gegenwart sind Raum und Zeit so eng verknüpft, wie Karl Schlögels eingangs zitierter Buchtitel zum Ausdruck bringt. Sie bilden ein historisch veränderliches Raum-Zeit-Gefüge, das nach Jahrhunderten der statischen Festigkeit mit der Tempobeschleunigung des Industriezeitalters in Bewegung geraten ist. »Welche Veränderungen müssen jetzt eintreten in unsrer Anschauungsweise und in unsern Vorstellungen!«, kommentierte Heinrich Heine (1797 – 1856) im Mai 1843 die Eröffnung der Eisenbahnlinien von Paris nach Orl¦ans und Rouen: »Sogar die Elementarbegriffe von Zeit und Raum sind schwankend geworden. Durch die Eisenbahnen wird der Raum getötet, und es bleibt uns nur noch die Zeit übrig. (…) Mir ist, als kämen die Berge und Wälder aller Länder auf Paris angerückt.«19 Die Krise des Raumes wird zu einer der zentralen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, das mit seinen modernen Verkehrsmitteln Ziele verbindet und Entfernungen verkleinert, bis der immer weiter zusammengezogene Raum in der globalen Vernetzung der Teletechnologien zu verschwinden droht.20 Mit der nachlassenden Bedeutung des Raums 19 Heinrich Heine: Lutetia, LVII. In: Ders.: Werke und Briefe. Berlin (DDR) 1962, 477 – 486, 478 f.; vgl. Götz Großklaus: Medien – Zeit, Medien – Raum. Zum Wandel der raumzeitlichen Wahrnehmung in der Moderne. Frankfurt/Main 1995, 79. 20 Paul Virilio: Das dritte Intervall. Ein kritischer Übergang. In: Edith Decker/Peter Weibel: Vom Verschwinden der Ferne. Telekommunikation und Kunst. Köln 1990, 335 – 346.

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korrespondiert der Bedeutungsgewinn der (vergangenen) Zeit: Nachdem der von McDonald’s und Coca Cola uniformierte und von den modernen Kommunikationstechnologien verkleinerte Raum seine frühere Unüberschaubarkeit und Fremdheit gänzlich verloren hat, kann allenfalls noch die Zeitreise in jene unbekannten Fernen führen, die früher die Weite des Raumes versprach – die Zeitzeugenbefragung als Gegenwartsäquivalent der Abenteuerreise. Die Erinnerung aber antwortet auf die Beschleunigung mit der Beharrung, sie setzt dem Prinzip der raschen Folge den Anspruch auf Dauerhaftigkeit entgegen. Im spatial turn schlägt sich eine soziale Sehnsucht nieder, die den beschleunigungsbedingten Geborgenheitsverlust im Sinne Hermann Lübbes (*1926) durch die Ausbildung von Erinnerungsorten kompensieren will, welche den zeitlichen Wandel in der räumlichen Konstanz aufheben. Das vor dem Abriss bewahrte Altstadthaus, der erhalten gebliebene Grenzstreifen, die aufwendig restaurierte Gedenkstätte, sie geben uns die Gewissheit, dass der Zahn der Zeit nicht alles zernagt, sondern Inseln einer kulturellen Selbstvergewisserung überdauern lässt, an denen wir in unmittelbaren Dialog mit der Vergangenheit treten. Was frühere Generationen vor dem Sarkophag Friedrichs des Großen (1712 – 1786) in der Potsdamer Garnisonkirche spüren mochten, was wir Heutigen an den Erinnerungsorten der deutschen Teilung erfahren oder im Besuch einer KZ-Gedenkstätte oder auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs, ist die Überwindung der unwiederbringlich verflossenen Zeit durch einen fortbestehenden Raum, der Teilhabe durch Begegnung stiftet. Noch das Feld der Schlacht von Cannae vom 2. August 216 v. Chr. bietet sich für uns wie selbstverständlich auch nach mehr als 2000 Jahren noch so dar, wie es Hannibal (um 246 – 183 v. Chr.) sah, als er seine das römische Heer vernichtende Umfassungsstrategie in die Tat umsetzte, und es scheint uns eine ungehörige Normabweichung, dass der durch die apulische Hochebene mäandernde Fluss Ofanto, damals Aufidus, seinen Lauf seither mehrfach verändert hat und somit die taktische Meisterleistung des Feldherrn Hannibal nur noch unvollkommen erkennbar macht. Das Raum-Zeit-Gefüge hat in unserer Epoche der Erinnerungskultur die Verhältnisse umgekehrt. So wie in der Moderne des 20. Jahrhunderts der Raum durch die Zeit vernichtet wurde, bietet in der Nachmoderne der Raum der Erinnerung die Chance, den Fluss der Zeit anzuhalten und die Vergangenheit in die Gegenwart zurückzuholen.

IV.

Die Aura des Authentischen

Damit die räumlich greifbare Vergangenheit aber Bedeutung für die Gegenwart gewinnt, muss sie von bestimmter Beschaffenheit sein, die sie uns interessant und anziehend macht. Von dieser notwendigen Eigenschaft sprach Johann

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Wolfgang von Goethe (1749 – 1832) in einem Brief am 17. August 1797 aus Frankfurt am Main, in dem er Friedrich Schiller (1759 – 1805) von seiner eigentümlichen Beobachtung berichtete, »daß die Rechenschaft, die ich mir von gewissen Gegenständen gab, eine Art von Sentimentalität hatte«. Was den Weimarer Staatsrat Goethe bei der Rückkehr an vertraute Stätten seiner Vaterstadt anwandelte und durch manche »liebevolle Erinnerung« verstärkt wurde, nannte er eine »sentimentale Erscheinung«, die er gleichwohl nicht auf sich selbst zurückführte, sondern auf den Raum der Erinnerung selbst. »Woher denn also«, fährt Goethe fort, »diese scheinbare Sentimentalität, die mir um so auffallender ist, weil ich seit langer Zeit in meinem Wesen gar keine Spur, außer der poetischen Stimmung, empfunden habe. Möchte nicht also hier selbst poetische Stimmung sein, bei einem Gegenstande der nicht ganz poetisch ist, wodurch ein gewisser Mittelzustand hervorgebracht wird?« Nicht sich sah Goethe als Quelle seiner erinnernden Sentimentalität, sondern den Raum, den Ort, den Gegenstand selbst, an dem diese Erinnerungen hafteten: »Ich habe daher die Gegenstände, die einen solchen Effect hervorbringen, genau betrachtet«, setzt Goethe dem krank daniederliegenden Freund in Jena auseinander, »und zu meiner Verwunderung bemerkt daß sie eigentlich symbolisch sind. (…) Bis jetzt habe ich nur zwei solcher Gegenstände gefunden: den Platz auf dem ich wohne, der in Absicht seiner Lage und alles dessen was darauf vorgeht in einem jeden Momente symbolisch ist, und den Raum meines großväterlichen Hauses, Hofes und Gartens.«21 Gegenstand, Platz, Raum – alle Formen der Räumlichkeit konnten für Goethe Bedeutung tragen und verfügten über die Eigenschaft, ihren Betrachter anzurühren. Woher aber bezieht der Raum sein besonderes Wirkungsvermögen, das Goethe an sich selbst beobachtete? Diese Kraft ist uns Heutigen vertrauter als dem an Schiller schreibenden Dichterfürsten, seitdem Walter Benjamin (1892 – 1940) sie in seiner Betrachtung über das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit analytisch zu fassen versucht hat: Es ist die Aura der historischen Authentizität, die die zeitliche Spanne zwischen Jetzt und Früher aufhebt und die Vergangenheit unmittelbar erfahrbar macht. Die Sehnsucht nach dem Authentischen ist ein Paradigma der Gegenwart, dessen Wirkungskraft umso höher ist, als seine Zeitbedingtheit kaum reflektiert wird. Im Glauben an eine rückholbare Authentizität von Stadtsilhouetten schießen in Deutschland verloren geglaubte Schlösser und Kirchen empor und werden wie ganze Stadtviertel in historischer Originaltreue wieder aufgebaut. Die Sehnsucht nach dem Authentischen sorgt für den Boom des Geschichtstourismus, der mittlerweile 21 Goethe an Schiller, 17. 08. 1797. In: Wilhelm Vollmer (Hrsg.): Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794 bis 1805, Dritte Ausgabe, Erster Band vom Jahre 1794 bis 1797. Stuttgart 1870, Nr. 358, 337 ff.

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etwa in der Bundeshauptstadt Berlin zu einer der am stärksten sprudelnden Einnahmequellen geworden ist. Über die Frage, bis zu welchem Grad historische Rekonstruktionen vom verlorenen Original abweichen können und dürfen, entspinnen sich in unserer Zeit Kontroversen von einer früher ungekannten Leidenschaftlichkeit, die dramatisch von der Originalitätsgleichgültigkeit absticht, in der noch vor dreißig und vierzig Jahren Fragen von Sanierung und Rekonstruktion im Bereich von Architektur und Städtebau verhandelt wurden.22 Eine prägende Rolle in diesem Orientierungswandel kommt dabei dem geschichtskulturell besetzten Raum zu, der als »Erinnerungsort«, »Gedenkort« und »Lernort« ebenso wie als Erinnerungslandschaft oder Topographie des Terrors mittlerweile zu ubiquitärer semantischer Verwendung gelangt ist. Die wichtigste und Dignität verbürgende Qualität des Authentischen in der gegenwartsbestimmenden Vergangenheitsverständigung liegt in seiner beanspruchten oder zugeschriebenen Bedeutung, als echt und originär zu gelten und damit für verbürgt und »wahrhaftig, eigentlich, unvermittelt, unverstellt, unverfälscht«.23 Die Sehnsucht nach dem Authentischen bedient ein weit über die Geschichtskultur hinausweisendes Bedürfnis unserer Zeit, die dem Originalen eine besondere Aura, eine besondere Strahlkraft, ein besonderes Fluidum beilegt – denn nur im authentischen Raume lesen wir die historische Echtzeit der Vergangenheit, die uns heute mehr beschäftigt als die einstige geopolitische Träumerei von zu erschließenden Zukunftsräumen. Die Suche nach dem authentischen Vergangenheitszeugnis, in dem das Relikt sich als säkularisierte Reliquie präsentiert, trieb 1989 die Berliner und BerlinBesucher, die sich ein Stück Vergangenheit aus dem Beton der DDR-Grenzanlagen klopften, und sie lässt uns die »authentischen Orte« aufsuchen, die den Unterschied zwischen Gedenkstätte und Museum ausmachen. Der Anspruch auf Authentizität rangiert wie selbstverständlich höher als die Forderung von Funktionalität oder ästhetischer Gefälligkeit, wenn bei der Neuverputzung von Altbauten die Spuren der Kämpfe um Berlin und andere Städte am Ende des Zweiten Weltkriegs oder im Reichstagsgebäude des Deutschen Bundestags die kyrillischen Graffiti eingedrungener Soldaten bewahrt werden. In der Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn wurde vor wenigen Jahren selbst der Austausch von Bodenlinoleum und originalen Wandtapeten mit Farbkontrasten 22 Zu Begriff und Konjunktur der historischen Authentizität als kulturellem Gegenwartsphänomen: Martin Sabrow: Sehnsucht nach dem Authentischen. Der Glaube an das Echte und die Gebeine Friedrichs des Großen. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 67 (2013), Heft 9, 767 – 777. 23 Susanne Knaller/Harro Müller : Authentisch/Authentizität. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 7. Stuttgart 2005, 40 – 65, 43. Entsprechend steckt in der griechischen Wurzel des Begriffs »authentikûs« das Präfix »selbst«, »eigen« (gr. »autûs«).

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akribisch sichtbar gemacht, um die DDR-Vergangenheit räumlich möglichst unmittelbar erlebbar und jedem Besucher nachvollziehbar zu machen, ob er gerade auf authentischem oder erneuertem Bodenbelag durch die ehemalige Abfertigungsbaracke des Zwangsumtauschs schritt. Auch der Raum der Erinnerung ist nicht natürlich gegeben, sondern sozial erzeugt, er ist keine reale Größe, sondern ein kulturelles Gebilde, und ebenso ist es die Aura des Authentischen. Goethe dachte darüber noch anders. Für ihn war ausgemacht, dass der sentimentale »Effect« der Gegenstände sich keiner Einbildung des Betrachters verdankte, sondern auf einer Eigenschaft der historischen Relikte selbst beruhte. Sein Brieffreund Schiller sah sofort, wie unhaltbar diese Annahme war : »Nur eins muß ich dabei noch erinnern. Sie drücken sich so aus, als wenn es hier sehr auf den Gegenstand ankäme; was ich nicht zugeben kann. Freilich der Gegenstand muß etwas bedeuten, so wie der poetische etwas seyn muß; aber zuletzt kommt es auf das Gmüth an, ob ihm ein Gegenstand etwas bedeuten soll, und so däucht mir das Leere und Gehaltreiche mehr im Subject als im Object zu liegen. (…) Was Ihnen die zwei angeführten Plätze gewesen sind, würde Ihnen, unter andern Umständen, bei einer mehr aufgeschlossenen poetischen Stimmung, jede Straße, Brücke, jedes Schiff, ein Pflug oder ein anderes mechanisches Werkzeug vielleicht geleistet haben.«24

V.

Objekt – Ort – Region: Die auratischen Authentizitätsstufen

Friedrich Schiller hatte recht – es sind unsere kulturellen Sinnwelten, unsere sozialen Milieus, unsere individuellen Lebensprovinzen, die die Räume des Erinnerns konstituieren und ihnen die Aura verleihen, ohne die sie in sich zusammenfallen. Die Berliner Siegesallee, auf der die zweiunddreißig Figurengruppen der brandenburgischen Kurfürsten und der preußischen Könige puppengleich aufgereiht waren, ist ein solcher zusammengefallener Raum, dessen Relikte heute beziehungslos im Museumshof der Zitadelle Spandau herumstehen. Anschauungsunterricht über den gezielten Zusammenfall von Erinnerungsräumen lieferte in der DDR die SED-Baupolitik, die Schlösser und Herrenhäuser schleifte, Kirchen sprengte und Altstädte verfallen ließ, und lieferte auch der Untergang des SED-Staates, der gleichzeitig das Ende der antifaschistischen Erinnerungsräume in Gestalt von betrieblichen Traditionskabinetten, städtischen Lenindenkmälern und heroisierenden Gedenkorten bedeutete. Der Raum der Erinnerung ist labil, er unterliegt dem politisch-kulturellen Wandel der Jahrzehnte, aber auch der individuellen Eigenart von Betrachtung und Aneignung. Wer das von Peter Eisenman (*1932) geschaffene Denkmal für 24 Schiller an Goethe, 07. 09. 1797 (Anm. 21), Nr. 365, 360 (Hervorhebungen im Original).

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die ermordeten Juden Europas in der Mitte Berlins aufsucht, erlebt hautnah, wie unterschiedlich gegenwärtig die Erinnerung in diesem Raum sein kann. Manche Besucher ergreift Beklemmung, andere höchstens das Blitzlicht der Digitalkamera oder der Wunsch nach einem Sonnenbad auf den Stelen; und im selben Raum der Berliner Mitte überlagern sich die Erinnerungen an die Bismarck’sche Reichskanzlei in der Wilhelmstraße mit denen an das Ende des NS-Staates im Führerbunker unter der Neuen Reichskanzlei und schließlich mit denen an die friedliche Mauersprengung in der erodierenden DDR. Immer aber ist es eine nur zugeschriebene Authentizität, die den Raum der Erinnerung schafft, keine Eigenschaft der historischen Räume und ihrer Dinge selbst. Dabei bindet sich die Aura des Authentischen in unterschiedlicher Weise an den Raum. Wie schon im Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller aufleuchtet, heben sich drei unterschiedliche Räumlichkeiten der Erinnerung voneinander ab, die zugleich abgestufte auratische Kraft auf sich ziehen können, nämlich zum einen die scharf umrissene, aber zugleich im Raum verschiebbare Ausdehnung des gegenständlichen Objekts, zum zweiten die klar definierte Lage des Ortes und drittens schließlich die unscharf begrenzte Ausdehnung des Raumes als Region, die ihrerseits Orte und Plätze ebenso wie Objekte in sich bergen kann. Auratisch am stärksten aufladbar sind dabei materielle Gegenstände. Auf die Repräsentanten der Dingwelt konzentriert sich die Wirkungsmacht der historischen Authentizität, und sie verfügen in der Regel über die klarste Zuordnung der Erinnerung. Selten sind die Fälle solcher radikalen Umschreibung, wie sie dem Bundeskanzleramt widerfuhr, das in den 1950er-Jahren um ein Haar eine zum Adenauer-Porträt umgearbeitete Hitler-Büste erworben hätte. Gemeinhin weisen dingliche Objekte eine stabilere Verortung im kulturellen Gedächtnis auf als Orte oder Regionen, auch wenn sich ihre kulturelle Aufladung etwa als Trophäe und Reliquie oder bloßer Überrest in kurzer Zeit verändern kann, wie wiederum die Beutebrocken der Mauerspechte von 1989/90 lehren: Als politische Trophäe aus der Schandmauer herausgeschlagen und als begehrte Geschichtsskulpturen in alle Welt verstreut, mutierten die schwer beschädigten Betonsegmente der Berliner Mauer in den 1990er-Jahren zu einer zivilreligiösen Reliquie, um deren zulässige oder unzulässige Lückenergänzung in der Gedenkstätte Berliner Mauer ein erbitterter Streit entbrannte, während umgekehrt die ursprünglich vielleicht teuer erworbenen Ersatzreliquien in Gestalt bunt bemalter Mauerbröckchen heute in zahllosen Haushalten ein eher unbeachtetes Schachteldasein als bedeutungslos gewordene Relikte führen mögen. Dennoch besitzen Objekte die räumlich stärkste Erinnerungspräsenz. Sie stiften die besondere Würde und Anziehungskraft von Erinnerungsorten, sie machen sie für den Besucher fassbar und zeigen ihre erinnerungskulturelle Überlegenheit in Fällen, wo Ort und Objekt in Konkurrenz stehen: Eisenhüttenstadt ist als erste

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sozialistische Stadt der DDR ein herausragender Erinnerungsort der kommunistischen Moderne mit ihren futuristischen Reißbrettplänen – aber es ist das dortige Dokumentationszentrum Alltagskultur mit seinen unzähligen DDRObjekten, auf das sich das Interesse der Besucher konzentriert, die die Stadt aus Eisenhütten aus DDR-geschichtlichen Motiven aufsuchen. Nächst den Objekten sind es die Orte und Plätze, die den Raum der Erinnerung physisch füllen und erlebbar machen. Erinnerungsorte können authentische Objekte umschließen, aber anders als diese sind sie räumlich fixiert und in ihrer Authentizität nur dank dieser eindeutigen Lage erlebbar. Zuweilen kann die Aura des Authentischen sogar im materiellen Sinne gegenstandslos werden und sich auf Gestalt und Lage allein beziehen, wenn in Berlin und Potsdam die Hohenzollern’schen Stadtschlösser wieder erstehen, oder in Leipzig die Silhouette der gesprengten Universitätskirche nachgezeichnet wird. Dieser vom konkreten Gegenstand zum abstrakten Raum gewanderten Echtheitsvorstellung kommen die gewandelten Standards des Denkmalschutzes entgegen, der früher strikt an Georg Dehios (1850 – 1932) Credo »Konservieren, nicht restaurieren« festhielt und zögernd später neben Material und Substanz zunehmend auch Form und Lage als Ausweis baulicher Echtheit anerkannte.25 Die entscheidende Trägerrolle in der Echtheitsbeglaubigung historischer Orte übernehmen allerdings am Ende doch hier wieder die Objekte, die den Neubau authentifizieren und stellvertretend die Aura des verlorenen Gebäudes von den authentischen Relikten auf die kopierten Steine übertragen. Für die Dresdner Frauenkirche sind dies die schwarzgebrannten Steine der zerbombten Ruine, die bei der Wiedererrichtung sorgsam in situ eingebaut wurden und ihren harten Farbkontrast allmählich verlieren; für die Stadtschlösser in Berlin und Potsdam sind es die aus dem Schutt geborgenen Fassadenteile und für die Potsdamer Garnisonkirche gar ein schlichter Altartisch, der um 1800 in seinen ursprünglichen Abmaßen erneuert worden war und – längst ausgemustert – nach dem Luftangriff vom April 1945 aus der Taufkapelle gerettet werden konnte. Die Beziehung von Raum und Erinnerung ist an Orten regelmäßig weniger 25 »Authenticity […] appears as the essential qualifying factor concerning values. The understanding of authenticity plays a fundamental role in all scientific studies of the cultural heritage, in conservation and restoration planning, as well as within the inscription procedures used for the World Heritage Convention and other cultural heritage inventories. […] Depending on the nature of the cultural heritage, its cultural context, and its evolution through time, authenticity judgements may be linked to the worth of a great variety of sources of information. Aspects of the sources may include form and design, materials and substance, use and function, traditions and techniques, location and setting, and spirit and feeling, and other internal and external factors. The use of these sources permits elaboration of the specific artistic, historic, social, and scientific dimensions of the cultural heritage being examined.« (The Nara Document on Authenticity, 1994, http://whc.unesco.org/uploads/events/documents/event-833 – 3.pdf, 04. 09. 2013).

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eindeutig als bei Objekten – historische Plätze sind vielfach polyvalent und Objekte häufig monovalent. Orte und Plätze sind infolge ihrer physischen Unverrückbarkeit weniger leicht umzucodieren und folglich stärker umkämpfte Erinnerungsräume, wie nicht nur der Umgang mit den Hinterlassenschaften der europäischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts eindrucksvoll lehrt oder die Debatte um die Umbenennung von Straßen, sondern auch der scheinbar so friedliche Wiederaufbau kriegszerstörter Stadtsilhouetten. In Potsdam lässt sich seit zwanzig Jahren tagtäglich der so stumme wie verbissene Zweikampf erleben, den die restaurierten Zeugen der preußischen Vorvergangenheit mit den verfallenden Relikten des gebauten Sozialismus austragen und in dem der Raum der Erinnerung zu einem städtebaulichen Schlachtfeld der Gedächtnisse geworden ist – auf der einen Seite der borussisch getönte Geist von Potsdam und dort die sozialistische Idee des Fortschritts und mittendrin das städtebauliche Gegenwartskonzept der versöhnten Brüche. Die diffuseste räumliche Bindung zur Erinnerung hat nach dem Objekt und dem Ort die Region. Die Aura ihrer Authentizität findet im unscharf begrenzten Raum der Landschaft ihre schwächsten Haltepunkte, denn ihr Raum ist in seiner physischen Gestalt nur wenig erfahrbar, sondern so abstrakt, wie ihre Grenzen eben nur politisch oder kulturell sind. Nur scheinbar vermag der gern gebrauchte Begriff der »historischen Kulturlandschaft« dieses Manko auszugleichen; tatsächlich bezeichnet aber auch er »weniger ein materielles Produkt als vielmehr eine gedachte Konstruktion«.26 Regionen und Territorien sind daher am leichtesten geschichtspolitisch besetzbar, sie setzen ihrer politischen Aufladung am wenigsten die Beharrungskraft der Anschauung entgegen, um Reinhart Kosellecks Diktum von der Vetokraft der Quellen aufzunehmen. Die systematische Unterscheidung stößt hier freilich an ihre eigenen Grenzen: Ort und Region können ineinander fließen, wie allein die Erinnerungsfunktion des Platzes im Konzept der europäischen Stadt zeigt.27 Erinnerungsräume können sich weiterhin nicht selten am kohärentesten als Folge von Orten präsentieren, wie sie der Geschichtstourismus für zahlreiche Regionen und Landschaften bereithält und in Berlin-Brandenburg etwa der Mauerweg, der den Verlauf der ehemaligen DDR-Grenzanlagen zu West-Berlin kennzeichnet: 26 Unter Bezug auf Andreas Dix: Barbara Wunsch: Historische Kulturlandschaft und Denkmalpflege. Jahrestagung 2009 des Arbeitskreises Theorie und Lehre der Denkmalpflege e.V. Bamberg, 30. September bis 3. Oktober 2009. In: kunsttexte.de, Nr. 1, 2010, S. 1 – 9, http:// edoc.hu-berlin.de/kunsttexte/2010 – 1/wunsch-barbara-21/PDF/wunsch.pdf (08. 10. 2013). 27 Nicht zufällig widmet eine von Etienne FranÅois (*1943) besorgte Zusammenstellung europäischer Erinnerungsorte, die nach dem europäischen Gedächtnis fragt, sich besonders herausgehoben dem städtischen Platz als coeur de la ville europ¦enne: Etienne FranÅois/ Thomas Serrier : Lieux de m¦moire europ¦ens: La documentation FranÅaise, Dossier 8087. Paris 2012, 28 f.

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»Er führt über rund 160 Kilometer um die einstige Halbstadt herum. In den meisten Abschnitten verläuft die Rad- und Wanderroute auf dem ehemaligen Zollweg (WestBerlin) oder auf dem so genannten Kolonnenweg, den die DDR-Grenztruppen für ihre Kontrollfahrten angelegt hatten. Historisch interessante Abschnitte, in denen sich noch Mauerreste oder Mauerspuren auffinden lassen, wechseln mit landschaftlich reizvollen Strecken, die die Freude über die wiedergewonnene Einheit des Landes wachrufen.«28

Reale oder imaginierte Anschaulichkeit und räumliche Abstraktheit greifen in diesem Beispiel hilfreich ineinander und machen hinter den Objekten und den Orten offenere und diffusere Räume der Erinnerung sichtbar. Regionalen Erinnerungskulturen dagegen fehlt dieses Widerlager der gegenständlichen Sichtbarkeit in aller Regel. In einer Zeit der medialen und kommunikativen Überwindung aller räumlichen Schranken stehen Stadt- und Landesgedächtnisse mit ihren zunächst nur administrativen und politischen Grenzen unter dem nicht leicht abweisbaren Verdacht, nichts als geschichtspolitische Konstrukte zu sein, deren Bindungskraft kaum über die parlamentarische Rednertribüne und die lokalhistorische Zeitungsglosse hinausreicht. Die westfälischlippische-niedersächsische Aneignung der Varusschlacht oder die Hamburger Kriegserfahrung der Operation Gomorrha oder die Schweriner Arbeiterbewegung oder auch die lebensweltliche Erfahrung des Wattenmeers und des Gezeitenwechsels – vermögen sie tatsächlich eine regionale Sonderidentität zu stiften? Wenig spricht im Ganzen dafür, dass sich an ihnen ein besonderes und unterscheidbares Gedächtnis von Stadt und Region analytisch nachweisen lässt – viel aber dafür, dass auratisch aufgeladene Orte und Räume nichts als lokale und regionale Anker von in Wahrheit nationalen oder supranationalen Erinnerungsbeständen darstellen.

VI.

Fazit

Als Fazit lässt sich formulieren: Der spatial turn lässt die Gedächtnisgeschichte nicht unberührt, und er öffnet mit dem Raum der Erinnerung eine gleichermaßen verheißungsvolle wie vernachlässigte Arbeitsrichtung. Bei näherem 28 »Der Berliner Mauerweg ist ausgeschildert; in regelmäßigen Abständen helfen Übersichtspläne bei der Orientierung. Außerdem erhält man an den Stationen der Geschichtsmeile Berliner Mauer sowie den Infostelen des Berliner Mauerwegs mehrsprachige Informationen über die Teilung Deutschlands, den Bau und den Fall der Berliner Mauer. Mit Fotografien und Texten werden Ereignisse geschildert, die sich am jeweiligen Standort zugetragen haben und die politische Situation sowie den Alltag in der geteilten Stadt in Erinnerung bringen. Außerdem hilft im Innenstadtbereich ein Orientierungssystem Berliner Mauer mit Karten und Hörstationen bei der Entdeckung von interessanten Mauerresten vor Ort.« (Berlin.de. Das offizielle Hauptstadtportal, Berliner Mauerweg. http://www.berlin.de/mauer/mauerweg/index/index.de.php, 06. 09. 2013).

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Zusehen aber erweist der Raum sich gegenüber den Kategorien Ort und Objekt als ein schwer zu fassendes Phänomen der historischen Besetzung. Seine physische Unbestimmtheit birgt die Gefahr, dass die erinnerungskulturelle Erschließung des Raums in die Deutungsmuster einer überkommenen Heimatgeschichte zurückfällt oder, schlimmer noch, zum beliebig ausfüllbaren Rahmen einer geschichtspolitischen Bemächtigung wird, vor der unsere Gegenwart so wenig gefeit ist wie die Vergangenheit, auf die sie zurückblickt. Insofern sollte Karl Schlögels eingangs zitiertes Wort womöglich besser lauten: Im Raume imaginieren wir die Zeit.

Harald Schmid

Regionale Gedächtnisräume

»Das augustinische Wort, dem zufolge die Zeiterfahrung nur so lange selbstverständlich sei, wie man nicht danach gefragt wird, lässt sich wohl mit gleichem Recht auch auf den Raum anwenden.«1

I.

Raum und Gedächtnis als erinnerungskulturelle Schaltstellen. Einführende Überlegungen

Begrenzungen, Vernetzungen und Konstruktionen – diese Aspekte drängen sich beim Thema »regionale Gedächtnisräume« auf. Man denkt sofort an Begrenzungen räumlicher, inhaltlicher und historischer Beschaffenheit, an Vernetzungen von Geschichtsbildern und historisch fundierten Identitäten sowie an Wahrnehmungskonstruktionen. Tatsächlich geht es jedoch um mehr, denn das Forschungsproblem und die Erkenntnispotenziale liegen in dem Umstand begründet, dass die jüngeren Debatten um die Begriffe respektive Konzepte Raum und Gedächtnis ebenso wie die Verknüpfung der Raum- und Gedächtnisperspektive neue Zugänge eröffnen und neue Fragen an ältere Forschungsfelder – und gleichsam »Untiefen« eines neuen Reduktionismus provoziert haben. Nach den sozial- und kulturtheoretischen Debatten der etwa letzten beiden Jahrzehnte ist das wissenschaftliche Verständnis der Kategorie »Raum« einer primär oder nur geografisch definierten Vorstellung desselben entwachsen. Auch hat das Verständnis von »Gedächtnis« längst das simple alte Speicherbild hinter sich gelassen. Das Bewusstsein dialektischer Relationen zwischen physikalisch-materiellem, sozialem und imaginärem Raum bestimmt heute das Nachdenken. Ebenso prägt es die Sensibilisierung für Spannungsfelder zwischen primärer historischer Erfahrung und deren individueller und kollektiver Vergegenwärtigung. Sowohl Räume als auch Gedächtnisse werden in dieser inter1 Jörg Dünne/Stephan Günzel: Vorwort. In: Dies. (Hrsg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt/Main 2006, 9 – 15, 9.

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disziplinären Forschungsbewegung kategorial neu konzipiert, wobei die eher seltene Verknüpfung beider Zugänge dazu auffordert, Fragen nach Wechselwirkungen zwischen dem Räumlichen und dem Gedächtnis zu diskutieren und Antworten hierauf zu entwerfen.2 Mit dieser doppelten Sensibilisierung, einem Blickwechsel von materiellmechanischen Modellen hin zu sozialkonstruktivistischen Ansätzen, wird gefragt nach der Entstehung, Wahrnehmung und Konstruktion ebenso wie nach der Identitäts- und Handlungsfunktion von Räumen im Medium des Gedächtnisses wie umgekehrt nach dem Stellenwert von Erinnerung, Geschichte und Gedächtnis in Raumbezügen.3 Die wissenschaftliche Bedeutung dieses Ansatzes lässt sich nicht mit dem Vorwurf akademischer Modeerscheinung abtun, obgleich darin gewiss auch Modisches mitschwingt und manche überkommene Fragestellung nun als neugekleidete »Verräumlichung von Problemwahrnehmungen«4 daherkommt. Tatsächlich liegt die Relevanz der Fragestellung besonders darin, dass sie einen Beitrag zum Verständnis komplexer Vorgänge im Feld kollektiver, historisch fundierter Selbstbilder in ihrem wechselseitigen Wirkungsgefüge leistet. Es geht somit um ein besseres Verständnis gesellschaftlicher, politischer und kultureller Aneignungen von Vergangenheit. Hierzu ist es erforderlich, immer wieder Empirie und Theorie, Fallbeispiele und theoretische Analyse miteinander zu verbinden. Die damit umrissene grundlegende Problemstellung ist hier durch folgende These situiert: Regionale Gedächtnisse sind als subnationale Vergegenwärtigungsmuster von Vergangenheit gleichsam Schaltstellen im räumlich-politischen Schichtaufbau von Gesellschaften. Sie stehen in engem Austausch »nach unten« zu den Gedächtnisorten und »nach oben« zur nationalen, mithin zur internationalen Ebene. Verstanden als eine Art Relais, haben regionale Gedächtnisse eine Umwandlungs- und Vermittlungsfunktion: zwischen Ebenen des Raums, zwischen Ebenen der politisch-staatlichen – sei es föderalistischen oder zentralistischen – Organisation, und inhaltlich zwischen Geschichten respektive Geschichtsnarrativen und damit auch zwischen Ebenen der kollektiven, also gruppenbezogenen Identitätsentwürfe. Sie sind hierbei gekennzeichnet von spezifischen, auf dieser mittleren Ebene handelnden Akteuren, durch deren Agieren regionale Gedächtnisse überhaupt erst entstehen.5 Von »Schaltstellen«

2 Vgl. den aktuellen Überblick bei Petra Ernst/Alexandra Strohmaier (Hrsg.): Raum: Konzepte in den Künsten, Kultur- und Naturwissenschaften. Baden-Baden 2013. 3 Dazu jetzt die Einführung in die historische Raumanalyse von Susanne Rau: Räume. Konzepte, Wahrnehmungen, Nutzungen. Frankfurt/Main 2013. 4 Jürgen Osterhammel: Die Wiederkehr des Raumes: Geopolitik, Geohistorie und historische Geographie. In: Neue Politische Literatur 43 (1998), 374 – 397, 375. 5 Siehe hierzu etwa die Beiträge in: Janina Fuge/Rainer Hering/Harald Schmid (Hrsg.): Das

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zu sprechen, meint hierbei einen Knotenpunkt, an dem »disparate (…) Geschichten« (Adam Krzeminski (*1945)) aufeinandertreffen und etwas Neues entsteht. Dass es dabei zu Brüchen und Widersprüchen einerseits mit nationalen, andererseits mit lokalen Gedächtnisstrukturen kommen kann, liegt auf der Hand. Auf dieser Grundlage geht es im Folgenden um einige grundsätzliche Überlegungen zum theoretischen Kontext, in der die Frage nach dem Zusammenhang von Geschichte und Gedächtnis mit Raumerfahrung und -konstruktion im Mittelpunkt steht.

II.

»Gedächtnislandschaften«. Geschichten, Gedächtnisse und Räume im theoretischen Kontext

Der US-amerikanische Historiker Hayden White (*1928) hat allen, die professionell mit Vergangenheit und Geschichte zu tun haben, eine fundamentale Erkenntnis mit auf den Weg gegeben: Jegliche Darstellung von Vergangenheit, jegliche Geschichtsschreibung ist gleichsam imprägniert durch erkenntnispräformierende Erzählmuster.6 Der sich nicht zuletzt auf seine Schriften beziehende cultural respektive linguistic turn hat dem überkommenen »narrativen Realismus« gewissermaßen einen schweren Stoß verpasst. Seither ist das Ranke’sche Objektivitätspostulat, die Position des Erzählens »wie es eigentlich gewesen« ist, sozusagen theoretisch unterhöhlt. Dadurch ist diese Haltung kategorisch zur (Selbst)Reflexion genötigt und damit durchsetzt. Man kann dieser erkenntnisund geschichtstheoretischen Differenzierung nur um den Preis der Verdrängung oder der Unterkomplexität eigenen Denkens und historischen Erzählens ausweichen.7 Hayden Whites Pointe markiert eine erkenntnistheoretische Position, die aus traditionaler oder auch konventioneller historiografischer Perspektive zunächst als Zumutung erscheint: Nicht in den Quellen, sondern in der vom Geschichtsschreiber benutzten Sprache respektive Rhetorik liegt die eigentliche Botschaft und die Sinnkonstruktion der jeweils erzählten Geschichte. Anders formuliert, mit Werner Bohleber (*1942): »Wahrheit ist (…) nicht als etwas Gedächtnis von Stadt und Region. Geschichtsbilder in Norddeutschland. 2. Aufl. MünchenHamburg 2011 (2010). 6 Hayden White: Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses. Mit einer Einführung von Reinhart Koselleck. Stuttgart 1991; ders.: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa. Frankfurt/Main 1994; ders.: The fiction of narrative. Essays on history, literature, and theory 1957 – 2007. Hrsg. und eingel. von Robert Doran. Baltimore 2010. 7 Eine brillante Einführung in die Problematik bietet Hans-Jürgen Goertz: Unsichere Geschichte. Zur Theorie historischer Referentialität. Stuttgart 2001.

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Verborgenes unmittelbar aufzufinden, sondern sie ist stets in ein Narrativ eingebunden«.8 Oder mit Paul Watzlawick (1921 – 2007) gesagt: »Wirklichkeit (…) ist (…) das Produkt von Kommunikation.«9 Dies gilt auch für historische Wahrheit: Die sprachliche Konstruktion von Vergangenheit als textlich, bildlich, filmisch oder künstlerisch erzählte Geschichte(n) ist die kulturelle Form jeglicher Vergegenwärtigung und Vermittlung früherer Ereignisse und Epochen. Hier möchte ich ansetzen, allerdings mit veränderter Fragerichtung: Gilt Ähnliches für den Zusammenhang von Gedächtnisbildung und Raumwahrnehmung? Was bedeutet das konkret? Dieser Band widmet sich ja dem Fokus »Norddeutschland als regionaler Gedächtnisraum«. Norddeutschland bezeichnet als Raumkategorie selbstredend die geografische Eingrenzung, aber was besagt dieser Begriff in konstruktivistischer Perspektive unter raumanalytischer und gedächtnisgeschichtlicher Hinsicht? Treten wir noch einmal einen Schritt zurück zur theoretischen Versicherung. Zwei Soziologen des frühen 20. Jahrhunderts sind hier einschlägig: Georg Simmel (1858 – 1918) und Maurice Halbwachs (1877 – 1945). Simmel hat in seinem Grundlagenwerk Soziologie im Jahre 1908 in einem fast hundert Seiten umfassendes Kapitel den »Raum und die räumlichen Ordnungen der Gesellschaft« reflektiert. Darin entwickelt er eine komplexe Raumtheorie, die zunächst widersprüchlich, aber selbst aus heutiger Sicht noch modern erscheint. Einerseits beschreibt er den Raum als »die (immer) an sich wirkungslose Form, in deren Modifikationen die realen Energien sich zwar offenbaren, aber nur, wie die Sprache Gedankenprozesse ausdrückt, die allerdings in Worten, aber nicht durch Worte verlaufen. (…) Nicht der Raum, sondern die von der Seele her erfolgende Gliederung und Zusammenfassung seiner Teile hat gesellschaftliche Bedeutung.«10 Andererseits, so Simmel, »ist die Betonung der Raumbedeutungen der Dinge und Vorgänge nicht ungerechtfertigt«, denn »an ihr (besitzen wir) die klarste Dokumentierung der realen Kräfte«. Von hier aus bestimmt er »Grundqualitäten der Raumform«: erstens die »Ausschließlichkeit des Raumes«; zweitens den praktischen Zerfall des Raumes in Einheiten, die von Grenzen eingerahmt sind; drittens die Fixierung, die der Raum Inhalten ermöglicht; viertens die »sinnliche Nähe oder Distanz zwischen den Personen, die in irgendwelchen Beziehungen zu einander stehen«; und fünftens die Beweglichkeit respektive der Ortswechsel, den Simmel unter dem Begriff des »Wanderns« erörtert. Alle diese Grundqualitäten des Raumes fließen zusammen in der sekundären Wirkmächtigkeit des Raumes; nicht der Raum an sich, sondern 8 Werner Bohleber : Editorial: Erinnerung und Vergangenheit in der Gegenwart der Psychoanalyse. In: Psyche 57 (2003) 9 – 10, 783 – 788, 783. 9 Zitiert nach Goetz: Unsichere Geschichte (Anm. 7), 85. 10 Georg Simmel: Soziologie. Leipzig 1908, 615. Folgende Zitate: 616, 617, 630, 640, 670.

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dessen Ausgestaltung prägt uns und nimmt uns gefangen. Ein Raum, so ließe sich Simmels Position resümieren, entsteht erst dadurch, dass sich eine gesellschaftliche Gruppe seiner bemächtigt und diesen damit gewissermaßen kodiert. Der Raum wirkt dann aber auch auf die Gruppe zurück, indem er kollektive Erinnerung ermöglicht und prägt.11 Simmels Raumverständnis einer sekundären Wirksamkeit wird am deutlichsten in seinem fast schon klassischen Zitat zur Grenze: »Die Grenze ist nicht eine räumliche Tatsache mit soziologischen Wirkungen, sondern eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt.«12 In diesem Sinne sei Simmel für das vorliegende Thema adaptiert: Das Gedächtnis ist eine soziologisch-kulturelle Tatsache, die sich räumlich ausprägt. Denn von den beiden Grundgegebenheiten für jegliches geschichtliche Geschehen, Zeit und Raum, ist – darauf hat Jürgen Osterhammel hingewiesen – der Raum »formbarer«, er wird regelrecht produziert. So sehr Epochen herkömmlicherweise zeitlich definiert sind, so sehr lassen sie sich auch in ihren »räumlichen Konfigurationen« erfassen.13 Räume werden durch Herrschaft strukturiert, geformt und auch benannt, in ihnen spielen sich die Machtkämpfe und gesellschaftlichen Prozesse ab und in ihnen lagern sich die Sedimente der Epoche ab, die dann das materielle Bild der Gedächtnisräume prägen. Insofern sind Zeitalter immer auch »Raumalter«. Hier kommt Maurice Halbwachs ins Spiel, der Ahnherr der jüngeren Gedächtnisforschung. Er hat seine Gedächtnistheorie eng mit zwei Faktoren verknüpft: zum einen mit den sozialen Gruppen als den Trägern respektive Akteuren des Gedächtnisses, zum anderen mit dem Raum als der geografischen Sphäre der Bedeutungskonstruktion. Halbwachs hat apodiktisch formuliert, dass es »kein kollektives Gedächtnis (gibt), das sich nicht innerhalb eines räumlichen Rahmens bewegt«. Dabei gebe »es ebenso viele Arten, sich den Raum zu vergegenwärtigen, wie es Gruppen gibt«.14 Der Raum wird so bei Halbwachs zur conditio sine qua non jeglichen Gedächtnisses. Räume strukturieren unsere Wahrnehmungen, auch unsere Wahrnehmungen von Vergangenheit – und Gedächtnisse strukturieren unsere Raumwahrnehmungen. Ohne Raum kein Gedächtnis, ohne Gedächtnis kein Raum. Wir müssen also von einer räumlichen Dependenz des Erinnerns ausgehen. Raum, und damit auch die empirischen Kategorien Region und Ort, stellen – sei es im topografischen oder im metaphorischen Verständnis – Schnittstellen zur Geschichte dar, also zur 11 Vgl. Moritz Cs‚ky/Peter Stachel (Hrsg.): Die Verortung von Gedächtnis. Wien 2001. 12 Simmel: Soziologie (Anm. 10), 623. 13 Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. Bonn 2010, 130. 14 Maurice Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis. Mit einem Geleitwort zur deutschen Ausgabe von Heinz Maus. Frankfurt/Main 1985 (frz. Orig.: 1967), 142, 161; ders.: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Frankfurt/Main 1985.

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Narrationsebene der Konstruktion von Vergangenheit. Niklas Luhmann (1927 – 1998) spricht vom »Geschichtsbedarf sozialer Systeme«15 – in diesem Sinne gibt es wechselseitige Bedingungen der Wirksamkeit: einen Raumbedarf des Gedächtnisses und einen Gedächtnisbedarf von Räumen, denn »allein das Bild des Raumes (gibt uns) infolge seiner Beständigkeit die Illusion, zu allen Zeiten unverändert zu sein und die Vergangenheit in der Gegenwart wiederzufinden«.16 Erst mit großem zeitlichen Abstand zu den zitierten grundlegenden Arbeiten, genauer : erst in den letzten zwei Dekaden ist zunächst in der Gedächtnisforschung und zuletzt auch in der Raumforschung einiges in Bewegung geraten. So hat der spatial turn, genauer : der Topographical turn die Fokussierung auf die Zeit um den Raum ergänzt.17 Nachdem Michel Foucault (1926 – 1984), ein früher Impulsgeber der neueren Raumdebatte, schon 1967 vom »Zeitalter des Raums«18 sprach, konstatierten andere die »Wiederkehr des Raums«.19 Nun wird nicht nur die »neuzeitliche Theoretisierung des Raums seit Descartes«20 historisiert, vielmehr sind auch analytische Fortschritte zu vermelden. »Raum« wird nun wenigstens zweidimensional begriffen: nicht nur als eine Art materialer Container, sondern auch als Resultat sozialer Beziehungen und Interaktionen – als variables konkretes und geistiges Produkt. Räume sind somit stets geografisch und soziokulturell bedeutsam. Zudem sind sie immer schon da und werden immer neu produziert.21 In dieser Doppelbedeutung verstanden, sind Räume immer sowohl Handlungsebene als auch kulturelle Repräsentationsebene. Von Martina Löw (*1965) stammt der analytisch wichtige Hinweis, wie die Produktion von Raum schematisch zu begreifen ist: einerseits das sogenannte Spacing, womit das Platzieren primär symbolisch bedeutsamer Güter im Raum durch die betreffenden Akteure gemeint ist, andererseits die von den Rezipi15 Niklas Luhmann: Weltzeit und Systemgeschichte. Über Beziehungen zwischen Zeithorizonten und sozialen Strukturen gesellschaftlicher Systeme. In: Peter Christian Ludz (Hrsg.): Soziologie und Sozialgeschichte. Aspekte und Probleme (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 16). Opladen o. J. [1972], 81 – 115, 99. 16 Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis (Anm. 14), 162 f. 17 Siehe die instruktive Einführung zum Themenheft »Räume«: Michael C. Frank et al. (Hrsg.): Einführung. In: Zeitschrift für Kulturwissenschaften 2/2008 (2008), 7 – 16. 18 Michel Foucault: Von anderen Räumen (1967). In: Dünne/Günzel (Hrsg.): Raumtheorie (Anm. 1), 317 – 329, 317. 19 Osterhammel: Die Wiederkehr des Raumes (Anm. 13). Noch 1986 sah sich Reinhart Koselleck hinsichtlich der Forschungslage »auf unsicherem Boden« (vgl.: Raum und Geschichte. In: Ders.: Zeitschichten. Studien zur Historik. Mit einem Beitrag von Hans-Georg Gadamer. Frankfurt/Main 2000, 78 – 96, 79). 20 Dünne/Günzel: Vorwort (Anm. 1), 9. Dazu auch die in dem Band versammelten Grundlagentexte von Descartes bis zur Gegenwart; vgl. auch Stephan Günzel (Hrsg.): Raumwissenschaften. Frankfurt/Main 2009. 21 Henri LefÀbvre: The Production of Space. Oxford 1991 (frz. Orig. 1974); Als Fallstudie siehe etwa Achim Possek: Visuelle Regionsproduktion. Ruhrgebiet im Blick. In: Zeitschrift für Kulturwissenschaften 2/2008 (2008), 65 – 76.

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enten geleistete Synthese, die Räume mental hervorbringt.22 Dabei ist unser visuelles Wahrnehmen des Raumes gleichsam immer schon vorbelastet, denn, so schreibt Simon Schama (*1945), »der Blick ist (…) selten von den Eingebungen des Gedächtnisses frei«. In seiner hier zitierten Studie Landscape and Memory (1995, deutsch: 1996), die der britische Kunsthistoriker als »Grabungen durch den Boden der Zeit« versteht, den Begriff der »Gedächtnislandschaft« geprägt und die Analyse derselben mit einem Ansatz beschrieben, der »Schichten von Erinnerungen und Symbolen« in Landschaften fokussiert und diese als Palimpsest begreift.23 Auch dieser Hinweis ist mit Blick auf Räume sowohl topografisch-konkret als auch metaphorisch zu verstehen. Denn Gedächtnisräume können vielfältig sein: Es sind nicht nur die konkreten Orte, Landschaften und materiell-kulturellen Gestaltungen im Raum, sondern beispielsweise auch juristische Gedächtnisräume, architektonische, soziale, kulturelle, religiöse/kirchliche, ökonomische, künstlerische. Sie können Milieus und Generationen umfassen, Schichten und Klassen, Ideologien ebenso wie Normen. Gedächtnisse sind also gleichsam von Katalysatoren durchzogen, die den jeweiligen Raum etwa in politischer Hinsicht kenntlich machen. Damit wird der analytische Zusammenhang von »Ort und Erinnerung« schärfer. Einem Vorschlag Andreas Langenohls (*1970) folgend, erscheint es als sinnvoll, in diesem Zusammenhang den Begriff der »Raumzeit« zu fokussieren, um die durch Ort und Zeit vermittelte Erinnerung und die hier stets auf zwei Ebenen sich orientierenden und legitimierenden Akteure präziser zu fassen.24 So wird auch verständlicher, dass Gedächtnisräume als Teil der gesellschaftlichen Entwicklung ebenfalls der permanenten Neukonfigurierung unterliegen, dabei abhängig von den allgemeinen gesellschaftlichen Voraussetzungen und der politischen »Raumordnungspolitik«,25 die wesentliche Rahmenbedingungen ihrer Ausdehnung, ihrer inneren Beschaffenheit und Akteurskonstellationen und -hierarchien sowie ihrer Entwicklungsmöglichkeiten präformieren. Vor diesem Hintergrund plädiere ich dafür, regionale Gedächtnisräume mit Blick auf inhaltliche Aspekte und Akteursverhältnisse der maßgeblichen Erin22 Martina Löw: Raumsoziologie. 7. Aufl. Frankfurt am Main 2012 (2001), 154 ff.; vgl. auch Markus Schroer : Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums. Frankfurt/Main 2006. 23 Simon Schama: Landschaft und Erinnerung. In: Christoph Conrad/Martina Kessel (Hrsg.): Kultur & Geschichte. Neue Einblicke in eine alte Beziehung. Stuttgart 1998, 242 – 263, 259, 256. 24 Vgl. Andreas Langenohl: Ort und Erinnerung. Diaspora in der transnationalen Konstellation. In: Günter Oesterle (Hrsg.): Erinnerung, Gedächtnis, Wissen. Studien zur kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung. Göttingen 2005, 611 – 634. 25 Vgl. Ulrike Jureit: Das Ordnen von Räumen. Territorium und Lebensraum im 19. und 20. Jahrhundert. Hamburg 2012.

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nerungsschichten konkret zu bestimmen. Die, um nochmals mit Simmel zu sprechen, »Wirksamkeit einer besonderen Raumkonfiguration«26 ist zu korrelieren mit der empirisch zu untersuchenden Hierarchie unterschiedlicher Geschichten. Plastisch haben dies Claus Leggewie (*1950) und Anne-Katrin Lang in ihrer Studie zur europäischen Erinnerung vor Augen geführt, in der sie diesen politisch-kulturellen Schichtaufbau europäischer Gedächtnisse mit »sieben Kreisen europäischer Erinnerung« beschreiben und abbilden: als konzentrische Kreise, die um das Zentrum herum angelegt sind, in dem sich der nationalsozialistische Völkermord befindet. Im zweiten Kreis steht die Erinnerung an den GULag, im Weiteren folgen »ethnische Säuberungen«, »Kriege und Krisen«, »Kolonialverbrechen«, »Migrationsgeschichte« und schließlich im äußersten Kreis die Erinnerung an die »europäische Integration«.27 In dieser Hinsicht geht es also – dies wäre die Aufgabenstellung für empirische Untersuchungen – um die Analyse der konkreten Relevanz von Erinnerungsschichten und deren Beziehungsgeflechte, die man sinnvollerweise mit der Makroebene der Gesamtgesellschaft, der Mesoebene von Gruppen und Organisationen sowie der Mikroebene von Individuen verbinden sollte.

III.

Fazit

Das Gesagte sei abschließend in einer These und drei Leitfragen resümiert: 1. These: Im Kontext von regionalen Gedächtnisräumen haben wir es mit kulturell geprägten Räumen zu tun, in die auch Erinnerungen gleichsam eingeschrieben sind. Beide Dimensionen – Ort und Erinnerung – sind von einem Wechselverhältnis geprägt. Solcherart »Gedächtnislandschaften« sind vertikal und horizontal ebenso wie topografisch und metaphorisch zu untersuchen. Im Mittelpunkt sollte die Trias von und Dialektik zwischen physischem Raum, subjektiven Raumerfahrungen und kollektiven Raumkonstruktionen stehen. 2. Genese und Struktur : Wie entstehen Orte der Erinnerung: räumlich, materiell, metaphorisch? In welchem Zusammenhang steht das Raumgedächtnis zu den einflussreichen Geschichtsbildern und dem Substrat der Erinnerungskultur? Welche Akteure sind für die Genese und Aufrechterhaltung dieser Orte, Bilder und Kulturen maßgeblich? 3. Schichtenaufbau und -vernetzung: Wie sind die lokal und regional feststellbaren Gedächtniskonfigurationen mit anderen Ebenen vernetzt? 26 Simmel: Soziologie (Anm. 10), 691. 27 Claus Leggewie/Anne-Katrin Lang: Der Kampf um die europäische Erinnerung. Ein Schlachtfeld wird besichtigt. München 2011, 14 ff.

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4. Inhalte: Welche vorherrschenden »regionalen Narrative« prägen den Gedächtnisraum, von welchen historischen Erzählmustern wird er dominiert, welche Erzählungen sind marginalisiert oder der »Relaisstation« des regionalen Gedächtnisraums gleichsam oktroyiert? Wie lässt sich der Fokus, das Zentrum des lokalen oder regionalen Gedächtnisraums beschreiben – und was liegt erkennbar an der Peripherie der Geschichtskultur? Wie ist das Verhältnis zur wissenschaftlichen Perspektive: Ist die Region eine Art Brille des Gedächtnisses – entweder zum Schärfersehen oder zum Verzeichnen der Vergangenheit? Und schließlich: Inwiefern wird eine konkrete Region, beispielsweise das Konstrukt Norddeutschland, zum Faktor der Gedächtnisprägung, inwiefern wirken gedächtnisbezogene Faktoren hierauf ein?

Claudia Fröhlich

Geschichtspolitische und erinnerungskulturelle ZeitRäume. Vom Reiz einer analytischen Kategorie

In seinen Erinnerungen flaniert Walter Benjamin (1892 – 1940) durch Räume und Zeiten. Imaginierte Orte, ausgelöschte und reale Räume sind dabei nahezu symbiotisch mit erinnerten und vergessenen Zeiten verbunden.1 Während sich bei Benjamin – etwa in seinen Prosaminiaturen der »Berliner Kindheit um Neunzehnhundert« – Erinnerung und Geschichte in der Zusammenführung von Räumen, Orten und Zeiten ausbilden, erkunden die mit der Erforschung von Erinnerungskulturen und Geschichtspolitik befassten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gerade noch vorsichtig die Relevanz des Dreiecksverhältnisses von Raum, Zeit und Repräsentation von Vergangenheiten für ihre Disziplin. Dabei flanieren längst weder Geschichtspolitik oder Erinnerungskulturen noch deren Erforschung nur durch die Zeit, sondern auch durch Räume. Zwei Topoi sind vor allem präsent: Mit der prägnanten Metapher »Geschichte findet Stadt«2 wies Aleida Assmann (*1947) auf die raumgreifende Dimension von Geschichte und ihrer Repräsentation hin. Angeregt von Karl Schlögels (*1948) Plädoyer »History takes place«3 hat die Literaturwissenschaftlerin Assmann den Raum der Stadt etwa als »Gedächtnisspeicher« oder Palimpsest und damit als Aufschichtung von Geschichte an spezifischen Orten betrachtet. Assmanns Überlegungen zu einer Unterscheidung von »Gedenkorten« und »traumatischen Orten« haben die geschichtspolitische Forschung zur Dekonstruktion und Entdeckung von Orten aufgefordert, weil sich deren Gedächtnis im »Vielklang« der »Sprachen der Erinnerung« »nicht selbsttätig einstellt«, sondern »zu seiner 1 Zum Beispiel in Walter Benjamin: Berliner Kindheit um Neunzehnhundert. Sonderausgabe. Fassung letzter Hand. Mit einem Vorwort von Theodor W. Adorno. Frankfurt/Main 2010; vgl. zu Benjamin auch den Beitrag von Alina Bothe in diesem Band. 2 Aleida Assmann: Geschichte findet Stadt. In: Moritz Cs‚ky/Christoph Leitgeb (Hrsg.): Kommunikation Gedächtnis Raum. Kulturwissenschaften nach dem »Spatial Turn«. Bielefeld 2009, 13 ff. 3 Karl Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik. München-Wien 2003, 70.

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Stabilisierung der Aufmerksamkeit, der Rahmung, der Erzählung, der Inszenierung und Pflege bedarf«.4 Auch die zeitgeschichtliche Rekonstruktion von »Topografien der Erinnerung«5 oder »Erinnerungslandschaften«6 zeichnet die Materialisierung von Erinnerung an konkreten Orten nach. Daneben thematisiert die Zeitgeschichte ein Verhältnis von Geschichte, Erinnerung, Räumen und Orten vor allem durch Rekonstruktion von geschichtspolitischen oder erinnerungskulturellen Praxen in einem Land, in einer Region oder in einer Stadt. Raum wird hier als territorial begrenzte identitätsstiftende Ordnungskategorie verstanden, die auf die Konstruktion des kollektiven Gedächtnisses bezogen wird. Aber : Die Bedeutung von Raum als einer analytischen Kategorie der zeitgeschichtlichen Rekonstruktion und Dekonstruktion von Erinnerungsorten, -kulturen und Geschichtspolitik ist bisher weder systematisch ausgelotet noch als Perspektive formuliert. Mehr noch: Die Skepsis von Historikern – das belegt beispielhaft der Beitrag von Martin Sabrow in diesem Band – scheint groß zu sein. Der zeitgeschichtliche Blick auf Erinnerungskulturen und Geschichtspolitik richtet sich – noch – nicht in den Raum. Die – gleichwohl zugespitzte – These, die über ein Jahrzehnt lang geführte Debatte um das 2005 in Berlin eröffnete Denkmal für die ermordeten Juden Europas sei bereits ein Denkmal und vielleicht wichtiger als das Mahnmal selbst, steht exemplarisch für die in der Zeitgeschichte weit verbreitete Fokussierung auf die immateriellen erinnerungskulturellen und geschichtspolitischen Diskursdimensionen. Im Zentrum der Wahrnehmung und der Analyse von erinnerungskulturellen Debatten stehen das gesprochene Wort und das geschichtspolitische Argument. Diese Fokussierung hat mindestens zwei (gute) Gründe: Der Materialisierung von Erinnerung und Gedächtnis im Raum, etwa in Form eines Denkmals, gehen oft – wie der Eröffnung des Holocaust-Mahnmals in Berlin – jahre-, manchmal jahrzehntelange Kämpfe um die »richtige« oder »angemessene« konkrete Form der Erinnerung voraus. Diese erinnerungskulturellen und geschichtspolitischen Debatten produzieren Quellen, die für Zeithistoriker und ihr methodisch-analytisches Handwerkszeug bestes Material liefern, zum Beispiel Presseartikel, wissenschaftliche Texte, Gutachten, Podiumsdiskussionen, Akten oder Korrespondenzen. Diesen Quellenkorpus systematisch auswertend, erschien zum Beispiel 1999, noch während der laufenden Debatte über das Berliner Holocaust4 Aleida Assmann: Das Gedächtnis der Orte – Authentizität und Gedenken. In: Dies./Frank Hiddemann/Eckhard Schwarzenberger (Hrsg.): Firma Topf & Söhne – Hersteller der Öfen für Auschwitz. Ein Fabrikgelände als Erinnerungsort? Frankfurt/Main–New York 2002, 211. 5 Zum Beispiel Anna Kaminsky : Vorwort. In: Dies. (Hrsg.): Orte des Erinnerns. Gedenkzeichen, Gedenkstätten und Museen zur Diktatur in SBZ und DDR. 2. Aufl. Bonn 2007, 10. 6 Zum Beispiel Maren Ullrich: Geteilte Ansichten. Erinnerungslandschaft deutsch-deutsche Grenze. Mit einem Vorwort von Ralph Giordano. Berlin 2006.

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Denkmal, eine 1298-seitige Dokumentation des Diskurses,7 der als »zentral« für »das politische und historische Selbstverständnis im wiedervereinigten Deutschland«8 bewertet wird. Der medialen und wissenschaftlichen Aufmerksamkeitsdynamik folgend, publizierten die Politikwissenschaftler Claus Leggewie (*1950) und Erik Meyer (*1968) 2005, zur Übergabe des Denkmals an die Öffentlichkeit, eine Studie, die den »institutionalisierten Entscheidungsprozess« für das Holocaust-Denkmal vor dem Hintergrund der deutschen Geschichtspolitik seit 1989 nachvollzieht.9 Die These des Journalisten Richard Herzinger (*1955), das Buch von Leggewie und Meyer sowie die Eröffnung des HolocaustDenkmals markierten nur eine »kurze Pause« im Denkmalsstreit, weil doch »alle« nun auf die »Wirkung [warten], die das fertig gestellte Mahnmal auf seine Besucher ausüben wird« und »die Diskussion, genährt durch neues Erfahrungsfutter, wieder aufbranden« werde,10 bestätigte sich nicht. Erinnerungskulturelle und geschichtspolitische Schlachten scheinen geschlagen, sobald sich die Erinnerung an einem Ort in den Raum eingeschrieben hat. Mit dem Akt der Materialisierung von Erinnerung etwa in der Gestalt eines Denkmals scheinen die Debatten abgeschlossen, das Interesse von Historikern lässt nach. Aleida Assmann abwandelnd könnte der Befund lauten: Hat repräsentierte Geschichte erst einmal ihren Ort gefunden, wird sie offensichtlich für die Forschung uninteressant. Ein zweites Motiv für die Dominanz des immateriellen Diskurses in der Analyse hängt mit den in den vergangenen Jahrzehnten wirkungsmächtigen Definitionen von Geschichtspolitik und Erinnerungskulturen zusammen, die zwar ein weites und produktives Forschungsfeld eröffnet haben, aber ohne Bezug zu Räumen auskommen. Der Zeithistoriker Edgar Wolfrum (*1960) etwa hat die fast klassisch gewordene viel rezipierte Definition, derzufolge Geschichtspolitik von Akteuren genutzt wird, um gegenwärtiges Handeln und politische Entscheidungen zu legitimieren oder zu delegitimieren, in seiner Untersuchung von Geschichtspolitik in Deutschland verifiziert.11 Der Raum ist in dieser Analyse das oben erwähnte kollektive Identität stiftende Territorium,

7 Ute Heimrod/Günter Schlusche/Horst Seferens (Hrsg.): Der Denkmalstreit – das Denkmal? Die Debatte um das »Denkmal für die ermordeten Juden Europas«. Eine Dokumentation. Berlin 1999. 8 Ebd., 7. 9 Claus Leggewie/Erik Meyer: Ein Ort, an den man gerne geht. Das Holocaust-Mahnmal und die deutsche Geschichtspolitik nach 1989. München 2005. 10 Richard Herzinger: Rezension des Buches von Claus Leggewie und Erik Meyer am 22. 04. 2005 im Deutschlandradio. www.dradio.de/dkultur/sendungen/politischesbuch/369015/ (12. 08. 2013) 11 Edgar Wolfrum: Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Der Weg zur bundesrepublikanischen Erinnerung 1948 – 1990. Darmstadt 1999.

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das die analytische Kategorie Geschichtspolitik operationalisierbar macht und ein Forschungsfeld eingrenzt. Diese Reduzierung der Forschung ist erstaunlich, weil geschichtspolitische Entscheidungen und erinnerungskulturelle Praxen Orte, öffentliche, soziale und materiale Räume prägen und konstituieren wie vielleicht kein anderes Politikfeld.12 Die Ergebnisse von Geschichtspolitik und Erinnerungskulturen werden sichtbar. Sie nehmen Gestalt an und haben eine materielle Dimension, sie schreiben sich in Landschaften, Städte und Regionen ein: als Denkmäler platzieren sie Erinnerung im öffentlichen Raum, auf Gehwegen sollen Stolpersteine Gedächtnisse aufrütteln, Hinweisschilder erinnern an Geschichte, transnational initiierte Radwege entlang historischer Spuren und Relikte wollen Geschichte »erfahrbar« machen.13 Im öffentlichen Raum vollzogene Riten oder Gedenkfeiern zelebrieren Erinnerung und aktualisieren Gedächtnis sichtbar, Demonstrationen legitimieren und delegitimieren historische Ereignisse, Straßen und Plätze werden nach historischen Persönlichkeiten benannt. Selbst im manchmal als raumlos bezeichneten virtuellen Medium des Internets ist die Rekonstruktion von Geschichte in ihrer historisch räumlichen Dimension wichtig. Das Interesse des Beitrags richtet sich deshalb auf die Frage, worin für geschichtspolitische und erinnerungskulturelle Forschung der Reiz bestehen könnte, Zeit und Raum als analytische Kategorien heranzuziehen. Warum ist die Verknüpfung von Zeiten und Räumen, von zeitlichen und räumlichen Dimensionen, bei der Rekonstruktion von »zweiten Geschichten« reizvoll? Es geht also um eine Erkundung von Möglichkeiten für die geschichtspolitische Forschung, Raum – jenseits der territorialen Dimension und bloßer Konkretion an einem Ort – als analytische Kategorie »neu zu denken«.14 Dieser Versuch, Fragen für die Erforschung von Geschichtspolitik und Erinnerungskulturen aufzuwerfen, ist von Edward William Sojas (*1940) Aufforderung angeregt, nicht die zeitliche Perspektive, aber eine »klare Privilegierung des Historischen« im Sinne einer Dominanz des Zeitaspektes aufzugeben. Es ist der Versuch, Raum nicht mehr nur als »passiven Kontext«15 des in der Geschichtswissenschaft »omnipräsen12 Vgl. zum Verhältnis von Raum und Politik Markus Schroer : Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums. Frankfurt/Main 2006, 185. 13 So zum Beispiel der Iron Curtain Trail – Europäische Geschichte »erfahrbar« machen. Der 9.000 km lange Radweg entlang der ehemaligen Westgrenze der Warschauer Pakt-Staaten soll die »Erinnerung an die Teilung des Kontinents« wachhalten und »einen Beitrag zur Schaffung einer europäischen Identität leisten«. Seit dem Haushaltsjahr 2009 sind Fördermöglichkeiten für den Ausbau des Europa-Radwegs im Budget der EU vorgesehen. Siehe www.ironcurtaintrail.eu (07. 08. 2013). 14 Edward W. Soja: Vom »Zeitgeist« zum »Raumgeist«. New Twists on the Spatial Turn. In: Jörg Döring/Tristan Thielmann (Hrsg.): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Bielefeld 2009, 243. 15 Ebd., 245.

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t[en]« Zeit-Begriffs und von ihr untersuchten »Wandels in der Zeit«16 zu betrachten. Vielmehr soll das Potenzial von »räumliche[n] Prozesse[n]« für die Erforschung von Geschichtspolitik und Erinnerungskulturen erkundet werden. Ausgangspunkt ist dabei die Idee, ein »Gleichgewicht« zu denken zwischen dem Räumlichen und dem Zeitlichen als grundlegend gleichwertige kritische Perspektiven17 auf die Repräsentation von Vergangenheit.

ZeitRäume und Erinnerung im immateriellen Diskurs Der erste Spatenstich, mit dem der Bau eines Denkmals bildträchtig öffentlich inszeniert wird oder dessen Übergabe an die Öffentlichkeit gehören zweifelsohne zu den Höhepunkten erinnerungskulturellen und geschichtspolitischen Handelns, die die Einschreibung von »zweiter Geschichte« in Räume sichtbar machen. Bereits in den der Materialisierung von Erinnerung vorausgehenden Diskursen werden Zusammenhänge von Geschichte, Erinnerung und Räumen vielfach wirksam und konstruiert, wenngleich sie oft unsichtbar sind und erst entdeckt werden müssen. In die Debatten über die konkrete Verortung von Erinnerung ist ein Dreiecksverhältnis zwischen Zeit, Raum und Erinnerung beziehungsweise Repräsentation von Geschichte zweifach eingeschrieben. 1. Die zeiträumliche Form und Gestaltung vergangenheitsbezogener Repräsentation: Die Frage, wie Erinnerung materialisiert werden soll, welche Form und Gestaltung sie im Raum annehmen soll, gehört zu den oft heftig umstrittenen Schlüsseltopoi erinnerungskultureller Debatten. In den Auseinandersetzungen um die konkrete Konstituierung und Gestaltung von Orten verschmelzen Fragen danach, wie Form im Raum Vergangenheit repräsentieren kann, mit politisch-kulturell codierten erinnerungskulturellen Perspektiven. Die zeitgeschichtliche Forschung widmet sich dieser Diskursdimension etwa mit Analysen von Denkmalsentwürfen und der von diesen ausgelösten Debatten. Im Zentrum des zeitgeschichtlichen Interesses steht die Frage, wie Gedächtnis sichtbar gemacht, wie Erinnerung in Form von Denkmälern, Erinnerungsorten oder Gedenkstätten dargestellt wird oder wie in diesem Prozess mit materiellen Hinterlassenschaften, historischen Spuren und topografischen Markierungen umgegangen wird. Die Forschung richtet ihren Blick damit auf die erinnerungskulturell und normativ aufgeladene Frage, an welchem Ort die Erinnerung an ein historisches 16 Rüdiger Graf: Zeit und Zeitkonzeptionen in der Zeitgeschichte. Version 2.0. In: DocupediaZeitgeschichte, 22. 10. 2012. http://docupedia.de/zg/Zeit_und_Zeitkonzeptionen_Version_2. 0_R.C3.BCdiger_Graf ?oldid=84945, 1 (28. 08. 2013). 17 Soja (Anm. 14), 246.

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Ereignis konkret verortet und wie Erinnerung gestaltet wird, und sie untersucht die verschiedenen zeitgenössischen Kontexte dieser konkreten Verortung. Während dieses erste Verhältnis zwischen Zeit, Raum und Erinnerung beziehungsweise Repräsentation von Geschichte in der zeitgeschichtlichen Forschung präsent ist, fristet das zweite Verhältnis eher ein Schattendasein. 2. Die räumliche und soziale Rück-Wirkung repräsentierter Vergangenheit. Vergangenheit und Erinnerung nehmen – etwa mit einem Denkmal – nicht nur eine Form an einem konkreten Ort an. Materialisierte Erinnerungen und Repräsentation von Vergangenheiten konstituieren und gestalten Räume, die wiederum auf die Aushandlungsmodi der zukünftigen materiellen Repräsentation von Erinnerung und des Umgangs mit Spuren von Geschichte einwirken. Lässt sich die geschichtspolitische und erinnerungskulturelle Forschung von Georg Simmel (1858 – 1918)18 anregen, indem sie Raum materiell und soziologisch denkt, kann sie über den konkreten Ort hinausblicken und ihre Perspektiven neu akzentuieren: Geschichtspolitische und erinnerungskulturelle Forschung könnte etwa räumlich strukturierte Kontakte von geschichtspolitischen Akteuren und deren Beziehungsgeflechte in einem Raum und zwischen Räumen untersuchen sowie nach räumlich und sozial determinierten Zugängen zu und Verfügbarkeiten über Räume und Orte fragen. Der Soziologe Markus Schroer (*1964) hat im Kontext einer »Diversifizierung räumlicher Bezüge« in einer globalisierten Welt auf die mit den zunehmenden »Möglichkeit[en] zur Wahl eines Ortes« steigende Relevanz von Räumlichkeit verwiesen.19 Die Analyse von Macht und Hierarchien als soziale und ordnungsstiftende Faktoren einer auch erinnerungskulturellen Diversifizierung rücken dabei in den Blick der Forschung. Die Raum-Perspektive könnte so für eine Theoriebildung von Erinnerungsräumen hilfreich sein, indem sie den Blick auf spezifische raumgebundene Handlungsmodi lenkt. Denn nicht nur die bisher die Forschung vor allem interessierenden, im Zeitverlauf sich wandelnden politisch-kulturellen Kontexte, sondern die sich ebenfalls im Zeitkontext verändernde Verortung der Handelnden im Raum, deren Zugänge zu Räumen sowie soziale und materielle räumliche Inklusions- und Exklusionsmechanismen bilden den Rahmen geschichtspolitischen und erinnerungskulturellen Handelns. Auf diese Weise erweitert die Kategorie »Raum« die bisher auf die Mechanismen der Generierung und Durchsetzung politisch-kultureller Deutungshoheit konzentrierte Forschung. Dabei wird sichtbar, dass räumliche Strukturen ein entscheidendes Kriterium bei der Typisierung von regionalen, lokalen, nationalen oder globalen 18 Vgl. Georg Simmel: Soziologie des Raumes. In: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich. Hrsg. von Gustav Schmoller, 1 (1903), 27 ff. 19 Schroer (Anm. 12), 223.

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erinnerungskulturellen und geschichtspolitischen Entscheidungsprozessen sind. Das Raum-Paradigma als räumliches Erkunden von Geschichtspolitik lädt zum Beispiel ein, das Verhältnis, die Zuordnung von Akteuren, die sich in einem Raum bewegen und begegnen, also ihre räumlich strukturierten Interaktionen und räumlich hierarchisierten Beziehungen, zu erforschen. Nähe und Ferne, Zentrum und Peripherie etwa sind Kriterien, die für die Herausarbeitung von Spezifikationen von Erinnerung und Geschichtspolitik in Räumen wichtig sind. Die räumliche Brille schärft den Blick für die in Städten, Orten, Regionen, Landschaften, Staaten oder länderübergreifenden Bündnissen ausdifferenzierten Verhandlungsmodi von Geschichtspolitik und Erinnerungskulturen. Die Raum-Perspektive lenkt den Blick aber nicht nur auf räumlich strukturierte Beziehungen zwischen Menschen, auf Hierarchien und Machtverhältnisse, die erinnerungsbezogene Aushandlungsprozesse bestimmen. Vielmehr verlangt die Raum-Perspektive auch nach einer Betrachtung des Verhältnisses der Akteure zu Orten und zu Objekten als repräsentierter Erinnerung im Raum. Die Frage, wie sich Menschen zu historischen Orten, Relikten und Spuren von Geschichte im Raum verhalten, wird dabei vor allem durch den doppelten Bezug zu Raum und Zeit spannungsreich. Die Raum-Perspektive wirft also neben der Frage nach der konkreten Gestaltung von Erinnerung an einem Ort die Frage auf, welche Vorstellung vom Raum als einer Möglichkeit von Repräsentation die Diskursbeteiligten haben. Wie kämpfen und streiten sie argumentativ um die Gestaltung des Raums? Welche Argumente nutzen geschichtspolitische Akteure, um in die Gestaltung von Räumen und Orten einzugreifen? Wie verändert sich das auf Repräsentation von Vergangenheit bezogene Raumverständnis in der Zeit? Wann wäre dann zu fragen und in welchen Zeitkontexten werden Zentren, wann und in welchen Zeitkontexten die Peripherien gestaltet? Für die geschichtspolitische und erinnerungskulturelle Forschung wäre es interessant herauszufinden, welche Diskursregeln hier gelten und welche Regeln von Ordnung in den Debatten reproduziert werden. Werden in der Analyse also politisch-kulturell und materiell strukturierte und kodierte Faktoren zusammengedacht und auf den zeitlichen Kontext bezogen, würde geschichtspolitische und erinnerungskulturelle Forschung das Plädoyer von Reinhart Koselleck (1923 – 2006) ernst nehmen und »das schöne deutsche Wort des Zeitraumes wäre dann nicht nur eine Metapher der Chronologie oder der Epochengliederung, sondern böte die Möglichkeit, die gegenseitige Verwiesenheit von Zeit und Raum in ihren jeweiligen geschichtlichen Artikulationen zu untersuchen«.20 Lassen wir uns Simmel oder Soja folgend auf die Feststellung ein, dass Raum

20 Reinhart Kosseleck: Raum und Geschichte. In: Ders.: Zeitschichten. Studien zur Historik. Frankfurt/Main 2003,78ff, 90.

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gesellschaftlich produziert wird und Gesellschaft produziert,21 müssen wir davon ausgehen, dass geschichtspolitische und erinnerungskulturelle Schlachten weder in der Debatte um die konkrete Form von Erinnerung noch mit dem Akt ihrer Materialisierung geschlagen sind. Im Gegenteil: Nach Soja ist »der springende Punkt des neuen Raumdenkens«, »wie wir den Begriff der (…) räumlichen Kausalität verstehen«. Diese Kausalität meint »eine sozial-räumliche Dialektik, die in beiden Richtungen wirkt«.22 Für geschichtspolitische Forschung stellt sich die Frage, ob und wie räumlich materialisierte Erinnerung und damit ihre sichtbare Verfestigung zurückwirkt auf Erinnerung. Die anregende Feststellung von Georg Simmel, »Raumgestaltung« habe »eine soziologische Funktion«, kann dann weitergedacht werden, sodass die Analyse der materialisierten Erinnerung an einem konkreten Ort im Raum als eine Repräsentation von Deutungshoheit, Macht und Hierarchien zugleich die Frage nach deren sozialen und repräsentativen Rück-Wirkungen aufwirft. Wie verändert gestaltete Erinnerung und repräsentiert Vergangenheit die Perspektive, Position und das Handeln der Akteure? Dass erinnerungskulturelle Manifestationen im Raum als Gedächtnisspeicher genutzt werden, um Machtverhältnisse über Raumfragen zu legitimieren oder zu delegitimieren, deutet etwa schon die auf der Homepage des Berliner HolocaustMahnmals zu lesende Beschreibung an, das Denkmal liege »im Zentrum Berlins (…) zwischen Brandenburger Tor und Potsdamer Platz«;23 oder ähnlich gibt die Homepage des 2012 in Berlin fertiggestellten Denkmals für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Auskunft über dessen Lage »gegenüber dem Reichstagsgebäude«.24 Diese Angaben sind nicht bloße geografische Beschreibungen, die die Funktion einer Wegbeschreibung übernehmen. Diese Beschreibungen des Ortes positionieren Denkmäler im Raum, sie formulieren eine relationale Beziehung zwischen der materialisierten Erinnerung und einem konkreten repräsentativen Ort der Macht, sie stellen eine Beziehung zwischen dem Ort der Erinnerung und dem Zentrum der Macht des Staates her. Diese Verschränkung von konkret materialisierter Erinnerung und der Machtfrage verweist auf Hierarchisierungen und Ordnungsstrukturen, die mit der Konstituierung von Räumen verbunden sind. Raum ermöglicht, institutionalisiert und

21 Vgl. Soja (Anm. 14), 252. 22 Ebd., 257. 23 Denkmal für die ermordeten Juden Europas mit Ausstellung im Ort der Information. www.stiftung-denkmal.de/denkmaeler/denkmal-fuer-die-ermordeten-juden-europas.html#c694 (12. 08. 2013). 24 Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas. www.stiftung-denkmal.de/denkmaeler/denkmal-fuer-die-ermordeten-sinti-und-roma.html#c952 (12. 08. 2013).

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strukturiert also »Repräsentation«25 – auch die Repräsentation von Erinnerung – durch relationale Praxis und durch ein In-Beziehung-Setzen zum Beispiel als zentral oder peripher, in der Nähe oder in Entfernung von Institutionen der Macht gelegen. Und vielleicht ermöglicht erst die Raumkategorie eine Dekonstruktion dieser Klassifikation, die mit Pierre Bourdieu (1930 – 2002) auch als räumlich konstruierte Distinktion26 beschrieben werden kann. In den nächsten Jahren könnte so etwa beobachtet werden, wie sich eine Gedenk- und Dokumentationsstätte auf dem Gelände des ehemaligen Hannoverschen Bahnhofs am Lohseplatz in die Hamburger HafenCity im Raum einschreiben und diesen gestalten wird. Wie wird die Erinnerung an die mehr als 7.000 von hier in den Jahren 1940 bis 1945 deportierten Menschen im zukünftigen Kontext der »florierenden, wirtschaftlichen und kulturellen Aktivitäten« in der HafenCity geformt, rezipiert und relational In-Beziehung-gesetzt?27

ZeitRäume und Erinnerung im rezeptionsgeschichtlichen Diskurs Die Rück-Wirkung gestalteter, materialisierter Erinnerung hat noch eine zweite Dimension. Beziehen wir die Feststellung von Sighard Neckel (*1956), dass Räume relationale Ordnungen produzieren, »die durch Beziehungen zwischen Objekten und Körpern gebildet werden«,28 auf erinnerungskulturelle, materialisierte Repräsentationen von Vergangenheiten, öffnet die räumliche Perspektive den Blick der Forschung hin zu Fragen der Rezeption dieser im Raum eingeschriebenen Erinnerungskultur, beispielsweise: Wie wirkt im Raum materiell gestaltete Vergangenheit auf den Raum zurück? Geschichtspolitisch gewendet könnten Fragen lauten: Wer sind die Rezipienten der materialisierten Erinnerung, wie rezipieren sie die gestaltete und geformte Repräsentation von Vergangenheit und wie wirken die Rezipienten auf diese Gestaltung und auf die soziale und materielle Struktur von Räumen zurück? Wenn wir Räume als Chiffren betrachten, die Bedeutung zwar manifestieren, die aber wiederum in jedem gegenwärtigen Moment mit neuer Bedeutung gefüllt werden, kann und 25 Sighard Neckel: Felder, Relationen, Ortseffekte: Sozialer und physischer Raum. In: Moritz Cs‚ky/Christoph Leitgeb (Hrsg.): Kommunikation Gedächtnis Raum. Kulturwissenschaften nach dem »Spatial Turn«. Bielefeld 2009, 51. 26 Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt/Main 1982, 739; vgl. dazu Olaf Kühne: Distinktion – Macht – Landschaft. Zur sozialen Definition von Landschaft. Wiesbaden 2008, 14 f. 27 Diesen relationalen Zusammenhang hat Karin von Welck formuliert, die bis 2010 als Hamburger Kultursenatorin für die Institutionalisierung der Gedenk- und Dokumentationsstätte zuständig war: Karin von Welck: Auf einem guten Weg: Erinnerungskultur und Gedenkstätten in Hamburg. In: Jahrbuch für Kulturpolitik, 2009, 293 – 300, 299. 28 Neckel (Anm. 25), 47.

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muss geschichtspolitische und erinnerungskulturelle Forschung rezeptionsgeschichtliche Fragen, die sich auf den Umgang mit materialisierter Erinnerung beziehen, zukünftig mehr Aufmerksamkeit schenken. Da sich diese Art der »Konstitution des Raumes aber (…) den Handelnden kaum zu erkennen«29 gibt, ist ihre Analyse für die Wissenschaft methodisch eine Herausforderung. Im Mittelpunkt rezeptionsgeschichtlicher Untersuchungen stehen bisher Analysen erinnerungskultureller Praxen und Riten am konkreten Ort und die Besucherforschung. Mit qualitativen Interviews werden Besucher befragt und mit quantitativ orientierten Studien oder Analysen von Einträgen in Besucherbüchern konzentriert sie sich letztere in erster Linie auf Aussagen von Besuchern. Im Zentrum der Reflexion erinnerungskultureller Praxen stehen Untersuchungen von Reden, die etwa anlässlich von Jahrestagen und Gedenkveranstaltungen gehalten werden. Welche Erkenntnisse über erinnerungskulturelle Prozesse ließen sich aber gewinnen, wenn wir das Verhalten von Rednern und Besuchern im Raum als eine Kommunikationsform über Geschichte und Vergangenheit sowie als eine Ausdrucksform von Erinnerung betrachten? Wenn geschichtspolitische Forschung also etwa Bewegung, Gesten oder kommunikatives und symbolisches Handeln im Raum in die Analyse einbezieht? Wie verhalten sich Menschen zueinander, was tun sie an Gedenkorten, welche räumlichen Beziehungen bauen sie auf ? Inspirierend für eine Forschung, die ergänzend zu immateriellen politisch-kulturellen Codes auch räumlich performativ stattfindende Erinnerungspraxen und deren Codes analysieren möchte, könnten ethnografische dichte Beschreibungen sein. Vielleicht kann sich eine zeitgeschichtliche Analyse von materiellen Erinnerungsräumen und von materialisierten Gedächtnissen methodisch auch von Literatur und literaturwissenschaftlichen Analysen anregen lassen. Ingeborg Bachmann (1926 – 1973) etwa montiert in dem 1955 publizierten Essay »Was ich in Rom sah und hörte«30 unter dem narrativen Vorwand eines Spaziergangs durch die Metropole Stadtbilder zu einem Raum, die die Historikerin und Literaturwissenschaftlerin Rike Felka (*1960) als »Gedächtnisbild« analysiert, in dem sich das räumlich »Wahrgenommene und zeitlich Gebundene« spiegelt.31 Die Analyse dieser Stadt- und Gedächtnisbilder legt Zeitschichten frei und entdeckt »dritte Räume« zwischen Bedeutungen, die immer wieder neu ausgelotet werden müssen, weil sie von gegenwärtigen Standpunkten aus immer wieder neu hergestellt werden.32 Von 29 Ebd., 47. 30 Ingeborg Bachmann: Was ich in Rom sah und hörte. In: Dies.: Werke in vier Bänden. München 1982. 31 Rike Felka: Bachmann. In der Stadt. Was ich in Rom sah… . In: Dies.: Das räumliche Gedächtnis. Untersuchungen zu Bernhard, Bachmann, Antonioni, Doderer, Stifter, Duras, Kafka. Berlin 2010, 27 – 62, 28. 32 Ebd., 51.

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Bachmanns städtischem Spaziergang angeregt, könnte geschichtspolitische und erinnerungskulturelle Forschung fragen, wie sich unsere Wahrnehmung und unser Wissen über Konstruktion von Erinnerung und Vergangenheitsrepräsentationen verändert, wenn wir den etwa auf einer Stele des Berliner HolocaustMahnmals in der Sonne liegenden Besucher betrachten, wenn wir die habituell aufgeladene und performative Praxis der Besucher von Denkmälern in Momentaufnahmen montagehaft zusammenführen und vergleichen. Welche Aneignung von Geschichte und welche Erinnerungskulturen werden hier praktiziert oder welche Schichten des Gedächtnisses lagern hier übereinander? Dieses fragende Szenario hilft zu verstehen, warum Neckel in Anlehnung an Bourdieu darauf aufmerksam macht, dass »der Raum erst aus den Relationen von Objekten und Akteuren« und »aus dem Prozess der Zuweisung von Positionen«33 entsteht. Der Raum weist – und diese Perspektive ist von der geschichtspolitischen und erinnerungskulturellen Forschung noch weitgehend unentdeckt – nicht nur den üblicherweise fokussierten geschichtspolitischen Akteuren, also den Personen etwa, die die Erinnerung initiiert oder inszeniert haben, Positionen zu. Die materialisierte Erinnerung hat auch für die Besucher eine vergangenheitsbezogene repräsentative Funktion und wird durch Rezipienten konstruiert. In diesem Sinne wird Raum erst als gesellschaftlich produzierter Raum gelten können, wenn geschichtspolitische und erinnerungskulturelle Forschung die Rolle des Rezipienten ernst nimmt. Der semantisch eher passiv konnotierte Status des Besuchers würde sich verändern, Besucher müssten als Akteure in geschichtspolitischen und erinnerungskulturellen ZeitRäumen erfasst werden. Geschichtspolitische und erinnerungskulturelle Forschung, die durch ZeitRäume streift, reduziert Diskurse nicht länger auf die immaterielle Debatte, sondern nimmt die materialisierte Form repräsentierter Vergangenheit in den Blick. Der Reiz einer Analyse des Dreiecksverhältnisses von »zweiten Geschichten« in zeitlichen und räumlichen Kontexten besteht darin, zu erkunden, wie die beiden Dimensionen – Zeit und Raum – dialektisch aufeinander bezogen die Strukturen, Regeln der Distinktion oder Macht, Mechanismen der Ordnung und der Repräsentationen von Vergangenheit und Geschichte gestalten. Solange die Analyse repräsentierter Vergangenheit auf den immateriellen Diskurs in der Zeit reduziert bleibt, läuft sie Gefahr etwa die identitäts- oder machtstiftenden Dimensionen der in den Raum eingeschriebenen repräsentierten Vergangenheit und ihre Rück-Wirkung auf deren zukünftige Gestaltung zu unterschätzen.

33 Neckel (Anm. 25), 49.

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Raum, Stadt und Gedächtnis bei Walter Benjamin – die Berliner Kindheit um neunzehnhundert

1.

Einleitung »Lange, jahrelang eigentlich spiele ich schon mit der Vorstellung, den Raum des Lebens – Bios – graphisch in einer Karte zu gliedern. Erst schwebte mir ein PharusPlan vor, heute wäre ich geneigter zu einer Generalstabskarte zu greifen, wenn es die vom Inneren von Städten gäbe.«1

In der Berliner Chronik schreibt Walter Benjamin (1892 – 1940) über das Ziel, Erinnerungen beziehungsweise Memoiren zu kartografieren, als Karte darzustellen. Karten schreiben, beschreiben und strukturieren den Raum. Sie lesen zu können, ist Teil der geschichtswissenschaftlichen Forschung.2 Wenngleich die Berliner Chronik ebenso wie die berlinbezogenen Rundfunktexte Benjamins Vorarbeiten seiner autobiografischen Schrift Berliner Kindheit um neunzehnhundert waren, setzt Benjamin diesen Plan kartografierter Erinnerungen nicht um. Dennoch sind die Kindheitsminiaturen, ebenso wie das Denken Benjamins selbst, eng an den Raum gebunden. Karl Schlögel nennt die Berliner Kindheit daher ein »Meisterwerk topographischer Hermeneutik«3 und weist darauf hin, dass »Benjamin (…) ortsabhängig wie kein anderer Denker«4 war. Benjamin »als ein Denker der räumlichen Imagination«5 nutzte, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, ein ausdifferenziertes Konzept von Raum und Räumlichkeit. Zu den in großer Zahl in der Berliner Kindheit beschriebenen Räumen gehören Schwellenräume wie Treppenhäuser und Umkleidekabinen in Schwimmbädern, Straßenräume, Wohnungen mit ihren Zimmern, Fluren, Winkeln und Erkern, Kaufhäuser und Markthallen oder Parkanlagen wie der Tiergarten und die 1 Walter Benjamin: Berliner Chronik. Mit einem Nachwort hrsg. von Gershom Scholem. Frankfurt/Main 1970, 12. 2 Karl Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik. München 2004, 12. 3 Ebd., 134. 4 Ebd., 129. 5 Ebd., 128.

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Pfaueninsel. Bereits die einleitende Miniatur der Berliner Kindheit um neunzehnhundert in der »Fassung letzter Hand« zeigt die Stadt als ineinander verschachtelte Räume. Von der Loggia ausgehend, dieser für Berlin so typischen Form des Balkons, geht der Weg »über die Höfe des Berliner Westens«,6 wo umzäunt der Baum stand, der den Hof beschattet, durchzogen von Wäscheleinen, umgeben von Mauern, hinaus aufs Trottoir, zum Bahndamm und den Droschkenwarteplätzen. Es sind die Räume, die das Wesen der Stadt für Benjamin prägen. Es ist die Loggia, die Innen und Außen, privat und öffentlich, miteinander verbindet. Dieser Zwitterraum, da-zwischen, ist Ausgangspunkt der kindlichen Beobachtung der Stadt respektive der erwachsenen Erinnerung an die Stadt der Kindheit. »An ihnen [den Loggien, A.B.] hat die Behausung des Berliners ihre Grenze. Berlin – der Stadtgott selber – beginnt in ihnen.«7 Aus den Halbräumen der Loggien entwickelt sich der Raum Stadt. Benjamins Wahrnehmung der Loggien verweist ebenso auf den dritten Begriff im Titel dieses Beitrags, Gedächtnis. »Und die Geranien, die mit ihren roten Blüten aus ihren Kästen sahen«,8 bestimmten für Benjamin das Bild der Loggia. Die Geranien blühen noch heute rot auf den Loggien Berlins, auch sonst ist vieles, was Benjamin beschreibt, für Lesende im heutigen Berlin nah. Theodor W. Adorno (1903 – 1969) hat dies in seinem Nachwort zur 1950 erschienenen ersten Fassung der Berliner Kindheit als »befremdende Nähe«9 bezeichnet. Dieses von Benjamin beschriebene Berlin erscheint seltsam vertraut und dennoch fremd. Diese Fremde des Textes ist für Adorno in der Shoah begründet. Das großbürgerliche jüdische Berlin Benjamins ist vernichtet worden. Die befremdende Nähe macht mehr als 60 Jahre nach Adornos Nachwort noch ein weiterer Faktor aus: die technischen Veränderungen der Zeit. Kleine Schokoladentäfelchen, in unterschiedlich farbiges Papier gewickelt, kreuzweise zu vier Tafeln gebündelt,10 sind eine gegenwärtig teilbare Kindheitserinnerung, aber die Droschkenhaltestelle oder der Besuch des Kaiserpanoramas gehören einer anderen Zeit, einer anderen Zeitschicht (Reinhart Koselleck), aber auch einem anderen Raum Berlins an.11 Die Loggien, das Kaiserpanorama, die Droschkenwarteplätze deuten eine spezifische Qualität der Berliner Kindheit um neunzehnhundert an: den Raum der Erinnerung. Benjamin hat seine Erinnerungen in den Raum der Stadt hin6 Walter Benjamin: Berliner Kindheit um neunzehnhundert. Fassung letzter Hand und Fragmente aus früheren Fassungen. Mit einem Nachwort von Theodor W. Adorno. Frankfurt/Main 2006, 11. 7 Ebd., 13. 8 Ebd. 9 Ebd., 111. 10 Ebd., 70. 11 Ebd., 12; 14 f.

Raum, Stadt und Gedächtnis bei Walter Benjamin

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eingeschrieben und hat sie zugleich aus dem Raum der Stadt heraus geschrieben. Er maß Raum in seinem Schaffen viel Wert bei. »Es gibt in seinem Denken und Schreiben eine starke räumliche Komponente, das Räumliche ist immer da.«12 Die Verräumlichung seines Denkens lässt sich in seinem gesamten Werk finden.13 Wie Uwe Steiner es formulierte: »Ein Bild nicht nur der Zeit, sondern mehr noch des Ortes, mit dessen Schauplätzen sich die Erinnerung unlösbar verbunden hat.«14 Indem er diese Schauplätze permanent in Schrift fixierte, hat er sie dem kollektiven Gedächtnis, so ein solches existiert, zur Stadt Berlin vor der Shoah eingeschrieben. Der nachfolgende Beitrag nähert sich Benjamins Berliner Kindheit um neunzehnhundert mit diversen Konzepten von Raum, wie sie in Folge des spatial turn interdisziplinär entwickelt worden sind, und arbeitet auf diese Weise verschiedene Räumlichkeiten in seinem Werk heraus. Die Berliner Kindheit um neunzehnhundert ist eines jener literarischen Werke, denen es gelingt, den Raum der Stadt und den Raum der Erinnerung, die konkrete Dinglichkeit und die Lieux de M¦moire (Pierre Nora) miteinander zu verschmelzen. In seinen Kindheitserinnerungen sind die einzelnen Szenen nicht nur an die Zeit als erzählerische Achse, sondern auch an den Raum rückgebunden. Die Kategorie des Raumes eignet sich also besonders zur Analyse des Benjaminschen Werkes, da Benjamin im Raum der Stadt die Einschreibungen der Vergangenheit und der Gegenwart verortet hat. Zugleich schafft Raum die Verknüpfung zwischen Gedächtnis und Stadt, denn die Analyse dieser Kategorie lässt auf der einen Seite die Raumgebundenheit des benjaminschen Texts und auf der anderen Seite die Raumgebundenheit von Alltagsleben und Geschichte erkennen: »History takes place – Geschichte findet statt«.15 Raum, Stadt und Gedächtnis bilden in der Berliner Kindheit ein Spannungsfeld, dessen Dynamiken es zu analysieren gilt. In den evozierten Räumen der Kindheit Benjamins lässt sich der epochale Wandel der Stadt erfassen. Selbstverständlich hat Bernd Witte berechtigt darauf hingewiesen, dass man »[k]aum ein Buch (…) finden (wird), das im Titel den Namen einer Stadt führt und das so wenig von deren architektonischen, kulturellen und sozialen Gegebenheiten sichtbar werden läßt wie Walter Benjamins Berliner Kindheit um neunzehnhundert«16. Dennoch lässt eine sorgfältige Lektüre der Berliner Kindheit unter Zuhilfenahme flexibler Raumkonzeptionen und 12 Schlögel: Im Raume (Anm. 2), 133. 13 Anja Lemke: Berliner Kindheit um neunzehnhundert. In: Burkhardt Lindner (Hrsg.): Benjamin Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2006, 653 f.; Momme Brodersen: Walter Benjamin. Leben, Werk, Wirkung. Frankfurt/Main 2005, 109. 14 Uwe Steiner : Walter Benjamin. Stuttgart-Weimar 2004, 2. 15 Vgl. Schlögel: Im Raume (Anm. 2), 70. 16 Bernd Witte: Bilder der Erinnerung. Walter Benjamins Berliner Kindheit. In: Internationale Walter Benjamin Gesellschaft, http://www.iwbg.uni-duesseldorf.de/Pdf/Witte11.pdf.

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bei Rückbindung an die Topografie Berlins um 1900 den Schluss zu, dass Benjamin zugleich in den Raum hinein- und aus ihm herausschreibt, Erinnerung im Raum festschreibt. Nachfolgend werden zunächst Walter Benjamins Biografie und die Einordnung der Berliner Kindheit um neunzehnhundert in sein Werk skizziert und anschließend die Implikationen des spatial turns und verschiedene Konzeptionen von Raum (und Gedächtnis) in der Geschichtswissenschaft reflektiert. Abschließend geht es darum, die zuvor formulierten Überlegungen zu Räumlichkeit und Gedächtnis auf die Berliner Kindheit um neunzehnhundert zu übertragen und verschiedene Formen von Räumlichkeit in den Miniaturen herauszuarbeiten.

2.

Walter Benjamin und die Berliner Kindheit um neunzehnhundert

Walter Benjamin, geboren am 15. Juli 1892, war das erste Kind von Emil und Pauline Benjamin, geborene Schönfließ. Er heiratete 1917 Dora Kellner, 1918 wurde ihr Sohn Stefan geboren. Benjamin ging im Frühjahr 1933 ins Exil nach Paris und beging 1940 auf der Flucht Suizid in Port Bou.17 Benjamins Familie stammte aus dem assimilierten jüdischen Großbürgertum, der Vater war Kunst-Auktionator und Finanzkaufmann. Bedienstete gehörten wie selbstverständlich zur Lebenswelt der Familie, worauf Benjamin in der Berliner Kindheit wiederholt hinweist. Die Familie zog innerhalb des Berliner Westens mehrfach um und wohnte in den warmen Monaten in sogenannten Sommerwohnungen in der Potsdamer Vorstadt. Auch unternahm die Familie ausgedehnte Reisen in Deutschland und Europa. Benjamin legte 1912 in Berlin das Abitur ab und begann in Freiburg und Berlin Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte zu studieren. Sein Studium beendete er mit einer Promotion in Bern. Nach seiner Rückkehr nach Berlin verdiente er als Übersetzer und Journalist seinen Lebensunterhalt und scheiterte 1925 an dem Versuch, sich zu habilitieren. Da ihm der akademische Weg somit versperrt war, intensivierte er das Schreiben zum Lebensunterhalt und veröffentlichte zu diversen Themen in einer Vielzahl von Zeitschriften. Während der 1920er-Jahre unternahm er mehrere lange Reisen in Europa, über die er auch publizierte. Ende der 1920er-Jahre betreute er als »Medienpraktiker«18 zudem etliche Rundfunksendungen, die sich 17 Zur Biografie Walter Benjamins siehe ausführlich: Momme Brodersen: Spinne im eigenen Netz. Walter Benjamin. Leben und Werk. Bühl-Moos 1990; Brodersen: Benjamin (Anm. 13); Steiner : Benjamin (Anm. 14). 18 Sven Kramer: Walter Benjamin zur Einführung. Hamburg 2003, 82.

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vor allem an Kinder und Jugendliche richteten.19 Bereits in seiner Berliner Zeit und dann auch in den 1930er-Jahren in Paris gehörte Walter Benjamin einem weitverzweigten intellektuellen Netzwerk an und pflegte Kontakte sowie Freundschaften mit so unterschiedlichen Personen wie Gershom Scholem (1897 – 1982), Bertolt Brecht (1898 – 1956), Theodor W. Adorno (1903 – 1969), Hannah Arendt (1906 – 1975) und anderen. Scholem, Adorno und Arendt ermöglichten jeweils einen Teil der Herausgabe des Benjaminschen Werkes nach dessen Tod.20 In den 1920er-Jahren politisierte sich Benjamin weitgehend und verstand sich als nicht-parteigebundener, aber kommunistisch orientierter, radikaler linker Intellektueller. Benjamins Themenspektrum war breit und, nachdem ihm die akademische Laufbahn versperrt war, avantgardistisch ausgerichtet. Ein Fokus seines Schaffens lag auf kunst- und medientheoretischen Texten, ein weiterer richtete sich auf (geschichts-)philosophische Fragestellungen. Dabei hat er dem »Raum« und den materiellen Dingen, die ihn zum Beispiel als Sammler reizten oder ihm als Verdinglichungen von Erinnerungen galten, besondere Aufmerksamkeit zukommen lassen. Berlin war ihm ein räumlicher und materieller Bezugspunkt, vielleicht der heimatlichste. Raumbezüge finden sich aber auch in seinen italienischen Reiseberichten, seinem Text über Moskau und vor allem in seinen Arbeiten zu Paris, die im Passagen-Werk kulminieren. Benjamin war bei Weitem nicht der einzige Autor seiner Zeit, der über Raum und vor allem über den Raum der Großstadt schrieb. Für Berlin sei hier nur beispielhaft auf Carl Zuckmayers (1896 – 1977) Hauptmann von Köpenick und Alfred Döblins (1878 – 1957) Berlin Alexanderplatz verwiesen. In der Methode des flanierenden Stadtkommentators folgt Benjamin zwei vorherigen Werken: Louis Aragons (1897 – 1982) Le Paysan de Paris (1926) und Franz Hessels (1880 – 1941) Spazieren in Berlin (1929). Letzteres rezensierte er auch. In Benjamins Raumbegriff der Berliner Kindheit ist das Transzendente, das vermeintlich Unkonkrete, das dennoch im konkreten lebens- und erfahrungsweltlichen großbürgerlich-jüdischen Berlin der Jahrhundertwende wurzelt, auffällig.21

19 Sabine Schiller-Lerg hat in ihrer grundlegenden Schrift zu Benjamins Rundfunkarbeiten darauf hingewiesen, dass die auf Berlin bezogenen Sendungen jener Jahre ebenso als Vorarbeiten der Berliner Kindheit zu sehen sind, wie die Berliner Chronik. Sabine Schiller-Lerg: Walter Benjamin und der Rundfunk: Programmarbeit zwischen Theorie und Praxis. München 1984. Ebenso Kramer (Anm. 18), 85. Erste Vorarbeiten zur Berliner Kindheit um neunzehnhundert finden sich jedoch bereits in der 1925 entstandenen, aber erst 1928 publizierten Einbahnstraße, dem ersten avantgardistischen Werk Benjamins. 20 Vgl. hierzu ausführlich Detlev Schöttker : Arendt und Benjamin: Texte, Briefe, Dokumente. Frankfurt/Main 2006. 21 Ob Benjamins Berliner Kindheit um neunzehnhundert ein spezifisch jüdisches Berlin als Erinnerungsraum evoziert, diskutiere ich an anderer Stelle. Vgl. Alina Bothe: Three Jewish

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Die Berliner Kindheit um neunzehnhundert ist eine Sammlung von Miniaturen, in denen sich Benjamin an Berlin und die Topografie seiner kindlichen Lebenswelt erinnert. Sein Vorwort thematisiert die besondere Situation des Exils, aus dem Benjamin schrieb: »Im Jahr 1932, als ich im Ausland war, begann mir klar zu werden, daß ich in Bälde einen längeren, vielleicht einen dauernden Abschied von der Stadt, in der ich geboren bin, würde nehmen müssen.«22 Mit dem Wort Abschied wird der Zweck der Texte angekündigt, Erinnerungen über einen Raum zu verfassen, der verloren scheint. Wenngleich es erstens schwierig ist, den Begriff einer homogenen jüdischen Tradition zu verwenden und zweitens Benjamins Position hierin zu verorten, so lassen sich Verbindungen zum Raumdenken der jüdischen Tradition23 wie auch zum Gebot Zachor24 annehmen. Dies gilt insbesondere für das Memoriale seines Denkens und Schreibens. Bis Mitte der 1930er-Jahre sind frühe Fassungen einzelner Miniaturen der Berliner Kindheit in verschiedenen, auch deutschen Zeitschriften erschienen. Benjamin hat immer wieder an den Miniaturen gearbeitet und sie verändert. Die endgültige Fassung, die Fassung letzter Hand, hat er 1938 als Druckfassung vorbereitet, sie ist allerdings erst mehr als 40 Jahre später veröffentlicht worden. Diese Fassung hatte Georges Bataille für Benjamin in der BibliothÀque Nationale in Paris versteckt, wo sie erst 1981 wiedergefunden wurde. Die 1950 von Adorno herausgegebene und mit dem eingangs zitierten Nachwort versehene Fassung beruhte auf vorherigen Manuskripten, die teils erheblich von der hier verwendeten Fassung letzter Hand abweichen. Walter Benjamins Werk ist nach seinem Tod weltweit intensiv rezipiert worden, die Berliner Kindheit ist, wenngleich Desiderat Benjamins berlinbezogenen Schreibens, weniger im Fokus gewesen.

3.

Spatial turn: Die Wiederkehr des Raumes

Turns, paradigmatische Wenden, sind in den vergangenen fünfzig Jahren seit dem linguistic turn Bestandteil der wissenschaftlichen Diskurse geworden und bezeichnen innovative oder zumindest intensive Hinwendungen zu bestimmten Berlins – Benjamin, Hessel, Schneersohn. In: Martin Kindermann/ Rebekka Rohleder (Ed.): Narrating Spaces. Hamburg 2014 (im Erscheinen). 22 Benjamin: Kindheit (Anm. 6), 9. 23 Vgl. die Sammelbände Michael Kümper et al. (Hrsg.): Makom. Orte und Räume im Judentum: Real. Abstrakt. Imaginär (HASKALA Wissenschaftliche Abhandlungen 35). Hildesheim–Zürich–New York 2007; Julia Brauch/Anna Lipphardt/Alexandra Nocke (Hrsg.): Jewish Topographies. Visions of Space, Traditions of Place (Heritage culture and identity). Aldershot 2008. 24 Yosef Hayim Yerushalmi: Zachor : erinnere dich! Jüdische Geschichte und jüdisches Gedächtnis. Berlin 1996.

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theoretischen Ansätzen und Fragestellungen wie Raum, Performanz, (Selbst-) Reflexion oder auch Bild – wie der spatial turn, der performative turn, der postcolonial turn oder der translational turn.25 Der Begriff des spatial turn geht vor allem auf das 1989 erschienene Buch Postmodern Geographies Edward Sojas (*1940) zurück, der sich als Protagonist des spatial turns versteht.26 Der spatial turn als paradigmatische Wende ist hauptsächlich in Sojas 1996 erschienenem Werk Thirdspace ausgeführt worden. Sojas zentrale Argumentation richtet sich gegen die geistes- und gesellschaftswissenschaftliche Bevorzugung der Zeit als Ordnungsrahmen und die damit einhergehende Vernachlässigung des Raumes. Stattdessen argumentiert er für ein »thinking spatially«.27 Soja schlägt ein trialektisches Modell als Ordnungsund Interpretationsrahmen vor, das aus den ineinander übergehenden Faktoren Historizität, Sozialität und Spatialität besteht und die Chronizität nur noch als einen möglichen Bestandteil der Historizität begreift.28 Dies ist eine radikale Infragestellung eines gesellschaftlichen Interpretationsrahmens, der laut Soja auf einem naturalisierten Konzept von Zeit basiert. Noch vor den Arbeiten Sojas standen zwei Autoren im Zentrum eines beginnenden räumlichen Diskurses, die beide im Paris der 1960er-Jahre begonnen haben, ihre Überlegungen niederzuschreiben, Michel Foucault (1926 – 1984) und Henri Lefebvre (1901 – 1991).29 Es wäre nicht valide, hier einen Bezug zu Benjamins raumbezogenem Schreiben in Paris herzustellen, aber der gedankliche Kurzschluss ist reizvoll. Foucault hat Raum sowohl auf Wissen, Machtstrukturen (Gefängnisse, Psychiatrien) als auch auf Subversion (Heterotopien) bezogen.30 Soja bezeichnet das Werk Lefebvres in der Einleitung zu Thirdspace als das seine Konzeption am meisten prägende Werk und geht explizit auf Lefebvres Biografie in ihrer räumlichen Dimension ein.31 Soja übernimmt von Lefebvre die Position, dass Raum stets in Wandlung sei und etwas anderes möglich werden lasse. »Il y a toujours l’Autre.«32 Sojas Argumentation basiert auf der Überlegung, dass Raum infolge der technologischen und industriellen 25 Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek 2006, 33. 26 Edward Soja: Postmodern Geographies. The Reassertion of Space in Critical Social Theory. London 1989; Edward Soja: Taking space personally. In: Barney Warf/ Santa Arias (Ed.): The Spatial Turn. Interdisciplinary perspectives. London 2009, 11 – 35, 22. 27 Ebd. 28 Edward Soja: Thirdspace: Toward a New Consciousness of Space and Spatiality. In: Karin Rosa Ikas/Gerhard Wagner (Ed.): Communicating in the Third Space. New York 2009, 49 – 61, 53. 29 Henri Lefebvre: The Production of Space. Oxford 1991. 30 Michel Foucault: Archäologie des Wissens. Frankfurt/Main 1981. 31 Edward Soja: Thirdspace. Journeys to Los Angeles and Other Real-and-Imagined Places. Cambridge 1996, 26 – 52. 32 Soja: New Consciousness (Anm. 28), 52, Hervorhebung im Original.

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Umwälzungen des 19. Jahrhunderts der Zeit als Denkweise untergeordnet wurde. Seinem Urheber nach ist der spatial turn »fundamentally an attempt to develop a more creative and critically effective balancing of the spatial/geographical and the temporal/historical imaginations«.33 Der in diesem Beitrag vorgenommene Blick auf Raum stellt jedoch nicht das Räumliche und das Historische gegeneinander, sondern versteht es als interdependente Kategorien, um sich menschlichen Vergangenheiten zu nähern. Es lässt sich konstatieren, dass der spatial turn den Raumbegriff diverser geistes- und gesellschaftswissenschaftlicher Disziplinen tiefgreifend verändert hat, Raum nun nicht mehr im kantianischen Sinne als vorgegeben, sondern als erzeugt betrachtet wird. »Räume können nicht mehr wie Behälter gedacht werden, die unabhängig von dem sind, was in ihnen ist oder sich vollzieht.«34 Der spatial turn hat erhebliche Wirkungen auf Denkfigurationen außerhalb der Geografie ausgelöst. Vor allem die Geschichtswissenschaft hat den spatial turn rezipiert, prominentestes Beispiel hierfür sind die Arbeiten Karl Schlögels (*1948). Wenngleich an dieser Stelle anzumerken ist, dass Schlögel selbst nicht von einem spatial turn in der Geschichtswissenschaft spricht, sondern die Wiederbetrachtung des Raumes als Betrachtung eines historischen Bereichs deklariert, dem lange unzureichend Aufmerksamkeit gewidmet worden sei. Ihm geht es nicht um eine paradigmatische Wende, sondern um die Feststellung beider Richtungen, dass Geschichte Raum hat und dass Räume Geschichten haben.35 »Geschichte findet nicht im luftleeren Raum statt. Geschichte hat einen Ort.«36 Die Terroranschläge vom 11. September 2001 hätten in aller Deutlichkeit gezeigt, dass Geschichte an den Raum gebunden sei, Orte gegeben seien, »Städte zum Einsturz gebracht werden können«.37 Schlögels Arbeiten sind geprägt von der »Überzeugung, dass die Steigerung der Aufmerksamkeit für die räumliche Dimension geschichtlichen Geschehens unabdingbar für eine Geschichtsschreibung auf der Höhe der Zeit ist«38. Seine Idee, Geschichte und Raum zu denken, resümiert er folgendermaßen: »Die geschichtliche Konstitution von Räumen, die Geschichtlichkeit von Räumen bezieht sich auf die vielen Dimensionen und Schichten von Räumen.«39 In diesem Zusammenhang ist auch auf einen grundlegenden Vortrag Reinhart 33 Soja: Taking space (Anm. 26), 12. 34 Vittoria Borsý/Reinhold Görling: Einleitung. In: Dies. (Hrsg.): Kulturelle Topografien. Stuttgart 2004, 7 – 12, 7. 35 Karl Schlögel: Räume und Geschichte. In: Stephan Günzel (Hrsg.): Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften. Bielefeld 2007, 33 – 52, 34, 43. 36 Karl Schlögel: Das Russische Berlin. Ostbahnhof Europas. München 2007, 16. 37 Karl Schlögel: Kartenlesen, Augenarbeit. In: Heinz D. Kittsteiner (Hrsg.): Was sind Kulturwissenschaften? 13 Antworten. München 2007, 261 – 279, 262. 38 Schlögel: Räume (Anm. 35), 33. 39 Ebd., 44.

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Kosellecks (1923 – 2006) beim Historikertag 1986 noch zu verweisen. Ein Beitrag, in dem er versuchte, das Konzept Raum für die Geschichtswissenschaft bei gleichzeitiger Anerkennung der Verstrickungen eines Teils der Zunft in die Raumideologie des Nationalsozialismus zu öffnen.40 Selbstverständlich hat sich das Raumparadigma auch in anderen geschichtswissenschaftlichen Werken niedergeschlagen.41 Dabei ist »Raum« durch seine geschichtswissenschaftliche ebenso wie seine ideologische Verwendung im Nationalsozialismus kein unbelastetes historiografisches Konzept. Dies ist bei der Diskussion eines spatial turns in der Geschichtswissenschaft zu berücksichtigen. Während bei Schlögel der Raum vor allem der Anbindung der Geschichte dient und »Spacing History«42 das Schreiben der Einheit von Ort, Zeit und Handlung erfasst, legt Aleida Assmann (*1947) eine Definition der Begriffe Raum und Ort vor. »Raum ist vorwiegend Gegenstand des Machens und Planens, eine Dispositionsmasse für intentionale Akteure, ob es sich dabei um Eroberer, Architekten, Stadtplaner oder Politiker handelt. Alle haben die Zukunft im Blick; sie wollen eingreifen, verändern, umgestalten. (…) Orte sind demgegenüber dadurch bestimmt, dass an ihnen bereits gehandelt bzw. etwas erlebt und erlitten wurde. Hier hat Geschichte immer schon stattgefunden und ihre Zeichen in Form von Spuren, Relikten, Resten, Kerben, Narben, Wunden zurückgelassen.«43

Zudem weist sie Raum und Ort unterschiedliche temporale Orientierungen zu, Ort der Vergangenheit und Raum der Zukunft.44 Diese definitorische Trennung von Ort und Raum erscheint vor allem als theoretische Systematik und zeigt in der Praxis die Schwierigkeit, dass jeder Raum zugleich Ort und jeder Ort zugleich Raum ist und sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft weist. Assmann schränkt jedoch ein, dass das Ziel der Raum/Ort-Unterscheidung die »Hervorhebung unterschiedlicher Perspektiven« und nicht eines »mutuell exklusiven Gegensatzes«45 sei. Weiterhin formuliert Assmann die Idee, Stadt als Palimpsest zu begreifen,46 was sich möglicherweise auf Raum respektive Räumlichkeiten übertragen ließe: Raum als Palimpsest. Diese Perspektive oder 40 Reinhart Koselleck: Raum und Geschichte. In: Ders: Zeitschichten. Studien zur Historik. Frankfurt/Main 2000, 27 – 77. 41 Vgl. u. a. Moritz Cs‚ky/Christoph Leitgeb (Hrsg.): Kommunikation – Gedächtnis – Raum. Kulturwissenschaften nach dem »Spatial Turn«. Bielefeld 2009; Brauch/Lipphart/Nocke, Jewish Topographies (Anm. 23); Kümper et al. (Anm. 23); Alexander C.T. Geppert/Uffa Jensen /Jörn Weinhold (Hrsg.): Ortsgespräche. Raum und Kommunikation im 19. und 20. Jahrhundert. Bielefeld 2005. 42 Schlögel: Im Raume (Anm. 2), 10. 43 Aleida Assmann: Geschichte findet Stadt. In: Cs‚ky/Leitgeb (Anm. 41), 13 – 28, 15 f. 44 Ebd., 16. 45 Ebd., 22. 46 Ebd., 18.

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dieses metaphorische Konzept würde die unterschiedlichen Schichtungen und Überlappungen von Handlung, Zeit und Sozialität genauso erschließbar machen wie auf die dauerhafte (mindestens) partielle »Neubeschriftung« und damit einhergehende »Löschung« (Überschreibung) von Räumen hinweisen, also die Analyse von Kontinuität sowie Instabilität und Neuem zugleich ermöglichen. Soja legt in Thirdspace drei Raumbegriffe vor. Reale Räume seien der Firstspace, »focused on the ›real‹ material world«,47 imaginäre Räume bezeichnet er als Secondspace, »that interprets this reality through ›imagined‹ representations of spatiality«48 und den Thirdspace beschreibt er als »a lived space of radical openness and unlimited scope, where all histories and geographies, all times and places are immanently presented and represented«.49 Diese Überlegungen werden im Folgenden als grobe Struktur aufgegriffen. Der Begriff des Firstspace wird für die geschichtswissenschaftliche Praxis mit den bereits skizzierten Überlegungen Assmanns und Schlögels kombiniert. Sojas Begriff des Thirdspace hingegen wird mit den stärker literaturwissenschaftlichen Thesen Homi Bhabhas (*1949) zum third space oder space-in-between ergänzt und in diesem Beitrag als immanent in Benjamins Werk reflektiert. Der Begriff des third space wird dabei vor allem auf die Medienräume in der Berliner Kindheit übertragen. Diese Zugänge machen es auf der einen Seite möglich, Räumlichkeiten in Benjamins Werk zu benennen und auf der anderen Seite die Verknüpfungen von Gedächtnis und Raum hervorzuheben. Benjamin selbst hat in der Berliner Chronik Raum, Sprache und Erinnerung miteinander verknüpft. »Die Sprache hat es unmißverständlich gedeutet, daß das Gedächtnis nicht ein Instrument zur Erkundung der Vergangenheit ist, sondern deren Schauplatz. Es ist das Medium des Erlebten, wie das Erdreich das Medium ist, in dem die toten Städte verschüttet liegen. Wer sich der eigenen Vergangenheit zu nähern trachtet, muß sich wie ein Mann verhalten, der gräbt.«50 Es ist die individuelle Handlung des Erinnerns in der räumlichen Metapher des Grabens im Erdreich, mit der Benjamin Raum und Erinnerung verbindet. Der third space bei Homi Bhabha, auch space-in-between genannt, verweist als Konzept der postcolonial studies auf die Aushandlung der Bedeutung von Kultur in Kontaktzonen, die Relevanz von Akteurinnen und Akteuren in der Bedeutungskonstitution und ist diskursiv als Ort der Aussage festgeschrieben, »it is the ›inter‹ (…) that carries the burden of meaning of culture.«51 Zwischenräume sind Orte der Aushandlung, an denen das Denken und Erfahren von etwas Neuem und Anderem möglich ist. Der Zwischenraum beschreibt Raum 47 48 49 50 51

Soja: Thirdspace (Anm. 31), 6. Ebd., 6. Ebd., 311. Benjamin: Chronik (Anm. 1), 52. Homi K. Bhabha: The Location of culture. London–New York 2005, 56.

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also losgelöst von real-materiellen Bedingungen und verweist auf seinen Konstruktcharakter. Wenn Zwischenräume auch als Medienräume gelesen werden, lässt sich verhindern, dass der Zwischenraum, so Sojas Kritik an Bhabha, eine spatial unbegründete Trope werde.52 Die medientheoretische Auseinandersetzung mit dem Raum verweist auf die Faktoren der Kommunikation wie der Imagination als Elemente der Konstitution des Raumes. In seiner Einleitung für den Sammelband Ortsgespräche betont Jörn Rüsen (*1938) den Zusammenhang zwischen Raum und Kommunikation und verweist auf die kommunikative wie vorkommunikative Konstituierung von Raum. »Räume sind zwar physisch existent und alles andere als vollständig kulturell konstituiert, aber Menschen verhalten sich in ihnen und zugleich zu ihnen. Dieses Verhalten ist kommunikativ strukturiert, und es ist diese Kommunikation, in der räumliche Vorstellungen zu zentralen Aspekten kultureller Orientierungen der menschlichen Lebenspraxis werden.«53

4.

Räume der Berliner Kindheit um neunzehnhundert

Die drei benannten Raumtypen werden Soja folgend in der Berliner Kindheit aufgespürt. Zunächst wird der Firstspace, die realen Räume, als ein zweidimensionaler Rundgang erkundet. Hierfür werden Orte der Berliner Kindheit um neunzehnhundert auf dem Stadtplan des Pharusverlags von 1903 und in der heutigen Topografie der Stadt aufgesucht. Benjamins Kindheit spielte sich vor allem im alten Westen der Stadt ab, in den heutigen Bezirken Schöneberg, Charlottenburg und Tiergarten. Die Wohnungen, die er mit seinen Eltern bewohnte, sind nicht explizit in der Berliner Kindheit beschrieben, aber sie geben nichtsdestotrotz die Grenzen ab, entlang derer die Erkundung Berlins durch das Kind Benjamin stattfindet. Es sind die Räume des alten Westens, die Benjamin der Berliner Kindheit um neunzehnhundert einschrieb. An ihrem Beispiel lassen sich die Schichtungen der Stadt, die Einschreibung von Gedächtnis im Raum respektive Raum im Gedächtnis zeigen. Benjamin konnte in der Berliner Chronik noch schreiben: »Gewiß stehen zahllose Fassaden der Stadt genau wie sie in meiner Kindheit gestanden haben.«54 Nach 1945 galt dies nicht mehr. So stand zum Beispiel direkt am Magdeburger Platz in Schöneberg, gegenüber von Benjamins Geburtshaus, eine Markthalle. Die Markthalle war titelgebend für eine Miniatur, in der die Sprache als Medium des Erlebten den Raum der Erinnerung gestaltet. 52 Soja: Thirdspace (Anm. 31), 141 f. 53 Jörn Rüsen: Vorwort. In: Geppert/Jensen/Weinhold (Anm. 41), 7 f., 7. 54 Benjamin: Chronik (Anm. 1), 53 f.

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»Vor allem denke man nicht, daß es Markt-Halle hieß. Nein, man sprach ›Mark-Thalle‹, und wie diese beiden Wörter in der Gewohnheit des Sprechens verschliffen waren, daß keines seinen ursprünglichen Sinn behielt, so waren in der Gewohnheit meines Gangs verschliffen alle Bilder, welche sie gewährte.«55 Geburtshaus wie auch Markthalle sind zerstört worden, ein Neubau steht heute am Magdeburger Platz, das Gelände der Markthalle ist eine kleine Grünfläche mit Spielplatz. Der Grundriss der Markthalle ist in der Gestaltung der Grünfläche erkennbar geblieben. In fußläufiger Reichweite vom Magdeburger Platz war die Straße Blumeshof, wo die Großmutter mütterlicherseits in einer 10- bis 12-Zimmer-Wohnung lebte. Diese Straße ist ebenfalls zerstört worden und liegt heute auf dem Gelände des Elisabeth-Krankenhauses. In der entgegengesetzten Richtung befand sich die Genthiner Straße/ Ecke Steglitzer Straße, wo Tante Lehmann wohnte, die Benjamin regelmäßig mit seiner Mutter besuchte. Die Genthiner Straße ist noch existent, die Steglitzer Straße hingegen verschwunden. 1896 sind die Benjamins in die Kurfürstenstraße 154 und weitere vier Jahre später in die Nettelbeckstraße 24 gezogen. Das Wohnhaus in der Kurfürstenstraße steht noch, das Haus in der Nettelbeckstraße ist zerstört und die Nettelbeckstraße in An der Urania umbenannt. Dieser Zug nach Westen ging 1904 weiter in die Carmer Straße 3 in der Nähe des Savignyplatzes, Haus und Straße sind erhalten geblieben, und fand 1912 mit dem Umzug in die Delbrückstraße im Grunewald ein Ende.56 Die Benjamins sind in diesen Jahren immer weiter in das soeben erschlossene und bebaute Charlottenburg gezogen, in immer bessere und gehobenere Wohnlagen. Noch knapp dreißig Jahre zuvor war die Gegend um den Savignyplatz landwirtschaftliche Fläche außerhalb Berlins gewesen. Im neuen Westen gelegen war das Gymnasium, das Benjamin besuchte, ebenso wie der Zoologische Garten und der Tiergarten mit dem Neuen See. Der Zoologische Garten, in dem, wie Benjamin schreibt, das Nilpferd als Zauberpriester in seiner Pagode lebte, war 1844 gegründet und zu einem zentralen Freizeitort in Berlin geworden, wo man sich im Strom »zwischen den Kaffeerestaurationen die Lästerallee entlangschob«.57 Neben diversen Restaurationen und Kapellplätzen enthielt er etliche Gehege, die in einem exotischen Stil gebaut worden waren. Gehege, die eine Imagination des vor allem Fremden oder Außereuropäischen mitten in Berlin inszenierten. Auch wenn der Zoologische Garten erhebliche Kriegszerstörungen zu verzeichnen hatte, ist er einer der Orte, die sich seit Benjamins Beschreibung sicher am wenigsten gewandelt haben. Am Zoologischen Garten entlang führt 55 Benjamin: Kindheit (Anm. 6), 36 f. 56 Die Adressen der Familie Benjamin sind im Berliner Adressverzeichnis für die angegebenen Jahre nachzuvollziehen. Online einsehbar unter : www.zlb.de/besondere-angebote/berlineradressbuecher.html (letzter Abruf: 24. 09. 2013) 57 Benjamin: Kindheit (Anm. 6), 76.

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ein kleiner Weg in den Tiergarten, auf dessen Neuem See Benjamin als Kind zu Walzerklängen Schlittschuh gelaufen ist. »Durch ihre Lage war diese Eisbahn keiner anderen zu vergleichen«.58 Die Möglichkeit zu solch einem Vergnügen ist ebenso verschwunden. Dieser kurze Weg vom alten in den neuen Westen macht auf der einen Seite die Raumgebundenheit des Benjaminschen Textes wie auch die Raumgebundenheit von Alltagsleben und Geschichte deutlich: Indem die Veränderungen der Stadt, seit Benjamin geschrieben hat, in diese Skizze eingeflossen sind, ist die von Adorno festgehaltene »befremdende Nähe« in der Erfahrung des Stadtraums besonders deutlich. Straßen und Häuser der Berliner Kindheit um neunzehnhundert sind kriegszerstört, Plätze umgestaltet und andere in ihrer Form jedoch fast unverändert vorhanden. Die Schichtungen und Sedimente des städtischen Raums Berlin werden sichtbar. Mit Assmann ist die Stadt in Benjamins Text als Palimpsest zu entziffern. Bereits die Veränderungen am Magdeburger Platz, die Zerstörung des Geburtshauses, die Neubebauung, das Verschwinden ganzer Straßen in knapp hundert Jahren macht deutlich, dass Geschichte in den Raum eingeschrieben, aber auch wieder herausgelöscht wird. Leerstellen, Ruinen, Unauffindbarkeiten in der gegenwärtigen Topografie zeigen, dass Stadt ein Raum der Transformationen ist, dessen Grundzüge, wie auch die mittelalterliche Handschrift, die der Metapher als Namensgeberin Patin stand, erkenn- oder zumindest partiell entzifferbar bleiben, deren Text sich jedoch permanent verändert. Dass insbesondere die alten, in gewisser Weise verspielten und zugleich inszenierten preußischen Gartenanlagen in Babelsberg und auf der Pfaueninsel imaginäre Räume – second space – hervorrufen, verwundert kaum. »Der Sommer rückte mich an die Hohenzollern heran.«59 Das Potsdam jener Kindheit, die Wochen in der Sommerwohnung auf dem Brauhausberg »liegen in so blauer Luft«60. Dort war es dem Kind möglich, durchs Unterholz zu streifen, nach Schmetterlingen zu jagen und ein Reich imaginärer Räume zu beherrschen. »Die Nähe dieser dynastischen Anlagen störte mich nie, indem ich mir die Gegend, die im Schatten der königlichen Bauten lag, zueigen machte.«61 Es war eine Herrschaft, die sich vom Sommer bis in den Spätherbst erstreckte. Nur ein Raum ließ sich nicht in Besitz nehmen. »Es war an einem Nachmittage auf der Pfaueninsel, daß ich mir meine schwerste Niederlage holte. Man hatte mir gesagt, ich müsse dort im Grase mich nach Pfauenfedern umsehen.«62 Diese hätten dem Kind zu Insignien der neuen Herrschaft über das weitere imaginäre Gebiet 58 59 60 61 62

Ebd. Ebd., 46. Ebd., 22. Ebd., 46. Ebd.

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gereicht. Mit einer einzigen Pfauenfeder hätte es sich die Insel zu eigen machen können. Aber es hat vergeblich gesucht. »Die Insel war verloren und mit ihr ein zweites Vaterland: die Pfauenerde.«63 Die inszenierten Räume sind vor allem Räume des Kindes, dessen Fantasie sie erschafft. Zugleich sind sie aber auch als gesellschaftliche Projektionsflächen inszeniert, wie die schon erwähnten exotischen Gehege des Berliner Zoos, wo die Strauße vor der Sphinx und den Pyramiden Spalier standen. Die dritte Räumlichkeit dieser Skizze sind die medial induzierten Zwischenräume. Zwei dieser medialisierten Räume werden in der Berliner Kindheit besonders hervorgehoben: das Telefon und das Kaiserpanorama. Das Telefon schaffte in Berlin ab den 1880er-Jahren einen neuen Kommunikationsraum, der auch für Benjamin bedeutsam war, der das Telefon gar als seinen »Zwillingsbruder«64 bezeichnet, der »entstellt und ausgestoßen zwischen der Truhe für schmutzige Wäsche und dem Gasometer in einem Winkel des Hinterkorridors«65 sein Dasein fristete und Benjamin zum »ersten besten Vorschlag, der durch das Telefon an mich erging«,66 verführte. Das Kaiserpanorama war ein Medium, auf das Benjamin in seinem Werk immer wieder zurückkommt. Im Passagen-Werk verweist er nur auf Panoramen im Allgemeinen, in der Einbahnstraße dient es als Metapher für eine politische Rundumschau und in Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit als Verweis auf sich ändernde Rezeptionsgewohnheiten vor Entwicklung der bewegten Bilder. Auch in der Berliner Kindheit kommt er auf das Kaiserpanorama zu sprechen. »Die Künste, die hier überdauerten, sind mit dem zwanzigsten Jahrhundert ausgestorben.«67 Es sind die Reisebilder von Fjorden und Kokospalmen, die »in den Kindern ihr letztes Publikum«68 hatten. Diese unternahmen im Kaiserpanorama eine Rundreise von jeweils 50 Bildern, die in Stille betrachtet wurden. »Musik, die Reisen mit dem Film so erschlaffend macht, gab es im Kaiserpanorama nicht. Mir schien ein kleiner, eigentlich störender Effekt ihr überlegen. Das war ein Klingeln, welches wenige Sekunden, ehe das Bild ruckweise abzog, um erst eine Lücke und dann das nächste freizugeben, anschlug. Und jedes Mal, wenn es erklang, durchtränkten die Berge bis auf ihren Fuß, die Städte in ihren spiegelklaren Fenstern, die Bahnhöfe mit ihrem gelben Qualm, die Rebenhügel bis ins kleinste Blatt, sich mit dem Weh des Abschieds.«69 63 64 65 66 67 68 69

Ebd., 46 f. Ebd., 18. Ebd., 19. Ebd. Benjamin: Kindheit (Anm. 6), 14. Ebd. Ebd.

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Das Kaiserpanorama war ein kleiner Pavillon, in dem stereoskopische Bildfolgen betrachtet werden konnten. Stereoskopien sind Doppelbilder, die bei Betrachtung durch ein Okular vom Gehirn als ein Bild gesehen werden und dadurch eine besondere, dimensionale Tiefenschärfe erlangen. Die stereoskopischen Fotografien wurden mit einem Fotoapparat gemacht, bei dem zwei Objektive im Augenabstand angeordnet waren. Auf diese Weise wurde ein fast gleiches Bild aus zwei minimal differenten Perspektiven fotografiert. Das erste Kaiserpanorama wurde 1880 von August Fuhrmann (1844 – 1925) in Berlin eröffnet. In den folgenden dreißig Jahren baute Fuhrmann ein mediales Imperium auf, zu dem in Hochzeiten mehr als 250 Filialen in ganz Europa gehörten. Die Bildserien mit je 50 Bildern, die in der Zentrale in Berlin zusammengestellt wurden, verfügten über eine Vielzahl an Themen: Berliner Motive, aktuelle Bilder des jeweiligen deutschen Kaisers, verschiedene europäische Städte, Fernreisen in die USA sowie nach Indien und während des Ersten Weltkriegs auch Kriegsbilder.70 Die Reisebilder, die das Kaiserpanorama zeigte, waren Benjamin nicht fremd. Dennoch zeigte das Medium selbst Wirkung: »So wollte ich mich eines Nachmittags vorm Transparent des Städtchen Aix bereden, ich hätte auf dem Pflaster, das von den alten Platanen des Cours Mirabeau verwahrt wird, voreinst gespielt.«71 Hier zeigt sich die immersive Wirkung des Mediums. Die betrachtende Person wird geradezu ins Kunstwerk oder Medium hineingezogen oder versetzt sich in es. Das Kaiserpanorama hatte um 1900 eine spezifische immersive Qualität, zumal der Film noch im Entstehen war. Mehrere Elemente machen das Kaiserpanorama als Medienraum zu einem Zwischenraum. Durch seine immersive Wirkung, die das Klingeln kurz vor dem Bildwechsel durchbricht, geleitet es in den Bildraum, der zwar nur als Stereoskopie vorhanden war, dennoch im Moment der Betrachtung real greifbar scheint. Es ist aber weder ein realer Raum, noch ist es nur die Illusion eines Raumes oder gar imaginiert, sondern es ermöglicht den immersiven »Transport« in den Zwischenraum des stereoskopischen Bilds. Dieser ist nicht imaginär, sondern besteht als Konstrukt real, wie auf einer dritten Ebene. Diese Ebene lässt sich zugleich als Ort der Aushandlung von Wahrnehmungsgewohnheiten und Bildkonventionen deuten und entspricht damit den weiteren Funktionen des Zwischenraums. Das Kaiserpanorama erzeugte und ›verhandelte‹ ein Bild der Fremde ebenso wie ein Bild Berlins oder ein Bild des Kaisers.

70 Michael Bievert/Erhard Senf: Berlin wird Metropole. Fotografien aus dem Kaiserpanorama. Berlin 2000. 71 Benjamin: Kindheit (Anm. 6), 14.

70

5.

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Fazit

Ziel des vorliegenden Aufsatzes war es, das Spannungsfeld von Raum, Stadt und Gedächtnis in Walter Benjamins Berliner Kindheit um neunzehnhundert zu analysieren und so verschiedene Konzepte von Räumlichkeit in den Kindheitsminiaturen herauszuarbeiten. Hierbei ist insbesondere auf Räumlichkeitskonzepte fokussiert worden, die in der Folge des spatial turns formuliert wurden. Benjamins Berliner Kindheit um neunzehnhundert verknüpft in geradezu paradigmatischer Weise Raum und Gedächtnis miteinander, die evozierten Räume der Erinnerung machen den Wandel der Stadt nachvollziehbar. Diese Räume mit Konzepten des spatial turns zu lesen, macht die Bedeutung, die Raum als integraler Bestandteil historischer Betrachtungen haben sollte, deutlich. Benjamins Text enthält verschiedene Konzepte von Räumlichkeit, von denen hier drei diskutiert worden sind. Wichtig zu betonen ist, dass es zwischen den differenten Räumlichkeiten selbstverständlich zu Überschneidungen kommt und diese analytisch nicht in Gänze voneinander zu trennen sind. Raum ist eine herausfordernde und weiterführende Kategorie für die Analyse der Berliner Kindheit um neunzehnhundert und eine, die von Benjamin selbst immer wieder reflektiert worden ist. Zugleich zeigt sie, dass Gedächtnis und Stadt eng mit dem Raum verbunden sind. Mit Benjamin ließe es sich folgendermaßen formulieren. »Hier aber ist von einem Raum, von Augenblicken und vom Unstetigen die Rede.«72

72 Benjamin: Chronik (Anm. 1), 56.

Dietmar von Reeken, Malte Thießen

Regionale oder lokale Geschichtskulturen? Reichweite und Grenzen von Erinnerungsräumen

Für eine Theoriebildung »kleiner Erinnerungsräume«: Vorbemerkungen Dass Erinnerungen nicht nur Bezüge zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft herstellen, sondern auch von Räumen gerahmt werden sowie Räume konstruieren, ist seit Maurice Halbwachs (1877 – 1945) Allgemeingut.1 Umso erstaunlicher ist es, dass zum Verhältnis von Raum und Erinnerung bislang wenige konzeptuelle Überlegungen aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive vorliegen. Das gilt auch für neue Studien, die sich seit einigen Jahren die Erkundung kleiner Räume auf die Fahnen geschrieben haben und »vor Ort« nach Erinnerungen forschen. Hier werden »kommunale«, »lokale« und »regionale Geschichtskulturen« untersucht, das »Landesgedächtnis« oder das »Gedächtnis der Stadt« beziehungsweise »Region« und »Provinz«. Janina Fuge (*1978), Rainer Hering (*1961) und Harald Schmid (*1964) haben vor Kurzem darauf hingewiesen, dass solche kleinen Räume einen ebenso besonderen wie besonders ertragreichen Untersuchungsgegenstand bilden: »Identität in einem geographisch begrenzten Raum, einer Stadt oder einer Region, profitiert von den klaren Grenzen dieser ›Kontaktzone‹ (…): Kommunikation und Austausch von Gruppen verlaufen unmittelbarer, das Wichtige wird hier mit einer überschaubaren Anzahl von Akteuren ausgehandelt. Der geographisch begrenzte Rahmen fungiert als ›gemeinschaftlicher Referenzpunkt‹, an dem sich Zeitzeugen, Nachgeborene und Unbeteiligte zusammenfinden, um das Geschehene zu (re)konstruieren und durch visuell-authentische Eindrücke (…) kollektiv verwendete Narrative zu generieren.«2

1 Maurice Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis. Frankfurt/Main 1985 (1950), 142 – 163. 2 Janina Fuge/Rainer Hering/Harald Schmid: Norddeutsche Erinnerungsräume. Einleitende Gedanken. In: Dies. (Hrsg.): Das Gedächtnis von Stadt und Region. Geschichtsbilder in Norddeutschland. Hamburg 2010, 7 – 14, 10.

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Hier werden wichtige Merkmale als Gemeinsamkeit kleiner Erinnerungsräume betont, sind »Stadt« und »Region« raum- und erinnerungstheoretisch offenbar enge Verwandte, wenn nicht sogar austauschbar. Genau das möchten wir hinterfragen, um eine Theoriebildung kleiner Gedächtnisräume voranzutreiben. Mit diesem Aufsatz geht es uns daher um eine Auseinandersetzung mit der kategorialen und heuristischen Potenz »lokaler« und »regionaler« Geschichtskulturen. Dabei gehen wir davon aus, dass »Lokales« und »Regionales« zwar nicht völlig trennscharf sind und zum Teil ineinander übergehen, dass sie aber im Kern durch spezifische Merkmale zu unterscheiden sind. Wir nutzen dabei – in Anlehnung an Jörn Rüsen (*1938) und andere3 – bewusst den Begriff »Geschichtskultur«, weil er durch die Berücksichtigung aller, auch alltäglicher Formen des Umgangs mit Geschichte deutlich weiter gefasst ist als der Begriff »Erinnerungskultur«.4 Um jeweils die Potenziale der unterschiedlichen Räume für Erinnerungen ausloten zu können, sollen zunächst die Spezifika lokaler Geschichtskulturen, also von Erinnerungen in Dörfern, Städten, Gemeinden und Kommunen, erörtert werden. Daran anschließend wechseln wir auf die regionale Ebene und vergleichen schließlich in einem Fazit beide Erinnerungsräume miteinander, um Perspektiven für die weitere Forschung zu entwickeln. Die Unschärfe der Begriffe und Phänomene bedingt, dass wir sowohl die Übergänge zwischen lokalen und regionalen Gedächtnisräumen problematisieren als auch die Übergänge zwischen Regional- und »Landesgedächtnis«.

Lokale Geschichtskulturen »Vor Ort« wird Geschichte konkret. Diese Feststellung ist weniger banal als sie klingt, wenn man sie als Unterscheidungskriterium für Gedächtnisräume versteht. Denn die Konkretheit von Vergangenheitsbezügen ist bereits ein Merkmal, an dem im Folgenden die spezifische Signatur lokaler Geschichtskulturen gezeigt werden soll. Anschließend stehen zwei weitere Merkmale im Fokus, mit denen sich lokale Gedächtnisräume weiter eingrenzen lassen: ihr Einfluss als Erinnerungsrahmen für Zeitzeugen sowie die Bedeutung von Erinnerungstopografien und relationalen Raumordnungen. 3 Vgl. etwa Jörn Rüsen: Was ist Geschichtskultur? Überlegungen zu einer neuen Art, über Geschichte nachzudenken. In: Klaus Füßmann/Heinrich Theodor Grütter/Ders. (Hrsg.): Historische Faszination. Geschichtskultur heute. Köln-Weimar-Wien 1994, 3 – 26. 4 Dies abweichend von Christoph Cornelißen, der Geschichtskultur, obwohl er sich auf Rüsen beruft, auf die kognitive Dimension verengt: Christoph Cornelißen: Was heißt Erinnerungskultur? Begriff – Methoden – Perspektiven. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 54 (2003), 548 – 563, 555.

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Materialität und »Eigen-Sinn« lokaler Spuren und Orte Die Erinnerungsforschung ist nicht gerade arm an Metaphern. Für kleine Erinnerungsräume ist etwa das Bild vom Palimpsest verbreitet. Bei Aleida Assmann (*1947) und Moritz Cs‚ky (*1936) lesen wir von der Stadt als Palimpsest, das immer wieder überschrieben werde, sodass sich in der Architektur und im städtischen Raum mehrere »Zeitschichten« übereinanderlegten.5 Macht man sich vor Ort auf die Suche nach solchen Zeitschichten, stößt man in erster Linie auf Denkmäler, Gedenkstätten und -tafeln, auf Straßennamen oder Überreste der NS-Zeit wie Bunker, Lager und Verwaltungsgebäude. Hinzu kommen »ausradierte« Spuren, die ebenfalls Schichten im Palimpsest hinterlassen. Ein bekanntes Beispiel sind die sogenannten »Bombenlücken«: im Krieg zerstörte Häuser, die bis heute klaffende Leerstellen in Straßenzügen markieren, oder Bauten der Fünfzigerjahre, die als Kontrast zum benachbarten Altbaubestand den Verlust durch den Krieg umso sichtbarer machen. Wenn auch zu fragen bliebe, ob solche Leerstellen bewusst als »testimonials« belassen wurden, wie Susan Mazur-Stommen (*1967) für Rostock vermutet, sind sie zweifellos erinnerungsträchtige Orte und Spuren: »The Bombenlücken become symbolic storage spaces«.6 All diesen Dingen ist eines gemein: Sie sind materielle Spuren der Vergangenheit beziehungsweise ihrer Verarbeitung, also eine »Form der Verdichtung und Vergegenständlichung von Geschichte, (…) greifbare Träger und Zeichen und Spuren«.7 Diese Spuren sind alltäglich präsent und physisch erfahrbar. Und genau diese Materialität und Alltäglichkeit markiert einen wesentlichen Unterschied gegenüber größeren Geschichtskulturen: Im Lokalen sind Spuren und Orte weniger abhängig von besonderen Anlässen und rituellen Begehungen, um als Erinnerungsträger zu fungieren. Selbstverständlich ist auch die Bedeutung lokaler Spuren gerahmt von zeitgenössischen Interessen und Deutungsmustern der Erinnernden. Gleichwohl sind lokale Spuren nicht beliebig deutbar. Ihre Aura des Authentischen, ihre Materialität und Entität bilden Eckpunkte eines Deutungsrahmens, in dem sich spezifische Narrative entfalten. Bleiben wir dafür bei Beispielen aus dem Zweiten Weltkrieg, bei kirchlichen 5 Aleida Assmann: Geschichte findet Stadt. In: Moritz Cs‚ky/Christoph Leitgeb (Hrsg.): Kommunikation – Gedächtnis – Raum. Kulturwissenschaften nach dem ›Spatial Turn‹. Bielefeld 2009, 13 – 27, 18; Moritz Cs‚ky : Das Gedächtnis der Städte. Kulturelle Verflechtungen – Wien und die urbanen Milieus in Zentraleuropa. Köln 2010, 96 – 98. 6 Susan Mazur-Stommen: Evading What the Nazis Left Behind. An Ethnographic and Phenomenological Examination of Historic Preservation in Postwar Rostock. In: Gavriel Rosenfeld/ Paul Jaskot (Ed.): Beyond Berlin: 12 German Cities Confront the Nazi Past. Ann Arbor 2008, 67 – 86, 81. 7 Assmann: Geschichte findet Stadt (Anm. 5), 16.

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Ruinen, die der Luftkrieg in der ganzen Bundesrepublik hinterlassen hat. Solche »Bombenkirchen«, in Norddeutschland zum Beispiel St. Aegidien in Hannover, St. Martin in Kassel, St. Nicolai in Kiel oder St. Nikolai in Hamburg sowie die Gedächtniskirche in Berlin, beziehen sich zunächst einmal auf das Ereignis Luftkrieg. Zweifellos wurde und wird dieser Bezugspunkt bis heute immer wieder neu und immer wieder anders gedeutet.8 Bekannt sind etwa lokale Erinnerungen an den Luftkrieg als Beweis des tatkräftigen Wiederaufbaus, als Mahnung an den Frieden, als Plädoyer für eine Versöhnung ehemaliger Kriegsgegner oder gar als Eingeständnis von Schuld am »Holocaust«.9 Und doch sind all diese Deutungen niemals beliebig, sondern stets Interpretationen und Variationen des Eigen-Sinns. So erhöhen Erinnerungen an den Wiederaufbau ihre Wirkungsmacht dank der Kontrastwirkung, die Kirchenruinen gegenüber der neugebauten Umwelt entfalten. Im Berliner Fall wird dieser Kontrastwirkung sogar im Kirchenbau entsprochen. Die Erinnerung an den »Holocaust« wiederum wirkt umso bedrückender, wenn sie mit Trümmern kultureller Gebäude unterfüttert wird, die den »Zivilisationsbruch« noch unterstreichen. Die Materialität lokaler Spuren stellt einer späteren »symbolischen Umkodierung« also einen gewissen »Widerstand entgegen«10 und ein spezifisches Repertoire möglicher Deutungen bereit. Oder, um im Bild zu bleiben: Die Spuren vor Ort bilden die Grundierung späterer Zeitschichten. Das zeigt sich auch an einem Beispiel aus Lübeck. Auch hier bildet eine im Luftkrieg zerstörte Kirche das zentrale Mahnmal: Seit der Bombardierung Lübecks im März 1942 stehen die zu Boden gefallenen Glocken im Süderturm der Marienkirche als

8 Vgl. Hans Werner Dannowski: Es gibt keine Sprache, über Hiroshima zu sprechen. Die Gedenkstätte St. Aegidien in Hannover. In: Ders. (Hrsg.): Erinnern und Gedenken. Mit Beiträgen aus Coventry, Dresden, Hamburg, Hannover, Kassel und Rotterdam. Hamburg 1991, 16 – 20, 17; Hans Feller: »Gedenket aber der früheren Tage…«. Stadtgeschichte und Gedenken am Beispiel der Martinskirche zu Kassel. In: Ebd., 45 – 61; Wolfgang Grünberg: »Als das Feuer vom Himmel fiel…«. St. Nikolai als Gedächtnisort. In: Peter Reichel (Hrsg.): Das Gedächtnis der Stadt. Hamburg im Umgang mit seiner nationalsozialistischen Vergangenheit. Hamburg 1997, 47 – 60; Malte Thießen: Die »Katastrophe« als symbolischer Bezugspunkt. Städtisches Gedenken an den Luftkrieg in der BRD und der DDR. In: Natali Stegmann (Hrsg.): Die Weltkriege als symbolische Bezugspunkte: Polen, die Tschechoslowakei und Deutschland nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg. Prag 2009, 91 – 108. 9 Vgl. dazu die Fallstudien in Jörg Arnold/Dietmar Süß/Malte Thießen (Hrsg.): Luftkrieg. Erinnerungen in Deutschland und Europa. Göttingen 2009; zur Erinnerung in weiteren Städten der Bundesrepublik und DDR vgl. Jörg Arnold: The Allied Air War and Urban Memory : The Legacy of Strategic Bombing in Germany. Cambridge 2011; Dietmar Süß: Tod aus der Luft. Kriegsgesellschaft und Luftkrieg in Deutschland und England. München 2011, 483 – 561; Malte Thießen: Gemeinsame Erinnerungen im geteilten Deutschland. Der Luftkrieg im »kommunalen Gedächtnis« der Bundesrepublik und der DDR. In: Deutschland Archiv 41 (2008), 226 – 232. 10 Assmann: Geschichte findet Stadt (Anm. 5), 22.

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Symbol für die NS-Zeit.11 Interessanterweise wurde an dieser Stelle aber keineswegs nur an das »Dritte Reich« im Allgemeinen oder an den Luftkrieg im Besonderen erinnert. Von den Fünfziger- bis in die Achtzigerjahre standen in St. Marien Erinnerungen an Flucht und Vertreibung im Vordergrund, kamen Landsmannschaften und Vertriebenenverbände an den Glocken zusammen, um an den »deutschen Osten« zu erinnern.12 Doch diese Erinnerungen an Flucht und Vertreibung fanden erst im Deutungsrahmen des Luftkriegs ihren Platz in der lokalen Geschichtskultur und Akzeptanz in der städtischen Öffentlichkeit. Erst das Anpassen neuer Deutungen an die bestehende Ruinen-Symbolik und in das Jahrestags-Ritual, das Einschreiben von Flucht und Vertreibung in den »Eigen-Sinn« St. Mariens, sicherte den Vertriebenen eine lokale Erinnerungstradition. Insofern wurde St. Marien mit neuen Bedeutungen überschrieben, die den Eigen-Sinn gleichwohl nicht auslöschten. Neben den »Neu-Lübeckern« aus »dem Osten«, die den Verlust ihrer Heimat betrauerten, fanden sich in der Kirche immer auch alteingesessene Lübecker ein, die des Verlustes ihrer Altstadt gedachten.

Lokale Gedächtnisräume als Deutungsrahmen und Erinnerungsimpuls für Zeitzeugen Der »Eigen-Sinn« und die Entität von Spuren »vor Ort« ist noch für einen zweiten Aspekt von Bedeutung, mit dem lokale Gedächtnisräume ihre spezifische Gestalt erhalten: Sie dienen individuellen Erinnerungen als Impuls und Deutungsrahmen. Bereits Halbwachs hat diesen Zusammenhang hervorgehoben, genau genommen ist der Zusammenhang zwischen Räumen als Erinnerungsimpuls und -rahmen sogar eine Erkenntnis mnemotechnischer Studien seit der Antike. Umso erstaunlicher ist es, dass die Beziehung zwischen lokalen Räumen und Erinnerung von Zeitzeugen in der »oral history« bislang keine große Rolle spielt. Dabei zeigen neuere Forschungen, dass eine Untersuchung dieser Beziehung neue Erkenntnisse gewinnen kann. Ein interdisziplinäres Oral-History-Projekt mit Zeitzeugen des Hamburger »Feuersturms«, der schweren Luftangriffe auf 11 Vgl. Manfred F. Fischer : Die Glocken von St. Marien. Ein vorläufiger Bericht zu einem Mahnmal in Lübeck. In: Zeitschrift des Vereins für Lübeckische Geschichte 82 (2002), 265 – 293; Malte Thießen: »Palmarum« im Gedächtnis der Stadt. Lübecks Gedenken an den Bombenkrieg von 1942 bis heute. In: Ebd. 92 (2012), 247 – 276. 12 Malte Thießen: Wiederaufbau zum Sehnsuchtsort: Die Restaurierung der Lübecker Marienkirche als Symbolkirche des »deutschen Ostens«. In: Georg Wagner-Kyora (Hrsg.): Wiederaufbau der Städte: Europa seit 1945/ Rebuilding European Cities: Reconstruction-Policy since 1945. Stuttgart 2014.

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die Hansestadt vom Juli 1943, weist beispielsweise nach, dass der Anblick von Bunkern, Bombenlücken oder sogar ganzer Stadtviertel als Erinnerungsimpuls und Gesprächsanlass dient,13 wie das Interview mit einem Zeitzeugen belegt: »Es hat mich auch im Alter wieder hierher gezogen[,] in die Umgebung von meinem früheren Stadtteil[,] und ich geh da ja oft vorbei, verhältnismäßig. Und dann sieht man das immer wieder, hat man das immer wieder alles vor sich, nicht.«14

Dass lokale Spuren besondere Anziehungskraft haben, aber auch besonders abschreckend sein können, belegen Silke Betschers (*1971) Befragungen in Bremen. Hier ist der U-Boot-Bunker Valentin als Erinnerungsimpuls für das Schicksal von Zwangsarbeitern und KZ-Häftlingen eine Quelle negativer Gefühle, die noch heute gelegentlich sprudelt, wie es eine Frau beschreibt: Es »war ein tiefes Unbehagen in mir, dass unsere Gegend einfach beschmutzt war von diesem ganzen Gezeug. Eben diese Unbefangenheit, die Ursprünglichkeit war weg. (…) wie in einem Haus, wo eingebrochen worden ist. Dass man plötzlich Angst hat, man ist nicht mehr allein«.15

Selbst sehr viel unscheinbarere Dinge, die an Alltäglichkeit kaum zu überbieten sind, legen räumliche Ankerpunkte für das Erzählen von Lebensgeschichten. So weisen einige Zeitzeugen des Hamburger »Feuersturms« darauf hin, dass sie beim Anblick bestimmter Straßenpflaster noch heute an ihr Überleben denken. »Also ich erzähl das aber auch wegen dieser Asphaltgeschichte«, berichtet eine Hamburgerin, die die Luftangriffe im Juli 1943 als junges Mädchen erlebte: »Wir sind nachher rausgekommen dank der Tatsache, dass manche Straßen noch mit schwedischem Granit gepflastert waren. Stellen Sie [sich] das heute mal vor. Ein Ereignis mit dieser Hitzeentwicklung. Kein Mensch könnte mehr vor die Tür gehen, nicht? Also, darüber spricht man ja aber gar nicht. Deswegen erzähl ich das.«16

Doch nicht nur Überreste der Vergangenheit, auch lokale Geschichtskulturen üben eine besondere Wirkung auf Zeitzeugen aus und stecken einen Erinnerungsrahmen ab, in dem sich persönliche Deutungen entfalten. Dresden bietet für solche Wechselwirkungen zwischen lokalen Geschichtskulturen und kom13 Vgl. dazu die weiteren Belege und Ergebnisse des Projekts bei Malte Thießen: Der »Feuersturm« im kommunikativen Gedächtnis. Tradierung und Transformation des Luftkriegs als Lebens- und Familiengeschichte. In: Arnold/Süß/Thießen (Anm. 9), 312 – 331. 14 Interview W.S., 28. 08. 2006. Alle Zitate aus den Interviews des »Feuersturm«-Projekts werden im Folgenden mit Angabe der Initialen des Befragten und des Datums des Interviews belegt; Einsicht in die Interviews ermöglicht die »Werkstatt der Erinnerung«, das OralHistory-Archiv der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (http://www.zeitgeschichte-hamburg.de). 15 Zitiert nach Silke Betscher : Der Bunker und das Dorf. In: Inge Marszolek/Marc Buggeln (Hrsg.): Bunker. Kriegsort, Zuflucht, Erinnerungsraum. Frankfurt/Main 2008, 121 – 136, 123. 16 Interview mit B.B., 18. 02. 2008.

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munikativem Gedächtnis eines der bekanntesten Beispiele.17 Hier berichten Zeitzeugen immer wieder von Tieffliegerangriffen, die sie während der Bombardierung im Februar 1945 mit eigenen Augen gesehen hätten. Für diese Angriffe finden sich zwar keine Belege in der Geschichte, allerdings umso mehr in der Geschichtskultur. Bereits die NS-Propaganda gab sich alle Mühe, den Angriff auf Dresden als Kriegsverbrechen herauszustellen und lancierte bewusst überhöhte Opferzahlen und Schreckensgeschichten. Diesem Motiv blieb man in der DDR treu, fungierte der Jahrestag des Angriffs doch bald als »Kampftag gegen die amerikanischen Kriegshetzer«,18 der auch Zeitzeugen nicht unberührt ließ, wie Thomas Widera (*1958) hervorhebt: »Den von der Propaganda vorgegebenen Deutungsrahmen füllten die Betroffenen mit Versatzstücken des eigenen Erlebens aus, angereichert mit Hinweisen zu aktuellen politischen Bezügen.«19 Nun wissen wir von den Einflüssen nationaler Mythen, die ebenfalls als »geliehene Erinnerung« in die Lebensgeschichte von Zeitzeugen gleichsam einwandern können. Der Einfluss lokaler Geschichtskulturen allerdings ist insofern von eigener Qualität, als sie die Deutungen im Nahbereich der Zeitzeugen verorten und emotional aufladen, wie Nicole Mehring (1967 – 2011) am Beispiel von Bunker-Ausstellungen nachgewiesen hat. Der Nahbereich verwandle sich zu einer »emotionalisierende[n] Plattform« für »sinnliche Erfahrung«, von der Vergangenheitsbezüge zu lebensgeschichtlichen Erinnerungen aufgeladen würden.20 In diesem Zusammenhang lässt sich auch auf die Bedeutung lokaler Geschichtskulturen für die Ausbildung von Erinnerungsgemeinschaften hinweisen, die sich nicht nur anhand von Tiefflieger-Erinnerungen in Dresden, sondern auch in anderen Städten zeigen lässt. So berichtet ein Zeitzeuge aus Hamburg von der Gedenkfeier an einem Jahrestag des »Feuersturms«: »Wo dieser große Gedenkfriedhof ist für die Ausgebombten, da war dieser Ökumenische Gottesdienst, da sind wir, meine Frau und ich da gewesen, ich war also überrascht über die vielen Menschen, (…) Und das war also sehr beeindruckend, muss ich

17 Vgl. dazu die grundlegenden Beobachtungen von Alexander von Plato: Erinnerungen an ein Symbol. Die Bombardierung Dresdens im Gedächtnis von Dresdnern. In: BIOS 20 (2007), 123 – 137. 18 Zur lokalen und nationalen Geschichtskultur in Dresden vgl. Matthias Neutzner : Vom Anklagen zum Erinnern. Die Erzählung vom 13. Februar. In: Oliver Reinhard/Matthias Neutzner/Wolfgang Hesse (Hrsg.): Das rote Leuchten. Dresden und der Bombenkrieg. Dresden 2005, 128 – 164. 19 Thomas Widera: Gefangene Erinnerung. Die politische Instrumentalisierung der Bombardierung Dresdens. In: Lothar Fritze/Thomas Widera (Hrsg.): Alliierter Bombenkrieg. Das Beispiel Dresdens. Göttingen 2005, 109 – 134, 132. 20 Nicole Mehring: Funktionale Architektur – emotionale Erinnerungen. Luftschutzbunker als Erinnerungsorte in der Bundesrepublik seit den 1990er Jahren. In: Karoline Tschuggnall (Hrsg.): Erinnerung & Emotion. Lengerich 2006, 83 – 104, 89.

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sagen. (…) Da waren ja auch alle, ja Gleichaltrige, die irgendwie so was auch miterlebt hatten«.21

Im Gegensatz zu Jahrestagen nationaler Provenienz konstituiert sich in lokalen Geschichtskulturen eine Erinnerungsgemeinschaft, die mehr ist als eine »imagined community« (Benedict Anderson [*1936]): »Vor Ort« eröffnet sich ein Forum der Interaktion, in dem Zeitzeugen unterschiedliche persönliche Erlebnisse als ein gemeinsames Ereignis wahrnehmen. Wahrscheinlich entstehen solche Praktiken der Erinnerung nicht nur an Gedenkstätten. Zu erforschen wäre weiterhin der Einfluss von Stadtmuseen, Ausstellungen oder lokaler Wahrzeichen für die Ausbildung von Erinnerungsgemeinschaften. Darüber hinaus bilden lokale Geschichtskulturen einen Erinnerungsrahmen für die Weitergabe von Erinnerungen und damit für das »Familiengedächtnis«. So berichtet die Tochter einer Zeitzeugin des Hamburger »Feuersturms«, dass lokale Jahrestage für sie eine Gelegenheit gewesen seien, mit eigenen Fragen an die Mutter heranzutreten. Der Luftkrieg war so ein »Thema«, auf »das man (…) anhand irgendeiner Dokumentation oder so gekommen ist, dass man sagt: ›Ey du, ich hab da grad was gesehen oder gehört, sag mal, wie war das eigentlich?’« Offenbar dienen Geschichtskulturen als eine Art generationenüberschreitender Transmissionsriemen. Sie legen eine Brücke zwischen den Generationen, auf denen die Erinnerung weiter wandern kann. Ihre stabilsten Fundamente findet diese Brücke vor Ort: Denn hier dient die alltägliche Lebenswelt als Bezugs- und Bedeutungsrahmen für Familiengeschichten.22

Erinnerungstopografien und relationale Raumordnungen Drittens zeichnet sich im Lokalen ab, was Sighard Neckel (*1956) in Anlehnung an Pierre Bourdieu (1930 – 2002)23 als »relationale Ordnungen«24 des Erinnerns beschrieben hat. In lokalen Geschichtskulturen zeigen sich demnach räumliche Beziehungen und Bezüge zwischen »Gedenkstätten«, die als Topografien lokaler Gedächtnisräume erfassbar werden. Konkretisieren lässt sich dieses Phänomen der Erinnerungstopografien an Beobachtungen aus Hamburg. Hier bildete der 21 Interview mit H.S., 18. 10. 2006. 22 Vgl. Malte Thießen: Zeitzeuge und Erinnerungskultur. Zum Verhältnis von privaten und öffentlichen Erzählungen des Luftkriegs. In: Lu Seegers/Jürgen Reulecke (Hrsg.): Die »Generation der Kriegskinder«. Historische Hintergründe und Deutungen. Gießen 2009, 157 – 182. 23 Vgl. Pierre Bourdieu: Ortseffekte. In: Ders.: Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft. Konstanz 1997, 159 – 167. 24 Sighard Neckel: Felder, Relationen, Ortseffekte: Sozialer und physischer Raum. In: Cs‚ky/ Leitgeb (Anm. 5), 45 – 55, 47.

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Rathausmarkt seit seiner Umgestaltung Ende des 19. Jahrhunderts die städtische Repräsentationsfläche. Interessanterweise finden wir hier nur ein einziges Denkmal zur Geschichte des 20. Jahrhunderts: die Barlach-Stele, 1931 eingeweiht zum Gedenken an die Toten des Ersten Weltkriegs, seit ihrer Wiederherstellung 1949 erweitert um die Erinnerung an die Gefallenen beider Weltkriege. Bislang scheint diese Gedenkstätte also der einzige Bezugspunkt zum »Dritten Reich« zu sein, der gesamtstädtischen Repräsentationsansprüchen genügt. Das legt auch die Geschichte anderer Denkmäler nahe. Seit 1945 versuchten zahlreiche Initiativen immer wieder – im Übrigen bis heute – ihre Denkmäler in Nähe des Rathauses zu errichten, um mit der zentralen räumlichen Lage die zentrale Bedeutung ihres Anliegens zu unterstreichen. So sollte 1949 ein »Denkmal für die Verfolgten des Nazi-Regimes« nach Wunsch der »Vereinigung für die Verfolgten des Naziregimes« (VVN) die Barlach-Stele ergänzen, was allerdings auf wenig Gegenliebe des SPD-Senats stieß. Das Gedenken an die NSOpfer war in dieser Zeit derart umstritten, dass man das Denkmal auf den Ohlsdorfer Friedhof legte. Hier gab es zwar keinerlei Bezüge zu den Opfern, waren die KZ-Toten doch nicht in Ohlsdorf bestattet worden, allerdings auch ebenso wenige Bezüge zum politischen Alltagsbetrieb, wie ein Regierungsmitglied erleichtert feststellte.25 Beim Gedenken an den Luftkrieg sah die Sache anders aus: Zwar wurde auch das »Ehrenmal für die Bombenopfer« wenige Jahre später auf diesem Friedhof errichtet. Hier allerdings bestanden direkte Verbindungen, denn das Ehrenmal liegt inmitten der Massengräber für die Bombentoten. Darüber hinaus etablierte sich ab den Sechzigerjahren eine weitere Gedenkstätte zum Luftkrieg nur wenige Steinwürfe vom Rathaus entfernt. Seither ist St. Nikolai, die rußgeschwärzte Bombenruine in der »City«, ein weit sichtbares Zeichen für die zentrale Stellung des Erinnerungsorts »Luftkrieg« im Herzen der Stadt. Damit war St. Nikolai auch ein räumlicher Ausdruck von der Tendenz lokaler Geschichtskulturen, bis in die 1980er-Jahre zunächst der »eigenen«, also der deutschen Kriegsopfer, und erst dann der Opfer nationalsozialistischer Verfolgung zu gedenken, wie Robert G. Moeller (*1949) gezeigt hat.26 Dass Erinnerungstopografien Ausdruck von Erinnerungskonjunkturen und politischen Präferenzen sind, legen auch KZ-Gedenkstätten wie jene in Neuengamme und Dachau nahe. Zwar stießen diese beiden Orte ab Mitte der Sechzigerjahre zu25 Vgl. Harold Marcuse: Das Gedenken an die Verfolgten des Nationalsozialismus, exemplarisch analysiert anhand des Hamburger »Denkmals für die Opfer nationalsozialistischer Verfolgung und des Widerstandskampfes«. Magisterarbeit (Geschichtswissenschaft). Ms. Hamburg 1985; Malte Thießen: Eingebrannt ins Gedächtnis. Hamburgs Gedenken an Luftkrieg und Kriegsende 1943 bis 2005. München 2007, 108 – 127. 26 Vgl. Robert G. Moeller : War Stories. The Search for a Usable Past in the Federal Republic of Germany. Berkeley 2001.

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mindest gelegentlich auf lokalpolitische Resonanz. Und doch blieben KZ-Gedenkstätten lange Zeit aus der Geschichtskultur »ausgelagert«.27 Ihrer Lage »vor den Toren der Stadt« entsprach ihre periphere Lage im lokalen Gedächtnis bis in die Achtzigerjahre und der geringen politischen Bedeutung der Akteure, die für diese Gedenkstätten stritten. Nun ließe sich einwenden, dass die Lager ja tatsächlich außerhalb der Städte lagen, die Topografie der Erinnerung also schlichtweg der »Topographie des Terrors« geschuldet ist. Dieser Einwand blendet allerdings die erbitterten Kämpfe um die Erinnerung an die Außenlager aus, wie sie etwa für Bergen-Belsen, Dachau und Neuengamme seit den Achtzigerjahren ins Auge fallen. Da viele dieser Nebenlager sehr viel zentraler lagen als die Stammlager, war ihre räumliche Nähe ein allzu offensichtlicher Hinweis auf NS-Verbrechen vor Ort, was eine lokale Geschichtskultur selten beförderte. Zur Beschreibung solcher Prozesse hat Sighard Neckel hervorgehoben, dass räumliche Nähe keineswegs soziale Nähe bedeute, sondern Distinktionsbestrebungen sogar noch fördert. »Große Nähe« könne daher »geradezu ein sozialräumliches Hindernis für die Kommunikation von Erinnerung sein und der kollektiven Amnesie Vorschub leisten«.28 Das wohl bekannteste Beispiel für diese »Ortseffekte« (Pierre Bourdieu) sind die »Stolpersteine«, die mittlerweile in zahlreichen deutschen und europäischen Städten zu finden sind. Schließlich verweisen sie direkt auf Verbrechen vor Ort und markieren das Schicksal der Deportierten unmittelbar vor deren ehemaligen Wohnhäusern. Eine konkretere Form der Verortung von Erinnerung lässt sich wohl kaum denken. Gerade deshalb nimmt die Erfolgsgeschichte der Stolpersteine ihren Anfang in den Neunzigerjahren, in einer Zeit also, in der das »Dritte Reich« aus dem kommunikativen Gedächtnis verschwand und Zeitzeugen selten wurden. Eine Fixierung der Erinnerung am Ort der Verbrechen, im Herzen der Städte und Gemeinden war also erst möglich, als die Einwohner in 27 Zu Dachau vgl. Harold Marcuse: Legacies of Dachau. The Uses and Abuses of a Concentration Camp, 1933 – 2001. Cambridge 2001; zu Neuengamme u. a. Detlef Garbe: Seismographen der Vergangenheitsbewältigung. Regionalbewusstsein und Erinnerungsorte der NS-Verbrechen am Beispiel des ehemaligen KZ Neuengamme. In: Habbo Knoch (Hrsg.): Das Erbe der Provinz. Heimatkultur und Geschichtspolitik nach 1945. Göttingen 2001, 218 – 232; Malte Thießen: Das Konzentrationslager im Gedächtnis der Stadt. Gedenken an die »Befreiung« Neuengammes. In: Andreas Ehresmann et al. (Hrsg.): Die Erinnerung an die nationalsozialistischen Konzentrationslager. Akteure, Inhalte, Strategien. Berlin 2011, 171 – 189. Für München hat Rosenfeld hervorgehoben, dass das erstaunliche »Fehlen von Gedenkstätten hinsichtlich des brutalen Umgangs mit den Juden in München« darauf zurückzuführen sei, dass das Hauptaugenmerk auf Dachau gelegen habe (Gavriel D. Rosenfeld: Architektur und Gedächtnis. München und Nationalsozialismus. München 2004, 226). 28 Neckel: Felder (Anm. 24), 55; Für Neuengamme vgl. dazu jetzt auch die Fallstudie zum individuellen und familiären Umgang mit dem Konzentrationslager von Gesa Trojan: Wie ausgestanzt. Das Konzentrationslager Neuengamme in der lokalen Erinnerung, Magisterarbeit. Ms. Lüneburg 2013.

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den Häusern oder deren Nachbarn kaum noch mit unangenehmen Fragen rechnen mussten. Je mehr sich die Zeitzeugen also aus lokalen Geschichtskulturen verabschiedeten, desto näher rückte die Erinnerung an NS-Verbrechen in den Fokus lokaler Geschichtskulturen und damit in das Zentrum lokaler Gedächtnisräume. Zwischen der räumlichen Lage von Gedenkstätten und ihrer Relevanz für lokale Geschichtskulturen besteht also ein untrennbarer Zusammenhang. Insofern eröffnen lokale Gedächtnisräume der Erinnerungsforschung die Möglichkeit, im Raum die Zeit zu lesen, um Karl Schlögels (*1948) Bonmot aufzugreifen.29 Zu erfassen wäre dieser Raum nicht nur anhand von Entfernungen. Hinzu kommen weitere Faktoren, mit denen sich lokale Gedächtnisräume vermessen lassen. Das Milieu der Umgebung von Gedenkstätten wäre ein solcher Faktor, ihre infrastrukturelle Anbindung ein anderer. Wer bis in die Neunzigerjahre versucht hat, die KZ-Gedenkstätte Neuengamme mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen, dürfte eine sehr konkrete Vorstellung davon behalten haben, wie lokale Räume und öffentliche Akzeptanz zusammenhängen. Durch räumliche Relationen und Infrastrukturen werden Gedenkstätten und ihren Akteuren also Relevanz zugeschrieben, aber auch umgekehrt: Lokale Geschichtskulturen »schaffen sich ihre geografisch-kulturellen Orientierungsbezüge«,30 wie Harald Schmid betont. In diesem Sinne eröffnen lokale Geschichtskulturen sowohl eine kulturgeografische als auch eine kulturwissenschaftliche Perspektive auf den Zusammenhang von Raum und Erinnerung.31 Sie befördern einerseits eine »Verortung« kulturwissenschaftlicher Erinnerungsforschung, die Prozesse lokalisieren, also genau bestimmen kann; andererseits sensibilisiert eine Analyse lokaler Gedächtnisräume für die soziokulturelle Konstruktion von Räumen und für das, was Moritz Cs‚ky mit »Kultur als Kommunikationsraum«32 umschrieben hat.

29 Karl Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik. Frankfurt/Main 2006. 30 Harald Schmid: Regionale Erinnerungskulturen – ein einführender Problemaufriss. In: Ders. (Hrsg.): Erinnerungskultur und Regionalgeschichte. München 2009, 7 – 22, 13. 31 Vgl. Julia Lossau: Räume von Bedeutung. Spatial turn, cultural turn und Kulturgeographie. In: Cs‚ky/Leitgeb (Anm. 5), 29 – 43, 42 – 43. 32 Cs‚ky : Gedächtnis der Städte (Anm. 5), 101.

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Regionale Geschichtskulturen Was ist eine »Region«? Welche Kommunikations- und Erinnerungsräume eröffnen sich demgegenüber im Regionalen? Inwiefern unterscheiden sich regionale von lokalen Geschichtskulturen – und was erbringt diese Unterscheidung für die Forschung? Erste Antworten und neue Fragen bietet ein Fallbeispiel, das in die unmittelbare Gegenwart führt: Alljährlich findet seit 1981 in einer jeweils anderen niedersächsischen Stadt der »Tag der Niedersachsen« statt, ein bedeutsames Ereignis, an dem bis zu 200.000 Besucher teilnehmen. Dieser Tag ist ein Event, mit dem sich ein Ort insbesondere für Touristen selbst darstellt, ein Tag aber vor allem, der – durchaus politisch beabsichtigt – eine gesamtniedersächsische Identität stiften oder diese wenigstens symbolisch und rituell untermauern soll, weshalb auch die niedersächsische Landesregierung Mitveranstalter ist. Für 2012 wurde Duderstadt als Veranstaltungsort ausgewählt. Im Vorfeld dieses Festes fand ein Interview der dpa mit dem Vorsitzenden der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen, dem Osnabrücker Mediävisten und Landeshistoriker Thomas Vogtherr (*1955), statt, das breit in den Medien, bis hin zur BildZeitung, rezipiert (wenn auch nicht weiter kommentiert) wurde.33 Dieses Interesse erregte wohl vor allem Vogtherrs gegenwartspolitische Forderung, den »Tag der Niedersachsen« abzuschaffen, weil die Absicht, die Schaffung einer gesamtniedersächsischen Identität, wenig Aussicht auf Erfolg habe. Vogtherr schlug als Ersatz einen »Tag der Regionen« vor, der die »ungeheure Heterogenität und Vielfalt Niedersachsens« deutlich machen könne.34 Einmal abgesehen davon, dass hier ein Historiker wie andere vor ihm versucht, Geschichtspolitik zu betreiben, ist für unsere Überlegungen das Verständnis der »Region« von Bedeutung: Vogtherr verlangt zwar nicht die Auflösung Niedersachsens, wie sie ja in der Geschichte des Landes durchaus immer wieder im Gespräch war. Aus seiner Forderung spricht aber eine Skepsis gegen Identitätskonstruktionen auf der Ebene des Bundeslands sowie eine besondere Wertschätzung kleinräumiger Identitäten. Dies führt zu der grundsätzlichen Frage, was denn überhaupt eine »Region« ist. In Vogtherrs Aussage wird »Region« gegen »Bundesland« ausgespielt – Niedersachsen als Bundesland wäre danach eine Summe von Einzelregionen (Hannover, Braunschweig, Oldenburg, Ostfriesland und weitere) mit eigener 33 Vgl. etwa Historiker : Tag der Regionen besser als Tag der Niedersachsen. http://www.bild.de/ regional/hannover/hannover-regional/historiker-tag-der-regionen-besser-als-tag24479106.bild.html (30. 07. 2012). 34 Ebd.

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Dignität und Identität. Die Forschung hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten intensiv mit dem Regionsbegriff auseinander gesetzt, und zwar in unterschiedlichen Disziplinen (vor allem Geografie, Geschichtswissenschaft, Soziologie, Ethnologie). Dabei herrscht weitgehend Konsens, dass das Regionskonzept eher »weich« ist.35 Immerhin ist klar, dass es sich bei Region um eine »Mesoebene« handelt, also einen Raum mittlerer Größe, wobei sich »mittlere Größe« auf die Ebene zwischen der nationalen respektive staatlichen und der lokalen beziehungsweise kommunalen Ebene bezieht.36 Weitgehende Einigkeit besteht auch darin, dass Regionen nicht »gegeben« sind, wie ältere Auffassungen vor allem in der Geografie behaupteten,37 sondern von Menschen geschaffen werden. Dabei lassen sich indes unterschiedliche Aspekte unterscheiden: Regionen können Untersuchungsregionen von Wissenschaftlern sein, also von ihnen nach wissenschaftlichen Maßstäben konstruiert werden; dies spielte etwa eine zentrale Rolle bei der Entstehung einer modernen Regionalgeschichte in den Siebzigerjahren, die sich dadurch von der traditionellen Landesgeschichte abgrenzte, dass sie »Region« nur noch funktional definierte: Regionen dienten als Untersuchungsfeld, wo man Fragestellungen aus der allgemeinen Geschichte in einem überschaubaren Gebiet exemplarisch und in der notwendigen Tiefe untersuchten konnte. »Länder« als politische, historisch entstandene Territorien spielten für die Regionalgeschichte keine Rolle, sie definierte ihre Untersuchungsregion selbst, und diese konnte mit einem »Land« deckungsgleich sein, nur Teilräume umfassen oder länderübergreifend konzipiert sein, wie zum Beispiel Industrialisierungsregionen. Die scharfen Gegensätze der beiden Konzepte haben sich mittlerweile etwas abgeschliffen, ohne ganz verschwunden zu sein.38 Gleichwohl wird zunehmend betont, dass es eine Frage des Erkenntnisinteresses ist, ob eine Region als Untersuchungsregion konzipiert oder als »Land« analysiert wird, wie in jüngeren Forschungen zum Landesgedächtnis von Harald Schmid, Christoph Cornelißen (*1958) und anderen.39 35 Vgl. Jürgen Reulecke: Regionalgeschichte heute. Chancen und Grenzen regionalgeschichtlicher Betrachtungsweise in der heutigen Geschichtswissenschaft. In: Karl Heinrich Pohl (Hrsg.): Regionalgeschichte heute. Das Flüchtlingsproblem in Schleswig-Holstein nach 1945. Bielefeld 1997, 23 – 32, 25. 36 Ebd., 31; Hans Heinrich Blotevogel: Auf dem Wege zu einer ›Theorie der Regionalität‹: Die Region als Forschungsobjekt der Geographie. In: Gerhard Brunn (Hrsg.): Region und Regionsbildung in Europa. Konzeptionen der Forschung und empirische Befunde. BadenBaden 1996, 44 – 68, 56; zur »Mesoebene« in Bezug auf Erinnerungsräume vgl. Thießen: Gemeinsame Erinnerungen (Anm. 9), 231 – 232. 37 Vgl. Blotevogel (Anm. 36), 44. 38 Vgl. Werner Freitag: Landesgeschichte als Synthese – Regionalgeschichte als Methode. In: Westfälische Forschungen 54 (2004), 291 – 305. 39 Vgl. etwa Harald Schmid: Das Landesgedächtnis. Geschichtspolitik und Erinnerungskultur in Schleswig-Holstein. In: Fuge/Hering/Schmid, Gedächtnis (Anm. 2), 110 – 137; Christoph Cornelißen: Der lange Weg zur historischen Identität. Geschichtspolitik in Nordrhein-

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Die Konstruktion von Regionen durch die Wissenschaft ist aber nur die eine Seite der Medaille. Die andere ist die Konstruktion durch die Zeitgenossen selbst, durch die Bewohner der Region, die »ihre« Region als eine Einheit empfinden. Dieser Aspekt ist besonders von Forschern aus Geografie und Geschichtswissenschaft betont worden, so von Jürgen Reulecke (*1940), der in einem Aufsatz von 1991 die entsprechende Frage aufwarf: »Regionen existieren, aber existieren sie auch als empirisch greifbare Entitäten oder ›nur‹ in den Vorstellungswelten und Wahrnehmungen von Menschen gewissermaßen als ›mental maps‹, d. h. als nur in den Köpfen vorhandene Landkarten, als mentale Ordnungsvorstellungen, die das ›Wir‹ von dem ›Anderen‹ zu unterscheiden hilft?«

Reulecke beantwortete seine Frage kurz darauf selbst: »Dort, wo es in den Köpfen der Menschen, d. h. in ihrem aktiven Wissen und Handeln, nicht bei der entfalteten Vielheit bleibt, sondern zum Bewusstsein einer entfalteten Einheit gekommen ist, da ist Region.«40 Einige Jahre später fügte er hinzu: »›Region‹ ist also in erster Linie davon abhängig, ob die Bewohner eines bestimmten Raumes ihn als einen besonderen erleben und sich mit ihm identifizieren.«41 Aus geografischer Perspektive pflichtete Hans Heinrich Blotevogel (*1943) Reulecke weitgehend bei, indem er feststellt, dass eine Region »in erster Linie durch das gemeinsame Handeln von Akteuren, ihren Interaktionen, Intentionen, Einstellungen und Überzeugungen konstituiert«42 werde. Allerdings gibt es in beiden Regionskonzepten unterschiedliche Nuancen: Geht Reulecke stärker von den Bewohnern einer Region und ihren Wahrnehmungen aus, so verweist Blotevogel vor allem auf die »Akteure« und ihr Handeln, in dem sich die Region konstituiere. Forschungspraktischer, dies sei vorausgeschickt, erscheint uns die zweite Variante, weil in historischer Perspektive das Denken und Handeln der Akteure in den Quellen eher »greifbar« sind als die Wahrnehmungen der Masse der Bewohner einer Region. Wichtig ist für unseren Zusammenhang darüber hinaus, dass die Forschung einer bestimmten Deutung von Geschichte eine zentrale Rolle bei der Entstehung und Konturierung einer »regionalen Identität« zuweist, wie es Reulecke auf den Punkt gebracht hat: »Regionalbewusstsein konstituiert also Region und umgekehrt und beruht auf einer sozial vermittelten symbolischen Konstruktion (…), die (…) zentral mit dem Rück-

Westfalen seit 1946. In: Thomas Schlemmer/Hans Woller (Hrsg.): Bayern im Bund, Band 3. Politik und Kultur im föderativen Staat 1949 bis 1973. München 2004, 411 – 484. 40 Jürgen Reulecke: Von der Landesgeschichte zur Regionalgeschichte. In: Geschichte im Westen 6 (1991), 202 – 208, 205 f., 207. 41 Reulecke: Regionalgeschichte heute (Anm. 35), 25. 42 Blotevogel (Anm. 36), 52.

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griff auf die regionale Geschichte zu tun hat (bis hin zur ›invention of tradition‹ und zur Konstruktion von Mythen).«43

Dies galt offenbar vor allem für das 19. Jahrhundert, in dem – parallel zum Nationsbildungsprozess und eng mit ihm verbunden – der Bezug zur Geschichte eine zentrale Bedeutung für das »kognitive Kartieren« besaß. Detlev Briesen (*1957) und Rüdiger Gans verwiesen im Kontext eines Siegener Forschungsprojekts zur regionalen Identität in den Neunzigerjahren darauf, dass die Geschichte bei der Entstehung »regionaler Identifikationskonzepte« im 19. Jahrhundert zwei Aufgaben erfüllte: Erstens versichere der Geschichtsbezug der Region eine einzigartige Individualität, zweitens stelle er Kontinuität her, suggeriere er »Dauer in Zeiten beschleunigten Wandels«.44 Martina Steber (*1976) hat in ihrer wichtigen Regionalstudie über das bayerische Schwaben, die das 19. und die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts in den Blick nimmt, diese Überlegungen aufgegriffen und auf eine konkrete Region bezogen – wobei auch sie im Prinzip beide Ebenen der Konstruktion von »Region« integriert: Das »bayerische Schwaben« ist zum einen ein Raum mittlerer Größe, der vor allem durch kommunikative Verdichtung und Vernetzung und deren Wahrnehmung gekennzeichnet ist; gleichzeitig ist Region für sie auch ein »forschungspraktisch-analytischer Begriff«.45 Demnach erweist sich die Tragfähigkeit eines regionalen Zugriffs für die Erforschung des Zusammenhangs von Gedächtnis und Raum vor allem im Forschungsprozess in der Auseinandersetzung mit konkreten »Regionen«. Im Folgenden soll daher induktiv vorgegangen werden, indem auf Grundlage empirischer Forschungen zu Niedersachsen sozusagen einige Probebohrungen vorgenommen werden, aus denen sich erste Ergebnisse sowie neue Fragen ergeben, die für zukünftige Forschungen einen Ausgangspunkt bilden können.

43 Reulecke: Regionalgeschichte heute (Anm. 35), 31; Der eigentlich interessante Band von Joachim Kuropka zur »Regionale(n) Geschichtskultur« verzichtet leider bewusst auf eine theoretische Grundlegung (Joachim Kuropka: Einleitung. In: Ders. (Hrsg.): Regionale Geschichtskultur. Phänomene – Projekte – Probleme aus Niedersachsen, Westfalen, Tschechien, Lettland, Ungarn, Rumänien und Polen. Berlin 2010, 10). 44 Detlef Briesen/Rüdiger Gans: Regionale Identifikation als »Invention of Tradition«. Wer hat und warum wurde eigentlich im 19. Jahrhundert das Siegerland erfunden? In: Berichte zur deutschen Landeskunde 66 (1992), 61 – 73, 67. 45 Martina Steber : Ethnische Gewissheiten. Die Ordnung des Regionalen im bayerischen Schwaben vom Kaiserreich bis zum NS-Regime. Göttingen 2010, 16 – 18 (Zitat 18).

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»Niedersachsen« als Konstruktion und Realität – Potenziale des regionalen Zugriffs »Niedersachsen« entstand im 19. Jahrhundert als Idee in einer politischen Landschaft, die von einer Reihe von Territorialstaaten geprägt war, die ihrerseits zum Teil ebenfalls heterogen, weil erst in jüngerer Zeit in dieser Form entstanden waren. Dies galt vor allem für das Königreich Hannover, zum Teil aber auch für das Großherzogtum Oldenburg, die beide neue Gebiete in ihr Staatsgebiet zu integrieren hatten.46 Zwar bezog man sich beim Begriff »Niedersachsen« auf ältere historische Zusammenhänge. In der Substanz aber war es eine moderne Neuschöpfung, die Sprengkraft für die bestehenden politischen Gebilde besaß. Die gewichtigsten Argumente bei der Konzipierung »Niedersachsens« kamen aus einer bestimmten Deutung von Geschichte und Gegenwart: Die vor allem in Hannover und Braunschweig angesiedelten Protagonisten insbesondere aus dem Bildungsbürgertum stellten im Zuge einer romantischen Entdeckung von »Stamm« und »Volkstum« eine lange Traditionslinie bis in die Sachsenzeit heraus. Sie betonten daher historische Gemeinsamkeiten, die nur zwischenzeitlich verschüttet oder durch als negativ konnotierte politische Entwicklungen überformt gewesen seien. Dies geschah vor allem in zahlreichen Publikationen – »Niedersachsen« wurde also vor allem literarisch konstruiert.47 Am Ende des 19. Jahrhunderts wurde diese Niedersachsenideologie zunehmend agrarromantisch und zivilisationskritisch aufgeladen und ikonisch sowie rituell tradiert, zum Beispiel durch Bilder vom eichenumstandenen niedersächsischen Bauernhaus oder etwas später durch das an Popularität gewinnende Niedersachsenlied. Ein zentraler Träger dieser Ideologie war die entstehende und sich verbreitende Heimatbewegung, die »Niedersachsen« auch in ihrem Namen trug. Faktisch allerdings repräsentierte sie mit diesem Namen, jedenfalls soweit sich damit ein Anspruch auf Einheitlichkeit verband, nur Teile der Bewegung im nordwestdeutschen Raum; in Ostfriesland und Oldenburg etwa stand man diesen Ansprüchen skeptisch bis ablehnend gegenüber. Im frühen 20. Jahrhundert zum Teil auch völkisch konnotiert, entwickelte sich der Nie46 Vgl. zur »Niedersachsenidee« vor allem: Dieter Lent: Das Niedersachsenbewußtsein im Wandel der Jahrhunderte. In: Carl Haase (Hrsg.): Niedersachsen. Territorien – Verwaltungseinheiten – geschichtliche Landschaften. Göttingen 1971, 27 – 50; Werner Hartung: Konservative Zivilisationskritik und regionale Identität am Beispiel der niedersächsischen Heimatbewegung 1895 bis 1919. Hannover 1991, vor allem 117 ff.; Dietmar von Reeken: Niedersachsen – eine historische Erfindung. Argumente, Verfechter und Gegner der Pläne zur Schaffung eines Landes »Niedersachsen«. In: Jürgen John (Hrsg.): Mitteldeutschland. Begriff – Konstrukt – historische Realität. Leipzig 2001, 409 – 417. 47 Ähnlich sah dies in Oberschwaben aus, vgl. Franz Quarthal: Oberschwaben als Region des kulturellen Gedächtnisses. In: Rolf Kießling/Dietmar Schiersner (Hrsg.): Erinnerungsorte in Oberschwaben. Regionale Identität im kulturellen Gedächtnis. Konstanz 2009, 27 – 60, 58.

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dersachsengedanke bis 1946 zu einer schlagkräftigen Waffe eines politischen Kampffeldes im Zuge der Reichsreformdiskussionen, bei dem sich Anhänger und Gegner durch klar konturierte Selbst- und Fremdbilder und scharfe Abgrenzungen (gegeneinander, vor allem zwischen Hannover und Oldenburg, ebenso wie beispielsweise gegen Westfalen oder gegen manche Aspekte der Moderne) auszeichneten. Letztlich setzten sich die Niedersachsenbefürworter in einer Mischung aus moderner und rückwärtsgewandter Argumentation einerseits und der Nutzung einer günstigen politischen Gelegenheit andererseits 1946 durch – Niedersachsen wurde zur politischen Realität. Angesichts der Heterogenität des neu geschaffenen Landes stellte sich nun allerdings auf der politischen Ebene die Aufgabe einer Landesintegration, die neben ökonomischen und sozialen vor allem kulturelle Aspekte umfassen sollte. Systematisch wurde daher versucht, durch die Konstruktion einer historischen Identität und die Ausblendung missliebiger, partikularistischer historischer Entwicklungen eine gemeinsame regionale Identität zu stiften.48 Die Versuche zur Wiederherstellung der alten Länder Oldenburg und Schaumburg-Lippe über Volksabstimmungen 1956 und 1975 oder die oben zitierte Forderung Thomas Vogtherrs zeigen, dass diesen Versuchen nur begrenzter Erfolg beschieden war.49 Was bedeutet das für die Frage nach Region und Gedächtnis? In dem »Raum Niedersachsen«, der zunächst nur als Idee konstruiert wurde, konfligierten und konfligieren nach wie vor unterschiedliche regionale Gedächtnisse miteinander, die sich auf je spezifische Geschichts- und Gegenwartsdeutungen stützen, in denen sich – immer gebrochen und neu interpretiert – Fragmente der Traditionen früherer Partikularstaaten finden. Die jahrhundertelange föderale Struktur Deutschlands verleiht der regionalen Ebene daher auch für die Untersuchung von Gedächtnisräumen besondere Bedeutung. Gleichzeitig zeigt sich, dass insbesondere die Untersuchung von Regions- als Gedächtniskonflikten die Gedächtnisforschung befruchten kann, weil diese Konflikte als Katalysatoren der Selbst- und Fremdidentifikation dienten und geradezu »Identifika-

48 Vgl. Dietmar von Reeken: »Das Land als Ganzes!« Integration durch Heimatpolitik und Landesgeschichte in Niedersachsen nach 1945. In: Knoch (Hrsg.): Erbe der Provinz (Anm. 27), 99 – 116; ders.: Heimatbewusstsein, Integration und Modernisierung. Die niedersächsische Heimatbewegung zwischen Landesgründung und »Grenzen des Wachstums«. In: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 79 (2007), 297 – 324. 49 Vgl. etwa zu Oldenburg Albrecht Eckhardt: Oldenburg und die Gründung des Landes Niedersachsen. In: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 55 (1983), 15 – 70; ders.: Oldenburg und Niedersachsen. In: Albrecht Eckhardt (Hrsg.): Geschichte des Landes Oldenburg. Ein Handbuch, hrsg. in Zusammenarbeit mit Heinrich Schmidt. Oldenburg 1987, 491 – 512; sowie allgemein: Klaus-Jürgen Matz: Länderneugliederung. Zur Genese einer deutschen Obsession seit dem Ausgang des Alten Reiches. Idstein 1997, 102 f.

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tionsschübe« auslösten.50 Solche Konflikte schlagen sich zudem besonders breit in den Quellen nieder, was die Erforschung regionaler Identitäten erleichtert.

Regionale Erinnerungsakteure und -netzwerke Die Konflikte um »Niedersachsen« zeigen gleichzeitig, dass es wichtig ist, auch auf der Akteursebene die regionale Perspektive stärker zu profilieren. In den jahrzehntelangen Debatten sind spezifische Netzwerke zwischen Wissenschaftlern, Geschichts- und Heimatbewegten und Politikern nachweisbar, die in unterschiedlichen Konstellationen und auf unterschiedlichen Wegen aktiv werden.51 An einem Beispiel lassen sich diese Netzwerke verdeutlichen: Die Spitze der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen, zunächst Karl Brandi (1868 – 1946), dann auch Georg Schnath (1898 – 1989), fungierte in den Zwanziger- und Dreißigerjahren als teils informelle, ja geheime, teils publizistisch aktive Politikberaterin für die Leitung der Provinz Hannover.52 Bei dieser Beratung mussten Brandi und Schnath sehr vorsichtig vorgehen, spiegelte sich in der Zusammensetzung der Historischen Kommission und ihrer Leitungsgremien doch die territoriale und geschichtspolitische Heterogenität des Raumes wider. Hätten etwa die oldenburgischen Ausschussmitglieder von den Aktivitäten der Kommissionsspitze erfahren, wären vermutlich scharfe Konflikte, möglicherweise sogar eine Spaltung der Organisation die Folge gewesen. Gleichzeitig waren die Landeshistoriker verbunden mit Repräsentanten anderer regionalbezogener Wissenschaften sowie mit der regionalen Heimatbewegung, die systematisch für die Propagierung eigener Vorstellungen und für politische Lobbyarbeit genutzt wurde – bis hin zur Vorphase der Landesgründung 1945/46. In den oben genannten Versuchen zur Stiftung einer niedersächsischen Landesidentität setzte sich diese bewährte Zusammenarbeit in den Fünfziger- und 50 Der Begriff »Identifikationsschübe« nach: Thomas Küster : »Regionale Identität« als Forschungsproblem. Konzepte und Methoden im Kontext der modernen Regionalgeschichte. In: Westfälische Forschungen 52 (2002), 1 – 44, 5. 51 Vgl. hierzu Dietmar von Reeken: Wissenschaft, Raum und Volkstum. Historische und gegenwartsbezogene Forschung in und über »Niedersachsen« 1910 – 1945. Ein Beitrag zur regionalen Wissenschaftsgeschichte. In: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 68 (1996), 43 – 90; zur Bedeutung der »Verwissenschaftlichung« in diesen Identitätsbildungsprozessen im späten 19. Jahrhundert vgl. etwa den Hinweis in: Peter Haslinger/Klaus Holz: Selbstbild und Territorium. Dimensionen von Identität und Alterität. In: Peter Haslinger (Hrsg.): Regionale und nationale Identitäten. Wechselwirkungen und Spannungsfelder im Zeitalter moderner Staatlichkeit. Würzburg 2000, 15 – 37, 23. 52 Vgl. hierzu Dietmar von Reeken: »… gebildet zur Pflege der landesgeschichtlichen Forschung«. 100 Jahre Historische Kommission für Niedersachsen und Bremen 1910 – 2010. Mit Verzeichnissen zur Geschichte der Historischen Kommission von Uwe Ohainski. Hannover 2010, 63 – 68.

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Sechzigerjahren fort. Weitgehend ungeklärt erscheint allerdings noch, was die Akteure jeweils zu ihrem teilweise erheblichen regionalen Engagement motivierte – hier wären biografische Forschungen notwendig, um etwa die Bedeutung individueller Erfahrungen für den Prozess der »Akteurswerdung« auszuloten. Fragt man nach der Vernetzung der regionalen Deutungseliten, so muss man nach den Foren ihrer Vernetzung fragen. An unserem Beispiel lässt sich etwa feststellen, dass verschiedene Foren und Institutionen genutzt wurden: Man traf sich aus aktuellem Anlass bei informellen Besprechungen (meist in Hannover), bei Sitzungen von Vereinen und Verbänden, in denen die Personen Leitungsaufgaben übernommen hatten, bei besonderen, öffentlichkeitswirksamen Veranstaltungen (bei Jahrestagungen der Historischen Kommission, beim Niedersachsentag der Heimatbewegung, bei Jubiläen, Ordensverleihungen und weiteren). Der persönliche Kontakt spielte hierbei sicher eine wichtige Rolle (ohne dass die Bedeutung dieses Kontakts bislang erforscht wäre), womit sich Bezüge zur lokalen Ebene ergeben, obgleich die Kontakte in der Region weniger alltäglich als vielmehr geplant und institutionalisiert waren. Ein zweites wichtiges Forum schuf die mediale Präsenz. Die Ideen der Netzwerker wurden in regionalen Medien präsentiert,53 allen voran in den Publikationen, Zeitschriften und Jahrbüchern der Heimat- und Geschichtsbewegung sowie in der regionalen Presse. Dies diente zum einen der Klärung und Konturierung der eigenen Geschichts- und Identitätsvorstellungen, sodass die jeweilige Region medial konstruiert wurde, indem über gemeinsame Themen informiert und diskutiert werden konnte. Zum anderen erreichten die Akteure damit auch eine größere Breitenwirksamkeit ihrer Ideen. Wie genau dies auf regionaler Ebene geschah, mit welchen Symbolen, Ritualen, Institutionen und Diskursen,54 wäre bei der Vermessung nicht nur regionaler Gedächtnisräume noch genauer zu erforschen.55

Fazit Für eine Theoriebildung kleiner Erinnerungsräume bieten regionale und lokale Geschichtskulturen also eine Fülle von Anregungen. Damit diese Anregungen für die Erinnerungsforschung fruchtbar gemacht werden können, halten wir eine kategoriale Differenzierung zwischen nationalen, regionalen und lokalen 53 Blotevogel betont, dass die soziale Kommunikation auf der regionalen wie auf der nationalen, aber anders als auf der lokalen Ebene der Vermittlung durch technische Medien bedarf (Blotevogel (Anm. 36), 56). 54 Vgl. Küster (Anm. 50), 18 im Anschluss an Benedict Anderson. 55 Vgl. aber die Pionierstudie von Steber (Anm. 45).

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Erinnerungen für sinnvoll. Ein erstes Ergebnis unseres Beitrags ist daher die Beobachtung, dass sich unterhalb der nationalen Ebene besondere Formen, Funktionen und Folgen der Erinnerung beschreiben lassen. Lokale und regionale Geschichtskulturen sind demnach nicht bloß nationale Geschichtskulturen »im Kleinen«, sondern Gedächtnisräume eigener Art. So weisen lokale und regionale Geschichtskulturen eine höhere Verbindlichkeit auf als nationale Geschichtskulturen. Harald Schmid hat das in einem Aufsatz treffend auf den Punkt gebracht: »vor Ort wird der Umgang mit Geschichte konkret«.56 Tatsächlich sind hier direkte Konfrontationen mit Personen, Spuren und Orten ungleich häufiger als auf nationaler Ebene, wachsen das Distinktionsbestreben oder der Zwang zum Konsens mit der sozialen Nähe an. Im Regionalen ist diese Nähe eine wichtige Voraussetzung für Netzwerke, die sich zwischen verschiedenen Akteuren entfalten und die für die Konstruktion regionaler Gedächtnisräume von Bedeutung sind. Darüber hinaus entfalten sich im Lokalen und Regionalen Praktiken des Erinnerns, die eine andere Qualität entwickeln als medial inszenierte Jahrestage nationaler Provenienz: Eine Erinnerungsgemeinschaft konstituiert sich vor Ort nicht nur virtuell, sondern real, in der Praxis und Performanz von Ritualen und Routinen, mit denen Veranstaltungen und Orte begangen werden. Das bedeutet nicht, dass kleinere Geschichtskulturen nicht ebenfalls medial inszeniert würden. Doch vor Ort bestehen Gelegenheiten zur Interaktion, entsteht hier nicht nur eine »imagined community« wie auf nationaler Ebene, sondern stoßen wir auf sehr reale Kontakte zwischen Menschen und Orten. Es ist diese Verbindlichkeit, die lokalen und gelegentlich auch regionalen Geschichtskulturen ihren besonderen Stempel aufdrückt. Sie erhöht sowohl die Intensität individueller Erinnerungen als auch die Bedrohlichkeit der Erinnerung für kollektive Identitäten. Im Falle des »Dritten Reichs« war eine gängige Reaktion auf diese Verbindlichkeit deshalb lange Zeit Schweigen – und zwar sehr viel länger als auf nationaler Ebene. Andererseits lassen sich nicht bloß nationale Geschichtskulturen auf der einen Seite und kleinere Geschichtskulturen auf der anderen Seite unterscheiden. Auch das Regionale und das Lokale, das wäre ein zweites Ergebnis, lassen sich schwerlich gleichsetzen. Unsere Überlegungen möchten wir daher nicht nur als Anstoß zur Intensivierung der Theoriedebatte über kleine Gedächtnisräume verstehen, sondern auch als Versuch, Kategorien für eine Differenzierung verschiedener Erinnerungsebenen zu finden. Auf der lokalen Ebene ist die Alltäglichkeit und Entität sowie der »Eigen-Sinn« von Spuren ein solches Merkmal, die Prägekraft dieser Orte als Erinnerungsrahmen für Zeitzeugen und Erinnerungstopografien beziehungsweise relationale Ordnungen des Raumes sind zwei 56 Schmid: Regionale Erinnerungskulturen (Anm. 30), 11.

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weitere. Im Regionalen wiederum sticht der Konstruktionscharakter von Identitäten besonders stark hervor, spielen zudem Netzwerke und Milieus eine andere Rolle als im Lokalen. Regionen sind demnach Foren des Aushandelns von Geschichts- und Gegenwartsdeutungen, in Deutschland insbesondere im 19. und 20. Jahrhundert. Diese Aushandlungsprozesse standen meist in enger Verbindung zu politischen Prozessen, wobei diese politische Aufladung im Regionalen stärker zu sein scheint als auf lokaler Ebene.57 Wahrscheinlich dürfte die meist größere soziale, ökonomische und konfessionelle Heterogenität von Regionen eine Rolle für diese Aufladung spielen, speist sich aus der regionalen Vielfalt doch ein größerer Integrationsbedarf. Hier sehen wir folglich eine Erklärung für den Konstruktionscharakter, der im Regionalen stärker zu greifen scheint als im Lokalen: in dem Bedarf nach Identitäten, der von Zeitgenossen mit Geschichtsdeutungen befriedigt wurde. Selbstverständlich gibt es ebenso im Lokalen Geschichtskonstruktionen, sind Dörfer und Städte eine reiche Quelle für Geschichtsmythen. Und doch scheint der Eigen-Sinn des Lokalen ein markantes Unterscheidungskriterium gegenüber dem Regionalen zu sein, spielt Materialität und Entität in lokalen Gedächtnisräumen eine ungleich stärkere Rolle als im Regionalen. Zugespitzt lässt sich die oben beschriebene Differenzierung von kulturgeografischen und kulturwissenschaftlichen Ansätzen, die Julia Lossau (*1971) treffend auf den Punkt gebracht hat,58 als Unterscheidungsmerkmal für lokale und regionale Geschichtskulturen fassen: Während im Lokalen Erinnerungen durch den Raum, durch Topografien und Spuren geprägt werden, ist es im Regionalen die Erinnerung, die die Wahrnehmung des Raumes erschafft, ja Räume überhaupt schafft, wenn man den Konstruktionscharakter ernst nimmt. In welchem Verhältnis stehen nun die drei Ebenen zueinander, welche Wechselbeziehungen ergeben sich zwischen dem Lokalen, Regionalen und Nationalen? Unserem Eindruck nach lassen sich Regionen als Übergangsräume zwischen der lokalen und der nationalen Ebene verstehen, heute wahrscheinlich stärker denn je auch zwischen der lokalen und der europäischen beziehungsweise globalen Ebene. Auch die Akteure, die Deutungseliten bewegen sich auf diesen unterschiedlichen Ebenen. Sie sind gleichzeitig lokal verankert, regional 57 Zur Bedeutung des 19. Jahrhunderts, in dem offenbar gerade in den neu gebildeten politischen Territorien regionale Identitäten entstanden, die auch im 20. Jahrhundert noch sehr beharrungskräftig waren, vgl. schon die ältere Forschung: Heinz Gollwitzer : Die politische Landschaft in der deutschen Geschichte des 19./20. Jahrhunderts. Eine Skizze zum deutschen Regionalismus. In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 27 (1964), 523 – 552, 530 ff.; Peter Schöller : Die Problematik des Richtbegriffes »Landsmannschaftliche Verbundenheit« bei der Länder-Neugliederung. In: Westfälische Forschungen 26 (1974), 25 – 45, 28. 58 Lossau: Räume von Bedeutung (Anm. 31), 42 – 43.

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vernetzt und teilweise national orientiert, wie unser Fallbeispiel Brandi gezeigt hat: Karl Brandi war ein deutschlandweit, zum Teil auch international anerkannter Historiker, vernetzt in der überregionalen scientific community, und dort mit anderen Themen beschäftigt, als in seiner regionalen Arbeit.59 Zu fragen wäre also auch, wie diese Ebenen in persona zusammenhängen, bei Brandi etwa während seiner Tätigkeit vor Ort an der Universität Göttingen, wie also die Akteure zwischen den Ebenen changieren und was dies für die Konstruktion regionaler oder lokaler Identitäten bedeutet. Zu untersuchen wären in diesem Zusammenhang noch weitere Wechselwirkungen, etwa zwischen verschiedenen Erinnerungsräumen einer Ebene, die wir gar nicht in den Blick genommen haben. Dabei könnte der Vergleich von Dörfern, Städten und Regionen vieles sagen über transregionale und translokale Erinnerungsverflechtungen, wie sie sich etwa bei Städtepartnerschaften nachweisen lassen.60 Von diesen allgemeinen Überlegungen abgesehen, ergeben sich aus unseren Resultaten drei konkrete Fragen, die für zukünftige Forschungen Anstöße geben könnten, sodass wir sie abschließend kurz anreißen möchten: (1) Seit dem 19. Jahrhundert ist Deutschland durch die föderale Tradition geprägt, was die Ergiebigkeit einer regionalen Perspektive noch unterstreicht. Gleichwohl hat der Föderalismus nicht nur eine politische, sondern immer auch eine konfessionelle Komponente, die für Erinnerungsprozesse berücksichtigt werden muss: Lassen sich in Gedächtnisräumen also Unterschiede zwischen katholischen und protestantischen Regionen feststellen? Ist in katholischen Gegenden die Region aufgrund des Ultramontanismus oder katholischer Kirchenstrukturen beispielsweise weniger bedeutsam als im Protestantismus, der durch das jahrhundertealte landesherrliche Kirchenregiment geprägt ist? Inwiefern konstruieren kirchliche Gebäude und Traditionen eine lokale Identität von Dörfern und Städten oder ganzer Regionen, wie es der Begriff der »Sakrallandschaft« nahelegt?61 (2) Noch offen erscheint uns auch die Frage, inwiefern naturräumliche Bedingungen bei der Konstruktion von Erinnerungsräumen eine Rolle spielen.62 Lassen sich im Lokalen oder Regionalen gemeinsame Erinnerungen aufgrund von jahrhundertelangen (und oft katastrophischen) Erfahrungen, zum Beispiel mit den Gewalten des Meeres ausmachen? Inwiefern kon-

59 Vgl. Reeken: Wissenschaft (Anm. 51). 60 Vgl. zuletzt das instruktive Fallbeispiel von Axel Schildt: Ein Hamburger Beitrag zur Verständigung im Kalten Krieg. Der Jugendaustausch mit Leningrad 1959 – 1991. In: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 98 (2012), 193 – 217. 61 Vgl. etwa Quarthal (Anm. 47), 28, 33, über die »Sakrallandschaft« Oberschwaben. 62 Vgl. etwa den knappen Hinweis von Quarthal (Anm. 47), 28, zum »Naturaspekt«.

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struieren Naturräume Erinnerungsgemeinschaften (und umgekehrt), die quer liegen zu politischen Ordnungsmustern?63 (3) Schließlich war die Heimatbewegung ein zentraler Akteur lokaler und regionaler Geschichtskulturen, deren Beitrag zur Konstruktion kleiner Gedächtnisräume bislang wenig erforscht worden ist. Diese Forschungslücke ist umso erstaunlicher, als die Heimatbewegung zum Teil eng verflochten war mit regionalen Geschichtsbewegungen. Interessant wäre dieser Fokus auf »Heimat« auch wegen der starken emotionalen Aufladung dieses Begriffs. Schließlich bemühten sich Geschichtsvereine meist um eine geradezu positivistische Darstellung regionaler Vergangenheiten, während der Heimatbewegung an einer affektiven Aneignung der Region oder der Stadt gelegen war. In lokalen und regionalen Geschichtskulturen ließe sich also erkunden, wie Gefühl und Verstand interagierten, sowohl in der alltäglichen Arbeit als auch in der öffentlichen Selbstdarstellung, oder kurz: Der Blick auf lokale und regionale Gedächtnisräume eröffnete der Erinnerungsforschung das Feld der Emotionenforschung,64 auf eine Geschichtskultur mit Gefühl(en).

63 Vgl. etwa die anregenden Überlegungen bei Norbert Fischer : Gedächtnislandschaft Nordseeküste. Inszenierungen des maritimen Todes. In: Norbert Fischer/Susan Müller-Wusterwitz/Brigitta Schmidt-Lauber (Hrsg.): Inszenierungen der Küste. Berlin 2007, 150 – 183; ders.: Anker mit Patina. Über die »Musealisierung« der Küstenlandschaft. In: Kulturen. Volkskunde in Niedersachsen 1 (2007), Heft 2, 4 – 13. 64 Zur Bedeutung von »emotional regimes« für die Erinnerung: Frank Biess: Feelings in the Aftermath: Toward a History of Postwar Emotions. In: Ders./Robert G. Moeller (Ed.): Histories of the Aftermath. The Legacies of the Second World War in Europe. New York 2012, 30 – 38.

Fallstudien: Lokale und regionale Erinnerungskulturen in Norddeutschland

Hiram Kümper

Europäische Erinnerungsorte in Norddeutschland? Zum Beispiel: Hanse und Magdeburger Recht

»Europäische Kultur« ist fraglos ebenso ein Schlagwort wie ein Kampfbegriff des öffentlichen Diskurses der vergangenen Jahrzehnte. Er wird funktionalisiert, heroisiert oder kritisiert, in der Hauptsache aber banalisiert. Zweierlei freilich ist über alle Lager hinweg Konsens: Es geht dabei erstens in ganz grundsätzlicher Weise um eine gemeinsame europäische Identität – ob das wünschenswert ist oder nicht, darüber kann man sich dann wieder vorzüglich streiten –, und zweitens spielt Geschichte als Begründungszusammenhang dabei eine gewichtige Rolle. Kultur ist eben kein Spontanzusammenhang.

Geschichte und Erinnern Geschichts- und Erinnerungskultur gehören seit mindestens zwei Jahrzehnten zu den Konjunkturbegriffen der deutschsprachigen Geschichtsdidaktik; ersterer sicher stärker als der letztere.1 Sie tragen damit der Einsicht Rechnung, dass Vergangenheit nicht, nachdem sie einmal geschehen ist, bloß wieder aufgefunden werden muss, sondern auch nach ihrem historischen Vollzug noch weiteren Transformationen ausgesetzt ist, die häufig die spezifische Wirkmächtigkeit des historischen Ereignisses überhaupt erst ausprägt. Auf eine griffige Formel gebracht geht es also um die »Anwesenheit von Vergangenheit in der Gegenwart« – 1 Entsprechend umfassend ist die Literatur, die dazu bereits erschienen ist. Statt einer vollständigen Aufzählung verweise ich nur auf Marko Demantowsky : Geschichtskultur und Erinnerungskultur – zwei Konzeptionen des einen Gegenstandes. Historischer Hintergrund und exemplarischer Vergleich. In: Geschichte, Politik und ihre Didaktik 33 (2005), 11 – 20 und Wolfgang Hasberg: Erinnerungskultur – Geschichtskultur, Kulturelles Gedächtnis – Geschichtsbewußtsein. Zehn Aphorismen. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 3 (2004), 198 – 207. Im Übrigen erlaube ich mir, da ich ihn in seiner Grundfassung selbst verfasst habe und auf diese Grundfassung hier und da zurückgreife, ausnahmsweise den Hinweis auf den Artikel »Geschichtskultur« in der – horribile dictu! – Wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Geschichtskultur [letzter Abruf am 11. 02. 2014].

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man könnte auch sagen: in »einer« Gegenwart.2 Denn auch Geschichts- beziehungsweise Erinnerungskulturen haben eine Geschichte.3 Beide Begriffe zielen auf einen gemeinsamen Gegenstand, weisen aber unterschiedliche Konkretisierungsgrade auf. Während »Geschichtskultur« historische Vorstellungswelten auch vergleichsweise unspezifischer Gegenstände (zum Beispiel »das Mittelalter«) in allen seinen auch unbewussten Dimensionen verhandelt, betont das Konzept der Erinnerungskultur besonders die funktionalen Dimensionen, das heißt auch: die auf einen konkreten Gegenstand, eine Person, ein Ereignis gerichteten, bewussten Erinnerungsakte – und damit häufig insbesondere die politische Funktion des Erinnerns. Christoph Cornelißen etwa begreift Erinnerungskultur als einen »formale[n] Oberbegriff für alle denkbaren Formen der bewussten Erinnerung an historische Ereignisse, Persönlichkeiten und Prozesse […], seien sie ästhetischer, politischer oder kognitiver Natur«.4 Die Geschichtsdidaktik begreift sich bereits seit einigen Jahrzehnten durchaus nicht mehr nur als reine Schuldidaktik. Spätestens seit Jörn Rüsens programmatischer Frage »Was ist Geschichtskultur?« von 1994, deren Antwort er gleich mitlieferte, hat sie dann Geschichtskultur geradezu zu ihrem genuinen Forschungsfeld erklärt.5 Das heißt aber nicht, dass nicht auch mit guten Gründen für eine geschichtskulturelle Erweiterung des Geschichtsunterrichts argumentiert worden sei.6 Man kann durchaus sogar so weit gehen, darin eine »fächerübergreifende Bildungs- und Lernchance«7 zu sehen. Das engere Konzept der Erinnerungskultur spielt dagegen, so scheint es jedenfalls, in der Geschichtsdidaktik zumindest konzeptionell die kleinere Rolle – wobei es allerdings insbesondere in der gleichwie seltenen Projektarbeit anders aussehen dürfte. Das zeigt beispielsweise der im Zwei-Jahres-Turnus von der Hamburger Körber-Stiftung ausgelobte Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten. Die Zahl der Einreichungen, die sich mit erinnerungskulturellen 2 So der Untertitel des Sammelbandes von Vadim Oswalt/Hans-Jürgen Pandel (Hrsg.): Geschichtskultur. Die Anwesenheit von Vergangenheit in der Gegenwart. Schwalbach/Taunus 2009. 3 Das ist mitunter bestritten worden. Auf diese Debatte möchte ich aber an dieser Stelle nicht eingehen, vgl. dazu nur Bernd Schönemann: Geschichtskultur als Wiederholungsstruktur?, in: Geschichte, Politik und ihre Didaktik 34 (2006), 182 – 191. 4 Christoph Cornelißen: Was heißt Erinnerungskultur? Begriff – Methoden – Perspektiven. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 54 (2003), 548 – 563, 555. 5 Jörn Rüsen: Was ist Geschichtskultur? Überlegungen zu einer neuen Art, über Geschichte nachzudenken. In: Jörn Rüsen/Theo Grütter/Klaus Füßmann (Hrsg.): Historische Faszination. Geschichtskultur heute. Köln–Weimar–Wien 1994, 3 – 26. 6 Vgl. etwa Dietmar von Reeken: Geschichtskultur im Geschichtsunterricht. Begründungen und Perspektiven. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 55 (2004), 233 – 240. 7 Bernd Mütter: »Geschichtskultur« – Zukunftsperspektive für den Geschichtsunterricht am Gymnasium? In: Das Gymnasium zwischen Tradition und Wissenschaftskultur. Oldenburg 1998, 43 – 63, 58 ff.

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Themen befassen, ist hier zumindest in den die Preisvergabe dokumentierenden Veröffentlichungen ziemlich hoch.8 Das zeigt auch: Erinnerungskultur ist nicht nur, vielleicht nicht einmal in erster Linie, eine nationale Sache, sie manifestiert sich vor allem vor Ort – und sie manifestiert sich für einen Ort beziehungsweise eine Region.9 Das kann eine Stadt meinen, einen Landstrich oder »den Norden«.10 Über die Bedeutung des »regionalen Nahraums« der Schülerinnen und Schüler für den Geschichtsunterricht ist man sich jedenfalls seit langem einig.11 Detlev Kraack hat die Potenziale einer solchen Hinwendung jüngst noch an einem Beispiel demonstriert, das sich zwar mit der Zeit um 1900 befasst, aber gleich beide Perspektiven – das Regionale wie die Geschichtskultur – miteinander vereint und aufzeigt, wie fruchtbar beides für den Geschichtsunterricht sein kann.12

Europäische Erinnerungsorte – auch in der Region? Auch Europa – genauer gesagt: die EU – hat die Region für sich entdeckt.13 Waren damit ursprünglich vor allem subnationale Einheiten wie Wales, Bayern oder die Bretagne angesprochen, geraten immer mehr die transnationalen Grenzregionen, wie Friesland oder Elsaß in den europapolitischen Blick. Gerade wechselnde Zugehörigkeit zu benachbarten Herrschaftsgebieten, wie beispielsweise die deutsch-dänische Vergangenheit Schleswig-Holsteins, stellen deren politische Erben vor ganz besonders prekäre Aufgaben geschichtspolitischer Identi8 Dazu erscheint jeweils alle zwei Jahre ein entsprechendes Themenheft. Mehr als 3.000 preisgekrönte Arbeiten seit 1973 lassen sich aber auch bequem über eine Datenbank auf den Seiten der Körber-Stiftung (http://www.koerber-stiftung.de/bildung/geschichtswettbewerb) recherchieren und ggf. vor Ort in Hamburg einsehen. 9 Vgl. etwa Thomas Kühne: Die Region als Konstrukt. Regionalgeschichte als Kulturgeschichte. In: James Retallack (Hrsg.): Sachsen in Deutschland. Politik, Kultur und Gesellschaft 1830 – 1918 (Studien zur Regionalgeschichte, 14). Bielefeld 2000, 253 – 263; sowie den Sammelband von Harald Schmid (Hrsg.): Erinnerungskultur und Regionalgeschichte. München 2009. 10 Bea Lundt (Hrsg.): Nordlichter. Geschichtsbewusstsein und Geschichtsmythen nördlich der Elbe (Beiträge zur Geschichtskultur 27). Köln–Weimar–Wien 2004. 11 Vgl. etwa Michael Sauer : Geschichte unterrichten. Eine Einführung in die Didaktik und Methode. Seelze-Velbert 2001, 111 – 124 und 170 – 176. 12 Detlev Kraack: Ausdeutungen und Umdeutungen der Geschichte im wilhelminischen Schleswig-Holstein. Möglichkeiten und Potentiale eines regional ausgerichteten Geschichtsunterrichts am Beispiel der Stadt Plön um 1900. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 62 (2011), 61 – 76. 13 Aus der weiten Literatur verweise ich nur auf den konzisen Überblick bei Kurt Mühler : Region – Nation – Europa. Die Dynamik regionaler und überregionaler Identifikation. Wiesbaden 2006.

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tätsarbeit. Steen Bo Frandsen hat das etwa für Schleswig sehr klar herausgearbeitet.14 Das politische Interesse an einer gemeinsamen europäischen Erinnerungskultur hat fraglos mit Widerständen zu kämpfen. Von manchen ist sie als schlichtweg unmöglich angesehen worden.15 Insgesamt aber deutet die schon jetzt praktisch nicht mehr überschaubare Literatur darauf hin, dass mehr als ein nachdrückliches Interesse, vielmehr geradezu ein Bedürfnis danach zu bestehen scheint, eine gemeinsame politische Kultur in Europa auf eine gemeinsame europäische Erinnerung zu gründen.16 Unlängst hat etwa noch die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann eine »Europäisierung nationaler Erinnerungen«17 eingefordert und dafür vier Strategien aufgezeigt: 1. Übernahme der Perspektive der Nachbarn; 2. Aufbau einer gemeinsamen transnationalen Erinnerung; 3. Integration unterschiedlicher [das heißt auch konfligierender, HK] Erinnerungskomplexe; 4. Europäisierung durch dialogisches Erinnern. Eine zentrale Rolle spielt bei der Suche nach einem solchen gemeinsamen Erinnern das Konzept der »Erinnerungsorte« (lieux de m¦moire). Es gehört mittlerweile zum fest etablierten Sprachschatz der Kulturwissenschaften, so dass keine umfassenden Einführungen in dieses ohnehin sehr offene Konzept nötig scheinen. Erinnerungsort kann zunächst einmal prinzipiell jeder Platz und jedes Gebäude, jedes Ding, Symbol oder Bild, jede Person oder Idee sein, »an denen sich das Gedächtnis der Nation […] in besonderem Maße abzeichnet, kristallisiert oder verkörpert.«18 Und mit diesem Bezug zur Nation als Erinne14 Steen Bo Frandsen: Schleswig – ein Erinnerungsort für Deutsche und Dänen? In: Bernd Henningsen/Hendriette Kliemann-Geisinger/Stefan Troebst (Hrsg.): Transnationale Erinnerungsorte. Nord- und südeuropäische Perspektiven (The Baltic Sea Region, 10). Berlin 2009, 31 – 49. 15 Einer der großen – und dennoch sehr lesenswerten – Pessimisten in dieser Hinsicht ist Tony Judt: The Grand Illusion? An Essay on Europe. New York 1996. 16 Einen guten Überblick über neuere Debatten vermittelt der Sammelband von Christoph Kühberger/Clemens Sedmak (Hrsg.): Europäische Geschichtskultur – Europäische Geschichtspolitik. Vom Erfinden, Entdecken, Erarbeiten der Bedeutung von Erinnerung und Geschichte für das Verständnis und Selbstverständnis Europas. Innsbruck-Wien-Bozen 2009. 17 Aleida Assmann: Auf dem Weg zu einer europäischen Gedächtniskultur? (Wiener Vorlesungen im Rathaus, 161). Wien 2012, 62. 18 Pierre Nora: Das Abenteuer der lieux de m¦moire. In: Etienne FranÅois/Hannes Siegrist/ Jakob Vogel (Hrsg.): Nation und Emotion. Deutschland und Frankreich im Vergleich. 19. und 20. Jahrhundert. Göttingen 1995, 83 – 92, 83. Mitunter können Schulbücher selbst zum Erinnerungsort werden – vgl. Bettina Alavi: Geschichtsschulbücher als Erinnerungsorte – ein Gedächtnis für die Einwanderungsgesellschaft? In: Jan Motte (Hrsg.): Geschichte

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rungsgemeinschaft (nations-m¦moirs)19 ist zugleich auch die Schwierigkeit seiner Übertragbarkeit auf Europa aufgeworfen: Hat Europa überhaupt gemeinsame Erinnerungsorte? In der Tat sind Buchprojekte wie jenes von Pierre Nora zu den französischen und von Etienne FranÅois und Hagen Schulze zu den deutschen Erinnerungsorten mittlerweile in vielen europäischen Staaten realisiert worden. Auf europäischer Ebene tat man sich dagegen lange schwer ;20 ein entsprechendes Buchprojekt ist erst vor Kurzem erschienen.21 Ein Weg, sich solchen übergreifenden, gemeinsamen Erinnerungsorten anzunähern, den auch diese neu erschienenen Bände gehen, ist die Betonung zumindest transnationaler »geteilter Erinnerungen« (memoria divisa e condivisa) und ihrer Manifestationen.22 Dass hierbei die Region, insbesondere die Grenzregion, eine besondere Rolle spielt, liegt auf der Hand. Im Folgenden sollen zwei solche Erinnerungsorte und ihr mögliches europäisches Potenzial näher beleuchtet werden. Die Auswahl begründet sich über ein Gemeinsames und ein Trennendes. Das Gemeinsame zuerst: Beide betreffen Phänomene von fraglos europäischen Ausmaßen, beide sind andererseits auch sehr stark in der Region verankert, sie konstituieren sich geradezu erst im Regionalen; beide sind außerdem im Wesentlichen Phänomene der vormodernen europäischen Geschichte. Beide Beispiele trennt dagegen voneinander ihre Wahrnehmung in der öffentlichen Erinnerungskultur als gemeinsame europäische Vergangenheit: Die mittelalterliche Hanse ist bereits ein wohl etablierter Gegenstand wenigstens der deutschen Erinnerungslandschaft, wird aber in zunehmendem Maße auch auf europäischer Ebene argumentativ beschworen, wenn es um einen gemeinsamen europäischen Wirtschaftsraum geht. Jüngst noch ist zur Einleitung eines Tagungsbandes zu Recht feststellt worden, sie sei »anerkanntermaßen« ein europäischer Erinnerungsort, also einer von »jenen

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und Gedächtnis in der Einwanderungsgesellschaft. Migration zwischen historischer Rekonstruktion und Erinnerungspolitik. Essen 2004, 337 – 350. Dieses Wort geht zurück auf Ernst Renans berühmte Frage von 1882, was die Nation ausmache; gedruckt in deutscher Übersetzung bei Michael Jeismann/Henning Ritter (Hrsg.): Grenzfälle. Über alten und neuen Nationalismus. Leipzig 1993, 308. Kornelia Kon´czal: Europäische Erinnerungsorte – Bericht von einer Baustelle. In: Christoph Kühberger/Clemens Sedmak (Hrsg.): Europäische Geschichtskultur – Europäische Geschichtspolitik. Vom Erfinden, Entdecken, Erarbeiten der Bedeutung von Erinnerung und Geschichte für das Verständnis und Selbstverständnis Europas. Innsbruck-Wien-Bozen 2009, 54 – 64. Pim den Boer/Heinz Duchhardt/Georg Kreis (Hrsg.): Europäische Erinnerungsorte, 3 Bde. München 2011. Vgl. Etienne FranÅois: Ist eine gesamteuropäische Erinnerungskultur vorstellbar? In: Bernd Henningsen/Hendriette Kliemann-Geisinger/Stefan Troebst (Hrsg.): Transnationale Erinnerungsorte. Nord- und südeuropäische Perspektiven (The Baltic Sea Region 10). Berlin 2009, 13 – 30, bes. 19 ff.

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historischen Bezugspunkten, die für Entwicklung und Selbstverständnis Europas prägend waren und deren Gedächtnis für die Selbstverständigung auch der Gegenwart Bedeutung entfalten« können.23 Ganz anders dagegen das zweite Beispiel, das Magdeburger Recht, um dessen Verankerung im öffentlichen Geschichtsbewusstsein sich erst in jüngster Zeit wieder mehrere Projekte bemüht haben. Der Beitrag soll also zwei erinnerungskulturelle Phänomene der vormodernen europäischen Geschichte aufgreifen, die historisch beide sehr deutlich im norddeutschen Raume verankert gewesen sind: eines, dessen europäische Dimensionen bereits sattsam bekannt und erinnerungspolitisch beschworen worden sind, und ein anderes, dessen europäische Potenziale gerade erst entdeckt werden. Dahinter steht die Frage nach der Beziehung zwischen Weit- und Nahbezug, welche Rolle also das Europäische für das Regionale – und vielleicht auch umgekehrt – spielt beziehungsweise spielen kann. Lange Zeit ist die Region als Nahkontaktzone, wo sich Identitäten noch aus tatsächlicher Anschauung und tradierter Praxis entwickeln können, geradezu als Gegenstück zu den imagined communities der Nationalstaaten gehandelt worden.24 Wenn nun seit einigen Jahren immer mehr Europa in die Regionen und ihre Identitätskonstruktionen hineinstrahlt, wird die Frage zunehmend drängend, wie sich beides, der Bezug zum Weiten (Europa) und der Bezug zum Nahen (Region), überhaupt miteinander vertragen können. Vormoderne – das heißt eben auch vorstaatliche – Phänomene, vor allem aber der erinnerungskulturelle Bezug auf sie, können auf diese Frage einen bemerkenswerten Blickwinkel eröffnen.

Die Hanse als Gegenstand der Geschichtskultur Dass die Hanse ein europäischer Erinnerungsort sei, hat schon Dirk Schümer in seinem Artikel für die Deutschen Erinnerungsorte herausgearbeitet, der sich freilich sehr auf die verklärende Wirkung des Mythos und sehr wenig auf das Potenzial solcher Erinnerungsbildung konzentriert.25 Insgesamt interessiert sich die deutsche Hanseforschung schon seit einigen Jahren erfreulich nachdrücklich für ihre eigene Geschichte, die öffentliche Wahrnehmung ihres Gegenstandes und die möglichen politischen Implikationen. So haben sich im vergangenen Jahrzehnt gleich zwei Tagungen des Hansischen Geschichtsvereins 23 Thomas Schilp/Barbara Welzel: Vorwort, in: Dies. (Hrsg.): Dortmund und die Hanse. Fernhandel und Kulturtransfer (Dortmunder Mittelalter-Forschungen 15). Bielefeld 2012, 7 – 10, 7. 24 Zum Konzept der imagined communities vgl. Benedict Anderson: Imagined communities: reflections on the origin and spread of nationalism. London 1981. 25 Dirk Schümer : Die Hanse. In: Etienne FranÅois/Hagen Schulze (Hrsg.): Deutsche Erinnerungsorte. Bd. 2. München 2009, 369 – 386.

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und die daraus hervorgegangenen Sammelbänden dem Nachklang der Hanse in Wissenschaft und Geschichtskultur gewidmet26, wobei insbesondere die nationale Vereinnahmung im 19. und 20. Jahrhundert nicht nur außerwissenschaftlich, sondern gerade auch innerhalb der wissenschaftlichen Hanseforschung beleuchtet worden ist.27 Hatte man die Hanse noch bis in die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg einmal als Missionswerk, einmal als Bollwerk gegen den slawischen Osten gesehen, betonte man seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend die verbindende Funktion als »Mittler zwischen Ost und West«.28 Dass diese Mittlerfunktion zwischen Menschen vor allem eine über Märkte war, führte die Kölner Ausstellung Hanse in Europa: Brücke zwischen den Märkten von 1973 vor Augen.29 Und auch in jüngerer Zeit begegnet die Hanse immer einmal wieder als »erste europäische Wirtschaftsgemeinschaft«, die aber im Gegensatz zur Gegenwart »ohne römische Verträge und Brüsseler Bürokratie« funktioniert habe.30 In einen solchen Zusammenhang der politischen Idealisierung der Hanse als europäisches Wirtschaftsbündnis tritt auch die Neue Hanse, die seit 1980 den Hansetag der Neuzeit begeht.31 Außerdem werden Strukturähnlich26 Antje Graßmann (Hrsg.): Ausklang und Nachklang der Hanse im 19. und 20. Jahrhundert (Hansische Studien 12). Trier 2001 und Rolf Hammel-Kiesow/Rudolf Holbach (Hrsg.): Geschichtsbewusstsein in der Gesellschaft. Konstrukte der Hanse in den Medien und in der Öffentlichkeit (Hansische Studien 19). Trier 2010 – in letzterem vor allem die lesenswerte Einführung der beiden Herausgeber : Geschichtsbewusstsein in der Gesellschaft. Zu Geschichtskultur und Konstruktion der Hanse in Medien und Öffentlichkeit, ebd., 1 – 25. 27 Neben den genannten Sammelbänden wären hier noch Volker Henn: Wege und Irrwege der Hanseforschung und Hanserezeption in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert. In: Marlene Nikolay-Panter/Wilhelm Janssen/Wolfgang Herborn (Hrsg.): Geschichtliche Landeskunde der Rheinlande. Regionale Befunde und raumübergreifende Perspektiven. Köln–Weimar–Wien 1994, 388 – 414 und Rudolf Holbach: Stereotypen der Hansegeschichtsschreibung. In: Hans Henning Hahn/Elena Mannov‚ (Hrsg.): Nationale Wahrnehmungen und ihre Stereotypisierung. Beiträge zur Historischen Stereotypenforschung (Mitteleuropa-Osteuropa, 9). Frankfurt/Main 2007, 293 – 318 zu nennen. 28 Ahasver von Brandt (Hrsg.): Die deutsche Hanse als Mittler zwischen Ost und West (Wissenschaftliche Abhandlungen der Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen 27). Köln–Opladen 1963. 29 Einen guten Überblick über die Ausstellungen der letzten Jahrzehnte und ihre Hanse-Bilder vermittelt Matthias Puhle: Hanse und Museen – keineswegs ein unproblematisches Verhältnis. In: Rolf Hammel-Kiesow/Rudolf Holbach (Hrsg.): Geschichtsbewusstsein in der Gesellschaft. Konstrukte der Hanse in den Medien und in der Öffentlichkeit (Hansische Studien 19). Trier 2010, 89 – 97, weiter zurück bis in die NS-Zeit geht ders.: Hanse und Reich. Rezeptionsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert. In: Hansische Geschichtsblätter 129 (2011), 171 – 191, hier 176 ff. 30 So der Klappentext von Uwe Ziegler : Die Hanse. Aufstieg, Blütezeit und Niedergang der ersten europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Eine Kulturgeschichte von Handel und Wandel zwischen 13. und 17. Jahrhundert. München–Bern–Wien 1994. 31 Vgl. dazu Jürgen Bohmbach: Die Neue Hanse – Mythos und Realität. In: Antje Graßmann (Hrsg.): Ausklang und Nachklang der Hanse im 19. und 20. Jahrhundert (Hansische Studien,

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keiten zwischen Hanse und EU in ganz unterschiedlichen geschichts- und politikwissenschaftlichen Arbeiten diskutiert, wobei die Vorbildfunktion für gegenwärtige politischen Einheiten und Prozesse stark betont wird.32 Sehr eindrücklich und angemessen kritisch hat das vor wenigen Jahren noch Rolf Hammel-Kiesow in einem umfassenden Beitrag herausgearbeitet.33 Und diesem Umstand werden sich langfristig sicherlich auch klassische Trägermedien und -institutionen von Geschichtskultur – etwa Schule und Museum, um nur zwei besonders sinnfällige zu nennen – zu stellen haben.

Ein Blick in neuere Schulgeschichtsbücher Dass Schulbücher zu diesen Medien erinnerungskultureller Multiplikation gehören, liegt eigentlich auf der Hand. Dass ihre Aufgabe es aber auch sein kann und mitunter sogar sollte, erinnerungskulturell verankerte Meistererzählungen infrage zu stellen, das wird erst in jüngerer Zeit verstärkt gefordert.34 Für unser Thema liegen hier bereits gute Vorarbeiten vor, an die unter dem Blickwinkel des spezifisch Europäischen angeschlossen werden kann. Schon 1976 hatte Hermann de Buhr Die mittelalterliche Stadt und die Hanse in den Schulgeschichtsbüchern der letzten hundert Jahre einer gründlichen Untersuchung unterzogen und an der Folie der jeweils zeitgenössischen Hanseforschung gemessen.35 Er

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12). Trier 2001, 89 – 100 sowie Nicolas Escach: Une »nouvelle hanse« en Europe? BrÞme – Gdansk – Riga (Trafo Hochschulschriften 32). Berlin 2010. Ich nenne hier nur Hanno Brand (Ed.): The German Hanse in Past and Present – a Medieval League as a Model for Modern Interregional Cooperation? Groningen 2007, der insbesondere die regionalen Aspekte betont, sowie Angelo Pichierri: Die Hanse – Staat der Städte. Ein ökonomisches und politisches Modell der Städtevernetzung (Stadt, Raum und Gesellschaft 10). Opladen 2000. Rolf Hammel-Kiesow: Europäische Union, Globalisierung und Hanse. Überlegungen zur aktuellen Vereinnahmung eines historischen Phänomens. In: Hansische Geschichtsblätter 125 (2007), 1 – 44. Ein interessantes Beispiel für ein Schulbuch zur NS-Vergangenheit der Schweiz, das selbst »Geschichte schrieb«, bespricht Peter Gautschi: Geschichtslehrmittel als eigenwilliger Beitrag zur Geschichtskultur. In: Vadim Oswalt/Hans-Jürgen Pandel (Hrsg.): Geschichtskultur. Die Anwesenheit von Vergangenheit in der Gegenwart. Schwalbach/Taunus 2009, 34 – 46. Hermann de Buhr: Die mittelalterliche Stadt und die Hanse in den Schulgeschichtsbüchern der letzten hundert Jahre 1870 – 1970. Untersuchungen zum Wandel der Geschichtsdarstellung in Deutschland und zum Verhältnis von Städtegeschichtsforschung und Schulgeschichtsbuchschreibung. Kastellaun 1976. Über den deutschen Fernleihverkehr ist auch die Zulassungsarbeit von Irmtraud Blickle: Die Darstellung der Hanse in Geschichtsbüchern der Hauptschule. Schulbuchanalyse (PH Weingarten, 1977) greifbar. Auf S. 76 ff. referiert die Verfasserin ihre Eindrücke von den ›Werturteilen’ der einzelnen untersuchten Schulbücher (sämtlich verlegt in den Jahren 1969 bis 1971) und kommt zu dem Ergebnis, dass größtenteils ein Schwarz-Weiß-Bild von der guten Hanse einerseits und dem bösen Dänenkönig Waldemar bzw. den kulturell wenig entwickelten Russen in Nowgorod gezeichnet werde.

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unterscheidet vier Phasen, die sich aber nicht in erster Linie an Entwicklungen innerhalb des Schulbuchs, sondern eher an der politischen Allgemeinhistorie orientieren, nämlich das Kaiserreich, die Weimarer Republik, die Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft und die Bundesrepublik bis 1970. Gerade die späten 1960er-Jahre, in denen de Buhrs Untersuchung ausklingt, sind dann jene Jahre, in denen die Forderung der Geschichtsdidaktik nach stärkerer Quellenorientierung sich auch in den Schulgeschichtsbüchern immer mehr bemerkbar macht.36 Das verweist aber vor allem auf die Einbindung eines Geschichtsbildes in eine zeitgenössische politische Kultur. Noch bevor »Geschichtskultur« zum Paradigma geschichtsdidaktischer Forschung wurde, hat de Buhr durch seine Gegenüberstellung von wissenschaftlicher Städte- und Hansegeschichtsschreibung, populäre(re)n Darstellungen und Schulgeschichtsbüchern die unterschiedlichen Interessen und Funktionen ausgeleuchtet, die den Blick auf die Vergangenheit tragen konnten. Außerdem hat er durch diesen darstellerisch gelungen, kontrastiven Aufbau seiner Arbeit auch sehr deutlich zeigen können, mit wie viel Verspätung und in welch geringem Umfang neuere Ergebnisse der Hanseforschung in die Darstellung der Schulbücher Eingang fanden. Mit aller angemessenen Deutlichkeit hat dann vor wenigen Jahren noch Friedrich Bernward Fahlbusch diese anhaltende Diskrepanz zwischen Fortschritt der Forschung und Stillstand der Darstellung im Schulbuch herausgestrichen.37 Indem er seinen Betrachtungen Schulgeschichtsbücher der späten 1970er- bis 2000er-Jahre zugrunde legt, schließt er auch im Hinblick auf das Material nahtlos an die Studie von de Buhr an. Tatsächlich sind seit Fahlbuchs Untersuchung trotz einer ganzen Reihe neuer Lehrmittel und einer neuerlichen Explosion der fakultativen Hilfs- und Arbeitsbücher für Lehrende und Lernende zur Vor- und Nachbereitung des Unterrichts in den letzten Jahren kaum nachhaltigere Veränderungen in der inhaltlichen Aufbereitung der mittelalterlichen Hanse und ihrer Nachwirkungen für die Neuzeit eingetreten.38 Diese neuerliche 36 Vgl. Hans-Jürgen Pandel: Quelleninterpretation. Die schriftliche Quelle im Geschichtsunterricht. Schwalbach/Taunus 2003, 7 ff. 37 Friedrich Bernward Fahlbusch: Das Hanse im Prokrustesbett des Schulbuchs. In: Rolf Hammel-Kiesow/Rudolf Holbach (Hrsg.): Geschichtsbewusstsein in der Gesellschaft. Konstrukte der Hanse in den Medien und in der Öffentlichkeit (Hansische Studien, 19). Trier 2010, 75 – 88. 38 Gerade die letztgenannte Literaturgattung wird von der Schulbuchforschung kaum betrachtet – zunächst einmal mit gutem Grund, weil es sich nicht um Schulbücher strictu sensu handelt. Sie werden aber, so steht zu vermuten, zunehmend wichtiger. Zumindest suggeriert das wachsende Angebot z. B. an Lehrerhandreichungen einen gewissen Markt, also eine gewisse Nachfrage. Einschlägiges Material, das dringend einer näheren Sichtung bedürfte, gibt es genug. So haben sich beide großen deutschen Zeitschriften für Geschichtslehrerinnen und-lehrer Geschichte lernen (58, 1997) und Praxis Geschichte (1/2001) jeweils mit einem Themenheft der Hanse gewidmet. Auch Unterrichtshandreichungen sind im Übrigen mitunter natürlich Kulturpolitik: Die Stadt Osnabrück etwa, um nur ein Beispiel zu nennen, hat

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Sichtung von Schulgeschichtsbüchern fragt daher etwas enger nach der geschichtskulturellen Verortung, nämlich spezifisch regionalen Bezügen zum einen und spezifisch europäischen Bezügen zum anderen. Es geht also gar nicht so sehr um die Behandlung des Themas an sich, sondern um dessen Einbindung in einen größeren geschichtskulturellen, man kann hier auch genauer sagen: geschichtspolitischen Kontext. Für die Frage nach der Einbindung in europäische Kontexte hätte man entsprechende Schulwerke in großem Stil sichten können, die Frage nach den regionalen Bezügen verlangt eher die Beschränkung. Die folgenden Absätze beziehen sich daher zunächst ausschließlich auf zugelassene Geschichtsschulbücher für weiterführende Schulen der norddeutschen Küsten-Bundesländer Hamburg, Bremen, Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern aus den Jahren seit 2000.39 Damit ist natürlich nicht im Geringsten der geografische Raum der alten Hanse abgebildet – wie immer man ihn im Einzelnen wird begreifen wollen. Daher sind als Gegenprobe Schulbücher des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen ausgewählt worden, wo man seit spätestens den 1980er-Jahren die hansische Tradition in der Geschichtskultur wieder sehr zu pflegen begonnen hat, unter anderem mit der Gründung einer Westfälischen Hanse im Jahr 1983. Das nötige Forschungsumfeld, das eine weitgehend umfassende Sichtung von mehr als hundert Bänden in überschaubarer Zeit überhaupt erst ermöglichte, stellte dabei die Sammlung des Georg-Eckert-Instituts für internationale Schulbuchforschung in Braunschweig zur Verfügung. Zuerst geht es um die größeren Tendenzen, dann um einige spezifischere Befunde. Insgesamt ist die Hanse erwartungsgemäß kein prominentes, aber ein regelmäßiges Thema. Nur wenige Bücher lassen sie ganz aus oder erwähnen sie nur en passant in Verfassertexten der Schulbuchautoren, die sich mit mittelalterlichem Fernhandel insgesamt befassen. Eingeordnet wird das Thema in der Regel in Kapitel zur mittelalterlichen Stadt und ihrer Wirtschaft, meist auf einer, manchmal auf zwei Seiten – bei den von Fahlbusch behandelten Werken waren es noch zwei bis vier Seiten.40 Dabei lassen sich gewisse Muster ziemlich regelmäßig wiederkehrender Quellen beziehungsweise Materialien feststellen. 1. Eine »Hansekarte«, über deren Probleme Fahlbusch schon sehr treffende kritische Überlegungen angestellt hat.41 Er unterscheidet im Wesentlichen 2006 ein 50-seitiges Heft mit Unterrichtsmaterialien mit dem Titel Die Hanse: Kaufleute erobern Europa. Ein Heft für den Unterricht herausgebracht. 39 Dafür hält die Bibliothek des Georg-Eckert-Instituts (Braunschweig) ein regelmäßig aktualisiertes Verzeichnis der zugelassenen Schulbücher für die Fächer Geographie, Geschichte, Sozialkunde (Politik) in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland bereit. 40 Fahlbusch: Hanse im Prokrustesbett des Schulbuchs (wie Anm. 37), 79. 41 Fahlbusch: Hanse im Prokrustesbett des Schulbuchs (wie Anm. 37), 84 ff. Darauf hat auch schon de Buhr : Die mittelalterliche Stadt (wie Anm. 35), 138 hingewiesen.

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zwei Typen, nämlich zum einen die Hansekarte, die sich meist auf das nördliche Europa beschränke42, zum anderen die europäische Wirtschaftskarte, in die die größeren Hanserouten integriert wurden, die aber auch etwa den oberdeutschen oder den mediterranen Wirtschaftsraum zumindest in Ansätzen mit abbilde.43 Dazu ließe sich noch ergänzen: Mitunter wird die gesamte Behandlung der Hanse mittlerweile auf das Abdrucken einer solchen Karte reduziert.44 Die Erklärung bleibt dann Sache der Lehrkraft. Daneben findet sich – seltener – allerdings auch die visuelle Verbindung mit anderen Städtebünden,45 was besonders deshalb interessant ist, weil die Städtebünde insgesamt eigentlich eine verschwindende Rolle in den neueren Geschichtsbüchern zu spielen scheinen. Eine Abbildung aus der berühmten Bilderhandschrift des überarbeiteten Hamburger Stadtrechts von 1497, häufig mit fehlender Herkunftsangabe. Der Nachbau einer Kogge aus dem 14./15. Jahrhundert. Häufiger auch eine Tabelle von Waren, die in Lübeck 1386 umgeschlagen wurden, deren Wert und Herkunft46 oder die 1368/69 im Lübecker Hafen registrierten Seeschiffe.47 Erstaunlicherweise immer einmal wieder die Beschwerde König Hakons VI. von Norwegen und Schweden über die Hansekaufleute von 1370.48 Erstaunlich selten dagegen Abbildungen von Hansekaufleuten, wie etwa das berühmte Holbein-Portrait des Georg Giese (1497 – 1562), der nun allerdings in anderen Zusammenhängen – etwa des Themenfelds Neue Welt/Neues Weltbild – auftaucht.49 Auch das Lübecker Schiffssiegel von 1226, das früher so häufig die Schulbücher schmückte, findet man in den neueren Ausgaben seltener.

42 Zeit für Geschichte. Gymnasium Niedersachsen. Klasse 7. Schroedel. 2009, 90 weist das immerhin auch entsprechend aus: »Hansestädte und Handelswege in Nordeuropa um 1370«. 43 Das wäre neben den bei Fahlbusch genannten Beispielen etwa auch: Forum Geschichte. Ausgabe Niedersachsen. Cornelsen. 2005, 157 bzw. in dessen Neuauflage 2009, 57. 44 Lernbuch Geschichte. Mittelalter. Klett. 2011, 81. 45 Geschichte kennen und verstehen 7. Oldenbourg. 2001, 52. 46 Basierend auf: Quellen zur Geschichte Schleswig-Holsteins, hrsg. vom Institut für Regionale Forschung im Deutschen Grenzverein und dem Landesinstitut Schleswig-Holstein für Praxis und Theorie der Schule. Bd. 1. 2. Aufl. Kiel 1987, 70. 47 Nach Philipp Dollinger : Die Hanse. 5. erw. Aufl. Stuttgart 1998, 550. Auch Fahlbusch: Hanse im Prokrustesbett des Schulbuchs (wie Anm. 37), 85 hatte schon bemängelt, dass wohl »kein Quellentext … tatsächlich vom Original ausgehende für das Schulbuch neu bearbeitet worden«, sondern »zumeist aus dem Anhang der Dollingerschen Darstellung entnommen« sei. 48 Etwa in: Expedition Geschichte. Bd. 2: Vom frühen Mittelalter bis zur Industrialisierung. Diesterweg. 2004, 102 oder : Das waren Zeiten. Schleswig-Holstein. Buchner. 2010, 20. 49 Symptomamtisch ist es etwa, wenn in dem Themenheft Neues Denken – Neue Welten: Aufbruch Europas in die Neuzeit des Buchner-Verlags (2011) dem Bild zwar eine ganze Seite (S. 21) gewidmet wird, auf der aber der Begriff »Hanse« nicht fällt.

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Wenig verwunderlich ist es da, dass sich auch die Arbeitsaufträge an die Schülerinnen und Schüler häufig stark ähneln. Fast ausschließlich sind es die folgenden drei Aufgabenstellungen: 1. Welche Waren, Häfen und Routen zeigt die Hansekarte? 2. Warum schlossen sich im Mittelalter Kaufleute zusammen? 3. Wie kam es zur Vormachtstellung der Hanse? Selten ist dagegen eine Frage wie diese, die den regionalen Bezug besonders aufgreift: »Welche Handelsstraßen führen durch deine nähere und weitere Umgebung? Durch welche Städte führen sie?«50 Wie ist es ansonsten um den Regionalbezug bestellt? Die Bearbeitung des zweiten Bandes des Lehrwerks Das waren Zeiten für Schleswig-Holstein aus dem Buchner-Verlag markiert ihn schon im Untertitel: Von der Hansezeit bis zur Industrialisierung (2010). Dieser Bezug wird auch innerhalb des Werkes einigermaßen konsequent durchgehalten: von den Siedlungen in Haithabu über die mittelalterliche Stadtgeschichte, in der Lübecker Beispiele eine zentrale Rolle spielen, bis hin zu einem mit vier Seiten vergleichsweise umfangreichen HanseKapitel (S. 20 – 24). Dessen gegenüber anderweitiger Behandlung des Themas so großer Umfang ist aber nicht durch umfänglichere oder auch nur andere Quellen bedingt – auch hier : Hansekarte, Hamburger Stadtrecht, Tabelle über den Lübecker Handelsverkehr um 1386 –, sondern durch eine Doppelseite in der Rubrik »Projekt«, die zur eigenständigen Projektarbeit der Schüler anregen soll, sich mit dem neuzeitlichen Nachleben der Hansekogge zu befassen. Das gleiche Hanse-Kapitel findet sich auch in der Bearbeitung für Niedersachsen (Vom Mittelalter zum Westfälischen Frieden. 2009, S. 34 – 37), während in der Ausgabe für Nordrhein-Westfalen (ohne Untertitel. 2009, S. 54 – 55) lediglich der allgemeine Teil, nicht aber das Lernprojekt übernommen worden ist. Dies steht übrigens im Gegensatz zu den anderen Lernprojekten, wie etwa »So bauten sie die Kathedralen« oder »Legenden um Luther«, die weniger regionale Schwerpunkte aufweisen und sich daher in allen Bearbeitungen wiederfinden. In der Bearbeitung für Brandenburg (hier Bd. 1: Grundlagen der Neuzeit und das lange 19 Jahrhundert. 2008) schließlich kommt die Hanse, von einem kleinen Nebensatz über deren vormoderne Nautik (S. 26) abgesehen, überhaupt nicht vor. Erst in einem der »Längsschnitte«, in denen die Schülerinnen und Schüler langfristige Entwicklungen eines Themas untersuchen sollen, taucht die sie dann plötzlich auf: dann nämlich, wenn die hansische Vergangenheit Berlins thematisiert wird (S. 274 f.). »Hanse« wird dabei aber kein eigenständiger Erörterungsgegenstand, ja nicht einmal begrifflich erläutert, sondern als bekannt vorausgesetzt.51 50 Leben im Mittelalter. Themenheft Geschichte. Klett. 2006, 68. 51 Eine Zwischenstellung in den Bearbeitungsstufen nimmt die Bearbeitung für Berlin (Bd. 1:

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Auch das Lehrwerk Geschichte konkret (Schroedel) erscheint in mehreren bundeslandspezifischen Ausgaben, die durch unterschiedliche Farbgebung der Einbände, aber nicht immer auch durch entsprechende Bundeslandvermerke voneinander unterschieden werden können. Anhand dieser Reihe kann man besonders gut verfolgen, wie sehr die Hanse bei der Schulbuchplanung als ein spezifisch norddeutscher Erinnerungort erscheint: In dem auf Baden-Württemberg zugeschnittenen blauen Band (Bd. 1. 2004) beispielsweise kommt die Hanse gar nicht vor. Stattdessen beschränkt man sich, wenn es um städtische Wirtschaft und überregionalen Handel geht, ganz auf Süddeutschland. Schon das Kapitel »Leben in der Stadt im Mittelalter« wird von einer doppelseitigen historischen Karte der ehemaligen Reichsstadt Isny eingeleitet (S. 126 f.), und die Methodenübung »Eine Geschichtskarte lesen und verstehen« bemüht nicht, wie sonst so oft, eine Hansekarte, sondern zeigt den oberschwäbischen Bereich und die Bodenseeregion. Die Text- und Bildquellen des Kapitels stammen aus Regensburg, Augsburg und Ulm. In dem nicht eindeutig für ein Bundesland spezifizierten roten Band derselben Reihe (2003) ist das entsprechende Kapitel ganz anders: hier dominieren – bei fast gleicher Kapiteleinteilung – Westfalen und der Niederrhein, vor allem Köln, mit dessen Stadtansicht das Kapitel auch eröffnet wird (S. 148 f.). Entsprechend scheint hier eine Bearbeitung für Nordrhein-Westfalen vorzuliegen. In der grünen Ausgabe schließlich, die ausdrücklich für Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern bearbeitet wurde, wird das Mittelalter erst in Bd. 2 (2006) behandelt. Das Kapitel zur mittelalterlichen Stadt entspricht vollständig dem im roten Band – das heißt auch: es ist auf Westfalen und die Rheinlande mit Ausflügen in den Süden fokussiert (S. 38 ff.). In diesem Band aber ist dann ein eigenes Unterkapitel über die Hanse eingefügt (S. 56 f.), das freilich in gleicher Form auch in die Bearbeitung für Hessen (2006, S. 38 f.) aufgenommen worden ist. Entsprechend betont der Verfassertext weniger die regionale als vielmehr die überregionale Bedeutung der Hanse. Gleiches gilt für die dazugehörige Lehrerhandreichung (2006, S. 18). Erstaunlicherweise ist es aber gar nicht so sehr der norddeutsche Raum, sondern das »Flickwerk«-Bundesland Nordrhein-Westfalen, das regelmäßig auf seine hansischen Traditionen pocht – das jedenfalls vermittelt ein Blick in die dortigen Schulgeschichtsbücher. Besonders deutlich wird das etwa an dem für Realschulen einer ganzen Reihe von Bundesländern konzipierten Entdecken und Verstehen aus dem Cornelsen-Verlag. Während sich der Verfassertext und ein Vom Mittelalter bis zur Industrialisierung. 2006) ein. Hier ist das Hanse-Kapitel der anderen Bänden noch erhalten (S. 39 f.) und kann also im Längsschnitt zur Berliner Stadtgeschichte (S. 282 f.) tatsächlich an vorhandene Vorkenntnisse der Schülerinnen und Schüler angeschlossen werden.

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kurzer Auszug aus einer Quelle des Jahres 1384, in dem die preußischen Hansestädte beratschlagen, ob man zum Hansetage Briefe oder Boten entsenden solle, in allen Bearbeitungen finden, ist lediglich in der Bearbeitung für NRW (2006, S. 119) in der Marginalspalte ein kurzer Informationstext zum Westfälischen Hansebund der Neuzeit eingefügt worden: »Westfälischer Hansebund heute: 1983 ließen einige ehemalige Hansestädte den alten Hansebund neu aufleben. 20 Städte aus Westfalen, aber auch aus Niedersachsen und Hessen, gründeten am 25. Juni 1983 in Herford den Westfälischen Hansebund mit dem Ziel, die gemeinsame Geschichte und Tradition als Hansestädte herauszustellen; im Jahr 2003 waren es bereits 42 Mitglieder, darunter Städte wie Dülmen, Coesfeld, Osnabrück und Lemgo. Alljährlich findet in einer der Städte ein Hansetag statt (www.hansebund.org).«

Das gibt einer sehr gepflegten Tradition Ausdruck, die eine stete Sorge, vergessen zu werden, weiter trägt. Um das Jahr 2004/05 hat dieser Bund eine kleine Broschüre unter dem Titel Westfälischer Hansebund – Stärke durch Gemeinschaft herausgegeben, die die damals schon 43 Mitgliedsstädte portraitiert. In der Einleitung heißt es: »HH, HB, HL – Hamburg, Bremen und Lübeck, das sind die drei großen Hansestädte, die auch heute noch beinahe jeder als solche kennt. Dabei sollte man wissen, dass es vorwiegend Kaufleute aus Westfalen waren, die auf ihren Handelszügen zur Ostsee z. B. die in der Mitte des 12. Jahrhunderts gegründete Stadt Lübeck besiedelten und von dort über Riga und Nowgorod den russischen Handelsraum erschlossen.«52

Auch das jüngst ebenfalls im Cornelsen-Verlag erschienene Geschichte Real beendet den Verfassertext der nordrhein-westfälischen Ausgabe (2011, S. 191) mit einem kurzen, regionalhistorischen Nachsatz, allerdings ohne Hinweis auf den erneuerten Westfälischen Hansebund: »Wichtige Hansezentralen im heutigen Nordrhein-Westfalen waren Köln, Dortmund, Münster und Soest. Daneben existierte ein dichtes Netz von mittleren und kleinen Hansestädten.« Das Diesterweg-Lehrbuch Expedition Geschichte (Ausgabe Westfalen, 2001, S. 201) schließlich bemüht sich sogar, die obligatorische »Hansekarte« regional zu gestalten – was in keiner der Ausgaben der Schullehrbücher der norddeutschen Bundesländer zu finden ist. Leider greift es dabei aber kräftig daneben, indem Hanse und Stadtrechtsverbindungen auf einer Karte miteinander verquickt werden, keines von beiden aber im Verfassertext angemessen erklärt wird. Soweit zu den regionalen Einbindungen. Die europäischen Dimensionen der alten Hanse dagegen, die in anderen Trägermedien von Geschichtskultur in den 52 Westfälischer Hansebund (Hrsg.): Westfälischer Hansebund – Stärke durch Gemeinschaft. Eine Reise durch 43 Hanse-Städte. Herford o. J. [ca. 2004/05], unpaginiert (erste Seite).

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letzten Jahrzehnten so betont worden sind, spielen auch in der jüngsten Generation der Geschichtslehrbücher noch keine besondere Rolle. Über die adjektivische Verwendung, das Phänomen hier und da als »europäisch« zu charakterisieren, kommt der Bezug darauf nicht hinaus. Einziges Beispiel für eine etwas explizitere Verbindung zwischen Hanse und Europa ist das Lehrbuch Forum Geschichte des Cornelsen-Verlags. In der Neubearbeitung des Bandes von 2009 ist gegenüber den Vorausgaben (2005, 2007) ein Zeitungsbericht über die Rede des Lübecker Bürgermeisters Boutellier anlässlich der Eröffnung des 15. Internationalen Hansetages 1995 aufgenommen worden (S. 57), in dem es heißt: »Michael Boutellier erinnerte daran, dass die europäische Idee aufs Engste mit der Hanse verbunden war und auch ist. Europäische Union und hanseatische Tradition stünden füreinander ein. Westeuropa brauchte Osteuropa. Jahrhundertelang habe in Westeuropa Nachfrage nach Ostwaren bestanden, und umgekehrt habe der Osten Tuche, handwerkliche Produkte und immer dringender Salz gebraucht. Diesen Güteraustausch bewirkte das hansische Fernhandelssystem. Er habe Nordwest- und Nordosteuropa aus seiner Randlage herausgeholt und die Lebensführung … den west- und mitteleuropäischen Standards angeglichen«. Der Arbeitsauftrag dazu lautet: »Begründe …, warum die Hanse mit der Einigung Europas in Verbindung gebracht wird.« Dieser Quellenauszug findet sich auch in der Ausgabe für Schleswig-Holstein, Hamburg und Bremen (Bd. 1: Von der Vorgeschichte bis zum Ende des Mittelalters. 2010, S. 219), nicht aber in der als Forum Geschichte kompakt vertriebenen Bearbeitung, die für Nordrhein-Westfalen zugelassen ist (Bd. 1. 2008). Hier spielt die Hanse insgesamt keine Rolle. Überblickt man noch einmal das gesamte gesichtete Material, so fallen zwei Beobachtungen ins Auge, die einen charakteristisch unterschiedlichen Umgang mit der hansischen Vergangenheit zwischen dem Norden und dem westfälischen Süden ausmachen: Die Schulbücher der norddeutschen Bundesländer nämlich begreifen diese Vergangenheit mehrheitlich als Teil einer europäischen, wenn nicht gar globalen Vernetzung, deren regionale Auswirkungen vornehmlich struktureller Natur waren. Im Wesentlichen beschränkt man sich darauf, sie als Wurzeln des ökonomischen Aufstiegs der Hansestädte darzustellen. Eine wie immer geartete »hansische Kultur« dagegen wird kaum, lediglich hier und da mit Verweis auf Erinnerungsmonumente der Gegenwart – wie etwa die Restaurierung der Hansekogge –, thematisiert. Ganz anders dagegen der westfälische Süden der Hanse. Hier berufen sich die nordrhein-westfälischen Schulbücher stark auf die hansische Tradition, auf hansische Kultur und auf deren Pflege in der Gegenwart. Vor allem aber ist die Blickrichtung bemerkenswert: Denn was da aus dem großen, europaweiten Hanse-Netzwerk eigentlich in die Region kommt, spielt eine erstaunlich marginale Rolle. Wichtig scheint dagegen vor

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allem eins: was aus der Region, aus Westfalen, in die große, weite Hanse-Welt ausgegangen ist. So sehen wir in der Darstellung neuerer Schulbücher zwei sehr unterschiedliche regionale Erinnerungskulturen, wenn es um den Rückbezug auf die (gemeinsame) hansische Vergangenheit geht.

Ein zweites Beispiel: das Magdeburger Recht Von dem, was ist, geht es weiter zu dem, was sein könnte. Wie eingangs angekündigt, soll noch an einem zweiten Beispiel die Verbindung zwischen regionaler Verwurzelung und europäischer Vernetzung aufgezeigt werden, das aber im Gegensatz zur Hanse in modernen Schulbüchern praktisch überhaupt keine Rolle (mehr) spielt und deshalb an dieser Stelle viel knapper behandelt werden kann und muss: das sogenannte Magdeburger Recht. Seit dem 13. Jahrhundert verbreitet sich dieses Konglomerat aus mehreren Texten zum Teil sehr ungewisser Entstehung in ganz erstaunlicher Weise von Nord- und Mitteldeutschland aus durch weite Teile Mittel- und Osteuropas: in Polen und Ungarn etwa, in Rumänien, Lettland und Weißrussland.53 Vor Ort gewinnt es eigene Gestalt, wird es adaptiert, kommentiert und in bestehende Institutionen und Gewohnheiten integriert. Es entstehen regionale Netzwerke, etwa durch den »Rechtszug« an einen gemeinsamen Oberhof, die sich wiederum untereinander vernetzen, zum Teil auch weiterhin regelmäßig Rechtsanfragen an die Schöffen in Magdeburg stellen, denen man die größte Autorität in der Auslegung zutraut. Dieser Rechtszug nach Magdeburg und die dadurch produzierte Schriftlichkeit – erhalten sind wegen der Zerstörung des Magdeburger Schöffenarchivs während des Dreißigjährigen Krieges nur die Auskunftsschreiben in den Archiven der anfragenden Städte – sind neben den erhaltenen Normtexten der zweite wichtige Bestandteil dessen, was als »Magdeburger Recht« angesehen wird. Damit einher ging eine entsprechend europaübergreifende Expertenkultur, die auch die Universitäten ergriff und vergleichbar eigentlich nur mit der Rezeption des römisch-kanonischen Rechts im späteren Mittelalter ist. Über Jahrhunderte wird damit die Gemeinsamkeit einer Rechtstradition betont, die nicht an politische Herrschaftsräume gebunden ist. Es entsteht ein gemeinsamer Rechtsraum mit hoher Inklusionskraft, der neben 53 Eine gute knappe Übersicht, auch mit der neueren Literatur, bietet Heiner Lück: Die Rezeption des Sachsenspiegels und des Magdeburger Rechts in Ostmitteleuropa. In: Ders. (Hrsg.): Heiner Lück (Hg.): Eike von Repgow. Sachsenspiegel. Die Dresdner Bilderhandschrift Mscr. Dresd. M 32. Kommentarband. Graz 2011, 151 – 159, eine schön aufbereitete Hinführung an das Phänomen der in Anm. 61 genannte Begleitband zur Magdeburger Ausstellung.

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anderen, regionalen wie überregionalen, Rechtstraditionen steht. In diesem ziemlich flexiblen Mit- und Gegeneinander legten die Städte und Regionen des Magdeburger Rechts trotz aller Eigenständigkeit und aller häufig genug stillschweigenden Adaption der Muttertexte immer größten Wert darauf, ihre Zugehörigkeit zum »sessisch recht«, wie es damals hieß, zu betonen.54 Dieses ganz außergewöhnliche Phänomen, das wir auch anderswo im kleinen wie im großen Rahmen wiederfinden können, ist lange Zeit unter dem Begriff »Stadtrechtsfamilien« verhandelt worden.55 Für den Einflussbereich der Hanse um die Ostsee herum beispielsweise wird zu Recht die besondere Wirkkraft des Lübischen Stadtrechts betont. Allerdings sagt der Begriff »Stadtrechtsfamilie« den Schülerinnen und Schülern heute nichts mehr. Deshalb wird auch dort, wo das Magdeburger Recht noch Erwähnung findet, seine eigentliche Bedeutung mit großer Wahrscheinlichkeit nicht erkannt werden. Die für Niedersachsen vorgesehene Bearbeitung des Lehrwerks Anno aus dem Westermann-Verlag (1997, S. 280) etwa präsentiert eine Karte »Die Deutsche Ostsiedlung«, in der auch »Deutsches Stadtrecht im Osten« (Lübisches und Magdeburger Recht sowie nicht näher benannte süddeutsche Rechte, also wohl vor allem das Nürnberger) eingezeichnet sind. Der Verfassertext kommentiert dazu zwei Seiten später : »Deutsches Recht hat östlich der Elbe auch die Entwicklung von Städten bestimmt. Zwar gab es schon um 1000 slawische Vorformen wie Danzig, das im Schutze einer Burg als Marktort heranwuchs. Doch fielen auch im Osten die eigentlichen Stadtgründungen erst in das 12. Jahrhundert. Neugründungen übernahmen ihr Stadtrecht von sogenannten Rechtsvororten, unter denen Lübeck und Magdeburg hervorragten. So entstanden Stadtrechtsfamilien, deren Mitglieder das gleiche Recht hatten.«

Was diese Rechtsübernahme praktisch zu bedeuten hatte, bleibt damit ungesagt. Vielleicht auch aus Furcht, die überkommene nationalistische Mär von der deutschen Zivilisationsleistung im barbarischen Osten neu zu schreiben, wird am Ende gar nichts ausgesagt. Dabei wäre hier einiges zu lernen. Was heißt beziehungsweise hieß es eigentlich, »das gleiche Recht« zu haben? Wie kann eine (Stadtrechts-) Familie über Herrschaftsgrenzen hinweg eine zusammenhängende Struktur bilden? Und wie verhält sich diese dann zu den jeweils regionalen Herrschaftsträgern? Welche Austauschprozesse finden da statt? Das alles sind Fragen, die heute die Forschung beschäftigen, die aber durchaus nicht im El54 Das habe ich näher in meiner Dissertation: Sachsenrecht. Studien zur Geschichte des sächsischen Landrechts in Mittelalter und früher Neuzeit (Schriften zur Rechtsgeschichte, 142). Berlin 2009, herausgearbeitet. 55 Dazu jetzt kritisch die sehr lesenswerte Arbeit von Stefan Dusil: Soester Stadtrechtsfamilie. Mittelalterliche Quellen und neuzeitliche Historiographie (Forschungen zur Deutschen Rechtsgeschichte, 24). Köln–Weimar–Wien 2007.

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fenbeinturm bleiben müssten. Im Gegenteil: Für ein Europa, das seit einigen Jahrzehnten aufmerksam seinen Blick in den Osten wendet, kann die Erinnerung an die Wurzeln der gemeinsamen Rechtskultur hohes Bindungspotenzial entfalten – und zwar vor allem in regionalen Kontexten. Denn es sind ja keine staatlichen Großstrukturen, die diesen Rechtstransfer bewirkt haben, sondern die kleinen, punktuellen Rechtsverleihungen, die Stadtrechtsfamilien, die Siedlungsprivilegien. Und damit auch die Siedler. Erinnerungskulturell scheint das Magdeburger Recht freilich in Deutschland (noch) keine wesentliche Rolle zu spielen. In den Deutschen Erinnerungsorten von Etienne FranÅois und Hagen Schulze findet sich erwartungsgemäß nichts dazu – wohl nicht, weil es nichts zu erinnern gegeben hätte, sondern weil de facto bei Erscheinen der drei Bände nur in sehr kleinen, meist wissenschaftlichen Gruppen tatsächlich erinnert wurde. Wenn auch die enorme Verbreitung des »sächsisch-magdeburgischen Rechts«, wie es heute etwas präziser genannt wird, zumindest der Geschichtswissenschaft allgemein bekannt ist, so war diese starke gemeinsame Wurzel einer mittelalterlichen europäischen Rechtskultur außerhalb der Wissenschaft praktisch vergessen.56 Das hat seinen Grund sicher in der Forschungsgeschichte des Gegenstandes selbst. Nachdem die Erforschung des sächsisch-magdeburgischen Rechts als »Deutsches Recht im Osten« während der 1930er- und 1940er-Jahre von der nationalsozialistischen Ideologie zur Legitimation ihrer Expansionspolitik im Osten instrumentalisiert wurde, ist die Thematik während der Zeit des Kalten Krieges nur sehr verhalten behandelt worden.57 Erst nach dem Zusammenbruch des Eisernen Vorhangs setzten wieder die ersten gemeinsamen Forschungsprojekte ein. Aber es brauchte dann noch ein gutes Jahrzehnt, bis das Magdeburger Recht sich auch in der gesellschaftlichen Wahrnehmung Bahn brach. 1999 feierte die Stadt Kiew, wo im Übrigen schon seit 1808 ein Denkmal an die Bewidmung der Stadt mit Magdeburger Recht 1494/97 erinnert58, dessen 500. Jubiläum59, 2006 wurde ein entsprechendes 650-jähriges Jubiläum im ukrainischen L’viv (Lemberg), 2008 das 600-jährige Jubiläum im litauischen Kaunas begangen. In Krakau wurde 2007 anlässlich des 750. Jahrestages eine Ausstellung über »Krakau als europäische Stadt des Mag56 Vgl. dazu Hiram Kümper: Magdeburger Recht. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2012. http://ome-lexikon.uni-oldenburg.de/ 55234.html (letzter Abruf 11. 02. 2014). 57 Vgl. dazu Heiner Lück: Magdeburger Forschungen zum Magdeburger Recht (1933 – 1945). In: Ramona Myrrhe (Hrsg.): Geschichte als Beruf. Demokratie und Diktatur, Protestantismus und politische Kultur. Festschrift für Klaus Erich Pollmann. Halle 2005, 367 – 381. 58 Zu diesem Denkmal vgl. Heiner Lück: Das Denkmal des Magdeburger Rechts in Kiew. In: Forschungen zur Rechtsarchäologie und Rechtlichen Volkskunde 12 (1990), 109 – 111. In Magdeburg selbst streitet übrigens momentan eine Bürgerinitiative für die Errichtung eines solchen Denkmals. 59 Europejskie miasta prawa magdeburskiego. Tradveja, identyfikacja. Krakau 2007.

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deburger Rechts« inszeniert60, in Magdeburg war ein Jahr zuvor die Wanderausstellung Sachsenspiegel und Magdeburger Recht. Grundlagen für Europa mit Stationen in Halle, Brüssel und Warschau gestartet.61 Wissenschaftlich begleitet werden diese Entwicklungen durch Neuerscheinungen mit entsprechenden Buchtiteln, die ebenfalls besonders die europäischen Dimensionen betonen.62 Viele dieser Arbeiten stehen in Verbindung mit dem groß angelegten Forschungsprojekt Das sächsisch-magdeburgische Recht als kulturelles Bindeglied zwischen den Rechtsordnungen Ost- und Mitteleuropas an der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig.63 Auf dem Gebiet der Schulbuchforschung ist das Thema »Magdeburger Recht« bislang noch vollkommen unbehandelt geblieben. Mit gutem Grund – denn es gibt in neueren Lehrwerken nicht mehr viel zu forschen. Anders sieht das in Lehrwerken vorbundesrepublikanischer Zeit aus, etwa in denen des Nationalsozialismus, wo die Ostsiedlung (als »Ostkolonisation«) aus offenkundigen Gründen ein prominentes Thema war. Hier gäbe es sicher noch Aufholbedarf.64

Ausblick durch Weitblick: auf dem Weg zu einem »europäischen« Erinnern Im Vorhergehenden sind zwei transnationale Erinnerungsorte aus einer noch sehr deutschen Perspektive heraus vorgestellt worden. Sie zu europäisieren wäre eine Aufgabe, die noch vor uns liegt, die aber lohnend scheint. Was also wäre noch zu tun? Zunächst einmal wäre noch viel, sehr viel Anschlussarbeit zu leisten. Man 60 Dazu ist ein im Wort- und übertragenen Sinne gewichtiger Ausstellungskatalog im Großformat mit zahlreichen hochqualitativen Abbildungen erschienen: Krakow: europejskie miasto prawa magdeburskiego, 1257 – 1791. Krakau 2007. 61 Vgl. dazu die zweisprachige Begleitpublikation: Sachsenspiegel und Magdeburger Recht – Grundlagen für Europa. Saxon Mirror and Magdeburg Law – The Groundwork for Europe. Potsdam 2005. 62 Etwa Heiner Lück/Matthias Puhle/Andreas Ranft (Hrsg.): Grundlagen für ein neues Europa. Das Magdeburger und Lübecker Recht in Spätmittelalter und Früher Neuzeit (Quellen und Forschungen zur Geschichte Sachsen-Anhalts, 6). Köln-Weimar-Wien 2009. 63 Einzelheiten zum Projekt bei Inge Bily : Das Projekt »Das sächsisch-magdeburgische Recht als kulturelles Bindeglied zwischen den Rechtsordnungen Ost- und Mitteleuropas«. In: Wynfrid Kriegleder/Andrea Seidler/Jozef Tancer (Hrsg.): Deutsche Sprache und Kultur in der Zips. Bremen 2007, 179 – 186 sowie auf der Website http://www.magdeburger-recht.eu (letzter Abruf 11. 02. 2014). 64 Erstaunlich ist es etwa, warum bei Werner Clever : Germanen, Slawen und Deutsche in Ostmittel- und Osteuropa (2. Jh. v. Chr. – 16. Jh.). Zur Darstellung ihrer Beziehungsgeschichte in Schulgeschichtsbüchern der nationalsozialistischen Zeit, Dortmund 2000 weder die Hanse noch vor allem die »Ostkolonisation« eine Rolle spielen.

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kann natürlich fragen, wie viel Europa das deutsche Schulbuch bereithält. Interessanter aber wäre es – gerade mit Blick auf die so wünschenswerten Verknüpfungspunkte – zu fragen, wie es auch anderswo aussieht. Nur dann nämlich kann man in den geforderten Dialog unterschiedlicher Sichtweisen treten, aus denen heraus nur ein wirklich europäisches Erinnern möglich sein wird. Spätestens seit dem Europäischen Geschichtsbuch von 199265 sind immer wieder Versuche unternommen worden, in transnationaler Zusammenarbeit solche Verknüpfungspunkte besonders zu betonen. Dass eine solche anspruchsvolle Aufgabe kaum je zur allgemeinen Zufriedenheit gelöst werden kann, darf freilich vermutet werden – sie können »ein politisches Minenfeld oder Pfad zum Frieden« sein, wie jüngst noch die Veranstalter einer Tagung titelten.66 In den bisherigen Versuchen jedenfalls spielen weder die Hanse noch das Magdeburger Recht eine Rolle.67 Für die weitere Arbeit an den europäischen Erinnerungsorten »Hanse« und »Magdeburger Recht« wären eine ganze Menge Daten also erst noch zu erheben. Dafür müsste man offenkundig auch geschichtskulturelle Multiplikatoren, wie eben Schulbücher, in anderen Anrainernationen des alten Hanseraumes und den Ländern des Magdeburger Rechts in den Blick nehmen.68 Dass dabei freilich gleich mehrere Sprachbarrieren zu überwinden sind, macht eine solche Arbeit zu einem aufwändigen Unterfangen, das eigentlich nur im Team zu bewältigen wäre. Lohnen würde es sich gewiss. Untersuchungen wie Robert Schweitzers erhellende Studie zu neueren Hanse-Bildern in Schweden und Finnland legen die Vermutung nahe, dass sich hier eine ganz andere, vielleicht auch eine viel marginalere Vorstellung von der Bedeutung der Hanse für Europa im Allgemeinen und den Ostseeraum im Besonderen finden ließe.69 Dabei muss auch in 65 Fr¦d¦ric Delouche (Hrsg.): Europäisches Geschichtsbuch. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Deutsche Ausgabe. Stuttgart 1992 (5. Aufl. 2011). Seit 2012 ist das Europäische Geschichtsbuch auch in einer Lizenzausgabe der Bundeszentrale für politische Bildung erhältlich. 66 Veranstaltet von der UNESCO in Zusammenarbeit mit der Friedrich-Ebert-Stiftung und dem Georg-Eckert-Institut für Schulbuchforschung unter dem Titel Multilaterale Geschichtsbücher – ein politisches Minenfeld oder Pfad zum Frieden? im Oktober 2011. Auch der 49. Historikertag (Mainz) befasste sich im September 2012 in einer seiner Sektionen mit dem Thema »Europäisches Geschichtsbuch«. 67 Jüngstes Beispiel wäre das vom Klett-Verlag herausgegebene deutsch-französische Geschichtslehrwerk für die gymnasiale Oberstufe Histoire/Geschichte (Bd. 1: Europa und die Welt von der Antike bis 1815. 2011), das ganz bewusst eine europäische, nicht eine französisch-deutsche Perspektive einnehmen möchte. Im weitesten Sinne wirtschaftshistorische Themen spielen dort insgesamt eine untergeordnete Rolle; von rechts- und verfassungsgeschichtlichen Themen kann man das freilich nicht sagen. 68 Zum Einstieg in das Thema vgl. etwa den Band von Georg Stöber (Hrsg.): Deutschland und Polen als Ostseeanrainer (Studien zur Internationalen Schulbuchforschung, 119). Hannover 2006, der allerdings ausschließlich Themen des 19. und 20. Jahrhunderts behandelt. 69 Robert Schweitzer : Hanse-Tradition jenseits der Hanse? Das Bild der Hanse in Schweden

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Betracht gezogen werden, dass schon die zeitgenössische Sicht aus Polen, Russland oder Ungarn auf die Hanse mitunter eine durchaus andere war als das öffentliche Bild von der Hanse als Städtebund in Deutschland kolportiert, die deutschen Handelspartner und -konkurrenten häufig vielmehr als einzelne Städte wahrgenommen wurden.70 Was die Tradition des sächsisch-magdeburgischen Rechts angeht, so darf dagegen vermutet werden, dass sie in Schulbüchern aus Mittel- und Osteuropa vielleicht sogar präsenter als im deutschen Schulgeschichtsbuch sein möge – wenn auch nicht notwendig in einer positiven Erinnerung. Das wäre noch zu klären. Dass freilich in anderen geschichtskulturellen Medien und Räumen, etwa in großen historischen Ausstellungen, durchaus eine positive Erinnerung an die gemeinsame Rechtskultur in den Städten und Regionen Mittel- und Osteuropa besteht – oder, kritisch gewendet: jedenfalls erinnerungspolitisch betrieben wird –, ist oben bereits ausgeführt worden. Alles in allem dürften also, sowohl was die Hanse als auch was das Magdeburger Recht angeht, durchaus jene »unterschiedlichen Erinnerungskomplexe« bestehen, von denen Aleida Assmann spricht71, die in ein »dialogisches Erinnern« einzubringen eine wichtige Aufgabe eines gemeinsamen europäischen Gedächtnisses wäre. Erinnerungsorte als solche zu beschreiben erfüllt aber nur dann einen Zweck, wenn sie eine benennbare erinnerungskulturelle Funktion erfüllen oder ein entsprechendes Potenzial – mit aller ursprünglichen Doppelseitigkeit des Begriffs, der erst einmal eine Möglichkeit beschreibt, die aber durchaus nicht nur in positiver Richtung ausfallen muss – benannt werden kann. Das können ideologisch prekäre ebenso wie positiv besetzte Werte sein, wie sie in jüngster Zeit für eine Erneuerung gemeinsamer europäischer Erinnerung verstärkt gefordert werden.72 Eine solche Aufarbeitung der produktiven Kräfte herrschaftsübergreifender Verbindungen im alten Europa darf aber eben nicht heißen, zu einer Verklärung der Vergangenheit zurückzukehren, die den ehrlichen Hansekaufmann gegenüber dem verschlagenen italienischen Großkapitaund Finnland mit einer Fallstudie zum heute russischen Wivorg/Vyborg. In: Mitteilungen der Geographischen Gesellschaft in Lübeck 59 (1999), 159 – 188. 70 Vgl. etwa Hans Norbert Angermann/Ulrike Endell: Die Partnerschaft mit der Hanse. In: Dagmar Hermann (Hrsg.): Deutsche und Deutschland aus russischer Sicht. 11. – 17. Jahrhundert. München 1989, 83 – 115 oder Henryk Samsonowicz: Die Hanse im Ostseeraum. In: Zenon Hubert Nowak/Janusz Tandecki (Hrsg.): Die preußischen Hansestädte und ihre Stellung im Nord- und Ostseeraum des Mittelalters. Torun´ 1998, 7 – 14. Lesenswert im Übrigen auch der kurze, für den Schulunterricht aufbereitete Beitrag von Svend Aage Karup: Räuber oder Vorbild? Die Hanse aus dänischer Sicht. In: Praxis Geschichte 14, 1 (2001), 35 f. 71 Assmann: Auf dem Weg zu einer europäischen Gedächtniskultur? (Anm. 17), 64 f. 72 Konrad H. Jarausch: Nightmares or Dreams? A Postscript on the Europeanisation of Memories. In: Malgorzata Pakier/Bo Strath (Hrsg.): A European Memory? Contested Histories and Politics of Remembrance. Oxford–New York 2010, 309 – 320.

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listen, das fortschrittliche deutsche Recht im barbarischen Osten feiert – das haben wir (hoffentlich) hinter uns gelassen. Für einen reflektierten, kritischen Zugang zu Europa als gemeinsamem politischen Kommunikationsraum sind diese vergangenen Verflechtungsstrukturen, die über Herrschaftsräume hinweg Verbindungen schufen, gerade in Zeiten der Globalisierungen von besonderer Bedeutung, in denen der Nationalstaat, wie wir ihn aus dem 19. und 20. Jahrhundert kennen, in immer mehr Lebensbereichen an Bedeutung verliert und in denen zugleich sub- und supranationale Verflechtungen immer mehr Wichtigkeit erlangen. Ganz zurecht hat HammelKiesow bemerkt, dass »wir wesentliche Organisationsmerkmale der Hanse wahrscheinlich [heute] besser verstehen [können] als früheren Generation […], weil wir nicht mehr – wie in der Hochzeit des bürgerlichen Nationalstaates – in Kategorien hierarchisch aufgebauter Staaten und weitgehend geschlossener Nationalwirtschaften denken. […] Zum zweiten erleben wir, ebenfalls in den letzten drei Jahrzehnten verstärkt, dass europäische Staaten einerseits Souveränitätsrechte an eine überstaatliche Organisation, die Europäische Union, abtreten, andererseits aber auf zentralen Handlungsfeldern ihre Souveränität wahren. Das schärfte den Blick für die Gemengelagen unterschiedlicher Arten von Autonomie zur Zeit der Hanse«.73

Von dieser Einsicht, die immer einmal wieder auch in anderen Kontexten formuliert wurde und wird, ist im Schulbuch – zumindest was die vormoderne Geschichte Europas anbelangt – bislang kaum etwas angekommen. Dabei ist das Potenzial ja ein durchaus gegenseitiges: nicht nur scheint die Chance gegeben, zu einem angemesseneren Verständnis historischer Phänomene vorzustoßen, die durch europaweite Kommunikation Fundamente für das Zusammenwachsen dieses Raumes gelegt haben, auch die eigene Gegenwart scheint im Lichte des Vergangenen verständlicher – einschließlich ihrer Risiken. Deshalb ist es so wichtig, und leider bislang noch wenig geübt, auch in der didaktischen Verknappung, die Schulbücher grundsätzlich mit sich bringen müssen, neben den positiven ebenso die prekären Effekte klar herauszuarbeiten. So betont man derzeit üblicherweise die genossenschaftlichen, mitunter als »demokratisch« verbrämten Elemente der hansischen Zusammenarbeit, während die meliokratischen Strukturen weitgehend ausgeblendet werden.

73 Hammel-Kiesow: Europäische Union (Anm. 33), 28 f.

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Ausblick durch Einblick: die Region und das Supranationale Hanse und Magdeburger Recht verweisen aber nicht nur auf konkrete strukturelle Parallelen, die keinesfalls in der Gleichsetzung, wohl aber im Vergleich mit gegenwärtigen Entwicklungen deren reflektiertes Verständnis befördern können, sondern sie verweisen auch auf die sehr grundsätzliche Bedeutung gemeinsamer Identitäten und Identitätsbehauptungen. Das ist gerade in unserer Gegenwart, der die großen Ideologien angesichts der furchtbaren Effekte, die sie hervorbrachten, zu Recht suspekt geworden sind, wichtig, denn es zeigt eine Dimension des Politischen auf, die jenseits des unmittelbar Funktionalen liegt. Das fällt in der Darstellung der Schulbücher, und auch sonst in der öffentlichen Vermittlung, häufig unter den Tisch – und zwar vor allem deshalb, weil gegenüber den prominenten Zentralorten (etwa Lübeck für die Hanse) die regionale Anbindung nicht thematisiert wird. Viele Städte verstanden sich als Hansestädte, ohne je einen Sendboten zu den Hansetagen zu schicken. Und noch mehr Städte und Regionen betonten sehr ihre Zugehörigkeit zum Magdeburger Recht, obwohl ihre lokalen Rechtstexte, die sie unter diesem Label abfassen ließen, nur noch wenig mit dem sächsischen Rechtsbrauch zu tun hatten. Warum das? Was brachte ihnen eigentlich diese augenscheinlich doch eher ideelle Zugehörigkeit zu einer größeren Einheit? Um das zu beantworten ist nicht nur die große, sondern vor allem die kleine Perspektive wichtig, der Blick vor Ort, in die Region. Der Bezug der Region nicht in die Nähe, sondern in die Weite, zum Supranationalen, nämlich ist eine besondere Art von Konstruktionsarbeit an der eigenen Identität, insofern sie einen zunächst grundsätzlich inklusiv-affirmativen Charakter trägt. Das Konzept »Wir und die Anderen« hat hier eine ganz andere Qualität als im Nahbereich, wo es in der Regel exklusiv, abgrenzend gegenüber den Nachbarregionen wirkt – und wirken muss. Zugleich aber gerät es dadurch in eine oft als prekär empfundene Nähe zum Formelhaften, weil dieser Bezug zwischen »sich« und »den Anderen« regelmäßig mehr auf Vorstellungen und Zugehörigkeitsbekundungen denn auf konkreten Kontakten und Auseinandersetzungen beruht. Dafür liefern Magdeburger Recht und Hanse viele illustrative historische Beispiele. Sie zeigen aber auch, welche erstaunliche Stabilität solche imagined communities (trotzdem) mitunter entwickeln können.

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Historische Erzählungen über Altona als Elemente von Stadtteilidentität und lokaler Geschichtskultur

Am 22. September 2010 verkündete der schwarz-grüne Senat in Hamburg ein umfangreiches Sparprogramm. Neben Kürzungen im Kulturbereich war auch die Schließung des Altonaer Museums geplant. Die Mitarbeiter des Museums initiierten noch am selben Tag eine Kampagne unter dem Motto »Wir sind das Altonaer Museum«. Mit Unterstützung einer Bürgerinitiative und Demonstrationen, Solidaritätsfesten und Unterschriftenaktionen gelang es, innerhalb weniger Wochen auch viele Anwohner gegen die Schließung zu mobilisieren. Ende Oktober 2010 rückte der Senat von der geplanten Schließung wieder ab, Mitte November wurden dem Senat 75.000 Unterschriften übergeben, um den Bürgerwillen zum Erhalt des Museums zu demonstrieren.1 Dieser Konflikt hatte neben kulturpolitischen Aspekten eine deutlich stadtteilbezogene Komponente. Der Pressereferent des Altonaer Museums stellte in einem Gespräch fest, dass die Unterstützung kaum so groß gewesen wäre, wenn sein Haus inhaltlich passender »Volkskundliches Museum Norddeutschland« geheißen hätte. Nicht wenige der Unterstützer hätten das Museum gar nicht gekannt, was auch Ideen bekräftigte, sich über die kunst- und kulturgeschichtliche Darstellung hinaus stärker stadtgeschichtlich zu profilieren.2 Welche Fehlwahrnehmungen vorkamen, zeigt ein Flugblatt der Stadtteilgruppe Ottensen der Partei Die Linke, in dem ganz gegen die Tatsachen behauptet wurde, dass im Altonaer Museum nicht »die große Geschichte und ihre Gestalter« erzählt werde, sondern: Es sei »eine Stätte, in der die Entwicklung des heutigen Hamburger Bezirks Altona/Ottensen von den Anfängen als Fischerdorf über die Hoch-Zeit der Industrialisierung in der stolzen und eigenständigen, von der dänischen Herrschaft geprägten Stadt Altona aus der Sicht des einfachen Volkes festgehalten und dokumentiert wird«. Entsprechend wurden die Be-

1 Hamburgs Sinn für Demonstranten. In: Hamburger Abendblatt, 18. 11. 2010. 2 Gespräch des Verfassers mit dem Pressereferenten des Altonaer Museums Michael Seeberg am 19. 05. 2011.

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wohner Altonas aufgefordert, sich gegen die »schamlose Zerschlagung Eurer Geschichte« zu wehren.3

Abb. 1: Protestkundgebung der Bürgerinitiative »Erhaltet das Altonaer Museum« am 23. 10. 2010 in Ottensen. Foto: Henning Homann, Altonaer Museum.

Die Aktivitäten gegen die geplante Schließung des Altonaer Museums waren von einer erstaunlichen Intensität. Sie lassen sich als Ausdruck einer lokalen Geschichtskultur verstehen, in der dokumentiert wird, dass eine besondere Bindung an den Stadtteil eine Rolle spielt. Dies kann in einem ersten Zugriff als eine Stadtteilidentität, vergleichbar regionalen Identitäten, betrachtet werden. Um diesen Aspekt genauer zu untersuchen, wird in diesem Artikel die Spur einer Stadtteilidentität mithilfe historischer Erzählungen über Altona aufgenommen: Welche Erzählmuster und Diskurse prägen Darstellungen zur Geschichte der 1937 nach Hamburg eingemeindeten Stadt? Welche Sinnstiftungen werden vermittelt und welche Hinweise gibt es auf die Rezeption solcher (auch geschichtspolitischen) Angebote?4 Dieser Frage wird für den Hamburger Stadtteil Altona exemplarisch nachgegangen. Als Erstes wird der theoretische Zusam3 Stadtteilgruppe Ottensen der Partei Die Linke: Flugblatt »Schluss mit dem Ausverkauf Altonas«, 30. 09. 2010. http://www.die-linke-altona.de/politik/flugblaetter.html (02. 05. 2012). 4 Die bisher kaum in den Blick genommene »Wirkgeschichte« von Geschichtspolitik hat unterstrichen: Knud Andresen (Namensgleichheit mit dem Verfasser): Die Erforschung von Geschichtspolitik unter Aspekten des Spatial turns. In: Harald Schmid (Hrsg.): Geschichtspolitik und kollektives Gedächtnis. Erinnerungskulturen in Theorie und Praxis (Formen der Erinnerung 41). Göttingen 2009, 93 – 106, 97.

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menhang von historischen Erzählungen und Stadtteil-Räumen diskutiert und anschließend der Raum Altona erläutert. Im dritten Teil werden Erzählmuster zu Altona analysiert und nach Aneignungsstrategien gefragt.

1.

Bindungen an Stadtteile und Räume

Die Frage nach Bindungen an Stadtteile und überschaubare Räume innerhalb von Großstädten ist nicht neu und wurde insbesondere von der Stadtsoziologie und Sozialgeografie häufiger aufgegriffen.5 Dabei zeigte sich bei Untersuchungen schon Ende der 1970er-Jahre, dass Wohnortbindungen sich vor allem aus dem sozialen Nahraum von Nachbarschaften, Arbeits- und Einkaufswegen sowie Freizeitverhalten ergaben.6 Für Köln wurden Anfang der 1990er-Jahre vier Typen von Stadtteilbezogenheit herausgearbeitet. So sei der rationale Typus eher von Überlegungen zu Vorteilen des Wohnumfeldes geprägt, für den sozialen Typus stehen persönliche Bekanntschaften im Vordergrund. Der dritte Typus sei von emotionalen Bindungen geprägt, der vor allem bei Personen mit längerer Wohndauer und vielen sozialen Kontakten auszumachen sei. Eher seltener anzutreffen sei der vierte Typus, bei dem von einer »lokalen Identifikation« auszugehen ist; meist seien dies Personen, die im Stadtteil geboren waren.7 Diese Einteilung verweist darauf, dass Zugehörigkeitsempfindungen zu einem Stadtteil-Raum sehr unterschiedliche Ausprägungen haben können. Historisch grundierte Bindungen standen nicht im Zentrum der Untersuchungen. Allerdings lässt sich in Stadtteilen auch die Präsenz von lokalen Geschichtskulturen feststellen, und die hierbei vermittelte Kommunikation über historische Entwicklungen kann besondere Bindungen herstellen. Für die Konstruktion einer Regionalidentität ist die Geschichte des Raumes – wie komplexitätsreduziert auch immer – ein bedeutendes Element, da historische Symbole, Zeichen und Erinnerungsorte genutzt werden können. Der Oldenburger Historiker Heinrich Schmidt definierte: »Als Träger regionaler Identität verstehe ich einen gesellschaftlichen Zusammenhang, der – quer durch soziale Differenzierungen – seine Verbindlichkeiten, seine Merkmale, seine Grenzen in der

5 Kevin Lynch: Das Bild der Stadt. Basel 2007 (englische Erstausgabe 1960); Erich Bodzenta/ Irmfried Speiser/Karl Thum: Wo sind die Großstädter daheim? Studien über Bindungen an das Wohnviertel. Mit einem Beitrag von R. Richter. Wien et al. 1981; Thomas Dörfler : Gentrification in Prenzlauer Berg? Milieuwandel eines Berliner Sozialraums seit 1989. Bielefeld 2010; Paul Reuber : Heimat in der Großstadt (Kölner Geographische Arbeiten 58). Köln 1993. 6 Bodzenta/Speiser/Thum (Anm. 5), 14. 7 Reuber (Anm. 5), 113 – 116.

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Zugehörigkeit zu einer bestimmten Region und im unbewußten oder bewußten Bezug auf sie findet. Dabei setze ich ihre Überschaubarkeit voraus.«8 Wie lassen sich Wohnortbindungen und lokale Geschichte des Raums in ein Verhältnis zu Stadtteilen und insbesondere Altona setzen? Alle heutigen Großstädte sind überwiegend in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch Eingemeindungen ehemals eigenständiger Städte gewachsen. In Hamburg erfolgte diese Arrondierung aufgrund komplizierter Verhandlungen zwischen den Ländern Preußen und Hamburg schließlich erst 1937 unter nationalsozialistischer Diktatur.9 Die heutigen Hamburger Stadtteile – und zum Teil Bezirke – wie Altona, Harburg, Wilhelmsburg und Wandsbek sowie das schon lange zu Hamburg gehörende, aber räumlich weit vom Zentrum entfernt liegende Bergedorf haben eine eigene städtische Geschichte, die für einzelne Orte wissenschaftlich wie populär dargestellt ist.10 Dies gilt auch für aus kleineren Gemeinden entstandene Stadtteile, denen über historische Erzählungen ebenfalls ein besonderes Image verliehen wird.11 Die Überschaubarkeit des Raumes wird gegenüber der heutigen Metropole in historischer Dimension wieder hergestellt, gleichwohl unter geänderten Bedingungen. Der territoriale Raum ist als dynamischer Begriff zu verstehen, dessen Charakter Clemens Zimmermann dahingehend definierte, »dass sich wirtschaftliches, soziales und kulturelles Handeln stets auf einer territorialen Grundlage und innerhalb gewisser, allerdings historisch variabler Grenzen vollzieht«. Dabei werde der städtische Raum durch die

8 Heinrich Schmidt: Geschichte als Element regionaler Identität. In: Kulturpolitische Gesellschaft (Hrsg.): Ferne Nähe – zur Intensivierung ländlicher Kulturarbeit. Hagen 1992, 63 – 81, 63. 9 Holger Martens: Hamburgs Weg zur Metropole. Von der Groß-Hamburg-Frage zum Bezirksverwaltungsgesetz (Beiträge zur Geschichte Hamburgs 63). Hamburg 2004. 10 Vgl. Gerd Hoffmannn: Bergedorf bei Hamburg. Eine reichillustrierte Stadtteilgeschichte. 2. Aufl. Hamburg 1994; Jürgen Ellermeyer/Klaus Richter/Dirk Stegmann (Hrsg.): Harburg. Von der Burg zur Industriestadt. Beiträge zur Geschichte Harburgs 1288 – 1938. Hamburg 1988. 11 Vgl. Jürgen Frantz: Lokstedt – Niendorf – Schnelsen. Drei preußische Landgemeinden werden Hamburger Stadtteile. 85 Jahre preußisches Unterelbegesetz. 75 Jahre Groß-Hamburg-Gesetz. Hamburg 2012. Vgl. aus dem Umfeld der Geschichtswerkstätten: Wolfgang Stiller/Dieter Thiele (Hrsg.): Stadtteilbilderbogen. Hamburger Quartiere und ihre Geschichte(n). Hamburg 1985; Reinhold Hübbe: Stellinger Chronik. Der Weg der Gemeinde Stellingen vom holsteinischen Bauerndorf zum hamburgischen Großstadt-Vorort. 2. Aufl. Hamburg-Stellingen 1988; Peter Jäger: Auf den Spuren der Eidelstedter Geschichte. Vom Mühlendorf zum Stadtteil Hamburgs. Hamburg 2000; Sielke Salomon: Eimsbütteler Facetten. Einblicke in 100 Jahre Stadtteilgeschichte. 1894 – 1994. Hamburg 1994; Stellingen Gestern-Heute-Morgen e.V. (Hrsg.): Stellingen, Hamburgs Tor zum Norden. 1347 – 1997. Red.: Inge Zichel. Hamburg 1997; Kurt Wagner : Hamburg-Finkenwerder. Die Elbinsel im Wandel der Zeit. Erfurt 2003.

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Handlungsformen und historisch im zunehmenden Maße durch Kommunikation »immer wieder neu konstituiert, modifiziert, erweitert oder verkürzt«.12 Eine Großstadt wie Hamburg zerfällt nicht allein verwaltungstechnisch in kleinere Räume, sondern auch in der Wahrnehmung ihrer Bewohnerinnen und Bewohner. Es ist anzunehmen, dass in jedem dieser Räume spezifische Erzählungen über Zugehörigkeiten und geschichtliche Traditionen vorhanden sind. Diese historischen Erzählungen können Zugänge ermöglichen, um sich den Stadtteilraum anzueignen. Geschichte und historische Erzählweisen bilden eine wichtige Legimitationsressource im regionalen Kontext und werden von lokalen Politikern ebenso genutzt wie vom Stadtmarketing oder historisch Interessierten. Dabei ist weniger die historische Fachdiskussion entscheidend als vielmehr die Nutzung von regionalen historischen Symbolen oder Erzählungen zur Herstellung von Identifikationsräumen.13 Dies sind in Hamburg zum Beispiel die über einhundert »Hans-Hummel-Figuren«, die 2003 aufgestellt wurden. Aufgegriffen wurde eine populäre Hamburger Legende über einen Wasserträger aus dem 19. Jahrhundert, der Vorname war für den Effekt der Alliteration neu erfunden worden. Die Aktion, vom City-Management initiiert, lief über mehrere Jahre und folgte einer Welle von ähnlichen Aktionen in bundesdeutschen Städten, mit dem der Stadtraum symbolisch markiert und belebt werden sollte.14 Aber auch politische Umdrehungen gehören in dieses Feld. Die bei den Fußballfans des FC St. Pauli verbreitete Totenkopfflagge geht zurück auf Bestrebungen linker Hausbesetzer in den 1980er-Jahren, den Piraten Klaus Störtebeker (um 1360 – 1401) als Symbol des Kampfes gegen »Hamburger Pfeffersäcke« wieder populär zu machen. 1985 wurde das Denkmal von Simon von Utrecht (? – 1437), des Bezwingers von Störtebeker, von Störtebeker-Fans schwer beschädigt.15 Es handelt sich bei der hier betrachteten lokalen Geschichtskultur in Altona um eine historisch gefärbte Kommunikation über den Stadtteil-Raum, mit dem sich Bedürfnisse nach Zugehörigkeit zu kleineren und überschaubaren Räumen verbinden. Die Bezeichnungen für dieses Bedürfnis hat Paul Reuber als »baby12 Clemens Zimmermann: Einleitung. Raumgefüge und Medialität der Großstädte im 20. Jahrhundert. In: Ders. (Hrsg.): Zentralität und Raumgefüge der Großstädte im 20. Jahrhundert (Stadtgeschichte 4). Stuttgart 2006, 7 – 22, 7 f. 13 Für Ostfriesland und Jever zeigt dies anschaulich: Schmidt (Anm. 8). Ein Beispiel ist auch die Hamburger Hafencity, in der versucht wird, die Geschichte des bebauten Raumes zu rekonstruieren und so Orte und Plätze historisch aufzuladen und interessant zu machen. Vgl. Gert Kähler/Sandra Schürmann: Spuren der Geschichte. Hamburg, sein Hafen und die Hafencity (Arbeitshefte zur Hafencity 5). Hamburg 2010. 14 In Berlin war es der Berliner Bär, in Wismar ein Schweden-Kopf, die aufgestellt wurden. Vgl. Männer zum Anlehnen. In: Hamburger Abendblatt, 31. 05. 2003. 15 »Störtebeker-Kommando« zerstörte Utrecht-Standbild. In: Hamburger Abendblatt, 06. 06. 1985.

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lonisches Sprachgewirr« bezeichnet.16 Individuen integrieren spezifische Räume in ihr persönliches Selbstverständnis. »Territoriale Identitäten erschließen sich über mentale Repräsentationen, die ihrerseits von der subjektiven Aufmerksamkeit der verschiedenen Akteure und ihrer Repräsentation sozialer Zusammenhänge und Interessen mitbestimmt wird«, hat Rolf Petri beobachtet.17 Für die mentale Repräsentation sind historische Erzählungen ein wichtiger Bestandteil, da sie markante Gebäude, Plätze, Denkmäler oder territoriale wie ideelle Räume mit besonderen Bedeutungen aufladen und so identitätsstiftende Bindungen ermöglichen können. Dabei kann angenommen werden, dass regionale Bindungen durch höhere berufliche und soziale Mobilität und daraus folgende Durchmischungen in der bundesdeutschen Geschichte abgenommen haben. Norbert Fischer hat für den nördlich Hamburgs gelegenen Kreis Stormarn skizziert, dass der Wandel in der Nachkriegszeit von dörflichen zu kleinstädtischen und suburbanen Strukturen zu einem Verlust der regionalen Identität beigetragen habe.18 Allerdings stützt er seine Beobachtungen auf Interviews älterer Einwohner, bei denen eine biografische Verlustgeschichte von Orten und Zuständen der Kindheit und Jugend zu erwarten ist. Identität als sinnhafte Selbstverortung im territorialen und ideellen Raum speist sich aber nicht allein aus der Erinnerung an die Kindheit, sondern auch aus Geschichten, die zu dem Raum erzählt werden. Bei der lokalen Geschichtskultur in Altona ist gut zu beobachten, dass im Erwachsenenalter Zugezogene mit historischen Erzählungen Aneignungsstrategien des Raumes verbinden. Mit den sozialen Bewegungen der 1970er-Jahre wuchsen historischen Erzählungen zum Teil neue Deutungen zu, die von Studierenden unterstützt wurden. Dies ist weiter unten noch näher ausgeführt. Gerade in Großstädten ist dies ein wichtiger Aspekt, da die Mobilität und Fluktuation der Bewohner ungleich höher ist als in ländlichen und kleinstädtischen Regionen. Der Anteil von zu- und umgezogenen Personen in Hamburg lag und liegt jährlich bei etwas mehr als zehn Prozent, wobei der Anteil der innerhalb der Stadt Umgezogenen zwischen sechzig Prozent und zwei Drittel lag.19 Diese hohe Mobilität 16 Reuber zählt elf Begriffe, von dem veralteten »Heimat« über »regionale Identität« bis zu »Ortsbindung«. Reuber (Anm. 5), 5 f., Zitat 6. Die Vagheit des Begriffes betonen auch: Peter Haslinger/Klaus Holz: Selbstbild und Territorium. Dimensionen von Identität und Alterität. In: Peter Haslinger (Hrsg.): Regionale und nationale Identitäten. Wechselwirkungen und Spannungsfelder im Zeitalter moderner Staatlichkeit. Würzburg 2000, 15 – 37, 17. 17 Rolf Petri: Deutsche Heimat 1850 – 1950. In: comparativ. Leipziger Beiträge zur Universalgeschichte und vergleichenden Gesellschaftsforschung 11 (2001), 77 – 127, 121. 18 Norbert Fischer: Regionale Identität im Hamburger Umland in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 93 (2007), 199 – 214. 19 Leider liegen keine Angaben über das Umzugsverhalten zwischen Stadtteilen vor. Angaben stichprobenartig berechnet nach: Statistische Berichte der Freien und Hansestadt Hamburg, A I 2vj 4/57. Bevölkerung, Erwerbstätigkeit und Gesundheitswesen, Nr. 5, 11. März 1958;

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trägt dazu bei, dass Trägergruppen von spezifischen historischen Deutungen in den Stadtteilen meist kleiner sind als in nicht-großstädtischen Regionen. Die aktive Trägerschicht der historischen Kommunikation sind häufig länger ansässige Familien oder historisch interessierte Netzwerke, während ein größerer Teil der Bevölkerung vielleicht wenig Interesse daran hat oder es als kulturelles Selbstbild in der Alltagskommunikation verwendet. Ein Desinteresse lässt sich der Sache nach nur schwer beschreiben, es ist mehr zu konstatieren. Zu den Trägergruppen in Altona gehören neben Bezirkspolitikern die Bürgervereine von Altona und Ottensen. Der Altonaer Bürgerverein von 1848 war lange aktiv, wird zurzeit aber wesentlich durch Aktivitäten einer einzelnen Person geprägt, die eine private Sammlung als »Stadtarchiv Altona« betreibt.20 Auch um das Altonaer Museum gibt es an bürgerlichen und schleswig-holsteinischen Traditionen orientierte Nutzerkreise. Eine spezifische Erweiterung erfolgte in den 1970er-Jahren, als mit Geschichtswerkstätten und Aktivitäten zur Sanierung von Ottensen ein neues Interesse an lokaler Geschichte aufkam. Darauf ist noch einzugehen, da dieser neue Strang von lokaler Geschichtskultur gegenüber individuellen Verlusterzählungen älterer Bewohner neue Aneignungsmöglichkeiten auch für Zugezogene bot.

2.

Raum Altona

Aber über welchen Raum reden wir, wenn von Altona gesprochen wird? Die Variabilität von Grenzen eines territorialen wie ideellen Raumes lässt sich hier anschaulich beschreiben. Verwaltungstechnisch ist mit Altona heute zuerst der Bezirk verbunden, der von den Grenzen St. Paulis bis nach Blankenese reicht. Diese Einteilung deckt sich weitgehend mit dem Gebiet des 1927 entstandenen Groß-Altonas. Dieses entstand nach dem Scheitern von Einigungsverhandlungen mit Hamburg durch die Eingemeindung von westlichen und nördlichen Gemeinden Pinnebergs zu dem Kernbestand Altonas. Es erfolgte gegen den massiven Widerstand betroffener Gemeinden wie Blankenese oder Stellingen.21 Der Bezirk Altona bildet als Raum nur eine geringe Bindungskraft aus, die meist von Betonungen eigener Traditionen der Stadtteile überlagert sind. Historisch war die Stadt Altona um ein vielfaches kleiner. Sie lag in dem elbwärts gewandten Teil des heutigen Stadtteils Altona-Altstadt. Mit der AusStatistische Berichte der Freien und Hansestadt Hamburg, A I/II/III/j/71. Bevölkerung und Gesundheitswesen, Nr. 9, 28. August 1971; Statistische Berichte – Statisches Amt für Hamburg und Schleswig-Holstein, A (/S 1 – j/11H, 14. Juni 2012 Bevölkerung in Hamburg.) 20 http://www.altonaer-stadtarchiv.com/ (12. 05. 2012). 21 Vgl. Frantz (Anm. 11). Darin werden die Aktivitäten des Pinneberger Abwehrausschusses gegen Altonaer Eingemeindungswünsche anschaulich dokumentiert.

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Abb. 2: Die Stadtteile im Bezirk Altona 2008.

dehnung der Stadt Altona im 19. Jahrhundert entstand mit dem heutigen Stadtteil Altona-Nord ein Neubaugebiet. Mit der Verlegung des Bahnhofes nach Norden und der Umgestaltung des alten Bahnhofes zum Rathaus wurde eine neue Mitte zum Westen hin geschaffen. Dies erfolgte nach der Eingliederung von Ottensen, Bahrenfeld, Othmarschen und Neumühlen von 1889 bis 1899. Diese Räume sind im gegenwärtigen Verständnis am ehesten mit dem historischen Altona verbunden. Dabei hat sich seit den 1970er-Jahren Ottensen mit seinem dichten Altbaubestand als Ankerpunkt in den Vordergrund geschoben. Für nicht wenige Hamburger ist Altona Ottensen. Der historische Kern der Altstadt ist durch Kriegseinwirkungen stark zerstört worden. Mit dem Wiederaufbau von Neu-Altona änderten sich die Gebäudearten und die Straßenstrukturen so weitgehend, dass die ehemalige Altstadt kaum noch zu erkennen ist, gleichwohl die historischen Erzählungen meist diesen Raum behandeln. Mit seiner funktionalistischen Trennung hat Neu-Altona zu einer mentalen Verschiebung des Raumes Altona beigetragen, da einzelne Gebäude oder Ensembles wichtige Funktionen als Repräsentanten für einen Erinnerungsraum haben. Allerdings haben sich um den Fischmarkt und im nördlichen Teil der Altstadt wie auch in

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Altona-Nord Altbaubestände und markante Gebäude erhalten,22 die geschichtspolitisch auch wieder neu markiert werden.23 Hinzu kommt, dass manche früher zu Altona gehörenden Gebiete – insbesondere die Straßenzüge um die Große Freiheit im heutigen St. Pauli – erst durch Verwaltungsneuordnungen 1939 aus Altona herausgenommen wurden. Eine Neuschöpfung ist der 2008 gebildete Stadtteil Sternschanze, von dem nur ein Teil vorher zum Bezirk Altona gehörte. Der Kern von Altona und Ort, an dem engere Bindungen zu erwarten sind, liegt vorrangig im ehemaligen Stadtbereich sowie in Ottensen.

3.

Historische Erzählmuster

Aber was sind die Merkmale historischer Erzählungen über Altona? Welche Bedeutungen haben diese bis heute? Kann davon gesprochen werden, dass es eine »Meistererzählung« zur Geschichte Altonas gibt, und welche Verschiebungen sind im 20. Jahrhundert zu beobachten?24 Dazu sollen anhand von einigen älteren wissenschaftlichen und jüngeren populären Darstellungen Deutungslinien herausgearbeitet werden. Eines der hervorstechenden Merkmale nahezu aller Darstellungen über Altona ist der Gegensatz zu Hamburg. Die »Alterität« ist ein Kennzeichnen von kulturellen Selbstbildern im regionalen wie nationalen Kontext und ermöglicht überhaupt erst, die eigene Identität konstruieren zu können.25 Dieses Merkmal zeigt sich für Altona bereits in der heute noch populären Legende zur Namensgebung. Es gab bereits eine kleine Vorgängersiedlung im Mittelalter, die zu dem Kirchspiel des Dorfes Ottensen gehörte. 1536 habe in geringer Entfernung 22 Vgl. als Übersicht: Christoph Timm: Altona-Altstadt und -Nord (Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland, Hamburg-Inventar : Bezirk Altona, Stadtteilreihe 2.1). Hamburg 1987. 23 So war die viele Jahre als Teil der Universität genutzte ehemalige Polizeikaserne kaum beachtet; nach Auseinandersetzungen um den Bau eines Ikea-Kaufhauses in der Großen Bergstraße wurde das leerstehende Gebäude 2010 einer Künstlerinitiative überlassen. Der Arbeitskreis zur Erforschung des Nationalsozialismus in Schleswig-Holstein (AKENS) hat zur Geschichte der Polizei in Altona eine Ausstellung erarbeitet, die sich explizit auf die Wahrnehmung der Geschichte Altonas bezieht. Vgl.: Frank Omland: Das Polizeipräsidium Altona-Wandsbek – Erfahrungen mit einer stadt(teil)geschichtlichen Ausstellung im öffentlichen Raum Hamburgs. In: Polizei, Verfolgung und Gesellschaft in Norddeutschland. Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland, Heft 15. Hrsg. von der Gedenkstätte Neuengamme. Bremen 2013, 194 – 203. 24 Konrad Jarausch/Martin Sabrow: Meistererzählung – Zur Karriere eines Begriffs. In: Dies. (Hrsg.): Die historische Meistererzählung. Deutungslinien der deutschen Nationalgeschichte nach 1945. Göttingen 2002, 9 – 32. 25 Haslinger/Holz (Anm. 16), 17.

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zu Hamburgs Stadtgrenze Jochim von Lohe (um 1500 – um 1570, beide Daten nicht gesichert) eine Gastwirtschaft an dem Fluss Pepermölenbek errichtet. Bei den Bauarbeiten seien Hamburger Ratsherren gekommen, die aufgeregt »all to nah« gerufen hätten, woraus sich der Name Altona ableite. Diese Deutung wurde durch Quellen gestützt, als der Bericht eines Enkels des Gastwirts Ende des 19. Jahrhunderts entdeckt wurde, der diese Geschichte darstellte.26 Damit schien die These widerlegt, der Name Altona leite sich von einem älteren Gewässernamen ab, wie es in der Mitte des 19. Jahrhunderts schon angenommen und später auch belegt wurde.27 Der Leiter des Altonaer Museums, Thorkild Hinrichsen , nannte die Erzählung noch 1998 »unausrottbar«, stellt sie gleichwohl in seinen knappen Ausführungen zur Stadtgeschichte ausführlicher dar als die wissenschaftliche Herleitung.28 Die Popularität dieser Erzählung liegt nicht allein in der volksetymologisch einleuchtenden Herleitung des Stadtnamens, sondern auch darin, dass statt eines langweiligen Gewässernamens eine spannende Geschichte erzählt werden kann, mit der die Abgrenzung zu Hamburg zum Grundmotiv der Altonaer Geschichte wird. Den Erzählungen über diese Namenslegende ist in der Regel auch ein ökonomisches Motiv beigemischt.29 Der Wirt habe ein Rotbier gebraut, das billiger als Hamburger Bier gewesen sei. Die Kunsthistorikerin und Schriftstellerin Ruth Pinnau (1924 – 2010) deutete dieses Motiv der Beziehungsgeschichte noch 1997 essentialistisch mit Blick auf einen fast 500 Jahre zurückliegenden Zeitpunkt: »Welcher Hamburger möchte nicht mal den Blick hinaus tun über das muffige Einerlei hinter den engen Stadtmauern?«30 Die Namenslegende verweist auf zwei Deutungslinien, die in der Literatur zu Altona schon früh eingeführt wurden. Richard Ehrenberg (1857 – 1921) hatte 1893 davon gesprochen, dass die kennzeichnenden Begriffe für die Geschichte Altonas Gewerbefreiheit und Toleranz seien.31 Dafür gab es vielfältige Anschlüsse in der Realgeschichte Altonas. Die Notwendigkeit der Orts- bezie26 Richard Ehrenberg: Altona unter Schauenburgischer Herrschaft. Hrsg. mit Unterstützung des Kgl. Commerz-Collegiums zu Altona, Altona 1893, 8 – 17; in dieser Argumentation folgt ihm: Hans Ehlers: Aus Altonas Vergangenheit. Darstellungen aus der heimatlichen Geschichte und Topographie (Altonaer Bücherei 5). 2. Aufl. Altona 1926, 12 – 25. Ebenso nach dem Krieg Heinrich Kloth: Altona in Vergangenheit und Gegenwart (Hamburger Heimatbücher). Hamburg 1951, 10 f. 27 Vgl. dazu: Johann Martin Lappenberg: Von den ältesten Spuren der Juden in Hamburg. In: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 1 (1841), 281 – 290, 289. 28 Thorkild Hinrichsen: Altona. In: Uwe Hornauer/Gerhard Kaufmann (Hrsg.): Das Altonaer Rathaus, 1898 – 1998. Hamburg 1998, 10 – 13, 10. Mit ähnlicher Gewichtung: Ernst Christian Schütt: Aus der Geschichte von Altona und Ottensen. In: Brigitte Beier et al.: Altona und Ottensen (Hamburger Stadtteilreihe). Hamburg 1993, 6 – 27, 6 f. 29 Als jüngeres Beispiel vgl. Katharina Marut-Schröter/Jan Schröter : Altona, Ottensen, Neumühlen im Wandel in alten und neuen Bildern. Hamburg 1993, 7. 30 Ruth Pinnau: Der Geist der Palmaille. Hamburg 1997, 11. 31 Ehrenberg (Anm. 26), VI.

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hungsweise Stadtentwicklung bedeutete bereits unter der Herrschaft der Schauenburger Grafen, ab 1640 dann unter dänischer Herrschaft, die Ansiedlung religiöser Minderheiten wie Reformierte, Juden, Mennoniten oder Katholiken in der kleinen Siedlung, die 1664 zur Stadt erhoben wurde. Im ökonomischen Bereich war es der fehlende Zunftzwang oder der am Ende des 18. Jahrhunderts einsetzende Aufschwung Altonas zur Stadt der Aufklärung.32 Aber diese Unterschiede frühneuzeitlicher und frühmoderner Stadtpolitiken verschwanden in den Modernisierungsprozessen des 19. Jahrhunderts und der Eingliederung nach Preußen 1867. Altona hatte sich im Konflikt mit Dänemark nationalisiert, wobei als regionaler Bezug der städtischen Inszenierungen vor allem Schleswig-Holstein stand.33 Zugleich war die stadträumliche Nähe zu Hamburg prägend. Angesichts der beiden zusammenwachsenden Städte war Altona 1853 schon innerhalb Dänemarks zum Zollausland erklärt worden, wodurch sich die Industrialisierung in Ottensen, damals dänisches Zollinland, stärker ausprägte. Altona verlor diesen immensen Entwicklungsnachteil für die Industrialisierung erst 1884, als es mit Hamburg zum Zollinland wurde. Angesichts eines schnellen Bevölkerungswachstums – 1885 waren mehr als 100.000 Einwohner erreicht, nach der ersten Eingemeindungswelle von 1889 bis 1890 waren es 143.00034 – erhielt Altona den Charakter einer Schlafstadt für Hamburger Arbeiter. Es war eine Schieflage, die Altonas Stadtsäckel durch erhöhte Sozialausgaben und geringere Steuereinnahmen bis zum Groß-Hamburg-Gesetz dauerhaft belastete. Die enge Verzahnung Altonas mit Hamburg vollzog sich auf vielfältigen institutionellen Wegen schon im 19. Jahrhundert. Arbeitgeberverbände wie Gewerkschaften organisierten sich seit den 1890er-Jahren mit dem Zusatz »für Hamburg, Altona und Umgegend«, und reklamierten damit eine räumlich übergreifende Perspektive für das städtische Konglomerat an der Elbe.35 Auch in der Verwaltung Altonas war man sich angesichts der sozialen

32 Franklin Kopitzsch: Altona – ein Zentrum der Aufklärung am Rande des dänischen Gesamtstaats. In: Klaus Bohnen/Sven-Aage Jørgensen (Hrsg.): Der dänische Gesamtstaat. Kopenhagen – Kiel – Altona (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung 18). Tübingen 1992, 91 – 118. 33 Vgl. die 1914 von der Stadt Altona für die Jugend herausgegebene Schrift, in der der Krieg von 1864 und Verbindungen nach Schleswig-Holstein im Vordergrund stehen: August Bielfeldt: Altona in Wort und Bild. Ein Gedenkbuch zum 250jährigen Stadtjubiläum der Jugend Altonas gewidmet von der Stadtverwaltung 1914. Altona 1914. Allerdings hatte Altona im Herzogtum Holstein eine gewisse Sonderrolle aufgrund der räumlichen Nähe zu Hamburg. Vgl. Steen Bo Frandsen: Holsten i helstaten. Hertugdømmet in den for og uden for det danske monarki 1806 – 1850. Aarhus 2008. 34 Martens (Anm. 9), 13. 35 Klaus Saul: Machtsicherung und Gegenoffensive. Zur Entstehung des Arbeitgeber-Verbandes Hamburg-Altona 1888 – 1890. In: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 72 (1986), 105 – 138. Vgl. auch die ältere Schrift, dessen Fokus trotz des Titels auf Hamburg

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Probleme schon relativ früh bewusst, dass eine Vereinigung beider Städte sinnvoll sei.36 Als Verhandlungen darüber zwischen Preußen und Hamburg Anfang der 1920er-Jahre scheiterten, ging die Stadtverwaltung unter dem sozialdemokratischen Oberbürgermeister Max Brauer (1887 – 1973) dazu über, mit »GroßAltona« 1927 eine aus eigener ökonomischer Kraft lebensfähige Stadt zu schaffen, die zudem als eine der wenigen sozialdemokratisch regierten Großstädte in der Weimarer Republik als Modell einer fortschrittlichen Kommunalpolitik – insbesondere im Wohnungsbau – verstanden wurde.37 Die Vereinigung mit Hamburg unter den Bedingungen der nationalsozialistischen Diktatur machte öffentliche Kritik daran nahezu unmöglich. Dass es Unmut darüber gab, kann sicher angenommen werden. Gauleiter Karl Kaufmann (1900 – 1969) betonte nach der Verkündung der Vereinigung, er erlaube »niemande[m] das Recht, einen überflüssigen und durchaus unangebrachten Lokalpatriotismus zur Schau zu tragen. Ich wünsche weder Dünkel noch Minderwertigkeitsgefühle, weder ›Preußentum‹ noch ›Hanseatentum‹ alter Prägung in der Hansestadt Hamburg. Ich wünsche nur Deutschtum, leidenschaftliches Deutschtum, sonst nichts.«38 Die beiden genannten Deutungslinien der Altonaer Geschichte waren auch im Nationalsozialismus in eigentümlicher Umformung präsent. Das 1937 von Hans Berlage veröffentlichte Buch über Altonas »Stadtschicksal« – bereits ein Verweis auf eine mystifizierte Deutung – griff diese Deutungslinien auf, wenn er Altona im Gegensatz zu Hamburg als ungebunden beschreibt: »Um Altona aus der Vergangenheit verstehen zu können, muß man den Blick stets auch auf Hamburg richten. Alle menschlichen Elemente, die sich in die strenge Tradition des Bürgertums, die straff organisierten Zünfte Hamburgs nicht einfügen konnten oder wollten, sammelten sich lange Zeit in Altona. Neben dem konservativen Hamburg bildete sich nach den Gesetzen von Wirkung und Gegenwirkung ein ungebundenes Altona.« Hamburg und Altona seien mit Europa und Amerika liegt: Heinrich Laufenberg: Geschichte der Arbeiterbewegung in Hamburg, Altona und Umgegend. Band 1 Hamburg 1911, Band 2 Hamburg 1930. 36 Der Altonaer Oberbürgermeister Bernhard Schnackenburg legte die engere Zusammenarbeit mit Hamburg schon in einer Denkschrift 1910 dar. Vgl. Martens (Anm. 9), 14 f. 37 Dies wurde schon zeitgenössisch ausführlich dargestellt: Paul Theodor Hoffmann (Hrsg.): Neues Altona. 1919 – 1929. Zehn Jahre Aufbau einer deutschen Großstadt. Jena 1929; zu dem prägenden Stadtbaurat Bausenator Gustav Oelsner (1879 – 1956) vgl. Christoph Timm: Gustav Oelsner und das neue Altona, Hamburg 1984; Peter Michelis (Hrsg.): Der Architekt Gustav Oelsner. Licht, Luft und Farbe für Altona an der Elbe. Hamburg 2008. Zu Brauer und Neues Altona: Axel Schildt: Max Brauer (Hamburger Köpfe). Hamburg 2002, 25 – 37. 38 Rede von Karl Kaufmann am 1. 2. 1937 im Hamburger Rathaus, in Auszügen zitiert bei: Hans Berlage: Altona. Ein Stadtschicksal von den Anfängen bis zur Vereinigung mit Hamburg. Hamburg 1937, 197.

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vergleichbar, da Altona von den »wertvollsten zu den minderwertigsten Zeitgenossen« aufgesucht wurde, aber auch mehr Wagemut vorhanden gewesen sei.39 Der ehemalige Archivdirektor von Altona, Paul Theodor Hoffmann, veröffentlichte 1940 in der Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte eine Skizze zum Altonaer Geistesleben, in der er eine eigenständige Tradition und zugleich die Notwendigkeit einer Vereinigung betonte.40 Mit seinem Buch über die Elbchaussee, das bis 1982 neunmal aufgelegt wurde, bot Hoffmann keine Altonaer Stadtgeschichte, aber eine Deutung der intellektuellen und architektonischen Besonderheit der parallel zur Elbe verlaufenden Straße, die auch von aus Hamburg stammenden Kaufmannsfamilien und ihren Landsitzen geprägt wurde.41 Die dauerhafte Verbreitung von Hoffmanns Elbchaussee kann auch gelesen werden als grundlegendes Interesse an bürgerlicher Repräsentanz und ein verklärtes Hanseatentum als ein Teil der geschichtsbezogenen Raumaneignung Altonas.42 Es hatte nach 1945 keine ernstzunehmenden politischen Bestrebungen in den ehemals eigenständigen Städten gegeben, eine Revision des Groß-HamburgGesetzes zu erreichen. Allein in Harburg gab es anfänglich Versuche, sich Hannover wieder anzuschließen.43 Nach 1945 schob sich die Deutungslinie der Toleranz wieder in den Vordergrund stadtgeschichtlicher Darstellungen. In der Literatur wird die Vereinigung mit Hamburg als letztlich unabwendbar verstanden, zugleich aber die Besonderheit Altonas hervorgehoben. Heinrich Kloth begründete diese 1951 mit der Geschichte: »Wenn Altona jetzt ein Teil Hamburgs geworden ist, darf mit Sicherheit gesagt werden, daß es so viel eigenes Leben und so viel eigene Überlieferung mitbringt, daß es nicht die Rolle eines einfachen Stadtteils, wie etwa Barmbek oder Eimsbüttel, im Rahmen der Großstadt Hamburg spielt, sondern daß es immer ein gut Stück eigenen bo39 Ebd., 8. 40 Paul Theodor Hoffmann: Politik und Geistesleben in Altona vom 17. bis zum 19. Jahrhundert. In: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 39 (1940), 41 – 89. Als biografische Skizze zu Hoffmann, der in Altona der 1920er ein wichtiger geschichtspolitischer Akteur war und das Stadtarchiv reorganisierte, siehe: Michaela Giesing: Paul Theodor Hoffmann und die Hamburger Theatersammlung. In: Myriam Richter et al. (Hrsg.): 100 Jahre Germanistik in Hamburg. Traditionen und Perspektiven (Hamburger Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte 19). Berlin, Hamburg 2011, 177 – 194. 41 Paul Theodor Hoffmann: Die Elbchaussee. Ihre Landsitze, Menschen und Schicksale. Hamburg 1937. 42 Diese Perspektive klingt an bei einer Rede des CDU-Landesvorsitzenden Jürgen Echternach 1979, als er anlässlich einer Ausstellung hervorhob: »Herrliche Bauten, Perlen des Klassizismus an der Palmaille und anderen Straßen kennzeichnen die Geschichte Altonas….«. Zitiert nach: Manfred Jessen-Klingenberg: Von Dänemark nach Hamburg. Zur Geschichte Altonas. In: Schriften zur Politik und Geschichte Hamburgs. Heft 3: Aus der Geschichte Altonas und der Elbvororte. Hamburg 1990, 24 – 43, 28. 43 Martens (Anm. 9), 185 – 194.

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denständigen Lebens bewahren wird, wie es schon die Jahre seit der Vereinigung gezeigt haben.«44 Der amerikanische Historiker Jeremy DeWaal hat in seinen Untersuchungen zur »zweiten Heimatbewegung« in der Nachkriegszeit darauf hingewiesen, dass die Betonung von Toleranz in einer Reihe von lokalen Erzählungen, so zum Kölner Karneval, eine wichtige Rolle gespielt habe.45 Für Altona sind es dabei ältere Deutungslinien, die aufgegriffen werden konnten und lokalhistorischen Darstellungen einen pädagogischen Sinn verliehen. In der vom Hamburger Abendblatt 1982 herausgegebenen Darstellung von Hamburgs schöner Schwester wird diese Aneignung unterstrichen: »Der rote Faden unseres Denkmals einer Stadt ist das, was Altona einst bedeutend gemacht hat und was es heute zu bewahren und zu verteidigen gilt: Freiheit und Toleranz.«46 Thorkild Hinrichsen sprach 1998 von der Geschichte Altonas als einem »lebendigen Modell einer modernen Gesellschaft in einem zusammenwachsenden Europa«.47 Die Stadtgründungsjubiläen 1964 und 1989 boten Anlässe für Publikationen. 1964 zeichnete der Verein für Hamburgische Geschichte (VHG) verantwortlich.48 Der ehemalige Oberbürgermeisters von Altona und nach 1945 Erste Bürgermeister von Hamburg, Max Brauer, unterstrich in seinem Vorwort die Notwendigkeit der Vereinigung beider Städte. Der Band versammelte historiografische Abhandlungen über die Frühe Neuzeit, mit denen die Stadtgeschichte konturiert wurde.49 Anders verhielt es sich mit der 1989 vom Altonaer Bürgerverein herausgegebenen Schrift, in der im Sinne eines antiquarischen Wissens knappe Darstellungen städtischer Einrichtungen gebracht wurden.50 Es sollte dazu dienen, die Identifikation mit dem Stadtteil über die Vermittlung der be-

44 Kloth (Anm. 26), 137. 45 Dazu demnächst: Jeremy DeWaal: The ›Re-Invention‹ of Tradition: Form, Meaning, and Local Identity in Modern Cologne Carnival. In: Central European History, Volume 46, Number 3 (Fall 2013). 46 Hans-Günther Freitag/Hans-Werner Engels: Altona. Hamburgs schöne Schwester. Geschichte und Geschichten. Hamburg 1982, 7. 47 Hinrichsen (Anm. 28), 13. 48 Der erst in den 1920er-Jahren gegründete Altonaer Geschichts- und Heimatschutzverein löste sich 1938 auf und ging in den VHG über. Auch wenn die Aktivitäten des VHG immer noch einen Schwerpunkt auf die spezifische Hamburger Geschichte legten, war das Interesse an einzelnen Stadtteilen durchaus vorhanden. Darauf hat mich Gunnar Zimmermann anhand des Besuchsprogramms des VHG hingewiesen, wofür ich ihm zu Dank verpflichtet bin. Vgl. auch Klaus Richter : Traditionelle lokale Geschichts- und Heimatvereine in Hamburg. In: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte, 74/75 (1989), 23 – 40, 23 f. 49 Martin Ewald (Hrsg.): 300 Jahre Altona. Beiträge zu seiner Geschichte (Veröffentlichungen des Vereins für Hamburgische Geschichte 20). Hamburg 1964. 50 Wolfgang Vacano/Kurt Dohrmann (Hrsg.): Altona. Hamburgs historisches Kleinod mit Zukunft. Hamburg 1989. Für 1964 bereits mit vielen populären Elementen: Gruß nach Westen. 300 Jahre Altona. In: Hamburger Abendblatt, 02. 10. 1964.

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sonderen Geschichte Altonas zu fördern.51 Dabei wurde in abgeschwächter Form nicht allein der Gegensatz zu Hamburg bemüht, sondern auch ein zweites Merkmal von historischen Erzählungen deutlich: Die Hervorhebung ehemals eigenständiger städtischer Institutionen und eine damit zusammenhängende Verbindung zu Erst- und Bestleistungen. So habe »keine andere Stadt« durch die Kriegseinwirkungen ihr Antlitz so verändert wie Altona;52 außerdem komme die älteste Hamburger Zeitung aus Altona und hier wurde die erste automatische Straßenbeleuchtung installiert. Erwähnt wird zum Beispiel häufiger, dass Altona um 1800 mehr Schiffe unter seiner Flagge hatte als Hamburg.53 Diese ehemaligen Bestleistungen werden insbesondere in populären Darstellungen auch mit der »Okkupation« Altonaer Einrichtungen durch Hamburg verbunden: Der Fischmarkt liege eigentlich in Altona, wie auch Hagenbecks Tierpark in Stellingen oder das HSV-Stadion im Altonaer Volkspark. Der 1983 für ein Jahr als Stadtteilschreiber in Altona – ein Hinweis auf das gestiegene Interesse an lokaler Geschichte und administrativer Unterstützung zu dieser Zeit – beschäftigte Klaas Jarchow fasste die Erst- und Bestleistungen nach vielen Gesprächen mit Bewohnern im Stakkato zusammen: »Altona hatte 1779 eine größere Flotte als Hamburg, ganz genau 296 Schiffe! Einen eigenen Flugplatz in Bahrenfeld! Es gab das Altonaer Null! Altonaer Butter schmieren sich heut’ noch viele unter dem Namen Margarine auf ’s Frühstücksbrötchen! Altona hatte seine eigene Insel in der Elbmündung: Trischen! In Altona gibt’s eine Runde Ecke! Im Altonaer Stadion spielt der HSV und das nicht schlecht!«54 Hier sind Ankerpunkte von Erzählungen benannt, die in der Alltagskommunikation der Bevölkerung eine Verbreitung finden, gleichwohl quellenmäßig schwerer zu fassen sind, da sie selten verschriftlicht werden. In dem Band Altona – Hamburgs schöne Schwester ist ein verdichtetes Gespräch zwischen vier »Altonaer Lokalpatrioten« abgedruckt, in dem mit den erwähnten Ereignissen auch vermeintliche Demütigungen durch Hamburg hervorgehoben werden. Dazu gehören der Abriss des Altonaer Stadttheaters in den 1950er-Jahren und die Eingliederung des Altonaer Stadtarchivs 1973 in das Hamburger Staatsarchiv.55 51 Wolfgang Vacano: Zum Geleit. In: Vacano/Dohrmann (Anm. 50), 4 f; Frantz (Anm. 11), 9. 52 Hans-Werner Engels: Altona – Haithabu oder der Verlust der Altstadt. In: Vacano/Dohrmann (Anm. 50), 11 – 23, 11. 53 Wolfgang Vacano: Der Personen- und Warenverkehr. In: Vacano/Dohrmann (Anm. 50), 87 – 92, 87; Hinrichsen (Anm. 28), 12, erwähnt es auch, schränkt aber ein, dass es vor allem Hamburger Reeder waren, die Altona als Billigflagge nutzten. 54 Klaas Jarchow: Zu Hamburg sah ich Altona. Annäherungsversuch an ein Stadt-Teil. Hamburg 1983, 114. 55 Hans-Günther Freitag: Vom Stolz der Altonaer Lokalpatrioten. In: Ders./Engels (Anm. 46), 371 f. Zur Verlegung des Altonaer Stadtarchivs 1973 vgl. Martin Ewald: Zur Geschichte des Stadtarchivs in Altona. In: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 70 (1984), 95 – 108.

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Ereignisse, die von Ruth Pinnau in ihrer Darstellung des Geistes der Palmaille als bürgerlich-intellektueller Ort noch 1997 mit dem Nationalsozialismus verbunden wurden; so sei mit der Verlagerung des Archivs das »Ermächtigungsgesetz« fortgeführt worden. Schon vorher hatte sie vermutet, Adolf Hitler (1889 – 1945) habe das kleine Altona dem »Wolf« Hamburg geopfert.56 Diese mit Furor gegen Hamburg geschriebene Darstellung mag in der Überspitzung als Ironie gelesen werden; wie auch das 1974 erschienene Bändchen Hamburg, deine Altonaer, welches zu einer Serie von Stadtteilbüchern gehörte, in der verschiedene Hamburger Stadtteile klassifiziert wurden. Die Altonaer Charaktereigenschaften von Bodenständigkeit, Toleranz und Gewitztheit gegenüber Hamburg werden anekdotisch ausgebreitet, aber zum Beispiel auch die Zusammenlegung der Verkehrsgesellschaften als schmachvoll beschrieben, da die Altonaer Busse gemütlicher als die Hamburger Doppeldeckerbusse gewesen seien.57 Bis heute auftauchende Porträts über »Altonaer Lokalpatrioten« berichten meist auch mit einem »Augenzwinkern« über den Wunsch nach Selbständigkeit, gleichwohl sie darauf verweisen, dass sich von einem imaginierten Hamburg abgegrenzt wird.58 Für die Ausgangsfrage nach spezifischen Bindungen an einen Stadtteil ist jedoch nicht allein die Ernsthaftigkeit der Bemühungen entscheidend; denn gerade die ironisch gemeinten, kulturelle Selbstbilder beeinflussenden Erzählungen sind Elemente einer Alltagskommunikation, mit denen gegenwärtige politische Entwicklungen in ein historisch grundiertes Raster von Hamburger Übermacht und Altonaer Besonderheit eingefügt werden. Die bisher behandelten Darstellungen entstammen meist bürgerlicher Provenienz, demgegenüber ein neuer Strang der lokalen Geschichtskultur seit den 1970er-Jahren auszumachen ist. Dieser speiste sich aus dem Zuzug meist linker Stadtteilaktivisten, einer bunten Mischung aus der Neuen Linken und Alternativbewegungen, die den Wunsch nach nahräumlicher Orientierung stärkten. Die Auseinandersetzungen um die Sanierung Ottensens führten schon 1974 dazu, dass die geplante Abrisssanierung und autogerechte Bebauung zugunsten eines behutsameren baulichen Wandels aufgegeben wurde.59 Die Ende der 1970er-Jahre aufkommende Bewegung der Geschichtswerk56 Pinnau (Anm. 30), 279 und 276. 57 Wörtlich heißt es: »Man nahm uns unsere VAGA (Verkehrs A.G. Altona) mit den schönen Autobussen, und schickte dafür von der HHA ungemütliche Doppeldecker – für Altona waren sie gut genug.« Arnold K. Pick: Hamburg deine Altonaer, Hamburg 1974, 104 f. 58 Wolfgang Hamdorf, der Freiheitskämpfer von Altona. In: Hamburger Abendblatt, 03. 05. 2012. 59 Eine Darstellung dieser Auseinandersetzungen steht noch aus. Ein Überblick der Sanierungsdebatten bis 1990 bei: Ulrike Hoppe: Veränderungsprozesse im Zusammenhang mit dem Sanierungsverfahren Ottensen Spritzenplatz. Eine Nachuntersuchung aus der Sicht der Betroffenen. Hrsg. vom Amt für Städtebau, Stadterneuerung und Wohnungspolitik Hamburg. Hamburg 1992, 6 – 13.

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stätten führte zu einem neuen Zugriff auf regionale und lokale Geschichte, auch vor dem Hintergrund eines neuen Verständnisses von Subjektivität.60 Die Geschichtswerkstatt in Altona gründete sich 1980 als Stadtteilarchiv Ottensens. Sie sammelte zuerst in einem Bauwagen Materialien für eine Ausstellung, die 1982 im Altonaer Museum eröffnet wurde. Der demokratische Anspruch an die Stadtteilgeschichte wie die Nutzung für die Gegenwart wurden im Ausstellungskatalog deutlich formuliert: »Stadtteilgeschichte mit den Betroffenen und aus der Sicht der Betroffenen heißt Interesse wecken am heutigen Schicksal des Stadtteils und Kenntnisse und Erfahrungen an die Hand geben, um sich gegen die verschiedenen Formen der Zerstörung des Stadtteils zu wehren.«61 Das Stadtteilarchiv und sein aktives Umfeld etablierte neue Formen der Aneignung von lokaler Geschichte. Dazu gehörte, dass die Grundlage vieler Darstellungen Interviews mit älteren Bewohnern waren, denen als alteingesessene Bevölkerung eine besondere Legitimität zugesprochen wurde, Altona und Ottensen zu repräsentieren.62 Sie ermöglichten Verbindungslinien zwischen den Generationen und so den Kampf von »Jung und Alt gemeinsam für den Erhalt ›ihres Ottensen‹«.63 Inhaltlich hoben die Stadtteilaktivisten weniger auf heimatbezogene Verbundenheit ab als auf eine intensivere Beschäftigung mit sozialgeschichtlichen Themen. In einem aus einem Seminar an der Universität Hamburg entstandenen Band über Das andere Altona skizzierten 1984 junge Historiker sozialgeschichtliche Phänomene aus der Zeit der Weimarer Republik. Der Herausgeber Arnold Sywottek (1942 – 2000) begrüßte das neue Interesse an lokaler Geschichte, in dem er aber auch die Suche nach »Reservate(n) menschlicher Wärme« ausmachte: »Bezeichnenderweise liegen diese Reservate nicht in den alten Villenvierteln, wo in gutbürgerlichen Bücherschränken schon immer heimatgeschichtliche Betrachtungen zu finden waren, sondern eher in den von ›Sanierung‹ bedrohten, dicht bevölkerten Vierteln aus der ›Gründerzeit‹ des 19. Jahrhunderts oder in Stadtrandsiedlungen, wo Nachbarschaft und gemeinsame Vergangenheit als bewahrenswerte Verhältnisse vermutet und gegen als lieblos empfundene Neuplanungen verteidigt werden.«64 Trotz solcher his60 Detlef Siegfried: Die Rückkehr des Subjekts. Gesellschaftlicher Wandel und neue Geschichtsbewegung um 1980. In: Olaf Hartung/Katja Köhr (Hrsg.): Geschichte und Geschichtsvermittlung. Festschrift für Karl Heinrich Pohl. Bielefeld 2008, 125 – 146. 61 Elisabeth von Dücker/Werner Dahm: Ottensen. Zur Geschichte eines Stadtteils, 3. November 1982 – 7. August 1983, Altonaer Museum in Hamburg, Norddeutsches Landesmuseum/ Ausstellungsgruppe Ottensen. 2. Aufl. Hamburg 1982, 11. 62 Deutlich in den Interviewpassagen ebd., 3 – 7, 232 – 251. Die Methode wurde vom Stadtteilarchiv später systematisch reflektiert: Ulrike Hoppe/Petra Plambeck: Erfahrung – Erinnerung – Geschichte. Probleme im Umgang mit lebensgeschichtlichen Interviews. Hamburg 1989. 63 So die empathische Formulierung in Dücker/Dahm (Anm. 61), 251. 64 Arnold Sywottek: Heimatkunde – Stadtgeschichte – Alltagsgeschichte. Einige Überlegungen.

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toriografischer Vorbehalte etablierte sich das Stadtteilarchiv als ein wichtiger geschichtspolitischer Akteur in Ottensen und Altona bis in die Gegenwart.65 Es veröffentlichte in Zusammenarbeit mit Bewohnern eine Reihe von sozialgeschichtlichen Publikationen, die zugleich lokale Identifikationsräume anbieten.66 Ab 1980 entstanden in seinem Umfeld auch Stadtteilrundgänge, mit denen eine bis heute beliebte Form der Aneignung lokaler Geschichte etabliert wurde. Die nun über dreißigjährige Geschichte des Stadtteilarchivs – wie der Geschichtswerkstätten insgesamt, sofern sie die 1980er-Jahre überlebt haben – war auch von inhaltlichen Erweiterungen geprägt. Die anfängliche Suche nach demokratischer Geschichte war mit Überhöhungen der Arbeiterschaft verbunden, die zunehmend kritisch gesehen wurde. Neben der Ausweitung auf Frauengeschichte, die lokal verortet wurde,67 gehörte zu den thematischen Schwerpunkten vor allem die Beschäftigung mit der nationalsozialistischen Diktatur, die in anderen lokalgeschichtlichen Darstellungen zu Altona oft nur sehr knapp behandelt wurde.68 Schließlich rückte die jüdische Geschichte Altonas, die durch den erhaltenen jüdischen Friedhof an der Königstraße in Altona-Altstadt einen anschaulichen Ort hat,69 stärker in den Vordergrund.70 Durch diese allgemein zu beobachtenden Verschiebungen war der ungebrochen positive Bezug auf eine

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In: Ders. (Hrsg.): Das andere Altona. Beiträge zur Alltagsgeschichte (Ergebnisse 27). Hamburg 1984, 10 – 20, 13. 1986 erwarb der Verein die ehemalige Ottensener Drahtstifte-Fabrik in der Zeißstraße. Neben einer Ausstellung über die alte Fabrik residiert das Stadtteilarchiv seit 1988 in dem Gebäude und ist nicht von Mieterhöhungen bedroht. Vgl. Brigitte Abramowski: 10 Jahre Stadtteilarchiv Ottensen, Zeißstr. 28, Hamburg-Altona. Niet- & nagelfest. Hamburg 1990. Brigitte Abramowski (Hrsg.): Lokalgeschichte Ottensen. Geschichte und Geschichten von Restaurants, Kneipen, Tanzhäusern und Caf¦s. Hamburg-Altona 2005; Brigitte Abramowski (Hrsg.): Schauplatz Ottensen. Geschichte und Geschichten der Ottenser Plätze. 2. Aufl. Hamburg-Altona 2011. Inge Appel et al. (Hrsg.): Aufgeweckt. Frauenalltag in vier Jahrhunderten. Ein Lesebuch. Hamburg 1988; Elisabeth von Dücker (Hrsg.): Wo die »wilden« Frauen wohnten … Frauen zeigen, wo’s lang geht in Hamburg-Ottensen. Hamburg 1994. Stadtteilarchiv Ottensen (Hrsg.): Ohne uns hätten sie das gar nicht machen können. NaziZeit und Nachkrieg in Altona und Ottensen. Hamburg 1985. Michael Studemund-Hal¦vy/Gaby Zürn: Zerstört die Erinnerung nicht. Der jüdische Friedhof Königstraße in Hamburg. Hamburg 2002. Der ehemalige jüdische Friedhof Ottensen wurde während des Nationalsozialismus zerstört, nach dem Krieg verkauft und darauf ein Kaufhaus errichtet. Als 1992 ein Neubau eines Einkaufszentrum geplant war, wurde seitens von Stadtteilaktivisten versucht, den Bau zu verhindern. Orthodox-jüdische Gruppen protestierten ebenfalls gegen die Bebauung. Allerdings kam es durch ein rabbinisches Gutachten zu einer Kompromisslösung. Im Einkaufszentrum ist ein Gedenkort eingerichtet: eine Gedenktafel mit den bekannten Namen der Bestatteten. Vgl. Ulla Hinnenberg: Der jüdische Friedhof in Ottensen. 1582 – 1992. Eine Dokumentation. Hrsg. vom Stadtteilarchiv Ottensen (Stadt-Bilder). Hamburg-Altona 1992. Ulla Hinnenberg: Die Kehille. Geschichte und Geschichten der Altonaer jüdischen Gemeinde. Ein Buch über Altona. Hrsg. vom Stadtteilarchiv Ottensen (Stadt-Bilder). HamburgAltona 1996.

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Stadtteilgeschichte zwar nicht gänzlich versperrt, aber auch nicht mehr allzu einfach zu haben. Über diese im Spannungsfeld von Geschichtsvermittlung und Grundlagenforschung stehende Beschäftigung hinaus war ab 1980 ein eher ironisches lokalgeschichtliches Interesse zu beobachten, das explizit auf die Geschichte Altonas Bezug nahm. 1980 wurde ein Flugblatt mit einem Brief an die dänische Königin Margarethe II. (*1940) mit der programmatischen Forderung »Altona muß zurück an Dänemark« veröffentlicht.71 Mit dieser in linken und subkulturellen Kreisen populären Forderung verband sich aber nur ein begrenztes Interesse an Dänemark selbst; es ging vielmehr um eine ironische Wendung, um Kritik an hiesigen Verhältnissen zu üben.72 Mit dem GAL-Bezirksabgeordneten (später Wählerinnen- und Wählervereinigung Regenbogen) und Geschichtslehrer Olaf Wuttke hatte die Strömung einen engagierten Fürsprecher in der Altonaer Bezirksversammlung, der immerhin erreichte, dass am Altonaer Rathaus zu bestimmten Anlässen auch die Fahne Altonas ausgehängt wird.73 Bis heute stellt seine Gruppe Altonaer Freiheit eine eher phantomhafte Erscheinung dar. Es zeigt aber, dass mit der Geschichte spezifische Verlängerungen vorgenommen werden können, die sich mit ironischem Unterton in den politischen Raum verlagern lassen. Denn diese Tendenz nahm seit den 1980er-Jahren Bezug auf die Gentrifizierung, einen politisch umkämpften Prozess von sozialer Aufwertung eines Stadtteiles mit häufig einhergehender Verdrängung sozial schwächerer Bevölkerungsgruppen. Der Musiker und Theaterregisseur Schorsch Kamerun hat 2012 das Stück Die Verschwundenen von Altona im Thaliatheater in der Gaußstraße inszeniert, in der eine Kritik an dem Verschwinden von Eigenem, individuell wie kollektiv, anhand von Altona erzählt wird. Für Kamerun ist nicht allein die Rückkehr nach Dänemark ein interessanter Aspekt, sondern der Gegensatz zu Hamburg: »Dabei will ich mich auch um die tatsächliche, wirklich interessante Geschichte vom Stadtteil Altona als ewig standhafte und nützliche Gegenposition zum Hamburger Pfeffersacktum kümmern.«74 In die Gentrifi71 Flugblatt Altona muß zurück an Dänemark. Unterzeichnet von Hass-Hits. In: Stadtteilarchiv Ottensen, ohne Signatur. 72 So der Vorschlag an die GAL-Fraktion 1990, angesichts der Wiedervereinigung ein Fest für die Rückkehr nach Dänemark zu organisieren. Schreiben »Liebe GAL-Fraktion von Altona«, 20. 4. 1990. In: Stadtteilarchiv Ottensen, ohne Signatur. In Fankreisen des Altonaer Fußballclubs von 1893 werden dänische Fahnen mit verwendet. Vgl. Norbert Carsten: Faszination Adolf-Jäger-Kampfbahn. Altona 93 und sein 100-jähriges Kultstadion. Göttingen 2008, 91. 73 Humorvoller Kampf um neue Unabhängigkeit. Das wahre Tor zur Welt. In: Hamburger Abendblatt vom 15. 05. 1996. 74 Interview mit Schorsch Kamerun auf der Homepage zum Stück. http://die-verschwundenen-von-altona.com/ansichten-des-regisseurs/ (22. 03. 2012).

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zierungsdebatte sind historische Erzählungen fast immer mit eingeschrieben. Einerseits soll der bestehende Zustand geschützt werden, andererseits werden neue Bewohner oder Geschäfte als nicht zum Eigentlichen dazugehörig markiert. Zugleich ist eine eigentümliche Ahistorizität zu konstatieren, da bereits erfolgte Veränderungen – so in Altona und Ottensen von einem Arbeiterstadtteil zu einem szenegeprägten Stadtteil in den 1980er-Jahren – oft nicht wahrgenommen werden. Allerdings wird in den Gentrifizierungsdebatten auch eine neue historische Erzählung geschaffen, die bisher kaum wahrgenommen wurde. Denn neben der von Kamerun behaupteten Kontinuität des Widerstands mit den Anschlüssen an ältere Deutungslinien wird die Rolle von Migranten betont, die Altona seit den 1970er-Jahren prägten.75 Dies sind nicht allein Erzählungen über, sondern auch von Migranten, die von ihrer Bindung an Altona erzählen76 oder an die Geschichte ihrer Eltern erinnern und so eigene lokale Traditionen begründen. Insbesondere der Regisseur Fatih Akin hat mit seinen zum Teil in Altona angesiedelten Filmen eine spezifische migrantische Identität angesprochen. Akin, der seine hybride Identität hervorhebt, betont auch die Bindung an Altona als einen besonderen Stadtteil.77 Gleichwohl die älteren Ottenser in den 1980er- und 1990er-Jahren eher ihre Distanz gegenüber den Migranten herausstellten, ist die multikulturelle Färbung des alten Stadtraumes Altona heute ein zumeist positiv besetztes Merkmal. Eine wissenschaftliche Beschäftigung mit Aneignungsstrategien von lokaler Geschichte durch Migranten steht allerdings noch aus.

Fazit Historische Erzählungen, so ließe sich resümieren, bilden eher eine Beimischung denn eine Grundlage von Zugehörigkeitsempfindungen zu einem Stadtteil, die von manchen als identitätsstiftende Bindung verstanden werden. In 75 Die Frage nach dem Platz der Migranten warf das Stadtteilarchiv schon früh auf: Ausländer in Ottensen – ›Gastarbeiter‹ oder Mitbürger? In: Dücker/Dahm (Anm. 61), 211 – 229; eine migrantische Fraueninitiative wurde ausführlich dargestellt in: Appel (Anm. 67), 209 – 217. 76 So der Friseur und SPD-Politiker Behcet Algan (*1956), der seine persönliche Bindung an Altona betont und die Vertreibung migrantischer Geschäfte kritisiert. Vgl. Altona ist mein Dorf. In: Michael Richter : gekommen und geblieben. Deutsch-türkische Lebensgeschichten. Hamburg 2003, 55 – 75; Ottensen – wie die Türken verdrängt werden. In: Hamburger Morgenpost, 15. 11. 2011. 77 Vgl. den Dokumentarfilm »Wir haben vergessen zurückzukehren«, Deutschland 2001, in dem Akin seine Eltern interviewt und mit seinem Bruder über die Kindheit und Jugend in Altona spricht; vgl. Ann-Kristin Demuth: Das Problem der kulturellen Identität in den Filmen des deutsch-türkischen Regisseurs Fatih Akin. Magisterarbeit (Sprachwissenschaft). Ms. Hamburg 2004.

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der Alltagskommunikation und der Gentrifizierungsdebatte sind es vor allem stark komplexitätsreduzierte Darstellungen, mit denen ein Gegensatz zu Hamburg und eine Toleranz-Geschichte erzählt wird. Dabei ist der territoriale Raum Verschiebungen unterworfen, die auf eher ideelle und dem persönlichen Sozialraum entsprungene denn historisch begründete Raumaneignung verweisen. Waren nach dem Krieg noch heimatverbundene Erzählungen vorherrschend und für bürgerliche Geschichtsakteure eher die Palmaille und klassizistische Bauten im Fokus, kam seit den 1970er-Jahren eine von sozialen Bewegungen getragene stärker politisierte Aneignung auf. Eine politische Wirkmächtigkeit ist für beide Aneignungsformen, die auch nebeneinander existieren, eher gering zu veranschlagen. Sie äußert sich geschichtspolitisch vor allem in Konflikten um Abrisse oder die Gestaltung historischer Gebäude oder Plätze oder die eingangs erwähnte drohende Schließung des Altonaer Museums. Die historischen Erzählungen ermöglichen kulturelle Zuschreibungen zur eigenen Positionierung in einem überschaubaren Raum innerhalb einer Metropole wie Hamburg. Für die aktuell diskutierte Eigenlogik von Städten wäre es gleichwohl ertragreich zu erkunden, welchen Anteil und welche Rolle historische Bindungen an die Stadtteile haben.

Jörg Schilling

Gedächtnis und Rezeption – Spielräume der Aneignung. Das Hamburger Bismarckdenkmal im Kontext regionaler und nationaler Bedeutungsebenen

Wie man es auch betrachtet: Das 1906 eingeweihte Hamburger Bismarckdenkmal umgeben mehrere miteinander verschränkte, sich durchdringende und teilweise konterkarierende Gedächtnisräume. Sie sind Teil der Rezeptionsgeschichte dieses Monuments, die im Spannungsfeld lokaler Provenienz, regionaler Bedeutung und nationaler Ausstrahlungskraft stand.1 Als »Roland« wurde es zu einem antiwilhelminischen, inoffiziellen Nationaldenkmal erkoren, das in mehrfacher Hinsicht Identität stiftende Wirkung erzielte. Was waren die Ursachen und Folgen dieser Ambivalenzen? Wie wirkten sie sich bis auf die heutige Wahrnehmung aus?

Roland Es ist längst vergessen, dass die Zeitgenossen das Bismarckdenkmal einst als »Roland von Hamburg«2 titulierten. Damit wurde dem Monument in Anlehnung an die zumeist in norddeutschen Städten als mittelalterliche Symbolträger der Stadtrechte überlieferten Statuen eine über die lokale Funktion hinausgehende Bedeutung gegeben. So repräsentierte der »Roland« eine die Region einbeziehende Identifikationsfigur, wie sie zum Beispiel auf einer Hamburg-Postkarte anschaulich zum Ausdruck gebracht wurde: Die Bismarckfigur thront über einer gemalten Hafenszene und Ansichten von Blankenese, Cuxhaven und Helgoland.3 Andererseits wurde in Hamburg schon vor Otto von Bismarcks 1 Zur Geschichte und Rezeption des Hamburger Bismarckdenkmals: Jörg Schilling: Distanz halten. Das Hamburger Bismarckdenkmal und die Monumentalität der Moderne. Göttingen 2006. 2 Paul Bröcker : Über Hamburgs neue Architektur. Zeitgemäße Betrachtungen eines Laien. Hamburg 1908, 36. 3 Vgl. Lars Amenda: »Welthafenstadt«. Globalisierung, Migration und Alltagskultur in Hamburg 1880 bis 1930. In: Dirk Hempel /Ingrid Schröder (Hrsg.): Andocken. Hamburgs Kulturgeschichte 1848 bis 1933. Hamburg 2012, 396 – 408, 403.

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(1815 – 1898) Tod die »Rolandsidee« als »Reichsidee« interpretiert und der ehemalige Reichskanzler als »Roland des neuen Reiches«4 bezeichnet. 1892 enthüllte man vor Bismarcks Augen im Sachsenwald eine ephemere Rolandfigur, die seine Züge trug.5 Initiator dieser Ehrerbietung war der Hamburger Oberingenieur Franz Andreas Meyer (1837 – 1901), welcher später den Wettbewerb um das Bismarckdenkmal vorbereitete und die Standortwahl für das Monument maßgeblich bestimmte. Er starb am 17. März 1901 und konnte die Auslobung des Wettbewerbs im Juni desselben Jahres nicht mehr miterleben. Doch in seinem Plädoyer für die Elbhöhe betonte er, dass dieser Standort einen Ausblick in den »Weltverkehr« bieten würde und dass er dort gegen ein »mächtig ragendes Standbild unseres großen modernen Rolands« nichts einzuwenden habe.6 Insofern konnte nicht überraschen, dass der Bildhauer Hugo Lederer (1871 – 1940) und der Architekt Johann Emil Schaudt (1874 – 1957)7 in ihrem Anfang 1902 preisgekrönten Projekt Bismarck mit Harnisch und Reichsschwert zum mittelalterlichen Ritter stilisierten und auf einen Sockel mit archaischen, überzeitlich abstrahierten Architekturformen stellten. »Die Darstellung Bismarck’s [sic!] als reckenhafter Rolandriese auf wuchtigem, wirkungsvoll abgestuftem Unterbau gewann diesem Entwurfe die einstimmige Zuerkennung des ersten Preises.«8 Das Preisgericht sah in der Assoziation mit den Rolandsäulen »unserer niederdeutschen Städte (…)« die im Volksbewusstsein verankerte Verkörperung eines wehrhaften Schutzpatrons.9 Mit der Verbindung der regionalen Denkmaltradition bekam das Hamburger Vorhaben eine Bedeutungsebene, die es von anderen Bismarckdenkmälern unterschied. Dabei könnte eine Rolle gespielt haben, dass Franz Andreas Meyer kurz vor seiner Beschäftigung mit dem Hamburger Projekt Erfahrungen im Preisgericht des durch die deutsche Studentenschaft ausgelobten Wettbewerbs um die Bismarcksäulen gesammelt hatte. Diese sollten sich als Netz granitener Feuerträger – einfach, prunklos und ohne regionale Bezüge – als abstrakte Sinnbilder der deutschen Einheit hundertfach über die Höhen des Landes verteilen.10 4 StA HH, Senat CL VII Lit Fc No 21 Vol. 17 Fasc. 4, Reichstagsabgeordneter Semler am 28. 03. 1887, zitiert nach Heinrich Egmont Wallsee: Der Wettbewerb um das Bismarckdenkmal in Hamburg, II. Ein Bismarck-Roland für Hamburg! In: Hamburger Nachrichten (Abendausgabe), 22. 01. 1902. 5 Schilling (Anm. 1), 105. 6 StA HH, Bismarck-Denkmal-Comite, A2, Bd. 2, 194, 1, 8. Bericht von Meyer an Senator Predöhl, 03. 11. 1900. 7 Jörg Schilling: Hugo Lederer. In: Franklin Kopitzsch/Dirk Brietzke (Hrsg.): Hamburgische Biografie. Personenlexikon. Bd. 1. Hamburg 2001, 180 – 181; ders.: Johann Emil Schaudt. In: Ebd., 269 – 270. 8 Georg Treu: Vorrede. In: Die preisgekrönten Entwürfe zum Bismarckdenkmal für Hamburg für Hamburg. Hamburg 1902, o. S. 9 Ebd., Gutachten des Preisgerichts. Nr. 31. 10 Schilling (Anm. 1), 50 – 52.

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Region Demgegenüber wurde das Hamburger Denkmal in der Rolle eines symbolischen Wächters gesehen, der am Tor zur Welt – immer mit dem Verweis auf die regionale Herkunft – die Stadt und das Reich in seine Obhut nahm. So stand auch der Schriftsteller Alfred Kerr (1867 – 1948) vor dem Roland und erschauerte angesichts des »ungeheuren Etwas«, um sich – versehen mit Seitenhieben auf Berlin – zu fragen, wie es möglich sein konnte, »dass Hamburg nicht aller Deutschen Hauptstadt wurde?«11 Noch 1966 verteidigte der damalige Leiter des Hamburger Denkmalschutzamtes das mittlerweile angefeindete Denkmal »mit der für Norddeutschland typischen Gestalt des Roland« als ein Wahrzeichen nicht nur der deutschen Geschichte, sondern auch für den deutschen Handel und den deutschen Markt so wichtigen Hafen.12 Das hatte auch Franz Andreas Meyer so gesehen. Der Oberingenieur, dessen »gesunder Sinn als Niederdeutscher« schon von dem Rembrandtdeutschen Julius Langbehn (1851 – 1907)13 hervorgehoben worden war,14 betonte, dass Bismarck das »Hinausfahren der Hamburgischen Kaufmannschaft (…) auf alle Weltmeere und die Unternehmungslust unserer niedersächsischen Rasse (…) als ein sämtliche deutsche Stämme förderndes Gemeingut« erkannt hätte.15 Mit diesem Loblied auf vermeintliche lokale und regionale Tugenden lag Meyer nicht weit entfernt von den Ansichten seines Widersachers Alfred Lichtwark (1852 – 1914). Der Hamburger Kunsthallendirektor hatte in der Denkmalangelegenheit erfolglos gegen die Elbhöhe opponiert, weil er dort Maßlosigkeit befürchtete. Eine große Figur an diesem Ort empfand er für Hamburg als Katastrophe.16 Auf der anderen Seite vertrat er die Meinung, dass es eine »politische Notwendigkeit« sei, »Hamburg zum kulturellen Mittelpunkt des Nordwestens zu machen«,17 und zu diesem Zweck hätte auch Lichtwark gerne ein Bismarckmonument nach seinen ästhetischen Vorstellungen instrumentalisiert. Dahinter standen der Gedanke der Kulturreform und der Wunsch nach einer florentinischen Versöhnung von 11 Alfred Kerr : Die schönste Großstadt in Deutschland, 1928. In: Eckart Kleßmann (Hrsg.): Hamburg. Ein Städte-Lesebuch. Frankfurt/Main-Leipzig 1991, 67 – 71, 67 – 68. 12 DA HH, 39 – 104.301.1. Dr. Gerhardt an Baubehörde, 14. 01. 1966. 13 In seiner anonym herausgegebenen, äußerst erfolgreichen und einflussreichen Publikation »Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen« erkor Langbehn in Opposition zur wilhelminischen Repräsentationkunst Rembrandt als Vorbild für eine vermeintlich wahre deutsche Kultur. Jörg Schilling: Julius Langbehn. In: Kopitzsch/Brietzke (Anm. 7), Bd. 3. Göttingen 2006, 217 – 218. 14 Julius Langbehn: Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen. 25. Aufl. Leipzig 1890, 322. 15 Bericht von Meyer an Predöhl (Anm. 6), 10. 16 Schilling (Anm. 1), 58. 17 StA HH, Handschriftensammlung DCLXXII (672), 4. Alfred Lichtwark: Über die Notwendigkeit der Errichtung eines Kunstaustellungsgebäudes in Hamburg, 1911.

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Schönheit und Macht, von Kultur und Zivilisation. Lichtwark vertrat eine regionale Identität bürgerlicher Provenienz, die sich vom höfisch-repräsentativen und materialistischen Lebensstil im wilhelminischen Deutschland absetzte. Als der Ort kleinlicher Unkultur galt Berlin. Wieder war es der Rembrandtdeutsche, welcher der Reichshauptstadt eine »niederdeutsche Natürlichkeit« empfahl.18 Ganz in diesem Sinne hatten bereits 1895 Initiatoren aus ganz Norddeutschland, unter ihnen der Kieler Oberbürgermeister und die Altonaer Gemeindevertretung, ein kolossales Bismarckdenkmal auf dem Bismarckstein bei Blankenese an der Elbe propagiert, weil »Berlin nicht der geeignete Boden für ein Denkmal im großen Style sei«.19 Der dem Aufruf folgende Entwurf sah eine 31 Meter hohe Figur auf einem zwanzig Meter hohen Denkmalplateau vor, welche insgesamt die Elbe um 130 Meter überragt hätten.

Reich Das Denkmal auf dem Bismarckstein blieb unverwirklicht, diente aber als Initial für das Hamburger Vorhaben. Denn der Architekt Georg Thielen (1853 – 1901), der die baukünstlerische Seite dieses Projekts verantwortet hatte, verfasste auf Anregung seines Mentors Franz Andreas Meyer eine Eingabe an das Hamburger Denkmal-Komitee, in der für ein großes Monument auf der Elbhöhe plädierte. Hier sah Thielen einen Ort der Ruhe und Sammlung für »gewisse Empfindungen« garantiert.20 Er nahm so die Entrücktheit des künftigen Weiheorts vorweg, der, obgleich in der Stadt, einen vergleichbar zivilisationsfreien Raum umfasste. Dieser Standort schuf ideale Begebenheiten für das Konstrukt des BismarckMythos,21 dessen Funktion an dieser Stelle sein sollte, die gegenüberstehenden Diskurs-Paare Natur (=Kultur) und Zivilisation, Hamburg und Reich sowie Region und Nation zum Ausgleich zu bringen. Die Einbußen an staatlicher Souveränität nach der Reichsgründung 1871 konnten zwar einerseits mit der Regelung des Zollanschlusses und der Freihafenlösung abgemildert und mit dem wirtschaftlichen Aufschwung der Handelsstadt kompensiert werden; doch je mehr das Reich andererseits seine Institutionen ausbaute und seine Macht repräsentativ darstellte, »desto mehr setzte eine Besinnung auf Hamburgs Ei18 Langbehn (Anm. 14), 192. 19 StA HH, Nachlaß Franz Andreas Meyer I., 31. Entwurf zum Aufruf für ein Bismarckdenkmal in Blankenese. 20 StA HH, Bismarck-Denkmal-Comite, A1, Band. I, 46. Thielen an Bismarck-Denkmal-Comite, Dezember 1898. 21 Rolf Paar : Zwei Seelen wohnen ach! in meiner Brust. Strukturen und Funktionen der Mythisierung Bismarcks (1860 – 1918). München 1992, 192.

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genart und Eigenständigkeit ein«.22 Für Letztere ließ sich das Denkmal instrumentalisieren, galt der ehemalige Reichskanzler nicht nur als Baumeister des Reiches, sondern auch »Vollender des bürgerlichen Geschlechts«.23 Der 1890 erzwungene und dem Kaiser zur Last gelegte Rücktritt Bismarcks hatte den Unmut des Bildungsbürgertums am politischen Regiment Wilhelms II. (1859 – 1941) und der kulturellen Situation im Reich forciert. Als Bismarck am 30. Juli 1898 starb, reagierte das deutsche Bürgertum mit einer Welle von Spendenaufrufen zur Errichtung von Bismarckdenkmälern. In Hamburg wurde besonders fleißig gesammelt, sodass 1901 für den Wettbewerb eine Bausumme von 400.000 Reichsmark zur Verfügung stand. So konnte hier eine nicht-staatliche Initiative das größte Bismarckmonument Deutschlands errichten.

Rang Erst mit der Einweihung am 2. Juni 1906 wurde das Denkmal demonstrativ als ein »neues Wahrzeichen unserer uralten Stadt« in den Besitz der Kommune übergeben.24 Zu den vielen geladenen Gästen der Enthüllung gehörte auch der Kunsthistoriker Aby Moritz Warburg (1866 – 1929), der am selben Tag in sein Notizbuch schrieb: »einfach, grandios[,] plastisch u. doch visionär überragend!«25 Er fand durch die Mehrheit des Publikums nun doch seine Überzeugung bestätigt, dass das Monument einen Wendepunkt in der Geschichte der Denkmalkunst verkörperte. Tatsächlich war der preisgekrönte Entwurf von Lederer-Schaudt bei vielen Hamburgern umstritten gewesen. In zahlreichen Leserbriefen äußerte sich Kritik an der symbolisch stilisierten Rittergestalt, die so gar nicht dem Bild von Bismarck entsprach, das man zu sehen gewohnt war.26 Damals hatte sich Warburg in einer eigenen, unveröffentlicht gebliebenen Glosse über den »Drange zu platter Besitzergreifung durch unmittelbare Annäherung (mein Bismarck, unser Bismarck)«27 lustig gemacht. Der Entwurf von LedererSchaudt galt ihm als Befreiung vom Spießertum und dem »sentimentale[n] 22 Renate Hauschild-Thiessen: Das Selbstverständnis der Hamburger Bürgermeister im 19. und 20. Jahrhundert. In: Bernard Laqchaise/Burghart Schmidt (Hrsg.): Bordeaux – Hamburg. Zwei Städte und ihre Geschichte (Beiträge zur Hamburgischen Geschichte 2). Hamburg 2007, 552 – 565, 560. 23 Erich Marcks: Fürst Bismarck. Rede gehalten bei der Gedächtnisfeier der Universität Leipzig, 20. 11. 1898, Leipzig o. J., 4. 24 Einweihungs-Rede Bürgermeister Burchard. In: Die Enthüllung des Bismarckdenkmals. Hamburgischer Correspondent, 02. 06. 1906, Nr. 277, AA. StB HH ZAS (Sign. B 1946/ 2539). 25 WIA London. 10.1 – 2.1 – 10, Diary 1903 – 1914. 26 Vgl. Schilling (Anm. 1), 107 – 109. 27 Ernst Hans Gombrich: Aby Warburg: eine intellektuelle Biografie. 3. Aufl. Hamburg 1992, 196.

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Berliner Neu-Barockstyl« mit seinem allegorischen »Gewimmel von Thieren und Geniussen«.28 Warburg stellte dieser Wahrnehmung die Begriffe Entfernung und Aneignung zur Seite. Die Aneignung galt ihm als kulturfeindlicher Akt. Sein Fazit lautetet: »Es gibt keine Entfernung mehr! Keep your distance.«29 Warburg formulierte auf seine Art, was andere Kulturkritiker in der Monumentalität des Denkmals, im Sinne einer ungegenständlichen Ausdrucksstärke, begrüßten. Es war die neue Form der Abstraktion in Plastik und Architektur, die den viel rezipierten Impuls des Denkmalentwurfs ausmachte. Auch wenn dieser nicht lange währte, beschrieb die vielfältige, weit über Hamburgs Grenzen hinausreichende Auseinandersetzung mit dem Monument dessen kulturhistorischen Rang. So war das Hamburger Bismarckdenkmal nicht ohne Einfluss auf die Entwicklung des Bildhauers Ernst Barlach (1870 – 1938), der kurz vor seinem künstlerischen Durchbruch die Medaille zu dessen Einweihung gestaltete.30

Rolle Den Nimbus eines Monuments der Moderne büßte das Denkmal auf der Elbhöhe sehr schnell ein. Schon mit der Einweihung hatte das nationalistische Pathos alle kunsttheoretische und kulturbeflissene Rhetorik übertönt. Es zeigte sich spätestens mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs, dass der Kunstschriftsteller Karl Scheffler (1869 – 1951)31, einer der wenigen Kritiker des Denkmals, mit seiner schon früh geäußerten Auffassung, dass die Gegner der »Allegoristerei« von dieser »Propagandaskulptur« und ihrem »Plakatstil« geblendet worden wären,32 recht behielt. Nun standen die »lärmende Stimme« der architektonischen Denkmalskunst und die Stilisierung zu »steinernen Rolandfiguren« in der Kritik.33 Die »Kläglichkeit« des künstlerischen Versuchs veranlasste die Verbannung des Rolands aus neuen Auflagen kunstgeschichtlicher Darstellungen.34 Tatsächlich ermöglichten Abstraktion und Entrücktheit des Monuments den Projektionsraum für politische Instrumentalisierungen, die Warburgs Intentionen im Sinne einer kulturlosen Aneignung umkehrten. Der schwerthaltende Ritter verkörperte nunmehr das populäre Bismarck-Bild und seine Aneignung 28 29 30 31 32 33

WIA (Anm. 25). 52.6.1 Lederer, 1. Ebd. 1900. Critical notes on contemporay art, 8. Schilling (Anm. 1), 199 – 204. Jörg Schilling: Karl Scheffler. In: Kopitzsch/Brietzke (Anm. 7), 270 – 271. Karl Scheffler : Bismarcks Denkmal. In: Der Lotse 2 (1902), Band 1, 513 – 516, 514 – 515. Walter Curt Behrendt: Der Kampf um den Stil in Kunstgewerbe und in der Architektur. Stuttgart-Berlin 1920, 183, 184. 34 Wilhelm Hausenstein: Die bildende Kunst der Gegenwart. Malerei, Plastik, Zeichnung. Stuttgart-Berlin 1920 (1913), 235; vgl. ders.: Kunstgeschichte. Berlin 1928.

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auf Postkarten und Werbebroschüren diente in Kriegszeiten weniger der Identifikation auf regionaler Ebene als der vaterländischen Erbauung. Die neue Rolle intensivierte sich ab 1919 mit der Einvernahme durch nationalistische und völkische Gruppierungen. Der Alldeutsche Verband plakatierte das Hamburger Bismarck-Signet unter dem Motto: Gedenke, dass Du ein Deutscher bist.35 Bei den jährlichen Bismarckgedenkfeiern, wie am Vorabend des 1. April 1925, zogen verschiedene rechte Gruppierungen in Fackelzügen aus Hamburger Vororten zum durch bengalische Flammen rot illuminierten Bismarckdenkmal.36 Längst hatte sich das Monument auch zum Wahrzeichen entwickelt, das politische Parteien wie die DNVP oder die DVP benutzten, um den stilisierten Bismarck im Titel ihrer Parteiblätter zu verwenden.37 Die Hamburger Fremdenwerbung und Verkehrsreklame vermarkteten das Bismarckdenkmal als Emblem. Auch in der Hamburger Lichtwoche von 1929 kam es zum Einsatz. Mit dem Foto des beleuchteten Rolands wurde der fremdenverkehrspolitische Aspekt der Aktion unterstrichen: »Beherrschend und monumental thronen über dem ganzen Bilde die lichtgleißenden Türme der Hauptkirchen und des Rathauses, sowie das gewaltige Monument des eisernen Kanzlers.«38 Den nationalen Erkennungswert des Denkmals verwertete auch das Hamburger Fremdenblatt für eine Anzeige des Blattes. Der Schattenriss des Rolands wurde vor aufgehender Sonne über die Frage »Was ist Hamburg?« gestellt. Das »Vorbild zielbewussten Schöpfertums« und das »Sinnbild einer größeren Zukunft« waren zwei von mehreren Antworten.39 Die Aphorismen verschmolzen vermeintliche Tugenden Bismarcks und der Hafenstadt zu einem Sinnbild regionaler Stärke. Doch sie erlagen einer irreführenden Zuversicht, wie der Satz, der am Ende der von der DNVP unter Beteiligung der NSDAP veranstalteten Bismarck-Feier vom 1. April 1931 fiel: »Der Geist Bismarcks wird auch das dritte deutsche Reich begründen.«40

35 Schilling (Anm. 1), 326; vgl. Jörg Schilling: Ein Bismarck und kein Popanz. Das Hamburger Bismarckdenkmal 1898 – 1998. In: Kulturbehörde Hamburg/Denkmalschutzamt (Hrsg.): Das Bismarckdenkmal in Hamburg 1906 – 2006. Beiträge zum Symposium »Distanz halten.« Hundert Jahre Hamburger Bismarckdenkmal. Bearb. von Jörg Schilling (Arbeitshefte zur Denkmalpflege in Hamburg 24). Heide 2007, 30 – 45. 36 StA HH, 135 – 1 (Staatliche Pressestelle), I – IV, 4372, Bismarckgedenkfeiern 1925 – 1940. Fackelzug zum Bismarckdenkmal. In: Hamburger Nachrichten, 01. 04. 1925. 37 Schilling (Anm. 1), 330. 38 Seidels Reklame 13 (1929), H. 1, 34 – 35. 39 Seidels Reklame 14 (1930), H. 3, 146. 40 StA HH, 135 – 1 (Staatliche Pressestelle), I – IV, 4372, Deutschnationale Bismarck-Feier. In: Hamburger Nachrichten, Nr. 156, 02. 04. 1931.

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Relikt Die Bezugnahme auf den ehemaligen Reichskanzler wurde in den ersten Jahren nach 1933 noch fortgeführt. Das war politische Taktik, um die national-konservativen und völkischen Kräfte einzubinden beziehungsweise auszugrenzen. Eine kontinuierliche Verdrängung des Bismarck-Gedenkens zeigte sich spätestens 1938. Schon der vierzigste Todestag rutschte in der kontrollierten Öffentlichkeit des NS-Staates an den bedeutungslosen Rand des Feuilletons.41 Der Bismarck-Mythos musste einem neuen Kult Platz machen. So lautete die knappe Mitteilung der Hamburger Pressestelle vom 1. April 1940: »Am heutigen 125. Geburtstage Bismarcks hat der Gauleiter und Reichsstatthalter am Bismarckdenkmal einen Kranz niederlegen lassen.«42 Dennoch war es ein Jahr zuvor zu einer besonderen Ehrung des ehemaligen Reichskanzlers gekommen. Anlässlich der Schiffstaufe des Schlachtschiffes Bismarck am 14. Februar 1939 passierte Adolf Hitler (1889 – 1945) auf dem Weg zum Hamburger Hafen auch das Bismarckdenkmal. Der feierlichen Kranzablage zu Füßen des Roland am selben Morgen war er fern geblieben.43 Offensichtlich hatte die ursprüngliche Symbolkraft des Monuments – nur noch Relikt der Ansprüche und Grenzen des Bismarck’schen Reiches – gegenüber den neuen imperialen Ambitionen ausgedient. So machte Hitler in seiner Taufrede deutlich, dass Bismarck nur den »Grundstein (…) für den ›nationalsozialistischen Einheitsstaat‹« legte, »dessen wunderbare Vergrößerung die Vorsehung uns nunmehr gestattet«.44 Mit welchen Mitteln dies geschehen sollte, deutete Hitler in einer weiteren Bezugnahme an: »Dreimal drückte ihm das Pflichtbewußtsein das Schwert in die Hand zur Lösung von Problemen, die (…) durch Majoritätsbeschlüsse nicht gelöst werden konnten.«45 Dieser freie Rückgriff auf ein populäres Bismarck-Zitat könnte Inspirationsquelle für die bemerkenswerte Aneignung des Hamburger Monuments gewesen sein, die nach der Schiffstaufe umgesetzt wurde. Der aufgemalte Original-Ausspruch schmückt eine Betondecke im Inneren des Monuments, dessen Sockel-Hohlräume von 1939 bis 1940 mit Luftschutzeinbauten versehen wurden.46 Es entstanden Wandmalereien mit bekannten, aber auch angeblichen Bismarcksprüchen und völkischen Symbolen, wie Sonnenrad und Eichenlaub. 41 Lothar Machtan: Bismarck und der deutsche Nationalmythos. Bremen 1994, 56. 42 Pressemitteilung III A 14, Hamburg, 01. 04. 1940, (Anm. 36). 43 StA HH, 1935 A 1/5 (Senatskanzlei-Präsidialabteilung), Besuche des Reichskanzlers in Hamburg 1934 – 1939. Hitler hat auf einem als Privatbesuch deklarierten Halt in Friedrichsruh im Mausoleum einen Lorbeerkranz niedergelegt. Machtan (Anm. 41), 57. 44 Werner Johe: Hitler in Hamburg. Dokumente zu einem besonderen Verhältnis. Hamburg 1996, 206. 45 Ebd., 205. 46 Schilling (Anm. 1), 355 – 389.

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Insgesamt acht Räume wurden mit entsprechenden Ausmalungen versehen. Sie gruppierten sich um einen nach oben kegelartig verjüngten Zentralraum unterhalb der massiven Granitfigur. An den Wänden wurden Bismarcks Familienwappen und ein NS-Adler aufgemalt, der als Hoheitszeichen zum Kegelinneren wies. Dort befand sich, direkt unter den Füßen des Standbilds, quasi als Himmelszeichen, ein abgerundetes und goldenes Hakenkreuz. Die Hamburger Initiatoren dieser Art Pseudogruft blieben unbekannt. Dabei war der logistische Aufwand der Inszenierung nicht unerheblich. Doch trotz intensiver Nachforschungen konnten ihre Hintergründe nicht aufgeklärt werden.

Raum Das »Dritte Reich« und den Krieg überstand der Roland relativ unversehrt. Im Zuge der Ausbesserungen von wenigen Bombenschäden wurden auch die Hohlräume zugemauert,47 die in den ersten Nachkriegsjahren als »Transithotel der Verwahrlosten«48 in die Schlagzeilen geraten waren. Obdachlose hatten die Gewölbe als Nachtquartier genutzt, was Siegfried Lenz (*1926) zu einer literarischen Verarbeitung inspirierte. Das Denkmal erschien ihm als ein vermeintliches Symbol moralischer Autorität, als »Abbild vaterländischen Sinns« und »bewaffneter Mahner zu Fleiß und Pflicht«, der auch den Müßiggehenden an seine nationalen Bindungen erinnern sollte. »Doch der Mahner stand auf zu hohem Sockel, nur selten wanderte ein Blick zu ihm hinauf (…).«49 Damit verarbeitete Lenz auch die nach 1945 in konservativen Kreisen versuchte Rückbesinnung auf den Mythos des Reichsgründers. Doch die zuständigen Hamburger Behörden versahen das freistehende Monument 1954 mit »halberwachsene[n]«, bereits um die zehn Meter hohen Bäumen, wie die Presse betonte.50 Sie nehmen bis heute die Sicht auf das Denkmal. Hinter diesem »Baumschmuck« entstand Platz für Gedankenspiele. Wie wichtig es war, das Denkmal wegen seiner »besondere[n] kunst- und kulturgeschichtliche[n] Bedeutung nicht nur für Hamburg«51 1960 in die Denkmalliste einzutragen, bestätigten Überlegungen, für die geplante Gartenbauausstellung an seiner Stelle einen Aussichtsturm zu errichten.52 1969 erfolgte die Reinigung des Denkmals – vier Jahre nachdem im 47 48 49 50

DA HH, Akte Nr. 39 – 104.301.1. Denkmalamt an Tiefbauamt I, 28. 10. 1948. FZH, 256, Hbg. Fürsorge, Transithotel der Verwahrlosten. In: Die Welt, 08. 09. 1949, Nr. 136. Siegfried Lenz: Der Mann im Strom. Hamburg (1957) 1996, 45. StA HH, ZAS, A 144, Bismarck-Denkmal, Baumschmuck für Bismarck. In: Die Welt, 19. 05. 1954. 51 DA HH, 39 – 104.301.1. Gerhardt an Baubehörde, 14. 01. 1966, (Anm. 47). 52 DA HH, 39 – 104.301.1. Am 17. 3. 1960, Denkmalliste Nr. 461. In: Amtl. Anzeiger Nr. 118, 22. 06. 1960, 569. Vermerk Gerhardt, 04. 09. 1961.

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Deutschen Bundestag der 150. Geburtstag Bismarcks mit einer offiziellen Feier begangen worden war.53 Dem demonstrativen Bekenntnis zum ehemaligen Reichskanzler war die geschichtswissenschaftliche »Überprüfung der Bismarckauffassung« vorausgegangen.54 Dies beinhaltete die Darstellung, Bismarck habe, »allen nationalistisch-alldeutschen und wirtschaftlich-imperialistischen Zielen seiner Zeit immer wieder eine Absage erteilt«.55 Um eine vergleichbare »Auflockerung des Geschichtsbildes«56 machte sich auch der Leiter des Hamburger Denkmalschutzamtes verdient. 1960 beantwortete er für den amerikanischen Radiosender AFN-Bremerhaven Fragen zu einer geplanten Sendung über den Roland, in denen er Wert auf die Feststellung legte, dass die Blickrichtung der Figur nach Westen einen politischen Sinn »ganz bestimmt nicht« haben sollte. Er sah das Denkmal einzig auf den Hamburger Handel ausgerichtet und befand, »daß Bismarcks menschliche Erscheinung eher von Sensibilität als von militanter Härte gekennzeichnet war«. Eben diese Wesenszüge, glaubte er, kämen in dem Hamburger Denkmal »ganz besonders zum Ausdruck (…)«.57 Die Ausführungen waren Versuche, den kulturhistorischen Rang des Hamburger Monuments zu retten. Bezeichnend für dessen zeitgenössische Wahrnehmung war der sich angesichts des nahen Vergnügungsviertels an einen großen Stock klammernde Greis, den Frans Masereel (1889 – 1972) als ein Gesicht Hamburgs 1966 für die gleichnamige Publikation von achtzig Holzschnitten schuf.58 Erst später setzte in der Hamburger Denkmalschutzbehörde ein Umdenken ein. Es offenbarte sich 1982 durch eine erneuerte blaue Tafel, die gegenüber dem entwendeten Informationsschild von 1974 mit dem Zusatz versehen wurde, das Denkmal »dokumentiert aber auch den imperialen Anspruch von Hamburg als Tor zur Welt«.59 Die politische Einschätzung des Denkmals blieb weiterhin umstritten. Auch Anfang der 1980er-Jahre war es ein Sammelpunkt der politischen Rechten.60 Als Symbol des Wahlrechtsraubes von 1906 und »Sinnbild eines imperial aufgeblasenen Hamburg-Konzepts« ging es in historische Darstellungen ein.61 Erst 53 Make-up für den Eisernen Kanzler. In: Hamburger Abendblatt, 27. 09. 1969; Bismarck, denk mal! In: Ebd., 17. 12. 1969, (Anm. 50); Lothar Machtan: Bismarck. In: Etienne Francois/ Hagen Schulze (Hrsg.): Deutsche Erinnerungsorte. Bd. 2. München 2001, 87. 54 Egmont Zechlin: Bismarck und die Grundlegung der deutschen Grossmacht, 2. Aufl. Stuttgart 1960, XX. 55 Hans Rothfels: Stets ein Meister der Balance. Otto von Bismarck. In: Die Zeit Nr. 14, 02. 04. 1965, 3. 56 Zechlin (Anm. 54), XX. 57 DA HH, 39 – 104.301.1. Gerhardt an AFN, 28. 12. 1960. 58 Frans Masereel: Das Gesicht Hamburgs. Hamburg 1966, o. S. 59 DA HH, 39 – 104.301.1. Erläuterung von Hermann Hipp, 16. 04. 1982. 60 Helmut Scharf: Kleine Kunstgeschichte des Deutschen Denkmals. Darmstadt 1984, 235. 61 Jörgen Bracker : Michel kontra Bismarck. Dokumentation einer Gigantomanie des Klas-

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Beschmutzungen durch Graffiti, die den militaristischen Charakter des Rolands unter Anspielung auf das aktuelle Wettrüsten anprangerten, machten dieses »Monstrum« in den Augen eines Mitarbeiters des Denkmalschutzamtes »menschlicher«.62 Zwei Jahre zuvor hatte Der Spiegel das Hamburger Monument mit dem Konterfei des damaligen Bundeskanzlers zum Titelbild erkoren. An Stelle des Schwertes hielt Helmut Schmidt (*1918) eine Pershing-Rakete in den Händen, was sein Festhalten am Nato-Doppelbeschluss illustrieren sollte.63 Auch seinem Nachfolger wurde die Ehre zuteil, indirekt einen Beitrag »zur Modernisierung der neuzeitlichen Denkmalpflege« geleistet zu haben. Für die Aktivisten der Maskierung zum 3. Oktober 1990, dem ersten Jahrestag der deutschen Einheit, gehörte das kurzfristig als Helmut Kohl (*1930) dekorierte Monument »zu den Denkmälern, welche unsere Phantasie am mächtigsten entfachen und unsere Seele aus dem kleinlichen Parteileben (…) zum Großen und Ganzen emportragen (…)«.64 Gerade vor dem Hintergrund dieser ironischen Neuinterpretation erschien die am 85. Jahrestag der Einweihung vom Staatsopernintendanten aufgestellte Forderung, die Denkmal-»Scheußlichkeit’« sprengen zu lassen,65 als humorlose wie unbedachte Äußerung.

Rezeption Dies wäre gegenüber dem Interesse, das die historischen Zünfte dem Hamburger Bismarckdenkmal entgegenbrachten, unverzeihlich gewesen. Bereits 1968 wurde es als ein künstlerisches Produkt der nationalen Sammlung mit der Bedeutung eines Nationaldenkmals vorgestellt.66 Der Blick richtete sich auf die Verstrickung von Moderne und Nationalismus. Das Hamburger Monument wurde sowohl als ein Beitrag für die Entwicklung des ungegenständlichen Denkmals als auch ein herausragendes Beispiel der bürgerlichen Bismarck-

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senkampfes im Hamburg des Jahres 1906. In: Zurück in die Zukunft. Kunst und Gesellschaft 1900 bis 1914. Freie Akademie der Künste Hamburg, Hamburg 1981, 10 – 17; »Hoch Weihegesang, horch Waffenklang!« Michel contra Bismarck im Museum für Hamburgische Geschichte. In: Hamburger Morgenpost, 22. 04. 1980 (Anm. 3). DA HH, 39 – 104.301.1. Sachbearbeiter Momme Petersen, handschriftlicher Vermerk, Juli 1983. Der Spiegel 35, 1981, Nr. 22, Titelbild, 3. DA HH, 39 – 104.301.1. Der Start in die Einheit. In: Hamburger Morgenpost, 04. 10. 1990. Rolf Liebermann am 02. 06. 1991, zitiert nach: Rainer Hering: Kutscher und Kanzler. Der Bau des Hamburger Bismarckdenkmals im Spiegel der Vigilanzberichte der Politischen Polizei. In: Hamburgische Geschichts- und Heimatblätter 13 (1993/1997) Heft 2, 38 – 48, 38. Thomas Nipperdey : Nationalidee und Nationaldenkmal in Deutschland. In: Historische Zeitschrift 206 (1968), 529 – 585, 579.

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Verehrung gewürdigt.67 Nachfolgende Untersuchungen zum Bismarck-Kult wahrten dem Thema gegenüber nicht immer die gebührende Distanz,68 was auch für den Umgang mit dem Hamburger Bismarckdenkmal galt, wenn zu seiner Verteidigung Friedrich Naumann (1860 – 1919) zitiert wurde, der das eingeweihte Monument »als still und gedankenvoll«69 bezeichnet haben soll. Noch 1980 schien es kaum vorstellbar, dass es »einmal Gegenstand fortschrittsfeindlicher Kritik war und dass Ernst Barlach zu seiner Einweihung 1906 eine Medaille schnitt«.70 Nach 1990 erfuhr das Hamburger Bismarckdenkmal in wissenschaftlichen Untersuchungen zur Ikonologie des Nationalstaates und dem Thema Denkmäler in der Moderne eine verstärkte Beachtung.71 Allerdings führte die durch die Wiedervereinigung forcierte Aufmerksamkeit auch zu zwiespältigen Ergebnissen. Insbesondere der konservative Verein Bund für die Denkmalerhaltung, dessen Briefpapier eine Silhouette des Bismarckdenkmals schmückt, bewies ein verstärktes Interesse am Roland. Dieser Verein richtete 1997 einen Spendenaufruf an die Hamburger Bevölkerung, um finanzielle Mittel für die Reinigung des Monuments zu sammeln. Zum 100. Todestag des ehemaligen Reichskanzlers sollte das Denkmal im »alten Glanz« erstrahlen und der angeblichen Bismarckschen Wahrheit – »mit der Auflösung der Völker und Staaten würde man auch Europa auflösen!« – aktuellen Ausdruck verleihen.72 Tatsächlich kam es zur Säuberung des Monuments. Ferdinand Fürst von Bismarck (*1930) ließ sich am Todestag seines Vorfahren vor dem sandgestrahlten Denkmal ablichten.73 Das folgende Ansinnen des Bundes, das Bismarckdenkmal mit Scheinwerfern zu bestrahlen, wurde von der Stadt, die sich nicht an den Kosten der Reinigung beteiligt hatte, vorerst abgelehnt.74 Als Begründung diente der dringende Restaurierungsbedarf des Monuments.75 Auch die »Hakenkreuze unter Bismarcks Füßen« waren wieder einmal ins öffentliche Bewusstsein gedrungen.76 Die Kulturbehörde erkannte in ihnen zu diesem Zeitpunkt einen historisch interessanten Befund, deren Konservierung nach wissenschaftlicher 67 Hans Ernst Mittig/Volker Plagemann (Hrsg.): Denkmäler im 19. Jahrhundert. Deutung und Kritik (Studien zur Kunst des 19. Jahrhunderts 20). München 1972, 235. 68 Hans-Walter Hedinger: Der Bismarck-Kult. Ein Umriß. In: Gunther Stephenson (Hrsg.): Der Religionswandel unserer Zeit im Spiegel der Religionswissenschaft. Darmstadt 1976, 201 – 215, 214. 69 DA HH, 39 – 104.301.1. Hans-Walter Hedinger an Fischer, 22. 09. 1990. 70 Georg Syamken: Die Dritte Dimension. Plastiken, Konstruktionen, Objekte. Bestandkatalog der Hamburger Kunsthalle. Hamburg 1988, 16. 71 Vgl. Schilling (Anm. 1), 340. 72 DA HH, 39 – 104.301.1. Aufruf o. D. 73 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30. 07. 1998, Nr. 174, 27; Bismarck im neuen Glanz. In: Hamburger Morgenpost, 31. 07. 1998, 8, 15. 74 Bismarck bald beleuchtet. In: Hamburger Abendblatt, 24. 08. 2000, 13. 75 DA HH, 39 – 104.301.1. Warum Bismarck nicht strahlen soll. In: Die Welt, 22. 02. 2000. 76 Hakenkreuze unter Bismarcks Füßen. In: Hamburger Abendblatt, 19. 01. 1998, Nr. 15, 11.

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Prüfung erwogen werden sollte.77 Das bis dahin verdrängte Thema hatte zwar die Bild-Zeitung 1973 erstmalig aufgenommen.78 Doch nachdem niemand einem Aufruf gefolgt war und Angaben über die Entstehung der Ausmalungen machen konnte, geriet es wieder in Vergessenheit. Hoffnungen auf »Bunkerführungen«79 in seinem Inneren blieben bis heute unerfüllt, auch wenn in der Hamburger Kulturbehörde damals der Wunsch gehegt wurde, die Ausmalungen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.80

Räson Ein selbstverständlicher Umgang mit der Geschichte dieses Denkmals scheint nach wie vor schwierig, obwohl seine Enthistorisierung auch eine neue Unbefangenheit ermöglichte. Unbedacht war der ernst gemeinte Vorschlag, im Inneren des Denkmals ein Fernsehstudio81 oder einen gastronomischen Betrieb »Bismarck-Quelle« einzurichten. Zur touristischen Erschließung sollte auf der Höhe des Standbildes eine Aussichtsplattform angebracht werden.82 Nicht nur die postmoderne Borniertheit im Umgang mit Aspekten des Denkmalschutzes, sondern auch die kunsthistorische und politische Ahnungslosigkeit dieses Entwurfs verblüffen. Nachvollziehbar war die Gedankenverbindung mit einem Denkmalsturz. Für den Rücktritt eines zum »König« gekrönten Fußball-Bundesligatrainers auf dem Titel einer Sport-Zeitung wurde eine entsprechende Collage mit dem Hamburger Monument kreiert.83 Ebenso bemühte man im Playboy die Montagetechnik, um im November 2003 eine »sündhaft schöne Hamburger Deern« anstatt der Bismarckfigur auf dem Denkmalsockel »blank« ziehen zu lassen.84 Im selben Jahr und Monat warb die Hamburger Kulturbehörde mit dem ein Buch haltenden Roland für eine Vorlesungsreihe von Hamburg-Literatur.85 Es handelte sich um »Die Entdeckung der Curry-Wurst« von Uwe Timm (*1940), was angesichts des von der Regenbogenpresse initiierten 77 DA HH, 39 – 104.301.1. Ingo Mix, Sprecher Kulturbehörde, Leserbrief in Reaktion auf den Artikel »Hakenkreuze unter Bismarcks Füßen« an das Hamburger Abendblatt, 21. 01. 1998. 78 DA HH, 39 – 104.301.1. Mit drei Abbildungen. In: Bild, 16. 05. 1973. 79 DA HH, 39 – 104.301.1. Bezirksamtsleiter Hubertus Jungblut, zitiert nach: Nazi-Sprüche unter Bismarck-Denkmal. In: Hamburger Morgenpost, 20. 11. 1979. 80 DA HH, 39 – 104.301.1. Senatsdirektor Volker Plagemann (1938 – 2012), zitiert nach: Rätsel um den Bunker am Bismarck-Denkmal. In: Die Welt, 12. 10. 1999. 81 DA HH, 39 – 104.301.1. Hamburgische Gesellschaft für Wirtschaftsförderung. Memo, 18. 03. 1997. 82 DA HH, 39 – 104.301.1. Vgl. Bericht Plagemann, 09. 02. 1998. 83 »Ottos Flucht nach Bremen?« Titelblatt der Sport-Bild, Nr. 40, 04. 10. 2000. 84 Playboy 2003, Heft 11, 189. 85 Flyer für Lesungen von »Die Entdeckung der Curry-Wurst« (Uwe Timm), 07.–14. 11. 2003.

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Konflikts zwischen Hamburg und Berlin über die wahre Herkunft der Currywurst an vergangene, mit dem Bismarckdenkmal verbundene Aspekte regionaler Identität erinnert. Doch zweifellos ist das Sinnbild nationaler Statur präsenter, wie die Vereinnahmung für überregionale Werbezwecke verdeutlicht. Als ginge es darum, die entsprechende Eignung zu prüfen, ließ ihr eine Pharmafirma jüngst einen riesigen roten Schal umhängen.86 Etwas subtiler war die Aktion der Künstler Gilbert & George, die sich – Blickrichtung England! – vor dem Denkmal inszenierten.87 Wenn es heute als Werbehintergrund im Merchandising-Katalog des benachbarten Fußballvereins (»Die Straße trägt St. Pauli«) fungiert, spricht das dafür, dass Ort und Denkmal langsam wieder als lokaler Spielraum des urbanen Lebens akzeptiert werden.88 Doch die zunehmend entpolitisierte Wahrnehmung des Monuments hat auch eine nachlassende Sensibilität gegenüber Versuchen seiner Aneignung bewirkt. Im Jahre 2003 erreichte der Bund für Denkmalerhaltung die lange propagierte Beleuchtung des Denkmals. Die folgende Einweihungszeremonie am 21. Mai 2003 geriet zu einem Szenario, das an die Aufmärsche der Zwanziger Jahre erinnerte: Viele der Anwesenden verhehlten kaum eine Gesinnung, die den Intentionen der Teilnehmer an den damaligen Fackelzügen glich. Seitdem leuchtet der Bismarck wieder über der Stadt und demonstriert das eingeschränkte historische Bewusstsein der Verantwortlichen. Dabei offenbarte die ebenfalls Anfang 2003 realisierte teilweise Freilegung des Monuments das Beispiel eines vergleichsweise durchdachten Ansatzes im Umgang mit dem Bismarckdenkmal. Nunmehr ermöglichen Sichtschneisen durch den Baumbestand wieder den Blick auf das Denkmal, die in doppelter Hinsicht ihre historische Berechtigung haben. Sie gestatten die teilweise Wahrnehmung des ursprünglich frei stehenden Monuments aus der Umgebung und respektieren die durch die verdeckende Baumbepflanzung charakterisierte Nachkriegsrezeption des umstrittenen Denkmals als geschichtliches Zeugnis.89 Solche differenzierten Ansätze stellen in seiner Rezeption die Ausnahme dar. Ein ausgeglicheneres Verhältnis von Distanz und Nähe – um bei Aby Warburgs Wahrnehmungs-Kategorien zu bleiben – wäre für den Erhalt des Hamburger Bismarckdenkmals förderlich. Noch überwiegen die kulturfeindlichen Akte, und für die dringende Sanierung des Monuments, das unter statischen Problemen leidet, fehlt der politische Willen und mit ihm die öffentlichen Mittel.

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Der heisere Kanzler. In: Hamburger Abendblatt, 21. 03. 2011, 9. Geht’s denn britischer? In: Hamburger Abendblatt, 24. 02. 2011, 11. Upsolut Merchandising GmbH & Co KG (Hrsg.): Die Straße trägt St. Pauli, 2011/12, 30. Jörg Schilling: Freie Sicht auf die Geschichte? Das Hamburger Bismarckdenkmal und die umgebende Freiflächengestaltung im Spiegel der historischen Rezeption. In: Stadt + Grün 56 (2007), Heft 1, 50 – 55.

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Resümee Anfänglich verkörperte das Hamburger Bismarckdenkmal den Versuch, die Widersprüche seiner lokalen, regionalen und nationalen Bedeutungsebenen zum Ausgleich zu bringen. Der Standort auf der Elbhöhe – konfrontiert mit dem urbanen Leben und in der Nähe der »Reeperbahn«, aber über sie erhoben – vermittelte die Entrücktheit und den Anspruch eines Landschaftsmonuments nationaler Bedeutung. Die Verbindung mit der Tradition der Rolandsäulen schuf einen norddeutschen Bezug. Damit konnte das Monument den vom Bürgertum getragenen, gegen den wilhelminischen Obrigkeitsstaat gerichteten Ansatz politisch-kultureller Opposition verkörpern, der die regionale Identität als wichtige Voraussetzung für die Einheit der Nation betrachtete. Auch in dieser Hinsicht waren Distanz und Abstraktion des Monuments ausschlaggebende Faktoren dafür, dass es als Wendepunkt in der Denkmalkultur und Bruch mit dem Historismus in Kunst und Architektur gefeiert werden konnte. Doch die relativ vage Symbolik und freie Formensprache förderten den stetigen Wandel seiner Wahrnehmung. Auf der politischen Ebene diente es – die »Enthistorisierung des Denkens« im Mythos um den »monumentalisierte[n] Bismarck« beispielhaft verkörpernd – als Projektionsfläche für bürgerliche Machtfantasien.90 Infolgedessen traten kulturhistorische Bedeutung und Rang, aber auch sein regionaler Identitätsbezug, gegenüber der Rolle und Instrumentalisierung als Sinnbild revanchistischer Politik zurück. Es wandelte sich zum Relikt überkommener Staatsräson. Daraufhin wurde versucht es zu verstecken, doch der Raum für Aneignungen dehnte sich immer mehr aus. Den vorläufigen Höhepunkt stellte die Aktion von Freeclimbern dar, die dem Hamburger Bismarckdenkmal eine Maske mit dem Antlitz des regierenden Bundeskanzlers überzogen und damit seine nationale Bedeutungsebene wieder enthüllten.91 Doch seitdem nahm es immer mehr den unpolitischen Charakter einer Spielfigur für profane Bemächtigungen aller Art an, womit die heutige Wahrnehmung zum Nachteil des Geschichtsbewusstseins und einer durch Vernunft geleiteten Rezeption fast gänzlich von den historischen Zusammenhängen – zu der auch der regionale Traditionsbezug gehört – befreit wurde.

90 Wolfgang Hardtwig: Der Bismarck-Mythos. Gestalt und Funktionen zwischen politischer Öffentlichkeit und Wissenschaft. In: Ders. (Hrsg.): Politische Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit 1918 – 1939 (Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft, Sonderband 21). Göttingen 2005, 61 – 90, 77. 91 DA HH, Nr. 39 – 104.301.1. Der Start in die Einheit. Fürst Bismarck verkohlt. In: Hamburger Morgenpost, 04. 10. 1990.

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»Ohne Düppel kein Königgrätz, ohne Königgrätz kein Sedan, ohne Sedan kein deutsches Kaiserreich!« Der Gedächtnisort Düppel/Dybbøl und seine Entwicklung in der deutschen und dänischen Erinnerungskultur von 1864 bis in die Gegenwart Mit dem im Titel genannten Zitat, den Schlussworten eines zum fünfzigsten Jubiläum der Ereignisse im Jahr 1914 erschienenen vaterländischen Gedenkbuches über »Schleswig-Holsteins Befreiung«1, werden fünf Grundtendenzen der deutschen Erinnerung an die Schlacht von Düppel deutlich: 1. Der Deutsch-Dänische Krieg von 1864 wird auf den Sieg von Düppel am 18. April 1864 reduziert. 2. Dieser Sieg wird an den Anfang einer vermeintlich vorher geplanten Entwicklung, sozusagen an den Beginn eines erfolgreichen »Masterplans« gestellt, der in der deutschen Einigung gipfelt. 3. Durch die Konzentration auf die Düppel-Erinnerung wird der Sieg gegen Dänemark als eine ausschließlich preußische Leistung dargestellt, der österreichische Anteil findet keine Erwähnung. 4. Die Erinnerung an Düppel steht hinter der machtvollen Erinnerung an den Sieg im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 zurück.2 5. Das im Zitat ausgesprochene Erinnerungsangebot spiegelt die nationale »Meisternarration« über die Einigungskriege, wie sie nach 1871 im Deutschen Reich gepflegt wurde.

1 Walter von Bremen: Düppel und Alsen. Schleswig-Holsteins Befreiung 1864. Ein vaterländisches Gedenkbuch. Berlin o. J [1914], 160; vgl. auch Michael Epkenhans: Die preußischdeutsche Armee. Die Gloriole der Siege von Düppel, Königgrätz und Sedan in der kollektiven Erinnerung. In: Michael Epkenhans (Hrsg.): Die Suche nach Orientierung in den deutschen Streitkräften 1871 bis 1990. Potsdam 2006, 13 – 26. 2 Hierzu Tobias Arand (Hrsg.): ›Der großartigste Krieg, der je geführt worden‹ – Beiträge zur Geschichtskultur des Deutsch-Französischen Kriegs 1870/71 (Geschichtskultur und Krieg 2). Münster 2008; Tobias Arand/Christian Bunnenberg (Hrsg.): Das Schlachtfeld von Woerth – Geschichtsort, Erinnerungsort, Lernort (Geschichtskultur und Krieg 3). Münster 2012; Dies.: Wem gehört die militärische Erinnerung im umstrittenen Grenzraum? Der Erinnerungsort des Schlachtfeldes von Woerth-en-Alsace und seine Entwicklung von 1870 bis zur Gegenwart. In: Patrick Ostermann/Claudia Müller/Klaus-Siegbert Rehberg (Hrsg.): Der Grenzraum als Erinnerungsort. Bielefeld 2012, 213 – 233.

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Diese Grundtendenzen gelten jedoch nur für die Entwicklung der deutschen Erinnerung bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts. Heute sagen vermutlich alle drei Ortsnamen im Zitat dem durchschnittlich gebildeten Bürger jenseits historischen Spezialistentums und außerhalb des Nahbereichs von SchleswigHolstein nichts mehr.3 Ein Grund dafür könnte sein, dass diese Ereignisse in den Geschichtsschulbüchern bis zum Ende des Nationalsozialismus durchgängig präsent waren4, in den Schulbüchern nach 1945 aber immer weniger angesprochen werden. Selbst in sehr differenzierten und materialreichen gymnasialen Oberstufenschulbüchern5 werden die Einigungskriege heute nur knapp dargestellt; in Büchern für andere Schulformen und -stufen reichen zuweilen Halbsätze.6 Und fast schon im Geiste »borussischer Geschichtsschreibung« des 19. Jahrhunderts interessieren sich die gegenwärtigen Schulbuchautoren dann auch vornehmlich für das Ergebnis der Reichseinigung und vollziehen so, vermutlich unbewusst, das im eingangs genannten Zitat ausgedrückte affirmative Erinnerungsangebot an die schließlich sehr verlustreichen Einigungskriege nach. Ganz anders sieht das in Dänemark aus, wo die Erinnerung an den DeutschDänischen Krieg und die Schlacht von Düppel eine ungebrochene Aktualität besitzt.7 Hier ist es möglich, dass es ein halb geschichtswissenschaftliches, halb literarisch-journalistisches Buch über die Ereignisse im Jahr 2008 auf Platz eins der Liste der meistverkauften Bücher bringt. Tom Buk-Swientys (*1966) Schilde-

3 Eine stichprobenartige, schriftliche und anonyme Umfrage unter fünfundvierzig Studierenden des Fachs Geschichte an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg ergab, dass nicht einmal fünfzehn Prozent der Studierenden etwas mit dem Begriff »Düppel« anzufangen wussten. 4 Nur ein Beispiel: Volkwerden der Deutschen. Bd. 4. Leipzig, Berlin 1940, 199 f. 5 Vgl. Geschichte und Geschehen. Oberstufe Gesamtband. Stuttgart, Leipzig 2012, 236 ff. 6 Vgl. beispielsweise Zeitreise 3 (Realschule Baden-Württemberg). Stuttgart-Leipzig 2006, 14. 7 Hierzu das umfangreiche Werk von Inge Adriansen, die sich in den letzten Jahren intensiv mit Düppel und der Entwicklung der deutsch-dänischen Beziehungen beschäftigt hat. Unter anderem: Inge Adriansen/Matthias Schartl: Erindringssteder Nord og Syd for Grænsen – Erinnerungsorte nördlich und südlich der Grenze. o.O. 2006; Inge Adriansen: Düppel als dänisches Symbol. In: Gerd Stolz: Düppel – Dybbøl 1848 – 1849 – 1864 – heute. Ein historischer Wanderführer über die Düppeler Höhen. Aabenraa, Sønderborg 1992, 82 – 90; Inge Adriansen: Erinnerungsorte der deutsch-dänischen Geschichte. In: Bea Lund (Hrsg.): Nordlichter. Geschichtsbewußtsein und Geschichtsmythen nördlich der Elbe. Köln 2004., 391 – 412; Inge Adriansen: Die 12 Metamorphosen von Düppel – eine Kulturlandschaft im Dienste der Erinnerung. In: Kieler Blätter zur Volkskunde 38/39 (2006/200), 23 – 49; Inge Adriansen: Denkmal und Dynamit. Denkmälerstreit im deutsch-dänischen Grenzland. Neumünster 2011.

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rung der Schlachtbank Düppel war damit ein nur in Dänemark möglicher Erfolg.8 Ziel des Beitrags wird es im Folgenden sein, die Erinnerungs- und Geschichtskultur in Düppel/Dybbøl im Wandel der Zeiten und der territorialen Zugehörigkeit darzustellen und diesen Wandlungsprozess in den jeweiligen nationalen, sich verändernden Rahmen der nationalen Erinnerungskulturen einzufügen. So soll ein exemplarischer Beitrag zum Verständnis der Frage geleistet werden, wie sich nationale Erinnerungskulturen und ihre geschichtskulturellen Ausdrucksformen in einem umstrittenen Grenz- und Erinnerungsraum im Wandel der territorialen Zugehörigkeit verändern. Auch welche Einflüsse auf diese »Kulturen« einwirken und wie sich die Veränderungen in greifbaren Hinterlassenschaften ausdrücken, soll gezeigt werden.

Kurzer Abriss über die deutsch-dänische Geschichte seit 18489 Die Festungsanlagen der Düppeler Schanzen, am Alsensund vor Sonderburg gelegen, der das Festland von der Insel Alsen (dänisch: Als) trennt, waren nicht nur 1864, sondern schon in den Jahren 1848/49 Schauplatz eines Krieges zwischen Deutschen und Dänen. Gründe für beide Kriege waren die besondere Situation der Herzogtümer Schleswig, Holstein und Lauenburg zwischen Dänemark und dem Deutschen Bund sowie die Frage der sprachlich-kulturellen Minderheiten im Zeitalter des Nationalismus. Wie verwickelt die Probleme waren, die zu den Konflikten führten, zeigt ein Bonmot des englischen Premiers Lord Palmerston (Henry John Temple, 3. Viscount Palmerston, 1784 – 1865), der bei den Londoner Verhandlungen zur Beendigung des ersten Krieges vermittelnd tätig war : »[…] es hat nur drei Personen gegeben, die die SchleswigHolsteinische Geschichte verstanden haben. Der eine ist der Herzog von Augustenburg, der an der Spitze der schleswig-holsteinischen Rebellen gestanden hat, die sich von Dänemark lossagen wollte. Der ist aber inzwischen tot. Die andere Person ist ein deutscher Professor, der darüber wahnsinnig geworden ist. Und die dritte Person bin ich selbst und ich habe die Details unterdessen vergessen.«10 Die Herzogtümer Holstein und Lauenburg waren mehrheitlich deutsch besiedelt und gehörten zum Deutschen Bund, Herzog war jedoch in beiden Fällen 8 Tom Buk-Swienty : Schlachtbank Düppel. Geschichte einer Schlacht. Berlin 2011. 2008 unter dem Titel ›Slagtebænk Dybbøl‹ in Dänemark erschienen. 9 Zum Folgenden vgl. Johannes Nielsen: Der Deutsch-Dänische Krieg 1864. Haderslev 1991; Johannes Nielsen: Die Schleswig-Holsteinische Erhebung 1848 – 1850. Haderslev 1993; Winfried Vogel: Entscheidung 1864. Bonn 1995. 10 Zitiert nach Bernd Henningsen: Dänemark. München 2009, 13.

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der dänische König. Auch das Herzogtum Schleswig war staatsrechtlich kein Teil des Königreichs Dänemark, doch lag es nicht im Gebiet des Deutschen Bundes, sondern war dänisches Lehen. Die starke deutschsprachige Minderheit im Süden von Schleswig strebte die Vereinigung Schleswigs und Holsteins unter deutscher Führung an. Dänische Patrioten wiederum strebten die vollständige Eingliederung Schleswigs in den dänischen Gesamtstaat und die vollständige Abtretung Holsteins und Lauenburgs an den Deutschen Bund an. Auch Pläne zur Teilung Schleswigs entlang der Sprachgrenze wurden diskutiert. Die dänischen Pläne allerdings widersprachen der bei deutschen Patrioten populären Ansicht, dass die beiden Herzogtümer Holstein und Schleswig »up ewig ungedeelt« bleiben müssten.11 Den ersten Krieg zwischen dem Königreich Dänemark und dem Deutschen Bund beziehungsweise der nationalliberalen revolutionären Bewegung in Deutschland über diese Frage konnten die Dänen in den Jahren von 1848 bis 1851 erfolgreich für sich entscheiden. Im Verlauf dieses sogenannten Ersten Schleswig-Holsteinischen Krieges fand im Juli 1850 auch die bis dahin blutigste Schlacht Nordeuropas, die Schlacht bei Idstedt statt, die ebenfalls zu Gunsten Dänemarks endete und zirka 1400 Menschen das Leben kostete. Zur Erinnerung an diese Schlacht errichtete Dänemark im mehrheitlich von Deutschen bewohnten schleswigschen Flensburg 1862 den sogenannten Idstedt-Löwen. Als Ergebnis des Siegs im ersten Krieg behielt Dänemark die Hoheit über die umstrittenen Herzogtümer, verpflichtete sich aber, diese weiterhin als selbständige Einheiten innerhalb des Gesamtstaates zu behandeln. Zudem sollte nach dem Londoner Protokoll von 1852, das die Bedingungen für die weitere staatsrechtliche Behandlung der strittigen Fragen festlegte, Schleswig verfassungsmäßig nicht enger an Dänemark gebunden werden als Holstein und Lauenburg. Die sogenannte dänische »Novemberverfassung« von 1863, die durch den Einfluss nationalistischer Kräfte, der »Eiderdänen«, zustande gekommen war, bezog jedoch Schleswig vertragswidrig mit in den dänischen Kernstaat ein. Die Verfassung sollte – im Widerspruch zum Londoner Protokoll – zunächst nur für Dänemark und Schleswig gelten. Wegen des Bruchs des Londoner Protokolls wurde vom Deutschen Bund die Bundesexekution gegen Holstein verhängt. Holstein wurde unverzüglich und kampflos von preußischen, österreichischen und hannoverischen Truppen besetzt. Am 16. Januar 1864 stellten Österreich und Preußen Dänemark ein 48Stunden-Ultimatum zur Aufhebung der Novemberverfassung und zur Räu11 Die Formulierung geht auf den Vertrag von Ripen aus dem Jahr 1460 zurück. Der Arzt August Wilhelm Neuber (1781 – 1849) verwendete sie 1841 in seinem Gedicht ›Up ewig ungedeelt‹. Vgl. Thomas Riis: Up ewig ungedeelt. Ein Schlagwort und sein Hintergrund. In: Thomas Stamm-Kuhlmann (Hrsg.): Geschichtsbilder. Festschrift für Michael Salewski zum 65. Geburtstag (Historische Mitteilungen. Beiheft 47). Stuttgart 2003, 158 – 167.

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mung Schleswigs, das Dänemark verstreichen ließ. Österreichische und preußische Truppen überschritten am 1. Februar 1864 die Eider und drangen in Schleswig ein. Am selben Tag wurden preußische Truppen bei Missunde beim versuchten Übergang über die Schlei zurück geworfen.12 Gleichzeitig rückten Österreicher bis auf wenige Kilometer an das berühmte Danewerk heran, das schon seit dem Mittelalter Dänemark vor Angriffen aus dem Süden schützen sollte. Nach dem Fehlschlag bei Missunde überschritt die preußische Armee schließlich am 6. Februar 1864 bei Arnis die Schlei. Die dänische Armeeführung beschloss daraufhin, das bei Eis und Schnee schwer zu verteidigende und obendrein nicht vollständige ausgebaute Danewerk zu räumen. Diese Räumung verhinderte zwar vermutlich die vorzeitige Vernichtung der dänischen Armee, wirkte aber traumatisch für viele Dänen, die diesen militärisch sinnvollen, symbolpolitisch jedoch verheerenden Rückzug von ihrem Mythos »Danewerk« nicht verwinden konnten. Die dänischen Truppen konnten sich nach einem Rückzugsgefecht mit Österreichern beim in der Nähe von Flensburg gelegenen Oeversee auf die Insel Alsen zurückziehen. Die Truppen der Alliierten teilten sich. Die Österreicher marschierten von Flensburg nordwärts, während die Preußen langsam ostwärts über die Halbinsel Sundewitt Richtung Alsensund vorrückten. Die dänische Armee zog sich in die Düppeler Schanzen zurück. Dort kam es schließlich nach wochenlanger Belagerung, ständigen Vorpostengefechten und sehr wirksamen Beschießungen der dänischen Festungswerke am 18. April 1864 zur entscheidenden Schlacht bei den Düppeler Schanzen. Nach kurzem, sehr heftigem Nahkampf wurden die dänischen Besatzungen überwältigt, und die Angreifer drangen schließlich bis an den Alsensund vor. Den Dänen gelang es nicht mehr, rechtzeitig Verstärkungen heranzuführen, und sie mussten schließlich die Pontonbrücken vor Sonderburg abbrechen. Dramatische zeitgenössische Schilderungen der Kämpfe finden sich auf beiden Seiten. Nationalistisch gefärbt, wird bei Theodor Fontane (1819 – 1898) von der Heldentat des preußischen Feldwebels August Probst (?-1864) von der 11. Kompanie des 8. Brandenburgischen Infanterie-Regiments Nr. 6413 bei der Erstürmung von Schanze V berichtet: »Er hatte um die Ehre gebeten, beim Sturm auf die Schanze Preußens Fahne auf dieselbe aufpflanzen zu dürfen. Er erfüllte treulich seine Pflicht. Durch den dichtesten Kugelregen ging er hindurch, arbeitete sich zur Schanze hinauf und ließ Preußens Banner wehn. Ein Schuß streckte ihn nieder. Noch einmal raffte er sich auf und ergriff die Fahne, da 12 Immer noch eindrücklich sind die detailreichen Schilderungen, die Theodor Fontane über den Krieg von 1864 hinterließ: Theodor Fontane: Der Schleswig-Holsteinische Krieg im Jahre 1864. Berlin 1866; zu Missunde vgl. Fontane (Anm. 12), 58 ff. 13 Vgl. Peter E. Günther : Namentliches Verzeichnis der Toten der Preußischen Armee und Marine des Deutsch-Dänischen Krieges. Berlin 1978. Liste des 8. Brandenburgischen Infanterie-Regiments Nr. 64.

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stürzte ein Däne auf ihn ein, setzte ihm das Bajonett auf die Brust und jagte ihm eine Kugel durch den Leib. Aber sein Tod wurde gerächt. Der Füsilier Herrmann […] stürzte vor und erschlug den Dänen mit dem Kolben.«14 Realistischer schildert ein Veteran in der 1877 erschienenen Darstellung des dänischen Malers und Dichters Holger Drachmann (1864 – 1908) die Schrecken der Erstürmung: »Ein großer hübscher preußischer Kerl sprang mit seinen Stiefeln auf die Brust eines unserer Männer und zertrampelte sein Gesicht. Ich jagte ihm mein Bajonett in den Bauch, er fiel auf mich, und ich musste mich mit einem Stiefeltritt befreien. Tritt um Tritt, aber im Grunde mag ich nicht daran denken […].«15 Mit der Erstürmung der Düppeler Schanzen waren die Kämpfe jedoch noch nicht beendet. Erst mit dem Übergang preußischer Truppen über den Alsensund bei Arnekiel im Juni 1864 war die Lage der dänischen Truppen aussichtslos geworden. Mit dem Frieden von Wien endete im November 1864 der zweite Krieg zwischen deutschen und dänischen Truppen innerhalb von 16 Jahren. Die Folgen waren für Dänemark gravierend. Die drei umstrittenen Herzogtümer wurden an Preußen und Österreich abgetreten. Dänemark verlor aber nicht nur einen erheblichen Teil seines Territoriums (ein Drittel) und seiner Bevölkerung (zwei Fünftel), sondern auch seine Identität als Großmacht. Die Niederlage von 1864 führte zur Entstehung eines dänischen Nationalstaates, der seine Identität nun in der Abgrenzung vom südlichen Nachbarn und in der Kultivierung einer Selbstsicht als friedlicher Zwerg an der Seite eines aggressiven nationalistischen Riesen suchte. Dass auch Dänemark jahrhundertelang eine militärisch aggressive Großmacht war, zum Beispiel in der zweiten Phase des Dreißigjährigen Kriegs, wurde dabei ausgeblendet. Nach dem Deutschen Krieg von 1866 ging das zunächst von Österreich verwaltete Holstein an Preußen, nach der Reichseinig waren alle drei umkämpften Herzogtümer schließlich Teile des zweiten Deutschen Reichs. Das deutsche Kaiserreich erbte damit allerdings an seiner Nordgrenze auch eine erhebliche dänischsprachige Minderheit, die es in den Staat nachhaltig zu integrieren galt. Nach der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg, an dem auch viele dänischsprachige Bürger des Kaiserreichs teilnehmen mussten, wurde die Grenze zwischen Deutschland und Dänemark durch eine von großen Emotionen und nationalistischen Agitationen geprägte Volksabstimmung gezogen.16 Als Ergebnis wurde Schleswig ungefähr entlang der Sprachgrenzen in ein dänisches Nordschleswig (das auf Dänisch heute Sønderjylland, »Südjütland« heißt,) und 14 Brief eines Unteroffiziers vom 19. April 1864, zitiert nach Fontane (Anm. 12), 217. 15 Zitat im Original bei Holger Drachmann: Derovre fra Grænsen. Streiftog over det danske Termopylae. København 1877, zitiert nach Buk-Swienty (Anm. 8), 25. 16 Vgl. Inge Adriansen/Immo Doege: Deutsch oder Dänisch? Agitation bei den Volksabstimmungen in Schleswig 1920. Sønderborg 2010.

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ein deutsches Südschleswig geteilt. Auf beiden Seiten bleiben aber auch Minderheitengruppen vertreten. Im April 1940 besetze die deutsche Wehrmacht im Rahmen der Operation »Weserübung« Dänemark. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden die vorherigen Grenzen von 1920 wieder hergestellt. Durch die Bonn-Kopenhagener Erklärungen garantierten beide Staaten 1955 die Wahrung der jeweiligen Minderheitenrechte in ihren Staaten. Die Erinnerung an die Zeit der Besatzung durch die Wehrmacht und die damit verbundenen Unterdrückungen und Verfolgungen prägte das Verhältnis beider Völker in den nächsten Jahrzehnten jedoch noch lange negativ.

Dimensionen der Erinnerung17 Auf Schlachtfeldern konzentrieren sich, zeitlich und räumlich begrenzt, die Ereignisse eines länger andauernden Konfliktes.18 Da in Schlachten auch immer – im wahrsten Sinne des Wortes – um eine Entscheidung gerungen wird, wird ihnen im Nachgang zumeist auch eine besondere historische Bedeutung für den Fortgang der Geschichte zugeschrieben.19 In der Erinnerung an vergangene Kriege können Schlachten also den Stellenwert eines »herausragenden Gedächtnisort[es]« erhalten.20 Gedächtnisorte sind Kristallisationspunkte erinnerungskultureller Aushandlungsprozesse, die von sozialen Gruppen vorge17 Zum Folgenden vgl. vor allem auch Arand/Bunnenberg: Wem gehört die Erinnerung? (Anm. 2), 213 ff. 18 Cord Arendes/Jörg Peltzer: Das Erinnern an Schlachten. Erfahrungen von Gewalt im Spätmittelalter und im 19. Jahrhundert. In: Cord Arendes/Jörg Peltzer (Hrsg.): Krieg: vergleichende Perspektiven aus Kunst, Musik und Geschichte. Heidelberg 2007, 57 – 84, 59. 19 Beispielhaft dazu: Phillipe Levillain/Rainer Riemenschneider : La Guerre de 1870/71 et ses consequences. Actes du XXe colloque franco-allemand organis¦ — Paris par l’Institut Historique Allemand en coop¦ration avec le Centre de Recherches Adolphe Thiers. Bonn 1990; Stig Förster/Markus Pöhlmann/Dierk Walter : Die Schlacht in der Geschichte. In: Stig Förster/Markus Pöhlmann/Dierk Walter (Hrsg.): Schlachten der Weltgeschichte. Von Salamis bis Sinai. München 2001, 7 – 18, 7; Jan Lorenzen: Die großen Schlachten. Mythen, Menschen, Schicksale. Frankfurt/Main 2006. 20 Ausgewählte Literatur zu den Konzepten von Gedächtnis und Erinnerung: Christoph Cornelißen: Was heißt Erinnerungskultur? Begriffe – Methoden – Perspektiven, in: GWU 54, 2003, 548 – 563; Harald Welzer/Ariane Eichenberg/Christian Gudehus (Hrsg.): Gedächtnis und Erinnerung: ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart 2010; Astrid Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart 2005; Sabine Moller : Vielfache Vergangenheit. Öffentliche Erinnerungskulturen und Familienerinnerungen an die NS-Zeit in Ostdeutschland. Tübingen 2003; Arendes/Peltzer (Anm. 18), 58. Pierre Nora, Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Berlin 1990; Etienne FranÅois/Hagen Schulze: Einleitung. In: Dies (Hrsg.): Deutsche Erinnerungsorte. 3. Bd. München 2001, 9 – 26.

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nommen werden.21 Schlachtfelder sind so auch Verdichtungsräume, in denen das komplexe Geschehen »Krieg« im Nachgang vereinfacht und narrativ verformt werden kann. In diesem Prozess wird das Geschehen in meist eindeutig wertender Weise an andere herangetragen. Am Anfang dieses Prozesses stehen das historische Ereignis selbst sowie einzelne Menschen, die im Zusammenhang mit eben diesem Ereignis Primärerfahrungen gemacht haben.22 Auf dem Schlachtfeld bei Düppel haben tausende Soldaten die Schlacht ganz individuell erlebt, sie haben geschwitzt, geblutet, geschossen, getötet, haben angegriffen, sich verteidigt, Befehlen gehorchen müssen oder Befehle gegeben, Kameraden und Gegner sterben sehen, sie hatten Durst, Angst und waren am Rande der Erschöpfung. Auch die Zivilisten in den umkämpften Ortschaften, in Nübel, Broacker oder Sonderburg, teilten, unfreiwillig und verängstigt, die Erfahrungen der Schlacht. Die Wahrnehmung der Ereignisse erfolgte aber bei allen Beteiligten unterschiedlich und selektiv. Am Abend nach der Schlacht hatten sich diese Erfahrungen in tausende individuelle Gedächtnisse eingebrannt.23 Erinnerung wiederum setzt ein, wenn die in der Vergangenheit gemachten Erfahrungen vergegenwärtigt werden. Es handelt sich also zunächst um individuelle Rekonstruktionen des Vergangenen auf Grundlage der im individuellen Gedächtnis gespeicherten Erfahrungen. Dies geschieht vor allem durch Kommunikation und Interaktion innerhalb einer sozialen Gruppe; diese bestimmt aber auch »darüber, was des Andenkens wert ist und wie erinnert wird.«24 Die individuelle Erinnerung ist damit immer zeitgebunden und zugleich selektiv, denn sie orientiert sich an dem gesellschaftlichen Bezugsrahmen der jeweiligen Gegenwart. Es geht bei der Auswahl der Erinnerung also auch immer um Vergangenheitsdeutungen, Gegenwartsorientierung und Zukunftserwartungen einer sozialen Gruppe. Der Austausch über ein vergangenes Ereignis verbindet die Menschen, ihr wird ein identitätsstiftendes Moment zugewiesen. Die gemeinsame Erinnerung wird als »kollektives Gedächtnis« bezeichnet.25 Trotzdem besteht das kollektive Gedächtnis nicht aus der Summe aller individuellen Erinnerungen. Vielmehr stehen die Inhalte des kollektiven Gedächtnisses am Ende einer gesellschaftlichen Verständigung darüber, wie und was erinnert, vergessen 21 Die folgenden Ausführungen orientieren sich vor allem an: Moller (Anm. 20), Cornelißen (Anm. 20), Erll (Anm. 20). 22 Hans Günter Hockerts: Zugänge zur Zeitgeschichte: Primärerfahrung, Erinnerungskultur, Geschichtswissenschaft. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 28, 2001, 15 – 30. 23 Moller (Anm. 20). 24 Edgar Wolfrum: »Theater der Erinnerung«. In: Sabine Berghahn/Sigrid Koch-Baumgarten (Hrsg.): Mythos Diana: Von der Princess of Wales zur Queen of Hearts. Gießen 1999, 57 – 63. 25 Der Begriff wurde von dem Soziologen Maurice Halbwachs in den 1920er-Jahren eingeführt: Maurice Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Frankfurt/Main 1985.

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und erfunden wird, welche sozialen Gruppen oder Teilgruppen Träger und Vermittler der Erinnerungen sind und welche Erinnerungsinteressen dem gemeinsamen Gedächtnis zugrunde liegen sollen. Das Ergebnis stellt eine auf der nationalen Ebene angesiedelte historische »Meisternarration« dar, die wiederum »niemals ›die‹ Vergangenheit abbilden kann, sondern ihr immer die eigene gegenwartsbestimmte Sichtweise überstülpt« und damit gleichzeitig die gewünschten Deutungen der Vergangenheit vorgibt.26 Die Meisternarration wirkt dabei in und auf zwei Erscheinungsformen und -ebenen des kollektiven Gedächtnisses, die als »kommunikatives« und »kulturelles« Gedächtnis bezeichnet werden.27 Das kommunikative Gedächtnis meint die zeitlich auf zwei bis drei Generationen begrenzte tatsächliche Weitergabe der unmittelbar gemachten Primärerfahrungen. Voraussetzung ist das Vorhandensein einer »Erfahrungs-, Erinnerungs- und Erzählgemeinschaft«, in der die Erinnerungen alltagsnah und teilweise informell – zum Beispiel im Familienkreis – tradiert werden.28 Das kulturelle Gedächtnis hingegen funktioniert als generationenübergreifendes Konstrukt. Es handelt sich dabei um »ein kollektiv geteiltes Wissen […] über die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewusstsein von Eigenheit und Eigenart stützt«.29 Um die Erinnerung lebendig zu halten, bedarf es historischer Narrationen mit großer Prägekraft, die seit dem 19. Jahrhundert in der Regel auf den Nationalstaat ausgerichtet und damit institutionell angebunden sind.30 Seinen konkret greifbaren Ausdruck findet das kollektive Gedächtnis in der öffentlichen Erinnerungskultur, die – um den Bogen zu schließen – Gedächtnisorte für die Erinnerung bereithält. Der Begriff »Gedächtnisort« umfasst neben geografischen Orten wie dem ehemaligen Schlachtfeld bei Düppel aber auch »die zahllosen Riten, Praktiken, Symbole, Jubiläen, Gedenktage, Akten, Protokolle, Bilder, Fotos, Filme und Objekte, all die kulturellen Manifestationen, die die Funktion haben, etwas im Gedächtnis zu bewahren«.31

26 Konrad H. Jarausch/Martin Sabrow: »Meistererzählung«. Zur Karriere eines Begriffs. In: Ders./Martin Sabrow (Hrsg.): Die historische Meistererzählung. Deutungslinien der deutschen Nationalgeschichte nach 1945. Göttingen 2002, 9 – 32; Konrad H. Jarausch: Die Krise der Meistererzählungen. Ein Plädoyer für plurale, interdependente Narrative. In: Konrad H. Jarausch/Martin Sabrow (Hrsg.): Die historische Meistererzählung. Deutungslinien der deutschen Nationalgeschichte nach 1945. Göttingen 2002, 140 – 162. 27 Vgl. Aleida Assmann, Jan Assmann: Das Gestern im Heute. Medien und soziales Gedächtnis. In: Klaus Merten (Hrsg.): Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft. Opladen 1994, 114 – 140 und Cornelißen (Anm. 20), 554. 28 Moller (Anm. 20). 29 Jan Assmann: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: Jan Assmann/Tonio Hölscher (Hrsg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt/Main 1988, 9 – 19, 15. 30 Jarausch/Sabrow (Anm. 26), 16. 31 Ulrich Borsdorf/Theodor Grütter : Spielweisen der Erinnerung. In: Franz-Josef Brüggemeier

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Insgesamt kann zusammenfassend von vier verschiedenen Erinnerungsdimensionen gesprochen werden: der individuellen Erinnerung derjenigen, die über eine Primärerfahrung im Zusammenhang des zu erinnernden Ereignisses verfügen; die lokale/regionale Erinnerung im Raum, in dem sich das zu erinnernde Ereignis abgespielt hat; die kollektive Erinnerung einer Gruppe von Menschen, die sich an das Ereignis mit, aber auch ohne Primärerfahrung in, aber auch außerhalb des betreffenden Raums erinnert; schließlich die intentionale, gesteuerte, institutionell angebundene nationale Erinnerung, die sich in Form von »Meistererzählungen« über die anderen Erinnerungsdimensionen legen kann. Selbstverständlich stehen diese Erinnerungsdimensionen in einem Verhältnis wechselseitiger Beeinflussung.

Abb. 1 Dimensionen der Erinnerung. Grafik: Christian Bunnenberg

Um das Schlachtfeld bei Düppel als Gedächtnisort untersuchen zu können, müssen die damit verbundenen Narrationen, Träger, Vermittler und die Mani(Hrsg.): Der Ball ist rund. Katalog zur Fußballausstellung im Gasometer Oberhausen. Essen 2000, 48.

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festationen der Erinnerungskultur identifiziert, beschrieben und auf ihr Verhältnis zur Vergangenheit untersucht werden. Das Ziel ist eine Dekonstruktion der Erinnerungskultur, um ihre Konstruktionsmechanismen offen zu legen und die Einflüsse und Verflechtungen von individuellem und kollektivem, kommunikativem und kulturellem Gedächtnis analysieren zu können. Das Schlachtfeld bei Düppel verlangt zudem noch nach einer transnationalen Perspektive, da der Gedächtnisort die territoriale Zugehörigkeit und damit auch den erinnerungskulturellen Zugriff gewechselt hat.

Grundlegende Narrationen über die Schlacht von Düppel Eingebettet in die jeweilige nationale Meisternarration, die auf deutscher Seite die Schlacht von Düppel als den ersten Schritt zur deutschen Einheit feiert32 und auf dänischer Seite in den Kämpfen um die Schanze den traumatischen Beginn der Transformation der einstigen Großmacht zum friedliebenden und passiven Kleinvolk betont, finden sich rund um das konkrete Geschehen Einzelnarrationen. Diese Einzelnarrationen sind in den Darstellungen immer wieder zu erkennen und wirken auf die genannten Erinnerungsdimensionen ein. Das Phänomen sich verfestigender Einzelnarrationen findet sich vergleichbar auch im Zusammenhang mit anderen Schlachten der Neuzeit.33 Es gibt sogar häufig wiederkehrende, geradezu literarische Topoi, die sich kriegs- und nationenübergreifend finden lassen, beispielsweise der Topos des »heldenhaften Reiterangriffs«, wie er sich an den Schlachten von Balaklawa (Angriff der englischen leichten Brigade, 25. Oktober 1854, Krimkrieg), Wörth (»Heldenritt« der französischen Kürassiere, 6. August 1870, Deutsch-Französischer Krieg) oder Mars-la-Tour (»Todesritt« der preußischen Brigade Bredow, 16. August 1870, Deutsch-Französischer Krieg) aufzeigen lässt. Träger dieser Einzelnarrationen sind vor allem populäre Erinnerungsbücher, wie sie gerade zu den Einigungskriegen in kaum überschaubarer Fülle erschienen sind, Gedenktage, Denkmäler, Historienbilder, Museen und der Schulunterricht. Die Erzählungen sind materiell an den Ort des Geschehens, den unmittelbaren »Gedächtnisort«, gebunden – an Schlachtfelder, Ruinen, Denkmäler, Gräber. Sie fungieren am Gedächtnisort als Unterstützter der nationalen Meisternarration. Doch außerhalb der unmittelbaren Geschehensorte und fernab von Denkmälern oder Gräbern sind sie auch als immaterielle, narrativ verfasste Gedächtnisorte, existent nur im Bewusstsein der Rezipienten zu ver32 Vgl. Epkenhans (Anm. 1), 19 f. 33 Vgl. das Beispiel der Schlacht bei Wörth in Arand/Bunnenberg: Wem gehört die Erinnerung? (Anm. 2), S. 213ff; Arand/Bunnenberg, Schlachtfeld von Woerth (Anm. 2).

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stehen. Alle hier aufgezeigten Einzelnarrationen der Schlacht um Düppel sind, allerdings zum Teil in Abschwächungen, bis heute »lebendig« und werden weiter, weniger in Deutschland, stärker in Dänemark, tradiert.

Abb. 2 Grundlegende Narrationen über die Schlacht von Düppel. Grafik: Christian Bunnenberg

Von beiden Seiten wurde die Erstürmung der Düppeler Schanzen als Entscheidungsschlacht gesehen. Auf deutscher Seite war dies positiv, auf dänischer Seite negativ konnotiert. Mit der militärischen Realität stimmte diese Narration aber keineswegs überein, ging der Krieg doch noch einige Monate weiter. Auf beiden Seiten diente die Stilisierung Düppels als Entscheidungsschlacht auch dazu, von den militärischen Fehlern beider Seiten abzulenken, die in der Folgezeit noch gemacht wurden.34 Die mnemotechnische Verengung auf den »Tag von Düppel« zeigte sich unmittelbar nach den Ereignissen in zahlreichen Bildern und Texten. So war die Erstürmung der Düppeler Schanzen das zentrale Motiv zur bildlichen Darstellung des Deutsch-Dänischen Kriegs auf der Berliner Siegessäule,35 die die Erfolge in allen drei deutschen Einigungskriegen feiert. Und auch eine Darstellung der Ereignisse aus dem Jahr 1865 hebt die Schlacht von Düppel als entscheidend heraus: »Mit dem Abend des 17. April stehen wir 34 Vgl. Epkenhans (Anm. 1), S. 19 f. 35 Zur Siegessäule vgl. Klaus Bemmann: Deutsche Nationaldenkmäler und Symbole im Wandel der Zeiten. Göttingen 2007, 155 ff.

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vor dem letzten blutigen Akte dieses gewaltigen Entscheidungskampfes.«36 Noch 1964 hielt auch der schleswig-holsteinische Ministerpräsident Helmut Lemke (1907 – 1990) bei einer Rede im Kieler Stadttheater anlässlich des 100. Jahrestages der Schlacht Düppel noch für den alles entscheidenden Erfolg: »Wir gedenken des 18. April 1864, an dem der Sieg bei Düppel erkämpft wurde, der zugleich in der kriegerischen Auseinandersetzung […] die militärische Entscheidung bedeutete.«37 Auch die dramatische Zuspitzung des Geschehens in einen Schanzensturm nach wochenlangem Warten trug auf beiden Seiten dazu bei, den Krieg im Ort »Düppel« zu verdichten. Auf deutscher Seite wurde insbesondere die Heldenhaftigkeit der deutschen Stürmer betont. Dafür durften die Darstellungen auch schon mal geschönt sein, wie ein Schulbuchtext aus dem Jahr 1900 zeigt, der die entscheidende Bedeutung der weit überlegenen deutschen Artillerie herunterspielt: »Bei diesem Dorfe hatten die Dänen große Festungswälle gebaut, die man die Düppeler Schanzen nannte. […] Als nun die Preußen sich diesen Schanzen näherten, schossen die Dänen fortwährend auf sie. Die preußischen Kugeln dagegen konnten nicht durch die dichten Festungswerke dringen. Da stürmten die Preußen die Schanzen und trieben die Dänen heraus.«38

Auf dänischer Seite, die nach dem Krieg nun in der unangenehmen Lage war, für eine Niederlage positive Narrationen entwickeln zu müssen,39 wurde das ebenfalls als heldenhaft angesehene lange Ausharren der eigenen Truppen in Kälte, Regen und unter ständigem deutschen Beschuss als Motiv populär. Von bildprägender Kraft war hierfür die Historienmalerei. Das Beispiel eines Gemäldes von Jørgen Valentin Sonne (1801 – 1890) mit dem Titel »Kampene ved Dybbøl« aus dem Jahr 1871 zeigt deutlich, wie man sich in Dänemark die Erinnerung an die eigenen Kämpfer wünschte: Tapfer sitzen dänische Kämpfer in ihren Unterständen, um sie herum pfeifen die Granaten, Erde spritzt auf. Die Kämpfer blicken entschlossen, aber auch gelassen, militärische Hierarchien sind nicht erkennbar. Auf dänischer Seite ragen keine einzelnen Helden heraus, sondern 36 Carl von Winterfeld: Der Schleswig-Holstein’sche Krieg von 1864. Bd. II. Potsdam 1865, 51. 37 Begrüßungsansprache des Ministerpräsidenten Dr. Helmut Lemke. In: Der Krieg 1864. Reden gehalten bei der Gedenkstunde am 18. April 1964 im Kieler Stadttheater, veranstaltet von der Schleswig-Holsteinischen Landesregierung, der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinischen Geschichte und dem Schleswig-Holsteinischen Heimatbund. Neumünster 1964, 7. 38 Josef Dahmen (Hrsg.): Leitfaden der Geschichte für höhere Mädchenschulen und Lehrerinnenseminare. Leipzig 1900, 99. 39 Zur Problematik der nationalen Erinnerung an militärische Niederlagen vgl. Wolfgang Schivelbusch: Die Kultur der Niederlage. Der amerikanische Süden 1865, Frankreich 1871, Deutschland 1918. Berlin 2001.

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das Kollektiv erträgt gemeinsam den unmenschlichen Beschuss. So schildert dies auch ein populärer dänischer Stummfilm aus dem Jahr 1910 »En Rekrut fra 64« von Urban Gad (1879 – 1947). Im Begleitheft zum Film heißt es in Fortschreibung der schon bekannten Muster : »De preusisske Kanoner dænger Granat pas Granat over de tapre Forsvarere.«40 In der schon erwähnten Darstellung seines Besuchs des Schlachtfelds von Düppel bezeichnet Holger Drachmann dieses 1877 als die »dänischen Thermopylen« und setzt so das legendäre Ausharren der 300 Spartaner unter Leonidas gegen die persische Übermacht am Thermopylen-Pass im Jahre 480 vor Christus mit dem dänischen Verteidigungswillen gleich. Die implizite Identifizierung der Preußen mit den Persern spielt zugleich in einem aufs Äußerste gesteigertem Nationalismus mit dem Bild der Bedrohung einer kleinen, abendländischen durch eine große, fremde und die Werte der westlichen Zivilisation negierenden Kultur. Doch auch heute noch spielt in der Freilichtinszenierung des Düppeler Geschichtszentrums, das 1992 eingeweiht wurde, die tapfere dänische Verteidigung eine tragende Rolle. Das Motiv des kollektiven Einstehens für Dänemark wird auch in der »Heldentat« der 8. Brigade betont, die einen zuerst erfolgreichen, schließlich aber doch nutzlosen Gegenangriff gegen die stürmenden Preußen unternahm. Sie steht in der narrativen Tradition ähnlicher Motive, wie zum Beispiel den schon erwähnten Kavallerieangriffen. Auch hier sind wieder Bilder, Schulunterricht und Film treibende Medien. Auch im Film über »den Rekruten von 64« fehlt der Angriff der 8. Brigade selbstverständlich nicht: »Da gaar 8. Brigade frem. Tyskernes trænges tilbage.«41 Dass Dänen über ihren nationalen Mythos »Düppel« und das vermeintlich heldenhafte Ausharren ihrer Kämpfer mittlerweile aber auch lachen können, bewies 1999 bis 2001 die komödiantische Fernsehshow »Finn’sk fjernsyn«42, bei der kurze und sarkastische Sketche über »Dybbøl 1864« nicht fehlen durften. Zwar gibt es auf dänischer Seite auch den tapferen Leutnant Johan Andres Peder Ancker (1838 – 1876), die Rolle des heldenhaften Individuums wird auf der deutschen Seite jedoch viel stärker betont. Zu besonderer Bekanntheit brachte es dabei der Pionier Karl Klinke (1840 – 1864) vom Brandenburgischen Pionier-Bataillon Nr. 3,43 der den Durchbruch in eine Schanze ermöglicht haben sollte, indem er sich mit einem Pulversack in die Luft sprengte. Obgleich die Geschichte bereits in den unmittelbar den Ereignissen folgenden Publikationen 40 »Die preußischen Kanonen schießen Granate auf Granate auf die tapferen Verteidiger.« En Rekrut fra 64. Skuespil fra Krigen 1864. Optaget af Kinografen. København 1910, 5. 41 »Nach der Übergabe (drängt) die 8. Brigade vorwärts. (Sie treibt) die eingedrungenen Deutschen zurück.« En Rekrut (Anm. 38), 5. 42 ›Finns Fernsehen‹, benannt nach dem dänischen Komiker Finn Nørbygaard. 43 Vgl. Günther (Anm. 13), Liste des Brandenburgischen Pionier-Bataillons Nr. 3.

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zum Teil angezweifelt wurde, brachte es Klinke posthum zum ersten medial gefeierten gesamtdeutschen »Kriegshelden«. Eine interessante Rolle spielte dabei Theodor Fontane, der die Darstellung der Selbstsprengung des »Türöffners« Klinkes in seiner Darstellung des Kriegs von 1864 anzweifelte, den KlinkeMythos in einem weit verbreiteten Gedicht aber selbst verbreitete. Darin heißt es: »Palisaden starren die Stürmenden an/Sie stutzen; wer ist der rechte Mann?/ Da springt von achten einer vor:/›Ich heiße Klinke, ich öffne das Tor!‹/Und er reißt von der Schulter den Pulversack,/Schwamm drauf, als wär’s eine Pfeife Tabak./Ein Blitz, ein Krach – der Weg ist frei –/Gott seiner Seele gnädig sei!/ Solchen Klinken für und für/Öffnet Gott selbst die Himmelstür.«44 Seine uneindeutige Haltung zur Tat Klinkes rechtfertigt Fontane mit einer interessanten Argumentation: »Welche Lesart aber auch immer die richtige sein mag, das Volk wird sich seinen ›Klinke‹ ebenso wenig nehmen lassen wie seinen ›Froben‹45. Mit der historischen Aufhellung – die ohnehin höchst misslich ist und oft noch mehr vorbeischießt als die Dichtung – ist dem Bedürfnis des Volkes nicht immer am meisten gedient.«46 Klinke wurden Denkmäler geweiht, seine Heldentat fehlte in keinem deutschen Geschichtsschulbuch.47 Große Bedeutung gewann auf dänischer Seite die Erinnerung an das Panzerschiff »Rolf Krake«. Zum einen verwies es auf die Modernität der ansonsten technologisch den Preußen weit unterlegenen dänischen Ausrüstung und half gleichzeitig von diesem Mangel abzulenken, zum anderen wird hier erneut das dann die Erinnerung bis in die Gegenwart besonders prägende »David-gegenGoliath-Motiv« erkennbar. Das Schiff, allein auf sich gestellt und durch die preußischen Kanonen akut gefährdet, schafft es dennoch immer wieder, deutsche Aktionen zu stören und Angst zu verbreiten. Auf deutscher Seite wurden Hinweise auf die eigene technologische Überlegenheit nicht gepflegt, hätte sich doch so der Heldenmut der eigenen Truppen relativieren lassen. Stattdessen spielte die Erinnerung an eine angesichts der Mittel und Methoden der industrialisierten Kriegsführung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts anachronistisch, geradezu archaisch anmutende Begebenheit noch eine wichtige Rolle: Der »Düppeler Sturmmarsch« des »Königlichen Musikdirektors« Johann Gottfried Piefke (1815 – 1884). Piefke kompo44 Theodor Fontane: Der Tag von Düppel. Zitiert nach Hans Weberstedt: Düppel. Leipzig 1914, 69. 45 Gemeint ist Emanuel Froben (1640 – 1675), der bei der Schlacht von Fehrbellin dem ›Großen Kurfürsten‹ Friedrich Wilhelm von Brandenburg unter Einsatz seines Lebens vor dem Tod bewahrte. 46 Fontane (Anm. 12), 204. 47 Zur historischen Person Klinkes und zu seiner Mythologisierung vgl. auch Werner Bader : Pionier Klinke – Tat und Legende. Bad Münstereifel, Berlin-Bonn 1992.

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nierte diesen Marsch während der Belagerung der Schanzen eigens für den Sturm. Als der Sturm begann, verließen auch die Militärmusiker ihre Gräben und gaben damit die Uraufführung des Marschs coram publico; Piefke soll dabei der Dirigentenstab zerschossen worden sein, woraufhin er mit dem Säbel weiter dirigiert habe. Wie viele der schutzlosen Musiker dieses Konzertereignis überlebt haben, ist nicht bekannt. Auch diese skurrile Tat wurde durch patriotische Gedichte tradiert; hier ein unfreiwillig komisches Beispiel des später auch im Nationalsozialismus erfolgreichen Dichters Rudolf Herzog (1869 – 1943), in dessen Gedicht »Die Düppel-Stürmer« aus dem Jahr 1913 es heißt: »Zehn Uhr. Da – Schweigen im Feuerbereich – –/Sechstausend zucken stumm und bleich./Sechstausend wissen: Die Stunde zum Wagen. –/ Tambour, schlag an, und den Sturmmarsch geschlagen!/Sturmmarsch. Sturmmarsch. Die Trommeln rasen!/Die Pfeifen schrillen. Trompeter blasen./Kein Kommando braucht’s. Die Schanzen! Die Schanzen!/Alles andre sind heute Firlefanzen. […]«48

Düppel als konkreter Gedächtnisort49 Zeit der preußischen/deutschen Herrschaft Ein Reiseführer aus dem Jahr 1909 zeigt das Schlachtfeld von Düppel als bereits umfassend touristisch erschlossenes Gelände und als von der nationalen deutschen Meisternarration geprägten und diese wiederum tradierenden Gedächtnisort: »Zum Denkmal hin zweigt links der Chaussee der neuen Wirtschaft ›Düppelhöh‹ gegenüber ein kurzer Seitenweg ab. Das Denkmal liegt 71 Meter über dem Meeresspiegel und hat eine Höhe von 22 Metern. Es ist in gotischem Stil aus Sandstein erbaut […] und mit schönen Reliefs, welche Szenen aus der Belagerung und der Erstürmung darstellen, sowie mit vier Kolossalfiguren [eine davon Pionier Klinke, T.A./C.B.] von Soldaten der verschiedenen Truppengattungen geschmückt. Die Spitze krönt das Düppelkreuz. […] Der Blick, welchen man von hier aus genießt […] ist einer der schönsten weit und breit […] Noch größer ist der Gesichtskreis vom Aussichtsturm der Wirtschaft ›Düppelhöh‹. […] Verfolgt man vom Denkmal aus die Chaussee weiter gen Westen, so gelangt man in 5 bis 10 Minuten zu dem an die Chaussee grenzenden Kriegerfriedhof, wo in vier Massengräbern 28 preußische und 333 dänische tapfere Düppelkämpfer zur friedlichen Ruhe gebettet liegen. […] Den Gräbern gegenüber die

48 Rudolf Herzog: Die Düppel-Stürmer. In: Wir sterben nicht! Lieder und Balladen von Rudolf Herzog. Stuttgart 1913. 49 Zum Folgenden vgl. vor allem Adriansen, Metamorphosen (Anm. 7), 23 ff.

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alte Gastwirtschaft ›Düppelhöh‹ (alkoholfrei) mit vielen Erinnerungsgegenständen von 1864.«50 Zwei Wirtschaften versorgten die durstigen Touristen, ein kleines Museum sorgte für die an hinterlassene Gegenstände anknüpfbare Erinnerung und das Denkmal ermöglichte die Einfügung dieser Erinnerung in eine nationale Sinnmatrix. Auffällig ist aber auch der Mangel an deutsch-nationalem Pathos. Das 1872 eingeweihte neugotische, in Form einer hoch aufragenden Fiale gehalten Denkmal bezieht sich zwar in seiner Gestaltung auf die seit den Befreiungskriegen irrig als »deutsch« geltende Gotik und gibt damit ein dezentes nationalistisches Statement ab. Es verzichtet aber – vermutlich in Rücksichtnahme der noch unsicheren neuen Herren über Schleswig gegenüber der dänischen Bevölkerungsmehrheit vor Ort – ansonsten auf jene Triumphgesten, Siegesgöttinnen, stolz die Schwingen spreizenden Adler und brüllende Löwen, die in der deutschen Denkmalsarchitektur zur Würdigung deutscher Siege seit dem Krieg gegen Frankreich eigentlich schon in Mode waren.51 Ein weiteres Denkmal in fast identischer Gestaltung stand bei Arnekiel am Alsensund. Es erinnerte an den preußischen Übergang auf Alsen im Juni 1864.

Abb. 3: Das Düppeldenkmal, Postkarte, o. J. Privatbesitz

Und auch die Tapferkeit der 333 in drei Massengräbern beerdigten Dänen wird in den betont schlichten Grabmonumenten herausgestellt. Diese Grab50 Neuer Führer durch Alsen und Sundewitt. Sonderburg 1909. 31 ff. 51 Vgl. Arand/Bunnenberg: Schlachtfeld Wörth (Anm. 2), 319 ff.

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monumente ließ das preußische Kriegsministerium bereits 1865 aufstellen.52 Die Anlage ist bis heute unverändert, wie ein Blick auf eine Karte der Anlage aus dem Jahr 1865 beweist, die die Anlage so zeigt, wie sie noch immer besucht werden kann:

Abb. 4: Der neue Begräbnisplatz bei den Düppler Höhen an der Chaussee. In: Friedrich Wilhelm Grosse: Beschreibung und Erläuterung zur Darstellung der Düppeler Schanzen. Altona o. J. [1865], Anhang.

Schlichte Einzelgräber aus schwarzem Gusseisen wurden auf dem Schlachtfeld für deutsche Offiziere angelegt, von denen die meisten allerdings auf den Kirchhöfen der umliegenden Ortschaften bestattet wurden. Weitere Monumente, die dem Schlachtfeld einen deutschen Anstrich geben sollten, waren der »Klinkehügel« unweit von Schanze II und der 1914 aufgestellte Gedenkstein in der Schanze X. Sie waren ebenfalls vergleichsweise schlicht gehalten Eindeutig triumphalistischer als die räumliche Gestaltung des lokalen Gedächtnisortes »Düppel« während der Zeit des deutschen Kaiserreichs war der seit der Herrschaft Kaiser Wilhelms II. (1859 – 1941) deutlicher erkennbare Versuch, die nationale Meisternarration auf regionaler Erinnerungsebene mit Denkmälern durchzusetzen, so etwa dem 1905 eingeweihten Bismarck-National-Denkmal auf dem Knivsberg bei Apenrade. Die 1914 aus Anlass des fünfzigsten Jahrestages der Schlacht in Sonderburg eingeweihte »Düppel-Gedächtnis-Ausstellung« jedoch versuchte wiederum, jeden Anschein von Überlegenheitsdünkel und Siegesjubel zu vermeiden.53 Die in den Schanzen im April und Juni des Jahres 1914 durchgeführten Gedenkfeiern in Anwesenheit des Prinzen Albert Wilhelm Heinrich von Preußen (1862 – 1929) sowie 2000 Veteranen waren hingegen im Ton Ausdruck jenes erst seit Wilhelm II. spezifisch deutschen Militarismus, wie er sich im Ersten Welt52 Stolz (Anm. 7), 114. 53 Vgl. Hans-Christian Pust: Die Düppel-Gedächtnisausstellung 1914 in Sonderburg. In: Grenzlandhefte 4 (2004), 267.

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krieg kurz darauf manifestieren sollte. Der hier übermütig formulierte Anspruch für die Zukunft sollte sich schon vier Jahre später als bitterer Irrtum erweisen: »Von den Düppelstürmern wollen wir lernen, dass es Mutlosigkeit nicht ist, was zum Sieg führt, sondern allein der alte preußische Glaube, dass Preußens Könige immer siegen und allewege den Sieg behalten. Dies mögen sich die gesagt sein lassen, die die Hand noch immer ausgestreckt halten nach unserem Land, die von Düppel nichts gelernt haben.«54

»Danisierung« nach 1920 Nachdem Düppel infolge der Abstimmung von 1920 dänisch geworden war, machten sich die neuen Besitzer daran, den Raum nun in ihrem Sinne umzugestalten, ihn zu »danisieren«.55 Die an der Chaussee runter nach Sonderburg liegende Düppeler Mühle, in den Kämpfen von 1848 bis 1849 und 1864 Aussichtspunkt der dänischen Truppen und von den Preußen mehrfach zerstört, wurde nun, wie schon 1877 von Holger Drachmann gefordert, ein dänisches Symbol von nationaler Bedeutung. Die Feier aus Anlass der »Wiedervereinigung« vom 11. Juli 1920 wurde in genau jener Schanze gefeiert, in der sechs Jahre zuvor die markige deutsche Feier stattgefunden hatte. Auch die dänischen Redner sparten nicht mit nationalistischem Pathos: »Als der Kanonendonner verstummte, sang die Düppeler Lerche wiederum über der Flur, und so dänisch ist dieses Land und Volk hier unten, dass wir trotz des Wundervollen, das wir erleben, fühlen, dass unsere Begegnung hier auf der Düppeler Anhöhe genau so natürlich ist wie das Zwitschern des Vogels, der uns als Symbol für die dänische Volksseele gilt.«56 1924 wurde das Gelände um die Schanzen zum Nationalpark ernannt und damit zu einem Ort von überragendem nationalen Rang erhoben. Durch die Platzierung zahlreicher Gedenksteine für gefallene dänische Offiziere auf dem Schlachtfeld wurde dieses symbolisch in dänischen Besitz genommen. 1936 wurde weiterhin ein Denkmal für die Freiwilligen aus den nordischen Ländern eingeweiht, die den Dänen vergeblich zur Hilfe geeilt waren. Die deutschen Denkmäler und Grabsteine wurden jedoch nicht angetastet.

54 Rede des schleswig-holsteinischen Oberpräsidenten Detlev von Bülow (1854 – 1926) vom 29. Juni 1914. Zitiert nach Adriansen: Metamorphosen (Anm. 7), 32. 55 Vgl. Adriansen, Metamorphosen (Anm. 7), 35. 56 Rede von Otto Graf Didrik Schack (1882 – 1949) am 11. Juli 1920. Zitiert nach Adriansen: Metamorphosen (Anm. 7), 33.

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Nach 1945 Hatte die deutsche Besetzung Dänemarks erstmal keine Folgen für die Düppeler Denkmallandschaft, zeigten sich die Folgen unmittelbar nach Kriegsende. Die deutschen Denkmäler in Düppel und Arnekiel wurden gesprengt, ebenso das Bismarck-National-Denkmal bei Apenrade, von dem bereits 1919 die bronzene Bismarckfigur nach Deutschland gebracht worden war. Die befreiten Dänen veranstalteten anschließend Wallfahrten ähnelnde Ausflüge zu den Trümmern der alten deutschen Monumente.57 Der Klinkehügel und das Denkmal in Schanze X wurden ebenfalls zerstört. Den Klinkehügel ließ das dänische Kriegsministerium allerdings schon 1949 wieder restaurieren.

Abb.5: Das 1945 zerstörte, 1949 wieder aufgebaute Klinkedenkmal an Schanze II. Foto privat 2011.

Die Zerstörung von Denkmälern auf neu gewonnenem Territorium findet sich immer wieder auf Schlachtfeldern. Sie kann spontan durch aufgebrachte Bürger, aber auch gezielt auf staatliche Anweisung hin erfolgen – wobei zu 57 Vgl. Adriansen, Denkmal und Dynamit (Anm. 7), 92 ff.

Der Gedächtnisort Düppel/Dybbøl und seine Entwicklung

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bemerken ist, dass hier der intendierte Charakter eines Denkmals oder der von den »neuen Herren« wahrgenommene Charakter desselben entscheidend dafür ist, ob es zerstört wird oder nicht. Anders als beispielsweise auf dem Schlachtfeld von Woerth, wo einige Denkmäler zerstört oder demoliert wurden, weil sie triumphalistisch waren,58 wurden die Denkmäler von 1864 zerstört, obwohl sie dies nicht wirklich waren. Mit dem Akt der Zerstörung wird aber immer auch der materielle Anknüpfungspunkt für die »Meisternarration« des Feindes zerstört, die der Etablierung einer neuen, eigenen Meisternarration im Wege steht. Der Gedächtnisort wird symbolisch »gereinigt« und in eigenen Besitz und damit auch in die eigene erinnerungs- und geschichtskulturelle Verfügungsmacht genommen.59 Dass das dänische Kriegsministerium bereits 1949 den »Klinkehügel« wiederherstellen ließ, ist daher eher ungewöhnlich und zeugt von einer besonderen Rücksichtnahme. 1992 erfolgte die Einweihung des schon erwähnten Geschichtszentrums »Historiecenter Dybbøl Banke«. Es stand ursprünglich noch ganz in der Tradition der dänischen Meisternarration von der kleinen Macht und ihrer ehrenhaften Niederlage, wie der Bürgermeister beim Spatenstich betonte: »der Ort, an dem wir die ehrenvollste Niederlage der dänischen Geschichte erlitten haben«.60 Ähnlich äußerten sich die bei der Ausschreibung für das Geschichtszentrum siegreichen Architekten in ihrem Entwurf: »Wie eine nationale Erinnerung an das Grauen des Krieges – an das apokalyptische Chaos, als Dänemark überrannt wurde – aber gleichzeitig ein Zeugnis von Mut, Stärke und Willen zum Überleben.«61 Indirekt blitzt hier die seit dem Ersten Weltkrieg traditionelle propagandistische Herabsetzung der Deutschen als alles wie eine barbarische Flut überrennende Hunnenhorde noch im Jahr 1992 wieder auf. Mittlerweile ist das Geschichtszentrum weitgehend auf dem aktuellen Stand der Museologie und historischen Forschung, die nationalistischen Töne sind deutlich gedämpft. Das Schlachtfeld zeigt sich heute gut und weitgehend objektiv durch mehrsprachige Erklärungstafeln erschlossen. Seit 1989 erinnert ein nüchterner Denkmalsstein an den ersten offiziellen Rotkreuz-Einsatz in einem Krieg, der bei Düppel durch zwei neutrale Beobachter vollzogen wurde. Sogar gemeinsame Kranzniederlegungen an den Gräbern durch deutsche und dänische Soldaten sind heute möglich, wenngleich sich die nationalen Narrationen von Düppel auf dänischer Seite seit ihrer Entstehung im Kern nicht wirklich verändert haben. Doch heute 58 Vgl. Arand/Bunnenberg: Schlachtfeld Woerth (Anm. 2). 59 Vgl. Winfried Speitkamp (Hrsg.): Denkmalsturz. Zur Konfliktgeschichte politischer Symbolik. Göttingen 2007. 60 Amtsbürgermeister Kresten Philipsen (1945 – 2011) 1990. Zitiert nach Adriansen: Metamorphosen (Anm. 7), 41. 61 Adriansen: Metamorphosen (Anm. 7), 39.

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spielen Kinder Fußball an den Gräbern und hängen keinen revanchistischen Gedanken mehr nach. Ob der kindliche Mangel an Revanchismus wirklich Ausdruck einer postnationalistischen Friedfertigkeit oder nur Ausdruck von Geschichtsvergessenheit ist, sei allerdings dahingestellt.

Abb. 6: Bolzplatz mit Grab zweier deutscher Krieger des Jahres 1864 an den Düppeler Schanzen. Foto privat 2010.

Schlussbetrachtungen Am Beispiel des Idstedt-Löwen in Flensburg lassen sich die Erinnerungskonjunkturen im Spannungsfeld von individueller, regional/lokaler, kollektiver und nationaler Erinnerung gut aufzeigen. Als durchaus hochfahrendes Symbol des Dänentums in einer Stadt mit großem deutschsprachigen Bevölkerungsanteil 1862 eingeweiht, wurde er schon 1864 von erregten deutschen Bürgern stark beschädigt, 1867 demontiert und 1868 ins Berliner Zeughaus verbracht. 1878 wurde er in Berlin in die preußische Hauptkadettenanstalt gebracht, wo er bis 1945 weitgehend unbeachtet herumstand. 1945 nun wurde der Idstedt-Löwe nach Kopenhagen ins dortige Zeughaus gebracht, wo er nun ebenfalls ein recht unspektakuläres Dasein führte. Eine Diskussion über die Rückführung des Löwen ins deutsche Flensburg wurde seit den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts immer wieder geführt, doch die deutsche Seite lehnte eine Rückführung stets ab. Im Jahr 2011 jedoch war die Erinnerung soweit von Emotionen

Der Gedächtnisort Düppel/Dybbøl und seine Entwicklung

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entlastet, dass die Rückführung des renovierten Löwen auf seinen ursprünglichen Standort, dem Alten Friedhof von Flensburg, mehrheitsfähig wurde. Unter Beteiligung zahlreicher Prominenter wurde der Löwe am 10. September 2011 feierlich enthüllt. Stellvertretend für die mit der Rückführung des Löwen verbundenen Hoffnungen sagte der dänische Prinz Joachim (*1969) bei der Einweihung: »Die Rückkehr des Löwen nach Flensburg ist Zeugnis einer neuen Zeit mit Frieden und Freundschaft zwischen Dänen und Deutschen.«62 Schlichter drückte es Museumsdirektor Michael Fuhr einige Wochen zuvor bei der Ankunft des Löwen in Flensburg aus: »Hier stehen Deutsche und Dänen zusammen und freuen sich.«63

Abb. 7: Das wechselvolle Schicksal des Idstedt-Löwen. Zusammenstellung: Christian Bunnenberg 2012

Allerdings steht diese vor allem deutsche Gelassenheit im Zusammenhang mit der eingangs für die nationale Ebene festgestellten deutschen Geschichtsvergessenheit im Kontext des Kriegs von 1864. Doch auch auf der lokalen und regionalen Ebene kommt dem deutsch-dänischen Krieg auf deutscher Seite nach 62 Zitiert nach: Schwäbische Zeitung, 11. 11. 2011. 63 Zitiert nach: Flensburger Tagblatt, 16. 08. 2011.

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zwei verlorenen Weltkriegen nur noch eine eher nachrangige Bedeutung zu, während die Bedeutung auf allen Ebenen in Dänemark bis heute überragend ist. Insgesamt zeigt die Entwicklung der Erinnerung an den Krieg von 1864 aber auch, dass sie zu einem nun hoffentlich friedlichen Ende gekommen ist. Die Geschichte des Idstedt-Löwen ist ein gutes Zeichen für eine erst seit kurzer Zeit gewonnene größere Lockerheit der mittel- und nordeuropäischen Völker im Umgang mit ihren nationalen Symbolen und Gedächtnisorten.

Abb. 8: Zusammenstellung der Entwicklung der Erinnerung an den Krieg von 1864 auf regionaler, lokaler und nationaler Ebene.

Jelena Steigerwald

Das Danewerk – ein historischer Erinnerungsort zwischen nationaler, regionaler und lokaler Aneignung

Die Region Schleswig/Sønderjylland war im 19. und 20. Jahrhundert stark umkämpft und wechselte mehrmals die nationalstaatliche Zugehörigkeit. Deswegen kam ihr im Zuge der dänischen sowie deutschen Nationalstaatsbildung insbesondere für die außerhalb der Region lebenden Menschen eine symbolische Bedeutung zu. Darüber hinaus wurde der regionale Geschichtsraum unter anderem durch die Gründung von regionalen und lokalen Vereinen und deren Handeln lokal und regional definiert. In diesem Kontext untersuche ich im Folgenden die verschiedenen Erinnerungspolitiken und Konflikte, die sich an einem zentralen topografischen Erinnerungsort der Region, dem Danewerk, kristallisieren. Ich benutze den Begriff Erinnerungsort, weil Bodendenkmäler, wie das Danewerk, zu einem Erinnerungsort werden können, wenn ihnen durch kollektive Gedächtnisse Bedeutungen zugemessen werden. In einer Region mit wechselnder Zugehörigkeit und bis ins 20. Jahrhundert ebenfalls vorhandenen gemischten Schleswiger Identitäten, die sich nicht eindeutig deutsch oder dänisch verorteten, müssen die Gruppengedächtnisse aber in ihrem sich ständig verändernden prozesshaften Charakter gesehen werden.1 Das Danewerk ist ein mittelalterlicher Wall, dessen Ursprung ins 7. Jahrhundert zurückreicht. Er liegt im Süden des Herzogtums Schleswig und verläuft von Hollingstedt im Westen nach Schleswig/Haithabu im Osten. Insgesamt besteht er aus zirka dreißig Kilometer Wallanlagen. Nach 1250 wurde das Danewerk nicht mehr gepflegt und verfiel. Erst im 19. Jahrhundert kam es im Zuge der deutsch-dänischen Kriege zu einer erneuten militärischen Nutzung. Der Fokus auf einen topografischen historischen Ort folgt zwei Annahmen: 1 Zum Begriff des kollektiven Gedächtnisses: Oliver Marchart: Das historisch-politische Gedächtnis. Für eine politische Theorie kollektiver Erinnerung. In: Christian Gerbel/Manfred Lechner/Dagmar C. G. Lorenz (Hrsg.): Transformationen gesellschaftlicher Erinnerung. Studien zur »Gedächtnisgeschichte« der Zweiten Republik. Wien 2005, 21 – 49; Astrid Erll: Medium des kollektiven Gedächtnisses – ein (erinnerungs-)kulturwissenschaftlicher Kompaktbegriff. In: Dies./Hanne Birk (Hrsg.): Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität, Historizität, Kulturspezifität (Media and cultural memory 1). Berlin 2004, 3 – 23.

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erstens, dass die Altertumskunde über die Erfindung von Traditionslinien und Identitätskonstrukten zur Schaffung von Identitäten beiträgt;2 und zweitens, dass die wissenschaftliche Basis und die politischen Konzepte, die dabei zur Anwendung kommen, durch Widerstände und unterschiedliche Interessen geprägt sind.3 Meine These ist, dass diese Identitätskonstruktionen über einen Ort vermittelt werden, sodass zum einen nationale Identitätskonstruktionen lokal verortet werden, in diesem Rahmen aber auch lokale oder regionale Identitäten in Bezug auf die Lokalität entstehen können. Das Denkmal Danewerk bietet damit die Möglichkeit zu untersuchen, wie unterschiedliche Interessensgruppen in einem gemeinsamen Raum miteinander verhandeln. In diesem Beitrag wird anhand von nationalen, regionalen und lokalen Akteuren chronologisch analysiert, wer das Danewerk in welchen Kontext setzte. Denn die Charakterisierung einer historischen Hinterlassenschaft als Erinnerungsort erlaubt es nicht, von dem Ort innewohnenden, objektiven überzeitlichen Eigenschaften zu sprechen. Erinnrungsorte müssen lesbar und (re)konstruiert, also für einen Identifikationsprozess aufbereitet werden, erst dann können sie als Mittel zur Konstruktion und Konstituierung von Identitäten dienen.4 Die Entstehung des Denkmals Danewerk im 19. Jahrhundert verlief organisatorisch von der Kopenhagener Altertumskommission über die regionale schleswig-holsteinische Altertumsgesellschaft in Kiel bis zum lokalen Schleswiger Altertumsverein. Welche Bedingungen, so lautet die Frage, musste das Danewerk erfüllen, um als Denkmal anerkannt zu werden, mit welchen Mitteln wurde dieser Prozess vorangetrieben und welche verschiedenen Gruppen nutzten im Laufe der Zeit das Danewerk als Mittel für ihre Interessen?

2 Alexander Gramsch: Eine kurze Geschichte des archäologischen Denkens in Deutschland (Online-Beiträge zur Ur- und Frühgeschichtlichen Archäologie 19). http://www.gko.unileipzig.de/fileadmin/user_upload/historisches_seminar/02urundfruehgeschichte/Online_Beitraege/OnlBei19.pdf (29. 08. 2013), 1 – 18. 3 Winfried Speitkamp: Die Verwaltung der Geschichte. Denkmalpflege und Staat in Deutschland 1871 – 1933 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 114). Göttingen 1996, 17. 4 Das Konzept der Erinnerungsorte stammt von Pierre Nora. Die »lieux de m¦moire« umfassen topografische Orte, aber auch Personen, Mythen und Symbole, mit deren Hilfe ein neues Identitätskonstrukt für Frankreich entstehen sollte. Vgl. Pierre Nora: Zwischen Geschichte und Gedächtnis (Kleine kulturwissenschaftliche Bibliothek 16). Berlin 1990. Ich beziehe mich auf topografische historische Erinnerungsorte, an denen Aushandlungsprozesse um kulturelle Hegemonie sichtbar werden. Die besondere Wirksamkeit der topografischen Erinnerungsorte besteht in der Markierung des öffentlichen Raumes und in ihrer Authentizität. Ich benutze den Begriff deswegen im Sinne von Inge Adriansen/Per Bak Jensen: Erindringssteder i Danmark. Monumenter, mindesmærker og mødesteder (Skrifter fra Museum Sønderjylland 4). København 2010.

Das Danewerk – ein historischer Erinnerungsort

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Die Denkmalpflege als Geburtshelfer des Erinnerungsortes – die königliche Altertumskommission in Kopenhagen Als erste Institution staatlicher Denkmalpflege entstand am 22. Mai 1807 die »Königliche Kommission für die Aufbewahrung von Altertümern« in Kopenhagen.5 Sie sollte die Monumente bewahren, sammeln, erforschen und, etwa durch Ausstellungen, der Öffentlichkeit bekannt machen.6 Im Vordergrund stand die Idee einer zentralen Sammelstelle, die der Forschung dienen sollte. Sie unterschied sich damit deutlich von den früheren Kuriositätenkabinetten. Die Mitglieder der Kommission begannen ihre Bemühungen mit Fragebögen, die sie im ganzen Land an Kirchenbedienstete versandten, um Erkundigungen über Denkmäler einzuholen. Diese Fragebögen hatten den Zweck, Wissen zu sammeln. Sie trugen aber auch dazu bei, öffentlich und auf lokaler Ebene bekannt zu machen, was als erhaltenswertes Denkmal galt. Mit diesen Fragebögen und ihrer Sammlung hatte die Kommission also ganz wesentlich dazu beigetragen, die Vorstellungen zu formen, was unter einem erhaltenswerten Denkmal anzusehen sei.7 Aus den daraus resultierenden Einsendungen erstellte die Kommission Schutzlisten. Im Herzogtum Schleswig wurden verschiedene Hügelgräber, Kircheninventare und die Überreste der Duburg unter Schutz gestellt.8 Erstaunlicherweise war das Danewerk nicht unter den Denkmälern, die als erhaltenswert eingestuft wurden, obwohl es auf eine lange Forschungstradition zurückblicken konnte;9 vermutlich lag es daran, dass es nicht unter den Einsendungen benannt wurde. Die Entdeckung des Danewerks für den Denkmalschutz erfolgte durch den dänischen Offizier Carl von Kindt (1793 – 1864), der in Schleswig stationiert war. Er schrieb an den Kopenhagener Museumsdirektor Christian Jürgensen Thomsen (1788 – 1865), er habe mit Verwunderung festgestellt, dass »unser 5 Kongelige Commission til Oldsagers Opbevaring. 6 Christian Adamsen/Vivi Jensen (Hrsg.): Danske præsters indberetninger til oldsagskommissionen af 1807. Bd 1. Højbjerg 1995, 9. 7 Die Fragen sind abgedruckt in: Ebd., 12 f. 8 Die Schutzliste von 1811 ist abgedruckt im Ersten Bericht der königl. Schleswig-HolsteinLauenburgischen Gesellschaft für die Sammlung und Erhaltung vaterländischer Alterthümer. Kiel 1836, 16 f. 9 Bereits 1643 schrieb Ole Worms in seinem Werk »Danicorum Monumentorum« über den dänischen Wall und seine Erbauung unter der Königin Thyra (870 – 935). Er verglich den Schanzwall in seiner Bedeutung mit dem Grenzwall der römischen Provinz Britannien und der chinesischen Mauer. Der Wert des Monumentes lag für ihn darin, Zeugnis von vergangener Schaffenskraft zu sein (Ole Worm: Danicorum Monumentorum Libri Sex. E spissis antiquitatum tenebris et in Dania ac Norvegia extantibus ruderibus eruti. Hafniae 1643, 59); 1808 schrieb Erich C. Werlauff, ein Mitglied der Kommission seit 1810, über dieses frühe Vorbild (Erich C. Werlauff: Bemærkninger i Anledning af den, til de nordiske Oldsagers Samling og Opbevaring nedsatte Commission. København 1808).

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wichtigstes und ehrwürdigstes Altertumsdenkmal« – das Danewerk – sich nicht unter den von der Kommission geschützten Denkmälern befände.10 Er beobachtete die fortwährende Zerstörung des Danewerkes und suchte deswegen Hilfe bei Thomsen. Seine Ideen und Vorstellungen zur Erhaltung von Denkmälern sind nachweislich durch die veröffentlichten Schriften der Kopenhagener Kommission beeinflusst worden, die Kindt in Schleswig las. Thomsen konnte ihm aus Kopenhagen allerdings kaum weiterhelfen, da die Kommission über die Schutzlisten und die Bekanntmachung der Denkmäler hinaus keine Befugnisse hatte.

Die Gründung der Kieler Altertumsgesellschaft durch die Kopenhagener Kommission 1847 wurden als Nachfolger der Kopenhagener Kommission zwei Inspektoren für den Denkmalschutz ernannt, Museumsdirektor Thomsen und sein späterer Nachfolger Jens Jacob Asmussen Worsaae (1821 – 1885). Worsaae und Thomsen bemühten sich um eine Verbreitung der Denkmalschutzidee durch öffentliche Vorträge, Publikationen und Thomsens berühmte Museumsführungen in Kopenhagen.11 Ein weiterer entscheidender Punkt ihrer Bemühungen stellt die Förderung von regionalen Vereinsgründungen dar, wobei sie sich davon vor allem einen Zugriff auf die lokalen Altertümer erhofften, um diese nicht länger an private Sammler oder durch Zerstörung zu verlieren. Die lokalen Vereine wurden über Schenkungen und den Objekttausch mit dem Kopenhagener Museum aufgebaut und damit zugleich mit Thomsens wissenschaftlicher Methode bekannt gemacht. Von Anfang an stand diese regionale Erschließung allerdings in Konkurrenz zu der Idee einer Zentralisierung der Sammlung und Forschung in Kopenhagen. In den Herzogtümern entstand so 1834 auf Thomsens Vorschlag die »Königliche Schleswig-Holstein-Lauenburgische Gesellschaft für Sammlung und Erhaltung vaterländischer Alterthümer« (im Folgenden: Kieler Altertumsgesellschaft).12 Eine der treibenden Kräfte der Kieler Altertumsgesellschaft war bis 1845 der Kieler Rechtsprofessor Nicolaus Falck (1784 – 1850), der mit Thomsen im 10 Nationalmuseum Kopenhagen, Historisk-topografisk Arkiv, V 166 Fredningsforanstaltninger, Korrespondence fra Schleswig. Brief von Kindt an Thomsen, 20. 01. 1830. 11 Jørgen Jensen: Arkæologien. Da oldforskningen blev national. In: Palle Ove Christiansen (Hrsg.): Veje til danskheden. Bidrag til den moderne nationale selvforst”else (Folkemindesamlingens kulturstudier 8). København 2005, 15 – 31. 12 Zu den Verbindungen zwischen der Kopenhagener Kommission und der Kieler Altertumsgesellschaft siehe: Dagmar Unverhau: Das Danewerk 1842. Beschreibung und Aufmaß. Neumünster 1988, 26.

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schriftlichen Austausch stand. Er wollte Wertvolles und Bewährtes der Vergangenheit für die Zukunft bewahren. Sein geschichtliches Verständnis war dabei in die Forschungen zur Landesgeschichte eingebettet.13 Neben Falck, der bekanntlich die rechtswissenschaftlichen Argumente für eine eigenständige schleswig-holsteinische Staatlichkeit entwickelte, gehörten unter anderem der Professor für dänisches und schleswigsches Recht Christian Paulsen (1798 – 1854) und der dänische Lektor Professor Christian Flor (1792 – 1875) zum Vorstand. Beide engagierten sich im Gegensatz zu Falck für ein dänischsprachiges Schleswig und für den Verbleib im Dänischen Gesamtstaat.14 Auch die Kieler Altertumsgesellschaft entsandte 1836/37 einen Fragenkatalog, der dazu dienen sollte, »im Großen und Ganzen die Kunde der in unserem Lande vorhandenen Alterthümer möglichst zu vervollständigen, sowie die unversehrte Erhaltung und genaue Beschreibung derselben nach Kräften zu veranlassen«.15 Kindt begrüßte die Gründung der Kieler Altertumsgesellschaft und trat ihr 1835 bei. In seinem ersten Schreiben an deren Vorstand erläutert er auch gleich seine Motivation: »Da der Hauptzweck der Gesellschaft ist, die Denkmale der Vorzeit auf die Nachwelt zu bringen, so erlaube ich mir, gleich die geehrte Direction auf den Ruin unsers größten, berühmtesten Nationaldenkmals aufmerksam zu machen, dessen Erhaltung mir schon jahrelang im Sinn gelegen hat. Ich meine das Dänewerk. Es ist kaum zu glauben, wie dieses in den letzten 5, 6 Jahren abgenommen hat, denn es scheint eine wahre Manie unter den Bauern eingerissen zu seyn, überall Hand an dasselbe zu legen. Früher war es großenteils mit Busch bewachsen, dieser ist aber jetzt fast allenthalben ausgerodet worden und der Grund wird zum Pflügen benutzt!«16 Die Altertumsgesellschaft folgte Kindts Einschätzung. Auch für sie stellte das Danewerk »unser größtes und berühmtestes Alterthumsstück« dar.17 In den folgenden Jahren wurden die Bemühungen um den Schutz des Danewerkes eines der zentralen Themen der Kieler Altertumsgesellschaft, da es durch landwirtschaftliche Nutzung und das Ausbrechen von Steinen von Zerstörung bedroht 13 Ebd., 17. 14 Siehe dazu: Peter Thaler : Nikolaus Falck und Christian Paulsen. Parallelen und Widersprüche nationaler Identitätsbildung im 19. Jahrhundert. In: Grenzfriedenshefte 2 (2008), 93 – 106; Ulrike Gerken: »… um die Nationaleinheit zu begründen und zu befestigen …« Der Beitrag des Kieler Lektorats für Dänische Sprache und Literatur zur Identitätsstiftung im dänischen Gesamtstaat (1811 – 1848). Frankfurt/Main 2007. 15 Zweiter Bericht der königl. Schleswig-Holstein-Lauenburgischen Gesellschaft für die Sammlung und Erhaltung vaterländischer Alterthümer. Kiel 1837, 22 f. 16 Kindt an den Vorstand der Kieler Altertumsgesellschaft, 14. 03. 1835. Abgedruckt bei Unverhau (Anm. 12), 105. Kindt spricht hier ein Problem an, das durch die Neueinteilung des Landes nach der Aufhebung der Leibeigenschaft entstand. 17 Erster Bericht der königl. Schleswig-Holstein-Lauenburgischen Gesellschaft für die Sammlung und Erhaltung vaterländischer Alterthümer. Kiel 1836, 14.

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war.18 Sie forderten die Behörden auf, den Schutz des Danewerkes zu veranlassen, erhielten jedoch abweisende Antworten: So schrieb die königlich schleswigholsteinische Regierung auf Gottorf 1835 dem Vorstand der Kieler Altertumsgesellschaft, dass »diesem Überbleibsel des Alterthums keine Art von Hauptwerth beiwohnt«, weswegen sie einen Aufkauf nicht unterstützten.19

Von der königlichen Anerkennung des Danewerkes bis zu seiner Popularisierung Nachdem die Kieler Altertumsgesellschaft von der Regierung keine Unterstützung erhielt, wandte sie sich auf Kindts Vorschlag hin direkt an den dänischen König. Dessen Besuch am Danewerk 1840 führte zum ersten Erfolg der Erhaltungsbemühungen und damit auch zur Anerkennung als Denkmal. Er befahl, Teile des Danewerkes aufzukaufen und ermöglichte die nähere Untersuchung. Von 1841 bis 1844 konnten Kindt und sein Begleiter deswegen die ersten Vermessungen und Zeichnungen des Danewerkes vornehmen. Die Identifikation Christian VIII. (1786 – 1848) mit dem Danewerk ist allerdings nicht allein auf sein archäologisches Interesse zurückzuführen. Es ermöglichte ihm auch eine Verbindung zum regionalen Bürgertum und der Bevölkerung herzustellen, vermittelt über die gemeinsame, als heroisch konstruierte Vergangenheit eines Ortes. Denn schon zuvor hatte das Danewerk für das dänische national-liberale Bürgertum eine symbolische Bedeutung, die vor allem auf den Thyra-Mythos zurückzuführen ist. Der populäre Mythos besagt, dass die listige dänische Königin Thyra (um 870-um 935) den Bau eines Schutzwalles gegen den Sachsenkönig veranlasst habe, um damit ihr Volk zu schützen.20 1838 wurde das Danewerk namensgebend für die Zeitung der dänischen Sprachbewegung in Schleswig und stand für den wehrhaften Geist derjenigen, die es erbaut hatten. Außerdem nahm es in der Debatte um die Zugehörigkeit von Schleswig einen zentralen Platz ein, weil es im Süden Schleswigs lag und leicht zur Legitimation der dänischen Grenze herangezogen werden konnte.21 18 In den Leistungen, die zur Erhaltung und Erforschung des Danewerkes einvernehmlich und ohne nationale Gegensätze erbracht wurden, kann nach Unverhau eine Form des Staatspatriotismus gesehen werden, da sie von einzelnen Personen geleistet wurde, »deren Parteinahme außerhalb des Rahmens der Altertumsgesellschaft manifest war«. Unverhau (Anm. 12), 14. 19 Antwortschreiben vom 27. 10. 1835, abgedruckt bei Unverhau (Anm. 12), 114 f., 115. 20 Diese Geschichte hat insofern einen wahren Kern, als das Königin Thyra eine historische Person ist, die 960 starb. Das kann durch die Jellinge Steine nachgewiesen werden. Die Überlieferung der Geschichte erfolgte durch Saxo und Sven Aggesen (Anne Katrine Gjerløff: Fejder om fortiden. Sønderborg 2007, 46). 21 In diesem Sinne ist auch die erste Publikation über das Danewerk von Worsaae zu sehen. Sie

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In den 1840er-Jahren verschärfte sich die Lage zwischen den Herzogtümern und der Regierung in Kopenhagen. Die schleswig-holsteinische Bewegung forderte mehr Autonomie, während die Kopenhagener den Autonomiebestrebungen mit einer verstärkten Danisierung begegneten. Die Konflikte führten zur Schwächung der Kieler Altertumsgesellschaft, weil sich führende Mitglieder auf der einen oder anderen Seite positionierten und daher die gesamtstaatliche Idee nicht mehr tragfähig war. Aufgrund des Schleswig-Holsteinischen Krieges 1848 bis 1851 wurden die Kartierungen und Beschreibungen, die Kindt und sein Begleiter angefertigt hatten, niemals publiziert. Der Vorstand der Kieler Altertumsgesellschaft brach 1845 auseinander. Schließlich übernahm der Schleswig-Holsteiner Karl Müllenhoff (1818 – 1884) den Vorsitz zusammen mit dem Volksdichter Klaus Groth (1819 – 1899). Müllenhoff war Professor für deutsche Sprache, Literatur und Mythologie an der Universität Kiel und nicht an archäologischen Forschungen interessiert.22 Die Gründung der königlichen Sammlung Nordischer Alterthümer in Flensburg, als Gegengewicht zur Kieler Altertumsgesellschaft, und der Entzug der Zuständigkeit für Schleswig 1854 trugen dazu bei, dass in der Folgezeit kein wissenschaftlicher Austausch zwischen Kopenhagen und Kiel mehr stattfand.23 Stattdessen versuchte Müllenhoff, die Kieler Altertumsgesellschaft und die Sammlung stärker an die Universität Kiel zu binden, da sie fast mittellos dastand.24 Die erste regionale schleswig-holsteinische Identifizierung mit dem Danewerk über die Kieler Altertumsgesellschaft ging damit nach 1851 verloren. Im Krieg bekam das Danewerk eine militärische strategische Bedeutung für Dänemark und im August und September 1850 wurde es als Sperrlinie mit einer Reihe Schanzen ausgebaut, die allerdings nicht mehr zum Einsatz kamen.25 Bereits während des

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erschien 1848 in der Reihe der antislesvigholsteinischen Fragmente und war damit klar politisch orientiert. Er nutzte das Danewerk um den dänischen Anspruch auf das Gebiet zu verdeutlichen – spricht allerdings der deutschsprachigen Forschung die Übertragung von vorhistorischer Bewohnerschaft und heutigem Besitz ab (Jens Jacob Asmussen Worsaae: Danevirke. Antislesvigholstenske fragmenter 5. København 1848). Wir verdanken ihm allerdings die Überlieferung einer schleswig-holsteinischen Lokalsage zum Danewerk. Darin ist die schwarze Margarethe, eine dänische Königin die Erbauerin des Danewerkes. Das macht deutlich, dass es auf regionaler Ebene verschiedene Aneignungen des Danewerkes gab. Karl Müllenhoff (Hrsg.): Sagen, Märchen und Lieder der Herzogthümer Schleswig, Holstein und Lauenburg. 4. Aufl. Kiel 1910 (1845), 18 f. Zur Flensburger Sammlung siehe: Stine Wiell: Flensborgsamlingen 1852 – 1864. Flensborg 1997. Landesarchiv Schleswig-Holstein (LASH), Abt. 47.1 (Kuratorium der Christian-AlbrechtsUniversität Kiel), Nr. 218. Eingabe um Mittel von Prof. Müllenhoff an das Kuratorium der Universität vom 23. 03. 1851. Inge Adriansen: Nationale Symboler i Det Danske Rige 1830 – 2000. København 2003, 197 f.

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Krieges lebte die symbolische Bedeutung des Danewerkes als nordischer Grenzwall wieder auf.26 Nach dem Krieg bemühte sich die dänische Forschung um das Danewerk. Das verdeutlicht ein Briefwechsel des Schleswiger Domschullehrers Jes Nielsen Schmidt (1827 – 1852) mit Worsaae, dem Inspektor für Denkmalschutz in Kopenhagen. Schmidt war Anfang der 1850er-Jahre damit beschäftigt, das Danewerk zu zeichnen, starb jedoch kurze Zeit später, sodass er seine Arbeit nicht zu Ende bringen konnte.27 Diese lokale Erforschung des Danewerks führte der Schleswiger Priester Christian C. Lorenzen (1829 – 1887) fort. Er veröffentlichte 1859 eine Arbeit über das Danewerk.28 In einer vier Jahre später erschienenen Abhandlung berichtete er, dass er von mehreren Seiten aufgefordert worden sei, eine Beschreibung zu liefern, die verständlich für den gemeinen Mann sei, da das Danewerk in den letzten Jahren ein ständiger Gesprächsgegenstand gewesen sei.29 Auch die Arbeit des Malers Lorenz Frölich (1820 – 1908), dessen Bild über den Bau des Danewerkes durch die Königin Thyra 1855 als Lithografie von dem dänischen Kunstverein Flensburg gedruckt wurde, zeigt, dass sich das Danewerk auf regionaler, vor allem dänischsprachiger Ebene großer Beliebtheit erfreute.30 1861 kam es während erneuter Schanzarbeiten am Danewerk auch zu archäologischen Untersuchungen, die unter der Leitung von Worsaae standen und vom Zeichner Jacob Kornerup (1825 – 1913) dokumentiert wurden. Dabei handelte es sich zwar nicht um eine Forschungsgrabung, aber es konnten erstmals die Profile und der Aufbau des Walles dokumentiert werden.31 Der militärische Ausbau des Danewerkes, der entgegen des Rates der Militärkommission entschieden wurde, zeigt, wie stark in Kreisen der dänischen Regierung die Vorstellung einer Grenzbefestigung mit dem Erinnerungsort Danewerk verbunden war. Die Niederlage der Dänen im Deutsch-Dänischen Krieg 1864, die mit dem Rückzug vom Danewerk begann, unterstützte diese Vorstellung zusätzlich. General Christian Julius de Mesa (1792 – 1865), der, um einer drohenden preußischen Umfassung zu entgehen, den Rückzug befahl, wurde aufgrund dessen entlassen. Die nationale ideologische Erzählung, die sich mit dem Danewerk verband, war so mächtig geworden, dass sie den Blick auf die regionalen Begebenheiten und die Realität vor Ort verbaute. Nach 1864 symbolisierte 26 Ebd., 198. 27 Nationalmuseum Kopenhagen, Historisk-topografisk Arkiv, V 166 Fredningsforanstaltninger, Korrespondence fra Schleswig. Briefwechsel von Schmidt mit dem Nationalmuseum vom 06. 04. 1852 bis 23. 12. 1852. 28 Chr. C. Lorenzen: De Sydslesvigske Befæstningsværker i og fra oldtiden og middelalderen. In: Annaler for Nordisk Oldkyndigheid og Historie (1859), 3 – 125. 29 Chr. C. Lorenzen: Dannevirke og Omegn. Haderslev 1863. 30 Adriansen (Anm. 25), 201. 31 Nationalmuseum Kopenhagen, Historisk-topografisk Arkiv, Amt Schleswig, Hadeby Slesvig Bericht von Kornerup über die Grabungen 02. 08. 1861 an das Nationalmuseum, Abschrift.

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das Danewerk für Dänemark die historische Grenze und zugleich das verlorene Schleswig.32

Das Danewerk in der preußischen Provinz 1867 wurde Schleswig-Holstein zur preußischen Provinz. Auf die Fürsprache des von Preußen 1866 eingesetzten Oberpräsidenten der Provinz SchleswigHolstein Carl von Scheel-Plessen (1811 – 1892) ernannte man Heinrich Handelmann (1827 – 1891), der seit 1861 im Vorstand des Altertumsvereins tätig war, zum Provinzialkonservator. Da die Schleswig-Holsteiner die Preußen zunächst jedoch nicht als Befreier, sondern als Besatzer erlebten, führte die Ernennung Handelmanns in den folgenden Jahren zu einem Zerwürfnis mit den Professoren an der Universität Kiel, da diese sich großteils gegen die preußische Vereinnahmung engagierten. Die preußischen Behörden regten mehrfach an, ein Inventar aller Kunst- und Altertumsdenkmäler zu erstellen.33 Diese Initiativen stießen jedoch in den folgenden Jahren auf Ablehnung und konnten nicht verwirklicht werden.34 Durch die Ernennung eines Provinzialkonservators wurde augenscheinlich versucht, eine Anbindung an das Bürgertum und die akademische Forschung zu etablieren. Handelmann galt bei den Kieler Professoren aber als preußisch gesinnt und hatte deswegen mit seinen Bemühungen zunächst wenig Erfolg.35 Handelmann setzte sich nachweisbar seit Anfang der 1870er-Jahre für den Erhalt von Denkmälern ein und ging dazu von den dänischen Sicherungsverfügungen von 1811 aus. Er erstellte systematische Verzeichnisse über den Erhalt, außerdem kümmerte er sich um eine Inventarisierung der noch vorhandenen kirchlichen und heidnischen Denkmäler. Er erwähnte dabei auch, dass »der größte Theil des Dannewerkes (…) bald nach dem Wiener Frieden wieder an Private veräußert« worden sei.36 32 Siehe dazu Jørgen Kühl/Nis Hardt: Danevirke. Nordens største fortidsminde. Herning 1999, 105 ff.; Adriansen (Anm. 25), 198. 33 Zu den Denkmalschutzinitiativen siehe: Heinrich von Dehn-Rotfelser/ Wilhelm Lotz: Die Baudenkmäler im Regierungsbezirk Cassel. Cassel 1870; sowie LASH, Abt. 309 (Regierung zu Schleswig), Nr. 24814. 34 LASH, Abt. 301 (Oberpräsidium und Provinzialrat der Provinz Schleswig-Holstein), Nr. 1191. Schreiben des Direktoriums des Schleswig-Holsteinischen Kunstvereins an den königlichen Oberpräsidenten Scheel-Plessen vom 09. 12. 1876. 35 Die schleswig-holsteinische Geschichtsgesellschaft nannte ihn in einem Atemzug mit Heinrich von Treitschke (1834 – 1896), der bereits vor 1864 in seiner Schrift eine Antischleswig-holsteinische Position eingenommen hatte (Volquart Pauls: Hundert Jahre Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte. Neumünster 1930, 129). 36 Heinrich Handelmann: Verzeichnis der durch die Verfügung vom 5. Februar 1811 und sonst

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Die Kieler Altertumsgesellschaft löste sich schließlich 1873 aufgrund mangelnder Aktivität ihrer Mitglieder auf, die der Universitätsbibliothek Kiel angeschlossene Sammlung (das Schleswig-Holsteinische Museum vaterländischer Alterthümer zu Kiel) bestand aber weiterhin. Erst 1877 gelang es Johanna Mestorf37 (1828 – 1909) und Handelmann mit der Gründung des Anthropologischen Vereins, sich und das Kieler Museum wissenschaftlich zu etablieren.38 Denn der Anthropologische Verein war deutschlandweit organisiert und vernetzt. Außerdem konnte mit Hilfe von Johanna Mestorf, die Handelmann ans Kieler Museum geholt hatte, der Kontakt zur skandinavischen Forschung wieder aufgebaut werden.39 Zudem verhalf der Aufbau eines Netzwerkes mit örtlichen Vertrauensmännern, den sogenannten Altertumspflegern, die Interessen des Museums auch lokal zu verankern.40 Ende der 1870er-Jahre entstanden parallel zum Aufschwung des Kieler Museums verschiedene Vereine auf lokaler Ebene. In der Stadt Schleswig gründete sich 1879 ein »Verein für die Sammlung und Konservirung vaterländischer Alterthümer«. Leider ist über diesen Verein und seine Tätigkeit bis zur Auflösung 1889 nur bekannt, dass er über die Sammlung von Anfang an institutionell mit der Stadt Schleswig verbunden war.41 Aus dem Bericht des Nachfolgevereins, der sich 1903 gründete, geht hervor, dass der Verein eine kleine Sammlung

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sichergestellten Alterthumsdenkmälern s. w. d. a. in Schleswig-Holstein, und deren amtlicher Befund im Jahre 1870. In: Zeitschrift der Gesellschaft für die Geschichte der Herzogthümer Schleswig, Holstein und Lauenburg 2 (1872), 89 – 105, 87. Zu Johanna Mestorf siehe: Dagmar Unverhau: »Möchte nun unser Hedeby vor unseren Blicken erstehen«. Johanna Mestorf und Kustoden. In: Klaus Brandt/Michael Müller-Wille/ Christian Radtke (Hrsg.): Haithabu und die frühe Stadtentwicklung im nördlichen Europa (Schriften des Archäologischen Landesmuseums 8). Neumünster 2002, 11 – 42; Julia K. Koch/Eva-Maria Mertens (Hrsg.): Eine Dame zwischen 500 Herren: Johanna Mestorf. Werk und Wirkung. Internationales Symposium Kiel. Münster 2002. Die Gründung des Anthropologischen Vereins erfolgte nach Mestorfs Angaben gegen den Willen von Handelmann. Johanna Mestorf: Handelmann. In: Allgemeine Deutsche Biographie. Berlin 1971 (Neudruck von 1904). Bd. 49, 748 f., 748. Handelmann hatte auch nachweislich fachlichen Kontakt zu seinen dänischen Kollegen Engelhardt und Worsaae, so schickte ihm Worsaae ein signiertes Exemplar seines Werkes »Om Bevaringen af de fædrelandske Oldsager og Mindesmærker i Danmark«, erschienen 1877 in: Aarbøger for Nordisk Oldkyndighed og Historie, 1 – 54. Mit Engelhardt tauschte er 1881 zumindest einen Brief über fachliche Aufsätze aus. Siehe das Schreiben vom 09. 05. 1881. Schleswig-holsteinische Landesbibliothek, Handschriftenabteilung (Briefe an Handelmann) Nr. 52/1954. Die Pfleger waren die örtlichen Vertreter und Vertrauensmänner für das Kieler Museum. Geschäftsanweisung der von dem Anthropologischen Verein in Schleswig-Holstein erwählten Pfleger für Alterthums- und Völkerkunde. In: Mittheilungen des Anthropologischen Vereins in Schleswig-Holstein 1, 1879/1880 (1888), 28 ff.. Gemeinschaftsarchiv des Kreises Schleswig-Flensburg und der Stadt Schleswig (GA SLFL), Abt. 5 (Altertumsverein Schriften), Nr. 183. Statuten des Vereins für die Sammlung und Konservirung vaterländischer Alterthümer in der Stadt Schleswig. Schleswig 1879.

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hinterließ. Ob er sich auch mit dem Danewerk beschäftigte, ist nicht nachzuweisen.42 Handelmann veröffentlichte 1881 und 1883 zwei Artikel, die sich mit dem Danewerk beschäftigen.43In seiner Abhandlung über das Danewerk von 1883 erwähnt er, dass er sich bereits seit Jahren mit diesem beschäftigt habe. Außerdem verwarf er die bisherige Interpretation, dass es sich bei dem Danewerk um eine nationale Grenzbefestigung gehandelt habe, da nach seiner Ansicht seit dem Krieg von 1864 bewiesen sei, dass eine so ausgedehnte Stellung wie das Danewerk nicht gehalten werden könne.44 Der Neubeginn der Forschungen erfolgte aber erst 1897, nachdem der Direktor des Dänischen Nationalmuseums in Kopenhagen, Sophus Müller (1846 – 1934), eine neue Interpretation zum Danewerk vorgelegt hatte.45 Seine Interpretation des östlichen Halbkreiswalles, der auch Oldenburg genannt wurde, als Ort der ursprünglichen Stadt Hedeby (oder Haithabu) in dem Buch Vor Oldtid, wurde in Kiel sofort rezipiert und vom Kustos des Kieler Museums Wilhelm Splieth (1862 – 1901) in einem Vortrag besprochen. Er nutzte dafür das Forum des Anthropologischen Vereins und machte das regionale Denkmal damit zu einem nationalen deutschen Anliegen. Daraufhin wandte sich der Vorstand der deutschen Anthropologischen Gesellschaft 1897 an den Oberpräsidenten der Provinz Schleswig-Holstein und bat um den Ankauf und Schutz des Danewerkes, da dieses »wie der limes romanus ein allgemeines Interesse beanspruchen darf und die Fürsorge der dazu Berufenen verdient«.46 Dieser Bezug auf den Limes kam von Johanna Mestorf, die in einem Brief an den schwedischen Archäologen Oscar Montelius (1843 – 1921) es als »glücklichen Gedanken« bezeichnete, das Danewerk als »… ›Limes‹ im Norden dem ›Limes‹ im Süden gegenüberzustellen«.47 Der Schleswiger Oberpräsident wurde daraufhin tätig und holte Erkundigungen ein, in wessen Besitz sich das Danewerk befände und was ein Ankauf kosten würde.48 Am 8. Juni 1899 erfolgte eine zweite Eingabe an den Oberprä42 GA SLFL, Abt. 5 (Altertumsverein Schriften), Nr. 183. Erster Jahresbericht des Alterthumsvereins für Schleswig und Umgegend. Schleswig 1905. 43 Heinrich Handelmann: Ueber das Dannewerk. In: Zeitschrift der Gesellschaft für SchleswigHolstein-Lauenburgische Geschichte 13 (1883), 1; Ders.: Vorgeschichtliche Befestigungen. In: Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holstein-Lauenburgische Geschichte 10 (1881), 1. 44 Ebd., Bd. 13 (1883), 5 f. 45 Sophus Müller : Vor Oldtid. Danmarks forhistoriske archæologi. København 1897. Sophus Müller war seit 1892 der Nachfolger Worsaaes. 46 LASH, Abt. 301 (Oberpräsidium und Provinzialrat der Provinz Schleswig-Holstein), Nr. 5513. Schreiben vom 05. 11. 1897. 47 Brief von Mestorf an Oscar Montelius, 30. 08. 1887. Zitiert nach Unverhau (Anm. 37), 14. 48 LASH, Abt. 301 (Oberpräsidium und Provinzialrat der Provinz Schleswig-Holstein),

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sidenten von mehreren Kieler Professoren: Die Würdigung des Danewerkes in Dänemark durch das kürzlich auch auf Deutsch erschienene Buch des Direktors des Kopenhagener Museums habe sie dazu veranlasst, das Bauwerk über Pfingsten gemeinsam zu besichtigen, wobei sie Gelegenheit hatten, sich vom schlechten Zustand desselben zu überzeugen.49 Um die Bedeutung des Danewerkes zu erhöhen, wurde auch versucht, Kaiser Wilhelm II. (1859 – 1941) auf diese regionale Besonderheit hinzuweisen. Bereits am 31. Oktober 1900 konnte der Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten an den Oberpräsidenten in Schleswig melden, dass sie um eine »allerhöchste Ermächtigung« nachsuchten, um die Eigentümer des Danewerkwalles und der Oldenburg zu verpflichten, sie nur noch als Viehweide zu benutzen.50 Auch die Zeitungen berichteten nun ausführlich über die »Erhaltung der Oldenburg«.51 Diese Eigentumsbeschränkungen wurden schließlich 1903 für den östlichen Teil des Danewerkes und die Oldenburg umgesetzt.52 1900 begannen die Ausgrabungen am Danewerk unter der Leitung des Kieler Museums. Kustos Splieth konzentrierte die Forschungen auf den Innenkreis der Oldenburg um die Haithabu-These von Sophus Müller zu belegen. In den ersten Jahren unterstützte der anthropologische Verein die Grabungen finanziell, danach übernahm der Staat die Kosten. Aus den Briefwechseln zwischen Splieth, seinem Nachfolger Friedrich Knorr (1872 – 1936) und der Kieler Museumsdirektorin Johanna Mestorf geht hervor, dass sie sich sehr um die lokalen Eliten bemühten, um diese für die weiteren Forschungen am Danewerk zu interessieren und damit die Denkmalschutzbestimmungen durchzusetzen.53 Das Bemerkenswerte an dieser Grabung ist, dass sie nicht nur von Sophus Müller angeregt wurde, sondern dass ihm selbst auch eigene Forschungen am Danewerk erlaubt wurden. So hatte das Kieler Museum zwar die Leitung inne; die Direktorin Johanna Mestorf legte jedoch sehr großen Wert darauf, dass Müller und sein Kollege Carl Neergaard (1869 – 1946) helfend zur Seite standen.54 Splieth und auch sein Nachfolger Knorr lernten außerdem von den Dänen

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Nr. 5513. Königlicher Meliorations-Baubeamter Timmermann für die Provinz SchleswigHolstein an den Oberpräsidenten, 28. 1. 1898. Ebd. Abschrift eines Schreibens von Dr. Gering et al. an den Oberpräsidenten, 8. Juni 1899. Ebd. Schreiben des Ministers der geistlichen, Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten an den Oberpräsidenten, 31. 10. 1900. Norddeutsche Allgemeine Zeitung, 24. 05. 1900; Schleswiger Nachrichten, 28. 05. 1900, 07. 09. 1900. Nationalmuseum Kopenhagen, Historisk-topografisk Arkiv, Amt Schleswig. Bericht aus dem Provinzlandtag, März 1907, Abschrift. Archiv des Archäologischen Landesmuseums Schloss Gottorf. Haithabu Grabungsdokumentation, Akten 1900, 1902, 1905 und 1906. Briefe von Knorr an Mestorf, 06. 05. 1900, 28. 10. 1902, 22. 09. 1905, 17. 09. 1906. Ebd., Akte 1901. Siehe Briefe von Splieth an Mestorf, 30. 12. 1900, und von Knorr an Mestorf, 02. 09. 1901.

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das Handwerkszeug.55 Dass Müller und Neergaard sich ausführlich mit dem Danewerk beschäftigten, wird durch ihre 1903 erschienene Abhandlung Danevirke. archæologisk undersøgt, beskrevet og tydet deutlich, die sich auf eigene Begehungen und Forschungen anhand schriftlicher Quellen stützte.56 Bereits im ersten Satz heben sie hervor, dass kein anderes Denkmal auf diese Weise in ältester und jüngster Zeit mit dem Wohl und Weh des Volkes verbunden gewesen sei.57 Hier kommt zum Ausdruck, dass durch den Krieg und die Niederlage auf dänischer Seite eine erneuerte Verbindung mit dem vorgeschichtlichen Denkmal entstand. Als weiterer Faktor für die fortwährende Anziehungskraft wird die schwierige und spannende Suche nach der Funktion des Werkes genannt. Dass ausgerechnet die dänische Forschung anerkannte Ergebnisse hervorbrachte, kann als starkes Antriebsmoment für die regionalen Akteure gelten. Sie wurden darin bestärkt, dass ihr lokales Monument zum einen besonders wertvoll für den gesamten Norden sei, zum anderen, dass es erhaltenswert und noch lange nicht erforscht sei. Außerdem konnte unter Hinweis auf die dänische Forschung auch eine Aufforderung an die nationalen Geldgeber ergehen, sodass die Konkurrenz sich in diesem Falle regional als sehr fruchtbar auswirkte

Die Popularisierung des Danewerkes auf lokaler Ebene: der Danewerk-Reiseführer und der Schleswiger Altertumsverein Der Weg in die breite Öffentlichkeit gelang durch die seit 1903 erschienen Reiseführer über das Danewerk. Die Autoren waren zwei Schleswiger : der Bildhauer Carl Sünksen (1859 – 1914) und der Heimatforscher Heinrich Philippsen (1858 – 1936), der zu den ehrenamtlichen Altertumspflegern des Kieler Museums gehörte. Auf dem Titelblatt der 1903 zweisprachig (deutsch und dänisch) herausgegebenen Ausgabe ist im Vordergrund das dänische Denkmal, das auf den dänischen Schanzen für die Soldaten der Osterschlacht von 1848 aufgestellt worden war, abgebildet. Damit wurde das Danewerk auch für das deutsche Publikum in Verbindung mit den Kriegen von 1848 und 1864 gebracht. Das Danewerk wird von ihnen als »bedeutendste Vertheidigungslinie aus alter Zeit in unserem Norden«58 bezeichnet und die Verfasser erhofften sich, dass sie mit ihrem Werk zu einer größeren Beachtung durch die Allgemeinheit beitragen

55 Siehe dazu auch Unverhau (Anm. 37), 16 f.. 56 Sophus Müller/Carl Neergaard: Danevirke. archæologisk undersøgt, beskrevet og tydet. In: Nordiske Fortisdminder 1 (1903), 197 – 303. 57 Ebd., 197. 58 Carl Sünksen/Heinrich Philippsen: Führer durch das Dannewerk. Hamburg 1903, II.

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könnten. In deutscher Sprache erschien der Reiseführer in den Jahren 1907, 1913 und 1930 noch in drei weiteren Auflagen. Die zweite Auflage von 1907 unterscheidet sich von der ersten neben dem größeren Umfang dadurch, dass der deutsche Bezug hervorgehoben wird: »Das Dannewerk, im südlichen Teil des früheren Herzogtums Schleswig gelegen, ist bisher von deutscher Seite wenig gekannt, obgleich dieses bedeutende Werk meilenweit ein Gebiet durchzieht, das in landschaftlicher Beziehung zu den schönsten Teilen der deutschen Nordmark gehört und, mit seinen Anfängen in das frühe Mittelalter zurückreichend, ebenso eng mit der Geschichte des alten deutschen Kaisertums, wie mit der der jüngeren Zeit verknüpft, also historisch gleichfalls von großer Bedeutung ist.«59 Die Auflage von 1913 ist insofern sehr aufschlussreich, als sie die Veränderungen in der Interpretation widerspiegelt. So ist auf dem Titelblatt nicht mehr das dänische Denkmal, sondern der Busdorfer Runenstein abgebildet und das Danewerk wird hier erstmals als »altgermanisch« bezeichnet.60 Die beiden Autoren der Reiseführer waren aktive Mitglieder des örtlichen Schleswiger Altertumsvereins, der sich 1903 neu gründete und eng mit der neu aufgekommenen Heimatbewegung verbunden war.61 So besaß das 1905 vom Verein neu gegründete Schleswiger Stadtmuseum neben dem »Danewerkzimmer« – in dem Funde aus der Oldenburg und dem Danewerk gezeigt wurden – ein Schleswiger Bürgerzimmer um 1800 sowie einen Raum mit Erinnerungen aus der Zeit von 1848 bis 1851.62 Das Danewerkzimmer, welches Sünksen mit Nachbildungen der wichtigsten Runensteine, einer großen Karte des Danewerks und zahlreichen Fotografien ausgestattet hatte, wurde aber als »kulturhistorisch wichtigster Teil« hervorgehoben.63 Außerdem geht aus den Berichten hervor, dass der Verein Ausflüge zum Danewerk machte und Führungen übernahm.64 Zunehmend trat der Schleswiger Verein dabei in Konkurrenz zum Kieler Museum. Bereits am 4. Mai 1904 berichtete Knorr von der Ausgrabung im Halbkreiswall an Mestorf, dass »einige Herren aus Schleswig mit einem Sack ausgerüstet erschienen seien, um zu sammeln«:65 Das war Mestorf und Knorr nicht recht, denn diese Funde gingen der wissenschaftlichen Auswertung im Kieler Museum erst einmal verloren. Knorr berichtete kurze Zeit später, dass er 59 Carl Sünksen/Heinrich Philippsen: Das Dannewerk in Geschichte und Sage nebst Führer durch das Dannewerk. 2. Aufl. Hamburg 1907, I. 60 Carl Sünksen/Heinrich Philippsen: Kleiner Führer durch das Dannewerk. Hamburg 1913, 8. 61 GA SLFL, Abt. 5, Nr. 183. Erster Jahresbericht des Altertumsvereins, 1905. 62 Das Danewerkzimmer wurde 1906 eröffnet. Zweiter Jahresbericht des Altertumsvereins, 1906. Ebd. 63 Ebd. 64 Ebd. Dritter Jahresbericht des Altertumsvereins, 1907. 65 Archiv des Archäologischen Landesmuseums Schloss Gottorf. Haithabu Grabungsdokumentation, Akte 1904. Brief von Knorr an Mestorf, 04. 05. 1904.

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Kontakt zu Sünksen vom lokalen Schleswiger Altertumsverein aufgenommen und seine Sammlung besichtigt habe. Außerdem versuchte er, über die Besitzer der Grundstücke den »Schleswiger Herren« das »Graben« und »planmässige Sammeln« zu untersagen.66 In den folgenden Jahren entstand ein Streit um die Fundstücke. 1913 weigerte sich der Schleswiger Altertumsverein; dem Kieler Museum Fundstücke zu überlassen, da diese »von bekannten noch lebenden Herren dem Schleswiger Museum geschenkt« und »hier jedermann zugänglich« seien.67 Obwohl die Region Schleswig nun wieder eine Einheit mit Holstein bildete, hatte sich in Schleswig ein Lokalbewusstsein etabliert, das in Konkurrenz zu dem holsteinischen Kiel stand. Das Danewerk und die Sammlung des Vereins waren damit ein Teil dieser erschlossenen Heimat.

Auf dem Weg zur transnationalen Grenzregion Schleswig/Sønderjylland Von 1915 bis 1929 fanden aufgrund des Ersten Weltkrieges und dessen Folgen keine Ausgrabungen am Danewerk statt.68 Als die Forschungen 1929 wieder aufgenommen wurden, standen sie ganz im Zeichen der Grenzlandpropaganda. Die Region Schleswig sollte zum Bollwerk gegen die dänische Propaganda werden; die archäologischen Forschungen sollten beweisen, dass nicht alle Kultur im Herzogtum Schleswig dänischen Ursprungs sei. So schrieb Emil Terno (1852 – 1939), der Vorsitzende des Schleswiger Altertumsvereins, dem Magistrat: »Zwar ist man bemüht, die Bedeutung Schleswigs, die man nicht leugnen kann, mit Stillschweigen zu übergehen und Kiel zum Mittelpunkte des Landes zu machen, aber seit uns die Landesgrenze so nahe gerückt ist, und feindliche Bestrebungen auf eine Verschiebung derselben bis über das Dannewerk hinaus, ja bis zur Eider gehen, hat Schleswig an Bedeutung gewonnen, ist sie doch die rein deutsche Landwehr gegen den dänischen Norden geworden, und für diese Aufgabe hat sie sich mit allen Kräften einzusetzen. Von dem deutschen Geiste Schleswigs und seiner deutschen Kultur gibt das Altertumsmuseum mit seinen Sammlungen Zeugnis.«69

Mit dem Beginn der Grabungen im Halbkreiswall rückte das Danewerk als Forschungs- und Identifikationsobjekt allerdings in den Hintergrund und wurde 66 67 68 69

Ebd. Brief von Knorr an Mestorf am 18. 09. 1904. SA SL, Abt. 5, Nr. 183. Neunter Jahresbericht des Altertumsvereins, 1913. Mit Ausnahme einer kurzen Nachgrabung 1921. LASH, Abt. 309 (Regierung zu Schleswig), Nr. 35770. Emil Terno an den Magistrat der Stadt Schleswig, 10. 1. 1929, Abschrift.

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von Haithabu, der berühmten Wikingerstadt des Nordens, verdrängt. Haithabu ermöglichte, durch den Wandel der »norddeutschen Germanen« beziehungsweise Dänen zu Wikingern eine deutsch geprägte Vereinnahmung des Nordens. Darüber ließ sich nicht nur wie bisher eine Zusammenarbeit mit Skandinavien auf akademischer Ebene etablieren, sondern auch eine regionale Identität aufbauen. Der neue Museumsdirektor in Kiel und Grabungsleiter Gustav Schwantes (1881 – 1960) schrieb 1930: »Das Interesse der Bevölkerung für unsere Grabung überstieg die kühnsten Erwartungen. An mehreren Tagen sind mehr als tausend Besucher auf dem Grabungsgelände gewesen. (…) Da sich auch die Presse der Sache mit großem Interesse annahm, hatten wir das beglückende Empfinden, dass das Unternehmen tatsächlich von der Bevölkerung der Provinz getragen wurde und darüber hinaus; aus Hamburg und noch entfernteren Orten des Südens wie auch aus Dänemark waren täglich zahlreiche Besucher am Platz.«70

In den 1930er-Jahren passte diese »nordische« Interpretation hervorragend in die großgermanische Rassenideologie der SS und wurde deswegen besonders gefördert.71 Das Danewerk blieb im Gegensatz zu Haithabu vorrangig ein dänischer Erinnerungsort und stand in den folgenden sechzig Jahren nicht im Vordergrund der Forschung. 1990 eröffnete direkt neben dem Danewerk das Danevirke Museum, welches der Sydslesvigsk Forening, der dänischen Minderheitenorganisation, gehört. Das verdeutlicht, wie eng die Identifikation mit dem Danewerk auf dänischer Seite bis heute ist. So trägt das neueste populärwissenschaftliche dänischsprachige Werk über das Danewerk den Titel Til hele Rigets Værn (Zum Schutz des ganzen Reiches).72 Der Autor und Archäologe Henning Hellmuth Andersen (*1927) untersuchte das Danewerk in den 1990er-Jahren. Dabei hat sich die populärwissenschaftliche Sicht auf das Danewerk stark gewandelt. Der regionale Erinnerungsort wird heute in deutschsprachigen Publikationen nicht mehr vorrangig als Grenze betrachtet, sondern wahlweise als beschützender Wall für die Handelsrouten der Wikinger oder als »Kosovo des Frühmittelalters« beschrieben.73 Das Regionsmarketing bezeichnet das Danewerk zumeist einfach als größtes Bodendenkmal im Norden. Diese verbindenden Aspekte bringt auch die gemeinsame Bewerbung Dänemarks, Deutschlands, 70 Grabungsbericht von Gustav Schwantes, zitiert nach: Dirk Mahrsarski: Herbert Jankuhn (1905 – 1990). Ein deutscher Prähistoriker zwischen nationalsozialistischer Ideologie und wissenschaftlicher Objektivität (Internationale Archäologie 114). Rahden/Westfalen 2011, 45. 71 Ebd. 66, 173 ff. 72 Henning Hellmuth Andersen: Til hele Rigets værn. Danevirkes arkæologi og historie. Højbjerg 2004. 73 Spiegel Geschichte 6 (2010), 94.

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Norwegens und Lettlands sowie Islands um das UNESCO-Weltkulturerbe zum Ausdruck.74 Damit präsentiert sich die Region Schleswig mit dem Danewerk und Haithabu als Aushängeschild heute als eine transnationale Grenzregion.

Fazit Das Denkmal Danewerk verdeutlicht, dass sich in der Region Schleswig/ Sønderjylland unterschiedliche Gedächtnisräume und Ebenen überlagern. Lokale, regionale und nationale Räume greifen dabei ineinander. Nachdem das Danewerk als Denkmal über die Kopenhagener Kommission vor Ort entdeckt wurde, folgte auf eine kurze gesamtstaatliche Interpretation in der Region Schleswig-Holstein eine Etablierung als dänischer nationaler Erinnerungsort mit starker Symbolkraft. Die Wiederetablierung des Erinnerungsortes Danewerk in der preußischen Provinz Schleswig-Holstein war zunächst schwierig aufgrund der Wahrnehmung des Provinzialkonservators und damit des Denkmalschutzes als preußische Einrichtung. Ab den 1890ern erfolgten dann mit dem Aufschwung der regionalen und lokalen Vereinigungen verschiedene Identifizierungen mit dem Danewerk: auf lokaler heimatgeschichtlicher Ebene über den Schleswiger Altertumsverein und auf regionaler beziehungsweise nationaler Ebene über die Forschungen und Ausgrabungen am Danewerk. Die verschiedenen Interessen überlagerten sich hierbei, sodass das Danewerk zum einen der Etablierung einer deutschen Grenzregion, als »Bollwerk« gegen den Norden, dienen sollte. Zum anderen führten Abgrenzung und Gleichwertigkeit gegenüber dem »römischen« Süden, über den Vergleich mit dem Limes, zur Aufwertung der Region und zur Einbindung ins Deutsche Reich. Diese Einbindung ging mit einer Interpretation des Danewerkes als »altgermanisch« einher. Daneben verlief über das Kieler Museum eine Wiederetablierung des deutsch-skandinavischen Forschungsaustausches. Ende der 1920er-Jahre, bei der Wiederaufnahme der Grabungen, finden sich alle diese Identifikationsmuster und Interpretationen wieder. Mit der Konzentration auf die Handelsmetropole Haithabu erwachte ein neues lokales und nationales sowie internationales Interesse. Der Gegensatz zwischen Deutschen und Dänen, den das Danewerk in seiner Grenzfunktion in sich trug (und trotz zahlreicher Neu- und Uminterpretationen heute immer 74 UNESCO Weltkulturerbe. Haithabu und das Danewerk und das transnationale Projekt »Wikingerzeitliche Stätten vom Nordatlantik bis zum Baltikum«, Internetseite des Archäologischen Landesamtes Schleswig-Holstein. http://www.schleswig-holstein.de/ALSH/ DE/Weltkulturerbe/weltkulturerbe_node.html (17. 05. 2013).

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noch in sich trägt), ist bei Haithabu nicht vorhanden. Haithabu ist die skandinavische Wikingermetropole auf deutschem Boden – und mit den Wikingern identifiziert man sich bis heute in der Region Schleswig. In den letzten Jahren wurde immer wieder festgestellt, dass gerade im grenzübergreifenden Europa ein Bedürfnis nach lokalen und regionalen Identitäten besteht. Das Danewerk ist damit ein Beispiel eines regional verankerten und zugleich transnationalen Erinnerungsortes.

Dirk Thomaschke

»Es sind Leistungen vollbracht worden, die zumindest im Rahmen einer Dorfchronik Würdigung verdienen, auch wenn der Staat die Leistungen nicht verdiente…« Räumliche Aspekte des Kriegergedenkens in nordfriesischen Ortschroniken 1.

Ortschroniken als Forschungsgegenstand

Die Chronik des Ortes Bramstedtlund im Landkreis Nordfriesland von 1981 beginnt mit den Worten: »Diese Schrift ist in erster Linie der Bericht eines einzelnen, mehr im Plauderton erzählt als wissenschaftsmäßig abgehandelt. Gleichwohl ist der Verfasser überall bemüht gewesen, die Tatsachen so zuverlässig wie möglich festzustellen.«1 Aus dieser Selbsteinschätzung geht deutlich hervor, dass Chroniken sich in einem Spannungsfeld von privater und öffentlicher – in diesem Beispiel wissenschaftlicher – Erinnerung bewegen. Es geht dem Verfasser um den Versuch, einen Großteil dessen, was bislang in dem Bereich privater Erinnerungen kursierte, unter den Bedingungen eines öffentlichen Mediums zu publizieren. Man darf allerdings keinesfalls dem Fehlschluss erliegen, dass Ortschroniken deshalb mit der akademischen Geschichtsschreibung konkurrieren würden. Es führt kaum weiter, Ortschroniken als »Lokalgeschichtsschreibung von geschichtswissenschaftlichen Laien unter den Bedingungen einer professionalisierten Geschichtswissenschaft« zu betrachten.2 Sie grenzen sich sehr deutlich von den Entstehungszusammenhängen, den Absichten und den Zielgruppen wissenschaftlicher Historiografie ab. Über den Bramstedtlunder Chronist heißt es im selben Vorwort weiter : »Die Ergebnisse seiner Heimatforschung, die er in einem reichhaltigen Archiv auf seinem Hof verwahrt hat, können mit vorliegender Schrift nun wenigstens auszugsweise denjenigen übergeben werden, für welche er dies alles vornehmlich gesammelt und erarbeitet hat: den Mitmenschen im Dorf und aus dem Dorf, also denje1 Klaus Arweiler : Vorwort des Mitherausgebers. In: Hans Christian Davidsen: Bramstedtlund. Geschichte und Geschichten aus einer Schleswigschen Geestgemeinde. Bd.1. o.O. 1981, o. S. 2 Harm Klueting: Rückwärtigkeit des Örtlichen – Individualisierung des Allgemeinen. Heimatgeschichtsschreibung (Historische Heimatkunde) als unprofessionelle Lokalgeschichtsschreibung neben der Geschichtswissenschaft. In: Edeltraud Klueting (Hrsg.): Antimodernismus und Reform. Zur Geschichte der deutschen Heimatbewegung. Darmstadt 1991, 50 – 89, 71.

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nigen, die der Gemeinde Bramstedtlund durch Geburt, Wohnung oder Arbeitsplatz verbunden sind. Möge diese Schrift dazu beitragen, ihr Wissen um die Heimat zu erweitern und ihre Liebe zur Heimat zu vertiefen.«3 Dorfchroniken werden in erster Linie aus dem Ort für den Ort geschrieben. Eine existenzielle Verwobenheit des Autors ist wichtiger als die auf Objektivität zielende Distanz wissenschaftlicher Texte. Das Publikum wird – auch hier ist die Bramstedtlunder Chronik kein Einzelfall – als eine Gemeinschaft angesprochen, in die der Autor selbst integriert ist. Diese Verwobenheit der Autoren mit ihrem Gegenstand sowie der Umstand, dass Ortschroniken in den meisten Fällen durch die lokalen Gebietskörperschaften finanziert und gefördert werden, führte neben der Klassifikation als pseudo-wissenschaftliche Produkte gelegentlich zu einer weiteren Fehleinschätzung: So wurden Ortschroniken als »die offizielle und politisch abgesegnete Darstellung und Interpretation lokaler Geschichte« bezeichnet.4 Beide Perspektiven sind problematisch, da die aus ihnen resultierenden Forschungsansätze ausgesprochen reduktionistische Züge tragen. Auf der einen Seite werden Ortschroniken als defizitäre Publikationen in einem asymmetrischen Vergleichshorizont zum geschichtswissenschaftlichen Forschungsstand abgehandelt. Sie zählen als mehr oder weniger vollwertige »Bausteine zur ortsgeschichtlichen Forschung« im Allgemeinen, ohne dass ihr spezifischer Eigenwert hinreichend gewürdigt wird.5 Die Qualitätsmaßstäbe, mit denen sie beurteilt werden, sind dann im Wesentlichen »Mindeststandards« der akademischen Forschung.6 Auf der anderen Seite steht ein ideologiekritisches Vorgehen, das auf die intentionale Verzerrung historischer Realität abstellt oder zumindest auf

3 Arweiler (Anm. 1), Vorwort des Mitherausgebers, o. S. 4 Bernhard Kukatzki: »Vergangenheitsbewältigung« zwischen Verschweigen und Bekennen. Anmerkungen zur Behandlung des Themas Nationalsozialismus in Ortschroniken. Schifferstadt 2001, 4. 5 Die Formulierung stammt von Andreas Schmauder, der sich an dieser Stelle auf eine Vielzahl von Publikationen, darunter auch das hier als »Ortschroniken« bezeichnete Phänomen bezieht. Andreas Schmauder : Der Stand der ortsgeschichtlichen Forschung im deutschen Südwesten. In: Eugen Reinhard (Hrsg.): Gemeindebeschreibungen und Ortschroniken in ihrer Bedeutung für die Landeskunde. Stuttgart 1999, 99 – 116, 100; siehe auch ders.: Ortsgeschichtliche Forschung in Südwestdeutschland. Das Beispiel »Gemeinde im Wandel«. In: Mathias Beer (Hrsg.): Das Heimatbuch. Geschichte, Methodik, Wirkung. Göttingen 2010, 165 – 175, 167. 6 Wolfgang Sannwald: Erinnerungskultur vor Ort. Heimatbuch – Landesgeschichte – Wissenschaft. In: Beer (Anm. 5), 233 – 253, 253; vgl. zudem den 1999 erschienen Sammelband »Gemeindebeschreibungen und Ortschroniken in ihrer Bedeutung für die Landeskunde«, herausgegeben von Eugen Reinhard, in dem in mehreren Beiträgen immer wieder auf das hier interessierende Genre Bezug genommen wird, allerdings ohne eine weiterführende Perspektive zu seiner Analyse aufzuzeigen. Eugen Reinhard (Hrsg.): Gemeindebeschreibungen und Ortschroniken in ihrer Bedeutung für die Landeskunde. Stuttgart 1999.

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die interessengeleitete Konstruktion eines dienlichen Geschichtsbildes.7 Die Motive hierfür werden als lokalpolitisches Prestigedenken oder Unterordnung unter örtliche Tabus identifiziert. In vielen Fällen handelt es sich um auf einzelne Regionen begrenzte Studien, die ohne eine systematische Beschreibung des Gegenstandes »Ortschronik« auskommen. Hierbei steht nicht selten eine teils offen, teils unterschwellig skandalisierende Zusammenschau von Auslassungen und Beschönigungen der NS-Geschichte im Mittelpunkt.8 »Erst in jüngster Zeit beginnt sich ein vielversprechenderes Forschungsfeld zu formieren, das in einem ersten Schritt durch eine systematische Reflexion von ›Ortschroniken‹ als spezifischem Gegenstandsbereich eröffnet wurde.« Hierbei kursieren die weitgehend synonym verwendeten Begriffe »Heimatbuch« und »Ortschronik« bislang nebeneinander.9 Dennoch stimmen die wesentlichen Charakteristika des Entstehungsprozesses weitgehend überein: Es handelt sich – zusammenfassend gesagt – um von Laienautoren, im Idealfall im Kollektiv, 7 Vgl. zum Beispiel die paradigmatische Differenzierung zwischen »politischer Intention« und »inhaltlicher Präsentation« als Gegenstand der Analyse bei Gustav Schöck: Zwischen »vaterländisch« und »identitätsstiftend«. Perspektivenwechsel bei den Heimatbüchern in Südwestdeutschland. In: Beer (Anm. 5), 221 – 231; Rainer Voss: Ortsgeschichten. Flucht und Vertreibung im Spiegel. In: Rainer Schulze (Hrsg.): Zwischen Heimat und Zuhause. Deutsche Flüchtlinge und Vertriebene in (West-)Deutschland 1945 – 2000. Osnabrück 2001, 184 – 200. 8 Vgl. zum Beispiel Kukatzki (Anm. 4); ders.: »Von vielen Gräueltaten hatte der einfache Mann keine Ahnung« – Vergangenheitsbewältigung in Ortschroniken zwischen Verschweigen und Bekennen. In: Siegmar Schmidt/Gert Pickel/Susanne Pickel (Hrsg.): Amnesie, Amnestie oder Aufarbeitung? Zum Umgang mit autoritären Vergangenheiten und Menschenrechtsverletzungen. Wiesbaden 2009, 53 – 66; Fiete Pingel: Der Nationalsozialismus in Chroniken aus Nordfriesland. In: Nordfriisk Instituut/Institut für schleswig-holsteinische Zeit- und Regionalgeschichte (Hrsg.): Nationalsozialismus in Nordfriesland. Bredstedt 1993, 71 – 79; Gerhard Holzer : Vom »schwarzen Loch« zur Aufarbeitung. Nationalsozialismus und Judenverfolgung in rheinhessischen Ortschroniken seit 1980. In: Alzeyer Geschichtsblätter 38 (2010), 147 – 167; Wilfried Setzler : Die NS-Zeit im Heimatbuch – ein weißer Fleck? In: Beer (wie Anm. 5), 203 – 220; Peter Bierl: Die NS-Zeit im Heimatbuch. Die (Nicht-)Aufarbeitung der NS-Zeit in der Lokalhistorie am Beispiel des Landkreises Fürstenfeldbrück. In: Amperland 42 (2006), 257 – 261. 9 Zum Heimatbuch: Mathias Beer : Das Heimatbuch als Schriftenklasse. Forschungsstand, historischer Kontext, Merkmale und Funktionen. In: Ders. (Anm. 5), 9 – 39; Jutta Faehndrich: Eine endliche Geschichte. Die Heimatbücher der deutschen Vertriebenen. Köln-WeimarWien 2011. In beiden Arbeiten finden sich zudem weitere Literaturhinweise. Zu Ortschroniken: Dirk Thomaschke: Die »Große Politik« und das »Leben der Menschen«. Der Umgang mit dem Nationalsozialismus in nordfriesischen Ortschroniken seit den 1980er-Jahren. In: Demokratische Geschichte 20 (2009), 285 – 308. Es ist derzeit keine übergreifende begriffliche Alternative für die praktisch vergleichbar häufig vorkommenden Bezeichnungen »Heimatbuch« und »(Orts-)Chronik« in Sicht. Außerdem lässt weder das Vorliegen noch das Fehlen der entsprechenden Bezeichnungen im Titel eines Buches direkt darauf schließen, dass das entsprechende Phänomen, so wie es eingangs skizziert und im folgenden Abschnitt näher bestimmt wird, vorliegt oder nicht. Vgl. Schmauder (Anm. 5), 100. Die bei Faehndrich angebotene kursorische Klassifikation (248) überzeugt aus genau diesem Grund nicht, da sie sich zu stark nach den Titelbezeichnungen richtet.

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verfasste Bücher, die sich auf kleine bis kleinste Ortschaften beziehen und hierbei ein möglichst breites Themenspektrum den Ort betreffend behandeln. Gefördert und finanziert werden sie mehrheitlich von lokalen Akteuren und erscheinen nicht selten im Selbstverlag. In einem zweiten Schritt geht es beiden Forschungssträngen darum, die qualitäts- und ideologiekritischen Ansätze bisheriger Studien zu überwinden und Ortschroniken als eigenständiges erinnerungskulturelles Phänomen zu erschließen.10 Die Heimatbuch-Forschung deutet ihre Gegenstände hierbei in erster Linie von der Funktion her, die sie für die Autorengruppen erfüllen. Mathias Beer (*1957) betont, dass Heimatbücher als »Ausdruck und in Form der Heimatliebe als subjektive Reaktion auf den tatsächlichen oder vermeintlichen Verlust von Heimat« zu lesen sind11, wovon beispielsweise auch die eingangs zitierte Passage aus der Bramstedtlunder Chronik Zeugnis ablegt. Bei Jutta Faehndrich, die sich vorrangig mit den Heimatbüchern Vertriebener beschäftigt, geht es der Erlebnisgeneration darum, eine Erinnerung an eine »verlorene Heimat« zu erhalten.12 Mit der Bestimmung der Funktionen, die Ortschroniken, respektive Heimatbücher für eine dahinter stehende Gruppe erfüllen, erschöpft sich die Analyse von Ortschroniken als Medium – oder auch als Genre – jedoch nicht. Werden Chroniken in erster Linie als Ausdruck einer dahinter stehenden Absicht gedeutet, bleiben sie zu einem gewissen Grad austauschbar : andere Träger könnten diese Botschaft gleichermaßen überbringen.13 Die Frage, was gerade

10 Siehe Beer (Anm. 9), 36; Noch keine Berücksichtigung fanden Ortschroniken in historiografiegeschichtlichen Standardwerken oder in den Studien zur Public History, die sich dem Umgang mit der Geschichte in anderen als den akademischen Medien und Öffentlichkeitsbereichen widmen, vgl. Konrad H. Jarausch/Jörn Rüsen/Hans Schleier (Hrsg.): Geschichtswissenschaft vor 2000. Perspektiven der Historiographiegeschichte, Geschichtstheorie, Sozial- und Kulturgeschichte. Hagen 1991; Wolfgang Hardtwig/Erhard Schütz (Hrsg.): Geschichte für Leser. Populäre Geschichtsschreibung in Deutschland im 20. Jahrhundert. Stuttgart 2005; Frank Bösch/Constantin Goschler (Hrsg.): Public History. Öffentliche Darstellungen des Nationalsozialismus jenseits der Geschichtswissenschaft. Frankfurt/ Main 2009; Sabine Horn/Michael Sauer (Hrsg.): Geschichte und Öffentlichkeit. Orte – Medien – Institutionen. Göttingen 2009; Gerhard Paul/Bernhard Schoßig (Hrsg.): Öffentliche Erinnerung und Medialisierung des Nationalsozialismus. Eine Bilanz der letzten dreißig Jahre. Göttingen 2010. 11 Beer (Anm. 9), 35. Siehe auch die stärker auf Identitätskonstruktion abstellende Formulierung, wonach Heimatbücher »auf eine emotional begründete Identifikation des Lesers mit seinem jetzigen oder ehemaligen Wohnort« zielen (ebd., 36). 12 Faehndrich (Anm. 9), 2. 13 Auf diese Austauschbarkeit weist auch die von Faehndrich beschriebene »Ersatz«-Funktion des Heimatbuchs vor dem Horizont materieller Erinnerungsträger hin: »Mit dem Heimatbuch konnten auch Vertriebene, die keine der von Albrecht Lehmann (*1939) beschriebenen symbolischen Erinnerungsgegenstände wie Hausschlüssel oder Fotos des Elternhauses aus der Heimat gerettet hatten, die vielleicht nicht die Möglichkeit oder den Mut hatten, die alte Heimat wiederzusehen, um von dort Erde, Blumensamen oder ähnliches mitzubringen,

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Ortschroniken von anderen erinnerungskulturellen Produkten, die dieselben Funktionen erfüllen, unterscheidet, bleibt offen. Mit Blick auf die transportierten Inhalte ließe sich weiterhin fragen, inwiefern Chroniken bloßer Behälter eines unabhängig von ihnen bestehenden Geschichtsbildes sind, das genauso auf anderen Wege kommuniziert werden könnte. Mithin bleibt ebenso offen, weshalb Ortschroniken die an sie herangetragenen Absichten überhaupt erfüllen können. An diesem Punkt lohnt es sich, den auch in der Heimatbuch-Forschung skizzierten, aber nicht konsequent ausgearbeiteten Ansatz spezifischer, historiografischer Perspektiven dieses Genres weiterzuverfolgen. Hierbei ist nicht nach den Absichten der Autoren und nicht nach den erinnerungskulturellen Funktionen von Ortschroniken zu fragen, sondern nach den Verarbeitungsregeln, mit denen historische Stoffe selektiert, zusammengefügt und dargestellt werden – und zwar denjenigen Verarbeitungsregeln, die sich aus der Struktur der Texte selbst erschließen lassen und die nicht gänzlich auf Intentionen und Interessen, die im Entstehungskontext der Chroniken kursierten, zurückzuführen sind.14 Auf diesem Wege rückt die Eigenlogik von Ortschroniken als Genre in den Vordergrund und die Wechselbeziehung von Form und Inhalt lässt sich weitaus besser würdigen, als wenn Chroniken letztlich als mehr oder weniger austauschbare »Behälter« vorab feststehender Intentionen erscheinen.15 Darüber hinaus lässt sich auf diesem Weg die Wechselseitigkeit der Entstehung von Ortschroniken sowie der der Autoren- und Leserkollektive erfassen. Die Verarbeitungsregeln des Genres nämlich wirken zurück auf die Identität derer, die diese Chroniken erstellen und die sie rezipieren. Sie tragen dazu bei, eine

einen solchen Erinnerungsgegenstand erwerben, ja vielleicht sogar selbst herstellen, indem sie sich tatkräftig am Heimatbuch beteiligten.« Faehndrich (Anm. 9), 251. 14 Also beispielsweise die Faktoren, die Faehndrich in der folgenden Auflistung für den Inhalt von Heimatbüchern verantwortlich macht: »[W]as wir im Heimatbuch zu lesen bekommen, ist nur das Endergebnis von zähen Konsensverhandlungen und sicher auch das Abbild von Machtverhältnissen, nicht zuletzt finanziellen« (Anm. 9), 242. Die Richtigkeit dieser Annahme soll hier keineswegs bestritten werden. Die »Reduktion« von Heimatbüchern auf diese »externen« Einflüsse führt jedoch nur bis zu einem gewissen Punkt. Sie muss letztlich immer von weitgehend bewusst agierenden, interessengeleiteten Subjekten – und seien diese in Form einer »Erinnerungsgemeinschaft« (39) hypostasiert, der alle Attribute eines handelnden Individuums zukommen – ausgehen, was nicht nur theoretische, sondern auch empirische Schwierigkeiten mit sich bringt (siehe zum Beispiel Philip Sarasin: Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse. Frankfurt/Main 2003, 16 – 20). 15 Siehe auch Achim Landwehr: Geschichte des Sagbaren. Einführung in die Historische Diskursanalyse. Tübingen 2001, 103: »Damit läßt sich ein gewichtiges Problem der Geschichtswissenschaft vermeiden: die Frage nach dem, was hinter dem Papier liegt, nach den ›eigentlichen Intentionen‹, nach der Mentalität, nach den ›leitenden Interessen‹. Denn all diese Fragen können den Boden der Spekulation nie endgültig verlassen (…). Ein Ansatz, der statt dessen die Aussagen als Faktum und Ereignis akzeptiert und zum Gegenstand der Analyse macht, verspricht daher überzeugendere Ergebnisse.«

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bestimmte Form historiografischer Praxis überhaupt erst zu konstituieren und sind nicht allein deren Produkt. In diesem Sinne werde ich Ortschroniken in einem ersten Schritt als eigenständiges Genre mit spezifischen Verarbeitungsregeln geschichtlicher Themen skizzieren. Ich konzentriere mich hierbei auf zwei zentrale Aspekte:16 Erstens geht es Ortschroniken in Abgrenzung zu »der Forschung« um den Einzelfall, nicht um die Verallgemeinerung. Ortschroniken entwerfen keine übergreifenden Geschichtsinterpretationen »am Beispiel eines Dorfes«. Aus der eigenen Ortsgeschichte sollen keine grundlegenden Prinzipien, Entwicklungslinien oder Ähnliches herausgearbeitet werden. Im Gegenzug ist eine enorme Ausweitung der Perspektive für Details möglich. Die Darstellung lokaler Einzelheiten und Besonderheiten ist nicht exemplarisch gedacht, sondern Selbstzweck. Zweitens entstehen Ortschroniken ihrem Selbstverständnis nach als Produkt einer Dorfgemeinschaft. Sie tragen selbst maßgeblich zu der Konstruktion dieser Gemeinschaft bei. Der Bezugspunkt aller dargestellten Ereignisse und Handlungen bleibt stets die homogene, geschlossene Dorfgemeinschaft.17 Von diesem Ausgangspunkt aus, der über Beschaffenheit, Entstehungskontext, Funktionen und Geschichtsbilder hinausgehend die Perspektive von Ortschroniken in den Blick nimmt, lässt sich im abschließenden Teil des Aufsatzes nach räumlichen Dimensionen dieser Optik fragen. Auf welche Weise Ortschroniken historische Stoffe verarbeiten, setzt gleichsam den Rahmen für die Erinnerungsräume, die sie konstruieren. Im Anschluss an Martina Löw (*1965) wird Raum hierbei als »prozesshaftes, soziales Phänomen« verstanden.18

16 Für weitergehende Ausführungen hierzu siehe Thomaschke (Anm. 9), 285 – 291. 17 Ich konzentriere mich hierbei auf Ortschroniken aus Nordfriesland ab den 1980er-Jahren, da das Genre seit dieser Zeit nicht nur dort, sondern im gesamten Bundesgebiet einen anhaltenden Aufschwung zu verzeichnen hat. Durch diese Häufung von Veröffentlichungen ist ein umfassender Vergleichshorizont entstanden, in den jede neue Publikation von Autoren und Lesern gewollt oder ungewollt eingeordnet wird, auch wenn dieser Rahmen in den Ortschroniken selbst nur selten reflektiert wird. Für die Konjunkturen und Erscheinungsformen des »Heimatbuches« vor dieser Zeit siehe die Pionierstudien von Faehndrich (Anm. 9); dies.: Entstehung und Aufstieg des Heimatbuchs. In: Beer (Anm. 5), 55 – 83; Klueting (Anm. 2). Es liegen zudem auf lokale Räume begrenzte Bestandsaufnahmen vor, die in der Regel ohne größere definitorische Anstrengungen der erfassten Literatur auskommen, siehe zum Beispiel Schmauder (Anm. 5); Helmut Flachenecker : Ortschroniken in Unterfranken. Ein historischer Überblick. In: Frankenland 62 (2010), Heft 6, 364 – 368; Arbeitsgemeinschaft Archiv Chronik Museum in Schleswig-Holstein (Hrsg.): Ortsgeschichte. Regionalgeschichte. Schleswig-Holstein. Horst/Holstein 1997. Erste regionsübergreifende Reflexionen finden sich bei Gustav Schöck: Das Heimatbuch – Ortschronik und Integrationsmittel? Anmerkungen zum Geschichts- und Gesellschaftsbild der Heimatbücher. In: Der Bürger im Staat 24 (1974), Heft 1, 149 – 152. Eine gemeinsame Bibliografie oder historiografiegeschichtliche Studie zu Ortschroniken und Heimatbüchern existiert nicht. 18 Martina Löw: Raumsoziologie. Frankfurt/Main 2001, 263, sowie zahlreiche weitere Beleg-

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Raum entsteht in gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen, in denen Ortschroniken einen Faktor neben anderen darstellen. Folglich kann es nicht darum gehen, aus Ortschroniken die ihrer Entstehung zugrunde liegenden Strukturen eines »tatsächlichen« Erinnerungsraums »herauszulesen«. Die Chroniken tragen selbst aktiv zur Konstruktion dieses Raumes bei.19 Ich beschreibe folglich an dieser Stelle keinen lokalen Erinnerungsraum, der Ortschroniken hervorbringt, sondern nehme eine Annäherung von der anderen Seite her vor : Wie sehen die räumlichen Aspekte des Geschichtsbildes in Ortschroniken aus? Was für einen Erinnerungsraum bringen sie hervor? Da diese Fragen im Rahmen dieses Aufsatzes nicht erschöpfend beantwortet werden können, ziehe ich hierzu die bislang nicht untersuchte Darstellung des Kriegergedenkens der Soldaten des Zweiten Weltkriegs in Ortschroniken als einschlägiges Beispiel heran. Daran wird sich eine für Ortschroniken typische erinnerungsräumliche Konstruktion zeigen lassen: Dieser Raum ist relativ deutlich zweigeteilt. Im Zentrum steht der geschlossene, unpolitische Dorfzusammenhang, der durch eine synchron und diachron stabile Dorfgemeinschaft mit ihrer eigenen Geschichte bestimmt wird. Dieser Kern wird durch eine unscharfe, jedoch deutlich unterschiedene Umwelt begrenzt, die den Rahmen der Dorfgeschichte festlegt, jedoch nicht wesentlich, sondern allenfalls begünstigend oder irritierend in sie eingreift. Sie ist der Ort einer wechselvollen, ideologisch-politischen Geschichte.

2.

Wie Ortschroniken Geschichte schreiben

Das Erscheinungsbild von Ortschroniken kann auf den ersten Blick den Eindruck einer bunt zusammengewürfelten Quellen- und Geschichtensammlung hervorrufen, die sich aus Fotografien, Erzählungen, Listen, Zitaten und vielem mehr relativ zusammenhanglos aggregiert.20 Man könnte beispielsweise einen stringenten Erzählaufbau, von der Einleitung über den Mittelteil zum Fazit, ebenso vermissen wie ein einheitliches Prinzip der Auswahl, Gewichtung und Anordnung von Quellenmaterial. Diese Mängel erscheinen jedoch nur dann als solche, wenn Ortschroniken an einem wissenschaftlichen oder literarischen Maßstab gemessen werden. In Chroniken zählt dagegen gerade der Einzelfall stellen. Siehe auch Marcus Sandl: Geschichtswissenschaft. In: Stephan Günzel (Hrsg.): Raumwissenschaften. Frankfurt/Main 2009, 159 – 174, 161 – 162. 19 »So lässt sich im Raum der Wandel des Politischen, Sozialen oder Kulturellen jenseits von institutions- oder handlungstheoretischen Vorgaben in den Blick nehmen. Der Raum wird hier als Substrat kultureller Praxis betrachtet, das auf die Praxis zurückwirkt, soziale Strukturbildung generiert und stabilisiert sowie Handlungs-, Wahrnehmungs- und Erfahrungsweise präformiert.« Sandl (Anm. 18), 162. 20 Hierzu ironisch: Sannwald (Anm. 6), 251.

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und nicht die Verallgemeinerung.21 Die Anekdote, das mehr oder minder zufällig aufgefundene Einzelstück oder die namentliche Nennung von Personen, erfolgen nicht etwa prinzipienlos, sondern stellen selbst das Prinzip der Materialauswahl und -anordnung dar. Paradigmatisch sind in dieser Hinsicht Auflistungen. In sehr vielen Dorfchroniken nehmen seitenlange Listen von Gemeindegrundstücken, Höfen, Gebäuden und Einwohnern einen beträchtlichen Teil des gesamten Umfangs ein. Für den tausend Einwohner zählenden Ort Morsum auf Sylt hat der Autor Walter Glindmeier (1930 – 2012) eine Chronik mit dem Titel »Morsumer Häuser im Wandel der Zeit 1920 bis 2002« veröffentlicht, die ausschließlich aus einem Verzeichnis der Gebäude und ihrer Geschichte besteht.22 Jeweils zugehörig zu einer unterschiedlichen Anzahl von Fotografien – auch von Grabsteinen bereits verstorbener Bewohner – findet der Leser hier eine Chronologie der Besitz- und Wohnverhältnisse aller Häuser des Ortes. Bei diesen Listen geht es vor allem um Genauigkeit und Vollständigkeit. Es geht nicht um Kontextualisierung oder Einordnung in einen Bedeutungszusammenhang; der Sinn erschöpft sich weitgehend im Genanntwerden. Als weiteres Beispiel kann ein Blick in die Bohmstedter Chronik dienen.23 Auf drei Seiten sind alle ehemaligen und gegenwärtigen Angestellten, Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder der Bohmstedter Raiffeisenbank aufgeführt. Zwischen den Listen sind zwei scheinbar willkürlich ausgewählte Fotografien (»Das neue Gebäude der Raiffeisenbank« und »Der langjährige Geschäftsführer Karl Andresen«) zur Illustration eingestreut. Ein Mehrwert ergibt sich für den Leser einzig im Wiederfinden persönlich bekannter Namen oder dem Wiedererkennen eines selbst frequentierten Ortes. Aus der spezifischen Perspektive von Ortschroniken ergibt sich auch der Hang zu dem, was man aus der Sicht des Wissenschaftlers als Eklektizismus bezeichnen könnte. Eine Chronik dient oftmals als historisches Sammelsurium, nicht allein im Hinblick auf Ereignisse und Informationen, sondern insbesondere auch im Hinblick auf das Nebeneinander disparater Quellengattungen und deren Präsentationsformen. So tauchen beispielsweise inmitten einer Zeittafel 21 Es ist gerade kein Mangel von Ortschroniken, dass sie eine »fehlende Kontextualisierung« aufweisen, wie Beer (Anm. 9), 35, mit einem Verweis auf eine Aussage Carl-Hans Hauptmeyers zur Heimatgeschichte formuliert: »[D]as stets mögliche Dilemma der Heimatgeschichte besteht weiterhin darin, daß sie nur die Heimat sieht, keine Vergleiche anstellt, keine über die Heimat hinausgehenden erkenntnisweiterführenden Theorien verändert oder neu aufbaut.« Carl-Hans Hauptmeyer : Heimatgeschichte heute. In: Ders. (Hrsg): Landesgeschichte heute. Göttingen 1987, 77 – 96, 91. 22 Walter Glindmeier : Morsumer Häuser im Wandel der Zeit 1920 bis 2002. Chronik. Niebüll 2002; Siehe beispielhaft für unzählige Weitere das Kapitel »Häuser – Höfe – Familien«. In: Sielverband Cecilienkoog (Hrsg.): 100 Jahre Cecilienkoog 1905 – 2005. Bredstedt 2005, 59 – 102. 23 Gemeinde Bohmstedt (Hrsg.): Bohmstedter Chronik. Heft 4. Bredstedt 1992, 65 – 67.

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zur Geschichte Midlums Abbildungen von Reichsbanknoten auf, ohne dass sie angekündigt, kommentiert oder in anderer Weise in die Ereignisfolge eingebunden wären.24 In der Chronik der Gemeinde Breklum besteht die Darstellung des Zweiten Weltkrieges aus einer Collage von Text, Bildern, Tabellen und Listen, hierunter zum Beispiel unkommentierte Abbildungen von Lebensmittelscheinen oder kleinteilige Temperaturangaben für die Winter 1939/40 und 1941/42.25 Später folgen unvermittelt eingestreute Fotografien und Abdrucke von Flugblättern. Der Text verteilt sich dazwischen auf zahlreiche unsystematisch aneinandergereihte Abschnitte wie etwa zum »Landjahr und Militär 1934 bis 1945«. Dieser Textabschnitt kommt einer Geschichtensammlung sowie einem Glossar gleichermaßen nahe. Die angeführten Einblicke sollen genügen, um zu zeigen, dass Ortschroniken sich durch eigene Gestaltungsprinzipien auszeichnen, die sie insbesondere von der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung abgrenzen. Chroniken zeichnen sich zudem durch ihre ausgeprägte Gemeinschaftsorientierung aus. Dieser Aspekt ist von besonderem Interesse, da gerade das Selbstbild als Gemeinschaftsprojekt den Erinnerungsraum, den Chroniken konstruieren, entscheidend mitprägt. Eine typische Ortschronik präsentiert sich als Produkt eines relativ geschlossenen gemeinschaftlichen Zusammenhangs, der in historischer Hinsicht unterfüttert werden soll.26 Dies zeigt sich insbesondere in der üblichen (Selbst-)Stilisierung der Autoren – meist Autorenkollektive – als langjährige, aktive Gemeindemitglieder, deren Qualifikation sich viel mehr aus dem Miterleben und Mitgestalten der Dorfgeschichte über mehrere Jahrzehnte speist als aus einer literarischen oder wissenschaftlichen Ausbildung.27 Im Erstellungsprozess einer Chronik sind ohnehin meist alle Personen, die im Ort wohnen oder eine besondere Bindung zu ihm aufweisen aufgefordert, Materialien und Erinnerungen beizusteuern.28 Entsprechend tritt die Individualität, die ein Autor seinem Text in Stil, Gestaltung, Auswahl der Materialien und vielem Weiteren verleiht, in ihrer Bedeutung stark in den Hintergrund zugunsten der Umsetzung eines »allgemeinen Projektes«.29 Die Förde24 Eike Heinz et al. (Hrsg.): Unser Dorf. Chronik der Gemeinde Midlum, Insel Föhr. Kiel 1998, 31, 35. 25 Jens Arnold Tams/Fiete Pingel: Breklumer Chronik. Bd. 1. Allgemeine Geschichte. Breklum 1989, 108 – 127. 26 Es geht an dieser Stelle nicht um die tatsächlichen Entstehungsbedingungen, sondern die Rekonstruktion des (impliziten) Selbstbildes der Chroniken. 27 Vgl. Hans Green et al.: 500 Jahre Kirchspiel Kotzenbüll. St.Peter-Ording 1995, 2; Nis Paulsen: Sönke Nissen Koog 1924 – 1974. 3. überarbeitete und erweiterte Aufl. Breklum 1999, 7. 28 Siehe zum Beispiel Sielverband Cecilienkoog (Anm. 22), 7; »Wohnplatz, wo man pflügt«. In: Husumer Nachrichten, 15. 11. 2003. 29 Symptomatisch hierfür ist, dass die genaue Kennzeichnung individueller Verantwortung für unterschiedliche Textabschnitte in Ortschroniken nicht immer beachtet wird.

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rung des Vorhabens erfolgt in unproblematischer Weise durch die lokale Politik und ansässige Betriebe oder Unternehmen.30 Es geht deshalb allerdings keineswegs um eine »offiziell sanktionierte Geschichte«. Ortschroniken verstehen sich gerade nicht als eingebunden in ein Geflecht widerstreitender persönlicher, wirtschaftlicher und politischer Interessen, sondern als Gemeinschaftsprodukt jenseits etwaiger Friktionen. Genau diese Dorfgemeinschaft wird auch in Grußund Vorworten direkt angesprochen. Sie stellt die quasi-natürliche Zielgruppe derartiger Publikationen dar. Dass viele Chroniken darauf ausgerichtet sind, die adressierte Dorfgemeinschaft selbst mit zu erzeugen oder zu stabilisieren, wird allerdings selten explizit gemacht.31

3.

Kriegergedenken »vor Ort«

Wendet man sich nun der Darstellung des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs in nordfriesischen Ortschroniken zu, spiegelt sich darin genau diese Konstruktion einer geschlossenen, homogenen, lokal eingrenzbaren Dorfgemeinschaft wider. Sie wird umgeben von einer starken Schwankungen unterlegenen, eher diffusen Umwelt. Von großer Symbolkraft ist hier das Bild des von den »Stürmen der Zeit« umtosten Dorfes, wie es beispielsweise die Gardinger Chronik zeichnet: »An diesem Werk wird deutlich, daß es die örtlichen Gemeinwesen waren, die die Stürme der Zeit, die politischen Veränderungen und die Weiterentwicklungen im sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Bereich am besten überstanden haben.«32 Der dörfliche Raum wird als vertraute Lebenswelt inszeniert, als Ort eines natürlichen, überzeitlichen Lebenswandels und als Ort der Befriedigung ebenso alltäglicher wie existenzieller Bedürfnisse. Die Umwelt hingegen ist der Platz der »Politik«, insbesondere großer »Ideologien« wie der des Nationalsozialismus. Für die Darstellung des Dorfes ist die Chronik zuständig, für alles »Umgebende« eine oftmals nicht weiter spezifizierte »Forschung«. Die Darstellung der Chroniken ist durch eine nahezu hermetische Trennung beider Bereich geprägt.33 Dieses grundlegende Raumkonzept im Umgang mit dem Nationalsozialismus prägt auch das Gedenken der Kriegstoten 30 Thomas Steensen (Hrsg.): Bredstedt. Stadt in der Mitte Nordfrieslands. Bredstedt 2000, 8 f.; Gemeinde Klixbüll (Hrsg.): Dorfchronik Klixbüll. o.O. 1997, 2. 31 Gemeinde Poppenbüll (Hrsg.): Poppenbüll. Ein Dorf im Wandel der Zeiten. 1000 Jahre St. Johannis-Koog. Husum o. J. [1987], 6. 32 Stadt Garding (Hrsg.): 400 Jahre Stadt Garding. Blick in die Geschichte. Hamburg 1990, 9. 33 Für eine ausführliche Erörterung dieses Raumkonzepts sowie Beispiele siehe Thomaschke (Anm. 9), 291 – 308. Dort geht es zudem um die typischen semantischen Verknüpfungen der Bereiche des Dorfs und seiner politischen Umwelt sowie um zahlreiche sprachliche Besonderheiten, mit denen diese grundlegende Ebenendifferenz konstruiert wird.

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des Zweiten Weltkriegs und an diesem Beispiel möchte ich es in der Folge näher ausführen. Im Allgemeinen spielt das Gedenken der Soldaten aus dem eigenen Ort die herausragende Rolle im Zusammenhang mit der Behandlung des Zweiten Weltkriegs in Ortschroniken. Oft nimmt die Auflistung der Namen und Fotografien derjenigen, die aus der jeweiligen Gemeinde am Krieg teilgenommen haben, einen gewichtigen Teil des Raumes ein, der der Darstellung desselben insgesamt gewidmet ist.34 Hinzu kommt nicht selten die Abbildung und Beschreibung örtlicher Ehrenmale sowie deren Entstehungsgeschichte. Das Anliegen derartiger Abschnitte ist im Wesentlichen das Gedenken der Gefallenen und Vermissten der Jahre 1939 bis 1945.35 Hierbei wird nahezu ausschließlich der soldatische Tod behandelt; die abgebildeten Gedenktafeln zeigen größtenteils uniformierte junge Männer ; die Listen sind üblicherweise nach Kategorien wie »Gefallene Kriegsteilnehmer«, »Vermißte aus dem Kriege« und »Vermißte und doch zurückgekehrte Kriegsteilnehmer« geordnet.36 Die vorhandenen Ehrenmäler und Gedenktafeln werden in den allermeisten Chroniken wohlwollend und unkritisch beschrieben. Ihre Botschaften und Einrichtungszwecke werden nur in den seltensten Fällen eingehender reflektiert und infrage gestellt.37 Die Ahrenviöler Chronik schildert die Gestaltung des gemeindeeigenen Gedenkplatzes in durchweg zustimmender Weise. Dabei tauchen immer wieder auch emphatische Formulierungen auf, zum Beispiel ist von einem »heldenhaften Mahnmal« zum Zweiten Weltkrieg die Rede.38 In Wester-Ohrstedt befindet man mit Genugtuung, dass »eine schöne, würdige Gedenkstätte entstanden« sei.39

34 Siehe zum Beispiel Gemeinde Bohmstedt (Anm. 23), Heft 1, 148 f.; Gemeinde Bordelum/ Bürger- und Handwerkerverein Bordelum (Hrsg.): Chronik von Bordelum. Die Gemeinde Bordelum von 1867 bis 1945. Husum 1992, 321 – 327; Georg Hansen: Dorfchronik Goldebek. Goldebek 1992, 54 – 57; Gemeinde Goldelund (Hrsg.): Goldelunder Dorfbuch. Goldelund 1992, 230 – 241; Gemeinde Oster-Ohrstedt (Hrsg.): Chronik der Gemeinde Oster-Ohrstedt. Husum 1989, 27 – 31; Gemeinde Wester-Ohrstedt (Hrsg.): Aus der Geschichte des Dorfes Wester-Ohrstedt. Husum 2003, 55 – 60. Gelegentlich handelt es sich auch um Faksimiles vorhandener Gedenk- und Ehrentafeln. Vgl. Abb. am Ende dieses Beitrags. Gemeinde Wester-Ohrstedt (Hrsg.): Aus der Geschichte des Dorfes Wester-Ohrstedt. Husum 2003, 57, 58. 35 Hier geht es um die Verarbeitung des Kriegstotengedenkens in den Chroniken seit den 1980er-Jahren. Es geht nicht um den Entstehungszeitraum der abgebildeten Ehrenmäler oder Gedenktafeln selbst, die meist aus den frühen 1950er-Jahren stammen. 36 Tams/Pingel (Anm. 25), 108 – 127. Vgl. Abb. am Ende dieses Beitrags. Gemeinde Bohmstedt (Hrsg.): Bohmstedter Chronik, Heft 1. Bredstedt 1988, 148. 37 Vgl. die energische Kritik eines Chronikautors (Tetenbüll) an anderer Stelle: Sönnich Volquardsen: Unsere lieben Gefallenen… In: Nordfriesland 112 (1995), 27. 38 Volker Henningsen: Chronik der Gemeinde Ahrenviöl. o. O. o. J. [1984], 40. 39 Gemeinde Wester-Ohrstedt (Anm. 34), 56; vgl. auch Gemeinde Bohmstedt (Anm. 23), 126 (»dieses schöne Ehrenmal«). Kleinere Relativierungen dieses Bildes bleiben im Wesentlichen

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Die Trauer der Zurückgebliebenen, den Zweifel am Sinn des Kriegstodes oder das gemeinsame Gedenken eigener und fremder Gefallener sowie der Opfer von NS-Gewalt in den Mittelpunkt zu stellen, kommt für das Gros der Chronikautoren offenbar nicht infrage. Das sind jedoch genau die Elemente, die Reinhart Koselleck (1923 – 2006) für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg als bestimmend für das Gedenken auf der nationalen Ebene kennzeichnete.40 Der Blick in nordfriesische Dorfchroniken hingegen zeigt, dass traditionelle Gedenkmuster im lokalen Raum bis zur Gegenwart relativ ungebrochen fortlaufen. Der im 19. Jahrhundert entstandene Sinnstiftungsgehalt der Kriegsteilnahme und des Kriegstodes für ein diesseitiges, politisches Gemeinwesen und dessen zukünftige Generationen bleibt bestimmend. Man hält sich in aller Regel daran, dass die Opfer des Krieges für die Überlebenden erbracht worden sind und darin ihren bleibenden Wert erhalten, so zum Beispiel im Falle der unhinterfragten Wiedergabe der Inschrift auf dem Oster-Ohrstedter Gedenkstein in der Chronik: »Diesen Stein setzte die Dorfschaft Oster-Ohrstedt ihren gefallenen Helden. Es gibt kein Wort für das Opfer zu danken, und es gibt keinen Dank für sie, die da sanken für uns.«41 Auf den ersten Blick handelt es sich in Ortschroniken um eine Form des Gedenkens, die den Anschluss an den »nationalen Entwicklungsstand« verloren hat. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich allerdings eine eigenständige erinnerungskulturelle Tendenz: Das Gedenken wird zunehmend von den jeweiligen historischen und politischen Zusammenhängen gelöst. Krieg wird zu etwas Katastrophenartigem; er bricht von außen herein. Seine Ursachen verlieren sich in nicht spezifizierten überregionalen Zusammenhängen. Dennoch bleibt der Tod darin ein Opfertod, dem weiterhin sinnstiftend gedacht werden kann. Das Gedenken wird allerdings von der nationalen Ebene weitgehend entkoppelt. Es wird gewissermaßen »lokalisiert«, soll heißen: auf den engeren Kreis des Dorfes als Heimat, für die man sich opfert, begrenzt. Das Kriegergedenken trägt dadurch zu dem oben skizzierten Hauptnarrativ der Trennung von Dorf- und folgenlos, das heißt ohne Einfluss auf die Gesamtanlage des jeweiligen Chronikabschnitts, vgl. beispielsweise Gemeinde Wester-Ohrstedt (Anm. 34), 55. 40 Reinhart Koselleck: Gedächtnisstätten im Wandel. In: Der Blaue Reiter 18 (2003), 58 – 62; ders./Michael Jeismann (Hrsg.): Der politische Totenkult. Kriegerdenkmäler in der Moderne. München 1994. Während Koselleck die Ursprünge des zeitgenössischen Kriegsgedenkens bereits in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg verlegt, betont Ulrich Schlie, dass jenes frühestens in den 1960er-Jahren hegemonial wird. Ulrich Schlie: Die Nation erinnert sich. Die Denkmäler der Deutschen. München 2002, 144 f. 41 Gemeinde Oster-Ohrstedt (Anm. 34), 25. Es handelt sich um die 1921 ursprünglich für den Ersten Weltkrieg angebrachte Inschrift, die jedoch nach der Erweiterung der Gedenkstätte im Jahre 1953 umstandslos für beide Weltkriege in Anspruch genommen wurde. Die Einweihung der umgestalteten Gedenkstätte steht wie in vielen Orten Nordfrieslands in Zusammenhang mit der Wiedereinführung des Volkstrauertages.

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Nationalgeschichte bei der Darstellung von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg bei. Somit greift seine Darstellung in den Chroniken die räumliche Struktur eines geschlossenen, homogenen Kernraums umgeben von einer diffusen, heterogenen Umwelt auf und formt es zugleich mit. Es gibt eine Reihe von Elementen, die zusammengenommen für diese Interpretation sprechen und im Folgenden skizziert werden sollen. Erstens trägt die gemeinsame Behandlung des Ersten und Zweiten Weltkriegs, oft im Zusammenhang mit weiteren neuzeitlichen Kriegen, zu einer politischen Entkontextualisierung der jeweiligen Kriege bei. Was ursprünglich einer Bestimmung des Alliierten Kontrollrats geschuldet war, die eine Neuerrichtung von Gedenkeinrichtungen mit militärischem Bezug untersagte, die Erweiterung bestehender Ehrenmäler zum Ersten Weltkrieg aber zuließ, gerät in der Darstellung der Ortschroniken der jüngsten Jahrzehnte zu einer Kontinuität mehr oder weniger katastrophaler Kriegsereignisse, die aus der Perspektive des Dorfes keinen wesentlichen Unterschied machen. In der Oster-Ohrstedter Chronik heißt es: »Nach dem 2. Weltkrieg wurde das Ehrenmal umgestaltet und am Volkstrauertag 1953 feierlich eingeweiht. Am Fundament waren drei weitere Marmorplatten befestigt worden, um auch die Namen der Gefallenen und Vermißten des 2. Weltkrieges festzuhalten. Außerdem wurde das Eiserne Kreuz jetzt von einem Lorbeerzweig auf der linken und einem Eichenlaubzweig auf der rechten Seite eingerahmt. Darunter standen die Worte ›Den Opfern beider Weltkriege 1914 – 18 und 1939 – 45 Die Gemeinde Oster-Ohrstedt‹ gefolgt von dem schon zitierten Satz der Tafel von 1921.«42 Die Gefallenen beider Kriege werden durch eine einfache Konjunktion verbunden, unter einem gemeinsamen Sinnspruch summiert und mit gleichförmigen Abbildungen (Ehrenmal, Gedenktafeln vom örtlichen Kriegerverein) bedacht. Gelegentlich erstreckt sich der gleichförmige Gestus, mit denen der Soldaten des Ersten und Zweiten Weltkriegs gedacht wird, auch auf weitere Kriege. In der Wester-Ohrstedter Chronik fügen sich die Abbildungen zweier Gedenksteine zur Erinnerung an die Jahre 1848 und 1871 kommentarlos in die Dokumentation der Ehrenmäler und Gefallenenlisten zu den Weltkriegen ein.43 Zugrunde liegt das Prinzip, dass auf die Toten aller Kriege der Neuzeit auf der Ebene des Dorfes in gleicher und zusammenfassender Weise zu reagieren ist. Historische, gesellschaftliche und politische Unterschiede werden dadurch fast vollständig herausgefiltert. Die jeweilige Sinnstiftung des

42 Gemeinde Oster-Ohrstedt (Anm. 34), 27. Für die im Zitat erwähnte Inschrift siehe (Anm. 41). 43 Gemeinde Wester-Ohrstedt (Anm. 34), 57; vgl. des Weiteren Gemeinde Bohmstedt (Anm. 23), Heft 2, 157.

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Soldatentodes fällt im Gedenken dieser Kriege in der Ortschronikperspektive gleich aus.44 Ein zweiter Aspekt, der zur »Lokalisierung« des Kriegergedenkens beiträgt, ist die scheinbar reibungslose Abstraktion der Soldaten von den geächteten Institutionen, deren Mitglieder sie waren. Symptomatisch hierfür ist, dass auf den abgebildeten Gedenktafeln der Unterschied zwischen NS-Organisationsangehörigen und anderen nicht zählt. Neben den wenigen in Zivil gekleideten Personen listen die Bildertafeln SS-, SA- und Wehrmachtsangehörige unterschiedslos nebeneinander auf. Es geht um die Stilisierung einer vorbildlichen soldatischen Haltung – einer Opferbereitschaft, die allerdings nicht dem ephemeren staatlichen System, sondern einzig der fassbaren Gemeinschaft vor Ort gegolten habe. Das Sterben in den unterschiedlichen Kriegen bewahrt somit stets den gleichen Sinn unabhängig von deren jeweiliger Ursache. Letztere ist nicht im Dorf zu suchen und braucht anscheinend nicht näher bestimmt zu werden. Die »überzeitliche« Bereitschaft zur Pflichterfüllung wird von ihrem »politischen Hintergrund« nahezu vollständig entkoppelt. Die Benennung der politischen Einheit oder Sache, für die sich die Soldaten aufopferten, erweist sich als kaum konkretisierbar. Einzig als Mitglieder der unpolitischen Dorfgemeinschaft werden sie als ehrbare Helden konserviert. In diesem Sinne ist das Titelzitat des vorliegenden Textes aus der Bohmstedter Chronik zu lesen: »Bis die letzten Bohmstedter aus der Gefangenschaft zu ihren Familien gelangten, dauerte es fast vier Jahre. Unter ihnen waren Männer, die, Wehrdienst und Reichsarbeitsdienst eingeschlossen, in Krieg und Gefangenschaft 12 Jahre in Uniform dem Staate dienten. Es sind Leistungen vollbracht worden, die zumindest im Rahmen einer Dorfchronik Würdigung verdienen, auch wenn der Staat die Leistungen nicht verdiente, weil er auf verbrecherische Ziele ausgerichtet war.«45 Der Wert des Opfers lässt sich von dem politischen Namen, in dem es erbracht wurde, trennen und auf Konstanten im Rahmen des dörflichen Lebens zurückführen. 44 Michael Jeismann und Rolf Westheider schreiben in Bezug auf die Formen einer solchen synkretistischen Gedenkkultur beider Weltkriege mit Blick auf die 1950er-Jahre: »Sie bot sich nicht zuletzt deshalb an, weil sich mit ihrer Hilfe scheinbar die politische Dimension vermeiden ließ – was freilich selbst ein Politikum war.« Michael Jeismann/Rolf Westheider : Wofür stirbt der Bürger? Nationaler Totenkult und Staatsbürgertum in Deutschland und Frankreich seit der Französischen Revolution. In: Koselleck/Jeismann (Anm. 40), 23 – 50, 49. Es ist offenkundig, wie die heikle Erinnerung an die Dorfbewohner, die – teilweise in SSUniform – für das nationalsozialistische Deutschland gekämpft haben, auf diesem Wege bereits durch die simple diachrone Einreihung entschärft werden kann. 45 Gemeinde Bohmstedt (Anm. 23), Heft 1, 107. Bezeichnend ist, dass in den Ortschroniken keinerlei Anzeichen dafür zu finden sind, dass der Krieg nicht mit der Rückkehr oder dem Tod der Soldaten endete, sondern über psychische Traumatisierungen oder militaristische Verhaltenslogiken zum Beispiel tiefer in »das Wesen des Dorflebens« eingedrungen sein könnte.

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Neben diesen beiden Charakteristika des Gedenkens des Zweiten Weltkriegs – Einreihung in eine Kontinuität moderner Kriege, Sinnstiftung des soldatischen Opfertodes für einen überzeitlichen, unpolitischen Dorfzusammenhang – ist ein drittes Merkmal zu nennen: das Ausblenden anderer Opfer. Außer den im Einsatz zu Tode gekommenen Soldaten des Ortes wird in erster Linie der Vermissten und der Kriegsgefangenen gedacht. Vergleichsweise ausführlich werden die Zivilisten, die durch Kriegshandlungen in der unmittelbaren Umgebung des Dorfes zu Tode kamen, behandelt. Oft werden beispielsweise die Opfer von alliierten Bombenabwürfen durch namentliche Nennungen und kurze Erzählungen gewürdigt.46 Die zahlreichen Opfer der NS-Verfolgungen hingegen werden im Kriegsgedenken der Ortschroniken in der überwiegenden Zahl der Fälle vollständig ausgeblendet. Genauso auffällig ist die Unsichtbarkeit von äußeren Feinden. Dass der Soldat als Archetypus eindeutig im Mittelpunkt des Gedenkens in den Chroniken steht – und nicht der oder die Getötete an sich – erzwingt diese Exklusivität: Es kann Opfern von Gewalt, Terror und Verfolgung nur mit ebenso viel Schwierigkeiten an gleicher Stelle gedacht werden wie unfreiwilligen Kriegsteilnehmern und Deserteuren. Denkwürdigkeit ist an den »Prototyp Uniform« gebunden. Die Verfolgungsopfer vor Ort können somit in den entsprechenden Chronikabschnitten zum Zweiten Weltkrieg keinen Platz finden. Sie werden auf eine andere Ebene des Geschehens und in eine andere historiografische Zuständigkeit abgeschoben. Genauso wie der Krieg brach auch die Tötung »innerer Feinde« von außen über das Dorf herein.

4.

Zusammenfassung

Koselleck beschrieb, dass das Einrücken in einen »politischen Funktionszusammenhang« das neuzeitliche Kriegergedenken bestimmte.47 Auf die Ortschroniken der 1980er-Jahre bis zur Gegenwart trifft dies einerseits zu, andererseits aber auch nicht. »Politisch« darf nämlich nicht in einem nationalpolitischen Zusammenhang verstanden werden. Das Gedenken steht in einem »Funktionszusammenhang«, der, so suggerieren die Chroniken, die Grenzen eines engen dörflichen Raums nicht überschreitet. Dieser ist als abgeschlossener Raum externen, nicht selbst verantworteten Wirkkräften ausgeliefert.48 Der 46 Die Chronik des Alten Kooges berichtet von beschossenen Pferdegespannen und abgeworfenen Brandstäben: Heinrich Erichsen: 300 Jahre Alter Koog. Nordstrand. o. O. 1985, 24. Von tödlichem Tieffliegerbeschuss berichtet die Midlumer Chronik: Eike Heinz et al. (Anm. 24), 34. Die Beispiele ließen sich leicht vermehren. 47 Reinhart Koselleck: Kriegerdenkmäler als Identitätsstiftungen der Überlebenden. In: Odo Marquard/Karlheinz Stierle (Hrsg.): Identität. München 1979, 255 – 276, 267. 48 Hier ließe sich anknüpfen an das, was Markus Schroer im Zusammenhang soziologischer

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Zweite Weltkrieg stellt die Extremform einer solchen scheinbar transzendenten, unkontrollierbaren Außeneinwirkung dar, die den lokalen Lebensraum heimsucht. Die Ortschroniken konstruieren – vor allem mittels der drei, im vorangegangenen Abschnitt herausgearbeiteten Mechanismen – einen im Kern geschichtslosen, von politischen Systemwechseln unbeeinflussten Gedächtnisraum, der sich von einer politischen, wechselhaften Umwelt absetzt. 1) In diesem Rahmen kann der affirmative Soldatenkult aufrechterhalten werden, ohne den kriegführenden Staat zu berücksichtigen. Deutsch-Französischer Krieg, Erster und Zweiter Weltkrieg machen erstaunlicherweise keinen Unterschied im lokalen Kriegergedenken. Die Umwelt veränderte sich, nicht der Kern. 2) Das Dorf wird zur einzig verfügbaren Konkretisierung der »Heimat«, für die man sich opferte. Es opferten sich vor allem Dorfbewohner und keine Wehrmachtsangehörigen, SA- und SS-Männer. Das Gedenken kann affirmativ bleiben und dabei zugleich diese »staatlichen« Organisationen verurteilen. 3) Außerdem erlaubt es dieses Schema, die »inneren Feinde« aus der Zuständigkeit der Ortschronik-Historiografie stillschweigend »auszusortieren«. Überall dort, wo Brüche und Risse in die Dorfgemeinschaft hineingetragen wurden, haben diese »externe« Ursachen. Die politischen Spaltungen der Umwelt »durchziehen« das Dorf von außen. Verfolgungsopfer gehören scheinbar nicht in einen Zusammenhang mit den gefallenen Soldaten. Sie opferten sich nicht für die Heimat, sie starben aus »externalisierten« Gründen. Wer diese verstehen will, so scheint es, muss sich der »allgemeinen Geschichte« der NS-Zeit widmen. Man muss die Forschungsliteratur, beispielsweise zur Judenverfolgung, konsultieren. Die Ortschronik sieht sich hierfür nur sehr bedingt als zuständig. Abschließend lässt sich der Bogen vom Umgang mit dem Kriegergedenken zu den eingangs (im zweiten Abschnitt) angestellten Überlegungen spannen. Ortschroniken leisten keine Abstraktionen von der Dorfgeschichte. In vielen Zusammenhängen listen sie vor allem auf, so auch beim Kriegergedenken. Die Nennung bestätigt hierbei gleichsam die Zugehörigkeit zur Dorfgemeinschaft, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Der Sinn des Opfertodes ist relevant für einen eingegrenzten, homogenen Erinnerungsraum bei gleichzeitiger Ausblendung übergreifender, politischer Zusammenhänge. Dass die vermeintliche Dorfgemeinschaft in dieser Geschlossenheit möglicherweise nie existierte, dass sich ihr Charakter über die Zeit stark verändert haben könnte, dass die Dorfgeschichte möglicherweise niemals so scharf von der nationalen Geschichte Konzepte der Moderne als »Privilegierung der Nähe und des Ortes« beschrieben hat, gegenüber der »entferntere«, »gesellschaftliche« Einflüsse tendenziell marginalisiert und kritisiert werden. Markus Schroer : Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums. 4. Aufl. Frankfurt/Main 2012, 11.

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getrennt verlief, sondern dass der Ort eingebettet und bis ins Kleinste von den politischen Wirkkräften durchdrungen war, die in der Chronikperspektive so gründlich aus seiner Geschichte aussortiert werden: Das muss nicht unbedingt eine Folge harmonisierenden Verschweigens sein. Es fällt in jedem Fall durch das räumliche Wahrnehmungsraster.

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Gedächtnis- und Erinnerungslandschaften: Weltnaturerbe Wattenmeer und Nordsee in der Kunst

Das Wattenmeer erstreckt sich von den Niederlanden über Deutschland bis nach Dänemark. Im Jahr 2009 wurden der niederländische, der schleswig-holsteinische und der niedersächsische Bereich zum UNESCO-Weltnaturerbe erklärt. Das Hamburgische Wattenmeer wurde 2011 in die Liste des Welterbes aufgenommen. In Bezug auf naturwissenschaftliche Erkenntnisse wurde das Wattenmeergebiet als weltweit einzigartig erklärt.1 Diese Auffassung, dass die Natur des Wattenmeers einzigartig und schützenswert ist, stellt im historischen Kontext eine relativ junge Sehweise dar. In der Kunst lässt sich diese Veränderung der Wahrnehmung des Wattenmeeres und darüber hinaus der Nordsee ablesen. Aus kultur- und geistesgeschichtlicher Perspektive stellt der Nordsee- und Wattenmeerbereich unter anderen einen Erinnerungs- und Projektionsraum dar. So fungierte dieser Naturraum zum Beispiel als Schauplatz historischer Ereignisse. Exemplarisch sei auf bedeutende Seeschlachten und folgenschwere Sturmflutkatastrophen verwiesen. Zudem kann dem Wattenmeer eine Art Gedächtnis- und Erinnerungsfunktion zugesprochen werden. In früheren Zeiten waren Gebiete besiedelt, die heute aufgrund von Veränderungen der Meeresspiegelhöhe unter Wasser liegen.2 Davon zeugen die archäologischen Funde, die das Watt konserviert hat.3

1 Vgl. unter anderem: Common Wadden Sea Secretariat (CWSS) (Ed.): Nomination of the Dutch-German Wadden Sea as World Heritage Site. Wilhelmshaven 2008; Martin Stock/Ute Wilhelmsen: Wissen Wattenmeer. Neumünster 2011, 13, 27, 63. 2 Jürgen Hasse: Zur mythischen Funktion deklarierter Natur-Landschaften. Das Beispiel des »Weltnaturerbes« Wattenmeer. In: Ludwig Fischer/Karsten Reise (Hrsg.): Küstenmentalität und Klimawandel. Küstenwandel als kulturelle und soziale Herausforderung. München 2011, 97 – 113, 100; Karl-Ernst Behrke: Landschaftsgeschichte Norddeutschlands. Neumünster 2008; Kai Niederhöfer : Settlement history of a lost landscape – archaelogical remains in East Frisian tidal flats. In: Wadden Sea Ecosystem 26, Proceedings of the 12th International Scientific Wadden Sea Symposium. Wilhelmshaven 2010, 167 – 171; Hans Joachim Kühn: Jenseits der Deiche. Archäologie im nordfriesischen Wattenmeer. In: Claus von Carnap-

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In der Kunst werden historische Ereignisse wie verheerende Sturmflutkatastrophen oder Kriege abgebildet. Ebenso werden physische Veränderungen des realen Raumes aufgegriffen. Zudem werden kulturelle und nationale Belegungen visualisiert. Somit kann Kunst ein Reflexionsmedium gesellschaftshistorischer, politischer und kultureller Prozesse darstellen und besitzt damit eine Art Gedächtnisfunktion.4 Weiterhin kann sich durch Kunst ein Diskurs über Vergangenes und Gegenwärtiges entfalten. Der schöpferische Akt eines Künstlers kann neue Sehweisen und Darstellungsweisen initiieren. Der subjektivistische Landschaftsbegriff beinhaltet, dass Landschaft eine mental, »im empfindenden Subjekt existierende Ganzheit darstellt« und primär eine bildhafte Vorstellung ist.5 In objektivistischer Deutung dagegen stellt die Landschaft eine »extramental reale, funktionale Ganzheit, eine ganzheitliche materielle Wirklichkeit« dar.6 Da in dieser Studie die Darstellungstraditionen des Wattenmeers und der Nordsee in der Kunst analysiert werden, erfolgt eine Anlehnung an den subjektivistischen Landschaftsbegriff. Obwohl Nordsee und Wattenmeer als etwas real Gegebenes und physisch Erfahrbares existieren, gibt es nicht die »eine« Sehweise auf dieses Meer. Die Wahrnehmung des Wattenmeeres und der Nordsee unterliegt einer subjektiven Vieldeutigkeit, die unter anderem durch kulturgeschichtliche, naturphilosophische und politische Kontexte bedingt ist.7 Dabei spiegeln die künstlerischen Darstellungen nicht zwingend die Wahrnehmung des Künstlers. Theorien der Ästhetik und der individuelle Künstlerkontext sind ebenfalls von Bedeutung. Im Folgenden wird ein Einblick in die künstlerischen Darstellungstraditionen des Wattenmeeres und der Nordsee gegeben. Die UNESCO hat geografische Begrenzungen des Welterbegebiets vorgenommen.8 In dieser Studie wird allerdings kein konkret abgegrenzter Raum betrachtet, sondern im Kontext subjektivistischer Landschaftswahrnehmung werden visualisierte Vorstellungen des norddeutschen Naturraumes in der Kunst analysiert. Dies erfolgt anhand

3 4 5 6 7 8

Bornheim/Christian Radtke (Hrsg.): Es war einmal ein Schiff: archäologische Expeditionen zum Meer. Vorwort von Jochen Missfeldt. Hamburg 2007, 251 – 284. Steffen Wolters: Torf vom Meeresgrund – Schlüssel zur Naturgeschichte der Nordsee. In: Archäologie in Deutschland 6 (2009), 22 – 25; vgl. zudem Behrke (Anm. 2); Niederhöfer (Anm. 2); Kühn (Anm. 2). Michael Diers: Mnemosyne oder das Gedächtnis der Bilder. Über Aby Warburg. In: Otto Gerhard Oexle (Hrsg.): Memoria als Kultur. Göttingen 1995, 79 – 94. Thomas Kirchhoff/Ludwig Trepl (Hrsg.): Vieldeutige Natur. Landschaft, Wildnis und Ökosystem als kulturgeschichtliche Phänomene. Bielefeld 2009, 26, 33 – 37. Ebd., 26, 37 – 41. Vgl. dazu unter anderem: Ebd.; Bernd Rieken: »Nordsee ist Mordsee«: Sturmfluten und ihre Bedeutung für die Mentalitätsgeschichte der Friesen. Münster et al. 2005, 15. http://www.waddensea-worldheritage.org/de, 25. 07. 2012.

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exemplarischer künstlerischer Darstellungen, deren Bedeutung für die Erinnerungskultur herausgestellt wird.

Die Bedeutung von Sturmfluten und Deichbau Überschwemmungskatastrophen und sukzessive Eindeichung des Meeres prägten über Jahrhunderte die Wahrnehmung von der Nordsee. Das Leben an der Nordsee und die durch den Deichbau verbundene wirtschaftliche Erschließung des dahinterliegenden Binnenlandes waren ein identitätsstiftender Faktor für die Friesen.9 »Deus mare, Friso litora fecit« – Gott schuf das Meer, der Friese die Küste.10 Die Friesen besaßen im Mittelalter eine besondere Stellung, die sie unter anderem dem Leben an der Nordsee zu verdanken hatten: Das Modell »Friesische Freiheit« beinhaltete ein eigenes Rechtssystem, das sich vom weit verbreiteten Feudalsystem unterschied.11 Die Friesen hatten insbesondere die Aufgabe, das Land und das Volk vor dem Meere zu schützen.12 Damit waren die Durchführung von Küstenschutzmaßnahmen und die Verteidigung gegen normannische Überfälle gemeint. Im 21. Jahrhundert hat Monika Kühling (* 1939) die Bedeutung der Friesischen Freiheit für die Identität der Küstenbewohner in einer Installation thematisiert. Bestimmte Küren (Gesetze) der Friesischen Freiheit sind auf Spruchbändern dargestellt. Die Installation wurde über der Allee zur Klosterstätte Ihlow installiert. In dieser Gegend befindet sich der damalige Versammlungsort der Abgesandten der friesischen Landesgemeinden, namens Upstalsboom. Der reale Raum wurde durch die Installation verändert und symbolisch aufgeladen. Die Erinnerung an die Friesische Freiheit wird durch die Installation hervorgerufen. Jedoch beinhaltete das Leben an der Nordsee nicht nur positive Aspekte. Diesem Meer wurde lange Zeit aufgrund von Sturmfluten, die unzählige Tote und Landverlust forderten, und damit einhergehender Seuchengefahr mit Angst und Furcht begegnet.13 Auch dies wird in der Kunst reflektiert. Beispielhaft sei auf die Grafik von Johann Melchior Füesslin (1677 – 1736) verwiesen. Die Zer9 Dirk Meier: Die Nordseeküste. Geschichte einer Landschaft. Heide 2007, 155. 10 Ebd. 11 Bernd Rieken: Die Friesen und das Meer. In: Fischer/Reise (Anm. 2), 66; Heinrich Schmidt: Zur »Ideologie« der Friesischen Freiheit im Mittelalter. In: Hajo van Lengen (Hrsg.): Die Friesische Freiheit im Mittelalter – Leben und Legende. Aurich 2003, 318 – 345. 12 Wybren Jan Buma/Wilhelm Ebel (Hrsg.): Das Rüstringer Recht. Göttingen 1963; Dies. (Hrsg.): Westerlauwerssches Recht. Bd. 1: Ius municipale Frisonum. Göttingen 1977, 38. 13 Julia Meyn: »Mit dem Meer wird man geboren« – Vom Leben an der Küste Nordfrieslands (Studien zur Alltagskulturforschung 5). Wien et al. 2007, 23 – 28.

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Monika Kühling, Friesische Freiheit, Monika Kühling.

Johann Melchior Füesslin, Darstellung der Sturmflut von 1717, Nordfriesisches Institut.

störungen infolge der Sturmflut des Jahres 1717 sind dargestellt. Die Angst der Menschen vor der Gewalt der Nordsee und deren zerstörerische Macht sind

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sichtbar. Im Untertitel heißt es »Vorstellung der großen Wasser Flut, die Gottes Hand den 25. und 26. Dezember über viel Land geführt, in der viel Menschen, viel Häuser (…) jämmerlich umkamen und zu Grund gegangen.« Dieses Werk erinnert daran, dass Sturmfluten und ihre verheerenden Auswirkungen als von Gott gesandt empfunden wurden und kollektive Angst und Furcht auslösten.14 Im 18. Jahrhundert liegen zwei kontroverse Haltungen vor: Zum einen wurde der Gewalt des Meeres mit gottesfürchtiger Passivität begegnet. Zum anderen entwickelte sich ein auf aufklärerischer rationaler Haltung basierendes Naturverständnis.15 Im weiteren zeitlichen Verlauf vollzog sich mit der Entwicklung effektiverer Küstenschutzmaßnahmen und technischer Verbesserungen beim Deichbau und der zunehmenden Verbreitung von aufklärerischem Gedankengut eine Änderung in der Naturauffassung. Aus der »uralten« Angst vor dem Meer erwuchs eine Haltung, dieses als berechenbar zu begreifen.16 Sturmfluten werden nicht mehr als von Gott gesandt empfunden, sondern auf der Basis von Naturgesetzen als erklärbar betrachtet. Durch diese veränderte Wahrnehmung ergaben sich für den Menschen innovative Handlungsstrategien im Küstenschutz und ein neues Selbstbewusstsein entwickelte sich. Dieses zeigt sich sowohl in der Literatur als auch in der Kunst. Exemplarisch sei auf die holländische Marinemalerei im Goldenen Zeitalter verwiesen.17 Bereits im 17. Jahrhundert war die Republik der Vereinigten Niederlande zu einer der größten Wirtschaftsund Seemächte aufgestiegen. Diese Zeit war geprägt von der Landgewinnung. Ein nationales Bewusstsein und ein Repräsentationsbedürfnis bürgerlicher Kreise spiegeln sich in diesen Werken. 14 Manfred Jakubowski-Tiessen: Mentalität und Landschaft. Über Ängste, Mythen und die Geister des Kapitalismus. In: Ludwig Fischer (Hrsg.): Kulturlandschaft Nordseemarschen. Bredstedt/Bräist 1997, 130; Meyn (Anm. 13), 23 – 28; Manfred Jakubowski-Tiessen: Vom Umgang mit dem Meer. Sturmfluten und Deichbau als mentale Herausforderung. In: Fischer/Reise (Anm. 2), 58; Dietrich Hagen: Der Deichbruch als Gottesurteil? Zur Deutung einer Naturkatastrophe am Anfang des 18. Jahrhunderts. In: Corinna Endlich (Hrsg.): Kulturlandschaft Marsch. Natur – Geschichte – Gegenwart. Oldenburg 2005, 186 – 196. 15 Exemplarisch für erstgenannte Haltung sei auf die im Jahr 1740 vom Eiderstedter Pastor und späterem Probst Petrus Petrejus verfasste Schrift »Historische Nachricht vom Teich=Wesen« verwiesen. Vgl. Petrejus, Petrus: Von der Stadt und dem Amt Tondern und vom Deichwesen, 1740, hrsg. v. Panten, Albert/Sandelmann, Heinz, Bredstedt/Bäist 1993, 267 f; ebenso Jakubowki-Tiessen (Anm. 14), 55. Dagegen steht die Auffassung des gebürtigen Eiderstedter Philosophie- und Mathematikprofessors Johann Nikolaus Tetens; vgl. Tetens, Johann Nikolaus: Über den eingedeichten Zustand der Marschländer, und die demselben anklebende Gefahr vor Überschwemmungen, eine Vorlesung, gehalten in der Versammlung der schleswig-holsteinischen patriotischen Gesellschaft den 3ten October 1787, in: Schleswig-Holsteinische Provinzial-Berichte, S. 641 – 665, hier: 646 – 660; vgl. ebenso JakubowkiTiessen (Anm. 14), 56 f. 16 Fischer/Reise (Anm. 2), 20; Jakubowki-Tiessen (Anm. 14), 59 – 60. 17 Vgl. hierzu: Hubertus Gaßner/Martina Sitt (Hrsg.): Segeln, was das Zeug hält. München 2010.

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Das Motiv »Sturmflut« wurde in der Kunst in unterschiedlicher Weise immer wieder thematisiert, so beispielsweise in einem Werk aus dem frühen 20. Jahrhundert von Hans Peter Feddersen (1848 – 1941). Der Titel »Blanker Hans« steht für die aufgewühlte Nordsee. Die Bildsprache hat sich geändert. Das Meer ist zum eigenständigen Motiv avanciert.

Hans Peter Feddersen, Blanker Hans, http://dokbase.digicult-museen.net/eingabe/bilder/data/ mitte/900/a-12 – 12_Feddersen-Blanker-Hans.jpg, 20. 11. 2013.

Am Ende des 20. Jahrhunderts schien die Angst vor dem Meer durch die umgesetzten wirkungsvollen Küstenschutzmaßnahmen weitestgehend gebannt.18 Heute jedoch kehren mit bedrohlichen Prognosen infolge des Klimawandels gewisse Ängste zurück.19 Durch Wetterextreme und einen steigenden Meeresspiegel könnte sich die vom Menschen angenommene Beherrschung des Meeres als illusionär erweisen. Der in Dangast von Eckhart Grenzer (*1943) errichtete »Friesendom« fungiert zum einen als Mahnmal in Bezug auf die potenzielle Bedrohung, die vom Meer ausgehen kann, und zum anderen ebenfalls als Gedächtnisort für die Opfer vergangener Sturmfluten.20 Ein sechs Meter hoher Granitblock wurde in vier Teile gespalten. Die Zwischenräume der Skulptur sind begehbar. Im Zentrum ist eine bronzene Glocke angebracht, die bei Orkanwindstärken läuten soll, um die Menschen vor Sturmfluten zu warnen. 18 Hasse (Anm. 2), 104. 19 Ebd., 104 f. 20 http://www.eckartgrenzer.de/friesendom.html, 23. 04. 2012.

Wattenmeer und Nordsee in der Kunst

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Am Friesendom sind die in Sturmfluten untergegangenen Orte verzeichnet. Somit hat dieses direkt an der Nordsee im öffentlichen Raum situierte Kunstwerk Erinnerungs- und Mahnfunktion.

Eckhart Grenzer, Friesendom, privat.

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Veränderungen der Naturwahrnehmung durch die Theorien des Erhabenen und durch romantische Strömungen Naturphilosophische Strömungen prägten Sehweisen auf die Natur und damit ebenfalls auf das Meer. Exemplarisch sei auf die »Theorien des Erhabenen« von Edmund Burke (1729 – 1797), Immanuel Kant (1724 – 1804) und Friedrich von Schiller (1759 – 1805) verwiesen.21 In diesen wird eine Naturwahrnehmung beschrieben, die im Kontrast zur idyllischen harmonischen Landschaftsaneignung stand. Allerdings belegte Kant im Gegensatz zu Burke die Idee des Erhabenen mit moralischen Ideen.22 Schiller griff Kants Theorie auf und führte diese im Rahmen seines Konzeptes der ästhetischen Erziehung weiter aus.23 Durch die Theorien wurde ein Interesse an der rauen und übermächtigen Natur evoziert, sowohl an dem vom Sturm aufgepeitschten Ozean als auch an dem grenzenlosen ruhigen Meer. Die Vernunfttätigkeit stellt in den Theorien Kants und Schillers den wesentlichen Aspekt zur Erhöhung des Menschen dar : Indem eine Person sich die Unbegrenztheit der Vernunft bewusst macht, ist sie der als furchtbar empfundenen Natur – zum Beispiel dem vom Sturm aufgepeitschten Meer – oder anderen als erhebend gekennzeichneten Phänomenen überlegen. In der Romantik, in der dem Gefühl ein höherer Stellenwert als der Vernunft zugeschrieben wurde, kam es zu einer Abschwächung dieser moralischen Komponente im Rahmen der sublimen Erfahrung. In dieser Zeit entstanden neue Wahrnehmungsmodelle des Meeres: Dieses fungiert als ein Ort der Kontemplation. In Caspar David Friedrichs (1774 – 1840) Werk »Mönch am Meer« ist eine neue Darstellungsform von Mensch und Meer gewählt. Diese Bildkonzeption – die Konfrontation des auf einem minimalen Strandabschnitt befindlichen, klein wirkenden Menschen mit dem riesigen Himmelsraum, den eine bedrohlich wirkende Wolkenfront beherrscht – regte dazu an, existenzielle Fragen, das Sein der Menschheit betreffend, zu stellen.24 Das Meer stellt zwar nicht die Nordsee dar, doch dieses Bild setzte Maßstäbe für die Kunst. 21 Edmund Burke: Philosophische Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen. 2. Aufl. Hamburg 1989; Immanuel Kant: Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen. In: Ders.: Vorkritische Schriften bis 1768. Darmstadt 1983; ders.: Kritik der Urteilskraft. Frankfurt/Main 1974, Erstauflage 1790, 164 – 277; Friedrich Schiller : Vom Erhabenen. In: Benno von Wiese (Hrsg.): Schillers Werke Nationalausgabe. Bd. 20, Philosophische Schriften erster Teil. Weimar 1962, 171 – 195; ders.: Über das Erhabene. In: Ebd. Bd. 21, Philosophische Schriften zweiter Teil. Weimar 1963, 38 – 56. 22 Kant: Beobachtungen (Anm. 21); Kant: Kritik der Urteilskraft (Anm. 21). 23 Schiller : Vom Erhabenen (Anm. 21); Schiller : Über das Erhabene (Anm. 21). 24 Eberhard Roters: Jenseits von Arkadien. Die romantische Landschaft. Köln 1995, 27ff, 65; Nina Hinrichs: Caspar David Friedrich – ein deutscher Künstler des Nordens. Kiel 2011, 86 – 89.

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Die Nordsee war jedoch kein populäres Motiv der berühmten Maler der Romantik. In den 1841 veröffentlichten Reisebeschreibungen von Theodor von Kobbe (1798 – 1845) Wanderungen an der Nord- und Ostseeküste, die in der Reihe »Das malerische und romantische Deutschland« erschienen, wertet er die Aufgabe, die Nordseeküstenlandschaft im romantischen Lichte zu beschreiben, als undankbar und schwierig.25 In seiner Schrift ist jedoch eine Faszination für die Landschaft, die Nordsee und die Menschen ersichtlich. Beispielsweise spricht er den freiheitsliebenden Seemännern, die er in der Tradition der Freibeuter sieht, eine romantische Komponente zu.26 Weiterhin thematisiert er die gefährliche Arbeit der Helgoländer Lotsen.27 Die anbei abgebildete Illustration verbildlicht ein vor Helgoland in Seenot geratenes Schiff, dem ein Lotsenboot zur Hilfe eilt. Kobbe schildert ebenfalls »erhabene Naturszenen«, allerdings ohne die moralische Belegung aufzugreifen.28 Dabei bezieht er sich auf die schroffen Felsgebilde Helgolands. Ebenfalls beschreibt er touristische Wattwanderungen bei Helgoland und betont die Gefahren durch die überraschend einsetzende Flut, durch Steinschlag sowie durch das Ausrutschen auf dem Wattboden.29 Viele Gäste besuchten Helgoland aufgrund der Heilwirkung des Meereswassers, des Klimas und der salzigen Luft.

Entwicklung des Seebäderwesens und die Entstehung von Künstlerkolonien an der Nordseeküste Mit der Entstehung des Seebäderwesens Ende des 18. Jahrhunderts wurden die Küsten und Inseln als Erholungsräume entdeckt. Im Jahr 1797 wurde auf Norderney ein Seebad gegründet.30 In den nächsten Jahrzehnten erfolgte die Einrichtung von Seebädern in Cuxhaven, Wyk auf Föhr und auf Helgoland.31 Einhergehend mit dem beginnenden Tourismus setzte die breite Entdeckung der Schönheit des Wattenmeeres und der Nordsee ein.32 Die ersten Freilichtmaler kamen an die Küste und auf die Inseln. Die Nordsee wurde verstärkt als künstlerisches Motiv entdeckt. Auch Sylt und Helgoland wurden von Künstlern bereist. So 25 Wilhelm Cornelius/Theodor von Kobbe: Wanderungen an der Nord- und Ostsee. Nachdruck Leipzig 1841. Hildesheim-New York 1973, 1. 26 Ebd., 3. 27 Ebd., 21 – 29. 28 Ebd., 20. 29 Ebd., 13. 30 Meyn (Anm. 13), 39 f. 31 Thorsten Sadowsky (Hrsg.):Von Bergen bis Bergen. Heide 2009, 10. 32 Meyn (Anm. 13), 39 – 44.

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Gez. J. H. Sander, gest. A. H. Payne, Helgoländer Lotsen, in: Wilhelm Cornelius/Theodor vonKobbe:Wanderungen an derNord- und Ostsee.Nachdruck Leipzig 1841. Hildesheim-New York 1973.

unternahm der französische Maler Charles Hoguet (1821 – 1870) eine Reise nach Helgoland und diese inspirierte ihn zu dem Werk »Helgoland – Westseite Felswatt« (1856), in dem er eine typische damalige Reisesituation festhält.33 Mit der Abkehr vom traditionellen Akademieleben entstanden gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland – auch an der Nordseeküste – Künstlerkolonien. Ein Beispiel eines an der Wattenmeerküste bestehenden Künstlerkreises ist die Kolonie in Duhnen im Cuxhavener Raum. Ende des 19. Jahrhunderts entdeckten Karlsruher Akademiestudenten unter der Leitung ihres Professors das kleine Fischerdorf und gründeten dort eine Künstlerkolonie.34 In den Jahren 1895 bis 1903 hielten sich die Künstler temporär in dem idyllisch gelegenen Fischerdorf auf, um dort zu arbeiten.35 Exemplarisch sei auf das von Karl Otto Matthaei (1863 – 1931) gefertigte Werk »Dämmerung im Watt« verwiesen. Der harmonische Charakterzug der Landschaft wird betont. Die raue, stürmische Seite der Nordsee wurde dagegen selten thematisiert. Ein Grund lag darin, dass die Künstler die Region nur im Sommer besuchten. 33 Sadowsky (Anm. 31), 58. 34 Zur Duhner Künstlerkolonie vgl. unter anderem: Peter Bussler : Maler im Watt und an der Küste. Die Künstlerkolonie Duhnen. Fischerhude 2007. 35 Bussler 2007 (Anm. 34), 6.

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Charles Hoguet, Helgoland, Altonaer Museum.

Karl Otto Matthaei, Dämmerung im Watt, Heimatarchiv Cuxhaven.

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Es war eine Malerkolonie auf Zeit. Ihre Werke dokumentieren die Einsamkeit und Schönheit der Region, bevor sie für den Tourismus entdeckt wurde. Die entstandenen Bilder der Duhner Künstlerkolonie zeigen weitestgehend harmonische Ansichten dieser Wattenmeergegend und der in ihr lebenden Menschen.

Die Überwindung von Malereikonventionen: Freie Farb- und Formexperimente Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts änderten sich im Kontext avantgardistischer Strömungen die realistisch-naturalistischen Darstellungen.

Karl Schmidt-Rottluff, Strand mit Körben, http://www.landesmuseum-oldenburg.niedersachsen. de/live/institution/mediadb/mand_184/pspic/zoombild/74/bl_KDM_Jul4c29b11566257.jpg, 20. 11. 2013.

Karl Schmidt-Rotluff (1884 – 1976), Erich Heckel (1883 – 1970), Emma Ritter (1878 – 1972) und Max Pechstein (1881 – 1955) hielten sich von 1907 bis 1912 mit Unterbrechungen in Dangast auf. Sie strebten ein natürliches, »unmittelbares« und unverfälschtes Leben jenseits der Städte sowie eine Überwindung der konservativen Kunststile und Ideale an.36 In starker Farbigkeit und expressiver Form brachten sie zum Ausdruck, was sie angesichts dieser Landschaft empfunden haben, wie beispielsweise das Bild »Strand mit Körben« von SchmidtRottluff zeigt.37 Allerdings wurden die Künstler an der Nordseeküste nicht sesshaft. Ein weiterer Künstler, Emil Nolde (1867 – 1956), durchbrach mit seinen Bildern die bisher üblichen Konventionen von Meeresdarstellungen. Er lebte lange Zeit an 36 Vgl. unter anderem den Katalog: Expressionisten in Dangast. Karl Schmidt-Rottluff, Erich Heckel, Max Pechstein, Emma Ritter, Franz Radziwill. Oldenburg 1998, 8 f.; Janina Dahlmanns: Erich Heckels Dangaster Zeit. In: 100 Jahre Künstlerort Dangast: Karl SchmidtRottluff, Erich Heckel, Franz Radziwill. Oldenburg 2007, 36. 37 Andreas Hüneke: Die Dangaster Jahre der »Brücke«-Maler 1907 – 1912. In: Expressionisten (Anm. 36), 13; Dahlmanns (Anm. 36), 36.

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der nordfriesischen Nordseeküste auf einer Warft in seinem Künstlerhaus Seebüll. In seinen Bildern wollte er die Nordsee nicht abbilden, sondern Farben und Empfindungen in den Vordergrund stellen.38 Auf seiner Suche nach einer neuen Bildsprache inspirierten ihn beispielsweise die Lichtreflexionen am Meer und in der häufig überschwemmten Marschlandschaft. In seinen Bildern ist ersichtlich, dass er diese Landschaft immer wieder anders erlebte und visuell umsetzte.

Emil Nolde, Halliglandschaft, Emil Nolde. Begegnung mit dem Nordischen, Ausst. Kat. Kunsthalle Bielefeld, hg. v. Jutta Hülsewig-Johnen, Bielefeld 2008, S. 59.

Die Wattenlandschaft, das Typische für die Nordseeregion, in der Nolde lebte, griff er jedoch motivisch nur selten auf. Eines der wenigen Werke ist das Aquarell »Halliglandschaft«. Im Hintergrund ist ein Streifen Watt zu sehen, auf dem ein trockengefallenes Schiff dargestellt ist. Jedoch stellt das Watt in diesem Werk kein eigenständiges Motiv dar. In Noldes Bildern zeigt sich der individuelle Einfluss der Nordsee auf sein Künstlergemüt. Parallel zu den freien Farb- und Formexperimenten schufen die wilhelminischen Marinemaler zeitgleich andere Darstellungen der Nordsee.

Die Verbildlichung einer nationalen Seefahrtsgeschichte im Wilhelminischen Reich Unter Kaiser Wilhelm II. (1859 – 1941) wurde die Nordsee in der Malerei zur Bühne für die Demonstration der Stärke deutscher Seefahrt und der militärischen Aufrüstung. Die Marinemalerei wurde für nationale Zwecke funktionalisiert.39Im Kontext der Aufrüstungspolitik sollte auch die Kunst das Interesse der Bevölkerung an der deutschen Seefahrt wecken. Durch die Marinemalerei wurde eine heroische nationale Seefahrtsgeschichte der Deutschen verbildlicht. In der Zeit des Ersten Weltkriegs erfolgte eine Vereinnahmung der Kunst für propagandistische Zwecke.40 In Form von Illustrationen in Zeitschriften und als 38 Nina Hinrichs: Emil Nolde: Einflüsse von Nordsee- und Wattenmeerregion. In: Jutta StröterBender/Annette Wiegelmann-Bals (Ed.): World Heritage and Arts Education. 5. Ausg. Paderborn 2011, 58 – 72; http://www.unesco.de/3824.html, 15. 05. 2013. 39 Lars Uwe Scholl: Deutsche Marinemalerei 1830 – 2000. Helgoland 2002, 31 – 58. 40 Die im Ersten Weltkrieg gefertigten Marinemalereien zeigen nicht ausschließlich die

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Postkartenmotive fanden die Bilder weite Verbreitung. Kritische Darstellungen von Leiden und Tod im Seekrieg waren nicht gewünscht. Exemplarisch sei das Werk von Willy Stöwer (1864 – 1931) erwähnt, mit dem er Kaiser Wilhelm II. zum Geburtstag gratulierte. Folgende Inschrift steht im Bild: »Seinem allergnädigsten Kaiser erlaubt sich zum 27. Jan. 1915 in deutscher Treue und Liebe alleruntertänigste Glückwünsche zu Füssen zu legen. Willy Stöwer«. Das Bild zeigt eine Seeschlacht im Ersten Weltkrieg in der Nordsee, bei der Dogger Bank.41 Willy Stöwer war neben Carl Saltzmann (1847 – 1923) und Hans Bohrdt (1857 – 1945) ein enger Vertrauter des Kaisers, der ihn auf Nordland- und Mittelmeerfahrten begleitet und an Flottenmanövern teilgenommen hatte.42

Willy Stöwer, Deutscher Panzerkreuzer im Gefecht, in: Hormann, Jörg-M./Scheele, Friedrich (Hrsg.): »Kunst braucht Gunst!« Willy Stöwer. Marinemaler und Illustrator der Kaiserzeit, Rastede 2000, S. 14.

Nicht nur im Ersten, sondern auch im Zweiten Weltkrieg wurde die Nordsee Schauplatz für die Propaganda der Kriegsmarine.

Nordsee, sondern ebenfalls andere Meere, die zum Kriegsgebiet gehörten. Michael Salewski: Zur deutschen Marinepolitik in Krieg und Frieden. In: Lars Uwe Scholl: Claus Bergen 1885 – 1964. Bremerhaven 1982, 18. 41 Jörg M. Hormann/Friedrich Scheele (Hrsg.): »Kunst braucht Gunst!« Willy Stöwer. Marinemaler und Illustrator der Kaiserzeit. Rastede 2000, 14. 42 Scholl (Anm. 40), 24.

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Wattenmeer und Nordsee im Nationalsozialismus: Kriegsbühne, Rassenraum und Landgewinnung Gerade zur Zeit des Nationalsozialismus waren Kriegsmarinedarstellungen, wie das Werk »Deutscher Zerstörer auf der Wacht in der Nordsee (Zerstörer Karl Galster‹)« (1940) von Claus Bergen (1885 – 1964), sehr gefragt. Diese sollten die militärische Überlegenheit und den Siegeswillen Deutschlands verkörpern.

Claus Bergen, Deutscher Zerstörer auf der Wacht in der Nordsee, Rosenberg Alfred: Grosse Kunst im grossen Schicksal, in: Kunst im Deutschen Reich 8/9 (1940), S. 228 – 235, S. 230.

Auch das Projekt der Nationalsozialisten, im Wattenmeer verstärkt Landgewinnung durchzuführen, diente häufig als Motiv. Zum Beispiel hat Erna Lendvai-Dircksen (1883 – 1962) Fotografien davon angefertigt.43 Die Landgewinnungsmaßnahmen werden dabei als Kampf gegen die Nordsee ausgelegt und mit militärisch aufgeladener Metaphorik beschrieben: Folgender Text kommentiert diese Fotografie mit dem Titel »Arbeitsdienst bei Dagebüll«.44 »Deutsche Jugend mit dem Spaten erobert Neuland, gegen die alte wilde Nord- und Mordsee ist ein neues junges Heer ausgezogen.«45 Die Fotografin stellt nicht die arbeitenden Männer in den Mittelpunkt, sondern das noch überflutete Land, das es zu entwässern gilt. Ein Ergebnis dieser Entwässerungsmaßnahmen war die Gewinnung des Adolf-Hitler-Kooges.46 Dieser avancierte zum propagandistischen Vorzeigeob43 44 45 46

Erna Lendvai-Dircksen: Das deutsche Volksgesicht. Bayreuth [ca. 1936], 38 – 41. Ebd., 38. Ebd. Frank Trende: Neuland! War das Zauberwort. Neue Deiche in Hitlers Namen. Heide 2011.

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jekt: Im Kontext nationalsozialistischer Blut- und Boden-Ideologie sollte es ein Musterkoog bezüglich rassenpolitischer Maßnahmen darstellen. Die Neusiedler wurden anhand angeblich rassischer Kriterien ausgewählt. Eine Volksgemeinschaft, bestehend aus Bauern, Handwerkern und Arbeitern, sollte gegründet werden.

Erna Landvai-Dircksen, Fotografie, Arbeitsdienst bei Dagebüll, in: Lendvai-Dircksen, Erna: Das deutsche Volksgesicht, Bayreuth [ca. 1936], S. 39.

Auch Landschaftsmalereien der Nordsee und des Wattenmeeres standen im Zeichen nationalsozialistischer Ideologie. Letztere wurden als »arteigene« Darstellungen von Heimat deklariert. Als Beispiel eines von den Nationalso-

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zialisten gewürdigten Werkes mit Nordseemotivik lässt sich das Bild »Sonnenaufgang an der Nordsee« von Alf Bachmann (1863 – 1956) anführen.47

Bilder der Nachkriegszeit: Thematisierung der Selbstvernichtung der Menschheit Nicht ausschließlich propagandistische Absichten, sondern ebenfalls die Zerstörung und Vernichtung, die der Zweite Weltkrieg mit sich brachte, können aus Kunstwerken mit dem Motivkreis der Nordsee gelesen werden. Verwiesen sei auf Bilder von Franz Radziwill (1895 – 1983). Der Künstler war ein Vertreter des Magischen Realismus. In seinen Werken zeigt sich die subjektive Aneignung des Wattenmeer- und Nordseeraums: Er visualisierte unter anderem apokalyptische Visionen. Radziwill besaß ein zwiespältiges Verhältnis zum Nationalsozialismus.48 Sich seit dem Jahr 1930 zur NSDAP bekennend, wurde er im Jahr 1933 Mitglied. Er wurde in seiner Kunst anfänglich geehrt, dann jedoch wurden einige seiner Werke als »entartet« eingestuft. Trotz der Entlassung aus dem Düsseldorfer Lehrstuhl engagierte sich Radziwill weiter für die nationalsozialistische Bewegung. Von 1939 bis 1941 war er Soldat, wurde aufgrund seines Alters freigestellt, nahm aber am Volkssturm der letzten Kriegsmonate teil. Des Weiteren war er Gast der Kriegsmarine und dokumentierte die Kriegsmaschinerie in seinen Werken, in die ebenfalls Eindrücke des Ersten Weltkrieges mit einflossen. Aus der englischen Kriegsgefangenschaft konnte er fliehen und wurde 1949 im Entnazifizierungsverfahren als entlastet eingestuft. Franz Radziwill griff in seinen Werken häufig Motive aus seiner Heimat Dangast und der Umgebung auf. Verwiesen sei etwa auf das 1945 angefertigte Bild »Friesische Landschaft«. Nach dem Zweiten Weltkrieg – im Jahr 1953 – kreierte er das Gemälde »Der Kosmos kann zerstört werden, der Himmel nicht«. Zu diesem ist eine zehn Jahre später getätigte Aussage Radziwills überliefert: »Später erfuhr ich, daß die Engländer zwischen sky und heaven unterscheiden. Auf meine kindliche Art kam ich zu einer ähnlichen begrifflichen Unterscheidung. Der Himmel Gottes war etwas anderes als der meßbare, mit Flugzeugen befahrbare Raum über unseren Köpfen. Gott war für mich größer und war nunmehr absolute Transzendenz geworden.«49 47 Werner Rittich: Das Meer und die Kunst. In: Kunst im Deutschen Reich 1 (1943), 9. 48 Vgl. unter anderem: Birgit Neumann-Dietzsch/Viola Weigel (Hrsg.): Der Maler Franz Radziwill in der Zeit des Nationalsozialismus. Bielefeld 2011; Eduard Dohmeier: Verstörende Bilder. Das Werk von Franz Radziwill im »Dritten Reich«. Oldenburg 2007. 49 Zitiert nach Waldemar Augustiny : Franz Radziwill. Niedersächsische Künstler der Gegenwart. Göttingen 1964, 6.

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Franz Radziwill, Der Kosmos kann zerstört werden, der Himmel nicht, http://www.radziwill.de/ Bilder/imprint/Kosmos.jpg, 20. 11. 2013.

Die Bedeutung des Bildes verweist somit im Kontext von Radziwills Vorstellung des Göttlichen auf das Transzendentale und Übernatürliche. Charakteristisch für die Gemälde, die apokalyptische Szenarien darstellen, ist ein gemalter Riss durch Himmel und Landschaft. Radziwills Bilder sind individuelle Reflexionen der damaligen gesellschaftspolitischen Situation. In seinen Werken, in denen die Motivik der Nordseeküste aufgegriffen ist, kann die Zerstörbarkeit und Selbstvernichtung der Menschen in einer Welt des technischen Zeitalters gelesen werden.

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Anthony Gormley, Another Place, http://www.antonygormley.com/uploads/images/de_cuxha ven_anotherplace_1997_003.jpg, 20. 11. 2013.

LandArt im Wattenmeer Im Verlauf des 20. und 21. Jahrhunderts wurden Wattenmeer und Nordsee nicht mehr ausschließlich als Inspirationsquelle und Objekt zur Abbildung in zweidimensionalen Werken genutzt. Vermehrt wurden dort LandArt, Konzeptkunst, Skulpturen und Lichtkunst geschaffen. Im Gegensatz zu den mit perspektivischen Mitteln erzeugten Bildräumen in zweidimensionalen Fotografien und Gemälden erfolgt mit dieser Kunstform ein Eingriff in den realen Raum. Der Betrachter kann interagieren und es eröffnen sich Handlungs- und Erfahrungsräume, die Einfluss auf Wahrnehmungsstrukturen nehmen können.50 Der Naturraum – in diesem Fall das Wattenmeer – kann sogar zu einem Teil des Kunstwerks werden, beispielsweise in Anthony Gormleys (*1950) Installation »Another Place«, die er 1997 im Watt vor Cuxhaven errichtete.51 Er griff die aufs Meer schauenden Rückenfiguren wieder auf, die Caspar David Friedrich in seinen Bildern gemalt hat. Gormley installierte etwa hundert Eisenfiguren im Watt. Bei Flut versanken einige der Gestalten bis zum Hals im Wasser. Bei Ebbe waren sie ganz zu sehen. Die Installation erstreckte sich über eine Fläche von etwa zwei Quadratkilometern. Im Gegensatz zur friedrichschen Rückenfigur, die auf das einsame Meer hinausschaut, sind die Rückenfiguren von Gormley Zuschauer einer stark befahrenen Wasserschifffahrtsstraße. Die Naturauffassung 50 Sabiene Autsch/Sara Hornäk (Hrsg.): Räume in der Kunst. Bielefeld 2010, 7 – 10. 51 Hans-Werner Schmidt: Antony Gormley : Host, field, another place. Bielefeld 1999.

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der Romantik hat sich gewandelt. Während Friedrich dem Mönch am Meer religiös besetzte Gedanken zusprach, so erlegt Gormley seinen Figuren andere Fragen auf: »Kunst war immer ein Mittel, unsere Angst vor dem Tod und unsere Hoffnungen auf die Fortführung des Lebens in einer feindlichen Natur-Umgebung zu tragen. Heute hat diese Überlebensfrage einen kritischen Punkt erreicht und sich in ihr Gegenteil verkehrt. Wir sind konfrontiert mit der Frage, ob die Menschheit tatsächlich zum aktiven Betreiber ihrer eigenen Zerstörung und der ganzen Welt wird. (…) Ich glaube, auf gewisse Weise stellt meine gesamte Arbeit die Frage, ,Wo passen wir eigentlich hin?‹«52

In Bezug auf die Installation »Another Place« sind es die auf den ersten Blick gleichförmigen Figuren, die den Raum mit Bedeutung aufladen. Durch die Einbindung des realen Raumes und der Gezeiten in das Kunstwerk, besitzt es eine andere Aussagekraft und Wirkästhetik als zweidimensionale Bilder. Damit verändert sich die Wahrnehmung dieser Landschaft. Ebenfalls kann Kunst an vergessene Orte erinnern. Die von Eckart Grenzer geschaffene Skulptur »Das Tor zum Watt« lenkt den Betrachterblick durch zwei Granitplatten auf eine Stelle im Watt, an der früher eine Kirche stand.53 Diese ist in einer Sturmflut versunken. LandArt kann Erinnerungsfunktion besitzen. Ein weiteres Beispiel stellt das von der Künstlerin Monika Kühling im April 2009 errichtete Werk »Versagte Heimkehr« bei Dornumersiel dar.54 Diese um die 750 Kilogramm schwere, zirka fünfzehn Meter breite und zehn Meter hohe Installation nimmt Bezug auf die Erinnerungskultur der Küstenanwohner. Sie verweist auf den Tod des 21-jährigen Seefahrtsschülers Tjark Evers, der im Jahr 1866 zu Weihnachten seine Eltern auf einer ostfriesischen Insel besuchen wollte. Aufgrund nebligen Wetters wurde er auf einer Sandbank ausgesetzt. Als Evers den Irrtum bemerkte, war es bereits zu spät. Das Ruderboot war verschwunden. Die Flut überspülte die Sandbank und Evers starb. Zuvor hatte er eine Botschaft an seine Eltern geschrieben und in eine Zigarrenkiste gesteckt, die Wochen später angespült wurde. Kühlings Kunstwerk will an diese traurige Begebenheit erinnern. Es wurde an dem Ort aufgestellt, an dem der Junge möglicherweise aufbrach. Dadurch wird dieser symbolisch aufgeladen. Im Kontext der Diskussion um dieses Werk zeigt sich eine weitere Sehweise auf das Wattenmeer : der Naturschutzgedanke. Es wurde die Befürchtung geäußert, das Kunstwerk gefährde auf Grund seiner Größe und Breite den Vogelflug.55 Das Wattenmeergebiet als Ausstellungsfläche für Kunst ist somit umstritten. 52 53 54 55

Zitiert nach Schmidt (Anm. 51), 36. http://www.eckartgrenzer.de/dastor.html, 20. 05. 2013. BBK Ostfriesland: Künstlerorte Ostfriesland. Emden 2008, 20 f. http://www.dwarsloper.de/?p=669, 24. 02. 2012; Manfred Knake: Kaputte Kunst National-

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Eckart Grenzer, Das Tor zum Watt, privat.

Kunst kann Sehweisen und Wahrnehmungsmuster des Wattenmeeres reflektieren, aber auch hinterfragen. In Bezug auf Letztgenanntes sei auf die park. In: Anzeiger für Harlingerland, Wittmund, 20. 05. 2009, 6; http://www.wattenrat.de/ aktuell/aktuell316.htm, 24. 02. 2012.

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Monika Kühling, Versagte Heimkehr, Monika Kühling.

Jan Philip Scheibe, Watt, 2006, VG Bild-Kunst, Bonn 2013.

Lichtinstallation »Watt« von Phillipp Scheibe (*1972) im Pellwormer Watt 2006 verwiesen. Auf einem Gerüst wurde der Schriftzug »Watt« angebracht und mit Strahlern beleuchtet.56 Nur für die Dauer von vierundzwanzig Stunden, also für das zweimalige Erleben von Ebbe und Flut, wurde die Installation errichtet. Der Schriftzug war sowohl bei Ebbe als auch Flut vollständig lesbar und fungierte als eine Art Marke, die die Landschaft als »Watt« auszeichnet. Indem der an Leuchtreklame erinnernde Schriftzug »Watt« in den zugehörigen Naturraum gesetzt wurde, erfolgte eine Art Branding, aber ebenfalls eine Entkontextualisierung. Dieser Schriftzug stellte im Naturraum »Wattenmeer« einen Störfaktor 56 http://jan-philip-scheibe.de/Katalog.pdf, 16, 19. 04. 2012.

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und etwas Ungewohntes dar. Assoziationen mit Leuchtreklame, die im kommerziellen Kontext stehen, und damit Kritik an touristischen und ökonomischen Strategien im Wattenmeerraum, sind möglich. Eine Intention des Künstlers bestand darin, Wahrnehmungsmuster zu durchbrechen und Sehgewohnheiten kritisch zu befragen.

Der Status Welterbe Der Status »Weltnaturerbe« zeichnet ein Naturgebiet aus. Anhand bestimmter Kriterien wird beurteilt, ob ein Naturraum oder ein Kulturgut zum Welterbe erklärt wird. Die Marke »Weltnaturerbe« besitzt zwar ideellen Gehalt, jedoch erfolgt in der Realität häufig auch eine kommerzielle Vermarktung des Gebietes. Durch den Begriff »Erbe« werden die Aufwertung und die Bedeutung der ausgezeichneten Gegend bekräftigt. Der Terminus wird allerdings nur im übertragenen Sinne gebraucht, da Erbe im Allgemeinen durch ein Rechtsnachfolgeverhältnis zustande kommt.57 Der Term »Weltnaturerbe« beinhaltet die moralische Verantwortung, das Gebiet für kommende Generationen zu erhalten und diesbezüglich Schutzmaßnahmen durchzuführen.58 Weiterhin wird mit der Deklaration des Wattenmeers zum Weltnaturerbe der Fokus auf Naturphänomene in diesem Gebiet gelenkt. In der öffentlichen Wahrnehmung treten kulturelle Belegungen zurück. Dadurch wird verschleiert, dass Bereiche des Wattenmeers im historischen Verlauf Kulturlandschaften darstellten.59 Es ist festzustellen, dass durch den Begriff »Weltnaturerbe« eine symbolische und emotionale Aufladung und Aufwertung erfolgt und damit verbunden eine moralische Verpflichtung zur Erhaltung dieses Raumes einhergeht.60 Dieser Aspekt suggeriert, dass andere Naturregionen nicht so schützenswert sind und eine geringere Bedeutung besitzen. Diese Annahme ist kritisch zu bewerten. Hasse wendet den von Foucault geprägten Begriff der »Heterotopie« auf das Weltnaturerbe Wattenmeer an.61 Foucault bezeichnet Heterotopien (»Andere Räume«) als Gegenposition zu den Räumen des täglichen Lebens.62 Hasses These, das Wattenmeer funktioniere als krisenheterotoper Raum, der eine 57 58 59 60 61 62

Hasse (Anm. 2), 99. Stock/Wilhelmsen (Anm. 1), 14. Hasse (Anm. 2), 100; Niederhöfer (Anm. 2); Kühn (Anm. 2). Hasse (Anm. 2), 99. Ebd., 102 – 108. Michel Foucault: Von anderen Räumen. In: Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hrsg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt/Main 2006, 317 – 329.

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Nina Hinrichs

Wirklichkeit suggeriert, die »so vollkommen, so sorgfältig, so wohlgeordnet« ist, wie die »unsrige ungeordnet, missraten und wirr«63, ist kritisch zu beurteilen. Trotz der Auszeichnung als Weltnaturerbe und der damit einhergehender Assoziation »heiler Natur« wird dieser Raum nicht von jedem als »krisenheterotop« wahrgenommen. Exemplarisch sei auf den Fischer verwiesen, dessen Arbeitsraum auch Gebiete des Wattenmeeres darstellen. Dieser kann die Region durchaus als krisengebeutelt wahrnehmen, zum Beispiel wenn die Fanggründe zurückgehen. Ebenso kommt es immer wieder zu tragischen Unglücksfällen in der Wattenmeerregion, die ebenfalls Tote fordern. Auch angesichts von zunehmender Umweltverschmutzung, möglichen Ölkatastrophen durch Tankerunfälle sowie noch nicht vorhersehbaren Konsequenzen durch den Klimawandel64 ist es kritisch zu bewerten, das Weltnaturerbe als einen krisenheterotopen Raum zu bezeichnen. Ebenfalls ist es fraglich, ob Wassersportler, die mit Schiffen und Wassersportgeräten durch Restriktionen – als Schutzmaßnahmen des Weltnaturerbes – eingeschränkt sind, diesen Raum als »vollkommen« bezeichnen.

Fazit In dieser Studie konnte nur ein Einblick in die Veränderung von künstlerischen Darstellungstraditionen von Wattenmeer und Nordsee anhand exemplarischer Kunstwerke gegeben werden. Allgemein ist festzustellen, dass diese Werke als Reflexionsmedium politischer, historischer und kultureller Kontexte fungieren können. Zum Beispiel spiegeln sie historische Ereignisse – wie verheerende Sturmflutkatastrophen. Die Furcht vor der lange Zeit als unberechenbar geltenden Nordsee und die Auffassung von Sturmfluten als Akt Gottes kann aus diesen Werken gelesen werden. Regionale Besonderheiten und das identitätsstiftende Potenzial der Nordseeküste wie die Friesische Freiheit werden reflektiert. Weiterhin dokumentieren die Bilder die Entstehung des Seebäderwesens und die Entdeckung der Schönheit und Idylle der Wattenmeerlandschaft. In der Kunst zeigt sich, dass der Wattenmeer- und Nordseeraum als Projektionsfläche fungiert: Die Werke spiegeln natur- und kulturphilosophische Ideen, nationale Konstrukte und gesellschaftshistorische Strömungen. Weiter wird ersichtlich, dass Kunst als Propagandamittel in den vergangenen zwei Weltkriegen instrumentalisiert wurde. Die Nordsee fungiert in diesen Bildern als Schauplatz mi63 Hasse (Anm. 2), 103. 64 Vgl. hierzu unter anderem: Rüdiger Gerdes: Meeresspiegelanstieg – Prognosen und Szenarien. In: Fischer/Reise (Anm. 2), 117 – 130; Ralf Weisse/Insa Meinke: Nordseesturmfluten im Klimawandel. In: Ebd., 131 – 140; Ludwig Fischer/Karsten Reise: Unbequeme Überlegungen: Zur Geschichte der Küstenmentalitäten und den Herausforderungen durch den Klimawandel. In: Ebd., 199 – 218.

Wattenmeer und Nordsee in der Kunst

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litärischer Stärke Deutschlands. Im Nationalsozialismus wurden naturalistische Malereien der Wattenmeerregion unter anderen als »arteigene« Heimatdarstellungen im Rahmen der Blut- und Boden-Ideologie interpretiert. Zudem dokumentieren Fotografien während der Zeit des Nationalsozialismus durchgeführte Landgewinnungsmaßnahmen. Im Gegensatz zur propagandistischen Instrumentalisierung von Kunst wird diese ebenfalls zur Vermittlung von kritischen Sehweisen genutzt, so etwa ersichtlich an einigen Werken Radziwills. In diesen visualisiert er das Vernichtungs- und Zerstörungspotenzial der Menschheit in einem technisierten Zeitalter. Im Laufe der Zeit änderten sich die Bildsprache und damit die künstlerischen Darstellungstraditionen. Neue Kunstformen und -medien entstanden insbesondere im 20. Jahrhundert. Im Rahmen von modernen Kunstkonzepten wurde der reale Raum »Wattenmeer« in LandArt-Projekte eingebunden. Allerdings ist die Nutzung der Wattenmeergegend als Ausstellungsfläche für Kunst in Bezug auf den Naturschutzgedanken umstritten. In Form von LandArt wurden Erinnerungsorte wie der Friesendom geschaffen. Ebenso erfolgte eine kritische Hinterfragung von Wahrnehmungen des Wattenmeeres. Indem durch LandArtProjekte Eingriffe in den realen Nordseeküstenraum vorgenommen werden, kann eine Wahrnehmungsveränderung erfolgen. Abschließend ist festzustellen, dass Kunstwerke mit dem Themenkreis »Nordsee und Wattenmeer« eine Erinnerungsfunktion besitzen. Aufgefasst als geistesgeschichtliche Zeugnisse, können sie gesellschaftshistorische, politische und kulturelle Veränderungen reflektieren. Dabei werden zum einen objektive Veränderungen des physisch erfahrbaren Raums der Wattenmeer- und Nordseeregion visualisiert. Zum anderen werden kulturelle und nationale Belegungen und subjektive Aneignungen dieses Raums dargestellt. Insbesondere im Bereich LandArt werden an der Nordseeküste in Bezug auf vergangene Ereignisse Erinnerungsorte geschaffen. In dieser Studie wurde gezeigt, dass Kunst mit Nordsee- und Wattenmeermotivik Erinnerungs- und Gedächtnisfunktion für die norddeutsche Kultur- und Naturgeschichte besitzen kann.

Andreas Wagner

Vom Lebensraum zur Erinnerungslandschaft: die ehemalige innerdeutsche Grenze zwischen Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern. Überreste, Denkmale und fragmentierte Erinnerungspraktiken entlang der Trennlinie zwischen zwei Erinnerungskulturen 1.

Lebensräume an der innerdeutschen Grenze

Die deutsche Teilung berührte das Leben der Menschen in Ost- und Westdeutschland, wenn auch in sehr unterschiedlicher Art und Weise. Von der zunehmenden Abriegelung der Grenze auf DDR-Seite ganz unmittelbar betroffen waren die Bewohner der Dörfer und Städte entlang der innerdeutschen Grenze und ab 1961 auch um West-Berlin herum. Der Charakter und die Durchlässigkeit einer Grenze bestimmen, wie stark sich eigenständige Grenzräume herausbilden, in welcher räumlichen Struktur und unter welchen gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen Alltagsleben an der Grenze stattfindet und wie sich diese Räume von den restlichen Landesteilen unterschieden.1 Der Grenzraum auf DDR-Seite lässt sich ziemlich genau vermessen und beschreiben: 1952 richtete die SED-Führung auf Weisung der Sowjets das Grenzsperrgebiet in einer Breite von fünf Kilometern an der innerdeutschen Grenze ein. Das Leben der Einwohner in diesem Bereich war durch besondere Sicherheits- und Kontrollbestimmungen reglementiert. Im Vordergrund standen der Aufbau und die Bewachung eines mehrgliedrigen Sperrgürtels zur Verhinderung von Fluchten aus der DDR. Dazu gehörte nicht nur der kontinuierliche pioniertechnische Ausbau der Grenzanlagen, sondern auch die Etablierung eines strengen Grenzregimes mit den dazugehörigen Sicherheitsorganen wie Grenztruppen, Volkspolizei und Staatssicherheit sowie ihren Zuträgern und Helfern unter der Bevölkerung. Mehr als 12.000 politisch unzuverlässige und unbequeme Menschen mussten in zwei Aussiedlungswellen 1952 und 1961 ihre Heimatorte verlassen, viele Höfe und Dörfer im Sperrgebiet wurden nach und nach geschleift. Die verbliebenen Einwohner sahen sich einer immer engma1 Als Überblick sei verwiesen auf Jürgen Ritter/ Peter Joachim Lapp: Die Grenze. Ein deutsches Bauwerk. 8. Aufl. Berlin 2011; regionalgeschichtlich auf Karen Meyer-Rebentisch: Grenzerfahrungen. Dokumentation zum Leben mit der innerdeutschen Grenze bei Lübeck von 1945 bis heute. Lübeck 2009.

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schigeren Kontrolle und Überwachung sowie einer Beschränkung der Bewegungsfreiräume ausgesetzt, die durch einige wenige Vergünstigungen gemildert werden sollten. Die Abriegelung der Grenze durch die DDR schuf auch auf bundesdeutscher Seite einen spezifischen grenznahen Raum: Den Nachteilen aus der Unterbrechung von Wirtschafts- und Verkehrslinien begegnete man mit der wirtschaftspolitischen Förderung des Zonenrandgebiets. Diese Fördermaßnahmen konstituierten einen besonderen, vierzig Kilometer breiten Wirtschaftsraum. Hinzu kam die Zuständigkeit des Bundesgrenzschutzes (BGS), die sich auf einen zirka dreißig Kilometer breiten Streifen entlang der innerdeutschen Grenze erstreckte. Im Unterschied zum DDR-Grenzraum blieben jedoch die Freiheitsrechte der Einwohner des grenznahen Raums unbeeinflusst; seit 1973 konnten sie im Rahmen des kleinen Grenzverkehrs sogar erleichtert in die DDR einreisen – nicht jedoch in das DDR-Grenzsperrgebiet. Neben dieser Radikalität und Tiefe der Auswirkungen des Grenzaufbaus ist auch der zeitliche Verlauf für die Deutung der Geschichte von Belang. Für die Einwohner des Grenzraums kamen sowohl die Einrichtung des Sperrgebiets wie der Abbau der tödlichen Grenzsicherungsanlagen plötzlich und unerwartet. Die deutsche Teilung kannte Phasen der Zuspitzung und Verschärfung des Grenzregimes wie auch der Lockerung und Entspannung. Was noch 1952 als vorübergehende, zeitlich begrenzte Maßnahme erschien, verfestigte sich 1961 zu einem Zustand mit unabsehbarer Dauer. Die Einwohner des DDR-Grenzsperrgebiets mussten sich unter diesen restriktiven Bedingungen ihr Leben einrichten oder ihre Heimatorte verlassen; viele arrangierten sich – manche auch eigensinnig – mit den politischen Verhältnissen. Konnte man sich in den 1950erJahren den politischen Zumutungen des Lebens unter der SED-Herrschaft noch durch die Flucht nach Westdeutschland entziehen, so war dieser Weg nach 1961 verbaut. Der Mauerfall 1989 beendete schlagartig diese besondere Lebenssituation. Manchem Einwohner im Sperrgebiet wurden wahrscheinlich erst mit dem Wegfall der Grenzsituation die außerordentlichen Beschränkungen des Lebensalltags vollständig bewusst, die Folgen von Repression, Angst, Mitmachen und Anpassung traten deutlich zu Tage. Mit der deutschen Einheit stand auch vor den Einwohnern des Sperrgebiets die Herausforderung, sich eine neue Lebensperspektive zu schaffen. Neue Freiheiten waren gewonnen, mussten aber mit beruflichen und ökonomischen Perspektiven verbunden werden, sollten sie nicht als Bedrohung empfunden werden. Die »Reorganisation von Lebenshorizonten hat ihre eigene Zeit. Sie brauchen mehr als eine geschichtliche Sekunde und mehr als jenen berühmten historischen Augenblick. Aber in ihm erst gehen die Räume unter, in denen wir bisher zu leben gezwungen waren, und in ihnen

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entstehen die neuen Räume, in denen wir fortan leben werden.«2 Für viele Menschen ist die Reorganisation von Lebenshorizonten zwanzig Jahre nach dem Mauerfall weitestgehend abgeschlossen, doch in der Bewertung der Geschichte der innerdeutschen Grenze gehen die Meinungen weit auseinander. Die Verwandlung der Lebensrealität »innerdeutsche Grenze« in einen Erinnerungsraum ist die Konsequenz der Friedlichen Revolution in der DDR und der deutschen Einheit. Zurück blieben die materiellen Überreste und Dokumente in den Archiven, Museen und der Landschaft, aber auch die unterschiedlichen Erinnerungen der Menschen. Seitdem begann ein vielschichtiger Prozess des Aushandelns von Geschichtsdeutungen zur innerdeutschen Grenze, der sich auch in einer spezifischen Entwicklung der Erinnerungslandschaft ausformte und weiterhin ausformt. Erinnerungsorte wurden markiert, erklärt und gedeutet. Sie bilden die entscheidende Knotenpunkte in der Erinnerungslandschaft, sind die Torwächter für den Übergang ins kulturelle Gedächtnis. Dabei will ich versuchen, das Zusammenspiel der unterschiedlichen Akteure auf Bundes- und Landesebene sowie vor Ort herauszuarbeiten, die mit ihren spezifischen Interessen und materiellen Ressourcen »Geschichte schreiben«. Dabei geht es aber nicht nur um die Wirkungsmacht der Akteure auf den unterschiedlichen Ebenen, sondern auch um Diskursverläufe, lokale Gegebenheiten, politische und juristische Rahmenbedingungen. Ob sich dabei norddeutsche Besonderheiten in der Erinnerungslandschaft zur innerdeutschen Grenze nachweisen lassen, kann der Beitrag nicht beantworten. Dafür bedarf es vergleichender Untersuchungen mit anderen Regionen. Allerdings scheinen für den Umgang mit der Vergangenheit, für die Entwicklung von Gedächtnisräumen zur innerdeutschen Grenze die Konfrontation unterschiedlicher Erinnerungsgemeinschaften viel bedeutsamer zu sein. Welche Akteure und welche Strategien im Umgang mit der Geschichte der innerdeutschen Grenze im ehemaligen Grenzraum zwischen Ostsee und Elbe, der heute die Trennlinie zwischen den Bundesländern Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig Holstein bildet, auszumachen sind, wird im Folgenden an einigen Beispielen untersucht. Ein Befund sei schon vorweggenommen: Trotz des flächendeckenden Abbaus der Sperranlagen und einer sichtbaren neuen Vegetationsschicht, tritt uns eine überraschend vielgestaltige Erinnerungslandschaft mit Überresten, Denkmalen und musealen Einrichtungen entgegen.

2 Karl Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik Frankfurt/Main 2006, 467.

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2.

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Bundespolitische Initiativen im ehemaligen Grenzraum

Wer heute auf den Autobahnen A 20 oder A 24 von Mecklenburg-Vorpommern nach Schleswig-Holstein wechselt, würde unbemerkt die Trennlinie zwischen zwei Bundesländern überqueren, die vor dreiundzwanzig Jahren noch eine tödliche Grenze mit Grenzzäunen, Beobachtungstürmen, Kolonnenweg, Sicherungstechnik und Wachposten verkörperte, wenn da nicht die braunen Hinweistafeln wären. Weil man heute nichts mehr von dieser Grenze sieht, aber es ein geschichtspolitisches Interesse zur Vergegenwärtigung dieser Vergangenheit gibt, initiierte die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur 2006 diese touristischen Hinweisschilder. Im Unterschied zu den sonstigen braunen Hinweistafeln entlang der Autobahnen verweisen die Grenztafeln nicht auf bestehende Sehenswürdigkeiten, sondern markieren die historische Lage der ehemaligen innerdeutschen Grenze. Sie tragen die Aufschrift »Ehemalige innerdeutsche Grenze 1945 – 1990« und das Piktogramm von Mauer beziehungsweise Grenzzaun und Wachturm. Sie sollen daran erinnern, »dass die freie Fahrt zwischen Ost und West, die uns heute erfreulicherweise so selbstverständlich scheint, über vierzig Jahre lang nur unter vielen Schwierigkeiten möglich war und viele Menschen beim Versuch, diese Trennung zu überwinden, ihr Leben verloren«.3 Diese Schilder verweisen auf einen historischen Bruch, den Mauerfall, und damit auf ein Wahrnehmungsproblem, denn wo noch vor mehr als zwanzig Jahren eine monströse Sperranlage stand, ist heute nichts mehr zu sehen. Erinnerungen an die Grenze, Grenzübergänge und spektakuläre Fotos oder Filmbilder werden wachgerufen, doch sie finden keine räumliche Entsprechung an diesem Ort. Der umfassenden, durch die Freudeneruption beim Mauerfall noch verfestigten Präsenz des Themas im kommunikativen Gedächtnis der Nation hinkt nicht nur die Forschung, sondern auch die Zahl der bewahrten materiellen Überreste deutlich hinterher.4 Der Sturz der SED-Herrschaft und der Zerfall des sowjetischen Machtbereichs veränderte nicht nur die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse, sondern auch die gesamte »Geographie der Macht«.5 Innerhalb kürzester Zeit verlor die innerdeutsche Grenze als hochgerüsteter Teil des Eisernen Vorhangs und Bollwerk der SED-Herrschaft ihre abschreckende Wirkung und sogar ihre Funktion als Trennlinie zwischen 3 Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur: Touristische Hinweistafeln. http:// www.stiftung-aufarbeitung.de/touristische-hinweistafeln-1177.html (12. 06. 2012). 4 Vgl. Detlef Schmiechen-Ackermann: Teilung – Gewalt – Durchlässigkeit. Die innerdeutsche Grenze als Thema und Problem der deutschen Zeitgeschichte. In: Thomas Schwark/Ders./ Carl-Hans Hauptmeyer (Hrsg.): Grenzziehungen – Grenzerfahrungen – Grenzüberschreitungen. Die innerdeutsche Grenze 1945 – 1990. Darmstadt 2011, 16 f. 5 Schlögel (Anm. 2), 27.

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zwei Staaten. Bis Mitte der 1990er-Jahre waren die Sperranlagen flächendeckend beseitigt, letzte Minen geräumt. Langsam vernarbten auch die der Landschaft zugefügten Wunden, der ehemalige Grenzstreifen hatte sich auf Initiative des Bundes für Umwelt- und Naturschutz Deutschland (BUND) in ein Grünes Band von besonders geschützten Landschaftsteilen verwandelt. Anders war es mit den Menschen, die auf beiden Seiten der Grenze gelebt hatten. Ihre Bilder im Kopf, ihre Prägungen und die Entfremdung zwischen ihnen wurden durch den Fall der Mauer nicht ausgelöscht, sondern sie prallten unter den Bedingungen der wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen der Nachwendezeit aufeinander. Auseinandersetzungen um die Deutungen der Geschichte der Grenze setzten ein und halten bis heute an. Der zentrale Gedächtnisort für die deutsche Teilung und das DDR-Grenzregime bildete lange Zeit die Berliner Mauer mit ihren Überresten und Denkmalen. Die innerdeutsche Grenze als Erinnerungsort errang deutlich später bundespolitische Aufmerksamkeit. Die Tafeln an den Autobahnen aus dem Jahr 2006 sind ein deutlicher Beleg dafür. Was diesen Tafeln allerdings fehlt, ist der konkrete lokale Bezug. In Wirklichkeit markieren sie sehr unterschiedliche Orte: Während an der A24 der Grenzübergang Zarrentin/Gudow existierte, sich hier die Abfertigungs- und Kontrolleinrichtungen erstreckten, gab es die A20 damals noch gar nicht. Sie ist ein Produkt der Verkehrswegeplanungen nach der deutschen Einheit und hat die ehemalige innerdeutsche Grenze niemals geschnitten. Hier kann man also bestens von einer symbolischen Form des Erinnerns sprechen. Ein Jahre später starteten der Bund und die Verkehrsministerien der Länder, die an der ehemaligen innerdeutschen Grenze liegen, ein gemeinsames Geschichtsprojekt. In Vorbereitung auf den zwanzigsten Jahrestag des Mauerfalls wollte man die Stellen an der ehemaligen innerdeutschen Grenze markieren, wo sich nach dem 9. November 1989 die Grenze für alle DDR-Bürgerinnen und -Bürger öffnete. Im Ergebnis eines Geschichtsprojektes ließen die Initiatoren 2008 bis 2009 ausgewählte Orte ebenfalls mit braunen Hinweistafeln versehen. Im Unterschied zu den Tafeln an den Autobahnen zeigen sie den Verlauf des Eisernen Vorhangs in Europa und nennen das jeweilige Datum der lokalen Grenzöffnung. Während die Tafeln an den Autobahnen die Erinnerung an Menschenrechtsverletzungen, Schrecken und Leid in den Mittelpunkt rücken, steht ein Jahr später das positive Ereignis der Überwindung der Sperranlagen, die Freude über das Ende der europäischen Teilung im Mittelpunkt. Außerdem wollte das Geschichtsprojekt der Verkehrsministerien dazu beitragen, neben dem Mauerfall in Berlin auch die Aufmerksamkeit auf die Ereignisse an der

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ehemaligen innerdeutschen Grenze zu richten und konkrete historische Orte hervorzuheben.6 Die Beispiele machen deutlich, dass die Geschichte der innerdeutschen Grenze nach ihrem Abbau Anfang der 1990er-Jahre nun als Gedächtnisraum rekonstruiert und inszeniert wird. Die beiden bundespolitischen Initiativen belegen darüber hinaus, dass es sich bei der Geschichte der innerdeutschen Grenze um kein geschichtspolitisches Randthema handelt, sondern um ein zentrales Thema für das Verständnis von DDR-Vergangenheit und europäischer Nachkriegsgeschichte.

3.

Eine lokale Debatte

Im Zuge meiner Tätigkeit als Mitarbeiter der Landesfachstelle für Gedenkstättenarbeit in Mecklenburg-Vorpommern hatte ich mit der Dependance des Boizenburger Heimatmuseums auf dem Elbberg zu tun. Wie an vielen anderen Stellen Ostdeutschlands überlagerten sich hier unterschiedliche Schichten der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Am Standort des ehemaligen Außenlagers des KZ Neuengamme 1944/45 entstand 1973 ein Kontrollpunkt der Volkspolizei, um hier den Transitverkehr zum Grenzübergang Horst/Lauenburg und die Einreise in das Grenzsperrgebiet zu überwachen. Aus beiden Nutzungsperioden sind bauliche Zeugnisse überliefert: aus der Zeit des KZ-Außenlagers die Reste des steinernen Küchenkellers und aus der Zeit der Grenzkontrolle die Straßenführung, ein Kontrollturm und ein Wachgebäude. Nach 1989/90 stand zunächst die Erforschung des KZ-Außenlagers im Mittelpunkt, der Kontrollpunkt der Volkspolizei hatte seine Funktion verloren. Grenzsicherung und Transitverkehr gab es nicht mehr. Außerdem baute die Stadt von 1993 bis 1995 eine Ortsumgehung, sodass der Verkehr auf der alten Bundesstraße 5 zum Erliegen kam und der Elbberg an den Rand der öffentlichen Aufmerksamkeit rückte. Die benachbarte Elbewerft kämpfte einige Jahre um ihr wirtschaftliches Überleben – solche Themen dominierten die lokale Aufmerksamkeit. Doch zehn Jahre nach dem Ende der DDR kehrte die Geschichte zurück. Zwischen 1999 und 2001 entwickelte die Gemeinnützige Boizenburger Beschäftigungsgesellschaft auf dem Elbberg ein Museumsprojekt, für das die DDRVergangenheit zum eigentlichen Aufhänger wurde. Vor der ehemaligen KZBaracke präsentierte man Kraftfahrzeuge der DDR-Grenztruppen und rekonstruierte einen modellhaft verkürzten Ausschnitt der Grenzsperranlagen. Im ehemaligen Küchenkeller des Außenlagers entstanden Ausstellungen zur Ge6 Vgl. Ministerium für Landesentwicklung und Verkehr des Landes Sachsen-Anhalt (Hrsg.): Die Brocken-Erklärung. Geschichtsprojekt zu 20 Jahren Grenzöffnung. Magdeburg 2009.

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schichte des KZ-Außenlagers und der DDR-Grenze in getrennten Räumen – alles in der durchaus positiven Absicht, sich den negativen Seiten der eigenen Geschichte auch zu stellen. Doch aus zwei Gründen geriet das Ausstellungsprojekt in die Kritik: Erstens verwiesen Fachleute auf die nivellierende Aneinanderreihung von sehr unterschiedlichen Vergangenheitsschichten. Und zweitens kam hinzu, dass sich die Präsentation zum DDR-Grenzregime stark auf technische Aspekte der Grenzsicherung konzentrierte und überwiegend den lokalen Bezug vermissen ließ. 2008 konnte der Öffentlichkeit mit Unterstützung der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, des Landes und des Landkreises sowie der Stadt ein völlig neugestaltetes Museum übergeben werden. Die Themen sind nun räumlich getrennt und grafisch unterschiedlich präsentiert, in der ehemaligen KZ-Baracke wird die Geschichte des Außenlagers und um den ehemaligen Kontrollturm in einer Freiluftausstellung die Geschichte der DDR-Grenzsicherung in und um Boizenburg erzählt. Auf wissenschaftlicher Grundlage entstanden zwei Ausstellungen, die den Erinnerungen der Betroffenen einen wichtigen Stellenwert (Hörstationen) geben und beide Themen in ihren historischen Kontext stellen. Das DDR-Grenzregime wird mit seiner Funktion innerhalb der SED-Herrschaft klar benannt und seine konkrete Ausprägung in Boizenburg und Umgebung dargestellt.7 Dieses Beispiel zeigt, wie sich die unterschiedlichen Diktaturgeschichten in Ostdeutschland miteinander verflechten und ein souveräner Umgang nur auf der Grundlage wissenschaftlicher Forschung möglich ist. Dafür gibt es zwanzig Jahre nach dem Ende der SED-Herrschaft andere Voraussetzungen als noch zehn Jahre vorher. Jedoch scheint zweierlei bemerkenswert: Zum einen stellte man sich 1999 die Aufgabe, beide historischen Schichten des Ortes museal zu präsentieren und erlag nicht der Versuchung, die Vergangenheiten gegeneinander auszuspielen. Und zum anderen war es eine lokale Initiative, die den Ort zu einem musealen Standort entwickelte. Der erste Entwurf blieb jedoch sehr einer oberflächlichen technischen Sichtweise verhaftet, was wohl auch dem damaligen Stand der lokalen Vergangenheitswahrnehmung und den wissenschaftlichen Möglichkeiten der Initiative entsprach. Wie Macht im Grenzraum ausgeübt wurde und welche Folgen dies für die Betroffenen hatte, erschien nur am Rande thematisierbar. Dafür bedurfte es externer Fachleute und einer sich erst entwickelnden politischen Unterstützung vor Ort. Anders als bei den touristischen Hinweisschildern gibt es in Boizenburg jedoch Überreste der Grenzsicherung zu sehen, die zum Ausgangspunkt für die Beschäftigung mit der Vergangenheit wurden und durch eine Freiluftausstellung 7 Siehe Kay Kufeke: »…dass es keinem Bürger möglich wird, sich in das Lager der Imperialisten zu begeben.« Die Innerdeutsche Grenze im Kreis Hagenow (1945 – 1989). Boizenburg 2008.

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erläutert werden. Hier kann das imaginierte Geschichtsbild viel konkreter werden. Hinzu kommt, dass der Fahrradtourist sich den historischen Grenzraum weiter erschließt, wenn er mit dem Fahrrad in Richtung Lauenburg fährt. Kurz vorher stößt er auf die Reste der Grenzübergangsstelle Horst. In der benachbarten ehemaligen Kaserne der Grenztruppen befindet sich heute die Aufnahmeeinrichtung des Landes Mecklenburg-Vorpommern für Asylbewerber, sonstige ausländische Flüchtlinge und jüdische Emigranten – eine bis heute umstrittene Nachnutzung.8 Wo die baulichen Überreste der DDR-Grenzsicherung nicht zum Gegenstand von musealen Projekten wurden, finden sich neue Inhalte und Bedeutungszuschreibungen, die den Überrest sowohl verändern als auch bewahren. Jedoch sind diese unterschiedlichen Nutzungsschichten ohne Erklärungen für den Uneingeweihten kaum sichtbar.

4.

Die Erkundung des untergegangenen Grenzraums

Karl Schlögel (*1948) forderte in seiner Untersuchung Im Raume lesen wir die Zeit: »Orte kann man nicht lesen, sondern man muss sie aufsuchen, um sie herumgehen (…) Es geht um Raumverhältnisse, Entfernungen, Nähe und Ferne, Maße, Proportionen, Volumina, Gestalt. Räume und Orte stellen gewisse Anforderungen, unter denen sie nicht zu haben sind. Sie wollen erschlossen sein.«9 Wer heute die 137 km lange Grenze zwischen Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern erkundet und nach Spuren der innerdeutschen Grenze sucht, der erschließt sich zunächst eine beeindruckende Landschaft und er merkt, dass er sich in einer historisch noch weiter zurückreichenden Grenzregion befindet. Auf den flachen Küstenstreifen der Ostsee folgt schnell eine abwechslungsreiche und seenreiche Jungmoränenlandschaft, wo sich wellige Grundmoränenplatten mit hügeligen Endmoränen abwechseln. Beim Rückzug des Eises entstanden durch das abfließende Schmelzwasser Hohlformen, Rinnen und Strudellöcher, in denen sich dann die vielen Seen bildeten. Ratzeburger See und Schaalsee dominieren die Region. Südwestlich von Zarrentin öffnet sich die Landschaft in das wellige, aber deutlich flachere Altmoränenland hin zur Elbaue. Während um die Lauenburgische Seenkette Laubwälder dominieren, unterbrochen von den Seen, Mooren und Sümpfen sowie Offenlandflächen, herrschen südwestlich von Zarrentin sandige Flächen mit Ackerland und monotonen 8 Vgl. die Proteste der Landesflüchtlingsräte in Mecklenburg-Vorpommern und Hamburg: http://www.ndr.de/regional/mecklenburg-vorpommern/fluechtlinge205.html und http:// www.fluechtlingsrat-hamburg.de/content/Horst%20PK_Kor_210209.pdf (20. 03. 2013). 9 Schlögel (Anm. 2), 23. Zum Thema innerdeutsche Grenze hat Simone Labs eine räumliche Erkundung unternommen: Simone Labs: Keine Ausfahrt – Zarrentin. Grenzlandgeschichten aus Westmecklenburg. Berlin 2006.

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Nadelwäldern vor. Insbesondere die Seenkette bildet eine natürliche Barriere, an der sich über mehrere Jahrhunderte hinweg eine territorialstaatliche Grenze herausbildete. Auf östlicher Seite war es das mecklenburgische Territorium, das sich über verschiedene dynastische Teilungen hinweg letztlich seit 1701 in die Herzogtümer Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz gliederte. Zum Strelitzer Landesteil gehörte auch das Ratzeburger Land um die Stadt Schönberg. 1934 wurden die beiden mecklenburgischen Länder vereinigt und nach dem Zweiten Weltkrieg entstand auf Weisung der sowjetischen Besatzungsmacht das Land Mecklenburg(-Vorpommern). Auf westlicher Seite grenzten an die mecklenburgischen Territorien das Herzogtum Lauenburg und die Stadt Lübeck. Seit 1876 gehörte das Herzogtum Lauenburg als Kreis zur preußischen Provinz Schleswig-Holstein. Lübeck verlor seine territoriale Unabhängigkeit mit dem Groß-Hamburg-Gesetz 1937 und wurde ebenfalls Bestandteil der preußischen Provinz Schleswig-Holstein. Ihre heutige Gestalt erhielt die Grenzlinie nach dem Barber-Lyaschenko-Abkommen vom 13. November 1945. Aus verkehrstechnischen Gründen wechselten holsteinische Gebiete östlich des Schaalsees und des Goldensees nach Mecklenburg und ein mecklenburgisches Gebiet südöstlich des Ratzeburger Sees nach Schleswig-Holstein. Eine Umsiedlungsaktion war die Folge.10 Der aufmerksame Beobachter entdeckt heute auf beiden Seiten der ehemaligen Staatsgrenze viel Verbindendes, aber auch Unterschiede. Auf der westlichen Seite erstreckte sich der Siedlungsausbau bis an die ehemalige Staatsgrenze, während auf der östlichen Seite Natur und Landwirtschaftsflächen dominieren, die Landschaft dünner besiedelt ist. In den mecklenburgischen Dörfern liegen Verfall, Restaurierung und Neubau eng beieinander, das Nebeneinander verweist auf Umbrüche. Hinzu kommen die Spuren der DDR-Geschichte: Kasernengebäude, moderne Plattenbauten oder LPG-Stallanlagen. Dagegen fehlen im Lauenburgischen diese Brüche, seit Jahrzehnten wird hier ausgebaut und entwickelt, Lücken und leerstehende Häuser sind sehr selten. Aber auch tiefer liegende Schichten der Vergangenheit kommen zum Vorschein, haben sich in den kulturellen Unterschieden niedergeschlagen, wie zum Beispiel die Siedlungsstruktur im Ratzeburger Land. Im Gegensatz zum restlichen Mecklenburg oder Holstein dominierten hier persönlich freie Bauern mit ihren Höfen. Güter fehlen fast vollständig. Mit dem Fall der Zollgrenzen, Industrialisierung und der Bildung des Deutschen Reichs schwächten sich die Unterschiede ab, Verkehrs- und Warenströme sowie Arbeitsmarkt und Migrationsbewegungen richteten sich auf die großen Ballungszentren Hamburg und Lü10 Ramona Piehl/Horst Stutz/Jens Parschau: Geschichte und Geschichten entlang der innerdeutschen Grenze in Nordwestmecklenburg. Gadebusch o. J. [1997].

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beck aus. Die wirtschaftliche Entwicklung der mecklenburgischen Dörfer von Selmsdorf und Herrnburg ist eng verflochten mit Lübeck. Westmecklenburg gehört heute nicht ohne Grund zur Metropolregion Hamburg, hier ist das Pendeln in den »Westen« für viele Arbeitnehmer normal und umgekehrt hat sich schon mancher Einwohner von Schleswig-Holstein ein Haus östlich der ehemaligen Grenzlinie gebaut. Damit stellen sich Verbindungen und wirtschaftliche Zusammenhänge aus der Zeit vor 1945 wieder her, wenn auch durch die Gegenwart modifiziert.

5.

Das Gedächtnis der Dinge und Erinnerungszeichen zur Geschichte der innerdeutschen Grenze11

Wie bereits eingangs erwähnt, haben sich an diesem ehemaligen Grenzabschnitt nur wenige originale Überreste erhalten und es musste erst eine gewisse Zeit vergehen, bis diese Spuren öffentlich wahrgenommen und als bedeutsame Zeugnisse der Vergangenheit bewertet wurden. Dazu gehören die noch am originalen Standort erhaltenen Grenzbeobachtungstürme, Kasernengebäude der Grenztruppen und des BGS, das Zollhaus in Lübeck-Schlutup, das bis heute ungenutzte Grenzabfertigungsgebäude an der ehemaligen Eisenbahn-Grenzübergangsstelle in Schwanheide, Kolonnenwege mit den Lochbetonstreifen, Fundamente von geschleiften Dörfern und so weiter. Auch Spuren in der Landschaft bilden die Vergangenheit ab, bestimmte Vegetationsformen oder die Lage und Bewirtschaftung von Flurgrundstücken. Diese Spuren sind vielfältig, vieldeutig und vielschichtig. Sie verweisen auf die Grenze als Bauwerk, als Herrschaftsinstrument oder als Lebensort, auf den Aus- und Abbau der Sicherungsanlagen und verbinden sich mit unterschiedlichen Lebensschicksalen. Sie erlangen erst im Prozess des Erinnerns eine Deutung, eine Bedeutungszuschreibung und damit einen Stellenwert innerhalb der Erinnerungslandschaft Grenze. Die Mehrheit dieser Spuren steht noch unkommentiert in der Landschaft, einige wenige sind durch Denkmalsetzungen markiert und interpretiert. Insgesamt sind mir vierundzwanzig Erinnerungszeichen entlang der ehemaligen Grenzlinie bekannt, die sich relativ ausgewogen auf Schleswig-Holstein (10) und Mecklenburg-Vorpommern (14) verteilen. Daraus lassen sich fünf unterschiedliche Gruppen bilden, die sich jedoch ungleich auf Ost und West verteilen: 11 Grundlage für die folgende Bestandsaufnahme: Maren Ullrich: Geteilte Ansichten. Erinnerungslandschaft deutsch-deutsche Grenze. Berlin 2006; Anne Kaminsky : Orte des Erinnerns. Gedenkzeichen, Gedenkstätten und Museen zur Diktatur in SBZ und DDR. 2. Aufl. Berlin 2007, und eigene Recherchen mit dem Stand Ende 2012.

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A.

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Die Deutungen der Grenze vor 1989 – Denkmale als historische Zeitzeugnisse

Auf Schleswig-Holsteiner Seite zählen dazu der 1956 aufgestellte Gedenkstein in Lübeck-Schlutup und die 1975 in der Lübecker Innenstadt angebrachte Gedenktafel zur Erinnerung an das Wiedervereinigungsgebot im Grundgesetz und den 13. August 1961. Außerdem zählt zu dieser Gruppe von Memorialen das 1976 erstmals aufgestellte Gedenkkreuz für Michael Gartenschläger (1944 – 1976), der beim dritten Versuch eine Selbstschussanlage SM 70 abzubauen, von einem Einsatzkommando der DDR-Staatssicherheit am Großen Grenzknick bei Bröthen erschossen wurde. Sein Fall erregte beträchtliche publizistische und politische Aufmerksamkeit.12 Das von Weggefährten und Sympathisanten Gartenschlägers im November 1976 aufgestellte Gedenkkreuz war nicht allein dem Toten gewidmet, sondern auch ein Protest gegen das menschenverachtende DDR-Grenzregime – so zeigte die Widmung am Kreuz in Richtung Osten. Seitdem versammelten sich jährlich Menschen an diesem Ort, um an den Tod von Michael Gartenschläger zu erinnern und gegen Unterdrückung und politische Verfolgung in der DDR zu protestieren. Ende der 1980er-Jahre versuchten die rechtsextremen Republikaner Michael Gartenschläger und seinen Gedenkort für ihre »aktive Wiedervereinigungspolitik«, die auch die Wiedergewinnung der deutschen Ostgebiete einschloss, zu instrumentalisieren. Seitens der DDR wurden die Aktivitäten der Demonstranten genau registriert und als »Hetzveranstaltungen gegen den Sozialismus« eingeschätzt. Um den Ort genau im Blick zu behalten, errichteten die DDR-Grenztruppen einen Beobachtungsturm, der heute jedoch nicht mehr existiert. Nach dem Fall der Mauer stand die Frage, wie mit diesen Erinnerungszeichen zukünftig umzugehen sei, auf der Tagesordnung. Die Inschriften der beiden Lübecker Gedenkzeichen wurden ergänzt, um auf die gewandelte Situation, das Ende der Teilung, hinzuweisen. Auch der Gedenkort für Michael Gartenschläger wurde verändert. An die Stelle des Holzkreuzes trat 2004 ein Nirosta-Stahlkreuz. Am Tötungsort pflanzten die Landräte der benachbarten Landkreise Ludwigslust und Herzogtum Lauenburg eine Eiche und der Freundeskreis Michael Gartenschläger stellte einen Findling am vermutlichen Tötungsort von Gartenschläger auf. Neben dem Gedenkkreuz informiert ein Schaukasten über Michael Gartenschläger. Diese weitgehend westdeutsch und offensiv antikommunistisch geprägte Gedenkkultur hat auch ein stärker ostdeutsch und politisch 12 Siehe Lothar Lienicke/Franz Bludau: Todesautomatik. Die Staatssicherheit und der Tod des Michael Gartenschläger. Frankfurt/Main 2003; Andreas Frost: Michael Gartenschläger: Der Prozess. Mutmaßliches DDR-Unrecht vor einem bundesdeutschen Gericht. Schwerin 2002; Zum historischen Kontext: Hendrik Thoß: Gesichert in den Untergang. Die Geschichte der DDR-Westgrenze, Berlin 2004.

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zurückhaltender argumentierendes Gegenstück: Der Landschaftspflegeverein Mecklenburgisches Elbtal, Heidelandschaft, Schaalsee verbindet landschaftliche Pflegearbeiten, Naturschutz und politische Erinnerung miteinander. Der Grenzknick wird als Heidelandschaft in seiner ursprünglichen Gestalt als Offenlandschaft erhalten und ist als Vegetationsspur ein eindrückliches Zeichen für den ehemaligen Grenzverlauf. Außerdem haben die Vereinsmitglieder Infotafeln aufgestellt und damit den Grenzraum als Erinnerungsraum über einen Rundweg erschlossen. Dazu gehören ein Gedenkstein für den geschleiften Hof Wendisch Lieps, der im Zuge des Ausbaus der Grenzsicherung von DDRGrenztruppen abgerissen wurde, und das verkürzte Modell der DDR-Grenzsicherungsanlage am Ortsausgang von Leisterförde. Ein Rundweg verbindet diese unterschiedlichen Themen und Erinnerungsorte und ermöglicht es, das Grenzsperrgebiet räumlich zu erfahren. Hier agieren zwei unterschiedliche Erinnerungsmilieus parallel und unabhängig voneinander. Während der »Freundeskreis Michael Gartenschläger« das Kreuz für Gedenkveranstaltungen nutzt und Michael Gartenschlägers Verdienste im Kampf gegen die SED-Herrschaft würdigt, versucht der Landschaftspflegeverein historische Aufklärung durch eine Erkundung des Raums zu leisten, in der das Gedenkkreuz für Michael Gartenschläger nur eine Station ist, der zeitliche Wandel des Grenzraums im Mittelpunkt steht. Wie Maren Ullrich in ihrer Untersuchung zur Erinnerungslandschaft der deutsch-deutschen Grenze zeigen konnte, stand der Vielzahl von westdeutschen Erinnerungszeichen und Deutungen der Grenze nur ein einziger Denkmaltyp im Osten gegenüber. Diese Denkmäler erinnern an Angehörige der Grenztruppen, die während ihres Dienstes ums Leben kamen. Zwischen Lübecker Bucht und Elbe findet sich dafür nur der Gedenkstein für den Grenzpolizisten Siegfried Apportin (1930 – 1950), der am 2. Juli 1950 wahrscheinlich von einem Fahnenflüchtigen erschossen wurde. Der Gedenkstein stand seit 1977 vor der Schule in Lüdersdorf, die bis zur »Wende« seinen Namen trug und dann einen neuen Standort für den Gedenkstein suchte. 2002 verlegte man den Stein an den ehemaligen Kolonnenweg. Dort ist er jedoch zu einem völlig unspezifischen Gedenkstein geworden. Für Menschen, die auf diesen Stein stoßen, bleibt heute völlig unklar, wer Siegfried Apportin war und warum der Stein an dieser Stelle liegt.13 Der historische Grenzraum wurde somit auch zur Ablage für Gedenksteine, die aus der Zeit gefallen sind.

13 Ullrich (Anm. 11), 138 ff.

Vom Lebensraum zur Erinnerungslandschaft

B.

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Gedenksteine zur Erinnerung an den Mauerfall

Die Erinnerungslandschaft »Grenze« nach 1989/90 wurde zuerst durch Gedenksteine geprägt, die an den Mauerfall erinnern. Am Zugang auf den Priwall, direkt auf der ehemaligen Grenzlinie setzte der Gemeinnützige Verein zu Travemünde am 3. Februar 1990 einen Gedenkstein mit der Inschrift »NIE/ WIEDER/GETEILT«. An der ehemaligen Grenze in Lübeck-Eichholz fand die Freude über die deutsche Einheit ihren Ausdruck mit einer Stele, die die Inschrift trägt »Wir sind ein Volk«. Ein dritter Gedenkstein steht an der Stelle, wo die Bundesstraße 208 bei Mustin die ehemalige Grenze quert. Auf Initiative des CDUKreisverbandes Herzogtum Lauenburg wurde am 3. Oktober 1990 ein Gedenkstein mit der Inschrift »EINIGKEIT/UND RECHT/UND/FREIHEIT« aufgestellt. Bemerkenswert ist, dass alle drei genannten Beispiele auf westdeutsche Initiativen zurückgehen. Erst nachträglich entdeckten auch ostdeutsche Einrichtungen und Organisationen die Grenzlinie. So pflanzten 1999 Vertreter der CDU aus Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein zwei Bäume am Gedenkstein an der Bundestraße 208. Die Grenzlinie sah man aus dem Osten nicht, konnte sich ihr auch nicht nähern. Vielleicht war sie deshalb auch kein Ort für das Erinnern. Am Wohnort fand die Freude über den Mauerfall eher ihren Niederschlag in einem Denkmal, nicht an der entfernten und bis 1990 nicht zugänglichen Grenzlinie.

C.

Erinnerungszeichen für geschleifte Dörfer

Im Abschnitt zwischen Lübeck und Boizenburg konnten bisher fünf unterschiedliche Erinnerungszeichen für geschleifte Dörfer ermittelt werden: Lenschow, Bardowiek, Neuhof, Lankow und Wendisch Lieps. Bis auf Bardowiek stellten Initiativen von ehemaligen Ortseinwohnern Gedenksteine auf. In Bardowiek überdauerte als einziges Gebäude des Dorfes der Trafoturm. Hier wurden großflächig Inschriften aufgetragen, auch als Empörung gegen den nach 1990 verweigerten Wiederaufbau des Dorfes. Die Gedenksteine erinnern an Orte, die zerstört wurden, nachdem die Menschen geflohen waren oder zwangsausgesiedelt wurden. Es sind somit Gedenkstätten für die Zwangsausgesiedelten, eine mehrere tausend Menschen umfassende Opfergruppe der SEDHerrschaft. Sie mussten lange Jahre um die Anerkennung ihres Opferstatus sowie Rehabilitierungs- und Entschädigungsmöglichkeiten kämpfen. Erst in den letzten Jahren hat sich die Sichtweise durchgesetzt, dass die Zwangsaussiedlungen integraler Bestandteil einer Geschichte der innerdeutschen Grenze sind. In Lenschow und Lankow sind neben den Gedenksteinen noch Informationstafeln zum historischen Geschehen zu finden. An der Zufahrt zum ehe-

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Andreas Wagner

maligen Dorf Lankow steht ein nachgestaltetes Ortseingangsschild aus DDRZeiten. Diese Erinnerungszeichen entstanden erst in den letzten Jahren, was wahrscheinlich mit der verspäteten öffentlichen Anerkennung dieser Opfergruppe zusammenhängt.14

D.

Museale Einrichtungen zur Geschichte der innerdeutschen Grenze

An musealen Einrichtungen zur Geschichte der Grenze konnten sechs Orte nachgewiesen werden: das bereits erwähnte Elbbergmuseum in Boizenburg, die Priesterkate in Büchen, das Freilichtmodell Leisterförde, das Grenzhus in Schlagsdorf, die Ausstellung in der Bundespolizeiakademie in Lübeck und die Grenzdokumentationsstätte in Lübeck- Schlutup. Die Entstehungszusammenhänge der Einrichtungen und die thematischen Schwerpunkte sind sehr unterschiedlich. Als zeitlich früheste Gründung ist die Priesterkate in Büchen zu nennen. Der 1991 eröffnete Kulturtreff beherbergt auch eine Ausstellung über die Grenzen von der Zeit Karls des Großen über die ehemalige innerdeutsche Grenze bis heute. Alle anderen Einrichtungen sind erst nach dem zehnten Jahrestag des Mauerfalls eröffnet worden, der einen wichtigen Impuls zur Auseinandersetzung mit der Grenzgeschichte gerade in diesem nördlichen Grenzabschnitt gab. Die Gründung des Grenzhus in Schlagsdorf geht auf diesen Jahrestag zurück, in Lübeck-Schlutup formierte sich der Verein für eine Grenzdokumentationsstätte im ehemaligen Zollhaus. In Schlagsdorf sollte die konkrete Geschichte der innerdeutschen Grenze im Kontext der metaphorischen Bedeutung des Grenzbegriffs in Natur und Gesellschaft erzählt werden, doch letztlich entstanden zwei getrennte Ausstellungen, eine zum Naturraum und eine zur Geschichte von Schlagsdorf und der Grenze. 2001 kam dann das Außengelände mit einer Rekonstruktion von DDRSperranlagen in der ehemaligen Kiesgrube der Gemeinde hinzu. Das zusammengedrängte Modell der Sperranlagen vom Elbberg wechselte 2008 nach Leisterförde und wurde dort überarbeitet als Freilichtausstellung aufgestellt. Die Ausstellung in der Bundespolizeiakademie ist der Geschichte des Bundesgrenzschutzes an der innerdeutschen Grenze gewidmet und 2002 eröffnet worden. Außerdem öffnete nach jahrelangen Bemühungen 2004 die Grenzdokumentationsstätte Lübeck- Schlutup. Im historischen Zollhaus informiert eine kleine Ausstellung über die Grenzöffnung 1989. Weitere Ausstellungsabteilungen thematisieren unterschiedliche Aspekte des Lebens in der DDR. 14 Zum Kampf der Zwangsausgesiedelten um Rehabilitierung, Wiedergutmachung und gesellschaftliche Anerkennung nach 1990: Inge Bennewitz/Rainer Potratz: Zwangsaussiedlungen an der innerdeutschen Grenze. Berlin 2012, 200 ff.

Vom Lebensraum zur Erinnerungslandschaft

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Die erwähnten musealen Einrichtungen bündeln verschiedene Stränge der Grenzgeschichte und versuchen die Vergangenheit anschaulich zu machen. Dazu dienen vor allem die unterschiedlichen Modelle und realitätsnahen Rekonstruktionen der Sperranlagen, historisches Filmmaterial und dokumentierte Zeitzeugenerinnerungen. Sie sind aufgrund lokaler Initiativen entstanden und ziehen nicht unbeträchtliche Besucherzahlen an, so besuchten das Grenzhus in Schlagsdorf im Jahr 2012 10.115 Personen. Erst allmählich entwickelt sich eine Professionalisierung der Arbeit, tritt wissenschaftliche Forschung zu den lokalen Initiativen.

E.

»Vom Todesstreifen zur Lebenslinie«: das Grüne Band

Auch der nördliche Abschnitt der ehemaligen Grenzlinie ist in das Konzept des Grünen Bandes einbezogen. Auf Initiative des BUND entstand, wie oben schon kurz erwähnt, Anfang der 1990er-Jahre die Idee, die lange Zeit unberührten Landschaften entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze zu einer Kette von geschützten Biotopen zu entwickeln. In der Region entwickelte sich auf ostdeutscher Seite das Biosphärenreservat Schaalsee. 1990 entstand der Naturpark als Bestandteil des Nationalparkprogramms der DDR und erhielt 2000 die Anerkennung als UNESCO-Biosphärenreservat. Hier wird versucht, die regionale Entwicklung im Einklang zwischen Mensch und Natur voranzutreiben und den Schutz der Natur zu gewährleisten. Hinter der Ausweisung von Landschaftsschutz- und Naturschutzgebieten trat bisher die historische Dimension der Landschaft zurück. Jedoch beteiligt sich das Amt für das Biosphärenreservat Schaalsee intensiv seit 2009 an der Entwicklung eines neuen Informationsleitsystems, in dem auch die Geschichte der innerdeutschen Grenze eine prominente Rolle spielen soll. So ist geplant, das Grenzhus in Schlagsdorf zu einem Informationszentrum innerhalb des Biosphärenreservats mit dem Schwerpunkt der Grenzgeschichte auszubauen, inhaltlich und fachlich zu profilieren und mit anderen Angeboten der Region zu vernetzen. Dabei kommt es zu einem fruchtbaren Miteinander von Umweltbildung und historisch-politischer Bildung.

262

6.

Andreas Wagner

Zusammenfassung

Nach dem Ende der DDR und dem Abbau der Grenzanlagen Anfang der 1990erJahre entstand auch im Abschnitt der ehemaligen Grenze zwischen Lübeck und Boizenburg eine vielgestaltige Erinnerungslandschaft zur deutsch-deutschen Grenze. Sie ist Bestandteil des Umbaus der Gedenkstättenlandschaft in Mecklenburg-Vorpommern seit 1989/90 mit ihren Konjunkturen und Brüchen.15 Im Unterschied zu vielen anderen DDR-Erinnerungsorten bezeugen die Erinnerungsorte zur innerdeutschen Grenze aber nicht nur den repressiven Charakter der SED-Herrschaft, sondern sie besitzen als Bestandteil des Eisernen Vorhangs im Kalten Krieg auch eine internationale Dimension und repräsentieren einen deutsch-deutschen Zusammenhang, der sie als Begegnungs- und Gesprächsorte zur Vergangenheit und Gegenwart der deutschen Einheit so wertvoll macht. Allerdings treffen unverändert zwei verschiedene Erinnerungskulturen an dieser Grenze aufeinander, die in der unterschiedlichen westdeutschen und ostdeutsche Geschichte wurzeln: »Für die Menschen in der alten Bundesrepublik war die Grenze kein Bestandteil der eigenen Kultur und Gesellschaft. Man war zwar erbittert oder betroffen, weltanschaulich engagiert oder auch gleichgültig (…) Die Grenze galt vielen als Verkörperung des Fremden, des Kommunismus, des Atheismus, des Ostens. Diesem Fremden galt die Anklage, während die eigene Identität davon unberührt blieb. Ein solches sicheres Ufer bot sich den Menschen auf der Ostseite des Zauns nicht. Die Grenze war ein Teil ihrer Kultur, und sie wurde als Antifaschistischer Schutzwall zur gesellschaftlichen Notwendigkeit stilisiert. Die Konfrontation mit der Grenze als einem Symbol der Menschenverachtung oder als einer zynischen, deutschen Realsatire war und ist für die Bewohner im Osten eine Konfrontation mit der eigenen Geschichte und der eigenen kulturellen Identität. Die Schuldzuweisung an das Fremde kann hier bei weitem nicht so elegant gelingen wie im Westen.«16 Aber auch die ostdeutschen Positionen sind fragmentiert, je nachdem welches Verhältnis die jeweilige Person zur SED-Herrschaft hatte, wie sie die Veränderungen nach 1989 meisterte und welche Generationszugehörigkeit vorliegt. Zwischen den Polen der ehemaligen Funktionsträger und der Opfer der SED-Herrschaft lassen sich unterschiedliche Schattierungen von Deutungen der Geschichte nachweisen. Die räumliche Ausprägung der Erinnerung lässt sich zum einen an Versuchen festmachen, die topografische Ausdehnung des historischen Grenzraums wieder sichtbar zu machen. Zum anderen treffen in einem ideellen Ge15 Vgl. Andreas Wagner : The evolution of memorial sites in Mecklenburg-West Pomerania since 1990. In: Nick Hodgin/Caroline Pearce (Ed.): The GDR remembered. Representations of the East German State since 1989. Rochester 2011, 151 – 171. 16 Andreas Hartmann/Sabine Küsting: Grenzgeschichten. Zu ost- und westdeutschen Reaktionen auf ein Buch zur innerdeutschen Grenze. In: Sowi 20 (1991), 197.

Vom Lebensraum zur Erinnerungslandschaft

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dächtnisraum die unterschiedlichen Geschichtsakteure aufeinander, verweben sich die Debatten auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene miteinander, um zum Beispiel zu konkreten Erinnerungszeichen vor Ort zu führen. Nicht überall sind alle Ebenen beteiligt, wie die Beispiele gezeigt haben. Aber wenn es um eine Professionalisierung und Ausweitung der Aktivitäten geht, müssen immer mehrere Ebenen einbezogen werden, schon um Ressourcen zu bündeln. Wissenschaft bildet dann die Grundlage für historische Rekonstruktionen. Der Umgang mit der innerdeutschen Grenze zeigt, dass sich die Scheidung in ostund westdeutsche Erinnerungsgemeinschaften tradiert, aber parallel dazu sich weitere Gruppeninteressen und Erinnerungsstrategien ausprägen. Gerade diese Vielfalt von Konfliktlinien verweist auf die zeitliche Nähe der historischen Ereignisse, auf das noch dominante kommunikative Gedächtnis. Die Entwicklung der Erinnerungslandschaft zur Geschichte der innerdeutschen Grenze hat sich in den letzten Jahren beschleunigt, zum einen durch das gewachsene öffentliche Interesse und zum andern durch den Einsatz von Fördermittel des Landes, des Bundes und der Europäischen Union. Zwar ragen einzelne Erinnerungsorte hervor, aber zunehmend wird der gesamte Grenzverlauf als Erinnerungslandschaft markiert, erklärt und inszeniert. Relikte der Grenzanlagen, Denkmale und museale Einrichtungen sind Fixpunkte und gewissermaßen Torwächter für den Übergang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis. Sie verkörpern Themen und Deutungen, die im kollektiven Gedächtnis fortdauern werden. Den musealen Einrichtungen kommt dabei noch viel stärker als bisher die Aufgabe zu, die existierenden unterschiedlichen Perspektiven und Deutungen mit einander zu konfrontieren, Gesprächsräume für den Austausch von Lebenserfahrungen zu schaffen und die wissenschaftlichen Grundlagen für die Erinnerungsarbeit zu verbreitern. Dabei wären die Erinnerung an Leid und Menschenrechtsverletzungen mit der Überwindung der Diktatur und der deutschen und europäischen Teilung zusammenzudenken, damit im respektvollen Umgang miteinander und in der Konfrontation mit anderen Lebenserfahrungen und biografischen Verläufen Lernen gelingen kann.

Matthias Manke

Erinnerungsort im Gedächtnisraum? Die Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung im Bezirk Schwerin und die Kommission zu ihrer Erforschung

Vorbemerkung Bei einem Gedächtnisraum handelt es sich zunächst einmal um den räumlichen Rahmen, in dem sich ein kollektives Gedächtnis bewegt. Eine geografische oder topografische Konnotation des kollektiven Gedächtnisses einer sozialen Gruppe ist allerdings nicht zwingend, historische Identität kann sich vielmehr auch ideell beziehungsweise immateriell auf Ereignisse, Begriffe, Institutionen oder anderen sogenannten Erinnerungsorten gründen.1 Der nachfolgend interessierende DDR-Bezirk Schwerin, der einen räumlichen Rahmen markiert, entstand im Gefolge des Gesetzes über die weitere Demokratisierung des Aufbaus und der Arbeitsweise der staatlichen Organe in den Ländern der Deutschen Demokratischen Republik vom 23. Juli 1952. Er stellte eine von 14 Verwaltungseinheiten dar, die auf dem Gebiet der DDR die bisherigen fünf Länder respektive Provinzen als mittlere staatliche Verwaltungsebenen ablösten. War schon das 1945 bis 1952 im Nordosten existente Land Mecklenburg(-Vorpommern) ein politisches Konstrukt ohne eigene Identität, so verkörperte die unter wirtschaftlichen, sicherheitspolitischen und verwaltungstechnischen Aspekten vollzogene Bezirksbildung eine noch tiefgreifendere administrative Demontage historisch gewachsener Identifikationsräume. Den Kern des neuen Bezirkes Schwerin bildeten der um den Küstenstreifen reduzierte West- und das Gros des Mittelteils des vormaligen (Groß-)Herzogtums beziehungsweise Freistaats Mecklenburg-Schwerin. Die Arrondierung erfolgte im Nordwesten mit der Südhälfte des vormaligen mecklenburg-strelitzer Landesteils Ratzeburg, im Westen mit dem 1945 im Zuge des Barber-LyaschenkoAbkommens aus dem ehemaligen preußischen respektive schleswig-holsteinischen Landkreis Herzogtum Lauenburg an die SBZ gefallenen Schaalseegebiet 1 Janina Fuge/Rainer Hering/Harald Schmid: Norddeutsche Erinnerungsräume. Einleitende Gedanken. In: Dies. (Hrsg.): Das Gedächtnis von Stadt und Region. Geschichtsbilder in Norddeutschland (Hamburger Zeitspuren 7). München-Hamburg 2010, 7 – 14.

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Matthias Manke

um Dechow, Thurow und Lassahn, im Südwesten mit dem ebenfalls seit 1945 zur SBZ gehörenden ehemaligen preußisch-hannöverschen Amt Neuhaus rechts der Elbe, im Süden schließlich mit großen Teilen des ehemaligen preußisch-brandenburgischen Landkreises Westprignitz. Vor diesem Hintergrund erscheinen die Grenzen des Bezirkes Schwerin unzweckmäßig zur kurzfristigen Konstituierung eines geografisch definierten Gedächtnisraums. Darüber hinaus war es bei Etablierung des Bezirks schlecht um die Bildung einer eigenen subnationalen Identität bestellt, weil selbst den mecklenburgischen Kern unterschiedliche historisch-soziale Strukturen kennzeichneten – beispielsweise wirkte östlich des Schweriner Sees über Jahrhunderte eher die Gutswirtschaft prägend, in der Griesen Gegend südwestlich von Schwerin mit ihren leichten Sandböden hingegen eher bäuerlicher beziehungsweise klein- und unterbäuerlicher Besitz. In den preußisch tradierten Supplementen, das heißt insbesondere in der Prignitz, verlief die Angliederung an den überwiegend mecklenburgisch tradierten Bezirk »nicht ohne Dispute unter der Bevölkerung«.2 Insofern wirkt die Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegungen oder die lokale Widerspiegelung ihrer zentralen Geschehnisse, abgesehen von einer geringen Urbanität und einer vergleichsweise niedrigen Industrialisierung des Landes Mecklenburg,3 nicht grundsätzlich ungeeignet, um sie nach der Bezirksbildung zu Erinnerungsorten zu entwickeln und diese auf einer neuen Subebene unterhalb des ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaates zu einem neuen Gedächtnisraum zusammenzusetzen.

2 Johannes Kornow: Vom Werden des Bezirkes Schwerin. Zum 30. Jahrestag der Bildung der Bezirke. In: Schweriner Blätter. Beiträge zur Heimatgeschichte des Bezirkes Schwerin 2 (1982), 20 – 23, 23. 3 Aufgrund der Zusammensetzung und Verteilung der Bevölkerung sowie der Hauptwirtschaftszweige ist Mecklenburg seit Beginn des »Dritten Reiches« formal nicht mehr als Agrarregion anzusprechen. 1942 lebten gut 62 Prozent der Einwohner in den Städten. Einerseits vollzog sich dieser Verstädterungsprozess erst seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts, noch 1875 lebten nur 40 Prozent und 1900 lediglich 47 Prozent der mecklenburgischen Bevölkerung in einer Stadt. Andererseits konzentrierte sich 1942 fast ein Viertel der mecklenburgischen Stadtbewohner in Rostock, zwei Fünftel in den drei und die Hälfte der Stadtbevölkerung in den fünf größten der insgesamt sechzig mecklenburgischen Städte (Rostock, Schwerin, Wismar sowie Güstrow und Neubrandenburg). Insofern dürften größere Teile der Stadtbevölkerung noch ländlich sozialisiert gewesen sein (Michael Buddrus/Sigrid Fritzlar: Die Städte Mecklenburgs im Dritten Reich. Ein Handbuch zur Stadtentwicklung im Nationalsozialismus, ergänzt durch ein biographisches Lexikon der Bürgermeister, Stadträte und Ratsherren. Bremen 2011, 31).

Erinnerungsort im Gedächtnisraum?

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Gründung und Etablierung der Schweriner Bezirkskommission Die Institutionalisierung von Bezirkskommissionen ist Mitte der 1950er Jahre zu verorten. Zwar wurde bereits auf dem dritten Parteitag der SED im Jahre 1952 die Darstellung der »wahre[n] Rolle der deutschen Werktätigen, ihre[r] großen revolutionären Kämpfe und unsterblichen Leistungen« für wichtig erklärt. Als eigentliches Initial gilt jedoch der 1955 gefasste Beschluss über die Verbesserung der Forschung und Lehre in der Geschichtswissenschaft der Deutschen Demokratischen Republik.4 Passend zum Konzept der »sozialistischen Heimat« forderte der Beschluss die Erforschung der Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung, für die im Grunde die populärwissenschaftliche Forschungsarbeit die tragende Rolle zugewiesen bekam.5 Eine Steigerung der Anzahl und des Niveaus entsprechender Veröffentlichungen wurde als notwendig betont, »um die Liebe zur Heimat zu stärken« und »die patriotische Erziehung der Werktätigen« zu befördern.6 Möglicherweise erfolgte die Gründungsinitiative im Rückgriff auf Pilotprojekte oder zumindest auf Erfahrungen aus dem Bezirk Rostock, in dessen Kreisstadt Greifswald beispielsweise schon im Herbst 1954 »mit der systematischen Arbeit zur Erforschung der örtlichen Geschichte der Arbeiterbewegung« begonnen und 1957 »nach über zweijähriger Arbeit« ein »recht umfangreicher Überblick über die konkreten Geschehnisse (…) der Arbeiterbewegung Greifswalds von 1844 bis 1946« vorgelegt wurde.7 Darüber hinaus 4 Klaus Schreiner : Erforschung und Popularisierung der örtlichen Geschichte der Arbeiterbewegung. In: Neuer Weg. Organ des Zentralkomitees der SED für Fragen des Parteilebens 12 (1957), Nr. 21, 1350 – 1355, 1350. 5 Hans-Dieter Schmid: Heimatgeschichte und Regionalgeschichte in der DDR. In: Ernst Hinrichs (Hrsg.): Regionalität. Der »kleine Raum« als Problem der internationalen Schulbuchforschung (Studien zur internationalen Schulbuchforschung 64). Frankfurt/Main 1990, 47 – 67, 51. 6 Die Verbesserung der Forschung und Lehre in der Geschichtswissenschaft der Deutschen Demokratischen Republik. Beschluß des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands [Auszug]. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 3 (1955), 507 – 527, 525. 7 Schreiner : Erforschung (Anm. 4), 1350 – 1351; Ders.: Dokumente berichten aus der Geschichte der Greifswalder Arbeiterbewegung. Greifswald 1958. Der fehlerbehaftete Nachweis eines angeblich 1952 entstandenen »Archivalische[n] Quellennachweis[es] zur Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung in Rostock«, den die Universitätsbibliothek Rostock im Gemeinsamen Verbundkatalog (GBV) führt (Abruf: 01. 06. 2012), könnte zu einer noch früheren Datierung der Aktivitäten im Bezirk Rostock verleiten. Der Bearbeiter Karl-Friedrich Raif nahm seine Tätigkeit im Stadtarchiv Rostock jedoch erst 1961 auf und die Publikation des Spezialinventars, das lediglich die themenrelevanten Bestände bis 1952 nachweist, erfolgte 1977 und damit beispielsweise sieben Jahre nach einem Pendant aus dem Bezirk Neubrandenburg (Spezialinventar der Kreis- und Stadtarchive des Bezirkes Neubrandenburg zur Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung. Als Ms. gedruckt. Schwerin 1970). Andere Bibliotheken im GBV weisen richtig aus Karl-Friedrich Raif (Bearb.): Archivalischer Quellennachweis zur Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung in Rostock. Spezialinventar des Stadtarchivs Rostock 1830 – 1845 und 1945 – 1952 (Kleine Schriftenreihe des Stadtarchivs

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erschienen in den nächsten Jahren im sogenannten Küstenbezirk in rascher Folge weitere Publikationen der vorgenannten Art.8 Am 15. Juni 1955 thematisierte schließlich auch das zentrale SED-Parteiorgan Neues Deutschland die Erforschung der Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung.9 Die Gründung der Schweriner Bezirkskommission erfolgte auf Beschluss des Sekretariats der SED-Bezirksleitung am 21. März 1957. Da lediglich das Beschlussprotokoll der Sitzung überliefert ist, wird zwar der beabsichtigte Zweck deutlich, nicht aber der Hintergrund oder unmittelbare Anlass. Die Kommissionsgründung scheint nicht optimal vorbereitet gewesen zu sein, denn das Sekretariat änderte die Beschlussvorlage in zwei Punkten ab: Einerseits wurde die vorgesehene Zahl der Kommissionsmitglieder um zwei auf insgesamt 15 ergänzt, andererseits kam zum zunächst geplanten Unterbau von Kreiskommissionen in Güstrow, Perleberg, Hagenow und Schwerin-Stadt noch Bützow hinzu. Sie alle sollten binnen drei Wochen, das heißt bis zum 15. April 1957, Rostock, Sonderheft 2). Als Ms. gedruckt. Rostock o. J. [1977]; Karsten Schröder (Hrsg.): Die Bestände des Archivs der Hansestadt Rostock. Eine kommentierte Übersicht (Kleine Schriftenreihe des Stadtarchivs Rostock 17). Rostock 2010, 54, 465. 8 Robert Nespital: Beiträge zur Geschichte der mecklenburgischen Arbeiterbewegung vor dem ersten Weltkrieg. Erinnerungen und Gedanken eines Veteranen der Arbeiterklasse über die ersten Jahre der Arbeiterbewegung in Mecklenburg. Hrsg. Bezirksleitung der SED [nachfolgend BL] Rostock. Rostock 1954; Rat der Stadt Wismar (Hrsg.): »Ich war – ich bin – ich werde sein!« Aus der Geschichte der Arbeiterbewegung in Wismar. In: Festschrift zur 725-Jahrfeier der Stadt Wismar. Schwerin 1954, 47 – 52; Stadtleitung Wismar der SED (Hrsg.): Dem Morgenrot entgegen. Beiträge zur Geschichte der Wismarer Arbeiterbewegung. Wismar 1956; Kreisleitung [nachfolgend KL] der SED Wismar (Hrsg.): Einig im Wollen, einig im Handeln. Beitrag zur Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung Wismars vom Mai 1945 bis April 1946. Wismar 1958; KL der SED Wismar (Hrsg.): Sturmtage. Wismar 1918/1919. Aus der Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung Wismars vom November 1918 bis Dezember 1919. Wismar o. J. [1958]; BL der SED Rostock (Hrsg.): Kiel gab das Signal. Arbeiter berichten über die Novemberrevolution. In der DDR wurden die Lehren aus der Novemberrevolution gezogen. Rostock 1958; [Bezirks-]Kommission zur Erforschung der Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung [nachfolgend BK] Rostock (Hrsg.): 40 Jahre Kommunistische Partei Deutschlands. Dem Morgenrot entgegen. Rostock 1958; Karl Heinz Jahnke: Zur Geschichte der Stralsunder Arbeiterbewegung. Hrsg. Abt. Agitation und Propaganda der KL der SED Stralsund. Stralsund 1958; Beiträge zur Erforschung der Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung, gehalten auf der Historiker-Konferenz in Greifswald 6. Dezember 1958. Rostock 1959; Aus der Geschichte der Arbeiterbewegung. In: Kultur- und Heimatspiegel der Werftstadt Wismar. Hrsg. Rat der Stadt, Abt. Kultur, 11 (1959), 3 – 7; BK bei der BL der SED Rostock (Hrsg.): Einer von Vielen. Genosse Ernst Puchmüller berichtet aus seinem Leben. Rostock 1959; Heinz-Gerd Rackow: Die Grundlagen der Kommunalpolitik der Stadt Rostock in der Periode von 1945 bis zur Gründung der DDR. Hrsg. BK bei der BL der SED Rostock. Rostock 1959; Martin Polzin: Rostock, das Zentrum der mecklenburgischen Arbeiterbewegung in der Periode von 1871 – 1918. Hrsg. BK bei der BL der SED Rostock. Rostock 1959; BK bei der BL der SED Rostock (Hrsg.): Märzstürme 1920 an der Ostseeküste. Hrsg. anläßlich des 40. Jahrestages der revolutionären Kämpfe der mecklenburgischen Arbeiter gegen Kapp-Lüttwitz. Rostock o. J. [1960]. 9 Schreiner : Erforschung (Anm. 4), 1350.

Erinnerungsort im Gedächtnisraum?

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arbeitsfähig sein.10 Verantwortlich für die Bezirkskommission war die Abteilung Agitation und Propaganda der SED-Bezirksleitung, auf Kreisebene verhielt es sich analog. Aufgrund der »großen Bedeutung« des »Studium[s] der Geschichte der Arbeiterbewegung für den heutigen Kampf der Arbeiterklasse« bestand die Aufgabe der Bezirkskommission in erster Linie darin, »durch die Propagierung ihrer Forschungsergebnisse die Kampfentschlossenheit unserer Parteimitglieder und aller fortschrittlichen Kräfte unseres Bezirkes gegen die Feinde des deutschen Volkes, die Imperialisten und Militaristen, zu erhöhen und ihnen Zuversicht und Ansporn zu geben zum Aufbau des Sozialismus in der DDR. Die Kenntnis über den revolutionären Kampf der Arbeiterklasse, der vielen heldenhaften und opferbereiten Beispiele klassenbewußter Arbeiter gegen die Feinde der Arbeiterklasse in der vergangenen und jüngsten Zeit soll das Vertrauen der Bevölkerung zur Kraft der Arbeiterklasse stärken und zeigen, daß die Arbeiterklasse die historische Aufgabe hat, die alten, überlebten kapitalistischen Ausbeutungsverhältnisse zu beseitigen und die neue sozialistische Gesellschaft aufzubauen.« Gleichsam zwangsläufig ergebe sich daraus, »daß die Erforschung der örtlichen Geschichte der Arbeiterbewegung ein Beitrag zur Stärkung unserer DDR« und, als sei das noch nicht genug, »zur Lösung der nationalen und sozialen Fragen des deutschen Volkes sein wird«. Diese Aufgabenformulierung nahm keine Rücksicht auf die subnationale Ebene und fixierte von vornherein das ideologisch motivierte Forschungsergebnis – die sogenannte historische Mission der Arbeiterklasse. Neben dieser Hauptaufgabe kamen der Kommission einige nicht unerhebliche Nebenaufgaben zu. So diene die Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung »der Vervollständigung der Geschichte der Arbeiterbewegung Deutschlands« und der »Stärkung des proletarischen Internationalismus«, der Popularisierung »vor allem der Hilfe der Sowjetunion gegenüber dem deutschen Volke« bei gleichzeitiger Vermittlung der »wahre[n] Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung« zur endgültigen Beseitigung des »noch vorhandenen Einfluß[es] der imperialistischen Geschichtsfälscher und Reformisten.« Nicht zuletzt wurde der »Erziehung unserer Jugend im Bezirk« – im Übrigen der einzige Bezug auf den subnationalen Raum – Bedeutung beigemessen. Der Bezirkskommission oblag es schließlich auch, den Kreiskommissionen Hinweise zur einheitlichen Durchführung ihrer Forschungen zu geben und Forschungsergebnisse mit über den jeweiligen Kreis hinausreichender Bedeutung auszuwerten. Vermittelt werden sollten sie »allen Bevölkerungsschichten« durch Ausstellungen, Broschüren, »Lektionen« und die Presse. Hinsichtlich der Forschungsarbeit und auch der Ergebnisvermittlung muss 10 LHAS, 10.34 – 3 (SED-BL Schwerin) Nr. 178, fol. 2. Siehe für diesen und den folgenden Absatz auch ebd., fol. 16 – 18.

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die personelle Zusammensetzung der Bezirkskommission etwas erstaunen. Während »unter Leitung der Abteilung Propaganda und Agitation der Bezirksbzw. Kreisleitungen der Partei« eigentlich »Parteiveteranen, Genossen Geschichtslehrer, Archivare, Genossen von (…) Parteischulen und der Sektion Heimat- und Naturfreunde vom Kulturbund« in den Kommissionen agieren sollten11, überwog in der Schweriner Kommission die Zahl der Funktionäre die der – im weiteren Sinne – Fachleute. Erstere repräsentierten vier Mitglieder der SED-Bezirksleitung, darunter der Leiter und ein Mitarbeiter des Parteikabinetts, der Lehrstuhlleiter der Bezirksparteischule, der dritte Sekretär der FDJ-Bezirksleitung, der Bezirksvorstand der Gewerkschaft Land und Forst, der zweite Vorsitzende des DRK-Bezirksverbandes, der Parteisekretär des Landwirtschaftlichen Instituts und ein Mitarbeiter des Rates des Bezirkes. Ihnen gegenüber standen der Leiter des Stadtarchivs Schwerin, ein Redakteur und ein Mitarbeiter des SED-Bezirksorgans Schweriner Volkszeitung, ein Lehrer des Landwirtschaftlichen Instituts sowie – als einzige Frau – die Schriftstellerin Holdine Stachel (1892 – 1974). Im Übrigen war sie ebenso Mitglied der SEDBezirksleitung wie der erwähnte Mitarbeiter, der eigentlich stellvertretende Vorsitzende des Rates des Bezirkes Xaver Karl (1892 – 1918), sowie der angeführte und erst im letzten Moment einbezogene DRK-Repräsentant, der frühere SPD-Landesvorsitzende und Landtagspräsident Karl Moltmann (1884 – 1960).12 Auf den ersten Blick scheint die neu gegründete Kommission zunächst nicht sonderlich in Gang gekommen zu sein. Die Jahre 1957 und 1958 verstrichen wohl weitgehend ohne konkrete Ergebnisse. Immerhin konnte im letzten Quartal 1958 dem Deutschlandsender Berlin »einiges Material zur Geschichte der November-Revolution« im Bezirk Schwerin zur Verfügung gestellt werden – es handelte sich dabei um sieben nicht näher charakterisierte »Dokumente«13, womöglich Quellenablichtungen oder -abschriften. Erstmals scheint für 1959, 11 Neues Deutschland, 15. 06. 1955, zitiert nach Schreiner : Erforschung (Anm. 4), 1350. 12 LHAS, 10.34 – 3 (SED-BL Schwerin) Nr. 178, fol. 16 – 18. Ebenso wie Karl Moltmann gehörte das BL-Mitglied Alfred Ewert nicht zur ursprünglich vorgesehenen Besetzung der BK (ebd., fol. 2.). Siehe zu den einzelnen BK-Mitgliedern deren Kaderakten ebd., Nr. 738 (Paul »Axel« Werther); ebd., Nr. 830 (Bernhard Reinders); ebd., Nr. 5320 (Xaver Karl); ebd., Nr. 5410 (Hans Heinrich Leopoldi); ebd., Nr. 5526 (Ernst Parchmann); ebd., Nr. 5142 (Ernst Bruhns); ebd., Nr. 5653 (Holdine Stachel); ebd., Nr. 5717 (Erich Wiesner). Kaderakten der BK-Mitglieder Alfred Ewert, Paul Peters, Günther Stendell, Erich Woitinas sowie der Genossen Grugal und Sommer scheinen nicht überliefert zu sein. Siehe aber auch ebd., 10.9-E/7 (Nachlass Alfred Ewert); 10.9-K/5 (Nachlass Xaver Karl); 10.9-P/10 (Nachlass Ernst Parchmann); 10.9-S/24 (Nachlass Holdine Stachel); 10.9-W/5 (Nachlass Paul Werther); 10.9W/8 (Nachlass Erich Wiesner). 13 LHAS, 10.34 – 3 (SED-BL Schwerin) Nr. 1338, fol. 2. Im Dezember 1958 erbaten zudem die PH Potsdam und die Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin die bisherigen Veröffentlichungen der BK Schwerin. Die Antwortschreiben sind leider nicht vorhanden (ebd., fol. 3 – 4).

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das dritte Kommissionsarbeitsjahr und zugleich das zehnte Bestandsjahr der DDR, ein Arbeitsprogramm überliefert. Dessen inhaltlicher Schwerpunkt lag auf den Jahren nach 1945 beziehungsweise 1949, wobei gerade mit Blick auf das zehnjährige Gründungsjubiläum »vor allem der [sic!] Bedeutung der DDR als rechtmäßiger deutscher Staat, die Entstehung und Entwicklung der DDR als historisch gesetzmäßiger Prozeß gründlich behandelt werden müssen«. Dazu wurden als Arbeitsfelder die »führende Rolle der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei, (…) die Bedeutung des Sieges der Sowjetunion über den Hitlerfaschismus« und »die historische Rolle der DDR« definiert. Hinzu kam die Notwendigkeit, »in unserem Bezirk (…) in Vorbereitung des zehnten Jahrestages der DDR« bestimmte Forschungen gründlich zu betreiben und zu popularisieren, nämlich »den Kampf um die Vereinigung der beiden Arbeiterparteien und die Herausbildung der SED zur marxistisch-leninistischen Kampfpartei als Führerin der Massen«, die Bildung von Volkseigentum, die Entwicklung von sozialistischer Industrie respektive Handel und Verkehr, die Durchführung der sogenannten demokratischen Bodenreform und die beginnende sozialistische Umgestaltung der Landwirtschaft sowie die Bildung der Nationalen Front im Bezirk Schwerin.14 Den Genossen Kommissionsmitgliedern mag diese Art der Selbstbeweihräucherung womöglich Spaß bereitet haben, als Identität stiftendes Moment eines subnationalen Bezugsraumes eignete sie sich wohl kaum. Das Arbeitsprogramm kommt eher als ideologisch verbrämte Gegenwartskunde denn als historische oder zumindest zeitgeschichtliche Forschungsarbeit daher. Das muss insofern wenig Wunder nehmen, als die ins Auge gefassten Forschungsthemen und ihre Popularisierung »mithelfen [sollten], das sozialistische Bewußtsein der Werktätigen weiter zu entwickeln und sie zu mobilisieren, noch größere Erfolge beim sozialistischen Aufbau und im Kampf gegen den deutschen Militarismus zu erringen«. Zur Umsetzung der Programmatik wurden Aufgaben gestellt, für die jeweils ein bis zwei Kommissionsmitglieder die Verantwortung trugen: Unterstützung des Rates des Bezirkes bei der Erarbeitung einer Wanderausstellung »10 Jahre DDR«, Herausgabe von Broschüren über die Vereinigung von KPD und SPD im Bezirk Schwerin, über den »Einzug des Sozialismus auf dem Dorfe« sowie über die Schaffung und Entwicklung von Volkseigentum in Wittenberge, Veröffentlichung von Presseartikeln zu Themen wie »Die Schaffung einer marxistisch-leninistischen Arbeiterpartei – die entscheidende Voraussetzung zur revolutionären Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse nach 1945 auf dem Gebiete der DDR« oder »Die Schaffung des Volkseigentums – die ökonomische Grundlage für den Sieg des Sozialismus in der DDR«, ferner »Lektionen« und Vorträge über die historischen Ereignisse 14 Ebd., fol. 56 – 63, 56 – 60.

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nach 1945 auf dem Gebiet der DDR in Zusammenarbeit mit den Bildungsstätten der Partei, Beratung bei der Schaffung der antifaschistisch-demokratischen Ordnung und mit beim Aufbau des Sozialismus aktiven Funktionären sowie Aussprachen über ihre Kampferfahrungen. Augenfällig in diesem Arbeitsprogramm für 1959 sind vor allem zwei Aspekte – einerseits die marginalisierte subnationale Komponente, andererseits die beiden letzten der insgesamt neun verteilten Aufgaben: Die Bezirkskommission sollte »mit dem Ziel, sie zu einer arbeitenden Körperschaft zu machen,« erweitert werden und auch den Kreiskommissionen wurde eine Ergänzung ihrer Mitglieder empfohlen, und zwar mit solchen »Genossen (…), die nach 1945 tätig waren«.15 Eine dem Unterton der ersteren Art ähnelnde Zielstellung enthielten die Arbeitsrichtlinien für 1960, nämlich »zu einer systematischen kontinuierlichen Arbeit überzugehen«. Mit der ersten, wahrscheinlich von Mitte Dezember 1959 zu datierenden Fassung dieser Arbeitsrichtlinien wiederholte die Kommission den Wunsch nach personeller Verstärkung.16 Abgesehen davon, dass die für 1959 geplanten Pressebeiträge und Broschüren vermutlich nicht oder nicht rechtzeitig fertig gestellt wurden17, unterlief der Kommission bei der Aufstellung ihrer Arbeitsrichtlinien für 1960 ein schwerer inhaltlicher Fehler – deren erste Fassung ignorierte ein für das Selbstverständnis der SED immanent bedeutsames Geschehen. Bei den 1960 anstehenden Jubiläen der Arbeiterbewegung handelte es sich um den vierzigsten Jahrestag des Kapp-Putsches im März, den 15. Jahrestag der Befreiung im Mai, den 15. Jahrestag der Bodenreform im September und den elften Jahrestag der Gründung der DDR. Während aber die Arbeitsrichtlinien vorausschauend bereits auf den 15. Jahrestag der SED-Gründung im April 1961 zielten, fand die Bodenreform in der ersten Fassung nicht einmal in einem Nebensatz Beachtung. Insofern muss es nicht verwundern, dass die oh15 Ebd., fol. 61 – 63 (Hervorhebung M.M.). 16 Ebd., fol. 19 – 20. Die vorgenommene Datierung leitet sich ab aus ebd., fol. 23 – 27. Die zweite Fassung ebd., Nr. 217, fol. 35 – 37. Die beiden Fassungen der Jahresrichtlinie unterscheiden sich neben einigen inhaltlichen Verschiedenheiten, auf die noch einzugehen sein wird, vor allem in der Benennung von Verantwortlichen für die Einzelaufgaben. Diese gab es lediglich in der älteren Fassung. 17 Bibliographie zur Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung [1959]. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 2 (1960), 678 – 695, 694 – 695 weist für den Bezirk Schwerin sieben Titel aus. Einer davon erschien 1958 in einem Sammelband mit Erinnerungen im Dietz-Verlag, einer thematisierte den Arbeitersport und bei einer Veröffentlichung in einer wissenschaftlichen Zeitschrift zur Bodenreform im Kreis Parchim handelte es sich wohl um eine Qualifizierungsarbeit. Letztere passte ebenso ins Portfolio der BK wie ein Bericht von Bernhard Quandt im Neuen Deutschland zum Kampf um die Planerfüllung und Gedanken zum KPD-Verbot in einer Dorfzeitung. Von den BK-Mitgliedern war lediglich Erich Wiesner mit einer vierteiligen Serie in der Schweriner Volkszeitung über Mecklenburg 1945/46 vertreten (Bibliographie zur Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung [1960]). In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 2 [1960], 928 – 944, 943).

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nehin ohne die erwartete Durchschlagskraft arbeitende Kommission Anfang 1960 nicht die gewünschte bloße Erweiterung erfuhr, sondern dass eine regelrechte und keineswegs reibungslos verlaufende Personalrochade in Größenordnungen stattfand. Mit der Begründung, die Kommission sei durch das – im Übrigen nicht etwa natürlich bedingte – »Ausscheiden einiger Genossen nicht mehr voll arbeitsfähig«, erhielt das Sekretariat der SED-Bezirksleitung am 11. Januar 1960 eine Vorlage mit sage und schreibe acht neu zu berufenden Kommissionsmitgliedern. Selbst dafür versagte das Sekretariat seine Zustimmung, denn die Absegnung wurde zwecks »nochmaliger« Überprüfung zurückgestellt. Es war der gern als »Vater der Bodenreform« apostrophierte SEDBezirksvorsitzende Bernhard Quandt (1903 – 1999), dem der Vorschlag einiger »geeignete[r] Genossen« zur Kommissionsergänzung vorbehalten blieb.18 Der Personalmaßnahme fielen im Juli 1960 schließlich sieben Gründungsmitglieder19 und drei der acht zunächst vorgesehenen Ergänzungsmitglieder zum Opfer.20 Ersatz für sie stand in Person des zweiten Sekretärs der SEDKreisleitung Schwerin-Land, des Archivars des FDGB-Bezirksvorstandes, des zweiten Vorsitzenden des Bezirksvorstandes der Gewerkschaft Land und Forst, eines Lehrers der Kreisparteischule Ludwigslust und eines Mitarbeiters des Mecklenburgischen Landeshauptarchivs bereit.21 Vermutlich im Ergebnis der Intervention von Bernhard Quandt kamen der Sektorenleiter Propaganda der SED-Bezirksleitung Hermann Wulff und der als »Parteiveteran« ausgewiesene August Hase (1895 – 1978) hinzu, letzterer ehemals Landrat des Kreises Parchim.22 Hingegen blieben wohl im letzten Moment die Gründungsmitglieder Holdine Stachel und der Schweriner Stadtarchivar Hans Heinrich Leopoldi (1917 – 1978) auf der Strecke. Letzterem, der durchaus zu den »arbeitenden« Kommissionsmitgliedern gezählt haben dürfte, wurde 1952 vor der Aufnahme in die SED vom Kaderleiter der Schweriner Stadtverwaltung ein lückenhaftes Staatsbewusstsein attestiert und in der Kommission hatten seine Vorschläge

18 LHAS, 10.34 – 3 (SED-BL Schwerin) Nr. 216, fol. 3 und fol. 28. Siehe zum Folgenden auch ebd., Nr. 178, fol. 17 – 18; ebd., Nr. 217, fol. 32 – 34: ebd., Nr. 1338, fol. 11. 19 Genossen Grugal (Bezirksvorstand der Gewerkschaft Land und Forst), Alfred Ewert (Mitglied der SED-BL), Bernhard Reinders (Mitglied der SED-BL und Leiter des Parteikabinetts), Paul Werther und Karl Moltmann. Außerdem des Weiteren (Anm. 23). 20 Genossen Schröder (Parteiveteran), und Si[e]mon (Mitarbeiter des Methodischen Kabinetts im Ministerium für Arbeit und Berufsausbildung), Klaus Baudis (Mitarbeiter des Mecklenburgischen Landeshauptarchivs). 21 Genossen Ernst Rösner, Ohlerich oder Ulrich, Borkowski, Voi[g]t und Siegfried Kuntsche. 22 Siehe zu den beiden Genannten des ersteren Kaderakte LHAS, 10.34 – 3 (SED-BL Schwerin) Nr. 5740; ebd., 10.9-H/4 (Nachlass August Hase). Hermann Wulff stand zwar nicht in der Sekretariatsvorlage vom 8. Januar 1960, erschien als Verantwortungsträger aber schon früher im Kontext der BK, d. h. im erwähnten Arbeitsplan für 1959. Ebd., 10.34 – 3 (SED-BL Schwerin) Nr. 1338, fol. 62 – 63; ebd., fol. 11.

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nicht immer Gegenliebe gefunden.23 Wenig später übernahm der Leiter der Abteilung Agitation und Propaganda der SED-Bezirksleitung, der die Bezirkskommission nachgeordnet war, als sechzehntes Mitglied den Vorsitz der Kommission.24 Parallel zu dieser umfänglichen personellen Umstrukturierung zog das SEDSekretariat die Zügel auch an anderer Stelle an. Zum einen galt es, den – inzwischen direkt bevorstehenden – 15. Jahrestag der Bodenreform am 3. September 1960 und den 15. Jahrestag der SED-Gründung am 21. April 1961 »systematisch vorzubereiten«.25 Zum anderen sollte die Kommissionsarbeit nunmehr bestimmten Richtlinien folgen, die Arbeitsfähigkeit der Kreiskommissionen war mit sofortiger Wirkung herzustellen, es hatte eine enge Zusammenarbeit mit Archiven, Museen und der Historikergesellschaft sowie – das ist für die weiteren Ausführungen wichtig – die Einbeziehung kampferprobter Genossen zu erfolgen: »Die Kreiskommissionen haben die Aufgabe, mit alten Parteiveteranen zu sprechen, ihre revolutionäre Tätigkeit in der Arbeiterbewegung schriftlich festzuhalten, die vielen Materialien der Geschichte der örtlichen Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung im Kreis sicherzustellen, zu ordnen und für die ideologische Arbeit auszuwerten. Dabei ist auch in den Parteiarchiven endlich Ordnung zu schaffen.«26 Die weitere Entwicklung der Arbeitsorganisation der Bezirkskommission und der zählbaren Ergebnisse ihrer Arbeit erscheint wie eine Rechtfertigung der tiefgreifenden Umstrukturierung. Bereits für 1960 lassen sich drei respektive vier kleinere Publikationen der Kommission sowie mehrere Zeitungsartikel zum Kapp-Putsch, darunter einer des Kommissionsmitglieds Erich Wiesner (1897 – 1968), bibliografisch nachweisen.27 23 Die Sekretariatsvorlage zur Neubesetzung enthielt vor ihrer Annahme »mit einigen Änderungen« 17 Namen. LHAS, 10.34 – 3, Nr. 217, fol. 25, 33. Unter diese Änderungen fiel offensichtlich die Streichung der beiden o. G. Siehe zu Hans Heinrich Leopoldis Arbeitsergebnissen beispielsweise ebd., Abt. V (SED-BL Schwerin: Sammlungen, Erinnerungen, Nachlasse), Nr. 24 sowie zu seiner SED- und BK-Mitgliedschaft auch Jens-Uwe Rost: Hans Heinrich Leopoldi. Heimatpflege zwischen Tradition und Parteiauftrag. In: Beatrice Vierneisel (Hrsg.): Aspekte zur kulturellen Integration von Umsiedlern in Mecklenburg und Vorpommern 1945 bis 1953 (Rostocker Beiträge zur Volkskunde und Kulturgeschichte 4). Münster-New York-München-Berlin 2006, 201 – 210, 202, 207. 24 LHAS, 10.34 – 3 (SED-BL Schwerin) Nr. 217, fol. 38. 25 Ebd.; ebd., fol. 32 – 34. 26 Ebd., fol. 32 – 34. 27 BK bei der BL der SED Schwerin (Hrsg.): Historische Wende. Zum 15. Jahrestag der Befreiung des deutschen Volkes vom Faschismus. Aktivisten der ersten Stunde berichten. Schwerin o. J. [1960]; BL der SED Schwerin, BK (Hrsg.): Junkerland in Bauernhand. Von der Junkerherrschaft zum Sozialismus. Hrsg. zum 15. Jahrestag der demokratischen Bodenreform. Schwerin o. J. [1960]; BL der SED, BK (Hrsg.): Zum 15. Jahrestag der Gründung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Schwerin o. J. [1960]; BL Schwerin der SED (Hrsg.): Arbeiterfäuste schlugen die Militaristen. Zum 40. Jahrestag der Niederwerfung des Kapp-Putsches. Schwerin 1960. Letztere Broschüre wurde durchaus als Ergebnis der Kom-

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Die Erinnerungsberichte der Veteranen Die zitierte Aufgabenzuweisung an die Kreiskommissionen, das heißt die Gespräche mit alten Parteiveteranen und die schriftliche Fixierung ihrer revolutionären Tätigkeit in der Arbeiterbewegung, zielte auf die sogenannten Erfahrungs-, Erinnerungs- oder Erlebnisberichte »von Teilnehmern an den Kämpfen der Arbeiterklasse gegen den volksfeindlichen Imperialismus und Militarismus und an ihren selbstlosen Einsatz für den Aufbau der sozialistischen Gesellschaftsordnung in der Deutschen Demokratischen Republik«.28 Aber »vielfach schrecken Veteranen davor zurück, ihre Erinnerungen schriftlich zu fixieren. Sie äußern darum mitunter den Wunsch, ihre Erinnerungen und Erlebnisse mündlich zu überliefern. Noch viel zuwenig bedienen sich die örtlichen Kommissionen dieser Methode der Sammlung (…) Aber das ist grundfalsch. Die direkte mündliche Überlieferung auf Tonband oder ins Stenogramm weist viele Vorteile auf«29 und galt als »Vorstufe für deren schriftliche Veröffentlichung«.30 Die als vielfältig wertvoll angesehenen mündlichen Berichte stellten also keine Erfindung der neu aufgestellten Schweriner Bezirkskommission dar, sondern waren ein offenbar andernorts bereits bewährtes Arbeitsinstrument. Bereits 1962 wurde das republikweite Vorhandensein von »nahezu 40 selbständige[n] Publikationen mit Erinnerungen und Erlebnisberichten zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung« und von »etwa 75 Erinnerungsbroschüren der Kommissionen« konstatiert, hinzu kamen »nahezu 485 selbständige Publikationen zur Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung (…), denen u. a. Berichte von Veteranen zugrunde liegen«.31 Und ein nicht ganz einflussloser beziehungsweise nicht ganz unbedeutender DDR-Historiker, der 1970 die wertvollen Materialsammlungen der Kommissionen zur Erforschung der Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung pries,32 rühmte noch fast vier Jahrzehnte später den zentralen Platz seiner Ende der 1950er Jahre begonnenen »Befragung von Zeitzeugen« in den eigenen Forschungen.33 Als hingegen Lutz Niethammer (*1939) ab 1987 seine »volkseigene Erfah-

28 29 30 31 32 33

missionsarbeit betrachtet. Siehe z. B. LHAS, 10.34 – 3 (SED-BL Schwerin) Nr. 1338, fol. 49 und Bibliographie [1960] (Anm. 17), 943. Hans Maur : Zur Bedeutung und Sammlung von Erinnerungen und Erlebnissen zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. In: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung 4 (1962), Nr. 1, 313 – 323, 313. Ebd., 318. Ebd., 316. Ebd., 313 Anm. 5 und 315 Anm. 9. Karl Heinz Jahnke et al. (Hrsg.): Der antifaschistische Widerstandskampf unter Führung der KPD in Mecklenburg 1933 bis 1945. Rostock 1970, 9. Karl Heinz Jahnke: Zeitzeuginnen. Frauen, die nicht vergessen werden sollten. Rostock 2009, 7 – 8, 47.

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rung« und deren Genese beschrieb, musste er konstatieren, dass »›Oral History‹ in der DDR amtlich nicht erwünscht [sei]«, mithin entsprechende Bemühungen bereits »im Vorfeld abgeblockt worden« seien. Mit Blick auf die Erinnerungsberichte scheinbar ein Widerspruch, der allerdings, jedenfalls aus SED-Sicht, tatsächlich gar nicht vorhanden war. Ursächlich für die Missliebigkeit der »Oral History« sei nämlich, so ein ostdeutscher Gewährsmann Lutz Niethammers, dass »die DDR ein Staat der Avantgarde sei« und »in einer von einer Avantgarde geleiteten Gesellschaft habe die Masse des Volkes naturgemäß ein zurückgebliebenes Bewußtsein. Dieses durch seine Erforschung und öffentliche Thematisierung mit sich selbst zurückzukoppeln sei unter dem Gesichtspunkt der Avantgarde ein schädlicher Vorgang. So klar hatte mir noch niemand die führende Rolle der Partei und die Unhörbarkeit des Volkes in der Öffentlichkeit der DDR erklärt.«34 Rückgespiegelt auf die ebenso vehement eingeforderten wie hoch gelobten Erinnerungsberichte bedeutet das nichts anderes, als dass sie ebenso parteiische wie verordnete Memoria verkörperten und damit eine unter objektiven Aspekten eher wertlose Quelle darstellen. Grundsätzlich erscheint es plausibel, die schriftliche Quellenbasis zu erweitern, und es erschiene im Sinne einer Pluralität der Ansichten und Meinungen legitim, eine Art Gegenpol zu sogenannten bürgerlichen und »reformistischen« Darstellungen der Geschichte der Arbeiterbewegung zu schaffen. Natürlich ging es viel weniger darum als um den Klassenkampf, denn die bürgerlichen Darstellungen galten per se als »herabwürdigen[d], entstellen[d] oder gar verschweigen[d]«.35 Die Frage der Authentizität und Objektivität der Erinnerungsberichte, die nichts anderes als die Frage nach ihrem Quellenwert darstellt, soll und kann hier nicht umfassend diskutiert werden. Sie lässt sich aber am Beispiel der 1956 publizierten Memoiren des Schweriner Kommissionsmitgliedes Erich Wiesner zumindest konkretisieren. Darin vermittelte er den Eindruck, »einige Tage« nach der sowjetischen Besetzung Stettins am 26. April 1945 als Oberbürgermeister der Stadt auserkoren worden zu sein und als solcher »mehr als zwei Monate« gearbeitet zu haben36 – abgesehen davon, dass er erst nach dem 20. Mai deutscher Bürgermeister beziehungsweise als solcher Chef der deutschen Verwaltung war, blieben die Ernennung eines polnischen Stadtpräsidenten am 29. April, die beiden vor 34 Lutz Niethammer : Glasnost privat 1987. In: Ders./Alexander von Plato/Dorothee Wierling: Die volkseigene Erfahrung. Eine Archäologie des Lebens in der Industrieprovinz der DDR. 30 biographische Eröffnungen. Berlin 1991, 9 – 73, 10, 13. 35 Maur : Zur Bedeutung (Anm. 28), 315. 36 Erich Wiesner : Man nannte mich Ernst. Ein Veteran der Arbeiterjugendbewegung erzählt sein Leben. 3. Aufl. Berlin. 1961, 294 – 295; Ders.: Man nannte mich Ernst. Erlebnisse und Episoden aus der Geschichte der Arbeiterjugendbewegung. 4. überarb. Aufl. Berlin 1978, 272 – 273.

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Wiesner amtierenden deutschen Bürgermeister und die Dramatik der permanenten deutsch-polnischen Kompetenzwechsel bis zur offiziellen Übergabe der Stadt an Polen am 5. Juli vollkommen unerwähnt.37 Wie Wiesner das Geschehen tatsächlich sah, lässt sich möglicherweise aus den handschriftlichen Aufzeichnungen zu seinen Memoiren rekonstruieren.38 In einem unveröffentlichten, durchaus mit den Erinnerungsberichten zu vergleichenden Manuskript allerdings »verschleiert[e]« er »wieder zeitliche Zusammenhänge« und »[spielte] seine Person in den Vordergrund«.39

Die Erinnerungsberichte aus dem Bezirk Schwerin Im Bezirk Schwerin blieb es nicht bei einer einmaligen Anweisung zur Erarbeitung von Erinnerungsberichten, sondern dieser Ball wurde unmittelbar weitergespielt. Entsprechend infrage kommende Genossen erhielten eine Einladung zu einer dreitägigen »Zusammenkunft« oder »Aussprache« im Parteiheim der SED-Bezirksleitung, die auf bestimmte, »mit der Novemberrevolution und der Gründung der Partei beginnen[de] und bis heute gehen[de]« Probleme und Fragen zielte. Die Notwendigkeit wurde den Veteranen wie folgt erklärt: »Entsprechend der großen Bedeutung der Geschichte der Partei, der Erforschung, der Vielfältigkeit und Kompliziertheit der Bedingungen, unter denen die Partei gegen Ausbeutung und Unterdrückung kämpfen mußte, ist es notwendig, systematischer und gründlicher mit der Erforschung der einzelnen Perioden des opfervollen Kampfes der Arbeiterbewegung gegen Imperialismus und Militarismus zu beginnen. (…) Um als Kommission zusätzliche Quellen für die Ausarbeitung der Geschichte der Partei und der Arbeiterbewegung erschließen zu können, ist die Hauptvoraussetzung, den reichen Schatz an Erfahrungen unserer Genossen Parteiveteranen kennenzulernen und die Erfassung von vorhandenen Akten, Urkunden, Briefe [sic!], Bildern, Zeitungen, Flugblättern und sonstigen dokumentarischen Materialien. (…) Wir möchten Dich bitten, Deine Erinnerungen wieder lebendig werden zu lassen, damit wir unserer Verantwortung vor der Partei im Kampf gegen die reaktionäre Ideologie des deutschen Imperialismus und Militarismus und in der Erziehung unserer Werktätigen zu bewußten sozialistisch-handelnden Menschen besser gerecht werden zu können.« Um eine adäquate Vorbereitung der Genossen Veteranen sicherzustellen, war dem 37 Bernd Aischmann: Mecklenburg-Vorpommern, die Stadt Stettin ausgenommen. Eine zeitgeschichtliche Betrachtung. Schwerin 2008, 46 – 64. 38 LHAS, 10.9-W/8 (Nachlass Erich Wiesner). 39 Aischmann: Mecklenburg-Vorpommern (Anm. 37), 52 Anm. 170 (Zitat) und Anm. 171. Bei besagtem Ms. handelt es sich um »11 Jahre danach – damals in Szczecin«. LHAS, 10.31 – 1 (KPD-Landesleitung Mecklenburg-Vorpommern) Nr. 49.

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Schreiben ein – leider nicht überlieferter – »Fragenkomplex« beigefügt und in der Schlussfassung kam mit einem Reflex auf die »Arbeiterbewegung im Bezirk« tatsächlich einmal die subnationale Bezugsebene ins Spiel.40 Insgesamt sind im SED-Bezirksparteiarchiv Schwerin von 401 Personen Erinnerungsberichte überliefert. Die Bestandsgruppe ist periodisch und sachthematisch klassifiziert, das heißt periodisch in die Zeiträume »1900 – 1917«, »1917 – 1945« sowie »1945 – 1989« und unterhalb dieser Zeitschnitte in jeweils bestimmte Sachbezüge.41 Die drei Perioden spiegeln sich recht ungleichgewichtig wider, zahlreiche Erinnerungsberichte reflektieren zwei oder gar alle drei Perioden respektive mehrere Sachbezüge (Tabelle). Periode 1900 – 1917

Gegenstand des Erinnerungsberichts

Anzahl 20

SPD Linke

9 6

Internationale Arbeiterbewegung

5 417

Oktoberrevolution Novemberrevolution

12 25

Massenkämpfe der Arbeiterklasse KPD

79 45

Organisationen unter KPD-Einfluss SPD

49 16

Andere Parteien Gewerkschaften

2 13

Antifaschistischer Widerstand Internationale Arbeiterbewegung

148 27

1917 – 1945

1945 – 1989 Organisation der Arbeiterklasse

514 89

Aufbau demokratischer Staatsorgane Zusammenarbeit mit der SMAD

59 68

Bodenreform Wirtschaftlicher Wiederaufbau

52 28

Schul- und Kulturreform DDR-Gründung

31 128

Aufbau des Sozialismus

59

40 LHAS, 10.34 – 3 (SED-BL Schwerin) Nr. 1338, fol. 7 – 8, fol. 10. 41 LHAS, 10.34 – 3, Abt. V (SED-BL Schwerin: Sammlungen, Erinnerungen, Nachlässe).

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Die Qualität dieser Klassifikation mag geteilte Ansichten erzeugen, das Problem liegt jedoch auf einer anderen Ebene. Von den 20 Erinnerungsberichten zum Zeitraum 1900 bis 1917 beziehen sich drei Fünftel auf Orte im Bezirk Schwerin, aber auch zwei Fünftel auf außermecklenburgische Orte. Während sich dieses Verhältnis bei den 16 Erinnerungsberichten aus dem Zeitraum 1917 bis 1945 mit SPD-Hintergrund pari-pari gestaltet, beziehen sich von den 49 Erinnerungsberichten über KPD-nahe Organisationen 22 auf außermecklenburgische und nur 17 auf mecklenburgische Orte42, drei Erinnerungsberichte sind sowohl/als auch einzuordnen, sieben lassen sich regional oder lokal nicht zuordnen.43 Hingegen bezieht sich von den 45 Erinnerungsberichten über die Arbeiterbewegung mit KPD-Hintergrund lediglich noch ein Drittel auf mecklenburgische Orte, ein weiteres Drittel auf außermecklenburgische, ein knappes weiteres Drittel ließ sich regional oder lokal nicht zuordnen. Noch problematischer sind die 13 Erinnerungsberichte zur Gewerkschaftsbewegung – gerade noch ein Drittel bezieht sich auf mecklenburgische Orte, hingegen zwei Drittel auf außermecklenburgische. Bei letzteren handelt es sich vor allem um solche im Ruhrgebiet zuzüglich Rheinland und Westfalen sowie in Pommern zuzüglich Danzig, des Öfteren auch um solche in Böhmen sowie um Hamburg und Berlin. Der mit der Bezirksreform aus der Provinz Brandenburg an den Bezirk Schwerin gekommene Kreis Perleberg spiegelt sich in allen vorerwähnten periodischen bzw. Sachbezügen lediglich ein Mal wieder,44 die anderen Arrondierungen gar nicht. Die Erklärung für die hohe Präsenz nichtmecklenburgischer Erinnerungen liegt nicht etwa darin, dass die Bezirkskommission außerhalb ihres Sprengels kampferfahrene Arbeiterveteranen suchte – nach 1945 dürften mehr oder weniger alle im Gebiet des Bezirks Schwerin tätig gewesen sein und genau das war in der Arbeitsrichtlinie 1959 auch beabsichtigt. Die Erklärung ist vielmehr darin zu suchen, dass das im Anschluss an die Kapitulation des Nationalsozialismus geschaffene Land Mecklenburg(-Vorpommern) mit einem AltbevölkerungsAnteil von nur 52,7 Prozent (1947) das Land der Flüchtlinge und Vertriebenen bzw. – wie es in der kommunistischen Diktion korrekt zu heißen hatte – der Umsiedler in der SBZ war.45 Vor allem wirft die räumliche Verteilung der Erin42 Bei den hier und nachfolgend als »mecklenburgische Orte« bezeichneten handelt es sich überwiegend um solche im 1952 gegründeten Bezirk Schwerin, vereinzelt jedoch auch um vormals zu Mecklenburg und ab 1952 zu den Bezirken Rostock oder Neubrandenburg gehörenden Orte wie zum Beispiel Schwaan oder Malchin. 43 Bei letzteren handelt es sich des Öfteren um die Überlieferung von Devotionalien wie Mitgliedsausweisen oder -karten, des Weiteren um nicht analysierte Lebensläufe. Jeweils drei Erinnerungsberichte reflektierten das Geschehen in mecklenburgischen Orten außerhalb des Bezirks Schwerin sowohl inner- als auch außerhalb Mecklenburgs. 44 LHAS, 10.34 – 3, Abt. V (SED-BL Schwerin: Sammlungen, Erinnerungen, Nachlässe) Nr. 706. 45 Michael Schwartz: Vertriebene und »Umsiedlerpolitik«. Integrationskonflikte in den deut-

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nerungen jedoch die Frage auf, ob die Erinnerungsberichte aus der angeblich örtlichen Arbeiterbewegung des Bezirks Schwerin überhaupt eine konstituierende Funktion für einen nicht nur aus Fassade bestehenden Gedächtnisraum übernehmen konnten. Jenseits aller Zahlen sind für eine Antwort wenigstens zwei weitere Aspekte zu berücksichtigen, nämlich die Traditionen der mecklenburgischen Arbeiterbewegung vor 1945 und die mecklenburgische Identität.

Die Traditionen der mecklenburgischen Arbeiterbewegung vor 1945 Unter Arbeiterbewegung wurde in der DDR in erster Linie die mehr oder weniger organisierte Industriearbeiterschaft verstanden, aber nicht unbedingt die für Mecklenburg viel eher relevante Landarbeiterschaft. Die ursprüngliche mecklenburgische Arbeiterbewegung wies aufgrund der geringen Industrialisierung einen geringen Organisationsgrad auf, die beiden außer beziehungsweise »neben Rostock wichtigsten Zentren der [!] mecklenburg-vorpommerschen Arbeiterbewegung, nämlich Lübeck und Stettin, [lagen] außerhalb der heutigen Landesgrenzen«. Nennenswerte Großindustrie siedelte sich erst im Zuge der nationalsozialistischen Rüstungspolitik an, »als sich traditionelle proletarische Milieus bereits aufzulösen begannen«.46 Die KPD trat während der Weimarer Republik in Mecklenburg-Schwerin als laute, gewalttätige, parlamentarisch destruktive, in sich zerstrittene Protestpartei in Erscheinung. Ihr bestes Wahlergebnis erzielte sie bei den Landtagswahlen 1924 mit 13,6 Prozent, ihr durchschnittlicher Stimmenanteil lag bei sechs bis sieben Prozent. Sie fand ihre Anhänger vor allem unter jungen, ungelernten Arbeitern und Arbeitslosen, wobei sich die Mitgliederzahl von 5.200 im Jahre 1922 auf 2.800 im Jahre 1932 fast halbierte.47 Die SPD, die sich nach dem Fall des Sozialistengesetzes im ständischen Mecklenburg-Schwerin eine gute Resonanz in den Kleinstädten, bei den Kleinbauern und insbesondere unter der Landarbeiterschaft erarbeitet hatte, startete mit einem Stimmenanteil von 47,9 Prozent bei den Landtagswahlen schen Nachkriegs-Gesellschaften und die Assimilationsstrategien in der SBZ/DDR 1945 – 1961 (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 61). München 2004, 53. Die Altbevölkerung Sachsen-Anhalts betrug 69,2 Prozent, Brandenburg und Thüringen folgten unmittelbar, die Sachsens zählte 79,8 Prozent. Der SBZ-Durchschnitt lag bei 71,8 Prozent. Ebd., 3 – 6 zu den Begrifflichkeiten. 46 Werner Müller : Einleitung. In: Ders./Fred Mrotzek/Johannes Köllner : Die Geschichte der SPD in Mecklenburg und Vorpommern. Mit einem Vorwort von Harald Ringstorff. Berlin 2002, 9 – 14, 10,13. 47 Bernd Kasten: Herren und Knechte. Gesellschaftlicher und politischer Wandel in Mecklenburg-Schwerin 1867 – 1945 (Quellen und Studien aus den Landesarchiven MecklenburgVorpommerns 11). Schwerin 2011, 374 – 380.

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1919 und mit 41.477 Mitgliedern außerordentlich gut in die Weimarer Republik. In der Folge verprellte sie mit ihrer Koalitionspolitik und ihren Prämissen zum Eigentum jedoch Teile ihrer Klientel und vor allem ihr Potenzial unter den Kleinbauern und Kleinbürgern. Ihre Stimmenanteile bei Wahlen und die Mitgliederzahlen halbierten sich bis 1924 und 1925 sukzessive, die einst erfolgreiche Wählerpartei konnte sich als Mitgliederpartei nicht zu politischen Höhenflügen emporschwingen. In der Opposition regenerierte sich die SPD, bildete von 1926 bis 1929 auf der Basis von gut 40 Prozent aller Wählerstimmen eine Minderheitsregierung, die Zahl der Parteigenossen stieg auf 25.000 im Jahr 1930 und ca. 31.500 im Jahr 1932. In der Mitgliedschaft und den Funktionären überaltert sowie von den aggressiven Nationalsozialisten bedroht und von den Gutsbesitzern angefeindet, erreichte die Wahlagitation der SPD die Landarbeiter Anfang der dreißiger Jahre kaum noch und die Partei verlor ihr Wählerpotenzial an die rechten und zum Teil auch linken Radikalen.48 Für ein Gelingen respektive Misslingen der Etablierung der Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung als Erinnerungsort mag als weiteres Moment in Rechnung zu stellen sein, dass die eher sozialdemokratisch orientierte mecklenburgische Arbeiterbewegung nach dem Zweiten Weltkrieg unter das Zepter der Kommunisten mit ihrer bekannt ambivalenten Haltung gegenüber der Sozialdemokratie geriet. Insofern ist möglicherweise ein doppelter »Blutzoll« in Rechnung zu stellen – der von der politisch organisierten Arbeiterschaft insgesamt an den Nationalsozialismus geleistete und der der sozialdemokratisch tradierten Arbeiterschaft bei der Vereinigung zur kommunistisch majorisierten SED. Hinzu kommt, dass es dem kommunistischen Flügel der Arbeiterbewegung wohl gelang, mit der Bodenreform einen alten Traum der eher sozialdemokratisch orientierten mecklenburgischen Landbevölkerung zu verwirklichen und sie – ebenso wie viele der auf dem platten Land gestrandeten Flüchtlinge und Vertriebenen – für sich zu gewinnen. Mit der bald darauf oktroyierten Kollektivierung der Landwirtschaft kehrte sich dieser Prozess jedoch wieder um.

48 Ebd., 220 – 233, 374, 380 – 387. Im Unterschied zu dieser Darstellung jenseits von Überzeugungs- oder Auftragsarbeiten bezeichnet Müller : Einleitung (Anm. 46), 9, die mecklenburgische SPD »über die Zeit der Weimarer Republik (…) als Wähler- und weniger als Mitgliederpartei.« Mitgliederzahl 1932 nach Marko Michels: Einheitszwang oder Einheitsdrang?! Der Vereinigungsprozeß von KPD und SPD zwischen 1945 und 1950 in Mecklenburg-Vorpommern (Fallstudie mit Anhang). Schwerin 1999, 53.

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»Mecklenburg« und die drei Nordbezirke der DDR 1960 und 1965 erschienen Buchpublikationen zur »Demokratische[n] Bodenreform in Mecklenburg«,49 1966 über den »Kapp-Putsch in Mecklenburg«,50 1968 zum »Revolutionären Jahr 1918 in Mecklenburg«,51 1970 über den »antifaschistische[n] Widerstandskampf unter Führung der KPD in Mecklenburg«,52 1981 eine Broschüre zur »Landesparteiorganisation Mecklenburg der SED«.53 Die Schweriner Bezirkskommission zur Erforschung der Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung publizierte ab 1978 in einer »Schriftenreihe zur Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung in Mecklenburg und im Bezirk Schwerin«,54 das Rostocker Kommissionpendant folgte 1981 entsprechend.55 In Schwerin und Rostock war der »Bezirk« offenbar nicht oder allenfalls bedingt zur Verdrängung des tradierten Identifikationsmoments »Mecklenburg« in der Lage. Möglicherweise war vielleicht vor dem Hintergrund einer gewissen (Weiter-)Entwicklung der DDR-Regionalgeschichtsforschung, die allerdings erst ab Ende der siebziger Jahre datiert wird,56 auch ein entsprechender Wille gar nicht (mehr) sonderlich ausgeprägt. Im Unterschied zu Schwerin und Rostock vollzog sich in dem aus historisch sehr disparat gefärbten Flicken zusammen49 Siegfried Stein: Die demokratische Bodenreform in Mecklenburg. Ein Schlag gegen den Imperialismus und Militarismus. Hrsg. BL Schwerin der SED. Schwerin 1960; Martin Polzin (Red.): 20 Jahre demokratische Bodenreform in Mecklenburg. Hrsg. im Auftrag des Landwirtschaftsrates des Bezirkes Rostock von der Arbeitsgemeinschaft Agrargeschichte am Historischen Institut der Universität Rostock. Rostock 1965. 50 Martin Polzin: Kapp-Putsch in Mecklenburg. Junkertum und Landproletariat in der revolutionären Krise nach dem 1. Weltkrieg (Veröffentlichungen des Staatsarchivs Schwerin 5). Rostock 1966. 51 Hermannfried Bley et al. (Bearb.): Das Revolutionäre Jahr 1918 in Mecklenburg. Novemberrevolution und Gründung der KPD in Dokumenten (Kleine Schriftenreihe des Staatsarchivs Schwerin 3). Schwerin 1968. Siehe auch Kurt Redmer : Streiflichter des Kampfes der KPD in Mecklenburg. Hrsg. zum 70. Jahrestag der Novemberrevolution 1918/19 in Deutschland und der Gründung der KPD von der BL Schwerin der SED, Abt. Agitation und Propaganda. Schwerin 1988. 52 Jahnke: Widerstandskampf (Anm. 32). 53 BK bei der BL der SED (Hrsg.): Durch das Volk! Mit dem Volk! Für das Volk! Forschungsbeiträge zur Geschichte der Landesparteiorganisation Mecklenburg der SED (Schriftenreihe zur Geschichte der Arbeiterbewegung in Mecklenburg und im Bezirk Schwerin 13). Schwerin 1981. 54 LHAS, 10.34 – 3, Abt. V (SED-BL Schwerin: Sammlungen, Erinnerungen, Nachlässe), Nr. 538 – 571. 55 Siehe beispielsweise Heinz Koch: Novemberrevolution und revolutionäre Nachkriegskrise in Mecklenburg-Schwerin 1917 – 1923 (Schriftenreihe zur Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung in Mecklenburg und im Bezirk Rostock 6). Rostock 1987. 56 Helga Schultz: Regionalgeschichte in der DDR. Nachdenken über Identität und Theorie. In: Heinz Mohnhaupt (Hrsg.): Rechtsgeschichte in den beiden deutschen Staaten (1988 – 1990). Beispiele, Parallelen, Positionen (Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte 53). Frankfurt/ Main 1991, 333 – 346, 335.

Erinnerungsort im Gedächtnisraum?

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geschneiderten Bezirk Neubrandenburg57 ein vergleichbarer Schritt allenfalls in Einzelfällen.58 Diese Disparität erforderte bisweilen einige Volten etwa durch Subsumierung der verschiedenen historischen Regionen unter »unsere Heimatgebiete«, die aber nicht überzeugend gelangen: In einer Darstellung zum »Echo des Roten Oktober in den Gebieten des heutigen Bezirks Neubrandenburg«, das heißt zu 60 Jahren deutsch-sowjetischer Freundschaft, fand sich bereits im Vorwort ein Verweis auf »den Kampf mecklenburgischer Kommunisten um diese Freundschaft«.59 Im Unterschied zu diesem Fauxpas war der Mecklenburg-Begriff im Heimatkundlichen Jahrbuch des Bezirkes Neubrandenburg, das seit 1966 in sieben Jahrgängen mit je durchschnittlich 100 Druckseiten erschien, nur in einer sehr überschaubaren Anzahl von Ausnahmen60 oder mit negativer Konnotation gelitten.61 Zumindest in den Beitragstiteln ohne Berücksichtigung der tatsächlichen Inhalte dominierte der »Bezirk Neubrandenburg«. Das stellte beispielsweise den Autor des Beitrags »Zur kapitalistischen Bauernbefreiung im Gebiet des heutigen Bezirkes Neubrandenburg« offenbar vor unüberwindliche Probleme, denn explizit klammerte er die in den ehemals preußischen Teilen des Bezirkes wirksamen Stein-Hardenbergschen-Reformen aus der Darstellung aus 57 Vereinfacht gesagt und ohne zu sehr ins Detail zu gehen, bestand der Bezirk Rostock aus einer ehemals vorpommerschen und einer ehemals mecklenburg-schwerinschen Hälfte, vervollständigt um den nördlichen Teil des Landes Ratzeburg. Der Bezirk Neubrandenburg setzte sich hingegen zu je etwa einem Viertel aus ehemaligen Gebieten der Freistaaten Mecklenburg-Schwerin und -Strelitz, der preußisch-brandenburgischen Uckermark und des preußischen Vorpommern südlich der Peene zusammen, letzteres bis 1815 schwedisch geprägt. 58 Siehe z. B. Klaus Schreiner et al.: Kommunistische Agrarpolitik in Mecklenburg 1945 – 1952. Die Agrarpolitik der Landesparteiorganisation Mecklenburg der KPD/SED (1945/46 bis 1952). Hrsg. BK bei der BL Neubrandenburg der SED und Bezirkskomitee Neubrandenburg der Historiker-Gesellschaft der DDR. Neubrandenburg 1980. 59 Klaus Schreiner : Echo des Roten Oktober. Bezirk Neubrandenburg. Hrsg. BK bei der BL Neubrandenburg der SED. Neubrandenburg 1977, 3 (Hervorhebung M.M.). Angemerkt sei, dass in der Darstellung auch Beispiele aus den anderen historischen Regionen des Bezirks Berücksichtigung fanden. 60 Gerhard Klafs: Fragen der Reliefmelioration durch Beseitigung von Ackerhohlformen in Mecklenburg. In: Heimatkundliches Jahrbuch des Bezirkes Neubrandenburg 2 (1967), 145 – 154; Arnold Hückstädt: Ernst Boll (1817 – 1868) – Patriot und Chronist Mecklenburgs. In: Ebd., 60 – 80 und ebd. 4 (1971), 19 – 28; Heinz Bork: Paläontologische Funde aus der mecklenburgischen Grundmoränenlandschaft. In: Ebd., 89 – 97. 61 Martin Polzin: Mecklenburgische Großgrundbesitzer als aktive Militaristen während der Zeit der Weimarer Republik und des Faschismus. In: Heimatkundliches Jahrbuch des Bezirkes Neubrandenburg 1 (1966), 184 – 193; Ders.: Karl Marx und die mecklenburgischen Tagelöhner 1848/49. In: Ebd. 2 (1967), 7 – 22; Annalise Wagner : Zur Geschichte der Landständischen Verfassung in Mecklenburg. In: Ebd., 7 (1975/76), 43 – 50. Der Titel des zweitgenannten Beitrags täuscht darüber hinweg, dass der Inhalt vornehmlich von der Darstellung der unsozialen Politik der mecklenburgischen »Junker« gegenüber der Landbevölkerung bestimmt wurde.

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und konzentrierte sich auf die Verhältnisse in beiden Mecklenburg.62 Während sich das Neubrandenburger Mosaik in der Nachfolge des Jahrbuchs ähnlich schwer tat, bahnt sich mittlerweile ausgerechnet hier im ursprünglich mecklenburg-strelitzer Teil des ehemaligen Bezirks Neubrandenburg eine starke und in der Regel undifferenzierte Re-Identifikation einen Weg. Der bis zur Kreisgebietsreform im September 2011 existente Landkreis Mecklenburg-Strelitz suggerierte mit »historisch zumindest fragwürdige[r] Namensgleichheit« eine seit dem Ende des gleichnamigen Freistaats 1934 nicht mehr gegebene territoriale Kontinuität und versuchte damit, Identität herzustellen und Legitimation abzuleiten:63 »Revangistische [sic!] Bestrebungen um die Wiederbelebung und Rekonstruktion bereits vor vielen Jahrzehnten untergegangener Strukturen sind wenig dazu angetan, zukunftsweisende Entwicklungen (…) in Gang zu bringen. (…) Vielleicht wird es über kurz oder lang gelingen, in M.-Strelitz nun doch wieder die konstitutionelle Monarchie einzuführen; den alten Namen hat das Land ja schon und das Strelitzer Herzogshaus hat – zumindest nach Meinung einiger Autoren – ohnehin nie rechtswirksam abgedankt.«64 Im Unterschied zu den Neubrandenburger Periodika sollten sich die seit 1981 erscheinenden, mit »Beiträge zur Heimatgeschichte des Bezirkes Schwerin« untertitelten Schweriner Blätter von Anfang an mit »einem möglichst breiten Spektrum von Themen zur politischen und sozialen Geschichte (…) des ehemaligen Landes Mecklenburg und des heutigen Bezirkes Schwerin befassen«.65 Eben diesen doppelten Anspruch spiegeln die Beiträge der neun erschienenen Jahrgänge tatsächlich wider und gelegentlich scheint es sogar, als würden »Mecklenburg« und »Bezirk Schwerin« synonym gebraucht: »Könnte Wilhelm Pieck im Jubiläumsjahr noch einmal eine Rundreise durch Mecklenburg, durch den Bezirk Schwerin machen, wie glücklich wäre er über die großen Erfolge beim Aufbau der sozialistischen Gesellschaft.«66

62 Georg Moll: Zur kapitalistische Bauernbefreiung im Gebiet des heutigen Bezirkes Neubrandenburg. In: Heimatkundliches Jahrbuch des Bezirkes Neubrandenburg 1 (1966), 174 – 183. 63 Peter Starsy : Teile oder herrsche … Vor 300 Jahren wurde der »Hamburger Erbvergleich« unterzeichnet. In: Stier und Greif. Blätter zur Kultur- und Landesgeschichte in MecklenburgVorpommern 10 (2000), 29 – 41, 29. 64 Peter Starsy : Zwischen Geschichtsbewußtsein und Heimattümelei. Auf den Spuren historischer Interessiertheit in Mecklenburg-Strelitz, Tl. 3. In: Neubrandenburger Mosaik 21 (1997), 33 – 57, 56. 65 Vorwort. In: Schweriner Blätter 1 (1981), 5. 66 Ingeborg Blank: Wilhelm Pieck in Mecklenburg. In: Schweriner Blätter 4 (1984), 3 – 8, 5 (Hervorhebung M.M.).

Erinnerungsort im Gedächtnisraum?

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Fazit In den ersten drei Jahren ihres Bestehens kam die Arbeit der Kommission zur Erforschung der Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung des Bezirkes Schwerin nicht recht in Gang. Das änderte sich zwar nach einer personellen Umbesetzung und Durchführung von Zeitzeugeninterviews mit Arbeiterveteranen. Allerdings verfügten weder die Arbeiterbewegung (und erst recht nicht die kommunistischer Prägung) noch der Bezirk Schwerin als subnationale Administrationseinheit über die Potenziale für einen tragfähigen Erinnerungsort oder für einen mehrheitsfähigen Gedächtnisraum. Die »Arbeiterbewegung« war viel zu sehr auf Entwicklungen nach 1945 und damit auf nationale Kontexte fixiert, während das subnationale Identifikationsmoment »Mecklenburg« trotz hoher Zuwanderung offenbar authentischer als der Bezirk wirkte. Darüber hinaus blieb es auch der Bevölkerung des Bezirks Schwerin mit ihrer Bezirksgrenzen übergreifenden Mecklenburg-Identifikation nicht verborgen, dass die selbsternannten Avantgardisten und eigentlichen Epigonen der kommunistischen Arbeiterbewegung die DDR sukzessive in den Ruin und damit ihrem Ende entgegenführten. Die sogenannten drei Nordbezirke Rostock, Schwerin und Neubrandenburg vollzogen 1989 die Bewegung zur »Wende« zwar langsamer, aber dafür waren eher eine geringe Bevölkerungsdichte, eine ländlich-kleinstädtisch dominierte Siedlungsstruktur und vielleicht auch die Mentalität, aber keineswegs ein »roter Norden« ursächlich.67 Auch hier öffneten sich zugestellt oder gar schon abgerissen geglaubte Gedächtnisräume, als fast fünfundvierzig Jahre außer Gebrauch gewesene mecklenburgische respektive pommersche Fahnen geschwenkt wurden und schließlich der Kreis Perleberg beziehungsweise das auf dem östlichen Elbufer gelegene Amt Neuhaus aus dem Bezirk Schwerin von 1990 bis 1993 in ihre jeweils angestammten Gedächtnisräume, nach Brandenburg und Niedersachsen, zurückkehrten.

67 Kai Langer: Vorgeschichte und Geschichte der »Wende« in den drei Nordbezirken der DDR. In: Landtag Mecklenburg-Vorpommern (Hrsg.): Leben in der DDR, Leben nach 1989 – Aufarbeitung und Versöhnung. Zur Arbeit der Enquete-Kommission. Bd. IX. Schwerin 1997, 9 – 196, 146; Ders.: »Ihr sollt wissen, daß der Norden nicht schläft …« Zur Geschichte der »Wende« in den drei Nordbezirken der DDR (Quellen und Studien aus den Landesarchiven Mecklenburg-Vorpommerns 3). Bremen 1999; Michael Heinz: »Der Kampf um die Hirne und Herzen der Menschen tobt …« Friedliche Revolution und demokratischer Übergang in den Kreisen Bad Doberan und Rostock-Land. Bad Doberan 2009.

Thomas Küster

Erinnerung oder Identität? Deutungen der Varusschlacht im Osnabrücker Land und in Westfalen-Lippe

Erinnerung ist kein Thema, das erst in der Neuzeit aufgekommen wäre. Schon die mittelalterliche Memoria, die ritualisiert und im Verbund begangen wurde und die Erinnerung an Verstorbene konservierte, hatte die Funktion, Gemeinschaft zu stiften (zum Beispiel in klösterlichen Bruderschaften oder innerhalb städtischer Eliten); auf diese Weise vergrößerten die am Totengedenken Beteiligten ihre soziale Basis, zugleich wurden gruppenspezifische, institutionalisierte Sinnwelten, Selbstbilder und Deutungsmuster verinnerlicht.1 In der Massenkultur der Moderne ist diese Form der gemeinschaftlichen Sinngebung wesentlich schwieriger herzustellen; gleichwohl sind Erinnerungspraktiken dafür nach wie vor ein probates Mittel. Die Theorien von Maurice Halbwachs (1877 – 1945), Pierre Nora (*1931), Jan Assmann (*1938) und anderen haben das am Beispiel der Nationen für das 19. Jahrhundert aufzuzeigen versucht.2 Dank ihrer Arbeiten können wir heute verschiedene Dimensionen und Kategorien des Erinnerns unterscheiden und diese in einen Zusammenhang bringen; solche Kategorien sind zum Beispiel das individuell-subjektive Erinnern (das häufig durch Milieugrenzen geprägt ist), die Erinnerungsorte, also jene Kristallisations- oder Anknüpfungspunkte, aus denen sich das kollektive Gedächtnis zusammensetzt, das öffentliche und das generationenübergreifende kulturelle Gedächtnis, schließlich eine fast überall anzutreffende Vergangenheits- oder Geschichtspolitik, die das kollektive Erinnern zu steuern versucht.3

1 Clemens Wischermann: Wettstreit um Gedächtnis und Erinnerung in der Region. In: Westfälische Forschungen 51 (2001), 1 – 18, 1; Gerd Althoff: Zur Verschriftlichung von Memoria in Krisenzeiten. In: Dieter Geuenich/Otto Gerhard Oexle (Hrsg.): Memoria in der Gesellschaft des Mittelalters. Göttingen 1994, 56 – 73, 58 f. 2 Vgl. Maurice Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis. Frankfurt 1985; Pierre Nora: Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Frankfurt/Main 1998; Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1992. 3 Überblick bei Rüdiger Pohl et al.: Was ist Gedächtnis/Erinnerung? In: Christian Gudehus/ Ariane Eichenberg/Harald Welzer (Hrsg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart-Weimar 2010, 75 – 125, 85 – 125; Christoph Cornelißen: Erinnerungs-

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1.

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Was bedeutet Erinnerung?

Angesichts des starken Selbstbezuges, den Erinnerung stets besitzt, liegt es auf der Hand, dass öffentlich praktizierte Erinnerung an Vergangenes (durch Bauten, Museen, Feste und Rituale oder auch so etwas Profanes wie Briefmarkenmotive) immer auch eine Gegenwartsorientierung und -perspektive beinhaltet:4 die Annahme einer gemeinsamen Vergangenheit wirkt dabei als aktuelle »Identitätsklammer«.5 Diese Erinnerung kann sich auf einer nationalen genauso wie auf einer regionalen oder lokalen Ebene manifestieren, ja sogar international oder global verankert sein: Man denke etwa an das Beispiel des Holocaustgedenktages am 27. Januar.6 Die Etablierung eines Erinnerungsortes ist in erster Linie abhängig von den beteiligten sozialen Gruppen und Milieus sowie von deren Deutungsmacht und gesellschaftlichen Stellung. Denn diese Gruppen sind es, die ein besonderes Interesse daran haben, ihren sozialen Ort, ihre Existenz und ihr Tun historisch und bis in die Gegenwart hinein zu legitimieren. Und man kann seinen Status oder eine beliebige andere Form sozialer Übereinkunft bekanntlich rechtlich, religiös, moralisch, durch Macht und Stärke, aber eben auch durch den Verweis auf historische Kontinuitäten begründen. Am Beispiel der Varusschlacht7 lässt sich zeigen, dass Erinnerung und offizielles Gedächtnis überaus schwankend sein können und starken Konjunkturen unterliegen. Der Konflikt zwischen Römern und Germanen im Jahre 9 nach Christus war jahrhundertelang regelrecht vergessen. Es bedurfte einer inhaltlichen Aktualisierung zwischen Vergangenheit und Gegenwart sowie der Deutung und Inanspruchnahme des historischen Stoffes im Sinne der gesellschaftlichen Eliten, um ihn – häufig in emotional aufgeladener Weise ¢ zu popularisieren.8

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kulturen. Version 1.0. http://docupedia.de/zg/Erinnerungskulturen, 1 f. (11. 02. 2010); Wischermann: Wettstreit (Anm. 1), 2, 17 f. Cornelißen: Erinnerungskulturen (Anm. 3), 1. Wischermann: Wettstreit (Anm. 1), 3, 6. Harald Schmid: Europäisierung des Auschwitzgedenkens? Zum Aufstieg des 27. Januar 1945 als »Holocaustgedenktag« in Europa. In: Jan Eckel/Claudia Moisel (Hrsg.): Universalisierung des Holocaust? Erinnerungskultur und Geschichtspolitik in internationaler Perspektive, Göttingen 2008, 174 – 202; Cornelißen: Erinnerungskulturen (Anm. 3), 3; zur regionalen Perspektive: Harald Schmid: Regionale Erinnerungskulturen – ein einführender Problemaufriss. In: Ders.: Erinnerungskultur und Regionalgeschichte. München 2009, 7 – 22, 9. Die neuere Bezeichnung Varusschlacht greift eine Formulierung verschiedener römischer Schriftsteller auf; bis Mitte des 20. Jahrhunderts wurde sie überwiegend als Hermannschlacht bezeichnet, danach in einer neutralen Formulierung zumeist einfach als Schlacht im Teutoburger Wald. Etienne FranÅois/Hagen Schulze: Einleitung. In: Dies. (Hrsg.): Deutsche Erinnerungsorte. Eine Auswahl. München 2005, 7 – 12, 7. Wie kollektive Erinnerung und die Produktion von Mythen in einer Massenkultur funktionieren, zeigt Heidi Hein-Kircher : Zur Definition, Vermittlung und Funktion von politischen Mythen. In: Rudolf Aßkamp et al.: 2000 Jahre Varusschlacht. Mythos. Stuttgart 2009, 149 – 154, 152 f.

Erinnerung oder Identität?

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Und nicht nur die politischen und kulturellen Akteure, auch die Rezipienten waren Teil dieser Aktualisierung. Am Beispiel der Varusschlacht lässt sich aber auch veranschaulichen, dass der kommunikative Zusammenhang zwischen Erinnerung, Gedächtnisritualen und Kollektivgefühlen aufgrund inzwischen eingetretener zeitlicher und ideologischer beziehungsweise ideologiekritischer Zäsuren heute weitgehend aufgehoben ist. Der zweitausend Jahre zurückliegende römisch-germanische Konflikt ist inzwischen »von der Geschichte so sehr überholt«, bewegt sich »so sehr im Dunkel der Geschichte«, dass er sich nicht erneut aktualisieren ließe.9 Aber warum war das vor 150 Jahren scheinbar noch problemlos möglich? Um diese Frage beantworten zu können, möchte ich im Folgenden eine Unterscheidung vornehmen, die auf die ursprüngliche – etwas in Vergessenheit geratene ¢ Verwendung von zwei zentralen Begriffen zurück greift: Wenn wir die heutige Form der Erinnerung an die Varusschlacht mit der des 19. Jahrhunderts vergleichen, scheint es meines Erachtens sinnvoll, stärker zwischen »Erinnerung« auf der einen Seite und »Identität« (häufig in Form einer »regionalen Identität«) auf der anderen Seite zu unterscheiden. Die eine, Erinnerung, versucht in erster Linie, ein gemeinschaftliches Bewusstsein oder einen gesellschaftlichen Konsens zu erzeugen (zumeist in ritualisierter Form), die andere, Identität, repräsentiert eher ein individuelles Bedürfnis nach zeitlicher und räumlicher Orientierung (zumeist ein kognitiver Vorgang). Die Begriffe »Erinnerung« und »Gedächtnis« zielen auf die Gruppe, der Begriff »Identitätsbildung« zielt auf das Individuum – und letzterer gewinnt im Kontext der Kulturgeschichte seit einigen Jahren zunehmend an Bedeutung. Nationale Erinnerung und nationale Identität standen und stehen zwar häufig im Mittelpunkt des Interesses – es lässt sich aber nicht übersehen, dass auch eine regionale, meist sogar lokale Komponente immer Bestandteil dieser Erinnerung war und ist:10 Die Erstürmung der Bastille ist nicht nur ein europäisches oder gesamtfranzösisches, sondern auch ein Pariser Geschichtsereignis. Das Hambacher Fest ist ein fester Erinnerungsort gerade auch der pfälzischen Geschichte. Die Varusschlacht markiert für das Deutsche Historische Museum in Berlin den Beginn »deutscher Geschichte« (eigentlich eine nicht zulässige Gleichsetzung von Germanen und Deutschen);11 dieses Ereignis ist inzwischen aber auch für 9 Thomas Vogtherr : Vortrag bei der Vorstellung der Sonderbriefmarke 2000 Jahre Varusschlacht, 4. 6. 2009. http://thomasvogtherr.de/app/download/5784109339/Kalkriese++Varus-Briefmarke.pdf (01. 06. 2012), 6. 10 Schmid: Regionale Erinnerungskulturen (Anm. 6), 9. 11 Rainer Wiegels: ›Varusschlacht‹ und ›Hermann‹-Mythos – Historie und Historisierung eines römisch-germanischen Kampfes im Gedächtnis der Zeiten. In: Elke Stein-Hölkeskamp/KarlJoachim Hölkeskamp (Hrsg.): Erinnerungsorte der Antike. Die römische Welt. München 2006, 503 – 525, 513.

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Thomas Küster

das Osnabrücker Land oder den Landesteil Lippe ein zentraler historischer Bezugspunkt, es repräsentiert sozusagen den geschichtlichen »Urknall« dieser Regionen. Periphere Regionen wie die beiden genannten profitieren seltener von nationalen Narrativen als Metropolen und Hauptstädte, in denen sich Wirkungsmächtiges häufiger ereignet als in den Randzonen. Umso heftiger waren Lippe im 19. Jahrhundert und das Osnabrücker Land im 20. Jahrhundert daran interessiert, neue Erinnerungsorte in ihrem Umfeld zu generieren beziehungsweise zu fördern. Im 19. Jahrhundert waren es vor allem die in bürgerlichen Vereinen organisierten politischen und kulturellen Eliten, die Zugang zu gedächtnisrelevanten Medien besaßen (Museen, Publikationen, öffentliche Feiern), damit die kollektiven Erinnerungen vieler sozialer Gruppen prägten und so zur Verbreitung tatsächlicher oder vermeintlicher Traditionen beitrugen. Ihre Bemühungen zielten darauf ab, in Zeiten einer zunehmend milieubezogenen Alltagskultur Gemeinschaftsgefühle und Selbstvergewisserung zu vermitteln und dies mit einem affirmativen Image zu verbinden. Meist ging es darum, Unterschiede, Dissonanzen, kurz: Heterogenität im Blick auf die eigene Gruppe abzubauen. Eine Rahmenerzählung und ein einleuchtender Gegenwartsbezug waren dafür erforderlich.12 Das nationale Narrativ (mit dem zentralen Begriff der »freien Nation«) benötigte aber auch Veranschaulichung, um erinnerungsprägend wirken zu können, zum Beispiel im Fall der Varusschlacht durch die Suche nach den lange verschollenen Tacitus-Manuskripten oder identifizierbaren Schlachtfeldern, durch Denkmäler oder Museen, die das zu Erinnernde plastisch werden ließen.13 Der Rückgriff auf die Vergangenheit und die Kanonisierung von Ereignissen oder zentralen Handlungsfiguren waren und sind gleichermaßen Mittel und Voraussetzungen erfolgreicher Erinnerungsarbeit. Auf diese Weise haben sich im 19. Jahrhundert überall »nationalistische Vergangenheitskulte« entwickelt – nicht nur in Deutschland (mit dem Hermannmythos, dem übrigens auch in Dänemark gehuldigt wurde),14 sondern in ganz Europa, wo man auf ähnliche antike Widerstandsmythen trifft: in Frankreich auf Vercingetorix (um 82 – 46 v. Chr.) als republikanisches Idol, in den Niederlanden auf den Bataverkult, in Belgien auf den Gründungsmythos um den Keltenanführer Ambiorix (um 50 v. Chr.). Gedenkkultur, Vergangenheits- und Geschichtspolitik greifen diese Kulte und Mythen auf,15 weil Geschichte neben der Religion und dem Recht als 12 FranÅois/Schulze: Einleitung (Anm. 8), 7. 13 Thomas Nipperdey : Zum Jubiläum des Hermannsdenkmals. In: Günther Engelbert (Hrsg.): Ein Jahrhundert Hermannsdenkmal. Detmold 1975, 11 – 31, 26 f. 14 Tillmann Bendikowski: Der Tag, an dem Deutschland entstand. Die Geschichte der Varusschlacht. München 2008, 144. 15 Peter Nitschke: Nationales Symbol und politische Referenz: Versuch einer Typologie des

Erinnerung oder Identität?

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eine der bevorzugten Legitimationsquellen dient und das gemeinschaftliche öffentliche Gedenken eines der am besten geeigneten sozialen Vergewisserungsrituale darstellt. Historische Mythen können als Sinngebilde eigener Art wie ein Religionsersatz funktionieren.16 Gerade normativ-konsensuell verstandene Erinnerungen bedürfen dieser sich wiederholenden Rituale und Vergegenwärtigungen. Erinnerung ist also geeignet, Gemeinschaftsgefühle und individuelle Orientierung zu erzeugen und sie auch zusammenzuführen – mit allen manipulativen Begleiterscheinungen, die sich daraus ergeben können. Formen und Inhalte der kollektiven Erinnerung waren und sind immer abhängig von der aktuellen politischen Kultur und der jeweiligen Ausrichtung der Eliten. Das gilt für nationale Erinnerungen genauso wie für regionale. Die Varusschlacht wurde im 19. Jahrhundert zunächst als nationales Großereignis erinnert und überdeckte dabei denkbare regionale Zugänge. Das Regionale konnte das Nationale aber in den Hintergrund drängen, als es aus Sicht der Landespolitik und der lippischen Heimatbewegung angesichts der Reichsreformpläne in den 1920er-Jahren notwendig erschien, den Bestand der Region Lippe historisch zu unterfüttern.17 In jüngster Zeit wird »Hermann« dagegen in der Tourismuswerbung oder der Werbung für regionale Produkte als Lipper oder Niedersachse präsentiert.18 Entscheidend war und ist immer der aktuelle kommunikative Kontext; und im 19. und frühen 20. Jahrhundert handelte es sich oft um einen politischen Kontext.

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Was bedeutet »regionale Identität«?

Identitätsstiftung wird häufig mit dem Vorgang der Erinnerung verbunden, ist aber nicht mit diesem synonym. Ich möchte das am Beispiel der »regionalen Identität« näher ausführen. Dieser Begriff wird ja durchaus unterschiedlich verstanden, was in erster Linie darauf zurückzuführen ist, dass sich verschiedene kulturwissenschaftliche Disziplinen mit regionaler Identität beschäftigt haben: unter anderem die Soziologie, die Geografie, die Volkskunde, die Sprachwissenschaft, die Landesgeschichte. deutschen Nationaldenkmals zwischen den politischen Kulturen Europas. In: Stefanie LuxAlthoff (Bearb.): 125 Jahre Hermannsdenkmal. Nationaldenkmale im historischen und politischen Kontext. Lemgo 2001, 133 – 152, 142; Hein-Kircher : Politische Mythen (Anm. 8), 149. 16 Ebd. 17 Dirk Mellies: Politische Feiern am Hermannsdenkmal nach 1875. In: Aßkamp et al.: Varusschlacht (Anm. 8), 263 – 272, 266 f., 272. 18 »Schon Hermann schlug im Wesertal die Römer mit Salzgitterstahl.« Zitiert nach Werner M. Doy¦: Arminius. In: Etienne FranÅois/Hagen Schulze (Hrsg.): Deutsche Erinnerungsorte. Bd. 3. München 2002, 587 – 602, 601.

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Obwohl Identitätsforschung also ein seit vielen Jahren etabliertes kulturwissenschaftliches Arbeitsgebiet ist,19 hat der aus der amerikanischen Soziologie übernommene Terminus der regionalen Identität in Deutschland erst in den 1980er-Jahren stärkere Beachtung gefunden: In der Geografie – um ein Beispiel zu nennen ¢ wurde regionale Identität lange Zeit überwiegend mit »Raumbewusstsein«, das heißt mit der kognitiven Erfassung einer physikalischen Landschaft oder dem Wissen um die funktionalen Eigenschaften einer bestimmten Region gleichgesetzt. Mitte der achtziger Jahre entzündete sich an der »Leitvokabel ›Regionalbewusstsein‹« eine erste, mit großer Leidenschaft geführte Debatte in der (deutschen) Geografie, die geradezu zu einer »hermeneutisch-qualitativen Wende« innerhalb des Faches geführt hat.20 Zur Untermauerung dieses neuen Ansatzes definierten Hans Heinrich Blotevogel (*1943), Günter Heinritz (*1940) und Herbert Popp (*1947) den Raum nicht nur anhand physikalisch-materieller Kategorien, sondern auch in Relation zu den sozialen Systemen und individuellen Lebenswelten; außerdem plädierten sie für die Einbeziehung einer emotionalen Perspektive, um mentale Phänomene der Raumwahrnehmung erklären zu können. Regionalbewusstsein wurde von ihnen mit anderen »Einstellungen« (attitudes) verglichen und nach Intensitätsstufen differenziert:21 Sie unterschieden 1. die Wahrnehmung (das heißt eine kognitive Dimension), 2. die Verbundenheit (also eine affektive Dimension) und 3. die Handlungsorientierung (eine konative Dimension, »conatio« = Bestrebtsein).22 Explizit bewerteten sie »räumliche Codes« - worunter sie Landschaftsbilder, Sprache, Folklore und andere regionale Attribute verstanden - als »Symbolträger 19 Jürgen Straub: Identität. In: Friedrich Jaeger/Burkhard Liebsch (Hrsg.): Handbuch der Kulturwissenschaften. Bd. 1: Grundlagen und Schlüsselbegriffe. Stuttgart-Weimar 2004, 277 – 303, 290 – 300. 20 Hans Heinrich Blotevogel/Günter Heinritz/Herbert Popp: »Regionalbewußtsein«. Zum Stand der Diskussion um einen Stein des Anstoßes. In: Geographische Zeitschrift 77 (1989), 65 – 88, 67; Hans Heinrich Blotevogel: Geographische Erzählungen zwischen Moderne und Postmoderne. In: Ders./Jürgen Oßenbrügge/Gerald Wood (Hrsg.): Lokal verankert ¢ weltweit vernetzt. 52. Deutscher Geographentag Hamburg 2.–9. Oktober 1999. Tagungsbericht und wissenschaftliche Abhandlungen. Stuttgart 2000, 472; vgl. auch die rückschauende Einordnung dieser Kontroverse bei Peter Weichhart: Raumbezogene Identität. Bausteine zu einer Theorie räumlich-sozialer Kognition und Identifikation. Stuttgart 1990, 5 ff.; Bernd Schönemann: Die Region als Konstrukt. Historiographiegeschichtliche Befunde und geschichtsdidaktische Reflexionen. In: Blätter für deutsche Landesgeschichte 135 (1999), 153 – 187, 153. 21 Zum Konzept der »Einstellungen«, das die Bereitschaft von Individuen untersucht, »ein Symbol, ein Objekt oder einen Aspekt seiner Umwelt positiv oder negativ zu bewerten«, und deren Variation durch Erfahrungen in unterschiedlichen sozialen Kontexten erfasst, vgl. Robyn M. Dawes: Grundlagen der Einstellungsmessung. Weinheim-Basel 1977, 44 ff. 22 Hans Heinrich Blotevogel/Günter Heinritz/Herbert Popp: Regionalbewußtsein. Bemerkungen zum Leitbegriff einer Tagung. In: Berichte zur deutschen Landeskunde 60 (1986), 110 ff.

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Erinnerung oder Identität?

für gemeinsame Werte«.23 Kritiker lehnten dieses Konzept als romantische Ideologie und Erneuerung einer »totgeglaubten Landschafts- und Länderkunde« ab. Auf den Punkt gebracht lautete der Vorwurf: Die geografische Erforschung des Regionalbewusstseins trage dazu bei, dass die Region »aus der physischen Welt in eine mentale« abrutsche.24 Intensitätsstufen von Identifikation und Identität (Blotevogel u. a.) Wahrnehmung

kognitive Dimension

Verbundenheit

affektive Dimension

Handlungsorientierung

konative Dimension

Der Salzburger Geograph Peter Weichhart (*1947) unternahm daraufhin den Versuch, die theoretischen Grundlagen für die Beschreibung »raumbezogener Identität« zu präzisieren und weiterzuentwickeln - bis heute der einzige umfassende Versuch dieser Art. Den Ausgangspunkt für Weichharts Überlegungen bildete zunächst die Mehrdeutigkeit des Begriffs regionale Identität. In Anlehnung an Gregory P. Stone (1921 – 1981) und Carl Friedrich Graumann (1923 – 2007) unterschied Weichhart zunächst drei Varianten von »Identifikation«, nämlich das aktive Klassifizieren der sozialen Umwelt (ich identifiziere etwas/ einen Gegenstand oder Inhalt), das passive Klassifiziert-Werden (ich werde als jemand oder mit etwas identifiziert) und das Entstehen eines Wir-Gefühls oder Gruppenbewusstseins (ich identifiziere mich mit etwas). Die von Weichhart als Varianten I, II und III bezeichneten modes of identification repräsentieren also einerseits Wahrnehmungen und kognitive Zuordnungen, andererseits die Ausbildung eines Selbstkonzeptes, das auf wie auch immer gestaltete Formen und Chancen sozialer Bindung abzielt.25 23 Blotevogel/Heinritz/Popp: »Regionalbewußtsein« (Anm. 20), 81. 24 Gerhard Hard: Das Regionalbewußtsein im Spiegel der regionalistischen Utopie. In: Informationen zur Raumentwicklung, Heft 7/8 (1987), 431; Benno Werlen: Regionale oder kulturelle Identität? Eine Problemskizze. In: Berichte zur deutschen Landeskunde 66 (1992), 10 f., 18 ff.; Gerhard Bahrenberg: Unsinn und Sinn des Regionalismus in der Geographie. In: Geographische Zeitschrift 75 (1987), 149 ff.; Wolfgang Aschauer : Zum Nutzen von »Ethnizität« und »Regional-« oder »Heimatbewußtsein« als Erklärungskategorien geographischer Theoriebildung. Ein kritischer Beitrag zur laufenden Diskussion über Heimat und Regionalbewußtsein in den Sozialwissenschaften. Wien 1990, 19, 24. 25 Weichhart, Raumbezogene Identität (Anm. 20), 16 ff.; Gregory P. Stone: Appearance and the Self. In: Arnold M. Rose (Ed.): Human Behavior and Social Processes. An Interactionist Approach. London 1962 (Reprint 1972), 90; Carl F. Graumann: On multiple identities. In:

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Modes of Identification (Weichhart) I: aktives Klassifizieren Identifizieren II: passives Klassifiziert-Werden III: Entstehen eines Wir-Gefühls

kollektive Identität

Die Leistung Weichharts bestand vor allem darin, eine zusammenfassende Analyse des Vorgangs der Identitätsbildung oder Identitätszuschreibung beigesteuert und einige gesellschaftliche Rahmenbedingungen für das Entstehen regionaler Identitäten herausgearbeitet zu haben. Weiterführend waren vor allem seine begrifflich-definitorischen Differenzierungen: Auf der einen Seite gibt es die Merkmale und tatsächlichen oder vermeintlichen Charakteristika ¢ man könnte sagen: das Profil ¢ einer Region; diese Merkmale können konstruiert, stereotypisiert oder einfach individuell als solche wahrgenommen werden. Auf der anderen Seite existiert bei vielen Menschen eine Art räumlichsoziale Selbstzuschreibung (nämlich eine lokale oder regionale Identität), und diese lässt sich nur unter großen methodischen Schwierigkeiten abbilden, da es sich um einen kognitiv-emotionalen Vorgang handelt. Auch die Versuche der Politikwissenschaft, das Explanandum der regionalen Identität zu beschreiben oder gar zu definieren, gehen in die Richtung, Identitätsstiftung und Identitätsbildung als kulturell vermittelten gesellschaftlichen Prozess zu begreifen. Der Politikwissenschaftler Karl Rohe (1934 – 2005) unterscheidet zum Beispiel in seinem Erklärungsmodell die räumlich begrenzten Lebenswelten mit ihrer gewachsenen, regionalen Soziokultur von einer mehr oder weniger stark ausgeprägten Deutungskultur, welche die eigene Regionalität thematisiert und pädagogisiert. Als kulturelle Konstanten und Bestandteile der Soziokultur bezeichnet er : historische Gemeinsamkeiten (ehemalige Grenzen, Konfessionen, politische Geschichte, Erinnerung), administrative und kulturelle Übereinstimmungen (heutige Grenzen, Institutionen, Sprache, Alltagskultur) sowie wirtschaftlich-produktive Zusammenhänge (Gewerbetraditionen, Arbeitsverhältnisse, Konsumverhalten). Beide Faktoren - die soziokulturellen International Social Science Journal 35 (1983), 309 ff. Mesmer differenziert den Terminus »Identität« ganz ähnlich in Identifizierbarkeit (= Varianten I und II) und Bewusstsein (= Variante III); Beatrix Mesmer : Nationale Identität ¢ einige methodische Bemerkungen. In: FranÅois de Capitani/Georg Germann (Hrsg.): Auf dem Weg zu einer schweizerischen Identität 1848 – 1914. Probleme ¢ Errungenschaften – Misserfolge. Freiburg/Schweiz 1987, 16.

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Konstanten des Alltäglichen (»Basis«) wie auch die durch Symbole oder Diskurse verbreiteten Deutungsmuster, die von den kulturellen Eliten angeboten und popularisiert werden (»Überbau«) - müssen seiner Auffassung nach vorhanden sein, damit regionale Erinnerungskulturen und regionale Identität überhaupt erzeugt werden können.26 Rohe räumt ein, dass unter diesen Voraussetzungen sogar Regionen denkbar sind, in denen sich keine regionale Identität entwickeln kann, weil ihnen entscheidende Basis- oder Überbaufaktoren fehlen.27 Einflüsse auf die Identitätsbildung (Rohe) Erinnerungs-/Deutungskultur Überbau Diskurs Soziokultur Basis historisch-kulturelle Konstanten mental maps

! kollektive Identität

! personale/individuelle Identität

Man hätte durchaus erwarten können, dass sich auch die Geschichtswissenschaft sehr viel stärker als es bisher der Fall gewesen ist der Frage der regionalen Identität zuwendet, de facto haben sich aber nur die Nationalismusforschung und die Landesgeschichte intensiver mit diesem Thema befasst. Dabei ist unstrittig: Vergangenheitsdiskurse und Erinnerungskultur fungieren in der Regel als zentrale orientierende Elemente von Identitätsbildung. Unter den einschlägig forschenden Historikerinnen und Historikern besteht weitgehend Konsens, dass vor allem das Entstehen und die Existenz der Nationalstaaten für die Entwicklung regionaler Identitäten verantwortlich waren. Erst seit 1789 besteht das politische und soziale Modell der Nation, und erst seitdem konnte das Komplementärmodell der Region überhaupt gedacht werden, denn Region setzte und setzt sich immer von der Nation ab. Insbesondere der Untergang räumlicher Einheiten – zum Beispiel durch Mediatisierung und Säkularisation seit 1803 – konnte durch die Inwertsetzung der Region mental leichter bewältigt werden. Darin liegt auch eine der Ursachen dafür, dass es kein Regionalismuskonzept in 26 Karl Rohe: Regionalkultur, regionale Identität und Regionalismus im Ruhrgebiet: Empirische Sachverhalte und theoretische Überlegungen. In: Wolfgang Lipp (Hrsg.): Industriegesellschaft und Regionalkultur. Untersuchungen für Europa. Köln-Berlin-Bonn-München 1984, 128 ff.; Schönemann: Region als Konstrukt (Anm. 20), 177. 27 Rohe: Regionalkultur (Anm. 26), 129 f.; Jürgen Reulecke: Regionalgeschichte heute: Chancen und Grenzen regionalgeschichtlicher Betrachtungsweise in der heutigen Geschichtswissenschaft. Bestandsaufnahme und Perspektiven. In: Interregiones 7 (1998), 9.

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der Mediävistik oder in der Frühneuzeitforschung gibt. Erst das Mitwirken der bürgerlichen Eliten an der Idee der Nation rief im Verlauf des 19. Jahrhunderts – und dann in unterschiedlicher Intensität – regionales Bewusstsein hervor. Aber auch Regionen bedurften der historischen Beglaubigung, um allgemein akzeptiert zu werden. Neue Erinnerungsorte und Symbole mussten als Referenzgrößen etabliert werden, damit die durch Industrialisierung, Klassen- und Kulturkampf in Bewegung geratene Gesellschaft zusammengehalten werden konnte. Zu den bekanntesten Vertretern dieser sogenannten »Konstruktionsthese« gehören Eric Hobsbawm (1917 – 2012) und Benedict Anderson (*1936). Hobsbawm stieß bei seinen Studien über den europäischen Nationalismus auf das Phänomen der »neuen« (überwiegend nachträglich konstruierten) Traditionen, die zwischen 1870 und 1914 in Europa in großem Umfang kreiert wurden, um Nation, Region und Öffentlichkeit unter den Bedingungen der Moderne zusammenzuführen und zu stabilisieren: Man denke an die mittelalterlichen Stilelemente in und an Profanbauten des 19. Jahrhunderts, die eine nicht vorhandene historische Legitimation vorspiegelten, oder an den Rückgriff auf die alte Reichsidee in den politischen Erneuerungsprojekten nach 1871.28 Von Anderson stammt das Konzept der »imagined communities«, mit dem er vor allem das Bemühen um nationale Identitätsstiftung beschreibt, das sowohl über Konfessions- als auch über regionale Grenzen hinwegging. Nationale Identität ist sicher ein extremes Beispiel für kollektives Bewusstsein. Der nationale Mythos war und ist in der Lage, die Gruppensolidarität so weit zu fördern, dass Loyalitäten nicht mehr an Milieu- oder Klassenzugehörigkeiten gebunden sind. Im 19. Jahrhundert entstanden auf diese Weise neue kollektive Werte, die sich in der Erinnerung an die gemeinsame Geschichte und in der Orientierung auf gemeinsame Ziele niederschlugen.29 Nur die Teilhabe an dieser Identität kann 28 Eric Hobsbawm: Mass-Producing Traditions: Europe, 1870 – 1914. In: Ders./Terence Ranger (Ed.): The Invention of Tradition. Cambridge 1984, 265 f.; Detlef Briesen/Rüdiger Gans: Regionale Identifikation als »Invention of Tradition«. Wer hat und warum wurde eigentlich im 19. Jahrhundert das Siegerland erfunden? In: Berichte zur deutschen Landeskunde 66 (1992), 61 – 73, 63 f.; Heinz-Gerhard Haupt/Michael G. Müller/Stuart Woolf: Introduction. In: Dies. (Ed.): Regional and National Identities in Europe in the XIXth and XXth Centuries. Den Haag-London-Boston 1998, 6 f.; insbesondere zum »Denkmalsrausch« des »wilhelminischen Establishments« auch Heinz Gollwitzer : Burgenrestauration: Historismus und Politik. Konflikte um den Wiederaufbau der Burg Altena. In: Westfälische Zeitschrift 130 (1980), 74; Reinhart Koselleck: Kriegerdenkmale als Identitätsstiftungen der Überlebenden. In: Odo Marquard/Karlheinz Stierle (Hrsg.): Identität. München 1979, 255 – 276, 263. 29 Benedict Anderson: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines erfolgreichen Konzepts. Frankfurt/Main -New York 1988, 158; James J. Sheehan: Nation und Staat. Deutschland als »imaginierte Gemeinschaft«. In: Manfred Hettling/Paul Nolte (Hrsg.): Nation und Gesellschaft in Deutschland. Historische Essays. München 1996, 33 f. Über die Bedeutung einigender Formen, wie etwa gemeinsamer Institutionen, gemeinsamer politischer Erinnerungen und ¢ in Deutschland fehlender ¢ gemeinsamer Konfession, für die Ausbildung

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erklären, warum der einfache Mensch zum Bürger und im Kriegsfall der Bürger zum Soldat wird.30 Die moderne Regionalgeschichte kann kaum auf die Rekonstruktion solcher »Diskurse« über Erinnerung, räumliche Einheiten und regionale Gesellschaften verzichten; auch sie muss der Frage nachgehen, welche Interessen und Akteure hinter bestimmten Raumvorstellungen stehen und in welchem Umfang regionale Identität wirklich in den Köpfen der Menschen »ankommt«. Gleichwohl zeichnet sich in der Forschung eine partielle Abkehr von der Vorstellung einer grundsätzlich »konstruierten« Regionalität ab. Der Historiker Jürgen Reulecke (*1940) etwa hat sich mit seinem Erklärungsmodell stärker als andere Regionalhistoriker um die Einbeziehung von subjektiv erfahrenen Lebenswelten in die Identitätsrekonstruktion bemüht. Zu diesem Zweck hat er die aus den USA stammende Theorie der »mental maps« auf Fragestellungen der modernen Regionalgeschichte übertragen ¢ gewissermaßen ein vereinfachtes Modell zur Rekonstruktion von regionaler Identität im Alltag.31 Mit dem Konzept der »mental maps«, das eine mental-kognitiv ausgerichtete Erklärung für das Entstehen und für die Veränderung von Raumkategorien liefert, soll gezeigt werden, wie Individuen und lokale Gesellschaften Informationen über die räumliche und soziale Umwelt sammeln und verarbeiten. Die Vermittlung und Rezeption solcher Raum- und Geschichtsbilder erweist sich dabei als Vorgang, der in hohem Maße von generationellen Faktoren abhängig ist;32 selbst innerhalb kleiner sozialer Einheiten können sich die »mental maps« zwischen den Altersgruppen aber auch zwischen anderen Teilgruppen - stark voneinander unterscheiden. Konkret handelt es sich um das Entstehen räumlicher Wissensmuster, die der einer nationalen Identität auch: Harold James: Deutsche Identität 1770 – 1990. Frankfurt/ Main-New York 1991, 10, 20. 30 Aleida Assmann: Zum Problem der Identität aus kulturwissenschaftlicher Sicht. In: Rolf Lindner (Hrsg.): Die Wiederkehr des Regionalen. Über neue Formen kultureller Identität. Frankfurt/Main-New York 1994, 13 – 35, 22 f.; Haupt/Müller/Woolf: Introduction (Anm. 28), 4 f., 16. 31 Reulecke: Regionalgeschichte heute (Anm. 27), 13 ff.; Detlef Briesen: »Historische Ausprägung und historischer Wandel von regionaler Identität in ausgewählten Montanregionen«. Einleitung zu einem Abschlußbericht. In: Ders./Rüdiger Gans/Armin Flender : Regionalbewußtsein in Montanregionen im 19. und 20. Jahrhundert. Saarland ¢ Siegerland – Ruhrgebiet. Bochum 1994, 26; ursprünglich zurückgehend auf Roger M. Downs/David Stea: Kognitive Karten. Die Welt in unseren Köpfen. New York 1982; zum Einfluss biografischer Blockaden im Zuge individueller Identitätsbildung vgl. Jürgen Straub: Identitätstheorie im Übergang? Über Identitätsforschung, den Begriff der Identität und die zunehmende Beachtung des Nicht-Identischen in subjekttheoretischen Diskursen. In: Sozialwissenschaftliche Literatur Rundschau 14 (1991), Nr. 23, 49 – 71, 60; Frithjof Benjamin Schenk: Mental Maps. Die Konstruktion von geographischen Räumen in Europa seit der Aufklärung. In: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), 493 – 514. 32 Christoph Cornelißen: Was heißt Erinnerungskultur? Begriff – Methoden – Perspektiven. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 54 (2003), 548 – 563, 556 f.

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eigenen Wahrnehmung »innere Logik« und den Menschen Ordnungskategorien »bis hin zum Heimatgefühl« verleihen, sich allerdings auch in einer Abneigung gegenüber Nachbarn oder Konkurrenten niederschlagen können. Das bedeutet im Übrigen auch: Wenn wir von regionaler Identität im Sinne der »mental maps« sprechen, meinen wir ein Regionalbewusstsein, das unter Umständen ohne Rückgriffe in die Vergangenheit auskommt! Gleichwohl hängt das Ergebnis von Erinnerung und Identitätsbildung in erster Linie von den vorhandenen biografischen Ressourcen ab: von den individuellen Kompetenzen, vom sozialen Umfeld, von kommunikativen Abläufen und von den institutionell vermittelten Ideologien und Strukturen, in denen sich der Einzelne bewegt. Der Berliner Neuzeithistoriker Thomas Mergel (*1960) hat die einfache, aber berechtigte Frage aufgeworfen, warum »rheinische Liberale und Katholiken einander näher [seien] als rheinische und bayrische Katholiken«.33 Mit Hilfe des »Mental-map«-Konzepts kann man diese Frage - wenigstens teilweise - beantworten: Die Prägemuster des kulturellen Milieus, des unmittelbaren sozialen Umfeldes lassen sich offenkundig nicht so schnell verändern und umdeuten, wie das im Falle politischer Orientierungen mit Hilfe programmatischer Ziele und stimmungsvoller Rituale möglich zu sein scheint. Der Rückzug klassischer Sozialisationsinstanzen und Ritualveranstalter wie der Kirche, der Monarchie oder des Militärs im Verlauf des 20. Jahrhunderts und der Bedeutungszuwachs anderer lebensweltlicher Erfahrungen der Moderne wie des regionalen Brauchtums oder der Verbundenheit mit bestimmten Fußballvereinen haben die Identitätsmuster verschoben und erzeugen heute mehr Übereinstimmung und Zusammengehörigkeitsgefühl als gemeinsame religiöse Praktiken, soziale Milieus oder ein politischer und administrativer Ordnungsrahmen. Diese Vorgänge tragen nicht zuletzt dazu bei, dass auch Migranten eigene, regional verankerte »mental maps« entwickeln, denen zumeist keine neu erworbenen »Erinnerungsmuster« zugrunde liegen.

3.

Erinnerung und Identität am Beispiel der Varusschlacht

Seit dem Barockzeitalter lassen sich »Fieberkurven« in der Erinnerung an die Varusschlacht verfolgen, mit Höhepunkten anschwellender Literatur im 19. und frühen 20. Jahrhundert.34 Doch in den vergangenen fünfzig Jahren hat es zweifellos eine spürbare Abschwächung und inhaltliche Neuorientierung nationaler 33 Thomas Mergel: Milieu und Region. Überlegungen zur Ver-Ortung kollektiver Identitäten. In: James Retallack (Hrsg.): Sachsen in Deutschland. Politik, Kultur und Gesellschaft 1830 – 1918. Bielefeld 2000, 265 – 279, 279. 34 Wiegels: ,Varusschlacht‹ (Anm. 11), 504 (Zitat), 508.

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Erinnerungspolitik gegeben. Ablesbar ist das unter anderem auch daran, dass wir inzwischen einen grundsätzlich veränderten Umgang mit dem Ereignis Varusschlacht gefunden haben und sehr viel mehr bereit sind, den jeweiligen politischen oder kulturpolitischen Kontext des öffentlichen Gedächtnisses zu bedenken. Sehr wahrscheinlich gab es etwa bis zur Entdeckung von Tacitus’ (um 55 – um 120) Germania- und Annalen-Texten 1455 und 1508, also in der Spätantike und im gesamten Mittelalter, überhaupt keine Erinnerung an die Germanen,35 an Arminius (um 17 v. Chr. – um 21 n. Chr.) und die Varusschlacht. Auch in der Frühen Neuzeit blieben diese späteren »Erinnerungsorte« lediglich ein Thema der Gelehrten und Literaten.36 Im 19. Jahrhundert tendierten die kulturellen Eliten im Wettbewerb um neue Deutungen in einer sich neu formierenden Gesellschaft dann zur symbolischen Aufladung der Varusschlacht, indem sie sie zum Beispiel in der Zeit um 1810 mit antinapoleonischen Konnotationen versahen und die Völkerschlacht bei Leipzig 1813 zu einer »zweiten Hermannsschlacht« erklärten.37 Später betonte man das Bild vom germanischen Befreier Arminius/Hermann, der damit zu einer Schlüsselfigur der deutschen Einheits- und Freiheitsidee avancierte. Die Vorstellung von einem Freiheitskrieg im Teutoburger Wald beruhte allerdings auf so vielen Konstruktionen und falschen Analogien, dass man sich fragt, wie es möglich war, dass derartige Interpretationen in einer wissenschaftsgesättigten Zeit scheinbar kritiklos aufgenommen wurden. Diese Konstruktionen fangen bei der Umwandlung des Arminius in einen deutschen »Hermann« zur Zeit der Reformation an und hören bei der »Rückübertragung« des Namens Teutoburger Wald (den Tacitus nennt) auf einen topografisch plausibel erscheinenden, bis ins 17. Jahrhundert aber ganz anders benannten Höhenzug nicht auf.38 Es förderte die Ausgestaltung entsprechender Erzählungen und damit die Entstehung eines nationalen Mythos’, dass Tacitus’ Bericht in den Annalen auslegungsfähig war, weil mit seiner Hilfe der Ort und die Umstände der Handlung nicht eindeutig identifiziert werden konnten. Die Hermannverehrung im Barock und die zu Beginn des 19. Jahrhunderts einsetzende nationale Überhöhung dieser historischen Figur konnten dabei immer wieder variieren. Nicht nur antifranzösische Aussagen ließen sich einbauen, auch antirömische 35 Klaus Kösters: Mythos Arminius. Die Varusschlacht und ihre Folgen. Münster 2009, 33 f. 36 Kirstin Buchinger : Teutoburger Wald 9 n. Chr.: Die Hermannschlacht – ein Erinnerungstag? In: Etienne FranÅois/Uwe Puschner (Hrsg.): Erinnerungstage. Wendepunkte der Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart. München 2010, 25 – 40, 28 ff.; Wiegels: ›Varusschlacht‹ (Anm. 11), 520 f. 37 Kösters: Mythos Arminius (Anm. 35), 195 ff.; Wiegels: ›Varusschlacht‹ (Anm. 11), 523. 38 Philipp Clüver: Germania Antiqua. Leiden 1616, 3. Buch, 78, Rz. 30; Stephan Berke: »Haud procul«. Die Suche nach der Örtlichkeit der Varusschlacht. In: Aßkamp et al.: Varusschlacht (Anm.8), 133 – 138, 134 f.

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Subtexte mit – zur Zeit der Fertigstellung des Hermannsdenkmals 187539 – antikatholischer Tendenz fanden Platz in der Aktualisierung des ArminiusVarus-Konfliktes; und hier tat sich Lippe als protestantisches Land besonders hervor.40 Literaten wie Heinrich von Kleist (1777 – 1811), Ernst Moritz Arndt (1769 – 1860) oder Christian Dietrich Grabbe (1801 – 1836), die den Stoff populär gemacht und seine Adaption in eine bestimmte Richtung gelenkt haben, hatten daran ebenso Anteil wie künstlerische, musikalische und dramaturgische Bearbeitungen des Hermann- oder Varusstoffes.

Abb. 1: Inszenierung von Christian Dietrich Grabbes »Die Hermannschlacht« durch das Westfälische Landestheater im Jahr 1934. Grabbe verstand das Stück als Denkmal für seine lippische Heimat (Foto: Stadtarchiv Paderborn)

Die ideologischen Aufladungen konnten dabei in beide Zeitrichtungen gehen: So interpretierten die Deutungsakteure aus unterschiedlichen politischen Lagern wahlweise Arminius als antiken Otto von Bismarck (1815 – 1898) oder Bismarck als modernen Arminius. Weit verbreitet war die Auslegung, nach der sich bereits in den politischen Verhältnissen des Jahres 9 nach Christus eine Einheit der Stämme im »Bundesstaat« abgezeichnet habe; zugleich war damit angedeutet, das es zum »geschichtlichen Auftrag« des neuen deutschen Nationalstaates gehöre, das Alte (in der Analogie: Römische) Reich abzulösen und sich damit auch kulturell gegenüber »falschen Traditionen« abzusetzen. Die 39 Wiegels: ›Varusschlacht‹ (Anm. 11), 508. 40 Bendikowski: Der Tag (Anm. 14), 177.

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Varusarmee und das Römertum standen dabei für romanische Kulturexpansion, für Ultramontanismus, aber auch für moralisch-kulturellen Niedergang – Germanen standen für Freiheit, moralische Unverderbtheit, Bauerntum, Heidentum, autochthonen Charakter und in nicht wenigen Darstellungen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts auch für rassische Überlegenheit.41 Sowohl die professionelle Archäologie als auch die universitäre Historie – das muss gesagt werden – stellten sich dabei immer wieder in den Dienst solcher Semantiken. Die Einweihung des Hermannsdenkmals 1875 wurde zunächst als Nationalfest des jungen Kaiserreichs gefeiert, aber regional auch als Symbol lippischer Identität und Unabhängigkeit gedeutet, als Aufwertung des kleinen Bundesstaates Lippe im Deutschen Kaiserreich:42 Der Denkmalbau wurde eindeutig zum Projekt der national denkenden bildungsbürgerlichen, aber auch der adeligen Eliten; die regionalen Konnotationen dagegen waren eher ein Produkt der Mittelschicht, wie Vergleiche zwischen offiziellen und inoffiziellen Erinnerungsmotiven belegen.43 Neben aller nationalen Stilisierung entwickelte sich auf dieser Ebene eine kontinuierlich präsente regionalhistorische Erzählung. Lokale Hobbyforscher wollten nicht Erkenntnis oder nationale Symbolik, sondern die Aufwertung ihrer »Entdeckungen« zugunsten der Region. Tatsächlich geriet die Suche nach dem Ort der Varusschlacht zu einer echten »Männerdomäne« des Suchens und Lokalisierens, zu einem Betätigungsfeld der »Laienforschung« par excellence.44 Und da es keine nähere schriftliche Überlieferung zum historischen Ereignis und historischen Ort gab, setzte einerseits eine stärkere Personalisierung ein (»Hermann«) und verlagerte sich andererseits das Forschungsinteresse vieler Amateure und zahlreicher Althistoriker auf die materielle Kultur und die Archäologie.45 Insgesamt sind zwischen 1830 und 1950 etwa 700 Detailvorschläge für dreißig vermeintliche Hauptgefechtsorte benannt worden, die wiederum in vier »Haupttheorien« zur Lokalisierung der Varusschlacht zusammengefasst werden mussten, um einen gewissen Überblick zu ermöglichen (Nord-, Süd-, Lippe- und Münsterland-Theorie).46 Die Suche nach dem Ort der Varusschlacht gehörte und gehört zu den klassischen »Suchmythen« — la Atlantis oder Troja und stiftet 41 Volker Losemann: Die »Kulturhöhe« der Germanen. Spuren der NS-Germanenideologie. In: Aßkamp et al.: Varusschlacht (Anm. 8), 234 – 242, 234. 42 Dirk Mellies: »Symbol deutscher Einheit«. Die Einweihungsfeier des Hermannsdenkmals 1875. In: Aßkamp et al.: Varusschlacht.(Anm. 8), 222 – 228, 222 f., 228. 43 Maike Schlichting: Festkultur am Hermannsdenkmal. In: Lippische Mitteilungen 77 (2008), 83 – 103, 92; Kösters: Mythos Arminius (Anm. 35), 248 ff. 44 Berke: »Haud procul« (Anm. 38), 134 f. 45 Uta Halle: Ideologisierung und Politisierung. Die Vereinnahmung der prähistorischen Archäologie durch Ideologie und Politik im 19. und 20. Jahrhundert. In: Aßkamp et al.: Varusschlacht (Anm. 8), 243 – 252, 243 f. 46 Wiegels: ›Varusschlacht‹ (Anm. 11), 522; Berke: »Haud Procul« (Anm. 38), 134, 136.

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sozusagen einen Dauerreiz, der auch unabhängig vom erinnerungskulturellen Gehalt des historischen Ereignisses funktioniert.47 Was in Lippe und später auch in Kalkriese bei Osnabrück stattfand, war nicht Erinnerungsarbeit; vielmehr ging es um das Zusammentragen neuer Befunde und die Untermauerung selbst formulierter Theorien. Die regionale Perspektive profitierte ganz eindeutig von dieser Verlagerung der praktischen Forschung auf die Archäologie: Wichtiger als eine Auseinandersetzung mit der Varusniederlage oder dem Hermannmythos war den lokalen Schlachtenforschern die Anbindung der eigenen Region an die Weltgeschichte. Für die in der »antiken Heimatkunde« Aktiven standen Identifizierung und Beglaubigung im Vordergrund, nicht Erinnerung und Gedächtnis. Auf nationaler Ebene wurde der Einheits- und Befreiungsmythos insbesondere in den Krisenjahren der Weimarer Republik (Ruhrbesetzung) und in den 1930er-Jahren immer wieder für politische Feiern instrumentalisiert.48 In der NS-Zeit, vor allem nach 1939, trieben völkische Gelehrte und führende Nationalsozialisten um Heinrich Himmler (1900 – 1945) und Alfred Rosenberg (1893 – 1946) die Germanenideologie und -analogie dann sogar so weit voran, dass das Fach der klassischen Archäologie, also die Erforschung der antiken Mittelmeerkultur, im Gegenzug geradezu diskreditiert wurde.49 Nach 1945 bestand aus nachvollziehbaren Gründen kein Interesse mehr an einer erneuten Verankerung der Varus- oder Hermannschlacht als Urmythos der deutschen Geschichte. Das änderte sich allerdings – unter neuen Vorzeichen ¢ nach 1990 und war nicht etwa durch die Wiedervereinigung bedingt.50 Ausgangspunkt war vielmehr die Entdeckung eines archäologischen Fundplatzes von besonderem Wert im Jahr 1987 (ebenfalls durch einen Laienforscher): Menschliche Knochenreste, Militaria, Münzen und Alltagsgegenstände stellten einen klaren Beleg dafür dar, dass um 9 nach Christus in der Nähe von Kalkriese eine größere militärische Auseinandersetzung zwischen Römern und Germanen stattgefunden hatte.51 Unter Althistorikern, Numismatikern und Archäologen bestehen zur Einordnung dieser Fundstätte immer noch unterschiedliche Auffassungen: Die Ansicht, dass Kalkriese mit großer Gewissheit als Ort der Varusschlacht gelten könne, findet vielfach Zustimmung, doch es werden auch zahlreiche gut begründete Gegenpositionen vorgetragen. Die Historiker ten47 Martin Sabrow spricht in diesem Zusammenhang von der »Sehnsucht nach dem Authentischen«; Freie Presse (Chemnitz), 08. 11. 2009. 48 Sebastian Knauer : Das Hermannsdenkmal vor dem Hintergrund des Kulturkampfes. In: Rosenland. Zeitschrift für lippische Geschichte 5/2007, 2 – 15, www.rosenland-lippe.de/Rosenland-05.pdf (26. 6. 2012). 49 Losemann: »Kulturhöhe« der Germanen (Anm. 41), 235. 50 Buchinger: Teutoburger Wald (Anm. 36), 37. 51 Berke: »Haud Procul« (Anm. 38), 136.

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Abb. 2: Bismarck und Falk als Arminius und Marbod. Karikatur auf den Kulturkampf aus dem humoristischen Sonntagsblatt »Berliner Wespen« vom 30. April 1875 (Aus: Friedhelm Jürgensmeier, Die katholische Kirche im Spiegel der Karikatur der deutschen satirischen Tendenzzeitschriften von 1848 bis 1900, Trier 1969)

dieren vorsichtigerweise dazu, lediglich von einer Verbindung mit der Varusschlacht auszugehen;52 sie verweisen darauf, dass ein einzelner Gefechtsort gar nicht zu identifizieren sei, da sich diese Gefechte über drei Tage und eine längere Strecke hingezogen hätten (und bleiben sozusagen den schriftlichen Quellen treu).53 Die Archäologen dagegen sind angesichts numismatischer Befunde eher bereit, Kalkriese den Status des Schlachtenortes zuzuerkennen, und erklären Unvereinbarkeiten mit der literarischen Überlieferung schlicht damit, dass die

52 Günther Moosbauer : Die Varusschlacht. München 2009, 97 f. 53 Wiegels: ›Varusschlacht‹ (Anm. 11), 514.

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tatsächliche Varusschlacht eben nicht so stattgefunden habe, wie sie von Tacitus und anderen geschildert wurde.54

Abb. 3: Logo der »Lippe Tourismus & Marketing AG« aus dem Jahr 2009 (Foto: Kreis Lippe)

Abb. 4: Seit 2012 verwendetes Logo der Tourismus-Arbeitsgemeinschaft »Varusregion im Osnabrücker Land« (Foto: Gemeinde Bad Essen)

Ist man also doch noch nicht wesentlich weiter als vor hundert Jahren, wird es weiterhin Streit um die Beantwortung der Frage geben, wo diese Schlacht stattgefunden hat? Liegt das womöglich an der Konkurrenz der Lokalisierungen? Denn mit dem scheinbaren Beweis für den einen Ort, der sich in einem neuen Licht darstellen lässt, verblasst der historische Glanz an einem anderen Ort.55 Im 16. Jahrhundert war man sich eine Zeit lang relativ sicher, den Ort der Varusschlacht bei Augsburg lokalisieren zu können; und es war für den schwäbischen Stammespatriotismus ein schwerer Schlag, dass sich in der Publizistik und im Meinungsbild der Öffentlichkeit – dank Tacitus ¢ allmählich die 54 Reinhard Wolters: Die Schlacht im Teutoburger Wald. Arminius, Varus und das römische Germanien. 2. Aufl. München 2009, 165 f. 55 Wiegels: ›Varusschlacht‹ (Anm. 11), 514.

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Teutoburger-Wald-Theorie durchzusetzen begann.56 Auch die »Hermann-Region« Lippe würde hinsichtlich ihres historischen Profils sicherlich beeinträchtigt, wenn es nun endgültig auf die Varus-Region Kalkriese hinausliefe, und hat sich im Rahmen ihres regionalen Marketings bereits darauf verlegt, den Erinnerungsort »Hermannsdenkmal« stärker ins Blickfeld zu rücken: Der Teutoburger Wald erscheint dabei nicht mehr als Areal einer folgenreichen militärischen Auseinandersetzung, sondern als natürlicher Standort eines historischen Denkmals, das ¢ auch wenn sich seine »Bedeutung« nicht mehr recht erschließt ¢ nach wie vor imposant wirkt und dadurch für touristische Zielgruppen attraktiv bleibt. Auf niedersächsischer Seite bemüht man sich intensiv darum, die Region im Norden Osnabrücks historisch aufzuwerten, und dafür gibt es gute, nachvollziehbare Gründe: Schon vor den ersten Funden hatte es in der Wissenschaft eine Verschiebung der »Germanenperspektive« gegeben, und die Kalkriesedarstellung untermauert diese Perspektivenverschiebung: Arminius wird inzwischen auch als unzuverlässiger Verbündeter gesehen und nicht mehr als zentrale Figur eines antirömischen politischen Widerstandes. Die Cherusker erscheinen in neueren Darstellungen nicht mehr als ehrenhafte »Vaterlandsbefreier«, sondern schlicht als Beutemacher und Meuterer.57 Mit dieser neuen Sichtweise ging die Entnationalisierung und Entmythologisierung des Germanenthemas einher. Betont wurden und werden nunmehr auch der Kontakt und der langjährige, fest etablierte Austausch zwischen der römischen und der germanischen Kultur. Zugleich fand und findet auf öffentlicher Bühne eine Verlagerung von der Erinnerungspolitik zur Identitätsförderung statt: Die Gegenstände des Erinnerns werden alltäglicher, sie werden stärker entpersonalisiert, auch weniger symbolhaft gesehen; nicht mehr Mythen müssen visualisiert werden, Sachgegenstände und materielle Kultur können nun im Original vorgeführt werden und für sich selbst sprechen. Der Museumspark in Kalkriese und die große Varusausstellung von 2009 boten eine entsakralisierte Vorführung des wissenschaftlichen Diskurses, machten das historische Gedächtnis des 19. Jahrhunderts auch selbst zu einem Thema der Erinnerung. Dabei spielt die Frage, ob es sich um den einzigen authentischen Ort handelt, keine entscheidende Rolle mehr: Das Vergleichen und Abwägen der Argumente ist zum Teil des Geschichtserlebnisses geworden, wie die auf drei Orte verteilte Ausstellung des Jahres 2009 gezeigt hat. Erlebnis und Event ersetzen hier Erinnerung. Nicht der Mythos selbst, doch zumindest die Erinnerung an ihn ist

56 Ebd., 521. 57 Ebd., 513; Dieter Timpe: Neue Gedanken zur Arminius-Geschichte. In: Lippische Mitteilungen 42 (1973), 5 – 30, 26 ff.; zuletzt ders.: Die »Varusschlacht« in ihren Kontexten. Eine kritische Nachlese zum Bimillennium 2009. In: Historische Zeitschrift 294 (2012), 593 – 652, 640 ff.

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wohl noch immer Bedingung dafür, dass solche Deutungen oder eben auch die Freizeitziele Hermannsdenkmal und Kalkriese überhaupt »funktionieren«.58

Abb. 5: Die Ausstellung »2000 Jahre Varusschlacht« – hier die Startseite des Internetauftritts – fand an drei »Originalschauplätzen« statt (Foto: Landschaftsverband Westfalen-Lippe)

Heute hat der Erinnerungsort »Varusschlacht« eher ein folkloristisches Gepräge und ist dadurch Teil der (regionalen) Populärkultur geworden, das heißt historische Erinnerung wird immer wieder neu sortiert oder inhaltlich neu »befüllt«. Vor allem das touristische Marketing nutzt die Ikonen der Erinnerungskultur als eingängige Bildmotive, um die eigene Region bekannt und unverwechselbar zu machen. Indessen waren und sind die Varusaussstellung von 2009 und der Museumspark Kalkriese einem sehr hohen historiografischen Anspruch verpflichtet, und den Veranstaltern kommt in der Abgrenzung vom älteren, nationalistisch geprägten Erinnerungsprozess entgegen, dass sich die jetzt in den Vordergrund gerückte Vielgestaltigkeit der römischen Kultur gegen jede homogenisierende (nationale) Geschichtspolitik sperrt.59 Inwiefern schreibt sich die Varusschlacht nun aber in die »regionale Identität« ein? Das geschieht, indem die »fields of conflict« nicht mehr als politisch aufgeladene Erinnerungsorte, sondern als informative Geschichtsorte wahrgenommen werden – als Standorte der Gegenwart, an denen Einblicke in die Historie möglich sind und deren Besuch und Rezeption jedem Besucher selbst überlassen bleibt. Kalkriese und Hermannsdenkmal sind heute Bestandteile eines regionalen Bildungsangebotes und regional konnotierte touristische Sehenswürdigkeiten. Hinzu kommen – außerhalb offizieller oder öffentlicher In58 Wiegels: ›Varusschlacht‹ (Anm. 11), 524; Buchinger : Teutoburger Wald (Anm. 36), 39. 59 Karl-Joachim Hölkeskamp/Elke Stein-Hölkeskamp: Einleitung »Erinnerungsorte« – Begriff und Programm. In: Dies. (Hrsg.): Erinnerungsorte der Antike. Die römische Welt. München 2006, 11 – 17, 12 f.

Erinnerung oder Identität?

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itiativen ¢ Anbindungen des historischen Mythos an den lokalen Sport oder an regionale Produkte. Die Varusschlacht wird so zu einem Teil der Geschichte der eigenen Region, ermöglicht historische Markierungen auf der regionalen Landkarte und bietet dem Regionalmarketing »Material« zur weiteren Profilierung Niedersachsens oder Ostwestfalen-Lippes. Steht – wie in Kalkriese ¢ nicht die Erinnerung an menschliches Leid oder strittige Denkmäler im Vordergrund, so tritt neben die Vermittlung wissenschaftlich gesicherter Informationen oftmals ein spielerischer Umgang mit der Geschichte. Man könnte hier vielleicht von einem »Asterixeffekt« sprechen: Historische Parallelen werden folkloristisch umgedeutet und zugleich durch eine gewisse Harmlosigkeit ironisiert.60 Unterstützt wird in diesem Fall die kognitive Erfahrung, nicht die affektive Handlungsorientierung. Sowohl Kalkriese als auch das Hermannsdenkmal sind heute für die Bewohner der betreffenden Regionen in erster Linie Bestandteil ihrer jeweils eigenen »mental maps«61 und für Touristen zumeist schlichte Besichtigungsziele, die neugierig machen und anregend sein mögen, aber keine affektive Wirkung mehr entfalten. Die Ausweitung freizeitorientierter Erinnerungsformen und der in ganz Europa anzutreffende »Histourismus« scheinen die Entmythologisierung und »Regionalisierung« nationaler Erinnerungsorte zu befördern.62

4.

Fazit

Das Ausgrabungsfeld Kalkriese und das Hermannsdenkmal sind Beispiele für populäre Gedächtnisorte, die seit einigen Jahren einem Veränderungsprozess unterliegen. Nicht mehr die kollektive Erinnerung oder historische Legitimationsversuche stehen im diskursiven Umgang mit ihnen im Mittelpunkt, sondern die Aufbereitung und Integration von Geschichte in die alltägliche Wahrnehmung und den regionalen Wissenshorizont. Je weiter die erinnerte Zeit zurückliegt, desto leichter und umfassender gelingt das – wie das Beispiel der Varusschlacht zeigt. Mit dieser »Normalisierung« und Individualisierung der Erinnerung geht also zugleich eine deutlichere regionale Ausrichtung der Erinnerungsstätten einher. Die individuellen Selbstbilder und Identitäten werden in ihren Bezügen auf die Vergangenheit immer pluraler. 60 Holger Löttel: »Märtyrer der Freiheit«. Antikemythen in den europäischen Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts. In: Aßkamp et al.: Varusschlacht (Anm. 8), 155 – 163, 155 ff., 163. 61 Auf Kinder hatte das Denkmal anscheinend schon in den 1970er-Jahren »keine andere Wirkung … als das Dinosaurierskelett in der Sammlung für Ur- und Frühgeschichte des Landesmuseums Hannover«; Buchinger : Teutoburger Wald (Anm. 36), 37. 62 Bernd Mütter : HisTourismus. Geschichte in der Erwachsenenbildung und auf Reisen. 2 Bde. Oldenburg 2008.

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Die wichtigsten Faktoren und Ursachen dieses Prozesses sollen abschließend noch einmal zusammengefasst werden: – Der Einfluss kultureller Deutungseliten hat sich gegenüber den Hochphasen von Nationalismus und Konfessionalismus deutlich zurückentwickelt; – zurückliegende Kriegserfahrungen, Globalisierung und europäische Integration haben die nationale Wahrnehmung und die damit verbundenen Abgrenzungsbedürfnisse in Europa nachhaltig reduziert; – neue Deutungsangebote und kollektive Erfahrungen haben stattdessen überschaubare und alltägliche angenommen, definieren sich über Lebensstile, Kleidung oder lokale Interessen; – es ist nicht ausgeschlossen, dass die Sozialen Netzwerke erneut einen Trend zur kollektiven Wahrnehmung erzeugen, aber darüber kann man im Augenblick nur spekulieren.

Günter Riederer

Kollektive Erinnerung in einer Stadt ohne Tradition – die Geschichte der Straßenbenennungen in Wolfsburg nach 1945

Der Straße können wir nicht aus dem Weg gehen. Sie ist ein zentraler Bestandteil des öffentlichen Raumes und fest eingebunden in unsere tagtäglichen Daseinsabläufe. Bis weit in das 18. Jahrhundert hinein hatte die Benennung einer Straße vornehmlich eine orientierende Funktion, erst seit der Französischen Revolution wurden Straßennamen einer bewussten Politisierung unterzogen. Seit dieser Zeit stellen sie ein wirksames Mittel dar, kollektiver Erinnerung Ausdruck zu geben.1 Nach politischen Systemwechseln zählen Umbenennungen von Straßen zu populären Maßnahmen, die auf einfache Weise den neuen Verhältnissen Ausdruck geben. Karl Schlögel (*1948) hat die Folgen dieser Umwälzungsprozesse in seinem Buch Im Raume lesen wir die Zeit in einem allgemeinen Zusammenhang auf den Punkt gebracht: »Zusammenbrüche und Revolutionen hinterlassen Berge von Schutt und Müll, denn eine ganze Epoche muß entsorgt werden: Straßenschilder mit den Namen, die nun nicht mehr opportun sind, Landes- und Stadtkarten mit den nun falschen Grenzen, Berge von Büchern mit den Namen

1 Mittlerweile liegt zu Geschichte und Funktion der Straßenbenennungen eine umfangreiche Forschungsliteratur vor, siehe etwa Daniel Milo: Le nom des rues. In: Pierre Nora (Hrsg.): Les lieux de m¦moire. Band II, 3: La Nation. Paris 1986, 283 – 315; Rainer Pöppinghege: Geschichte mit Füßen getreten: Straßennamen und Gedächtniskultur in Deutschland. Paderborn 2005; Ders.: Wege des Erinnerns. Was Straßennamen über das deutsche Geschichtsbewusstsein aussagen. Münster 2007; Johanna Sänger : Heldenkult und Heimatliebe. Straßenund Ehrennamen im offiziellen Gedächtnis der DDR. Berlin 2006; Peter Stachel: Stadtpläne als politische Zeichensysteme. Symbolische Einschreibungen in den öffentlichen Raum. In: Rudolf Jaworski/Ders. (Hrsg.): Die Besetzung des öffentlichen Raumes. Politische Plätze, Denkmäler und Straßennamen im europäischen Vergleich. Berlin 2007, 13 – 60; Matthias Martens: Straßennamen – Lesezeichen im kulturellen Gedächtnis. In: Sabine Horn/Michael Sauer (Hrsg.): Geschichte und Öffentlichkeit. Orte – Medien – Institutionen. Göttingen 2009, 61 – 69. Matthias Frese (Hrsg.), Fragwürdige Ehrungen. Straßennamen als Instrument von Geschichtspolitik und Erinnerungskultur. Münster 2012.

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von Autoren, die aus dem Verkehr gezogen sind und mit denen nun kein Staat mehr zu machen ist.«2 Die Vergabe von Straßennamen erfolgt nicht spontan, sondern ist das Ergebnis wohlüberlegter, durch zahlreiche Kompromisse ausgehandelter Beschlüsse der kommunalen Verwaltung. Demzufolge lässt der Streit um die »richtige« Benennung einer Straße zum einen Aussagen über die Beschaffenheit der kollektiven Erinnerung einer Stadtgesellschaft zu. Zum anderen begründen Straßennamen die »Textur einer Stadt«,3 sie liefern gewissermaßen die Fixpunkte, um die sich ein gemeinsames Erinnern gruppiert. Straßennamen gelten in der Forschung mittlerweile als »Tresore des kollektiven Gedächtnisses«,4 sie konstituieren eine ganz spezifische Erinnerungslandschaft, die es ermöglicht, der Vergangenheit unbewusst, im Alltag des Lebens zu begegnen. Die Art und Weise, wie Straßen benannt werden, sowie ihre Referenzpunkte in der jeweiligen Vergangenheit ermöglichen deswegen eine Aussage über die Beschaffenheit des kollektiven Gedächtnisses einer Stadt.5 Der vorliegende Beitrag untersucht die Praxis der Straßenbenennung am Beispiel der Stadt Wolfsburg. Die Ansiedlung am Mittellandkanal ist für diese Fragestellung insofern ein vielversprechendes Untersuchungsobjekt, als in dieser Stadt in den 1950er- und 1960er-Jahren – in der Begrifflichkeit der Erinnerungstheorie gesprochen – kein kulturelles, sondern »nur« ein kommunikatives Gedächtnis existierte. Wolfsburg ist eine der wenigen Stadtneugründungen in Deutschland im 20. Jahrhundert. Viele kommunalpolitische Akteure, die in den Nachkriegsjahren an zentralen Positionen die Geschicke der Stadt lenkten, hatten die Gründungsphase selbst mitgestaltet und waren gewissermaßen Zeitzeugen einer Entwicklung, die sie selbst angestoßen hatten und die keineswegs abgeschlossen war. Die Beschäftigung mit der kollektiven Erinnerung in einer Stadt wie Wolfsburg zeigt dabei einige allgemeine Problemlagen. Im Zusammenhang mit der Konstruktion des kollektiven Gedächtnisses geht es immer auch darum, die 2 Karl Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik. München-Wien 2003, 312. 3 Siehe den Begriff bei Maoz Azaryahu: Renaming the Past. Changes in City-Texts in Germany and Austria 1945 – 47. In: History & Memory. Studies in the Representation of the Past 2 (1990), Nr. 2, 32 – 53. 4 Rainer Lübbren: Straßenbenennungen um die Jahrhundertwende. Identifikationsversuche der besonderen Art. In: Die alte Stadt 28 (2001), Heft 4, 344 – 349, 344. 5 Das Potenzial dieser Fragestellung für die Stadtgeschichtsforschung scheint keineswegs ausgeschöpft. Siehe als gelungenes Beispiel einer lokalen Studie etwa Marion Werner : Vom Adolf-Hitler-Platz zum Ebertplatz. Eine Kulturgeschichte der Kölner Straßennamen seit 1933. Köln-Weimar-Wien 2008. Siehe als gelungene Beispiele für lokale Studien etwa: Peter Poguntke, Braune Feldzeichen. Stuttgarter Straßennamen in der NS-Zeit und der Umgang nach 1945. Stuttgart 2011.

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Deutungshoheit über die Vergangenheit zu gewinnen, also jene Themen zu bestimmen, die von der städtischen Gemeinschaft erinnert werden sollen. Der folgende Beitrag will an einem exemplarischen Fall zeigen, dass die Agenten der kommunalen kollektiven Erinnerung – kommunale Verwaltung und Politik sowie eine interessierte Stadtöffentlichkeit – ganz bewusst versuchten, den Aufbau dieser geschichtspolitischen Narrative zu steuern und für ihre Zwecke nutzbar zu machen. Dabei ergibt sich ein paradoxer Befund: Im Fall von Wolfsburg handelt es sich um die Ausnahme und das Allgemeine zugleich. Die Diskussionen um die Vergangenheit in dieser Stadt gleichen sich mehr und mehr an die Entwicklungen der Bundesrepublik an, zugleich aber bleiben weiter lokale Besonderheiten bestehen.

Die Barackenstadt Um die Eigenheiten, aber auch die außergewöhnliche Dynamik der Entwicklung der »Stadt des KdF-Wagens bei Fallersleben« – so der offizielle Titel bei der Stadtgründung durch eine Verordnung des Oberpräsidenten der Provinz Hannover vom 1. Juli 1938 – zu verstehen, genügt die Nennung der Zahl »857«. Genau so viele Einwohner lebten – verteilt auf die beiden Landgemeinden Heßlingen und Rothehof-Rothenfelde – am 31. Dezember 1937 auf dem Gebiet des späteren Wolfsburg.6 Die Population des dünn besiedelten Ackerlandes an der sanft in die norddeutsche Tiefebene auslaufenden Hügellandschaft am Mittellandkanal sollte sich allerdings rasch vergrößern: Im Zusammenhang mit der Suche nach einem geeigneten Standort für den Bau einer großen Automobilfabrik, mit der die Nationalsozialisten die Massenmotorisierung der deutschen »Volksgemeinschaft« erreichen wollten, stießen die Planer auf die Gegend des heutigen Wolfsburg. Die verkehrstechnisch günstige Lage bot gute Voraussetzungen für ein solches Unternehmen, das im wahrsten Sinne des Wortes auf der »grünen Wiese« geplant wurde.7 Nach dem Willen der Stadtplaner sollte neben die Fabrik keine Werkssiedlung 6 Stadt Wolfsburg (Hrsg.): Statistisches Jahrbuch der Stadt Wolfsburg 1978. Wolfsburg 1978, 9. 7 Zur Geschichte der Stadtgründung und zur nationalsozialistischen Entwicklungsgeschichte der Stadt siehe Erhard Forndran: Die Stadt- und Industriegründungen Wolfsburg und Salzgitter. Entscheidungsprozesse im nationalsozialistischen Herrschaftssystem. Frankfurt /Main-New York 1984; Marie-Luise Recker : Die Großstadt als Wohn- und Lebensbereich im Nationalsozialismus. Zur Gründung der ›Stadt des KdF-Wagens‹. Frankfurt/Main-New York 1981; Christian Schneider: Stadtgründungen im Dritten Reich. Wolfsburg und Salzgitter. Ideologie, Ressortpolitik, Repräsentation. München 1979; Klaus-Jörg Siegfried: Wolfsburger Stadtgeschichte in Dokumenten. Entstehung und Aufbau 1938 – 1945. Wolfsburg 1982; Helmut Weihsmann: Bauen unterm Hakenkreuz. Architektur des Untergangs. Wien 1998, 893 – 905.

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als Anhängsel des Volkswagenwerkes treten. Geplant war vielmehr eine »echte« Stadt, entworfen für 90.000 Einwohner mit allen Einrichtungen, wie sie für eine funktionierende städtische Infrastruktur nötig waren. Schon auf dem ersten, im Frühjahr 1938 von dem Architekten Peter Koller (1908 – 1996) entworfenen Gesamtbebauungsplan ist die bis heute vorherrschende räumliche Zweiteilung zu erkennen: Nördlich von Eisenbahnlinie und Mittelandkanal liegen die Hallen das Volkswagenwerkes, südlich davon die ringförmig angelegte Stadt, mit einer sogenannten Stadtkrone auf einer Anhöhe im Zentrum, die monumentale Parteibauten beherbergen sollte. Mit der peripheren Lage dieser Industriegründung abseits der großen industriellen Ballungszentren war aber auch klar, dass die Arbeitskräfte für den Aufbau von Werk und Stadt nicht aus dem unmittelbaren Umfeld kommen konnten, sondern vielmehr von außen zugeführt werden mussten. Die Unterbringung der Beschäftigten der im Stadt- und Werksaufbau tätigen Firmen in einem zentral gelegenen »Gemeinschaftslager« stellte also keine Besonderheit dar und war wegen der nicht vorhandenen baulichen Substanz puren Notwendigkeiten geschuldet.8 Schon früh trat ein Mangel an Arbeitskräften auf: Im September 1938 ersetzen Arbeiter von der faschistischen italienischen Schwesterorganisation der Deutschen Arbeitsfront (DAF) die fehlenden Kapazitäten, sie wurden ebenfalls in den Baracken des »Gemeinschaftslagers« untergebracht. Der Beginn des Zweiten Weltkriegs und die darauf folgende Eingliederung des Volkswagenwerkes in die Rüstungswirtschaft ließen dann ein betriebliches System der Zwangsarbeit entstehen. Polnische Frauen, Militärstrafgefangene, sowjetische Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge waren menschenunwürdigen Arbeits- und Lebensbedingungen ausgesetzt.9 In der Folge begannen die Baracken zu wuchern und das Bild der entstehenden Stadt wurde von einer Vielzahl verschiedener Lager mit unterschiedlichen Funktionen geprägt. Den Kern der Barackenstadt bildete das bereits erwähnte »Gemeinschaftslager« des Volkswagenwerkes, das südlich unmittelbar an die Bahnlinie Berlin-Hannover und den Mittellandkanal anschloss. Daneben bestand das streng bewachte, mit hohen stacheldrahtbewehrten Zäunen gesicherte »Ostlager«, in dem Zwangsarbeiter aus Osteuropa untergebracht waren.

8 Dazu ausführlich Manfred Grieger : Zuwanderung und junge Industriestadt. Wolfsburg und die Migranten seit 1938. In: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 81 (2009), 191 – 221. 9 Klaus-Jörg Siegfried: Rüstungsproduktion und Zwangsarbeit im Volkswagenwerk 1939 bis 1945. Eine Dokumentation. Frankfurt/Main-New York 1986; ders.: Das Leben der Zwangsarbeiter im Volkswagenwerk 1939 – 1945. Frankfurt/Main-New York 1988; Hans Mommsen/ Manfred Grieger : Das Volkswagenwerk und seine Arbeiter im Dritten Reich. Düsseldorf 1996.

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Abbildung 1: Gesamtbebauungsplan Peter Kollers aus dem Jahr 1938, Quelle: Stadt Wolfsburg, Institut für Zeitgeschichte und Stadtpräsentation

Zentrale Einrichtungen wie die Stadtverwaltung, das städtische Krankenhaus und verschiedene Schulen befanden sich ebenfalls provisorisch in Baracken. Über den gesamten Stadtbereich verstreut existierten weitere Wohnlager wie beispielsweise das Reislinger Lager, das von deutschen Arbeitern mit ihren Familien bewohnt wurde, oder das Lager Hohenstein, in dem zur Schulung abkommandierte SS-Männer untergebracht waren. Eine besondere Bedeutung in dieser Lagerlandschaft kam dem außerhalb des unmittelbaren Stadtkerns

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liegenden Laagberg-Lager zu, in dem seit Mai 1944 800 Häftlinge aus dem KZ Neuengamme unter menschenunwürdigen Umständen untergebracht waren.10 Die hochtrabenden Pläne einer nationalsozialistischen Mustersiedlung mit Aufmarschplätzen, komfortablen Siedlungshäusern und modern ausgestatteten Stadtwohnungen waren nur in kümmerlichen Ansätzen verwirklicht worden. Im Jahr 1944 waren von den 24.000 geplanten Wohneinheiten 2.915 Wohnungen fertiggestellt. Steinbauten beschränkten sich im Wesentlichen auf die Waldsiedlung Steimker Berg, geplant und gebaut für die Führungskräfte des Werkes, den Bereich Schillerteich und den Stadtteil Wellekamp. Die »Stadt des KdFWagens bei Fallersleben« stellte sich – komplementär zu ihrem provisorischen Titel – als hässlicher Komplex von Barackenlagern dar, in denen bei Kriegsende um die 15.000 Menschen hausten.

Die Straßenbenennungen nach Gründung der Stadt Die ersten Benennungen von Straßen in der »Stadt des KdF-Wagens« erfolgten viereinhalb Monate nach ihrer Gründung im November 1938. In einem Artikel der lokalen Zeitung wurde eine Verfügung des kommissarischen Bürgermeisters vermeldet, nach der die ersten Straßennamen festgelegt worden seien. Dort wurde folgende Begründung gegeben: »Die festgesetzten Straßennamen haben sich sowohl aus den Verkehrsbeziehungen zu den umliegenden Orten als vor allen Dingen auch aus Gründen der Erhaltung der im Sprachgebrauch üblichen Straßennamen sowie alter feststehender Flurnamen ergeben.«11 Die Politisierung der Straßenbenennung hat ihren Ursprung in einer von Bürgermeister Werner Steinecke (1907-?) am 4. Juni 1940 unterzeichneten Verfügung, in der in Abstimmung mit dem Neumessungsamt, dem Stadtbaubüro der Deutschen Arbeitsfront und dem Beauftragten der NSDAP die Straßennamen in den neu erbauten Stadtteilen »Schillerteich« und »Wellekamp« festgelegt wurden. Im Text der Verfügung heißt es: »Ich habe deshalb im Einvernehmen mit dem Neumessungsamt der Stadt des KdF-Wagens die Straßennamen festgesetzt, die im anliegenden Fotoabzug des Straßen- und Hausnummerierungsplanes Blatt 6 eingetragen sind. Das Stadtbaubüro der DAF und die ›Neuland‹ Gemeinnützige Wohnungs- und Siedlungsgesellschaft des DAF mbH. sind bei der Beratung über die Festsetzung der Straßennamen herangezogen 10 Zum Laagberg-Lager ausführlich Manfred Grieger : Wolfsburg-»Laagberg«. In: Wolfgang Benz/Barbara Distel ( Hrsg.): Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Bd. 5. Hinzert, Auschwitz, Neuengamme, München 2007, 551 – 555. 11 »Neue Straßennamen in der Stadt des KdF.-Wagens«. In: Aller-Zeitung, 29. 11. 1938; StA WOB, S 40 1, Entschließung über Straßennamen, 23. 11. 1938.

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worden. Der Beauftragte der NSDAP hat am 24. Mai 1940 seine Zustimmung erteilt.«12 Nach der am 1. August 1939 im Reichsgesetzblatt veröffentlichten »Verordnung über die Benennung von Straßen, Plätzen und Brücken« hatte Steinecke damit formaljuristisch korrekt gehandelt. Das Recht der Benennung einer Straße lag zwar laut dieser Verordnung in der Befugnis der Gemeinden, die NSDAP behielt sich jedoch neben den Ortspolizeibehörden ausdrücklich das Zustimmungsrecht gegenüber der Kommune vor. Inhaltlich orientierten sich die neuen Straßennamen in auffallender Weise an populären Figuren des preußischen Militärs und des Ersten Weltkriegs: Neben den »Klassikern« wie Carl Philipp Gottlieb von Clausewitz (1780 – 1831), Albrecht Theodor Emil Graf von Roon (1803 – 1879) oder Gebhard Leberecht von Blücher (1742 – 1819) standen berühmte Kampfflieger wie der »Adler von Lille« genannte Max Immelmann (1890 – 1916), Oswald Boelcke (1891 – 1916) oder UBoot-Kapitän Otto Weddigen (1882 – 1915), der 1914 drei britische Panzerkreuzer versenkt hatte, Pate für die Neubenennungen. Diese militärischen Bezüge erklären sich aus den Zeitumständen: Anfang Juni 1940 führte das Deutsche Reich gerade seinen Feldzug in Frankreich – was lag also näher, als auf die vermeintlichen Helden der deutschen Militärgeschichte zurückzugreifen? Bemerkenswert ist, dass in der als nationalsozialistische Mustergemeinde geplanten Stadt kein »Adolf-Hitler-Platz« vorgesehen war. Überhaupt sind Straßennamen, die einen explizit nationalsozialistischen Bezug haben, nicht sehr zahlreich. Auffällig sind in dieser Hinsicht die Benennung nach Karl Litzmann (1850 – 1936), einem ehemaligen General der Infanterie, der 1929 in die NSDAP eingetreten war und nach 1933 als Alterspräsident des Reichstages fungierte, sowie die Benennung einer Straße nach Georg von Schönerer (1842 – 1921), einem österreichischen Politiker, der als radikaler Antisemit Einfluss auf den jungen Adolf Hitler (1889 – 1945) ausgeübt hatte. Die nicht explizit nationalsozialistischen Namen erklären sich zum einen dadurch, dass sie den Brückenschlag zum nationalistisch-konservativen Bürgertum ermöglichten. Zum anderen ging man dem Problem aus dem Weg, dass einige Namen durch plötzliche politische Kehrtwendungen des NS-Regimes über Nacht in Misskredit geraten konnten, wie das beispielsweise im Zusammenhang mit Ernst Röhm (1887 – 1934) oder Rudolf Heß (1894 – 1987) der Fall war.

12 StAWOB, HA 11080, Entschließung vom 04. 06. 1940 über die Benennung der Straßen im Stadtteil Schillerteich und Wellekamp.

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Die erste Welle der Umbenennungen Nach dem Einmarsch US-amerikanischer Truppen in die Stadt im April 1945 erfolgte rasch eine Umbenennung von symbolpolitisch kontaminierten Straßen. In Wolfsburg war diese Umbenennung aus den genannten Gründen aber weniger eine »Entnazifizierung« als eine »symbolische Entmilitarisierung«.13 In der Literatur wird die Frage der Umbenennung von Straßen nach 1945 in verschiedene zeitliche Abschnitte eingeteilt, eine erste Phase umfasste die sogenannten »wilden« Umbenennungen unmittelbar nach dem Kriegsende. Oft wird dabei der Eindruck erweckt, dass es sich um spontane Entschlüsse handelt, sich sozusagen schon früh ein demokratischer Aufbruch in Deutschland nachweisen lässt. Am Beispiel von Wolfsburg lässt sich zeigen, dass diese These differenziert betrachtet werden muss. Auch in der Stadt am Mittellandkanal wurde, vor allem aus der nachträglichen Betrachtung heraus, behauptet, dass die Umbenennungen unmittelbar nach dem Kriegsende aus eigener Initiative erfolgt seien: Arthur Bransch (1899 – 1975), CDU-Gründungsmitglied und später langjähriger Oberbürgermeister wies in einer öffentlichen Diskussionsveranstaltung der Volkshochschule im Jahr 1967 – also über zwanzig Jahre nach den Ereignissen – darauf hin, dass die Umbenennung der in der preußisch-militaristischen Tradition benannten Straßen eine Gegenreaktion auf die Aktivitäten der KPD in der Stadt gewesen sei: »Und um denen zu zeigen, daß wir doch versuchten, hier auf demokratischem Wege vorzugehen usw. das war einer der Gründe mit, daß wir damals so schnell diese Straßenumbenennungen ins Gespräch brachten.«14 Soweit der historische Mythos, der ein neuerlicher Beweis für die manchmal selektive Erinnerungsfähigkeit von Zeitzeugen ist. In Wirklichkeit reagierte die Verwaltung nämlich auf eine Anordnung des Landrates des Landkreises Gifhorn. In der einschlägigen Akte des Stadtbauamtes findet sich ein Schreiben des Landrats vom 25. Mai 1945 an – wie es dort hieß – »sämtliche Herren Bürgermeister des Kreises Gifhorn«. Darin wurden die untergeordneten Verwaltungsstellen angewiesen, »sämtliche Strassen und Plätze, die während der Regierung der NSDAP umbenannt [worden] sind, oder Namen von Parteianhängern der NSDAP erhalten, wieder andere Bezeichnun-

13 So argumentiert Gottfried Korff: Mentalität und Monumentalität im politischen Wandel. Zur öffentlichen Namengebung in Wolfsburg und Eisenhüttenstadt. In: Rosmarie Beier (Hrsg.): aufbau west – aufbau ost. Die Planstädte Wolfsburg und Eisenhüttenstadt in der Nachkriegszeit (Buch zur Ausstellung des Deutschen Historischen Museums vom 16. Mai bis 12. August 1997). Ostfildern-Ruit 1997, 227 – 237, 232. 14 StAWOB, EB 11, Vorträge der WOB-Reihe der VHS 1966/67, Referat Schoefer.

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gen zu geben«.15 Für die »Stadt des KdF-Wagens bei Fallersleben«, die genau an diesem Tag erst in »Wolfsburg« umbenannt worden war, hatte diese Anordnung weitreichende Folgen, weil ja nahezu alle Straßen »während der Regierung der NSDAP« erst benannt worden waren. In der Folge beschloss die Stadtverordnetenversammlung in ihrer zweiten Sitzung am 22. Juni 1945 einstimmig die Umbenennung von sechs Straßen: Die Schlieffen- wurde zur Goethestraße, die Richthofen- und Moltke- wurden zur Schillerstraße, die Litzmann- zur Friedrich-Ebert-Straße, die Prinz Eugen- zur Bebelstraße und die Ludendorff- zur Heinrich-Heine-Straße.16 Über die Umbenennung der insgesamt einundzwanzig weiteren Straßen der Stadt wurde noch nicht entschieden, für diese Aufgabe setzte die Stadtverordnetenversammlung einen Sonderausschuss ein.17 Leider sind die Protokolle der Sitzungen dieses Ausschusses nicht überliefert, sodass die Entscheidungen im Einzelnen nicht mehr nachvollzogen werden können. Tatsache ist, dass von den Ausschussmitgliedern weitere Umbenennungen vorgeschlagen wurden, denen von der Stadtverordnetenversammlung auch entsprochen wurde. Anhand einer Liste, die sich in der einschlägigen Akte des Bauamtes befindet, lassen sich diese Straßennamenänderungen nachvollziehen: Im Wesentlichen wurde die preußisch-militaristische Benennung geändert, und durch Schriftsteller oder vom NS-Regime unbelastete Politiker ersetzt.18 Die neuralgischen Benennungen, um die es dann später tatsächlich Streit geben sollte, zeigen beileibe eine gewisse Anlehnung an vermeintlich »kommunistische« Kräfte wie sie Arthur Bransch in seinem Zitat vermutet hat, denn in diesem Zusammenhang waren eine ErichMühsam-, eine Ernst-Toller-, eine Liebknechtstraße entstanden – wobei in letzterem Fall nicht einmal klar war, ob hier Karl (1871 – 1919) oder Wilhelm Liebknecht (1826 – 1900) geehrt werden sollte.

Der Wolfsburger »Straßenwirrwarr« Waren die Umbenennungen unmittelbar nach 1945 noch ohne jegliche Konflikte erfolgt, so flammte acht Jahre später und zwei Jahre nach Gründung der Bundesrepublik im Sommer 1951 die Diskussion um die Straßennamen erstmals lebhaft auf. Erstaunlich ist die Heftigkeit, mit der zu Beginn der 1950er-Jahre um die »richtige« Benennung von Straßen gestritten wurde. Treibende Kraft dieser 15 StAWOB, HA 736, Abschrift eines Schreibens Landrat des Kreises Gifhorn, i.V. Meywald, an sämtliche Herren Bürgermeister des Kreises Gifhorn, 25. 05. 1945. 16 StAWOB, HA 2862, Rats-Sitzungen, 22. 06. 1945 – 04. 03. 1949, Niederschrift über die ordentliche Stadtverordnetenversammlung am 22. Juni 1945. 17 Ebd. 18 StAWOB, HA 736, Straßenverzeichnis der Stadt Wolfsburg [undatiert].

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Straßenumbenennung ist eine problematische Figur der damaligen Stadtgesellschaft: Bernhard Gericke (1908 – 1977), ehemaliger SS-Oberscharführer, noch 1947 wegen »rechtsradikaler Umtriebe« zwei Jahre im Lager Staumühle interniert, 1949 bis 1951 Mitglied des Rats der Stadt, in den 1950er-Jahren Mitbegründer von Parteien des rechten Spektrums wie der Sozialistischen Reichspartei (SRP) oder der »Nationalen Arbeiter-Partei« (NAP), Stadtarchivar und 1957 bis 1965 sogar Leiter der Pressestelle der Stadt – an diesen Stationen ist zu erkennen, dass es sich um einen schillernden Lebenslauf handelt, der zugleich ein Paradebeispiel für die Kontinuität verschiedener Biografien in der Stadt Wolfsburg nach 1945 ist. Ausgangspunkt des Streits war eine Ratssitzung vom 22. Juni 1951, in der Gericke das Wort ergriff und darauf hinwies, »daß es nicht nur der Wunsch der Flüchtlinge, sondern auch ein ernsthaftes Anliegen aller Deutschen ist, daß die Gebiete östlich der Oder und Neiße nicht verloren gehen dürften«. Der Erinnerung an die Ostgebiete und an die deutsche Teilung sollte symbolisch in Form von Straßennamen Ausdruck gegeben werden und Gericke forderte eine Danziger, Berliner, Breslauer, Stettiner und Königsberger Straße in Wolfsburg. Zugleich nutzte er die Gelegenheit, darauf hinzuweisen, dass nach 1945 die Straßenbenennung in »einseitiger Weise« erfolgt sei. Bestimmte Namen hielt Gericke nicht mehr für erinnerungswürdig und forderte deswegen die Umbenennung der Ernst-Toller- in Kleiststraße, der Erich-Mühsam- in Gustav-FreytagStraße, der Liebknecht- in Friedrich-Ebert-Straße und der Friedrich-Ebert- in Hindenburgstraße.19 Dieser Vorstoß ließ die Wogen der politischen Auseinandersetzung hochschlagen, im Protokoll der Ratssitzung ist von einer »lebhafte[n] Debatte« die Rede, an der sich alle Ratsmitglieder beteiligten.20 Das Gremium nahm die Vorschläge Gerickes mit Stimmenmehrheit zunächst an, bei der folgenden Sitzung einige Wochen später kam es aber zu erneuten Diskussionen und zur Rücknahme der kurz zuvor gefassten Beschlüsse.21 In der lokalen Presse tobte mittlerweile ein Kampf um die öffentliche Meinung, in dem vom Wolfsburger »Straßenwirrwarr« die Rede war.22 Im Zusammenhang mit den Straßennamen kochten die Emotionen hoch. In einem Artikel 19 StAWOB, HA 2862, Rats-Sitzungen, 21. 06. 1949 – 07. 11. 1952, Niederschrift über die ordentliche Stadtverordnetenversammlung am 22. Juni 1951. 20 Ebd. 21 StAWOB, HA 2862, Rats-Sitzungen, 21. 06. 1949 – 07. 11. 1952, 7. öffentliche Sitzung des Rates der Stadt am 20. Juli 1951. 22 »Der Straßenwirrwarr«. In: Wolfsburger Nachrichten, 29. 06. 1951, 5; siehe auch: »Unsere Leser haben das Wort. ›Saisonbedingte‹ Straßennamen«. In: Wolfsburger Nachrichten, 16. 07. 1951, 6; »Neue Vorschläge für Straßennamen. Erwiderung von Dr. Gericke auf die Stellungnahme der SPD«. In: Wolfsburger Nachrichten, 18. 07. 1951, 4.

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der Tagespresse zur Ratsdebatte heißt es: »Im Publikum war der Tumult zeitweise so stark, daß Bürgermeister Bransch schließlich mit Saalverweisung drohte.«23 Am Ende dieser Diskussionen stand ein Kompromiss: Liebknecht, Ernst Toller (1893 – 1939) und Erich Mühsam (1878 – 1934) verschwanden aus dem Wolfsburger Stadtplan, der Forderung nach einer Hindenburgstraße wurde jedoch nicht entsprochen.

Blumen, Ärzte und der »Deutsche Osten« Mit dem explosiven Wachstum der Stadt in den 1950er- und 1960er-Jahren stieg der Bedarf an Straßennamen, und vielfach ging es in dieser Zeit um die Benennung ganzer Viertel. In der Folge standen Straßennamen immer wieder auf der Agenda des Rates: Im Oktober 1952 beispielsweise beschloss der Rat einstimmig einundzwanzig neue Straßennamen, die an Tierarten, Pflanzen und topografische Begebenheiten angelehnt waren – vermutlich auch als Reaktion auf die intensiven Diskussionen ein Jahr zuvor.24 Im Mai 1955 wurden für zwei Bauabschnitte um das neu gebaute Stadtkrankenhaus auf dem Klieversberg ausschließlich die Namen berühmter Mediziner vorgeschlagen und angenommen – wobei man sich auf diese Weise eine »Sauerbruch-Straße« einhandelte, die wegen der 1937 erfolgten Berufung des Namensgebers in das Reichsforschungsamt, das an Menschenversuchen mit KZ-Häftlingen beteiligt war, heute umstritten ist.25 Bemerkenswert ist die Straßenbenennung nach ehemaligen deutschen Siedlungsgebieten im Osten, wie sie Gericke in der Auseinandersetzung von 1951 gefordert hatte.26 Bereits 1950 hatten die Straßen in der neu bebauten »Laagberg-Siedlung« Namen nach den deutschen Ostgebieten (Schlesierweg, Pommernweg, Ostpreußenweg, Sudetenweg, Warthelandweg) erhalten. Der Rat der Stadt hatte damit eigentlich bereits solche Straßennamen vergeben, wie sie 23 »Nur drei Straßen umbenannt. Kleist, Fichte und Gustav Freytag für Ernst Toller, Liebknecht und Erich Mühsam«. In: Wolfsburger Nachrichten, 23. 07. 1951, 6. 24 StAWOB, HA 8944, Abschrift des Auszugs aus der Niederschrift der 19. Sitzung des Rates der Stadt vom 31. 10. 1952, Tagesordnungspunkt 7 »Benennung von Straßen und Wegen«. 25 StAWOB, HA 8944, Ordnungsamt an Verwaltungsausschuss, 05. 05. 1955. 26 Siehe dazu in einem allgemeinen Zusammenhang Tobias Weger : Von Adlern, Elchen und Greifen. Die »verlorene Heimat« auf öffentlichen Denkmälern und in Straßennamen sowie auf privaten Grabstätten in Nordwestdeutschland. In: Elisabeth Fendl (Hrsg.): Zur Ästhetik des Verlusts. Bilder von Heimat, Flucht und Vertreibung. Referate der Tagung des JohannesKünzig-Institutes für ostdeutsche Volkskunde 8. bis 10. Juli 2009. Münster u. a. 2010, 193-219. Für das Beispiel Münster : Friedrich-Carl Schultze-Rhonhof: Straßennamen aus Kulturräumen der Vertriebenen. In: Gesellschaft für Ostdeutsche Kulturarbeit e.V. (Hrsg.): Neuanfang in Münster. Eingliederung von Flüchtlingen und Vertriebenen in Münster von 1945 bis heute. Münster 1996, 299 – 308.

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später in einer Richtlinie des Deutschen Städtetages aus dem Jahr 1953 gefordert wurden, wonach in jeder Gemeinde »wenigstens eine bedeutsame Straße oder ein bedeutsamer Platz (…) einen an Ostdeutschland erinnernden Namen tragen (Namen einer ostdeutschen Persönlichkeit, Namen eines ostdeutschen Ortes oder einer ostdeutschen Landschaft)« sollte.27 Als im September des Jahres 1954 die Wege und Straßen im neu gebauten Stadtteil Wohltberg benannt werden mussten, legte der Rat noch einmal fünfundzwanzig Namen fest, die alle nach Städten oder Landschaften aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten benannt sind. Wolfsburg bekam also – wie unzählige andere Städte der Bundesrepublik – eine Marienburger, Danziger, Allensteiner, Rigaer und Beuthener Straße.28 Mit der Gründung der beiden deutschen Staaten im Jahr 1949 war die Stadt Wolfsburg an den östlichen Rand der Bundesrepublik gerückt. Die besondere geografische Situation fand auch in den Straßenbenennungen ihren Ausdruck: Am 31. März 1957 wurde die »Berliner Brücke« eingeweiht, eine große NordSüd-Verbindung, die sowohl über die Bahngleise als auch über den Mittellandkanal führt und die Stadt mit dem Schloss verbindet. Der Akt der Einweihung wurde groß gefeiert: Anwesend waren neben Bundesverkehrsminister Hans-Christoph Seebohm (1903 – 1967) auch zahlreiche Ehrengäste aus Berlin, unter anderem der Bezirksbürgermeister von Berlin-Kreuzberg, Willy Kreßmann (1907 – 1986). In der Festrhetorik wurde immer wieder auf die besondere Verbundenheit zwischen Wolfsburg und der ehemaligen Reichshauptstadt hingewiesen. In der Ansprache des Bundesverkehrsministers beim Durchschneiden des Bandes hieß es: »Diese Brücke überspannt die Wege von Ost und West und zeigt in ihrer Richtung auf Berlin. (…) Herz und Willen müssen die Kraft des Verstandes mobilisieren und zusammenführen, was einen gemeinsamen Herzschlag und nur das eine Ziel hat, Ost und West zu vereinen und frei zu machen, was unfrei ist.« Oberstadtdirektor Wolfgang Hesse (1913 – 1999) betonte, dass diese Brücke ein zukunftsträchtiges Werk sein möge, denn »42 Prozent aller Wolfsburger stammen aus dem Osten. Sie schauen dorthin, wohin der Brückenschlag symbolisch geht.«29 Interessante Einblicke in eine erneute Änderung der Verfasstheit des kollektiven Gedächtnisses in Wolfsburg gewährt die Neubenennung der Straßen im 27 »Richtlinien für die Pflege ostdeutscher Kulturwerte und für die kulturelle Betreuung von Heimatvertriebenen«, abgedruckt in: Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung (Hrsg.): In der Obhut Bayerns. Sudeten- und ostdeutsche Patenschaften im Freistaat Bayern. München 1989, 29 – 31. 28 StAWOB, HA 736, Abschrift einer Verfügung des Oberstadtdirektors vom 08. 09. 1954. 29 Die Zitate finden sich in der Berichterstattung der lokalen Presse: »Berliner Brücke für den Verkehr frei. Der Verkehrsminister zerschnitt das Band – Bekenntnis zu Berlin«. In: Wolfsburger Nachrichten, 01. 04. 1957, 10; zu den technischen Details der Brücke: Peter Koller : Berliner Brücke in Wolfsburg. In: Hildesheimer Bauwarte. Zeitschrift des Altherrenverbandes der Staatsbauschule Hildesheim 1957, 5 – 7.

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Stadtteil Detmerode, dessen erste Bauabschnitte 1963 fertiggestellt wurden. Hier zeigt sich, dass Wolfsburg Anfang der 1960er-Jahre endgültig eine Annäherung an Entwicklungen der Bundesrepublik vollzogen hat: Als sichtbares Zeichen der Westbindung wurde die Hauptstraße nach dem ermordeten US-amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy (1917 – 1963) benannt. Für die elf Straßen des 1. Quartiers in Detmerode wurden weitere nationale und internationale Politikernamen vorgeschlagen und angenommen, darunter der französische Politiker Robert Schuman (1886 – 1963), der schwedische Generalsekretär der UN, Dag Hammarskjöld (1905 – 1961), der Partei- und Fraktionsvorsitzende der SPD Kurt Schumacher (1895 – 1952) oder der Zentrumspolitiker und Mitbegründer der CDU Karl Arnold (1901 – 1958). Diese Beispiele zeigen zudem, wie sorgfältig politisch austariert diese Neubenennungen waren.30 Bemerkenswert sind die Diskussionen, die im Rat über die Straßenbenennungen geführt wurden. Demnach hatte der Kulturausschuss zunächst empfohlen, in allen drei Quartieren Detmerodes »die Straßen, Wege und Plätze nach mitteldeutschen Städten zu benennen«. Der Verwaltungsausschuss folgte dieser Anregung nicht und empfahl – wie es der Rat dann auch beschloss – die Straßen im 1. Quartier von Detmerode »nach verdienten in- und ausländischen Politikern zu benennen, die nach 1945 allgemeine Anerkennung in Deutschland und der westlichen Welt gefunden haben«.31 Ende der 1960er-Jahre wurden dann die Mitglieder des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus als Namenspatrone entdeckt: Im Dezember 1966 beschloss der Rat die Benennung des Alfred-Delp-Weges und des GeschwisterScholl-Rings. Gegen die Benennung einer Ringstraße nach Claus Schenk Graf von Stauffenberg (1907 – 1944) regte sich allerdings Widerstand im Rat. Im Protokoll der Sitzung vom 12. April 1967 hieß es, dass sich Ratsherr Anton Piwczyk (1893 – 1976, CDU) gegen diese Benennung einer Straße nach Stauffenberg wandte, weil er »dessen Bedeutung (…) für umstritten hält«. Piwczyk stand mit seiner Meinung aber allein und fand dafür Mitte der 1960er-Jahre keine Mehrheit mehr im Rat der Stadt.32 Allerdings erhielten sich in Wolfsburg lokale Besonderheiten, die wiederum auf die Ambivalenzen der Entwicklung in dieser Stadt hinweisen und die These einer weitgehenden Anpassung an bundesrepublikanische Entwicklungen im Hinblick auf das kollektive Gedächtnis relativieren. Sie betreffen zwei »Stadtheilige«, die eng mit der Geschichte Wolfsburgs und seiner Entwicklung verbunden sind – Ferdinand Porsche (1875 – 1951) und Heinrich Nordhoff (1899 – 30 StAWOB, HA 8944, Auszug aus der Niederschrift über die 46. Sitzung des Rates der Stadt am 9. 12. 1963. 31 Ebd. 32 StAWOB, HA 8944, Auszug aus der Niederschrift über die öffentliche Sitzung des Rates der Stadt am 12. 4. 1967.

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Abbildung 2: »Urbanität durch Dichte« – der Wolfsburger Stadtteil Detmerode in einer Luftbildaufnahme aus dem Jahr 1968, Foto: Wolfgang Muthesius

1968): 1951 erfolgte die Umbenennung der Rothenfelder Straße in Porschestraße, 1968 wurde die Fallerslebener Straße in Heinrich-Nordhoff-Straße umbenannt.33 In beiden Fällen wurden die Beschlüsse des Rates unmittelbar nach dem Ableben der Namenspatrone einstimmig gefasst, die Erinnerungswürdigkeit der historischen Figuren »Ferdinand Porsche« und »Heinrich Nordhoff« war zum Zeitpunkt der Umbenennung unumstritten. Diskussionen um eine etwa fehlende »Gedenkwürdigkeit« Nordhoffs gab es nie, obwohl die Biografie des ehemaligen Wehrwirtschaftsführers durchaus Anknüpfungspunkte für eine kritische Überprüfung gegeben hätte.34 Ähnliches gilt für Ferdinand Porsche: Der Bezug auf den »genialen Schöpfer des Volkswagens« sollte erstmals in den 1980er-Jahren, verbunden mit den Anfängen der Aufarbeitung der NS-Geschichte durch eine historisch-kritische Stadtöffentlichkeit, diskutiert werden.35 33 Zu Porsche siehe: StAWOB, HA 2862, 21. 06. 1949 – 07. 11. 1952, Protokoll der 1. Sitzung des Rates der Stadt am 30. 01. 1951; Zu Nordhoff siehe StAWOB, HA 8944, Band 2, Abschrift einer Verfügung des Oberstadtdirektors, 18. 04. 1968. 34 Siehe zur Biografie Nordhoffs unter Berücksichtigung zahlreicher neuer Quellen wie dessen Spruchkammerakte den einschlägigen Abschnitt in Claudia Nieke: Volkswagen am Kap. Internationalisierung und Netzwerk in Südafrika 1950 bis 1966. Wolfsburg 2010, 10-24. 35 Siehe zur Porsche-Diskussion zuletzt Ulrich Viehöver: Ferdinand Porsche. Hitlers Lieb-

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Wolfsburger Straßennamen als das Besondere und das Allgemeine Die Untersuchung der Benennungspraxis von Straßen in der Stadt Wolfsburg hat deutlich gemacht, dass mit den Straßenschildern versucht wird, Erinnerungen räumlich zu verankern. Der Blick auf ein Straßenschild hat nur auf den ersten Blick eine orientierende Funktion, bei genauerem Hinsehen kann der Name einer Straße ein ganzes Bündel von Assoziationen und Bedeutungen transportieren. Straßenbenennungen sind eine im Kern kommunale Aufgabe, dementsprechend ist auf der Überlieferungsebene eines Stadtarchivs umfangreiches Aktenmaterial zu diesem Thema vorhanden. Lokale Untersuchungen zeigen dabei, dass Erinnerungsspuren von nationalen Konjunkturen abhängig sind. Die Bezugspunkte des kollektiven Gedächtnisses verändern sich, und damit verändern sich auch die historischen Bezüge der Straßennamen. Der lokale Raum der Erinnerung ist sozial erzeugt, er erhält genau die Bedeutung, die ihm die Akteure verleihen. Deutungseliten wie Heimatforscher, Stadtarchivare, oder Kommunalpolitiker, die im Kulturausschuss und im Rat sitzen – sie alle versuchen, das kollektive Gedächtnis ihrer Stadt zu formen und den Prozess der Erinnerung zu steuern. Nicht selten kommt es dabei zu Konflikten: Der Streit um die »richtige« Benennung einer Straße kann rasch eskalieren und – wie die Wolfsburger Beispiele gezeigt haben – zu aufgeregten Diskussionen innerhalb der Stadtgesellschaft führen. Straßenbenennungen sind in vielen Fällen aber auch völlig ohne Auseinandersetzungen und Konflikte abgelaufen. Im vorliegenden Fall wird an der Praxis der Straßenbenennung deutlich, dass in der 1938 gegründeten »Stadt des KdF-Wagens« eine ganz besondere Erinnerungslandschaft begründet wurde. Die Stadt besaß keinen historischen Kern und hatte aus diesem Grund wenig Möglichkeiten, auf gewachsene Straßennamen zurückzugreifen. Im Laufe der Nachkriegsentwicklung hat dann aber eine Angleichung an die Benennungspraxis der Bundesrepublik stattgefunden. Zugleich wirken – wie die beiden Beispiele Porsche und Nordhoff zeigen – bis in die heutige Zeit lokale Besonderheiten fort. Wolfsburg ist damit der Sonderfall und das Allgemeine zugleich, ein Paradigma, das sich in vielen Bereichen der Geschichte dieser Stadt nachweisen lässt.

lingskonstrukteur, Wehrwirtschaftsführer und Kriegsgewinnler. In: Hermann G. Abmayr (Hrsg.): Stuttgarter NS-Täter. Vom Mitläufer bis zum Massenmörder. Stuttgart 2009, 238-267; zur historischen Aufklärungsbewegung in Wolfsburg: Birgit Schneider-Bönninger: Historische Aufklärung in Wolfsburg 1983 – 1998. Braunschweig 2005.

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Abbildung 3: »Ferry« Porsche und Heinrich Nordhoff (re.) vor dem Porsche-Denkmal 1955, Foto: Willi Luther

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»Tor zur Freiheit« – »Schauplatz erschütternder Tragödien«. Die Lager Friedland und Uelzen in der lokalen, niedersächsischen und bundesdeutschen Erinnerungskultur

1.

Einleitung

Im September 1945 richtete die britische Militärverwaltung beinahe zeitgleich Flüchtlingsdurchgangslager in Friedland und Uelzen ein.1 Gemeinsam mit anderen Provisorien fiel dem Personal in beiden Lagern die Aufgabe zu, die unzähligen Menschen zu registrieren, zu betreuen und weiterzuleiten, die im Nachgang des Zweiten Weltkrieges die innerdeutschen Zonengrenzen überquerten. Zu ihnen zählten heimkehrende Evakuierte, ehemalige Soldaten und bisherige Angehörige der deutschen Besatzungsbehörden sowie Personen, die infolge des Krieges fern der Heimat gestrandet waren. Diese Gruppen überquerten die Zonengrenze zumeist von Ost nach West, in sinkender Zahl gingen aber auch Menschen von West nach Ost. Die große Mehrheit der in den Lagern Betreuten waren jedoch deutsche Staatsbürger oder Angehörige deutscher Minderheiten. Diese Menschen waren seit der Spätphase des Krieges vor der heranrückenden Roten Armee geflohen oder sahen sich »wilden Vertreibungen« auf lokaler Ebene oder organisierten Vertreibungen auf der Grundlage des Potsdamer Abkommens ausgesetzt.2 Bis 1947 wurden in beiden Lagern jeweils rund 1,3 Millionen Menschen registriert. In den folgenden Jahren entwickelten sich beide Institutionen mehr und mehr auseinander. Seit 1947 war Uelzen-Bohldamm für die Aufnahme von Menschen zuständig, die aus der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und später 1 Die einzige Monografie über das Lager Friedland ist verwaltungsgeschichtlich angelegt und konzentriert sich auf die ersten zehn Jahre der Einrichtung (Dagmar Kleineke: Entstehung und Entwicklung des Lagers Friedland 1945 – 1955. Göttingen 1992). 2 Hierzu siehe Ray M. Douglas: »Ordnungsgemäße Überführung«. Die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg. 2. Aufl. München 2012; Matthias Beer : Umsiedlung, Flucht und Vertreibung der Deutschen als internationales Problem. Zur Geschichte eines europäischen Irrwegs. 2. Aufl. Stuttgart 2005. Zu den Flüchtlingen und Vertriebenen zählten neben deutschen Staatsbürgern auch deutsche Minderheiten mit anderer Staatsbürgerschaft. Viele hatten überhaupt erst durch die von der Besatzungsherrschaft geführten Volkstumslisten die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten.

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der DDR in den Westen kamen. Vor Ort entschieden Aufnahmekommissionen darüber, wer als politischer Flüchtling in der britischen Zone und später der Bundesrepublik Anerkennung fand und damit Anspruch auf Wohnraum sowie staatliche Hilfsleistungen erhielt, und wem dieser Status aufgrund anderer, etwa wirtschaftlicher Zuwanderungsmotive verwehrt wurde. Bis zu seiner Schließung im Jahr 1963 durchliefen etwa 765.000 SBZ/DDR-Flüchtlinge das Lager in Uelzen. Friedland hingegen betreute auch in den folgenden Jahren vorwiegend jene, die im Kontext von »Flucht und Vertreibung« in die westlichen Besatzungszonen beziehungsweise die Bundesrepublik kamen. Seit 1950 registrierte das Lager Aussiedler, die die Bundesrepublik anfangs im Rahmen von Familienzusammenführungen aufnahm. Von den Flüchtlingen und Vertriebenen unterschied sich diese Gruppe vor allem durch ihre verzögerte und zunehmend regulierte, internationalen Abkommen folgende Ausreise aus Ost- und Ostmitteleuropa.3 Darüber hinaus war Friedland seit Mitte 1946 Durchgangslager für mehr als 500.000 entlassene Kriegsgefangene und wurde bald zur einzigen Aufnahmeeinrichtung dieser Gruppe. Trotz ihrer strukturellen und funktionalen Gemeinsamkeiten unterschieden sich Friedland und Uelzen in ihrer öffentlichen Wahrnehmung fundamental. Friedland entwickelte sich innerhalb kurzer Zeit zu einem symbolisch vielfältig aufgeladenen Ort, der als »Tor zur Freiheit« bundesweit bekannt und insbesondere in den 1950er-Jahren das lokalisierbare Sinnbild für Flucht, Vertreibung und das Schicksal der Kriegsgefangenen war. In dieser Hinsicht bot das Lager in den kommenden Jahrzehnten Anknüpfungspunkte für vielfältige erinnerungskulturelle Bezüge. Das Konzept der Erinnerungskultur bezeichnet den »formalen Oberbegriff für alle denkbaren Formen der bewussten Erinnerung an historische Ereignisse, Persönlichkeiten und Prozesse«4 und greift damit auf Maurice Halbwachs’ (1877 – 1945) Überlegungen zum »kollektiven Gedächtnis« zurück.5 Bezogen auf die Frage, wie sich diese Erinnerung formiert, helfen die Konzeptionen des »kommunikativen« und des »kulturellen Gedächtnisses«.6 Das kulturelle Gedächtnis umfasst nach Jan Assmann (*1938) den »jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümlichen Bestand an Wiedergebrauchs-Tex3 Bis heute wurden mehr als zwei Millionen Aussiedler und Spätaussiedler in Friedland betreut. 4 Christoph Cornelißen: Was heißt Erinnerungskultur? Begriff – Methoden – Perspektiven. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 10 (2003), 548 – 563, 555. 5 Maurice Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis. Frankfurt/Main 1985. 6 Harald Welzer : Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München 2002; Jan Assmann: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: Ders./Tonio Hölscher (Hrsg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt/Main 1988, 9 – 19. Zu den methodischen Problemen angesichts der konzeptionellen Überschneidungen dieser und der weiter unten eingeführten theoretischen Konzepte siehe: Carola Sachse/Edgar Wolfrum: Einleitung. In: Regina Fritz/Carola Sachse/Edgar Wolfrum (Hrsg.): Stürzende Denkmäler. Nationale Selbstbilder postdiktatorischer Gesellschaften in Europa. Göttingen 2008, 7 – 35, 14 – 16.

Die Lager Friedland und Uelzen in der Erinnerungskultur

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ten, -Bildern, und -Riten«, mit denen diese »ihr Selbstbild stilisiert und vermittelt«.7 Als »Fixpunkte« des kulturellen Gedächtnisses versteht Assmann »schicksalhafte Ereignisse der Vergangenheit, deren Erinnerung durch kollektive Formung (…) und institutionalisierte Kommunikation (…) wachgehalten wird«.8 Ein solcher Fixpunkt lässt sich auch als Erinnerungsort verstehen, den Pierre Nora (*1931) als »einen materiellen wie auch immateriellen, langlebigen, Generationen überdauernden Kristallisationspunkt kollektiver Erinnerung und Identität« definiert.9 Wenngleich Friedland in den letzten Jahrzehnten an Aufmerksamkeit eingebüßt hat und beispielsweise nicht in die von Etienne FranÅois (*1943) und Hagen Schulze (*1943) herausgegebenen Sammelbände Deutsche Erinnerungsorte aufgenommen wurde,10 hat sich das Lager zweifellos zu einem solchen Erinnerungsort entwickelt. Insbesondere die zu Ikonen gewordenen Bilder von der »Heimkehr der Zehntausend« sind bis heute im öffentlichen Bewusstsein eng mit Friedland verbunden.11 Die Entwicklung des Lagers Uelzen steht dazu in einem starken Kontrast.12 Obschon die umgangssprachlich als Bohldammlager bezeichnete Institution seit Ende der 1940er-Jahre mitunter als »Tor zur Freiheit« charakterisiert wurde,13 überwogen Zuschreibungen wie jene der Welt, die die Aufnahmebaracke des Lagers als »Schauplatz erschütternder Tragödien« bezeichnete.14 Als die in Uelzen erscheinende Allgemeine Zeitung der Lüneburger Heide (AZ) im März 1963 anlässlich der Schließung auf die Geschichte des 7 Assmann: Kollektives Gedächtnis (Anm. 6), 15. 8 Ebd., 12. 9 Etienne FranÅois/Hagen Schulze: Einleitung. In: Dies. (Hrsg.): Deutsche Erinnerungsorte. Bd. 1. München 2001, 9 – 26, 18; Pierre Nora (Hrsg.): Erinnerungsorte Frankreichs. München 2005. 10 FranÅois/Schulze: Deutsche Erinnerungsorte. 3 Bde. München 2001 (Anm. 9). 11 Vgl. auch Wilfried F. Schoeller : Mythos der Heimkehr. Das Grenzdurchgangslager Friedland. In: Ders.: Deutschland vor Ort. Geschichten, Mythen, Erinnerungen. München-Wien 2005, 296 – 311, 303. Birgit Schwelling hat das Lager am Beispiel der Friedland-Gedächtnisstätte in die erinnerungspolitischen Diskurse der Nachkriegsgesellschaft eingeordnet. Birgit Schwelling: Gedenken im Nachkrieg. Die »Friedland-Gedächtnisstätte«. In: Zeithistorische Forschungen 5 (2008), Heft 2, 189 – 210; Sascha Schießl: Das Lager Friedland als »Tor zur Freiheit«. Vom Erinnerungsort zum Symbol bundesdeutscher Humanität. In: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 84 (2012), 97 – 122. 12 Zum Flüchtlingsdurchgangs- und Notaufnahmelager Uelzen-Bohldamm existiert bislang nur eine kleine Monografie. Christine Böttcher : Das Notaufnahmelager Uelzen-Bohldamm 1945 – 1963. Uelzen 2009. Zum Thema SBZ/DDR-Flucht im weiteren Sinne sind zu nennen: Helge Heidemeyer : Flucht und Zuwanderung aus der SBZ/DDR 1945/1949 – 1961. Die Flüchtlingspolitik der Bundesrepublik bis zum Bau der Berliner Mauer. Düsseldorf 1994; Volker Ackermann: Der »echte« Flüchtling. Deutsche Vertriebene und Flüchtlinge aus der DDR. Osnabrück 1995; Damian van Melis/Henrik Bispinck: »Republikflucht.« Flucht und Abwanderung aus der SBZ/DDR 1945 – 1961. München 2006. 13 Uelzen – Das Tor zur Freiheit. In: Neuer Vorwärts, 02. 10. 1948. 14 Stadt der vergeblichen Hoffnungen. In: Die Welt, 04. 07. 1949.

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Lagers zurückblickte und dieses ein »Tor zur Freiheit« nannte, geschah dies eher in einem mild gefärbten Rückblick aus regionaler Perspektive.15 Außerhalb der Region verschwand Uelzen-Bohldamm trotz seiner bundesweiten Bedeutung fast gänzlich aus dem öffentlichen Bewusstsein. Zweifelsohne erschwerte die durch Mauerbau und stark nachlassende Flüchtlingszahlen bedingte Schließung einen Eingang Uelzen-Bohldamms in das kulturelle Gedächtnis. Auch wenn, wie Christoph Cornelißen (*1958) bemerkt, eine strikte Trennung zwischen kulturellem und kommunikativen Gedächtnis wenig zielführend ist,16 scheint Uelzen – vergegenwärtigt man sich seine lokale Rezeption – dennoch eher in letzterem verankert zu sein, das nach Welzer individuelle oder gruppenspezifische, nur wenige Generationen bewahrte Erfahrungen umfasst.17 Angesichts der ähnlichen Ausgangslage und der funktionalen Gemeinsamkeiten ist allerdings erklärungsbedürftig, warum Friedland zu einem bundesdeutschen Erinnerungsort werden konnte, während Uelzen langfristig allenfalls im kommunikativen Gedächtnis fortlebte. Hierbei stellt sich auch die Frage nach dem Erinnerungstransfer – etwa im Verhältnis zwischen dem narrativ geprägten kommunikativen Gedächtnis im regionalen Raum und der Verankerung eines Erinnerungsortes im nationalen kulturellen Gedächtnis. Die Genese Friedlands zu einem vielschichtigen Erinnerungsort der Bundesrepublik und UelzenBohldamms zu einer höchstens im lokalen Gedächtnis bewahrten, aber insgesamt kaum erinnerten Einrichtung öffnet die Perspektive für die Entstehung und Ausgestaltung von Erinnerungsorten auf lokaler, regionaler oder nationaler Ebene sowie deren jeweiligen Querverbindungen. Unter Verweis auf die Existenz einer subnationalen Ebene des kollektiven Gedächtnisses räumen FranÅois/ Schulze ein, in ihren Bänden »Erinnerungsebenen zu wenig [zu] berücksichtigen, die in der Wirklichkeit in Wechselbeziehung zu ›nationalen‹ Erinnerungen stehen und vielleicht sogar wirkungsvoller als diese sind«.18 Noch vor generationsspezifischen, sozialen und familiären Dimensionen benennen sie lokale und regionale Aspekte der Erinnerung. Folgt man dieser Argumentation, ist für viele deutsche Erinnerungsorte einerseits deren nationale Dimension zu berücksichtigen. Andererseits kann sich kollektives Erinnern auch auf regionaler und lokaler Ebene etablieren.19 Während der Erinnerungsort den abstrakten oder konkreten Rückgriff in die Vergangenheit bezeichnet, stellt ein geografisch 15 Uelzen war für viele das Tor zur Freiheit. In: Allgemeine Zeitung der Lüneburger Heide, 28. 03. 1963. 16 Cornelißen: Erinnerungskultur (Anm. 4). 17 Welzer : Kommunikatives Gedächtnis (Anm. 6). 18 FranÅois/Schulze (Anm. 9), 23. 19 Vgl. hierzu Janina Fuge/Rainer Hering/Harald Schmid (Hrsg.): Das Gedächtnis von Stadt und Region. Geschichtsbilder in Norddeutschland (Hamburger Zeitspuren 7). München 2010.

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begrenzter Gedächtnisraum vornehmlich eine Kontaktzone dar, in der die verschiedenen beteiligten Akteure die Erinnerung unmittelbar generieren, tradieren und verhandeln.20 Am Beispiel Friedlands und Uelzens zeigt sich nun, wie sehr verschiedene Akteure mit spezifischen erinnerungspolitischen Programmen auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene die öffentliche Wirkung beider Einrichtungen mitprägten. Zudem erhellt sich, welche Wechselwirkungen zwischen der Aufnahme der dort betreuten Gruppen, den politischen Maßnahmen und der öffentlichen Wahrnehmung der Einrichtungen bestanden.

2.

Von Provisorien zu zentralen Schleusen zwischen Ost und West. Die Wahrnehmung Friedlands und Uelzens in der frühen Nachkriegszeit

In der unmittelbaren Nachkriegszeit waren die Lager Uelzen und Friedland wie zahlreiche andere provisorische Registrierungsstellen, die im Herbst 1945 entlang der Zonengrenzen errichtet wurden, Steuerungs- und Kontrollinstrumente der Besatzungsmächte. Sie dienten dazu, möglichst alle Personen zu registrieren, zu versorgen und weiterzuleiten, die zu jener Zeit in großer Zahl die Zonengrenzen überquerten. Als die Vertriebenenströme schließlich nachließen, wurden Friedland und Uelzen im Gegensatz zu vielen anderen Lagern nicht geschlossen, sondern wandelten sich zu den zentralen Schleusen zwischen Ost und West. In diesen Einrichtungen übernahmen die westdeutschen Behörden eine immer größere Verantwortung. Beide Einrichtungen hatten in jenen Jahren aber nicht allein funktionale Bedeutung, sondern standen zudem im Fokus öffentlicher Debatten. Obwohl Friedland und Uelzen mit ihren Aufgaben mittelbar auf die nationalsozialistische Bevölkerungspolitik und den Vernichtungskrieg in Ost- und Südosteuropa verwiesen, deren Folgen in beiden Lagern zu bewältigen versucht wurden, war die Perspektive der Zeitgenossen vor allem vom Nachkriegselend, der alliierten Besatzung und dem eigenen Schicksal – etwa als Flüchtlinge, Vertriebene, Ausgebombte und Internierte – dominiert. Nicht Holocaust, Besatzungs- und Rassenpolitik im östlichen Europa, sondern deutsche Opfer des Krieges und seiner Folgen bestimmten die Wahrnehmung in den westlichen Besatzungszonen. Diese vielschichtigen Viktimisierungsdiskurse, die die westdeutsche Erinnerungskultur bis in die späten 1950er-Jahre dominierten, fanden in beiden Institutionen – in Friedland dabei in weit stärkerem 20 Janina Fuge/Rainer Hering/Harald Schmid: Norddeutsche Erinnerungsräume. Einleitende Gedanken. In: Dies.: Gedächtnis (Anm. 19), 7 – 14, 10. Dabei ist stets zu beachten, dass »Erinnerungsorte zwar bedeutungsnah (…), jedoch längst nicht identisch mit dem Begriff ›Gedächtnisraum‹« sind (Ebd., 9. Eigene Hervorhebung A.H./S.S.).

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Maße als in Uelzen – ihren Niederschlag.21 Insbesondere in Friedland wurden, so lässt sich die zeitgenössische Sicht zuspitzen, deutsche Opfer betreut. Andere Orte, für die dies ebenfalls zutraf, nämlich die Flüchtlingslager, die bald nach Kriegsende in den meisten Städten und Gemeinden entstanden waren, um die Wohnungslosen provisorisch zu beherbergen, wurden allerdings im lokalen Umfeld vorwiegend kritisch beäugt. Dies war auch auf die oft mangelhaften Wohn- und Lebensverhältnisse und die prekären hygienischen Zustände zurückzuführen, denen die Flüchtlinge in den Lagern und Notquartieren, bedingt durch die allgegenwärtigen Mängel der Nachkriegszeit, in der Regel ausgesetzt waren.22 Von diesen ambivalenten, zumeist nur lokal beachteten Einrichtungen hob sich das Lager Friedland in der zeitgenössischen Wahrnehmung schon früh ab. Die in Frankfurt am Main erscheinende Abendpost bezeichnete das Lager an Heiligabend 1947 als »Tor der Hoffnung«,23 Die Welt schrieb über die »Tür im Eisernen Vorhang«,24 während die Nürnberger Wochenend 1949 von einer »Drehscheibe menschlicher Schicksale« sprach.25 Die Hannoversche Allgemeine Zeitung (HAZ) fragte in demselben Jahr emphatisch: »Beginnt hinter Friedland der Frieden?« Das Blatt erklärte, dieser besondere Ort entziehe sich »vielleicht sogar jeder Schilderung«, um diesen sodann aber mit kräftigen Bildern zu beschreiben. Aus der Luft müsse das Lager einem Beobachter »wie ein rostroter Fleck erscheinen. Ein Fleck, wie er bei freihängenden Kruzifixen dort entsteht, wo dem Gekreuzigten die Nägel durch die Handwurzeln oder die Füße getrieben sind«.26 Auch wenn der Vergleich mit den Wundmalen Jesu und der Ton der HAZ eine Ausnahme darstellten, wurde Friedland häufig als christlicher Ort markiert. Zahlreiche Berichte assoziierten das Lager zudem mit Begriffen wie »Hoffnung« oder »Frieden« und verbanden Friedland mit dem Topos des – 21 Zu diesen hier nur anzudeutenden Viktimisierungsdiskursen siehe einführend: Mary Fulbrook: German National Identity after the Holocaust. Cambridge 1999; Robert G. Moeller : War Stories. The Search for a Usable Past in the Federal Republic of Germany. Berkeley-Los Angeles-London 2001; Neil Gregor : Haunted City. Nuremberg and the Nazi Past. New HavenLondon 2008. 22 Siehe zum Beispiel »Fünf Minuten nach Zwölf«. In: Hannoversche Presse, 20. 12. 1946; Wer ist verantwortlich? In: Hannoversche Presse, 24. 01. 1947. – Eine Zusammenfassung zeitgenössischer Einschätzungen von Flüchtlingslagern in Kiel bietet Uwe Carstens: Zur Geschichte der Notunterkünfte nach dem 2. Weltkrieg am Beispiel eines Nissenhüttenlagers. In: Jahrbuch für ostdeutsche Volkskunde 35 (1992), 375 – 395. Siehe zur Thematik auch: Mathias Beer: »Ich möchte die Zeit nicht missen«. Flüchtlingslager nach 1945 als totale Institutionen? In: Sowi 29, 2000, Nr. 3, 186 – 193. 23 Friedland – Tor der Hoffnung. In: Abendpost, 24. 12. 1947. 24 Die Tür im Eisernen Vorhang. In: Die Welt, 13. 12. 1947. 25 Friedland – Drehscheibe menschlicher Schicksale. In: Wochenend, 14. 01. 1949. 26 Beginnt hinter Friedland der Frieden? In: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 16. 04. 1949. Das naheliegende Wortspiel hatte bereits zuvor Verwendung gefunden: Frieden in Friedland. In: Neue Illustrierte, 19. 03. 1948.

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deutschen – Leides, der ebenso wie seine Überwindung wenige Jahre später zum Kernbestand des Erinnerungsortes gehören sollte.27 Gleichwohl waren in den ersten Jahren nicht alle Artikel über das Lager in Friedland positiv. So berichtete die Norddeutsche Zeitung 1948 von einem Prozess gegen einen ehemaligen Lagerangestellten und beleuchtete dabei ein »[d]unkles Kapitel aus einem Flüchtlingslager«.28 Derartige Berichte blieben allerdings die Ausnahme, was vermutlich auch auf die Praxis der Lagerleitung zurückzuführen ist, die Medienberichterstattung systematisch auszuwerten, sich mit teilweise harschen Schreiben über unliebsame Zeitungsartikel oder Rundfunkbeiträge zu beschweren und in letzter Konsequenz sogar Klagen anzudrohen.29 Lokale Akteure begannen zudem, Friedland als einen besonderen und zudem eigenständigen Ort zu markieren. Der Lagerleiter klagte im Frühjahr 1947 in der Westfälischen Rundschau über die »mangelnde Unterstützung« der deutschen Behörden,30 während Wohlfahrtsverbände mit ihrer Spendenwerbung dazu beitrugen, Friedland weit über das lokale und regionale Umfeld hinaus in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft zu verankern. Ihnen war das Lager nicht zuletzt vor dem Hintergrund ihrer eigenen Tätigkeiten ein eindrückliches Beispiel für die Verbindung von Leid und dessen Linderung.31 Die lokalen Akteure in Friedland warben auch direkt für die von ihnen betreuten Gruppen. Derartige Aktivitäten und Einstellungen waren womöglich die Grundlage für einen sich herausbildenden starken Eigensinn lokaler Akteure und den durch Hilfsbereitschaft und Nächstenliebe charakterisierten »Geist von Friedland«, den diese insbesondere in den 1950er-Jahren beschworen.32 Die vorwiegend positiv wahrgenommene Frühphase des Lagers wurde damit zu einer wesentlichen Grundlage für das langfristige Wirken des Erinnerungsortes, auch wenn Friedland in den nächsten Jahrzehnten weniger wegen der Betreuung der Flüchtlinge und Vertriebenen im kulturellen Gedächtnis der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft blieb. Im Falle Uelzen-Bohldamms hingegen überwog eine eher negative Wahrnehmung und Berichterstattung. Das SPD-eigene Hamburger Echo widmete sich 27 Siehe zum Beispiel: Friedland enthüllt unmenschliches Leid. In: Westfälische Rundschau, 14. 04. 1947. 28 Wo bleibt die Viertelmillion? In: Norddeutsche Zeitung, 03. 12. 1948. 29 Verschiedene Schriftwechsel zwischen der Leitung des Lagers Friedland und Redaktionen finden sich unter anderem in: NLA – HStAH, Abt. Nds. 386 (Lager Friedland) Acc 16/83 Nr. 85, 86. 30 Friedland enthüllt unmenschliches Leid. In: Westfälische Rundschau, 14. 04. 1947. Der in dem Artikel nicht namentlich genannte Lagerleiter Richard Krause wurde indirekt zitiert. 31 Vgl.: Am Wege des Heimkehrers. In: Mitteilungen des Deutschen Roten Kreuzes. Britische Zone. Heft 4. November 1947. 32 Vgl. Alle sind hier so gut zu uns. In: Göttinger Tageblatt, 31. 08. 1956. Den Artikel hatte ein ehrenamtlicher Mitarbeiter der Inneren Mission in Friedland verfasst.

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in einem Artikel den schwierigen Lebensbedingungen der Menschen im Lager und zitierte die niedersächsische Flüchtlingskommissarin Martha Fuchs (1892 – 1966) mit den Worten »die Tiere in den Ställen der Bauern [seien] oft besser untergebracht« als die Flüchtlinge.33 Neben den in der Nachkriegszeit für Durchgangslager typischen Problemen34 strahlte der schlechte Leumund der SBZ-Flüchtlinge auf das Bohldammlager als zentrale Schleuse dieser Fluchtbewegung aus. Zweifellos rangen auch die Flüchtlinge und Vertriebenen aus Ostmitteleuropa in den ersten Nachkriegsjahren um gesellschaftliche Akzeptanz.35 Doch wurde ihre gesellschaftliche Diffamierung von Seiten der Politik durchaus bekämpft. Schien also bei dieser Gruppe zumindest ein gewisses Verständnis dafür zu bestehen, dass der soziale Abstieg dieser Menschen durch ihr unfreiwilliges Wanderungsschicksal bedingt war, wurde den »illegalen Grenzgängern« aus der SBZ/DDR vielfach auch von staatlichen Stellen der Stempel der Asozialität aufgedrückt und ihnen vorgeworfen, zu Lasten der westdeutschen Gesellschaft zu leben.36 Derartige Vorbehalte zeigten sich eindrücklich an den Einstellungen der in den frühen Nachkriegsjahren wichtigsten Figur der niedersächsischen Flüchtlingspolitik, des Flüchtlingsministers Pastor Heinrich Albertz (1915 – 1993).37 Im Frühjahr 1947 begab sich Albertz, damals noch Leiter des Bezirksflüchtlingsamtes Lüneburg, inkognito als vermeintlicher Flüchtling in das Lager Uelzen-Bohldamm.38 In seinem im Mai 1947 in der Hannoverschen Presse veröffentlichten Bericht seiner Erlebnisse verstieg sich der Minister in teils polemische Werturteile über das Verhalten und den Charakter der Men33 Englischer Besuch im Flüchtlingslager Uelzen. In: Hamburger Echo, 19. 08. 1947. 34 Vgl. für eine ähnlich negative Wahrnehmung des Durchgangslagers Hof-Moschendorf Esther Neblich: Das Flüchtlingslager in Hof-Moschendorf in der Nachkriegszeit und die Integration der Heimatvertriebenen im Raum Hof. In: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 64 (2004), 217 – 236. 35 Nach wie vor einschlägig ist Paul Erker : Revolution des Dorfes. Ländliche Bevölkerung zwischen Flüchtlingsstrom und landwirtschaftlichem Strukturwandel. In: Martin Boszat/ Klaus-Dietmar Henke/Hans Woller (Hrsg.): Von Stalingrad zur Währungsreform. Zur Sozialgeschichte des Umbruchs in Deutschland (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 26). München 1988, 367 – 425. 36 Zur Sicht der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft auf die Flüchtlinge aus der SBZ/DDR siehe Ackermann (Anm. 12), 66 – 82. 37 Reinhard Rhode: Heinrich Albertz und Erich Schellhaus: Zwei Flüchtlingspolitiker der ersten Stunde. In: Rainer Schulze (Hrsg.): Zwischen Heimat und Zuhause. Deutsche Flüchtlinge und Vertriebene in (West-)Deutschland 1945 – 2000 (Quellen und Darstellungen zur Geschichte des Landkreises Celle 6). Osnabrück 2001, 126 – 140; Jacques Schuster : Heinrich Albertz. Der Mann, der mehrere Leben lebte. Berlin 1997, 33 – 40; Andreas Flick: Heinrich Albertz, Flüchtlingspastor im Schatten der Stadtkirche 1945 – 1947. In: Celler Chronik 15 (2008), 221 – 236; Heinrich Albertz: Die Reise. Vier Tage und Siebzig Jahre. München 1985. 38 Ihre Heimat ist die Landstrasse. Als Unerkannter unter illegalen Grenzgängern. In: Hannoversche Presse, 23. 05. 1947; Ackermann (Anm. 12), 82.

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schen aus der SBZ, die in seinen Augen keine Flüchtlinge im eigentlichen Sinne waren.39 Mit Blick auf die seiner Ansicht nach geringe Anzahl Ankommender, die tatsächlich in der SBZ verfolgt worden seien, kam er schließlich zu dem Urteil, dass »Uelzen-Bohldamm (…) kein Flüchtlingsproblem mehr sei« wie noch während der Vertriebenentransporte im Sommer 1946. Das Lager sei vielmehr »ein Institut zur Aufnahme asozialer und krimineller Elemente« geworden.40 Albertz übertrug damit seine negativen Eindrücke der SBZ-Flüchtlinge direkt auf die Institution Uelzen-Bohldamm. Obwohl nur diejenigen, die aufgrund politischer Verfolgung oder im Rahmen der Familienzusammenführung nach Westdeutschland kamen, einen Anspruch auf Aufnahme und die damit verbundenen Hilfsleistungen hatten,41 zwang die britische Militärregierung niemanden zur Rückkehr in die SBZ. Die Regelungen wirkten daher nur in geringem Maße abschreckend.42 Nachdem Niedersachsen bereits eine hohe Anzahl von Flüchtlingen und Vertriebenen aus Ost- und Mitteleuropa aufgenommen hatte, war es aufgrund seiner langen Grenze zur SBZ nun auch der Hauptanlaufraum für diese Flüchtlinge geworden.43 UelzenBohldamm als zentrales Durchgangslager für die SBZ-Flüchtlinge blieb daher weiterhin Albertz’ »Sorgenkind«.44 Als der Minister im Juli 1949 die Aufnahmekapazität des Landes überschritten sah, wusste er dieses »Sorgenkind« als Druckmittel zu nutzen. Er ließ das Lager schließen, um die anderen Bundesländer zur Übernahme von Flüchtlingen zu bewegen. Insbesondere NordrheinWestfalen und die Länder der französischen Zone hatten sich bis dahin in dieser Frage wenig kooperativ gezeigt.45 Hierbei setzte Albertz zunächst auf die Wirkung seiner Maßnahme in der Öffentlichkeit, verstand es aber ebenso, die nicht 39 »Sie nennen sich Flüchtlinge, ob sie es sind oder nicht.« Ihre Heimat ist die Landstrasse. Als Unerkannter unter illegalen Grenzgängern. In: Hannoversche Presse, 23. 05. 1947. 40 Ebd. 41 NLA – HStAH, Abt. Nds. 380 (Nds. Flüchtlingsministerium, im Bestand Ministerium für Europaangelegenheiten), Nr. 409, Entschließung über die Braunschweiger Richtlinien vom 06. 02. 1948. 42 Helge Heidemeyer : »The Number of Infiltrees is Substantial«. Die Politik der amerikanischen Besatzungsmacht gegenüber den Zuwanderern aus der SBZ 1945 – 1949. In: Sylvia Schraut/Thomas Grosser (Hrsg.): Die Flüchtlingsfrage in der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Mannheim 1996, 215 – 239, 224. 43 Zu Aufnahme von Flüchtlingen in Niedersachsen siehe beispielsweise: Klaus J. Bade/Jochen Oltmer (Hrsg.): Zuwanderung und Integration in Niedersachsen seit dem Zweiten Weltkrieg. Osnabrück 2002; Adolf Wennemann: Zwischen Emanzipation und Konformitätsdruck: Zuwanderer aus SBZ und DDR in Niedersachsen. In: Klaus J. Bade (Hrsg.): Fremde im Land. Zuwanderung und Eingliederung im Raum Niedersachsen seit dem Zweiten Weltkrieg (IMIS-Schriften 3). Osnabrück 1997, 125 – 166; Bernhard Parisius: Viele suchten sich ihre neue Heimat selbst. Flüchtlinge und Vertriebene im westlichen Niedersachsen (Abhandlungen und Vorträge zur Geschichte Ostfrieslands 79). Aurich 2004. 44 Menschen im Lager – Menschen »auf Lager«. In: Frankfurter Rundschau, 18. 11. 1949. 45 Heidemeyer : Flucht und Zuwanderung (Anm. 12), 81 – 83.

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von ihm initiierten Ereignisse der nächsten Wochen zur Umsetzung seiner Ziele – einer Entlastung Niedersachsens – zu nutzen. Denn infolge der Schließung des Lagers siedelten sich nicht nur Abgelehnte in dem nahegelegenen Wald an, sondern es starteten auch Abgewiesene von Uelzen aus zu einem Protestmarsch nach Bonn.46 Das Lager Uelzen blieb in den Medien präsent und wurde so auch in der öffentlichen Wahrnehmung zeitweise zu einem Ort von nationaler Tragweite. Obwohl die Presse nicht durchgängig negativ über das Lager Uelzen und die SBZ-Flüchtlinge berichtete, war sie im Vergleich zu Friedland mit positiven Zuschreibungen deutlich zurückhaltender. Die Neue Ruhrzeitung etwa sprach im August 1947 von Uelzen als einem »Tor zu einer neuen Welt,47 während das SPD-Parteiorgan Neuer Vorwärts das Lager im Herbst 1948 mit dem später für Friedland geläufigen Schlagwort »Tor zur Freiheit« belegte.48 Die Zeitungen hoben mit der Tor-Metapher aber eher auf die Schwellenfunktion des Lagers ab und verwendeten dabei einen feststehenden zeitgenössischen Ausdruck. Denn die Freiheit war eines der Synonyme der antikommunistisch geprägten westlichen Welt, so wie die Staaten jenseits des Eisernen Vorhangs sich stets unter das Postulat des Friedens stellten. Entsprechend waren auch im Gründungsjahr der Bundesrepublik die Zuschreibungen ambivalent und nicht dazu geeignet, das Bohldammlager als einen »Kristallisationspunkt kollektiver Erinnerung und Identität«49 in der Region oder darüber hinaus zu verstehen. Uelzen-Bohldamm firmierte in der Presse als »Stadt der vergeblichen Hoffnungen«,50 sei ein »Schuttabladeplatz der horizontweiten Lande jenseits des Eisernen Vorhangs«51oder gar eines »der grausigsten Erlebnisse Nachkriegsdeutschlands«.52 Die Wortwahl der übrigen Berichterstattung zielte größtenteils darauf ab, die Funktionen des Lagers auszudrücken. Die Zeit sah Uelzen beispielsweise als »das Wehr«53 im Flüchtlingsstrom, die Frankfurter Rundschau erkannte eine »Menschenschleuse zwischen den Zonen«,54 während die Frankfurter Allgemeine

46 Ebd., 94 – 97; Arne Hoffrichter : Heinrich Albertz und die SBZ-Flucht. Zur Rolle Niedersachsens, der Presse und des Durchgangslagers Uelzen-Bohldamm im Prozess der Notaufnahmegesetzgebung 1949/1950. In: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte (84) 2012, 377 – 409. 47 Die Furcht lässt den Strom des Elends nicht verebben. In: Neue Ruhr Zeitung, 02. 08. 1947. 48 Uelzen – Das Tor zur Freiheit. In: Neuer Vorwärts, 02. 10. 1948. 49 FranÅois/Schulze (Anm. 10). 50 Stadt der vergeblichen Hoffnungen. In: Die Welt, 04. 07. 1949. 51 »Lager Uelzen geschlossen«. In: Die Welt, 23. 07. 1949. 52 Stadt der vergeblichen Hoffnungen. In: Die Welt, 04. 07. 1949. 53 »Die nicht zum Kreis derer gehören…«. In: Die Zeit, 03. 11. 1949. 54 Menschen im Lager – Menschen »auf Lager«. In: Frankfurter Rundschau, 18. 11. 1949.

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Zeitung über die »Stadt der Verhöre« schrieb.55 Uelzen-Bohldamm wurde keineswegs in ähnlicher Weise stilisiert wie Friedland. Die dem Lager Uelzen zuerkannte Schwellenfunktion wurde in den Zeitungen auch für Friedland betont. Hier überwog allerdings ein positiver Grundton.56 Darüber hinaus kam dem Lager Friedland die im Gegensatz zu Uelzen positive Wahrnehmung der betreuten Gruppen zugute. Deutlich wird dies wiederum an der Haltung von Heinrich Albertz gegenüber den Aussiedlern, die im Rahmen von Familienzusammenführungen aus Polen in die Bundesrepublik ausreisen sollten. Die Vorbereitungen der im März 1950 anlaufenden »Operation Link« dauerten mindestens ein Jahr an, hatten sich aber nicht zuletzt deshalb verzögert, weil die Alliierten befürchteten, die polnische Regierung würde die Übereinkunft nutzen, um alle Deutschen auszuweisen. Bereits vor dem offiziellen Beginn der »Operation Link« erreichten schon viele Deutsche, die Polen eigenständig verlassen hatten, die britische Besatzungszone und das zuständige Lager Friedland.57 Während nicht nur die Aufnahme der Flüchtlinge aus der SBZ/DDR, sondern auch der Deutschen aus Polen in der britischen Besatzungszone strittig war, wenn – beispielsweise im Falle von Einweisungen in die Städte und Kreise – eigene Interessen berührt waren,58 war Albertz’ Haltung in dieser Frage eindeutig. In einem aufgrund seiner Brisanz streng vertraulichen Schreiben an die Regierungspräsidenten und Präsidenten der Verwaltungsbezirke Niedersachsens vom Juli 1949 forderte Albertz, über die Aufnahme dieser Gruppe dürfe es »keine Diskussion geben«, denn »[a]lle Deutschen, mit Ausnahme gewisser völkischer Grenzgruppen Oberschlesiens, stehen in einer akuten Lebensgefahr«. Sie seien »in Lager verschleppt, die den Schrecken der deutschen Konzentrationslager in nichts nachstehen«, oder »als Arbeitskräfte ausgeliehen in Formen, gegen die die Sklaverei der vorigen Jahrhunderte in den Schatten gestellt wird«. Obschon die Landesregierung die bestehenden Schwierigkeiten anerkenne, verlangte Albertz von den Adressaten, »sich der selbstverständlichen Pflicht der Aufnahme dieses Personenkreises ohne Widerspruch zu unterziehen«.59 Allerdings unterschieden Albertz und seine Ministerialbeamten auch bei dieser Gruppe noch einmal. Die Aufnahme von »Asozialen«, die in den Trans55 Der »goldene« Westen lockt. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08. 11. 1949. 56 Siehe zum Beispiel: Friedland – Tor der Hoffnung. In: Abendpost, 24. 12. 1947. 57 Siehe hierzu verschiedene Schriftwechsel aus dem Juli 1949. NLA – HStAH, Abt. Nds. 380 (Nds. Flüchtlingsministerium) Acc. 62a/65 Nr. 519. 58 Vgl. hierzu unter anderem die zahlreichen Schriftwechsel verschiedener Behörden zur Aufnahme der Aussiedler und die Kritik von Städten und Kreisen an den Quotierungen im Jahr 1949. NLA – HStAH, Abt. Nds. 380 (Nds. Flüchtlingsministerium) Acc. 62a/65 Nr. 518. 59 Schnellbrief des Nds. Ministers für Flüchtlingsangelegenheiten an die Regierungspräsidenten und Präsidenten der Verwaltungsbezirke vom 16. 07. 1949. NLA – HStAH, Abt. Nds. 380 (Nds. Flüchtlingsministerium) Acc. 62a/65 Nr. 518.

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porten mitreisten, sei ebenso unerwünscht wie die Weiterreise von Aussiedlern, die in die SBZ geleitet worden seien. Letztere seien »wie die übrigen illegalen Grenzgänger zu behandeln«.60 Albertz sah in der SBZ zu dieser Zeit also ein sicheres Aufnahmegebiet. Wenn die dort aufgenommenen Deutschen aus Polen diese in Richtung der westlichen Besatzungszonen verlassen wollten, wurden sie aus seiner Sicht zu Wirtschaftsflüchtlingen wie diejenigen, die die SBZ/DDR nicht aufgrund eindeutiger politischer Verfolgung verließen. Als schließlich ab dem 3. März 1950 die offiziellen Transporte von Aussiedlern an der innerdeutschen Zonengrenze eintrafen, blockierte die britische Militärverwaltung zunächst deren Aufnahme, weil diese von den polnischen Behörden willkürlich zusammengestellt worden seien und nicht nur aus Personen bestünden, die im Rahmen der Familienzusammenführung in der Bundesrepublik aufgenommen werden sollten. In der Folge strandeten in den nächsten Wochen wiederholt Aussiedler für einige Zeit an der Zonengrenze, bis eine Lösung gefunden und die Wartenden aufgenommen werden konnten. Ungeachtet der Debatten um die Einweisung der Aussiedler war ihr Warten an der Zonengrenze öffentlich positiv besetzt und hob sich damit deutlich vom Falle der vor Uelzen gestrandeten SBZFlüchtlinge ab.61 Auch die Wohlfahrtsverbände in Friedland warben auf breiter Ebene für die Aussiedler. So schilderte der evangelische Lagerpfarrer Lippert (1910 – ?) in einem Werbebrief das Leid der ankommenden Aussiedler : »Wer von uns könnte da hartherzig sein, wenn die Rücksiedler endlich nun an der Zonengrenze stehen, ängstlich und scheu und ungewiß, was nun ihrer wartet! Wer könnte da sagen: ›Was sollen nun die noch! Hätten sie nicht bleiben können, wo sie waren?‹«62 Die starke Betonung der Hilfsbereitschaft ging im Laufe der Jahre immer deutlicher mit erinnerungspolitischen Positionierungen einher. In einem Werbebrief vom August 1949 nannte beispielsweise der katholischer Lagerpfarrer Josef Krahe (1914 – 2005) Friedland die »Zentrale deutscher Not« und warb, unterstützt von mehreren deutschen Bischöfen, um Spenden. Diese sollten allerdings nicht der Betreuungsarbeit im Lager zugute kommen: »Friedland, wo unsere Brüder und Schwestern aus dem Osten sich an helfender Liebe aufrichteten, soll dem Gedächtnis geweiht bleiben für alle Zeit. In Friedland werden – mitten in weitausgedehnter Diaspora – Kirche und Siedlung entstehen, die zum Gedächtnis der ungezählten Toten des Krieges und zum Andenken an die 60 Schreiben des Nds. Flüchtlingsministers an die Regierungspräsidenten und Präsidenten der Verwaltungsbezirke, Entwurf vom 26. 07. 1949. NLA – HStAH, Abt. Nds. 380 (Nds. Flüchtlingsministerium) Acc. 62a/65 Nr. 518. 61 Siehe zum Beispiel: Schlagbaum hoch für siebenhundert. In: Göttinger Presse, 04. 03. 1950; Ausgewiesene Deutsche vor gesperrten Grenzen. In: Münstersche Zeitung, 07. 03. 1950. 62 Werbebrief des evangelischen Hilfswerks Friedland vom August 1950. In: Lagerchronik Friedland. Bd 1. 114 f.

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überstandenen Leiden, sowie zur neuen Heimstatt der Heimatlosen werden soll.«63 Die katholische Kirche verknüpfte damit den Aufbau einer eigenen Gemeindestruktur mit der Erinnerung an das Schicksal nicht nur der in Friedland Betreuten, sondern zugleich an das der deutschen Opfer des Zweiten Weltkrieges insgesamt. Der Anspruch, Friedland in einen historischen Rahmen einzubetten und als Erinnerungsort zu markieren, wurde damit auf lokaler Ebene schon sehr früh formuliert. Angesichts dieses dezidierten Programms verwundert es kaum, dass Krahe bis zu seiner Versetzung im Jahr 1960 zu den einflussreichsten Personen in Friedland zählte und die vielfältigen erinnerungspolitischen Debatten weit über das lokale Umfeld hinaus mitprägte.

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Ikone der Heimkehr, Symbol der Teilung. Friedland und Uelzen in den 1950er-Jahren

Seit dem Ende der 1940er-Jahre dominierten infolge der ausführlichen Berichterstattung der Medien und der häufigen Meldungen der Suchdienste mehr und mehr die aus sowjetischer Gefangenschaft entlassenen Kriegsheimkehrer die öffentliche Wahrnehmung des Lagers Friedland. Zu jener Zeit war das Schicksal der Kriegsgefangenen zu einem zentralen Thema der frühen Bundesrepublik geworden. Vielen Menschen, die Angehörige vermissten, fehlte angesichts der restriktiven Informationspolitik der Wehrmacht in der Spätphase des Zweiten Weltkrieges und der widersprüchlichen Informationen der Sowjetunion über die Zahl der Kriegsgefangenen die Gewissheit, ob ihre Angehörigen in Osteuropa gefallen waren oder ob sie in einem der zahlreichen sowjetischen Lager inhaftiert waren.64 Wer Anfang der 1950er-Jahre annahm, dass der von ihm Vermisste noch lebte, in Gefangenschaft geraten war und von dort keine Nachrichten senden durfte, verband diese Hoffnung eng mit Friedland. Jeder Transport, der in Friedland eintraf, wurde zu einer Bestätigung, dass noch Gefangene in der Sowjetunion inhaftiert waren. Angehörige schrieben immer wieder Anfragen an das Lager oder reisten nach Friedland, wenn ein neuer Transport angekündigt war. Durch den 1950 entstandenen Verband der Heimkehrer (VdH) waren die Interessen der Kriegsgefangenen zudem stets im politischen Raum präsent.65 Das Lager verfügte mit der Friedlandglocke des evan63 Werbebrief des katholischen Lagerpfarramtes Friedland vom August 1949. In: Lagerchronik Friedland. Bd 1. 81 f. (Hervorhebung im Original). 64 Hierzu siehe eingehend: Frank Biess: Homecomings. Returning POWs and the Legacies of Defeat in Postwar Germany. Princeton 2006. 65 Birgit Schwelling: Heimkehr – Erinnerung – Integration. Der Verband der Heimkehrer, die ehemaligen Kriegsgefangenen und die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft. PaderbornWien-München-Zürich 2010.

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gelischen Lagerpfarramtes schon seit 1949 über ein eng mit der Kriegsgefangenschaft verbundenes und erinnerungspolitisch aufgeladenes Symbol. Die Glocke war in den 1950er-Jahren in vielen Radioberichten zu hören, war Namensgeber eines Films,66 wurde für Spendensammlungen von Station zu Station durch die Republik gefahren und »besuchte« stellvertretend für das Lager die alle zwei Jahre stattfindenden Heimkehrertreffen des VdH.67 Neben den bereits entlassenen, den noch in der Sowjetunion befindlichen sowie den dort vermuteten Kriegsgefangenen war Friedland, wie beispielsweise der Werbebrief des katholischen Lagerpfarrers gezeigt hatte, aber im weiteren Sinne auch ein Symbol, um aller Vermissten des Zweiten Weltkrieges insgesamt zu gedenken. Die symbolische Aufladung Friedlands fand ihren Höhepunkt in den beiden Entlassungswellen aus sowjetischer Gefangenschaft von September 1953 bis Januar 1954 und der »Heimkehr der Zehntausend« zwischen Oktober 1955 und Januar 1956. Die öffentliche Aufmerksamkeit und mediale Berichterstattung für die Ereignisse in Friedland waren enorm. Durch die sehr lebhaften Schilderungen und die Hintergrundgeräusche in den Radioreportagen konnten die Zuhörer die Ankunft der Entlassenen im Lager miterleben.68 In Friedland wurden die Ankommenden nicht nur aufgenommen und betreut, sondern – von wenigen Ausnahmen abgesehen – kollektiv als Opfer eines sowjetischen Unrechtssystems inszeniert, die allen Widernissen getrotzt hatten. An diesen Inszenierungen beteiligten sich neben Politikern, gesellschaftlichen Würdenträger von Kirchen und Verbänden auch die lokalen Akteure vor Ort sowie die Entlassenen selbst. Während der »Heimkehr der Zehntausend« erreichte die Einbeziehung der Kriegsgefangenen in die dominierenden Viktimisierungsdiskurse der 1950er-Jahre ihren Gipfel.69 Dass etwa ein Drittel der Ankommenden überhaupt keine Kriegsgefangenen, sondern vielmehr Zivilinternierte waren, spielte in der Wahrnehmung der Zeitgenossen eine nur untergeordnete Rolle. Als Bühne für vielfältige Inszenierungen war Friedland ein symbolisch, emotional und politisch hochgradig aufgeladener Erinnerungsort, der für verschiedene, oft konkurrierende Lesarten der jüngsten Vergangenheit offen war 66 Den halbdokumentarischen Film hatte der Verband der Heimkehrer produziert: Die Glocke von Friedland (BA-FA B M 3900). 67 Zu den Glockenfahrten siehe etwa BA-MA F, Abt. B 433 (Verband der Heimkehrer) Nr. 199, 208, 210. 68 Zur Radioberichterstattung aus Friedland siehe Michael Stolle: Das Wunder von Friedland. Die Heimkehr der letzten deutschen Kriegsgefangenen und das Radio. In: Rundfunk und Geschichte 31 (2005), Heft 3/4, 20 – 31; ders.: Emotionale Wiedervereinigung. Das Radio und die Heimkehr der Kriegsgefangenen in die BRD. In: Frank Bösch/Manuel Borutta (Hrsg.): Die Massen bewegen. Medien und Emotionen in der Moderne. Frankfurt/Main-New York 2006, 325 – 343. 69 Für diese Zusammenhänge siehe ausführlich: Biess: Homecomings (Anm. 64); Moeller : War Stories (Anm. 21).

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und verschiedenen Akteuren Raum bot, um politische Botschaften zu formulieren und erinnerungspolitische Programme zu platzieren. So bekräftigten viele Redner in ihren Ansprachen in Friedland die Bedeutung des Beitrags der Kriegsheimkehrer beim Aufbau der Bundesrepublik. Die Betonung des Leides der Kriegsheimkehrer ging vielfach mit Verweisen auf die unfreie DDR oder das Schicksal der Deutschen unter polnischer oder sowjetischer Herrschaft einher. Bundesvertriebenenminister Theodor Oberländer (1905 – 1988) bezeichnete die »Wiedervereinigung« mit den Entlassenen ausdrücklich »als eine Vorstufe der großen Wiedervereinigung, auf die wir alle warten«.70 Die langfristige Wirkung der »Heimkehr der Zehntausend« und der Aufladung Friedlands ist kaum zu überschätzen. Die Bilder von der Aufnahme der letzten Kriegsheimkehrer (und Zivilinternierten) in Friedland gingen in das kulturelle Gedächtnis der Bundesrepublik ein und werden bis heute verwendet, wenn über deren Ankunft berichtet wird.71 Die mit der Ankunft der »Heimkehr der Zehntausend« verbundene langfristige Popularität Konrad Adenauers (1876 – 1967)72 ist ein klarer Hinweis darauf, dass die Thematik nicht rasch aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwand. Seit Mitte der 1950er-Jahre wandelte sich auch die Wahrnehmung UelzenBohldamms. Vor dem Hintergrund des gewachsenen Bewusstseins für die Komplexität der Fluchtbewegungen aus der DDR wurden die Zuwanderer nicht mehr generalisierend als »asozial« abgestempelt. Allerdings fanden das Lager und das Problem der Flucht aus der DDR anders als noch 1949 keine breite öffentliche Aufmerksamkeit, sondern waren eher zu einer Frage regionalen Interesses herabgesunken. Die Hannoversche Allgemeine Zeitung – vor allem gelesen im Großraum der Landeshauptstadt – widmete sich am 1. Oktober 1955 in einem zeitkritischen Artikel anlässlich des zehnjährigen Lagerbestehens der Geschichte und Funktionalität der Institution. Unter der Überschrift »Jubiläum ohne Jubel« stellte die Zeitung das Bohldammlager als Symbol der noch nicht bewältigten Kriegsfolgen von deutscher Teilung und insbesondere DDR-Flucht dar. Die HAZ forderte ihre Leser auf, sich zu vergegenwärtigen, dass das Lager

70 Die Rede ist in folgender NWDR-Radioübertragung zu hören: Festlicher Empfang von 600 Heimkehrern aus Rußland im Lager Friedland. Hörfunksendung des NWDR vom 09. 10. 1955 (NDR-Hörfunkarchiv Hannover, F832276 001). Zu den Inszenierungen siehe ausführlicher : Schießl: Das Lager Friedland als Tor zur Freiheit, 111 – 115 (Anm. 11). 71 Einschlägig sind beispielsweise die Szenen aus: Neue Deutsche Wochenschau vom 14. 10. 1955. In: Deutsche Wochenschau-Filmarchiv, NDW 298. Auf dieses Material griff auch die ZDF-Produktion »100 Jahre – Der Countdown« aus dem Jahr 1999 zurück. Der Abschnitt über das Jahr 1955 trug entsprechend auch den Titel »Die Heimkehr der Zehntausend«. 72 So zum Beispiel Eckart Conze: Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik von 1949 bis in die Gegenwart. München 2009, 91.

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kein Relikt der Vergangenheit, sondern eine Notwendigkeit der Gegenwart sei: »Es war nicht. Es ist.«73 Die Lagerleitung in Uelzen positionierte sich ähnlich. So bedankte sich Lagerleiter Gerhard Brauner bei dem Leiter des zweiten westdeutschen Notaufnahmelagers in Gießen für die »Glückwünsche zu dem ach so trüben Jubiläum« des Lagers und äußerte die Hoffnung, dass den »betroffenen Flüchtlingen ein weiteres so wenig erfreuliches Jubiläum erspart« bliebe.74 Die offizielle Jubiläumsfeier am 30. September 1955 fand denn auch in einem eher bedächtigen Rahmen statt. Die lokalen und regionalen Funktionsträger verlasen ihre Grußworte eingerahmt von Gedichten und klassischer Musik Beethovens, Händels und Wagners.75 Im Mittelpunkt der Totenehrung standen neben den in den vergangenen Jahren verstorbenen Lagermitarbeitern vornehmlich die zahlreichen deutschen Opfer des Zweiten Weltkrieges. Den Opfern deutscher Schuld wurde zwar auch gedacht, jedoch erst ganz am Schluss und ohne direkten Bezug zu den nationalsozialistischen Verbrechen: »Wir gedenken aller Menschen der Völker, die im Inferno der Unmenschlichkeit litten und starben.«76 War die Totenehrung ein abermaliger Hinweis auf die in den 1950er-Jahren gängige deutsche Selbstviktimisierung, verwies Lagerleiter Brauner in seiner Ansprache darauf, dass die Notwendigkeit eines Notaufnahmelagers eine negative Folge der deutschen Teilung sei: »10 Jahre Uelzen! Das ist für uns wirklich kein Grund ein rauschendes Fest zu feiern. Die ungeheure Tragik dieser Tatsache kann uns allen nur eine Veranlassung für eine ernste Gedenkstunde sein, mit der großen Hoffnung für eine baldige Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit.«77 Seine Feststellung allerdings, dass es gelungen sei, aus »einem Kaffernkral ein Schaufenster der Bundesrepublik zu machen«,78 wirkt zunächst wie ein wenig tauglicher Versuch, dem Bohldammlager eine eigene positive Bezeichnung zu verleihen. Die Formulierung dürfte sich aber auch darauf gründen, dass das Lager den ersten Eindruck der ankommenden Flüchtlinge von der Bundesrepublik in entsprechender Weise beeinflussen könnte. Die ursprüngliche Idee, 73 Jubiläum ohne Jubel. In: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 01./02. 10. 1955. 74 NLA – HStAH, Abt. Nds. 385 (Notaufnahmelager Uelzen-Bohldamm) Nr. 66, Bl. 82. Schreiben des Lagerleiters Brauner/Uelzen an den Lagerleiter Lehm/Gießen vom 26. 09. 1955. 75 NLA – HStAH, Abt. Nds. 385 (Notaufnahmelager Uelzen-Bohldamm) Nr. 66, Bl. 64. Redemanuskript Brauner. Ein großer Teil der Rede findet sich auch in dem Artikel Schleuse zwischen Ost und West. In: Allgemeine Zeitung der Lüneburger Heide, 01./02. 10. 1955; vgl. auch das Programm der Gedenkstunde zum zehnjährigen Lagerjubiläum am 30. 09. 1955. In: NLA – HStAH, Abt. Nds. 385 (Notaufnahmelager Uelzen-Bohldamm) Nr. 66, Bl. 122. 76 NLA – HStAH, Abt. Nds. 385 (Notaufnahmelager Uelzen-Bohldamm) Nr. 66, Bl. 66. Text der Totenehrung innerhalb der Gedenkstunde am 30. 09. 1955. 77 NLA – HStAH, Abt. Nds. 385 (Notaufnahmelager Uelzen-Bohldamm) Nr. 66, Bl. 60. Redemanuskript Brauner. 78 Ebd., Bl. 61.

Die Lager Friedland und Uelzen in der Erinnerungskultur

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ausgerechnet ein Flüchtlingslager mit der vornehmlich für Westberlin geläufigen Schaufenster-Metaphorik zu versehen, war indes nicht auf Brauner zurückzuführen, sondern wurde bereits 1952 im Bundestagsausschuss für gesamtdeutsche Fragen (Unterausschuss Notaufnahme) formuliert.79 Teil des lokalen Selbstverständnisses war auch eine Pressepolitik der Lagerleitung, die jener in Friedland zumindest in Ansätzen ähnelte. In den frühen 1950er-Jahren schien es Lagerleiter Brauner geboten, die lokale Presse gegen das schlechte Image seiner Einrichtung zu mobilisieren. Gegenüber dem niedersächsischen Innenministerium erklärte sich in der Folge die Uelzener Redaktion der Landeszeitung für die Lüneburger Heide bereit, einen Artikel über die wirtschaftliche Bedeutsamkeit des Lagers für den Landkreis zu verfassen.80 Die Uelzener Allgemeine Zeitung der Lüneburger Heide schickte Brauner »wie verabredet« den Entwurf eines Artikels über die positiven Seiten des Bohldammlagers gleich persönlich zum Gegenlesen.81 Noch nachdrücklicher versuchte dieser allerdings, die im Berliner Flüchtlingslager kolportierten Aussagen über Uelzen-Bohldamm als einem »KZ-ähnlichen Unternehmen« zu bekämpfen.82 Der von ihm informierte niedersächsische Flüchtlingsminister Erich Schellhaus (1901 – 1983) ersuchte daraufhin den Bundesvertriebenenminister Hans Lukaschek (1885 – 1960), solchen »Gerüchten im Hinblick auf deren Auswirkung entgegenzutreten«.83

4.

Friedland und Uelzen zwischen lokaler Erinnerung und nationalem Bedeutungsverlust

Als die Schließung Uelzen-Bohldamms im Herbst 1962 bereits entschieden war, schrieb die HAZ vom Ende eines »Organismus, der lebte um den Gedanken an die Freiheit sichtbar zu machen«, nannte das Lager aber auch einen »Transformator«, der die Flüchtlinge »in einigen Tagen zu Bürgern eines freien Staates wandelte«.84 Zum Zeitpunkt der Schließung Ende März 1963 betitelte die gleiche 79 NLA – HStAH, Abt. Nds. 385 (Notaufnahmelager Uelzen-Bohldamm) Nr. 213, Bl. 337. Aktenvermerk Brauner zum Lagerbesuch des Ministers für gesamtdeutsche Fragen Jakob Kaiser am 25. 06. 1952 (Notiz vom 26. 06. 1952). 80 NLA – HStAH, Abt. Nds. 385 (Notaufnahmelager Uelzen-Bohldamm), Nr. 213, Bl. 352. Schreiben der Landeszeitung für die Lüneburger Heide (Redaktion Uelzen) an das Niedersächsische Innenministerium vom 01. 04. 1952. 81 Ebd., Bl. 352. Schreiben der Uelzener Kreiszeitung an Brauner vom 12. 05. 1952. 82 Ebd., Bl. 283. Schreiben Brauners an das Niedersächsische Flüchtlingsministerium vom 30. 08. 1952. 83 Ebd., Bl. 284. Schreiben des Niedersächsisches Flüchtlingsministerium an Brauner vom 09. 10. 1952. 84 Schicksale auf harten Bettkanten. In: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 20./21. 10. 1962.

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Zeitung das Lager als »Barometer der Spaltung«,85 während die Uelzener AZ abermals die Topoi »Ort der Hoffnung« und »Tor zur Freiheit« bemühte.86 Es handelte sich dabei um wohlwollende, aber keinesfalls euphorische Berichte über eine wichtige Institution im Nachkriegsdeutschland. In ähnlicher Weise sind auch die pathetisch klingenden Worte des niedersächsischen Flüchtlingsminister Schellhaus auf der Abschiedsveranstaltung Uelzen-Bohldamms am 27. März 1963 einzuordnen. Dieser hatte prophezeit, es werde »unvergessen (…) bleiben, daß in einer mit echter Humanitas nicht gerade gesegneten Zeit hier mehr als eineinhalb Jahrzehnte tätige Nächstenliebe im besten Sinne praktiziert worden sei«.87 Diese Vorhersage sollte sich hingegen nicht bestätigen. Ein knappes Vierteljahrhundert nach der Schließung des Lagers bezeichnete Die Welt Uelzen-Bohldamm »als ein nahezu vergessenes Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte«.88 Vor Ort erinnerte wenig an das frühere Lager. Das ehemalige Lagergelände wurde zunächst von der Landesschule für zivilen Bevölkerungsschutz und von der Regierung Lüneburg zu Einlagerungszwecken, später dann auch vom Deutschen Roten Kreuz, dem Technischen Hilfswerk und privaten Unternehmen genutzt. Eine Baracke diente als Asylbewerberheim, während einige andere abgerissen wurden.89 Uelzen-Bohldamm war also keineswegs, wie etwa Friedland, in das kulturelle Gedächtnis der Bundesrepublik eingegangen. Offenbar hatte sich die Erinnerung an das Lager aber im kommunikativen Gedächtnis vor Ort erhalten. So entstanden zwanzig Jahre nach dem Ende der Flüchtlingsbetreuung in Uelzen auf lokaler Ebene Bestrebungen, die Lagergeschichte in einem Dokumentationszentrum auf dem ehemaligen Lagergelände darzustellen. Angestoßen hatte das später vom Uelzener Kreisverwaltungsdirektor Friedrich Zempel (*1945) koordinierte Vorhaben90 der CDU-Kreistagsabgeordnete Horst Eckert (*1939). Während Zempel kurz nach dem Krieg in eine Vertriebenenfamilie hineingeboren worden war, ist Eckert selbst aus der Provinz Posen vertrieben worden. Beide sind bis heute landsmannschaftlich engagiert. Der Schwerpunkt ihrer Initiative lag dann auch auf der Einbettung des Bohldammlagers in den Kontext 85 Lager Uelzen fiel der Mauer zum Opfer. In: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 30./31. 10. 1963. 86 Uelzen war für viele das Tor zur Freiheit. In: Allgemeine Zeitung der Lüneburger Heide, 28. 03. 1963. 87 NLA – HStAH, Abt. Nds. 385 (Notaufnahmelager Uelzen-Bohldamm) Nr. 65, Bl. 48. Presseinformation des Niedersächsischen Flüchtlingsministeriums vom 27. 03. 1963; Uelzen war für viele das Tor zur Freiheit. In: Allgemeine Zeitung der Lüneburger Heide, 28. 3. 1963. 88 Uelzen will Notaufnahmelager erinnern. In: Die Welt, 31. 03. 1987. 89 Das Notaufnahmelager Uelzen. In: Der Heidewanderer. Beilage der Allgemeinen Zeitung der Lüneburger Heide, 09. 02. 1985. 90 KA UE, IX N 10/5.1, Rede des Uelzener Landrates Schulze zur Eröffnung der Ausstellung in der Kreissparkasse am 14. 04. 1986; Telefongespräch mit Friedrich Zempel am 09. 07. 2012.

Die Lager Friedland und Uelzen in der Erinnerungskultur

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von »Flucht und Vertreibung« aus Ostmitteleuropa. Deutsche Teilung und SBZ/ DDR-Flucht erfuhren in dieser Perspektive keine größere Aufmerksamkeit.91 Um die Erinnerung an Uelzen-Bohldamm in der Region wiederzubeleben, wurden in den Jahren von 1985 bis 1986 zwei kleinere Ausstellungen im Kreishaus und der Kreissparkasse gezeigt, zu deren Vorbereitung Zempel auch eine Aussiedlerin als ABM-Kraft beauftragt hatte.92 Der Titel der ersten und kleineren Ausstellung »In einem Rucksack trug ich meine Habe« legt nahe, dass das Bohldammlager vor allem mit der Not der Flüchtlinge in Verbindung gesetzt werden sollte. Gleiches suggerierten die Exponate der Ausstellung, etwa ein Ausweisungsbefehl aus Pommern oder aus Gummireifen hergestellte Notschuhe.93 Die zweite Ausstellung wurde überschrieben mit »Flucht und Vertreibung – Endstation Bohldamm« und verdeutlichte – abgesehen von dem für ein Durchgangslager missverständlichen Titel – abermals die Einordnung in den Vertreibungskontext.94 Die Bedeutung des Lagers für die SBZ/DDR-Flucht wurde hingegen kaum angemessen thematisiert. Der Versuch, Uelzen als einen nationalen Erinnerungsort für »Flucht und Vertreibung«95 zu etablieren, mit dem das Thema der deutsch-deutschen Flucht in den Schatten gestellt wurde, lag insofern nahe, da die Thematik in der Region Uelzen eine größere Zahl von Menschen betraf. Die Ausstellungen sollten auch nur als erste Vorarbeiten zu dem geplanten »Dokumentationszentrum Bohldammlager« dienen, auf dessen Realisierung parallel hingearbeitet wurde. Neben den schwierigen Eigentumsverhältnissen auf dem ehemaligen Lagergelände stellte vor allem die Finanzierungsfrage ein großes Problem dar.96 Landrat Gerhard Schulze (*1939) hatte während der Ausstellungseröffnung in der Kreissparkasse nicht zufällig angemerkt, dass Flucht und Vertreibung Nationalgeschichte sei, »deren Pflege (…) Aufgabe der Länder und des Bundes« sei.97 Zempel verwies bei den zuständigen Stellen in Hannover und Bonn stets auf die Bundes- beziehungsweise Landeszuständigkeit des Lagers und machte deutlich, dass der Landkreis die Thematik nur ange91 Im Bohldamm das Schicksal Vertriebener dokumentieren. In: Allgemeine Zeitung der Lüneburger Heide, 06. 03. 1984. 92 KA UE, IX N 10/ 5.1, Dokumentationszentrum Bohldammlager (Uelzen), Sachstandsbericht über die Vorbereitungen, Juni 1986. 93 Uelzen will Notaufnahmelager erinnern. In: Die Welt, 31. 03. 1987. 94 KA UE, IX N 10/ 5.1, Dokumentationszentrum Bohldammlager (Uelzen), Sachstandsbericht über die Vorbereitungen, Juni 1986. In einer der Vitrinen wurde unter anderem auch das bekannte Foto eines Vertriebenen-Trecks im Winter zur Einrahmung der Exponate genutzt. 95 Eva Hahn/Hans Henning Hahn: Flucht und Vertreibung. In: FranÅois/Schulze (Anm. 9), Bd. 1. München 2001, 335 – 351. 96 KA UE, IX N 10/ 5.1, Schreiben Zempels an den CDU-Landtagsabgeordneten Hinnerk Ottens vom 17. 03. 1987; Vermerk Kreis Uelzen vom 04. 05. 1987. 97 KA UE, IX N 10/ 5.1, Rede des Uelzener Landrates Schulze zur Eröffnung der Ausstellung in der Kreissparkasse am 14. 04. 1986.

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stoßen hätte, nicht jedoch die Finanzierung leisten könnte.98 Um dem Anliegen mehr Nachdruck zu verleihen, wurden alternative Lösungsmöglichkeiten erdacht, die das Dokumentationszentrum mit anderen Einrichtungen verbinden sollten. So bemühte sich Uelzen, das später in Oldenburg installierte Institut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa in die Stadt zu holen.99 Zudem bewarb sich die Stadt mit dem Lagergelände als Standort für das nunmehr in Bayreuth ansässige Lastenausgleichsarchiv.100 Die intensiven Bemühungen des Kreises und die beiden Ausstellungen hatten gleichwohl keine nachhaltige Wirkung. Weder der Bund noch das Land Niedersachsen erklärten sich zu finanzieller Unterstützung bereit, was abermals ein Indiz dafür ist, dass das Bohldammlager keinen Platz im kulturellen Gedächtnis außerhalb der Region Uelzen eingenommen hatte. Der Gedächtnisraum blieb regional beschränkt und das Lagergelände wurde nie museal genutzt. Es dauerte weitere zwanzig Jahre, bis erneut zu einer Aufarbeitung der Lagergeschichte angesetzt wurde. Nachdem 2004 anlässlich des Tags der Archive eine weitere kleinere Ausstellung zum Bohldammlager gezeigt worden war,101 vergab die Stadt Uelzen zwei Jahre später an das Institut für Historische Landesforschung Göttingen zunächst den Auftrag, einschlägiges Dokumentenmaterial zu recherchieren und zu verzeichnen.102 Fast gleichzeitig wurde das Lager von einer lokalen Initiative zum Thema einer Ausstellung und eines Dokumentarfilmes gemacht,103 womit abermals deutlich wird, dass Uelzen-Bohldamm die fast 50 Jahre nach seiner Schließung in einem regionalen Gedächtnisraum überdauert hatte. In Friedland hingegen setzte die eigene Historisierung bereits in den frühen 1950er-Jahren ein, als die Lagerverwaltung eine Chronik begann, die die wechselvolle Geschichte des Lagers mit Fotos, Zeitungsausschnitten, eigenen Berichten und Dokumenten ordnete und kommentierte.104 Die inzwischen auf zwei umfangreiche Bände angewachsene Lagerchronik wird in Friedland bis

98 KA UE, IX N 10/ 5.1, Vermerk Zempels vom 24. 02. 1987; Schreiben Zempels an den CDULandtagsabgeordneten Hinnerk Ottens vom 17. 03. 1987. 99 Telefongespräch mit Friedrich Zempel am 09. 07. 2012. 100 KA UE, IX N 10/ 5.1, Schreiben Zempels an die Bezirksregierung Lüneburg vom 17. 02. 1988. Vgl. auch BA KO, Abt. B 106 (Bundesministerium des Innern) Nr. 98543, [Lastenausgleichsarchiv] Bewerbung für Standorte in Siegen, Salzgitter, Uelzen, Ulm u. a. (1981 – 1987). Die Akten unterliegen allerdings noch der allgemeinen Sperrfrist von 30 Jahren. 101 Anlaufstelle für drei Millionen. In: Allgemeine Zeitung der Lüneburger Heide, 25. 09. 2004. 102 Arne Hoffrichter/Christian Kraiker (Bearb.): Uelzen Bohldamm – Quellenrepertorium zur Aufarbeitung der Geschichte des Flüchtlingsdurchgangs- und Notaufnahmelagers (1945 – 1963). Ms. Göttingen 2009. 103 Vgl. hierzu den Begleitband von Christine Böttcher (Anm. 12). 104 Materialien, die für den Aufbau der Lagerchronik verwendet wurden, finden sich in NLA – HStAH, Abt. Nds. 386 (Lager Friedland) Acc. 16/83 Nr. 94.

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heute fortgeführt.105 Nachdem bereits 1965 eine offenbar auf lokaler Ebene entstandene Fotoausstellung gezeigt worden war, trugen zum 50-jährigen Bestehen Friedlands Lagermitarbeiter Objekte und Fotos aus der Lagergeschichte zusammen, die in der letzten verbliebenen Nissenhütte der Einrichtung weitgehend unkommentiert präsentiert werden. Diese kleine Ausstellung sollte ausweislich des Hinweisschildes als »Dokumentationsstätte« des Lagers dienen. Das aktuelle Projekt des Landes Niedersachsens, das weiterhin geöffnete Lager bis Ende 2014 um ein Museum zu ergänzen, entstand schließlich auch unter Verweis auf die historische Bedeutung des Ortes. Ungeachtet dieser im lokalen und im Falle der Museumsplanungen im regionalen Umfeld angesiedelten Bemühungen blieb Friedland gerade auch deshalb im öffentlichen Bewusstsein präsent, weil es trotz wiederkehrender Überlegungen, die Einrichtung zu schließen, dauerhaft erhalten blieb. Es übernahm immer wieder neue Aufgaben und betreute neben den Aussiedlern auch Kontingentflüchtlinge oder Asylbewerber. Gleichwohl wandelte sich der politische und erinnerungskulturelle Gehalt des Lagers. War der Erinnerungsort Friedland in den 1950er-Jahren eng mit den so verstandenen deutschen Opfern des Zweiten Weltkrieges und seiner Folgen verknüpft, verlor dieser Aspekt in den nächsten Jahrzehnten an Bedeutung. Gleichermaßen verblasste die enge Verbindung zwischen Kriegsheimkehrern und Friedland außerhalb des lokalen Umfelds und der persönlich Betroffenen weitgehend. Diese Entwicklung ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass sich die bundesdeutsche Erinnerungskultur seit den späten 1950er-Jahren unter dem Eindruck etwa der Kriegsverbrecherprozesse und der Verjährungsdebatte sowie angesichts eines generationellen Wechsels in Politik, Justiz und Verwaltung allmählich wandelte. Dominierten bis dahin vor allem deutsche Opfer die öffentlichen Debatten, folgte nach und nach eine differenziertere Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg und deutschen Verbrechen. Als ein Ort, der vorwiegend für die Betreuung deutscher Opfer stand, war Friedland damit immer weniger ein Bezugspunkt breiter (erinnerungs)politischer und öffentlicher Debatten. So war die Einweihung der monumentalen, noch im Geiste der Viktimisierungsdiskurse stehenden Friedland-Gedächtnisstätte im Jahr 1967 zwar ein medial breit rezipiertes Großereignis. Das vom Verband der Heimkehrer initiierte Denkmal hatte allerdings keine langfristige Wirkung und blieb außerhalb des lokalen Umfeldes in der Öffentlichkeit eher unbekannt.106 Die bisherige Zuschreibung wurde im Zuge der Aufnahme anderer beziehungsweise anders wahrgenommener Betreuungsgruppen vom humanitären 105 Lagerchronik Friedland, 2 Bde., Bestand des Grenzdurchgangslagers Friedland, ohne Signatur. 106 Schwelling: Gedenken im Nachkrieg (Anm. 11).

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Anspruch des Lagers überformt. Hierdurch wurde ein Symbolgehalt prägend, den Lagerleitung und Wohlfahrtsverbände schon seit der Frühzeit des Lagers offensiv vertreten hatten – den im »Geist von Friedland« kulminierenden Anspruch selbstloser Hilfsbereitschaft. In der Wahrnehmung der bundesdeutschen Gesellschaft war Friedland in der Folge ein nur noch gelegentlich beachteter Ort, der insbesondere bei der Aufnahme besonderer Flüchtlingsgruppen wie den Flüchtlingen aus Chile 1973, den »boat people« aus Vietnam Ende der 1970erJahre oder den irakischen Kontingentflüchtlingen 2009 ein Symbol für Humanität und Hilfsbereitschaft war. Die historische Bedeutung half Friedland gleichwohl den eigenen Fortbestand zu sichern. Als Ende der 1990er-Jahre entschieden werden musste, welche der noch bestehenden Aufnahmelager für Spätaussiedler aus Osteuropa geschlossen werden sollten, begründete der damalige Bundesinnenminister Otto Schily (*1932) seinen Entscheid, auf Friedland zu setzen, gerade auch mit der Geschichtsträchtigkeit des Ortes. Schily bekundete seinen »Respekt vor einem historischen Standort, der einen hohen Symbolwert innerhalb der deutschen Nachkriegsgeschichte hat«.107

5.

Schluss

Gegenüber den meisten anderen Lagern der Nachkriegszeit zeichneten sich Uelzen und Friedland vor allem dadurch aus, dass sie außeralltägliche Orte waren. Beide Lager dienten der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft dazu, zentrale politische und gesellschaftliche Entscheidungen zu verhandeln. In ihrer öffentlichen Wahrnehmung standen Uelzen und Friedland allerdings in einem starken Kontrast. Das Lager Uelzen erfuhr nur zeitweise eine über das lokale und regionale Umfeld hinausgehende Aufmerksamkeit und war in seiner öffentlichen Wahrnehmung weitgehend von den ambivalenten Zuschreibungen der wichtigsten dort betreuten Gruppe, der Flüchtlinge aus der SBZ/DDR, geprägt. Nach seiner Schließung blieb das Bohldammlager insbesondere im lokalen Umfeld und im kommunikativen Gedächtnis der Erlebnisgeneration bewahrt. Zu einem regionalen Erinnerungsort entwickelte sich das Lager bislang nicht. Friedland hingegen profitierte in hohem Maße von der symbolischen und politischen Aufladung der dort aufgenommenen entlassenen Kriegsgefangenen. Das Lager war aber auch durch die vielfältigen Strategien der eigensinnigen lokalen Akteure geprägt, Friedland im öffentlichen Bewusstsein zu verankern. 107 »Respekt vor einem historischen Standort«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29. 09. 1999. Die Schließung der anderen Erstaufnahmeeinrichtungen Dranske, Empfingen, Rastatt und Hamm war unstrittig. Vgl. zu der Debatte auch: Ausgerechnet Friedland? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26. 08. 1999.

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Während Friedland in doppelter Hinsicht ein Symbol für selbstlose Hilfsbereitschaft sowie für deutsche Opfer war, fehlte dem Lager Uelzen-Bohldamm die langfristige Aufladung. Im Fall der deutschen Teilung waren zumindest in längerer Perspektive Berlin und die Berliner Mauer und nicht Uelzen die entscheidenden Bezugspunkte. Im Kontext von »Flucht und Vertreibung« war Uelzen – wie auch Friedland – nur ein Aufnahmelager unter vielen. Weil zudem sehr viele Flüchtlinge und Vertriebene noch vor Einrichtung der Durchgangslager in das besetzte Deutschland einströmten oder in kurzer Zeit mehrere Lager durchliefen, war der Komplex »Flucht und Vertreibung« damit auf der Erfahrungsebene nicht mit einem spezifischen Ort zu verbinden. In Hinblick auf die Kriegsheimkehrer war Friedland zwar zunächst ebenfalls nur eines von mehreren Entlassungslagern. Als sich aber die Frage nach dem Verbleib der noch in sowjetischer Inhaftierung befindlichen oder dort vermuteten Kriegsgefangenen zu einem zentralen politischen und emotionalen Thema der frühen Bundesrepublik entwickelte, war Friedland das einzig verbliebene Aufnahmelager. Zugleich verfügte das Lager über starke Symbole, die von den lokalen Akteuren und anderen Interessengruppen entsprechend vermarktet wurden. Während die lokalen Akteure in Uelzen auf sich gestellt agierten, konnten Lagerleitung und Wohlfahrtsverbände in Friedland bei aller postulierter Eigenständigkeit auf ein breites Netzwerk von Kontakten auf lokaler, regionaler und bundesdeutscher Ebene zurückgreifen. Sie bemühten den »Geist von Friedland« und setzten alles daran, das Lager als einen bedeutsamen Ort herauszustellen, über den sie selbst Einfluss auf erinnerungskulturelle und politische Debatten nehmen konnten. Nicht zuletzt diese Lobbyarbeit hielt das Lager Friedland für lange Zeit im öffentlichen Bewusstsein.

Praktizierte Erinnerung. Geschichtsbilder und historisch-politische Bildung

Marcus Meyer

Historische Räume und forensische Pädagogik: Die Konzeption des »Denkortes Bunker Valentin« in Bremen

Im März 1943 begannen im äußersten Norden Bremens, im Ortsteil FargeRekum, die Bauarbeiten an einer gegen Luftangriffe gesicherten U-Boot-Werft. In dieser Werft, die den Tarnnamen »Valentin« erhielt, sollten U-Boote vom Typ XXI in Sektionsbauweise produziert werden, mit deren Hilfe die Kriegsmarine die Atlantikschlacht wieder aufnehmen wollte.1 Großadmiral Karl Dönitz (1891 – 1980), kurz zuvor zum Oberbefehlshaber der Kriegsmarine ernannt, war der Überzeugung, dass sich der Seekrieg nur mithilfe der U-Boot-Waffe gewinnen ließe: »Der Seekrieg ist U-Boot-Krieg. Den Forderungen, die dieser stellt, ist rücksichtslos alles andere nachzuordnen. Es handelt sich darum, für U-Bootbau und Reparaturen Werft- und Arbeitskapazität zu schaffen, den U-Booten bessere Waffen und die besten Besatzungen zu geben. Mit der U-Bootwaffe allein wird die Marine ihren entscheidenden Sieg beisteuern können. Diesem Ziel muß jedes Opfer gebracht werden.«2 Dieser Maxime folgend, entstand innerhalb von nur zweiundzwanzig Monaten ein Bunker von 419 Metern Länge, bis zu neunzig Metern Breite und fünfunddreißig Metern Höhe, der nach seiner Fertigstellung die modernste U-Boot-Werft Europas gewesen wäre. Etwa 10.000 Kriegsgefangene, KZ-Häftlinge, Militärinternierte und zivile Zwangsarbeiter, untergebracht in unterschiedlichen Lagern in der Nähe des Bunkers, leisteten täglich auf der Baustelle Zwangsarbeit.3 Den jüngsten Untersuchungen zufolge kamen mindestens 1.100 von ihnen durch Unterernährung, Krankheiten, willkürliche Tö-

1 Vgl. zur Geschichte des Bunkers: Marc Buggeln: Bunker Valentin. Marinerüstung, Zwangsarbeit, Erinnerung. Bremen 2010. 2 Vermerk über die Ansprache von Dönitz vom 02. 02. 1943. In: Werner Rahn (Hrsg.): Kriegstagebuch der Seekriegsleitung. Bd. 42. Herford 1993, 11 f. 3 Die absolute Zahl der eingesetzten Zwangsarbeiter lässt sich auf Basis der bisher bekannten Quellen nicht rekonstruieren, lag aber höher. Gerade die KZ-Häftlinge wurden bei Krankheit oder zu großer Erschöpfung häufig ins Stammlager nach Neuengamme zurückgebracht und durch neue ersetzt.

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tungen durch die Wachmannschaften von SS und Kriegsmarine oder bei Unfällen auf der Baustelle ums Leben.4 Von der Baustelle, die sich um den Bunker herum erstreckte und die der eigentliche Ort von alltäglicher Arbeit, Willkür und Gewalt gewesen ist, und von den Lagern als den Orten der Verfolgung, der Misshandlung und des Sterbens, finden sich heute nur noch wenige und überdies kaum identifizierbare Spuren. Schon die britischen Truppen, die Bremen-Nord am 27. April 1945 erreichten, stießen zwar noch auf einige Zwangsarbeiter, nicht aber auf ausgemergelte und erschöpfte KZ-Häftlinge, die von den täglichen Misshandlungen hätten berichten können.5 Das Massensterben der Häftlinge fand nicht in Bremen oder gar in Bremen-Nord statt, sondern in Sandbostel, in Neuengamme und in der Lübecker Bucht, wohin die SS die meisten von ihnen deportiert hatte.6 Die Lager, in denen die Zwangsarbeiter untergebracht gewesen waren und die materielles Zeugnis des Geschehens gewesen wären, wurden in den Jahren nach dem Krieg abgeräumt oder umgenutzt. Auch die Baustelle war schnell beseitigt: Die am Bau des Bunkers beteiligten Firmen begannen bereits kurz nach Ende des Krieges mit der Demontage der bereits eingebauten Produktionsanlagen für die U-Boote und der noch auf der Baustelle befindlichen Maschinen. Gleichzeitig versorgte sich die Dorfbevölkerung mit Baumaterial aller Art, sodass das Areal um den Bunker herum bereits Ende 1945 weitgehend geräumt war.7 Damit waren die meisten Spuren dessen beseitigt, was ursprünglich eines der größten Rüstungsprojekte der Kriegsmarine, begonnen auf dem Höhepunkt des vom Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda Joseph Goebbels (1897 – 1945) ausgerufenen »totalen Kriegs«, war. Geblieben ist nur der Bunker, der sich weder zerstören noch verbergen ließ,8 aber nun aus seinem Entste4 Heiko Kania: Neue Erkenntnisse über Opferzahlen und Zwangsarbeiterlager während des Baus des U-Boot-Werftbunkers »Valentin«. In: Arbeiterbewegung und Sozialgeschichte. Zeitschrift für die Regional- und Sozialgeschichte Bremens im 19. und 20. Jahrhundert (2002), Heft 10, 7 – 31, 9. Nach den Untersuchungen von Heiko Kania lassen sich 1.144 Opfer namentlich identifizieren. Mit hoher Wahrscheinlichkeit sind nicht alle Todesfälle erfasst, Kania geht aber von höchstens 1.750 toten Zwangsarbeitern in der Region Farge/Schwanewede aus, von denen im Höchstfall 1.600 auf der Baustelle des Bunkers eingesetzt gewesen seien. 5 Am 10. und 11. April wurden die Häftlinge des KZ-Außenlagers auf Todesmärsche in das Stammlager Neuengamme und das Kriegsgefangenlager XB in Sandbostel gebracht. 3.000 Häftlinge starben in Sandbostel, eine nicht bekannte Zahl der nach Neuengamme transportierten Häftlinge starb am 3. Mai 1945 bei der Versenkung der Schiffe Cap Arcona, Thielbeck und Athen durch britische Fliegerangriffe. Die Häftlinge des Arbeitserziehungslagers wurden in das Arbeitserziehungslager Nordmark in Kiel verlegt und am 3. Mai befreit; vgl. Buggeln: Bunker Valentin (Anm. 1), 161 – 164. 6 Vgl. ebd., 164. 7 Vgl. ebd., 171 f. 8 Vgl. ebd., 167 – 170. Nach einer gründlichen Bestandsaufnahme durch die US-Armee sollte der Bunker im Rahmen der Entwaffnung Deutschlands zunächst gesprengt werden. Das aber erwies sich angesichts der bei einer Sprengung zu erwartenden Erschütterung, die Rekum und

Historische Räume und forensische Pädagogik

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hungskontext von Zwangsarbeit und Gewalt gelöst war. Schon die britischen und amerikanischen Streitkräfte zeigten ein vorwiegend technisches Interesse an der Anlage und nahmen damit jene einseitige Wahrnehmung des Bunkers Valentin als vermeintliche technische Meisterleitung vorweg, die bis heute anzutreffen und – den ersten Erfahrungen mit Besucherinnen und Besuchern zufolge – weit verbreitet ist.9 Die Grundlagen für diese Sichtweise wurden bereits in den 1950er-Jahren gelegt. Der Bremer Weser-Kurier sprach 1952 vom »8. Weltwunder am Weserstrand«.10 Im gleichen Jahr ließ der Wirtschaftssenator prüfen, ob sich der Rohbau der geplanten U-Boot-Werft nicht als Standort für Atomreaktoren eignen würde. Der Bunker wurde so statt zu einem Mahnmal zum Gegenstand bundesrepublikanischer Nachkriegsutopien. Diese und vergleichbare Vorstellungen bezüglich einer Weiternutzung des Bunkers fanden ein Ende, als die Bundeswehr im Jahr 1960 beschloss, im Bunker ein Materialdepot für die Marine einzurichten. Der Historiker Habbo Knoch (*1969) formulierte dazu treffend: »Allzu sichtbare Verbindungslinien praktischer oder visionärer Art wurden zwar getilgt, aber Teile des Bunkers und der Unterkünfte galten als veritable Hüllen, die einer nun demokratisch legitimierten militärischen Nutzung zugänglich gemacht wurden.«11 Aus dem »Bunker Valentin« wurde das »Marinematerialdepot«, womit die Vergangenheit des Ortes auch verbal überschrieben werden konnte.12 Gleichzeitig erklärte die Bundswehr das nunmehrige Depot zur militärischen Geheimsache: Radio Bremen wurden Dreharbeiten vor Ort verweigert, der Bunker von Landkarten und Luftbildern entfernt. Erst Anfang der 1980er-Jahre rückte die Entstehungsgeschichte wieder in den Blickpunkt. 1981 sendete Radio Bremen ein Hörfunkfeature über den Einsatz der Zwangsarbeiter beim Bau des Bunkers.13 Vor Ort entstanden Bürgerinitia-

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das nahegelegene Kraftwerk mit zerstört hätten, als nicht durchführbar. Die örtliche Bevölkerung plädierte ebenfalls dafür, den Bunker verschwinden zu lassen, »damit auch in diesem Teil des Landes Bremen die Erinnerung an die Schrecken des Krieges nicht immer wieder wachgerufen wird«, wie es in einem Schreiben des Ortsamtes Blumenthal an den Bremer Senat vom 22. 6. 1949 heißt; Staatsarchiv Bremen (StA Br) 4,29/1 – 963, zitiert nach: Buggeln: Bunker Valentin (Anm. 1), 167. Vgl. Air Proving Ground Command: Comparative test of effectiveness of large bombs against reinforced concrete structures, Project Ruby, Eglin Field, Florida 1946. en.wikipedia.org/wiki/Valentin_submarine_pens, (August 2012). Weser Kurier, 22. 05. 1952. Habbo Knoch: Transitstationen der Gewalt, Bunker und Baracken als Räume absoluter Verfügbarkeit. In: Inge Marszolek/Marc Buggeln (Hrsg.): Bunker : Kriegsort, Zuflucht, Erinnerungsraum. Frankfurt/Main 2008, 309 – 324, 314. Vgl. Buggeln: Bunker Valentin (Anm. 1), 183 f. Rainer Habel und Christian Siegel interviewten für diesen Beitrag auch den ehemaligen Leiter des Planungsbüros Erich Lackner, der auch fünfzig Jahre nach Kriegsende noch voller Stolz über den Bunker und die damit verbundene Leistung berichtete; vgl. ebd., 50; vgl. auch: Rainer W. Habel: »Blumen für Farge«. Erinnerungswege zum Bremer U-Boot-Bunker.

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tiven, die sich mit der Geschichte des Bunkerbaus befassten und einen Austausch mit den überlebenden ehemaligen Zwangsarbeitern begannen. 1983 wurde außerhalb des umzäunten Bunkergeländes in Anwesenheit ehemaliger Zwangsarbeiter ein Mahnmal eingeweiht. In den 1990er-Jahren öffnete sich schließlich auch die Bundeswehr der Geschichte ihres Materialdepots, ermöglichte Lesungen ehemaliger Häftlinge und Führungen durch den Bunker. Zwischen 1999 und 2005 gastierte das Bremer Theater für mehrere Spielzeiten mit dem Karl-KrausStück »Die letzten Tage der Menschheit« im nicht genutzten Ruinenteil des Bunkers und rückte den Bunker in das Bewusstsein der überregionalen Öffentlichkeit. Im Jahr 2007 schließlich verkündete das Verteidigungsministerium die Auflösung des Materialdepots zum Ende des Jahres 2010. Am 1. Januar 2011 ging der Bunker in den Besitz der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (BImA) über. Heute stellen sich der Bunker selbst, der Bereich der ehemaligen Baustelle und das Gelände, auf dem sich die Lager befunden haben, als mehrfach überformte historische Räume dar. Teilweise sind diese Überformungen schlicht Ergebnis einer naturräumlichen Entwicklung, also der Rückkehr von Vegetation auf vormals für das Bauvorhaben Bunker Valentin okkupierte Flächen. Bedeutsamer als dieser in gewisser Weise natürliche Prozess sind dagegen die bewussten Eingriffe in die historischen Räume. Sie zielten auf die Zerstörung und die Beseitigung der materiellen Hinterlassenschaften des Bunkerbaus und damit auch auf die Zerstörung des historischen Gedächtnisses dieser Räume.

Historische Räume und die forensische Herangehensweise: der Bunker, die Baustelle, die Lager Mit dem Ende der militärischen Nutzung besteht nun die Möglichkeit, den ursprünglichen Kontext der Errichtung des Bunkers und damit auch die Topografie der Rüstungslandschaft wieder sichtbar zu machen, deren Kern Valentin war.14 Diese Topografie wird durch drei räumliche Kategorien definiert, die im Folgenden in ihrer Bedeutung für die Neugestaltung und die Bildungsarbeit des im Aufbau befindlichen Denkortes »Bunker Valentin« vorgestellt werden: Der Bunker selbst stellt einen konkreten, umbauten Raum dar, der auf technische Machbarkeitsfantasien des NS-Regimes in den letzten beiden Kriegsjahren und In: Silke Wenk (Hrsg.): Erinnerungsorte aus Beton. Bunker in Städten und Landschaften. Berlin 2001, 167 – 179. 14 Vgl. Christel Trouv¦/Marcus Meyer/Mirko Wetzel: Gedenkstättenkonzeption für den Denkort U-Boot-Bunker Valentin. Bremen 2010. www.lzpb-bremen.de/sixcms/media.php/ 13/gedenkstaetten-konzeption_denkort%20U-Boot-BunkerValentin.pdf (29. 08. 2013).

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auf die Rüstungsmobilisierung im »totalen Krieg« verweist.15 Die Baustelle und das ehemalige Lagergelände können als verschwundene und vergessene Räume verstanden werden, die den Bunkerbau in den Kontext von Zwangsarbeit und Gewalt einordnen. Die Heimatländer und -orte der ehemaligen Zwangsarbeiter in ganz Europa, aber auch die U-Boot-Bunker entlang der französischen Atlantikküste, wo die in Bremen gebauten Boote stationiert worden wären, bilden die dritte Kategorie. Sie sind entfernte Räume und verdeutlichen, dass die Geschichte des Bunkers nicht allein Teil der bremischen Regionalgeschichte ist, sondern eine Dimension besitzt, die weit über den lokalen Kontext hinausweist. Die Kenntnis der verschwundenen und entfernten Räume ist notwendig, um diesen vornehmlich technisch definierten, konkreten umbauten historischen Raum zu verstehen, um ihn einerseits wieder in den Kontext von Krieg, Rüstung und Zwangsarbeit stellen zu können und ihn andererseits gleichzeitig jenseits der regionalen Verortung als »Prisma einer Weltgesellschaft im Krieg« (Habbo Knoch) verstehbar zu machen. Ausgangspunkt der Rekonstruktion der Räume sind die materiellen Hinterlassenschaften, die sie markieren. In der Konzeption des Denkorts Bunker Valentin werden sie als Spuren verstanden, die es mittels einer »forensischen Herangehensweise« zu sichern, zu zeigen und zu erklären gilt. Matthias Heyl (*1965), pädagogischer Leiter der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, hat diesen Begriff vorgeschlagen, um die noch verbliebenen baulichen Relikte der Tatorte nationalsozialistischer Gewaltverbrechen in die didaktische Arbeit der Gedenkstätten zu integrieren.16 Heyl wendet sich mit der forensischen Herangehensweise zunächst gegen die Vorstellung, die baulichen Überreste der NSZeit, insbesondere der ehemaligen Konzentrationslager, besäßen eine ihnen innewohnende Aura, die das eigentliche Spezifikum eines historischen Ortes ausmache. Er verweist zu Recht darauf, dass die vermeintliche Aura eines Ortes oder eines Gegenstandes vor allem der Projektion der Betrachterin oder des Betrachters entspringe und damit in erster Linie Ausdruck individueller Zuschreibungen und Erwartungen an einen bestimmten Ort oder an eine bestimmte Spur sei, keinesfalls aber eine eindeutige Aussage, die dem Objekt selbst innewohnt und für jeden gleichermaßen sicht- und offenbar wird. Die Fixierung auf die vermeintliche Aura habe aber vornehmlich mit emotionaler Ergriffenheit 15 Vgl. Detlef Garbe: Modernität und Barbarei. Marinerüstung und Zwangsarbeit. Zur Profilierung des »Denkortes« U-Boot-Bunker Bremen Farge in der deutschen Gedenkstättentopographie. Beitrag zum 50. bundesweiten Gedenkstättenseminar, Bremen, 11.–13. 9. 2008. In: Gedenkstättenrundbrief (2009), Heft 148, 3 – 14, 3 f. 16 Vgl. Matthias Heyl: »Forensische Bildung« am historischen Tat- und Bildungsort. Ein Plädoyer gegen das Erspüren von Geschichte. In: Christian Geißler/Bernd Overwien (Hrsg.): Elemente einer zeitgemäßen politischen Bildung. Festschrift für Prof. Hans-Fred Rathenow zum 65. Geburtstag. Münster 2010, 189 – 202.

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zu tun und kaum etwas mit wirklichem Verstehen, mit einer kognitiven Erfassung und Einordnung des Ortes oder des Gegenstandes.17 Heyl setzt der vermeintlichen Aura die objektive Beweiskraft des Objektes entgegen und versteht die hinterlassenen Dinge im forensischen Sinne als Beweise der Tat, also als Asservate. Diese gelte es aufzufinden und quellenkritisch zu deuten, um die Orte jenseits emotionaler Ergriffenheit gegebenenfalls als Orte einer Tat im Sinne eines objektiv nachweisbaren Verbrechens markieren zu können.18 Der kriminalistische Begriff der Forensik macht die baulichen Überreste der ehemaligen Konzentrationslager in den heutigen Gedenkstätten als Beweise für die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen deut- und verstehbar, die dort stattgefundenen haben. Dieser Zusammenhang ist für die ehemaligen Konzentrationslager selbstverständlich, offensichtlich und zentral. Für den Bunker Valentin und die ihn umgebenden historischen Räume ist er das nicht, weil er – wie eingangs geschildert – schon während seiner Bauzeit, noch mehr aber nach Kriegsende aus seinem zunächst evidenten Kontext als Tatort eines nationalsozialistischen Verbrechens gelöst und als davon getrennte technische Meisterleistung wahrgenommen wurde. Die auf diesen Kontext verweisenden Spuren, die Besucherinnen und Besucher in der Regel an einem solchen Tatort erwarten, fehlen: Es gibt kein Lagertor, keine Baracken, keinen Appellplatz und selbstverständlich auch kein Krematorium.19 Der einzige Stacheldraht, auch er bekanntlich fester Bestandteil der Ikonografie der Konzentrationslager und vermeintlich mit entsprechender Beweiskraft aufgeladen, gehört zu der Umzäunung, die von der Bundesmarine errichtet worden ist. Obwohl offensichtlich nicht aus der Bauzeit stammend – die Baustelle hatte gar keinen Zaun – und ebenso offensichtlich auch nicht der Stacheldraht eines ehemaligen Konzentrationslagers, muss er immer wieder als Motiv für Filmaufnahmen herhalten, als wäre er der einzige Beweis dafür, dass an diesem Ort doch nationalsozialistische Verbrechen stattgefunden hätten. Es bedarf hier tatsächlich einer forensischen Herangehensweise, mit deren Hilfe die Spuren von Zwangsarbeit und Gewalt gesichert, quellenkritisch gedeutet und sichtbar gemacht werden, um den Bunker als das zu markieren, was er auch und vor allem war : ein Tatort nationalsozialistischer Gewaltverbrechen.

17 Vgl. ebd., 189 f., 192. 18 Vgl. ebd., 199 f. 19 Vgl. Knoch: Transitstationen (Anm. 11), 320.

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Konkrete Räume: der Bunker Der Bunker Valentin selbst steht als Denkmal gerade nicht für die Utopie militärischer Perfektion, wie Habbo Knoch bemerkt.20 Ungeachtet dessen ließ es sich die Berliner Tageszeitung Die Welt nicht nehmen, noch im Januar 2012 von »Hitlers Superbunker« zu schwadronieren. Der Mythos Bunker als Ort baulicher und technischer Höchstleitungen lebt demnach bis heute fort und führt nicht wenige Besucherinnen und Besucher nach Bremen-Nord. Viele kommen allein wegen seiner in der Tat erheblichen Dimensionen und wollen erfahren, wie ein so großes Gebäude zwei Jahre vor Kriegsende noch gebaut werden konnte. Manche wissen um den Zusammenhang zwischen dem Bunker und dem UBoot-Bau und hoffen, ein solches könnte eventuell noch im Inneren zu besichtigen sein. Wieder Andere möchten den mysteriösen Ruinenteil und unterirdische Gänge sehen, die sich rund um den Bunker im Untergrund erstrecken sollen. Nur wenige haben vom Einsatz der Zwangsarbeiter gehört und wenn, dann oft im Zusammenhang mit Gerüchten über Leichen von Häftlingen, die von der SS im Beton versenkt worden sein sollen.21 Welche Erwartungen die Besucherinnen und Besucher auch zum Bunker Valentin geführt haben mögen, sie werden nicht selten beim Betreten des Bunkers enttäuscht. Der Zugang erfolgt über ein großes Rolltor auf der Nordseite und führt in jenen Teil, den die Bundesmarine als Materialdepot genutzt und entsprechend baulich verändert hat. Der Boden wurde hier nivelliert, gelbe Linien markieren nummerierte Stellflächen, Y-Kennzeichen an der Wand Parkflächen für Militärfahrzeuge. Eine Trennwand quer durch den Bunker trennt den intakten Teil der ursprünglich etwa 300 Meter langen Halle von dem Bereich, der von alliierten Bomben beschädigt wurde. Das Depot ähnelt einem Hochregallager ohne Hochregale. Nichts deutet hier offensichtlich auf die geplante U-BootProduktion hin. Didaktisch ist das durchaus von Vorteil, der Mythos »Bunker Valentin« wird hier zum ersten Mal in Frage gestellt. Die eigentliche Funktion des Bunkers wird erst im sogenannten Ruinenteil ablesbar. Die Decke war hier zu Kriegsende noch nicht vollständig fertiggestellt und konnte daher von zwei Fliegerbomben durchschlagen werden. Er umfasst etwa zwei Drittel der ursprünglichen Produktionsfläche. Im Gegensatz zum Depotteil wurde er lediglich von der inzwischen vergangenen Zeit überformt, nicht von den Notwendigkeiten einer Nachnutzung. Am Boden finden sich 20 Vgl. ebd., 313. 21 Die Landeszentrale für politische Bildung Bremen bietet seit Mai 2011 Führungen durch den Bunker an. Die hier wiedergegebenen Gründe für einen Besuch des Bunkers ergeben sich aus Befragungen der Besucherinnen und Besucher nach den ersten Testführungen und sind aufgrund der bisher gemachten Erfahrungen für einen nicht unerheblichen Teil vor allem der männlichen Besucher durchaus repräsentativ.

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Fundamente für die Aufnahme von Transportwagen, mit deren Hilfe die U-Boote über insgesamt dreizehn Taktstationen durch den Bunker verschoben werden sollten. Zwei große runde Becken markieren die Standorte zweier nicht mehr installierter Drehscheiben zur Ausrichtung der einzelnen Segmente.

Abb. 1: Der sogenannte Ruinenteil. Landeszentrale für politische Bildung Bremen, Foto: Harald Schwörer, www.photein.de.

Jede Öffnung, jede Nische, jeder Gang steht im Zusammenhang mit dem geplanten U-Boot-Bau. Als Spuren verweisen diese Hinterlassenschaften vor allem auf die Funktionalität des Bunkers. Er ist kein Monster, kein Ungetüm mit mythischer Ausstrahlung, als das er gelegentlich wahrgenommen wird,22 er ist auch keineswegs Ausdruck völligen Wahnsinns, jedenfalls nicht auf Seiten der Erbauer.23 Er ist das Ergebnis ausgesprochen rationaler Planungen unter den Bedingungen eines Kriegs, der an mehreren Fronten gleichzeitig verloren zu gehen drohte. Seine Bauweise folgt konsequent dem Umstand, dass der deutsche Luftraum zu Beginn des Jahres 1943 verletzlich geworden war und die Luftwaffe sich außerstande zeigte, die Werften zu schützen, auf denen die U-Boote unter 22 Vgl. Silke Betscher : Der Bunker und das Dorf. In: Marszolek/Buggeln: Bunker (Anm. 11), 112 – 126, 125. 23 Die Planer des Bunkers folgten lediglich den Vorgaben, in möglichst kurzer Zeit eine bombengesicherte Werft zu bauen, in der sich die Boote vom Typ XXI in hoher Stückzahl produzieren ließen. Inwieweit diese Werft und die darin produzierten U-Boote dem Krieg tatsächlich noch eine Wende hätten verleihen können, wäre der Bau rechtzeitig fertiggestellt worden, bleibt Spekulation; Buggeln: Bunker Valentin (Anm. 1), 51.

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normalen Umständen hätten gebaut werden können.24 Im Grunde sind die Ausmaße des Bunkers, vor allem seine bis zu sieben Meter starken Decken, die noch heute häufig ungläubiges Erstaunen hervorrufen, ein Ausdruck der Schwäche und der Verletzlichkeit nach den verheerenden Niederlagen der Wehrmacht, der Luftwaffe und der Kriegsmarine und kein Symbol der Macht. Eine zweite zentrale Spur im Inneren des Ruinenteils verweist auf die Vergeblichkeit aller Anstrengungen: Ein riesiger zerstörter Spannbetonträger ragt aus einem Bombenkrater von etwa acht Metern Durchmesser in den Innenraum. Nur die Stahlarmierungen verhindern, dass er zu Boden stürzt. Der zerstörte Träger belegt – so simpel das klingen mag – dass der Bunker kaputt ist, dass aller technischer Sachverstand der deutschen Ingenieure nicht ausgereicht hat, um eine bombensichere U-Boot-Werft zu bauen. Er konterkariert damit die häufig anzutreffende Vorstellung, es handle sich beim Bunker Valentin um ein unzerstörbares Symbol technischer Leistungsfähigkeit am Ende des Zweiten Weltkriegs.25 Er zerstört die eingangs erwähnte »Utopie militärischer Perfektion«, er »›entzaubert‹ den vermeintlich unzerstörbaren Bunker«.26 Dass der Bunker demnach ein erstens ausgesprochen funktionaler Ort war, der zweitens zerstört worden ist, bevor auch nur ein U-Boot gebaut werden konnte, würde auch den Besucherinnen und Besuchern deutlich, könnte man den Ruinenteil betreten und die entsprechenden Spuren betrachten. Zurzeit ist das unmöglich, da immer wieder Beton von der Decke herabfällt. Es bleibt daher gegenwärtig nur der Einblick durch ein weiteres Rolltor, das die Bundeswehr in die Trennwand zwischen Depot und Ruine eingebaut hat. Weder die Spuren der geplanten U-Boot-Produktion noch der Zerstörung der Werft lassen sich von dort aus deutlich erkennen. Statt dessen erstreckt sich vor den Besucherinnen und Besuchern eine im Halbdunkel liegende und je nach Wetter auch neblige Halle, deren Ende vom Tor aus kaum sichtbar ist und die tatsächlich eine auratische, also von individuellen Projektionen und Erwartungen geprägte Wirkung besitzt. Die Halle wirkt auf viele Besucherinnen und Besucher keineswegs wie ein Teil einer funktionalen, aber zerstörten U-Boot-Fabrik, sondern wie eine vermeintliche Schleuse in die Vergangenheit von 1943 bis 1945, in der sich eventuell doch noch verborgene Gänge oder geheimnisvolle Hinterlassenschaften der Nationalsozialisten finden lassen könnten. Dass dem nicht so ist, können sich die Besucherinnen und Besucher nicht selbst erschließen, wir müssen es ihnen zurzeit vom Tor aus erklären. In Zukunft, das ist Teil der baulichen Maßnahmen in den nächsten Jahren, soll der Ruinenteil teilweise 24 Vgl. ebd., 25. 25 Am deutlichsten wird diese Wahrnehmung an einem Aufkleber, der von den »Farger Ultras«, den Anhängern des örtlichen Fußballvereins, in Farge verteilt wird. Die Ultras gaben sich das Motto »Farge unzerstörbar« und illustrieren dies mit einer Skizze des Bunkers. 26 Garbe: Modernität (Anm. 15), 4.

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begehbar werden. Zwar wird es kaum möglich sein, ihn vollständig zu durchqueren. Aber die Spuren von Funktionalität und Zerstörung sollen dann sichtbar werden und den Ruinenteil als Teil einer nie fertiggestellten U-Boot-Werft deutbar und verstehbar machen.

Verschwundene Räume: die Baustelle Ursprünglich erstreckte sich um den Bunker eine Baustelle erheblichen Ausmaßes, durchzogen von Schienensträngen, Straßen, Materiallagern, Kränen, Förderbändern, Unterkunftsbaracken und Werkstätten. Dieser Raum war der eigentliche Ort der Interaktion zwischen Ingenieuren, den Vorarbeitern der deutschen Baufirmen, den Zwangsarbeitern, Kriegsgefangenen, KZ- Häftlingen und Wachmannschaften von SS und Kriegsmarine. Hier wurde täglich über die Lebensbedingungen der Häftlinge entschieden, hier bot sich für alle Beteiligten eine Vielzahl von Handlungsspielräumen. Heute ist die Fläche entweder überwachsen oder von Ackerflächen bedeckt. Allerdings finden sich auch hier noch immer Spuren, die eine andere Geschichte erzählen als die von »Hitlers Superbunker« oder dem »8. Weltwunder am Weserstrand«. Dazu gehören die Fundamente von Zementmischern, die auf der Nordseite des Bunkers errichtet worden waren und die im Sinne der forensischen Pädagogik auf den Prozess der Zwangsarbeit und der sie prägenden Willkür und Gewalt verweisen. Der französische KZ-Häftling Raymond Portefaix (*1926, † 1995) berichtet in seinen Erinnerungen, die er kurz nach dem Krieg verfasste, von der Arbeit an diesen Betonmischern im sogenannten Zementkommando.27 Eindrücklich schildert er den Arbeitsprozess, das Abladen von fünfzig Kilo schweren Zementsäcken, die auf der Schulter eine schmale Holzleiter hinaufgetragen werden und in die Mischer geleert werden mussten, während ein Kapo28 sie zur Arbeit antrieb. Eine Mischtrommel fasste 300 Sack Zement in der Stunde und musste von jeweils zehn Häftlingen befüllt werden. Portefaix nannte die Anlage einen »Menschenfresser, dessen Hunger nie gestillt wurde«.29 Von sich selber berichtet er, weniger als die Säcke gewogen zu haben, die er zu tragen hatte. 27 Raymond Portefaix: »Vernichtung durch Arbeit« – Das Außenkommando Bremen-Farge. In: Ders./Andr¦ Migdal/Klaas Touber: Hortensien in Farge. Überleben im Bunker »Valentin«. Bremen 1995, 21 – 116, 55 f. Zu Raymond Portefaix vgl. Marc Buggeln: Arbeit und Gewalt. Die Außenlager des KZ Neuengamme. Göttingen 2009, 537 – 545. 28 Kapo: Funktionshäftling in einem Konzentrationslager, vgl. Nicole Warmbold: Lagersprache. Zur Sprache der Opfer in den Konzentrationslagern Sachsenhausen, Dachau, Buchenwald. Bremen 2008. 29 Portefaix: Vernichtung (Anm. 27), 56.

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Abb. 2 und 3: Die Betonmischanlage auf der Nordseite im Jahre 1944 (links) und 2011 (rechts). Landeszentrale für politische Bildung Bremen/Staatsarchiv Bremen, Foto rechts: Marcus Meyer.

Es existieren Bilder von diesen Mischanlagen.30 Sie zeigen die Trommeln, die Portefaix beschreibt, sie zeigen die Leiter, die er hinaufsteigen musste, die Loren, auf denen die Zementsäcke angeliefert wurden und die Häftlinge, die sie abzuladen hatten.31 Die oberen fünfzig Zentimeter der insgesamt etwa drei Meter hohen Fundamente ragen noch heute aus dem Boden und machen es möglich, Portefaix’ Beschreibungen des Zementkommandos einen Ort zu geben. Die Mischanlage ist wohl die zentralste Spur, das wichtigste Asservat, um den Kontext zwischen Bunkerbau und Zwangsarbeit wieder herzustellen. Im Zusammenspiel zwischen der baulichen Spur, den Fotos und dem Bericht des Überlebenden wird aus dem zunächst nicht zu deutenden baulichen Relikt der Beweis der Tat, der Beweis, dass an diesem Ort, nur fünfzig Meter entfernt von der hochtechnisierten Werft, Zwangsarbeit von Hand und im Akkord verrichtet wurde, um sie überhaupt bauen zu können. An kaum einem anderen Ort im Bereich des Bunkers wird das für ihn so charakteristische Nebeneinander von 30 Der Bremer Fotograf Johann Seubert dokumentierte die Baustelle im Auftrag der Marinebauleitung und der AG »Weser«. Es entstand eine Serie von über tausend Bildern, die fast jeden Bereich der Baustelle zeigt. Zur Analyse der Sammlung vgl. Buggeln: Arbeit (Anm. 27), 172 – 177. 31 Vgl. Portefaix: Vernichtung (Anm. 27), 56.

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Modernität und Barbarei so deutlich.32 Die Mischanlage wird deshalb im Rahmen der Umsetzung der Gedenkstättenkonzeption freigelegt, konserviert und mittels des vorhandenen Quellenmaterials dokumentiert.

Verschwundene Räume: die Lager Auch die wenigen noch vorhandenen baulichen Überreste der ehemaligen Lager sind für die Kontextualisierung des Bunkers und die Rekonstruktion der ihn umgebenden Räume unverzichtbar. Allerdings sind auch sie überwuchert und verwittert. Das gilt nicht zuletzt für das KZ-Außenlager Farge, das zum KZ Neuengamme gehörte und 1943 errichtet wurde.33 Es bestand im Wesentlichen aus einem nicht mehr genutzten unterirdischen Treibstofftank eines nicht fertig gestellten Marinetanklagers und liegt etwa drei Kilometer vom Bunker entfernt. Der Tank hatte einen Durchmesser von fünfzig Metern und war etwa sieben Meter hoch. Zwischen Pfeilern, die die Betondecke trugen, waren Pritschen aufgestellt, es gab einen abgetrennten Raum für die Funktionshäftlinge und eine Waschgelegenheit, eine Holztreppe führte zum Ausgang. Zwischen 1.000 und 2.500 Häftlinge waren hier eingepfercht. Um den Tank herum wurden einige Funktionsbaracken errichtet. 380 Häftlinge starben im Außenlager Frage vor allem aufgrund der Mangelernährung bei gleichzeitiger Schwerstarbeit auf der Baustelle. Weitere etwa 320 Häftlinge kamen im Stammlager Neuengamme oder auf den Todesmärschen ums Leben. Das KZ-Außenlager war einer jener Orte von funktionaler Gewalt und unberechenbarem Terror, ohne die das KZ-System undenkbar gewesen wäre.34 Auch hier fehlen nahezu alle Spuren, die Besucherinnen und Besucher erwarten, wenn von einem Konzentrationslager die Rede ist. Es existieren keine Zäune und keine Baracken mehr, der Tank selbst wurde noch 1945 gesprengt und mit Erde zugeschüttet. Heute steht man vor einem mit Gehölz überwucherten Erdhügel. Nur eine Stele des Vereins »Geschichtslehrpfad Lagerstraße« weist ihn als Standort des ehemaligen Außenlagers aus. Hier stehen wir vor einer noch weit größeren Herausforderung. Denn erstens müssen die eventuell noch vorhandenen Spuren freigelegt, gesichert und dokumentiert werden.35 Vor allem aber muss ein Weg gefunden werden, wie sich die Standorte der ehemaligen Lager wieder mit dem Bunker verbinden lassen. 32 Vgl. Garbe: Modernität (Anm. 15), 5. 33 Vgl. zum KZ-Außenlager Farge: Buggeln: Bunker Valentin (Anm. 1), 78 – 107; ders.: Arbeit (Anm. 27), 238 – 243. 34 Vgl. Buggeln: Bunker Valentin (Anm. 1) , 82. 35 Die Neugestaltung des Lagergeländes ist nicht Bestandteil der konkreten Umgestaltung des Denkortes Bunker Valentin, da erstens weite Teile bereits auf niedersächsischem Gebiet liegen und zweitens zu einem noch immer genutzten Truppenübungsplatz gehören.

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Abb. 4 und 5: Der Eingang zum ehemaligen KZ-Außenlager Farge 1944 (oben), Landeszentrale für politische Bildung Bremen; Stele des Vereins Geschichtslehrpfad Lagerstraße am ehemaligen Eingang zum Außenlager, 2008 (unten), Verein Geschichtslehrpfad Lagerstraße, Foto: Heiko Kania.

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Das ehemalige Arbeitserziehungslager liegt in zwei, das ehemalige Außenlager in etwa drei Kilometern Entfernung. Bis zum ehemaligen Marinegemeinschaftslager als äußerstem Punkt des Lagerkosmos’ um den Bunker wären fast acht Kilometer zu überwinden. Schon zwei Kilometer lassen sich im Rahmen einer neunzigminütigen Führung nicht überwinden, zumal es sich bei der einzigen Wegeverbindung, der ehemaligen Lagerstraße, um einen landwirtschaftlichen Nutzweg handelt. Zurzeit bleibt nur, vom Bunker mittels topografischer Erläuterungen auf die ehemaligen Lagerstandorte zu verweisen.

Entfernte Räume: U-Boot-Bunker in Frankreich Auf dem gleichen Weg müssen wir die entfernten historischen Räume sichtbar machen, die den Bunker in einen Kontext stellen, der weit über die Grenzen Bremens und des Deutschen Reichs hinaus verweist. Diese europäischen Bezüge sind vielfältig. Wilhelm Nolting-Hauff (1902 – 1986), Häftling im Arbeitserziehungslager und späterer Bremer Finanzsenator, beschrieb die Bunkerbaustelle in seinen Erinnerungen angesichts der vielen unterschiedlichen Herkunftsländer der Zwangsarbeiter als Europa im Kleinen.36 Die Boote, die im Bunker gebaut werden sollten, wären im Atlantik eingesetzt worden, stationiert in den U-Boot-Basen in Brest, St. Nazaire, Lorient oder Bordeaux. Genau wie der Bunker Valentin sind auch sie häufig von Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen errichtet worden, genau wie der Bunker Valentin lassen sich auch diese Anlagen nicht vollständig zurückbauen und prägen daher bis heute das Gesicht der Städte, die sie umgeben. Von Bremen aus betrachtet ist diese Verbindung evident. Sie verweist darauf, dass im Norden Bremens U-Boote produziert werden sollten, mit deren Hilfe die Kriegsmarine Nachschubtransporter der Alliierten versenken wollte. Die Frage, wie sich diese Verbindung zwischen dem Bunker Valentin und der Rüstungslandschaft in Bremen-Nord zu den europäischen Orten sichtbar machen lässt, ist noch nicht vollständig gelöst. Zurzeit können wir diese Verbindung vom Bunker Valentin aus damit verdeutlichen, dass wir Karten aus dem U-Boot-Krieg in die Ausstellung integrieren, die den Bunker Valentin als Teil dieser Bunker-Kette ausweisen, die von Norwegen bis Südfrankreich gereicht hat und noch heute sichtbar ist. Unklar bleibt dabei, ob auf französischer Seite der Wunsch besteht, von den UBoot-Basen am Atlantik in umgekehrter Richtung auf den Bunker in Bremen-Nord zu verweisen. Wie in Bremen-Nord auch, hat der Bau der Bunkeranlagen auch die Städte an der Atlantikküste stark geprägt. Einerseits wurden die Hafenanlagen massiv verändert. Viel entscheidender war aber andererseits, dass sich die alli36 Wilhelm Nolting-Hauff: IMIS. Chronik einer Verbannung. Bremen 1946.

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ierten Angriffe auf die Städte und die Häfen in der direkten Umgebung der Bunker konzentrierten, weil sich die Anlagen selbst kaum beschädigen ließen. St. Nazaire wurde deshalb zu achtzig Prozent zerstört. Geblieben ist auch dort nur eine riesige Bunkeranlage, die noch immer eine Narbe ist. Die U-Boot-Basis ist ein Erinnerungsraum der Zerstörung und trennt die Stadt bis heute von ihrem Hafen. Die Umgestaltung des Bunkers zu einem Ort der Kultur dokumentiert den Prozess einer Wiederaneignung dieses Ortes und den Versuch, die Narbe zu schließen. Auch hier handelt es sich um einen gewollten Prozess der Entkontextualisierung. Die Bunker an der Atlantikküste sollen gerade keine Asservate mehr sein, die an den Zweiten Weltkrieg erinnern.37

Fazit: Gedächtnisraum Denkort Bunker Valentin Alina Bothe (*1983) stellte in ihrem Beitrag zur Konferenz die These auf, dass Geschichte in den Raum hineingeschrieben, aber auch wieder aus ihm herausgelöscht werde.38 Der Bunker Valentin und die ihn umgebenden Räume sind ein Beispiel für die Richtigkeit dieser These. Der einst zusammenhängende historische Raum mit Bunkerbaustelle und Lagerstandorten, der ursprünglich eine zusammenhängende Rüstungslandschaft bildete, zerfiel nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in mehrere kleinere Räume die nun in keinem offensichtlichen Zusammenhang mehr standen: Der Bunker wurde zum Materialdepot, die ehemalige Baustelle zur landwirtschaftlichen Nutzfläche, das ehemalige Lagergelände zum Truppenübungsplatz, die Bunker an der französischen Atlantikküste zu touristisch genutzten Bauwerken. Erst die Trennung der Räume, vor allem die Trennung zwischen der Bunkerbaustelle und den ehemaligen Lagerstandorten und damit zwischen der vermeintlichen technischen Meisterleistung und den Orten des Terrors, machte diese Nachnutzung möglich. Allerdings – hier wäre die These von Alina Bothe zu relativieren – lässt sich die eingeschriebene Geschichte zumindest im Falle des Bunkers Valentin nicht endgültig und vollständig löschen, sondern lediglich überformen. Die Hinterlassenschaften der Rüstungslandschaft mögen vielfach verschwunden sein, aber Überreste bleiben. Anhand dieser Überreste lässt sich der ursprüngliche räumliche Zusammenhang wiederherstellen. Deshalb ist die Auseinandersetzung mit dem spatial turn sowohl für die historische Forschung zum Bunker Valentin wie auch für die Konzeption des Denkortes Bunker Valentin anregend und fruchtbar. 37 Vgl. Marszolek/Buggeln: Bunker (Anm. 11), 14 – 15. 38 Vgl. Sebastian Diziol: Tagungsbericht Fünf-Länder-Tagung »Gedächtnisräume. Geschichtsbilder und Erinnerungskulturen in Norddeutschland« 15. 06. 2012 – 16. 06. 2012, Hamburg. http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=4302 (10. 07. 2012).

Andrea Brait

Wege zu vielschichtigen Gedächtnisorten auf lokaler, regionaler, nationaler und transnationaler Ebene. Eine Analyse unter besonderer Berücksichtigung der Neugestaltung der Gedenkstätte Ahlem

Kulturelle Gedächtnisse »[G]emeinsames Erinnern meint immer auch Konstruktion, Indienstnahme und Besetzung von gesellschaftlichen Denkräumen und Symbolen«,1 so Wolfgang Kaschuba (*1950). Dieser Satz muss nachdenklich stimmen: In welchen Fällen ist ein »gemeinsames Erinnern« möglich? Wie kann ein solches durch die Besetzung von Räumen und Symbolen gestützt werden? Im Zusammenhang mit dem Holocaust wird es zunehmend schwierig von »Erinnerung« zu sprechen, vielmehr handelt es sich meistens um die Pflege von »Gedächtniskulturen«, denn die noch lebenden Zeitzeugen werden über sechzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs immer weniger. Im Sinne Jan (*1938) und Aleida Assmanns (*1947) kann von einem »kulturellen Gedächtnis« gesprochen werden, das als »Sache affektiver Bindung, kultureller Formung und bewußten, den Bruch überwindenden Vergangenheitsbezugs«2 definiert werden kann. Für ihn bildet es einen »Oberbegriff für den mit den Stichwörtern ›Traditionsbildung‹, ›Vergangenheitsbezug‹ und ›politische Identität beziehungsweise Imagination‹ umrissenen Funktionsrahmen«3. Im Unterschied zum kommunikativen Gedächtnis bezieht sich das kulturelle Gedächtnis auf einen Zeitrahmen, der über die Generation(en) der Zeitzeugen hinausreicht.4 Bereits Maurice Halbwachs (1877 – 1945) hat aufgezeigt, als er sich der »Lokalisierung der Erinnerung« zuwandte, dass »ebenso wie die Menschen gleichzeitig vielen verschiedenen Gruppen angehören, so auch die Erinnerung an ein und dasselbe Ereignis in viele Bezugsrahmen hineinpaßt, die verschie1 Wolfgang Kaschuba: Gedächtnislandschaften und Generationen. In: Petra Frank/Stefan Hördler (Hrsg.): Der Nationalsozialismus im Spiegel des öffentlichen Gedächtnisses. Formen der Aufarbeitung und des Gedenkens. Berlin 2005, 183 – 196, 183. 2 Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Kultur in frühen Hochkulturen. 2. durchgesehene Aufl. München 1997, 34. 3 Ebd., 24. 4 Ebd., 56.

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denen Kollektivgedächtnissen angehören«.5 Nun stellt sich die Frage, inwiefern einzelne Orte von solchen »verschiedenen Kollektivgedächtnissen« geprägt werden können und wie diese in wissenschaftlich fundiert gestalteten Einrichtungen einbezogen und zueinander in Beziehung gesetzt werden können. Beispielhaft wird hierzu im Folgenden auf die Gedenkstätte Ahlem eingegangen: Mit dieser verbunden sind nicht nur Gedächtnisse auf lokaler, regionaler, nationaler und transnationaler Ebene, sondern auch Gedächtnisse verschiedener Opfergruppen. Die folgenden Ausführungen zielen insbesondere darauf ab aufzuzeigen, welche unterschiedlichen Einflüsse auf Versuche einer neuen Aufarbeitung der Geschichte dieses Ortes wirken.

Der Holocaust – ein europäischer Gedächtnisort Der Holocaust, der sich als Begriff zu Beginn des 21. Jahrhunderts in Deutschland, Israel und den USA gleichermaßen durchgesetzt hat,6 ist wie kaum ein anderes Ereignis zu einem transnationalen und speziell europäischen Gedächtnisort geworden,7 wenngleich sich die europäische Identität traditionell vielmehr als »die europäisch-einzigartige Verbindung von Historizität, Wissenschaftlichkeit und Zivilisiertheit«8 versteht, wie Wolfgang Schmale betont. Dennoch spielen die Verbrechen der Nationalsozialisten für Europa und die Versuche der Europäischen Union eine Identität aufzubauen derzeit eine wichtige Rolle. Die EU greift dabei auf Prozesse zurück, die sich in den einzelnen Mitgliedstaaten seit den 1970er-Jahren entwickelt haben und hat »die Erinnerung an den Holocaust zum Gegenstand ihrer Identitätspolitik gemacht«9. Der Holocaust wird Daniel Levy (*1957) und Natan Sznaider (*1954) zufolge zunehmend »zum Allgemeingut und erlaubt es Menschen, in den verschiedensten Ländern sich mit ihm auf unterschiedlichste Weise auseinanderzusetzen«.10 Dabei entwickelte sich jedoch kein gleichförmiges europäisches Narrativ : Der nationale Gedächtnisrahmen geht nicht verloren, aber er wird relativiert. Man kann also von einem »kosmopolitischen Gedächtnis« sprechen, das immer auch Vielfältigkeit bedeutet und im Gegensatz zur tendenziellen Monolithik natio5 Maurice Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Berlin-Neuwied 1966, 200. 6 Vgl.: Daniel Levy/Natan Sznaider: Erinnerung im globalen Zeitalter : Der Holocaust. Frankfurt/Main 2001, 68. 7 Vgl.: Wolfgang Benz: Auschwitz. Die Verortung des Holocaust. In: Pim den Boer/Heinz Duchhardt/Georg Kreis/Wolfgang Schmale (Hrsg.): Europäische Erinnerungsorte 2. Das Haus Europa. München 2012, 465 – 477. 8 Wolfgang Schmale: Geschichte und Zukunft der europäischen Identität. Stuttgart 2008, 32. 9 Ebd., 165. 10 Levy/Sznaider (Anm. 6), 23.

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naler Gedächtnisse und Erzählungen steht.11 Schmale resümiert wie folgt: »Das Europäische Gedächtnis des 21. Jahrhunderts hat (…) eine Grundstruktur erhalten, die allerdings von nationalen Erinnerungs- und Gedächtnisstrukturen überlagert wird. Dabei steht derzeit noch einer westeuropäischen Gedächtnisstruktur, auf die die Universalisierung der Holocausterinnerung erheblichen Einfluss genommen hat, eine vielfach differenzierte ostmittel- und südosteuropäische Gedächtnisstruktur gegenüber, für die der Holocaust eine ungleich geringere, insgesamt jedoch zunehmende Bedeutung besitzt.«12 In Deutschland intensivierte sich insbesondere ab den späten 1970er-Jahren die öffentlich-mediale Beschäftigung mit den Verbrechen der Nationalsozialisten, wobei als Höhepunkte der Entwicklung immer wieder die 1979 erfolgte Ausstrahlung der TV-Serie »Holocaust«, die ein breites Interesse der Bevölkerung an der Thematik sicherlich gefördert hat,13 sowie der 1986 bis 1987 ausgetragene Historikerstreit genannt werden. Die TV-Serie zeigte jedoch deutlich die »bereits um 1960 erkennbare Tendenz (…), die NS-Verbrechen auf die Judenverfolgung und auf Auschwitz zu fokussieren (…) weit weg vom Alltag der bundesdeutschen Gesellschaft«.14 Die »Wiederkehr des Verdrängten«, um mit Jan Assmann zu sprechen,15 äußerte sich schließlich neben der Herausgabe unzähliger Bücher und der Durchführung zahlreicher großer Forschungsprojekte insbesondere in der Einrichtung neuer musealer Präsentationen sowie der Neu- und Umgestaltung bestehender Gedenkstätten, was in einem engen Zusammenhang mit der Entwicklung der Gedächtnisforschung zu einem neuen kulturwissenschaftlichen Paradigma steht.16 Als wichtiger Meilenstein ist die Errichtung des Denkmals für die ermordeten Juden Europas in Berlin zu betrachten; seit 2005 ist der darunter liegende »Ort der Information« für Besucher zugänglich. Die Entstehungsgeschichte des Denkmals und der Ausstellung zeigt deutlich das große mediale und öffentliche Interesse, das mit derartigen Pro11 Schmale (Anm. 8), 162. 12 Ebd., 164. 13 Vgl.: Gerhard Paul: Holocaust – Vom Beschweigen zur Medialisierung. Über Veränderungen im Umgang mit Holocaust und Nationalsozialismus in der Mediengesellschaft. In: Gerhard Paul/Bernhard Schoßig (Hrsg.): Öffentliche Erinnerung und Medialisierung des Nationalsozialismus. Eine Bilanz der letzten dreißig Jahre (Dachauer Symposien zur Zeitgeschichte 10). Göttingen 2010, 15 – 38. 14 Habbo Knoch: Die Rückkehr der Zeugen. Gedenkstätten als Gedächtnisorte der Bundesrepublik. In: Gerhard Paul/Bernhard Schoßig (Hrsg.): Öffentliche Erinnerung und Medialisierung des Nationalsozialismus. Eine Bilanz der letzten dreißig Jahre (Dachauer Symposien zur Zeitgeschichte 10). Göttingen 2010, 116 – 137,122. 15 Jan Assmann: Das kollektive Gedächtnis zwischen Körper und Schrift. Zur Gedächtnistheorie von Maurice Halbwachs. In: Hermann Krapoth/Denis Laborde (Hrsg.): Erinnerung und Gesellschaft. M¦moire et Soci¦t¦. Hommage — Maurice Halbwachs (1877 – 1945). Wiesbaden 2005, 65 – 81, 67. 16 Ebd., 69.

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jekten in den letzten beiden Jahrzehnten verbunden war. Auch hinsichtlich der Debatten der 1980er-Jahre um die Museumsprojekte in Bonn und Berlin stellte sich die Einbeziehung des Holocaust als ein zentraler Diskussionspunkt heraus.17 Der räumliche Bezug auf die NS-Vergangenheit an den Orten der Verbrechen wird, wie Dirk Lange (*1964) zu Recht betont, in den kommenden Jahren noch weiter Bedeutung gewinnen, da die Möglichkeit einer persönlichen Bezugnahme in Form von Gesprächen mit Zeitzeugen immer seltener wird.18 Parallel zu den Forschungen über »Gedächtnisorte« im Anschluss an Pierre Noras (*1931) Projekt »Les lieux de m¦moire« entwickelte sich ein weiterer Raumdiskurs, der, wie Aleida Assmann ausführt, auf die Überlegungen von Henri Lefebvre (1901 – 1991) und Michel Foucault (1926 – 1984) zurückgeht und auf der Einsicht beruht, dass »historisches Geschehen nicht nur in Räumen stattfindet, sondern sich mit ihnen auch verschränkt und von ihnen wesentlich mitbestimmt ist«.19 Im politischen Sinne meint »Raum« ein bestimmtes Territorium, das schon immer als Motor für koloniale und imperiale Politik wirkte. »Raum« sei, so Assmann, im Unterschied zum »Ort« »vorwiegend ein Gegenstand des Machens und Planens, eine Dispositionsmasse für intentionale Akteure, ob es sich dabei um Eroberer, Architekten, Stadtplaner oder Politiker handelt. Alle haben die Zukunft im Blick; sie wollen eingreifen, verändern, umgestalten.« Weiter heißt es bei Assmann: »›Orte‹ sind demgegenüber dadurch bestimmt, dass an ihnen bereits gehandelt beziehungsweise etwas erlebt und erlitten wurde. Hier hat Geschichte immer schon stattgefunden und ihre Zeichen in Form von Spuren, Relikten, Resten, Kerben, Narben, Wunden zurückgelassen. Orte haben Namen und Geschichte beziehungsweise Geschichten, sie bergen Vergangenheit; Räume dagegen öffnen Dimensionen des Planens und weisen in die Zukunft.«20 Verstehen wir Gedenkstätten als solche in die Zukunft gerichtete »Gedächtnisräume«, an denen eine Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Nationalsozialismus gefördert werden soll, ist die These von Gerhard Paul (*1951), dass »die Medialisierung von Nationalsozialismus und Holocaust – zumindest aus der Perspektive des kommunikativen Gedächtnisses – letztlich nichts anderes als die zeitgenössische Form des Beschweigens« ist und sich die Bundes17 Andrea Brait: Museale Präsentationen im Umgang mit dem Holocaust. Ausgewählte österreichische und deutsche Museen im Vergleich. In: Ursula von Keitz/Thomas Weber (Hrsg.): Mediale Transformationen des Holocausts. Berlin 2013, 415 – 449. 18 Dirk Lange: Politische Bildung an historischen Orten. Vorüberlegungen für eine Didaktik des Erinnerns. In: Dirk Lange (Hrsg.): Politische Bildung an historischen Orten. Materialien zur Didaktik des Erinnerns. Baltmannsweiler 2006, 7 – 19, 7. 19 Aleida Assmann: Geschichte findet Stadt. In: Moritz Cs‚ky/Christoph Leitgeb (Hrsg.): Kommunikation – Gedächtnis – Raum. Kulturwissenschaften nach dem »Spatial Turn«. Bielefeld 2009, 13 – 27, 15. 20 Ebd., 15 f.

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republik »in der Phase der dritten Verdrängung« befindet, nicht haltbar. Paul geht davon aus, dass »seit der Ausstrahlung von Holocaust von 1979 (…) zwar die meisten Deutschen [wissen], dass es den Judenmord gegeben hat, sie haben sogar ein Bild von ihm verfügbar, aber sie wissen nicht eigentlich warum es ihn gab«.21 Gerade die dezentralen Gedenkstätten in der Bundesrepublik tragen wesentlich dazu bei, dass der Holocaust nicht nur im kulturellen Gedächtnis verankert ist, sondern auch für das kommunikative Gedächtnis im Sinne Jan Assmanns, also für die gesellschaftliche Alltagsinteraktion,22 eine wesentliche Rolle spielt.

Gedenkstätten in Niedersachsen Die zunehmende Bedeutung, die den Orten, an denen während des Nationalsozialismus Verbrechen gegen die Menschlichkeit stattfanden, zugeschrieben wird, veränderte auch die Gedenkstättenlandschaft in Niedersachsen. Erst in den 1980er-Jahren entwickelte sich ein breiteres öffentliches Interesse, nach den Spuren der Verfolgungsstätten zu suchen. Abgesehen von wenigen Friedhöfen und Mahnmalen gab es bis dahin kaum Orte, an denen an die Verbrechen erinnert wurde und »[w]o es Gedenkzeichen gab, blieben sie in der Regel stumm, denn es fehlte an Dokumentationen, Ausstellungen und Bildungsarbeit«.23 Auch bestehende Gedenkstätten wurden in den letzten Jahr(zehnt)en neu gestaltet. In Bergen-Belsen etwa, jenem Lager, in dem in Niedersachsen die meisten Menschen Opfer der Verbrechen der Nationalsozialisten wurden, gab es zwar schon 1966 und 1990 erste Versuche, die Geschichte des Lagers in Form von Ausstellungen darzustellen, ein größeres Dokumentationszentrum, welches das Ergebnis einer detaillierten Untersuchung der »vielschichtige[n] Geschichte dieses Ortes als Kriegsgefangenenlager, Konzentrationslager und Displaced Persons Camp«24 ist, wurde jedoch erst 2007 eröffnet. Die Entwicklung in Niedersachsen ist ebenso wie in der ganzen Bundesrepublik stark beeinflusst von der Tätigkeit von Geschichtswerkstätten, welche eine Beschäftigung mit den NS-Verbrechen an den historischen Orten forder21 Paul (Anm. 13), 31 (Hervorhebung im Original). 22 Vgl.: Assmann (Anm. 2), 20 f. 23 Elisabeth Heister-Neumann: Erinnerung braucht Zukunft. In: Michael Pechel (Red.)/Stiftung Niedersächsische Gedenkstätten in Kooperation mit der Interessengemeinschaft niedersächsischer Gedenkstätten und Initiativen zur Erinnerung an die NS-Verbrechen (Hrsg.): Geschichte bewusst machen. Gedenkstätten und Erinnerungskultur in Niedersachsen. Celle 2009, 8 f, 8. 24 http://bergen-belsen.stiftung-ng.de (01. 04. 2013).

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ten.25 In Verbindung mit neuen subjektorientierten Forschungsansätzen und der Entwicklung neuer Vermittlungsformen entstanden so neue Lernorte, die sich mit der Geschichte der unterschiedlichen Opfergruppen befassen.26 Nach oft langwierigen öffentlichen Diskursen wurden nach und nach in der Bundesrepublik neue Gedenkstätten eingerichtet27 beziehungsweise bestehende neu bearbeitet und gestaltet. Mitte der 1990er-Jahre waren Gedenkstätten in der Bundesrepublik »zu Gedächtnisorten geworden, die in kritischer Spannung zu Gesellschaft, Staat und Politik standen und ihre Selbstlegitimation nicht zuletzt daraus ableiteten, durch ihre Bildungsarbeit überkommende Strukturen der NSVergangenheit und der Täterschaft verändern zu wollen«.28 Aufgrund der Kompetenzverteilung des Grundgesetzes obliegt die Gedenkstättenförderung in erster Linie den Bundesländern.29 Nachdem in den 1990erJahren noch die Errichtung eines zentralen Holocaust-Museums diskutiert worden war, wurde schließlich die Dezentralität und Pluralität der Gedenkstättenlandschaft in der Gedenkstättenkonzeption des Bundes 1999 festgeschrieben.30 In Niedersachen werden aufgrund eines Beschlusses des Landtages vom Januar 1990 seit 1991 auch Gedenkstätten in privater Trägerschaft sowie Initiativen zur Erinnerung an die NS-Verbrechen mit Landesmitteln gefördert.31 Ende 2004 folgte die Gründung der »Stiftung niedersächsischer Gedenkstätten«32, die seit 2009 auch vom Bund gefördert wird.33 In Paragraf 2 des Gesetzes über die 25 Vgl.: Knoch (Anm. 14), 121. 26 Vgl.: Dietmar Sedlaczek: Partizipation und Erinnerungskultur. Die Arbeit der Initiativen und NS-Gedenkstätten in freier Trägerschaft in Niedersachen. In: Pechel (Anm. 23), 10 f. 27 Vgl.: Knoch (Anm. 14), 127. 28 Ebd., 129. 29 Vgl.: BT-Drucksache 17/8134, 69. Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Abgeordneten Jan Korte, Sevim Dag˘delen, Ulla Jelpke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. Drucksache 17/4126 – Umgang mit der NS-Vergangenheit. 30 Vgl.: BT-Drucksache 14/1569, 4. Konzeption der künftigen Gedenkstättenförderung des Bundes und Bericht der Bundesregierung über die Beteiligung des Bundes an Gedenkstätten in der Bundesrepublik Deutschland. 31 Vgl.: Drucksache 11/4871. Politische Unterstützung für die Arbeit und Finanzierung der Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus in Niedersachsen, Unterrichtung Landtagspräsident 17. 01. 1990. In Punkt 2 heißt es: »Zur Förderung der Gedenkstättenarbeit und der Aufarbeitung von Wissensdefiziten in diesem Bereich sind Haushaltsmittel einzusetzen. Daraus werden Projekte der Gedenkstättenarbeit unterstützt, die der Aufklärung der Verbrechen während der NS-Zeit dienen oder an die Opfer der Verfolgung und den Widerstand in Niedersachsen erinnern.« 32 Vgl.: Niedersächsisches Gesetz- und Verordnungsblatt (Nds. GVBl.), 494, VORIS 40210. Gesetz über die »Stiftung niedersächsische Gedenkstätten« (GedenkStG) vom 18. November 2004. 33 Vgl.: BT-Drucksache 17/8134, 78. Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Abgeordneten Jan Korte, Sevim Dag˘delen, Ulla Jelpke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE – Drucksache 17/4126 – Umgang mit der NS-Vergangenheit.

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»Stiftung niedersächsische Gedenkstätten« ist auch die Förderung der Gedenkstättenarbeit von Initiativen und Gedenkstätten in privater Trägerschaft in Niedersachsen vorgesehen.34 Dietmar Sedlaczek (*1960), Mitglied des Sprecherrates der im Januar 2000 gegründeten »Interessensgemeinschaft niedersächsischer Gedenkstätten und Initiativen zur Erinnerung an die NS-Verbrechen«, resümiert: »In den vergangenen drei Jahrzehnten hat sich eine nachhaltige ›Gedenkstätten-Bewegung‹ in Niedersachsen formiert. Sie hat maßgeblichen Anteil an der Etablierung einer lebendigen Erinnerungskultur in unserer Gesellschaft.«35

Zur Geschichte der Gedenkstätte Ahlem In der niedersächsischen Gedenkstättenlandschaft hat Ahlem36 deshalb eine besondere Bedeutung, weil dieses Areal nicht nur mit den Verbrechen der Nationalsozialisten in Verbindung steht, sondern auch auf ein wichtiges Kapitel jüdischer Geschichte in Deutschland weit vor 1933 verweist sowie auf die Handlungen von Überlebenden der nationalsozialistischen Verbrechen in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Diese vielschichtige Geschichte kann an dieser Stelle nur kurz angerissen werden: 1893 wurde vom Bankier Moritz Simon (1837 – 1905) die »Israelitische Gartenbauschule Ahlem« gegründet. Obwohl die Gründungsintention der Schule nicht mit den Zielen des Zionismus verbunden war, wanderten zahlreiche Personen, die hier ihre Lehre absolviert hatten, in der Zeit der Weimarer Republik und speziell nach 1933 nach Palästina aus. Die Zahl der Absolventen stieg gegen Ende der 1930er Jahre, speziell nach dem Ausschluss jüdischer Personen von den staatlichen Schulen. Die Gartenbauschule verlor erst im Herbst 1941 ihre Funktion und wurde 1942 als eine der letzten jüdischen Ausbildungsstätten geschlossen. Seit Dezember 1941 diente der Schulstandort als Sammelstelle für Deportationen, ab Februar 1942 wurde das Schulgelände als sogenanntes »Judenhaus« genutzt. Ab Ende 1943 befand sich hier eine Außenstelle der Gestapo Hannover und ab 1944 ein Polizei-Ersatzgefängnis. Im Frühjahr 1945 wurden in der ehemaligen Laubhütte der Schule zahlreiche Frauen und Männer erhängt; wenige Tage vor der Befreiung Hannovers wurden nach heutigem Wissensstand sechsundfünfzig ausländische Häftlinge des Ersatzgefängnisses zusammen mit achtundneunzig Häftlingen des Arbeitserziehungslagers Lahde auf dem Seelhorster Friedhof ermordet. Nach dem Krieg 34 Vgl.: § 2, Abs. 3 GedenkStG. 35 Sedlaczek (Anm. 26), 11. 36 Wenn in der Folge von »Ahlem« gesprochen wird, ist nicht der gesamte Stadtteil von Hannover gemeint, sondern das Areal der ehemaligen Gartenbauschule.

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kamen jüdische Überlebende aus dem Deplaced Persons Camp Bergen-Belsen nach Ahlem und bauten hier den Kibbuz »Zur Befreiung« auf; dieser bestand bis zum Mai 1948, als die letzten Bewohner nach Israel auswanderten.37

Abbildung 1: Eingangstor, durch das zahlreiche Juden und die im Polizei-Ersatzgefängnis Inhaftierten auf dem Weg in die Konzentrations- und Vernichtungslager gingen (links im Bild: Die 1987 angebrachte Gedenktafel). Ó Andrea Brait, Wien

1955 wurde das ehemalige Schulgelände von der Landwirtschaftskammer Hannover erworben. Viele Gebäude wurden in den kommenden Jahren abgerissen oder erheblich verändert; im äußeren Originalzustand erhalten sind nur das ehemalige Direktorenhaus und das Mädchenhaus. Im Direktorenhaus wurde vom Landkreis Hannover 1987 eine Gedenkstätte mit einer kleinen Dauerausstellung in den Kellerräumlichkeiten eingerichtet; ein Vortrags- und Medienraum im Erdgeschoss folgte.38 Neben der Dauerausstellung, die anhand zahlreicher Fotos und Dokumente die Geschichte des Ortes behandelt, befindet sich im Direktorenhaus ein Gedenkraum, in dem an den Wänden zahlreiche Namen von Deportierten zu finden sind. An der Außenmauer der Gartenbauschule wurden eine bronzene Gedenktafel und eine Vorrichtung zur Niederlegung von Kränzen angebracht. Auf dem derzeit noch wenig bebauten Gelände der Gar37 Stefanie Burmeister : Gedenkstätte Ahlem. In: Pechel (Anm. 23), 32 – 35, 32 f. 38 Vgl.: Ebd., 33.

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tenbauschule befindet sich ein gärtnerisch gestalteter Platz mit dem Grundriss der ehemaligen Laubhütte, in der im März 1945 Zwangsarbeiter hingerichtet wurden. Steinplatten verweisen in mehreren Sprachen auf das Geschehen. Ein Mahnmal aus zwölf Stelen, das sich unmittelbar daneben befindet, dient der Erinnerung an die zwölf Stämme Israels und die zerstörten zwölf Synagogengemeinden im Raum Hannover. Neben dem Platz der ehemaligen Laubhütte erinnert außerdem eine Steinplatte an die Roma und Sinti, die Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung wurden. Darüber hinaus ist das Direktorenhaus derzeit nicht barrierefrei zugänglich und auch die Sanitäranlagen müssen dringend saniert werden.39

Abbildung 2: Blick auf den Platz der ehemaligen Laubhütte und die Stelen, die an die Opfer der Ermordungen erinnern sollen. Am Kastanienbaum rechts neben den Stelen sind noch heute Brandschäden von der Niederbrennung der Laubhütte zu erkennen. Ó Andrea Brait, Wien

Die Schwerpunkte der Arbeit liegen seit Beginn der Tätigkeit der Gedenkstätte im Kontakt mit Überlebenden, in der Pflege der Partnerschaften mit Einrichtungen in Israel und der Überlieferung von regionalen Erinnerungen. Hierzu gibt es eine Schriftenreihe, in der Überlebende über ihre Verfolgungs39 Vgl.: Empfehlungen zur Neukonzeption der Gedenkstätte Ahlem. http://www.hannover.de/ data/download/RH/kultur/Gedenkstaette_Ahlem_Neukonzeption_Empf.pdf, 4 f., (01. 06. 2012).

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geschichte berichten und in der Gedenkstätte fanden bereits zahlreiche Zeitzeugengespräche statt. Außerdem widmet sich ein Veranstaltungsprogramm den Themen Holocaust, Aufarbeitung der NS-Zeit und Menschenrechte.40 Hinsichtlich der Betreuung der Besucher und Besucherinnen beschränkte sich das Angebot jedoch bislang auf die Durchführung von Führungen, weitere pädagogisch-didaktische Vermittlungsprogramme wurden nicht entwickelt.41 Die »Ausstattung der Räumlichkeiten und die Gestaltung der Ausstellung« entsprechen, wie die Leiterin der Gedenkstätte Ahlem, Stefanie Burmeister, zurecht konstatiert, »schon länger nicht mehr der Bedeutung des historischen Orts und genügen nicht mehr den Anforderungen an eine moderne Gedenkstättenpädagogik«.42 Der Historiker und Geschäftsführer der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten Habbo Knoch (*1969) betont, dass speziell von USamerikanischen Einrichtungen, insbesondere dem United States Holocaust Memorial Museum in Washington und dem Museum of Tolerance in Los Angeles (beide 1993 eröffnet), »professionelle Standards der Ausstattung und wissenschaftlichen Begleitung gesetzt«43 wurden. Der Befund, dass die meisten deutschen Gedenkstätten diesen noch weit hinterherhinkten,44 beeinflusste überall in der Bundesrepublik (und auch in Österreich) Überarbeitungs- und Neugestaltungspläne für Gedenkstätten. Dabei ging und geht es nicht nur darum, die Geschichte des jeweiligen Ortes neu und intensiver zu beforschen und die Ergebnisse einer breiten Öffentlichkeit zu präsentieren; es geht nicht nur darum, eine spezifische Geschichte aufzuarbeiten, sondern es geht speziell um Fragen der Vermittlung dieser. Geprägt von der Erkenntnis, dass es nicht ausreicht, den Besuchern und Besucherinnen bloßes Wissen über die nationalsozialistischen Verbrechen näher zu bringen, entwickelt sich derzeit eine neue Form der Gedenkstättenpädagogik,45 die mit der Hinwendung zur Kompetenzorientierung in der Geschichtsdidaktik korrespondiert und auf offene Lernformen zurückgreift, die sich nach und nach auch im Schulunterricht etablieren. Beispielhaft erwähnt sei das neue Vermittlungskonzept der Gedenkstätte Mauthausen, in dem diesen Überlegungen folgend »neben der topographischen Orientierung und der historischen Aufklärung (…) der Besucher/die Besucherin selbst mit seinen/ihren Verständnisvoraussetzungen die dritte grundlegende Komponente

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Vgl.: Burmeister (Anm. 37), 34. Vgl.: Interview der Verfasserin mit Stefanie Burmeister am 12. 06. 2012. Burmeister (Anm. 37), 34. Knoch (Anm. 14), 131. Vgl. Ebd. Vgl.: http://www.gedenkstaettenforum.de/nc/gedenkstaetten-rundbrief/rundbrief/news/was_ hat_es_mit_mir_zu_tun/ (25.2. 2014)

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des Gedenkstättenbesuches« ist. Es sieht vor, dass die Besucher und Besucherinnen »durch Interaktion (…) intensiver mit einbezogen werden«.46

Pläne zur Neu- und Umgestaltung der Gedenkstätte Ahlem Die Dauerausstellung der Gedenkstätte Ahlem ist seit Jahresende 2011 nicht mehr für Besucher zugänglich.47 Die ersten Überlegungen zu einer Neugestaltung der Gedenkstätte Ahlem reichen in die Jahre um die Jahrtausendwende zurück, was im Zusammenhang mit der im Jahr 2000 in Hannover ausgerichteten Expo stand. Ein konkretes Projekt wurde zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht angegangen.48 Erst Ende 2007 fiel in der Region Hannover die Entscheidung, die Gedenkstätte neu- beziehungsweise umzugestalten. Im darauffolgenden Frühjahr wurde eine interdisziplinäre Sachverständigenkommission aus Wissenschaftlern der Universität Hannover, der Fachhochschule Hannover und Vertretern des Netzwerkes »Erinnerung und Zukunft in der Region Hannover« und der »Stiftung niedersächsische Gedenkstätten« gebildet, die damit beauftragt wurde, eine Empfehlung für die Neukonzeption der Gedenkstätte auszuarbeiten.49 In den »Empfehlungen zur Neukonzeption der Gedenkstätte Ahlem« wurden von den Sachverständigen eine Grundsanierung und ein Ausbau des Direktorenhauses sowie die Erarbeitung einer neuen Dauerausstellung und eines pädagogischen Vermittlungskonzeptes angeregt. Insbesondere die Bedeutung der Schaffung von vielfältigen Vermittlungsprogrammen, die auf den drei Säulen »Erinnern und Gedenken«, »Forschen und Dokumentieren« sowie »Bildung und Informieren« aufbauen sollen, wird in dem Papier immer wieder hervorgehoben.50 »Die Empfehlungen sind«, wie Burmeister betont, »getragen von der Überzeugung, dass die komplexe, höchst vielschichtige und bundesweit einmalige Historie Ahlems im Zuge der Neukonzeption für die Öffentlichkeit sichtbar gemacht werden muss.«51 Die Empfehlungen wurden im Mai 2009 dem zuständigen Fachausschuss für Schulen, Kultur und Sport der Region Hannover übergeben und fanden dort breite Zustimmung. Ulrike Thiele von der SPD meinte etwa: »Mit der Neu46 Ebd. 47 Vgl.: http://www.hannover.de/de/buerger/pres_med/RH_pm-2011/RH_pm-2011 – 12/pm 451. html (22. 07. 2012). 48 Vgl.: Interview der Verfasserin mit Stefanie Burmeister am 12. 06. 2012. 49 Vgl.: Burmeister (Anm. 37), 35. 50 Vgl.: Empfehlungen zur Neukonzeption der Gedenkstätte Ahlem. http://www.hannover.de/ data/download/RH/kultur/Gedenkstaette_Ahlem_Neukonzeption_Empf.pdf (01.06 2012). 51 Burmeister (Anm. 37), 35.

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konzeption nimmt die Region ihre Verantwortung für diesen bundesweit einmaligen, authentischen Ort wahr«.52 Ende September 2009 wurden von Archäologen Grabungen auf dem Gelände der Gedenkstätte Ahlem durchgeführt. Dabei wurden die Fundamentreste des früheren Zentralgebäudes der Israelitischen Gartenbauschule, das von der Gestapo als Polizei-Ersatzgefängnis missbraucht worden war, freigelegt. Mit der Erkundung des Geländes wurde eine wichtige Voraussetzung einer völligen Neugestaltung und Erschließung der vielschichtigen Geschichte Ahlems erfüllt.53 Im Mai 2010 beschloss der Regionsausschuss mit den Stimmen aller Fraktionen außer jener der CDU den Umbau der Gedenkstätte. Für die Sanierung des Baus und den Umbau zu einem zentralen Informations- und Dokumentationszentrum wurden drei Millionen Euro vorgesehen, was die CDU angesichts der Haushaltslage als zu viel erachtete.54 Das Projekt wurde in der Folge von zahlreichen Persönlichkeiten unterstützt und auf Initiative des Fördervereins wurde im Herbst 2010 ein Freundeskreis gegründet.55 Neben der Verantwortungsübernahme durch die Politik, die »fraktionsübergreifend (…) hinter diesem Projekt steht«, baut Burmeister darauf, dass zur langfristigen Sicherung der Finanzierung der Gedenkstätte weitere Fördermöglichkeiten, etwa durch den Bund und das Land, gefunden werden.56 In der Folge wurde ein Architekten- und Gestaltungswettbewerb ausgelobt, der als nicht offener, einstufiger Wettbewerb in einem anonymen Verfahren durchgeführt wurde und wofür insgesamt fünfzehn Teilnehmer zugelassen wurden. Der Wettbewerb umfasste die Bereiche Ausstellungsgestaltung sowie Sanierung und Ausbau des Direktorenhauses.57 Das Preisgericht setzte sich zusammen aus Historikern, Architekten, Ausstellungsgestaltern, Vertretern der Stadt Hannover und der Region Hannover sowie Regionsabgeordneten aller Fraktionen. Der erste Preis wurde an die Arbeitsgemeinschaft Ahrens Grabenhorst Architekten, IKON Ausstellungsgestaltung und den Landschaftsarchitekten Marcus Cordes vergeben.58 In der Bewertung des Preisgerichts heißt es: 52 Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Gedenkstätte Ahlem. http://www.erinnerungundzukunft.de/index.php?id=302& type=123 (22. 06. 2012). 53 Vgl.: Burmeister (Anm. 37), 35. 54 Vgl.: Beschluss zu Gedenkstätte. In: Hannoversche Zeitung, 05. 05. 2010. In der Zwischenzeit ist klar, dass die Gedenkstätte Ahlem fünf Millionen Euro kosten wird, vgl.: Bärbel Hilbig: Gedenkstätte Ahlem kostet fünf Millionen. http://www.haz.de/Hannover/Aus-den-Stadtteilen/West/Gedenkstaette-Ahlem-kostet-fuenf-Millionen (30.07. 2012). 55 Vgl.: Bärbel Hilbig: Prominente unterstützen Gedenkstätte Ahlem. In: Hannoversche Zeitung, 20. 11. 2010. 56 Vgl.: Interview der Verfasserin mit Stefanie Burmeister am 12. 06. 2012. 57 Vgl.: http://www.hannover-entdecken.de/content/view/17362/1 (21. 07. 2012). 58 Vgl.: Gestaltungs- und Architektenwettbewerb Gedenkstätte Ahlem, Protokoll der Preisgerichtssitzung vom 18. 03. 2011, http://s3.amazonaws.com/europaconcorsi/competition_at-

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»Das vorgeschlagene Konzept überzeugt durch wohltuend untereinander abgewogene Entscheidungen zum Freiraum, zur Erschließung, zur baulichen Erweiterung und zum Umbau des Gebäudebestandes. Die Erschließung des Ortes ermöglicht dem Besucher schon beim Betreten des Grundstücks eine klare Übersicht über die unterschiedlichen thematischen Angebote des Ortes.«59 Der Siegerentwurf sieht ein neues Eingangsfoyer vor, das in den »neu gestalteten Schulgartenbereich mit seinen neu interpretierten Zier- und Nutzbauten«60 weist. Im Altbau sollen drei thematische Schwerpunkte verteilt werden: Für das Dachgeschoss sieht der Entwurf Gruppen- und Schlafräume für mehrtägige Studien- und Arbeitsaufenthalte vor und im Keller sollen die authentischen Verhörzellen sichtbar werden. Von dort soll das Tiefgeschoss, als ein auf den Grundmauern des ehemaligen Gefängnisses errichteten Anbaues erschlossen werden. Im Ausstellungsbereich des ersten Obergeschosses soll der Fokus auf dem Nationalsozialismus liegen, im zweiten Obergeschoss auf der Geschichte der 1893 von Moritz Simon gegründeten Gartenbauschule. Für das Sockelgeschoss des Neubaus ist ein neuer Veranstaltungs- und Sonderausstellungsraum vorgesehen.61 Nach Bekanntgabe der Entscheidung über den ersten Preis des Architektenwettbewerbs gingen die Planungen voran. Burmeister betont, dass die neue Ausstellung und das pädagogische Vermittlungskonzept parallel entwickelt werden.62 Zur Ideensammlung und Weiterentwicklung der bestehenden Überlegungen diente insbesondere die im März 2012 ausgerichtete »Tagung zur pädagogischen Arbeit an Gedenkstätten«.63 Damit wurde außerdem ein wichtiger Schritt zur Begründung und Weiterentwicklung von Kooperationen mit anderen nationalen und internationalen Einrichtungen, die sich mit dem Holocaust und dem Nationalsozialismus beschäftigen, getan.64 Im April 2013 erfolgte der Spatenstich für die Neugestaltung.65 Die Eröffnung

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tachments/2495587/Protokoll_Preisgerichtssitzung_Gedenkst%C3 %A4tte_Ahlem.pdf (02. 06. 2012), 1 f., 8 f. Ebd., 5. Ebd. Vgl.: Ebd., 5; http://www.hannover.de/de/buerger/pres_med/RH_pm-2011/RH_pm-2011 – 12/pm451.html (22.07.012). Vgl.: Bärbel Hilbig: Experten debattieren über Konzept der Gedenkstätte. http:// www.haz.de/Hannover/Aus-den-Stadtteilen/West/Experten-debattieren-ueber-Konzeptder-Gedenkstaette (10. 06. 2012). Vgl.: Tagungsprogramm für die Tagung zur pädagogischen Arbeit an der Gedenkstätte Ahlem 1./2. 03. 2012. http://www.erinnerungundzukunft.de/fileadmin/pdf/DokumenteVeranstaltungen/Veranstaltungen_03_2012.pdf (08. 06. 2012). Vgl.: Interview der Verfasserin mit Stefanie Burmeister am 12. 06. 2012. Vgl.: Umbau der Gedenkstätte Ahlem. http://www.haz.de/Hannover/Aus-der-Stadt/Uebersicht/Nachtradler-und-Lena-Konzert-das-ist-heute-in-Hannover-wichtig (21. 04. 2013).

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Abbildung 3: Gestaltungsvorschlag für die Gedenkstätte Ahlem (Architektenwettbewerb, Frühjahr 2011). Ó Region Hannover, Gedenkstätte Ahlem

der Gedenkstätte ist für den Sommer 2014 vorgesehen.66 Burmeister betont die Bedeutung dieses nahen Eröffnungsdatums, da es noch einige Zeitzeugen gebe, die diese gerne noch miterleben würden und wenn es ihnen gesundheitlich möglich ist, auch nach Ahlem kommen möchten.67 In der Folge wurde die Gestaltung der Innen- und Außenbereiche ebenso weiterentwickelt, wie eine Konkretisierung der zu musealisierenden Themen und eine Auswahl an zu zeigenden Objekten beziehungsweise Quellen vorgenommen; auch das pädagogisch-didaktische Vermittlungsprogramm wird Schritt für Schritt erarbeitet. Zentral ist hierbei der Bezug zu Einzelschicksalen. Burmeister betont »Wir verfolgen einen biographischen Ansatz und stellen die Schicksale und Geschichten von Zeitzeugen vor«68. In Überlegung sind außerdem die Einrichtung von Sonderausstellungen und ein Ort, an dem die Geschichte der Gedenkstätte thematisiert wird. Ziel ist, einen Ort zu schaffen, der ohne große Hindernisse für Besucher(gruppen), insbesondere für Schulklassen aus der Region, aufgesucht werden kann. Dazu zählt auch das Vorhaben, für den Gedenkstättenbesuch keinen Eintritt zu verlangen69 – eine überaus wichtige Botschaft im Zusam-

66 Vgl.: Andreas Schinkel: Gedenkstätte Ahlem wird umgebaut. http://www.haz.de/Hannover/ Aus-der-Stadt/Uebersicht/Gedenkstaette-Ahlem-wird-umgebaut (19. 04. 2013). 67 Vgl.: Interview der Verfasserin mit Stefanie Burmeister am 12. 06. 2012. 68 Zit. nach: Schinkel (Anm. 67). 69 Vgl.: Interview der Verfasserin mit Stefanie Burmeister am 12. 06. 2012.

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menhang mit historisch-politischer Bildung, für die es keine finanzielle Hürde geben darf.

Fazit: Zur (künftigen) Bedeutung der Gedenkstätte Ahlem als vielschichtiger Gedächtnisort70 Auffällig an den bisherigen Vorarbeiten zur Neugestaltung ist, dass diese von recht wenigen öffentlichen Debatten begleitet war. Außerhalb der Region Hannover scheint es kein nennenswertes Interesse an der Arbeit in Ahlem zu geben und in Hannover selbst gibt es eine derart breite Zustimmung zu dem Projekt (und offenkundig auch zur geplanten inhaltlichen Ausrichtung), dass es bislang nur ein relativ geringes Medienecho gab, das sich im Wesentlichen auf die »Hannoversche Allgemeine Zeitung« beschränkt. Dies verwundert aufgrund der vielschichtigen Geschichte des Ortes und der nun vorliegenden Konzeption, die den Verbrechen der Nationalsozialisten an diesem Ort ebenso Rechnung trägt wie dem besonderen Kapitel der jüdischen Geschichte in Niedersachsen und Hannover. »Ahlem verkörpert«, wie in den »Empfehlungen zur Neukonzeption der Gedenkstätte Ahlem« zu Recht betont wird, »vor dem Hintergrund des Alleinstellungsmerkmals der Israelitischen Gartenbauschule in unvergleichlicher Weise eine transitorische Bedeutung, indem es durch die nationalsozialistische Gewaltherrschaft vom ›Hoffnungsort‹ der europäischen Juden zum Ort der Zerstörung gemacht wurde. Die komplexe, vielschichtige Historie Ahlems sollte im Zuge der Neukonzeption für die Öffentlichkeit sichtbar gemacht werden.«71 Allerdings scheint sich in Hannover eine Konkurrenzsituation hinsichtlich der Gedenkarbeit zu entwickeln: Die Stadt Hannover hat sich bewusst gegen eine Beteiligung an der Neukonzeption der Gedenkstätte Ahlem entschieden.72 Dafür entstanden Pläne zur Errichtung eines Dokumentations- und Bildungszentrums, das die Geschichte Hannovers zur NS-Zeit und die fünf ehemaligen KZAußenlager thematisieren und von der Stadt Hannover betreut werden soll.73 Dieter Wuttig (*1947), Leiter des städtischen Fachbereichs Bildung und Qualifizierung, argumentierte, dass die Gedenkstätte Ahlem nur einen kleinen Prozentsatz des relevanten Themenkreises abdecken könne.74 Insbesondere bei den

70 Die Bearbeitung des vorliegenden Textes musste mit 2. Mai 2013 beendet werden; nachfolgende Entwicklungen konnten nicht mehr berücksichtigt werden. 71 Empfehlungen zur Neukonzeption der Gedenkstätte Ahlem (Anm. 51). 72 Vgl.: Interview der Verfasserin mit Stefanie Burmeister am 12. 06. 2012. 73 Hilbig (Anm. 55). 74 Vgl.: Andreas Schinkel: Stadt Hannover sucht Ort für NS-Museum. http://www.haz.de/

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Mitgliedern des Fördervereins der Gedenkstätte Ahlem sorgten diese Pläne aber für Irritation. Hans-Jürgen Hermel vom Förderverein meinte im Sommer 2011, dass er den Eindruck gewinne, »dass die Stadtverwaltung nicht mit uns kooperiert, sondern konkurriert«.75 Die beiden Projekte verweisen auf zwei Trends, die sich hinsichtlich der Aufarbeitung des Nationalsozialismus derzeit in verschiedenen Formen in der Bundesrepublik und darüber hinaus anzutreffen sind: Zum einen findet sich ein starkes Bemühen, die historischen Orte der Verbrechen sichtbar und für viele Menschen zugänglich zu machen. Zum anderen gibt es ein Bestreben, »zentrale« Orte einzurichten, an denen eine breiter angelegte Darstellung und Dokumentation erfolgen soll. Eine Verbindung, wie etwa in der »Topographie des Terrors« in Berlin, ist eher selten anzutreffen. In Ahlem bietet sich aber die Chance, die Besonderheiten der lokalen und regionalen Geschichte in einen größeren Kontext zu setzen und damit einen äußerst vielschichten Gedächtnisort zu gestalten, der weit über Hannover und Niedersachsen hinaus Bedeutung erlangen könnte. Dies ist insbesondere durch Kooperationen mit anderen Institutionen, deren Intensivierung derzeit angestrebt wird,76 zu erreichen. Auch die künftige Rolle der Fachkommission, die noch geklärt werden muss,77 ist diesbezüglich von Bedeutung. Über Sonderausstellungen, mit denen Themen angesprochen werden, die in der Ständigen Ausstellung nur gestreift werden können, wie dies derzeit überlegt wird,78 wäre es möglich, die lokale und regionale Bedeutung von Ahlem noch stärker in einen nationalen und transnationalen Bedeutungsrahmen einzubetten. Die Grundidee der Konzeption der Gedenkstätte Ahlem, »von der Geschichte des Ortes Ahlem aus[zu]gehen« und sich »vom Besonderen zum Allgemeinen«79 vorzuarbeiten bietet hierfür den optimalen Rahmen, wenngleich Burmeister zuzustimmen ist, dass eine einzelne Gedenkstätte keine alle Subthemen umfassende Darstellung der Verbrechen des Nationalsozialismus leisten kann und soll. Vielmehr sollte es darum gehen, die Besonderheiten der Geschichte des Ortes in Beziehung zu Entwicklungen andernorts zu setzen, Unterschiede und Gleichzeitigkeiten aufzuzeigen. Davon, dass die Gedenkstätte Ahlem auch bundesweit und sogar interna-

75 76 77 78 79

Hannover/Aus-der-Stadt/Uebersicht/Stadt-Hannover-sucht-Ort-fuer-NS-Museum (10. 06. 2012). Andreas Schinkel: Ärger um Pläne für NS-Museum in Hannover. http://www.haz.de/Hannover/Aus-der-Stadt/Uebersicht/Aerger-um-Plaene-fuer-NS-Museum-in-Hannover (10. 06. 2012). Vgl.: Interview der Verfasserin mit Stefanie Burmeister am 12. 06. 2012. Vgl.: Ebd. Vgl.: Ebd. Vgl.: Ebd.

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tional Bedeutung erlangen kann, zeigt sich nicht nur die derzeitige Leiterin Stefanie Burmeister überzeugt,80 sondern auch die Autorin dieser Analyse – man denke an die Staaten, aus denen die Zwangsarbeiter kamen, sowie an Israel, das Ziel zahlreicher Auswanderer war, die in Ahlem ausgebildet worden waren. Ob die Vielschichtigkeit des Gedächtnisortes Ahlem jedoch künftig von einer breiteren Öffentlichkeit wahrgenommen wird, hängt stark von der Neugestaltung ab sowie von den sich daran anschließenden Aktivitäten im Forschungsund Bildungsbereich. Es wird sich zeigen, ob das Vermittlungsprogramm von Ahlem neue Impulse in der derzeit sich entwickelnden Gedenkstättenpädagogik setzen kann. Die Herausforderung ist sicherlich, die spezielle Geschichte des Ortes mit Fragen zu verknüpfen, welche alle Stätten zu stellen haben, an denen an nationalsozialistische Verbrechen gedacht wird: Welche pädagogisch-didaktischen Konzepte eignen sich zur Vermittlung an nachfolgende Generationen? Welchen Stellenwert haben dabei Einzelschicksale, welchen der spezielle Ort, welchen die Gesamtentwicklung und wie ist eine Beziehung zwischen unterschiedlichen räumlichen und zeitlichen Bezugspunkten herzustellen? Von der Neukonzeption sind keine allumfassende Antworten zu erwarten, aber einige neue Bausteine, die wiederum Ausgangspunkt für neue Zugänge zum Gedenken sein können.

80 Vgl.: Ebd.

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Die Konzeption der »Schwedenstraße« als deutsch-schwedischer Erinnerungsort des Dreißigjährigen Krieges1

Über 250 Jahre lang war der Dreißigjährige Krieg fest in der Erinnerung der Deutschen verankert. Durch seine verheerenden Folgen für viele Regionen des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation und seine außerordentlich lange Dauer hatte er stets seinen Platz im Bewusstsein der Deutschen. Erinnert wurde an große Schlachten des Krieges und an Persönlichkeiten, die sich im Krieg besonders hervorgetan hatten, wie die katholischen Feldherren Tilly (1559 – 1632) und Wallenstein (1583 – 1634) oder den protestantischen König Gustav II. Adolf (1594 – 1632). Nicht zuletzt wurde auch des Westfälischen Friedens, der diesen Krieg beendete, hauptsächlich mit Festen zu Jubiläen gedacht.2 Dabei war das Gedenken vor allem auch entlang konfessioneller Linien unterschiedlich geprägt und somit die Erinnerung an den Krieg auch innerhalb Deutschlands stets konträr. Erst die bis dahin unbekannte Gewalterfahrung der beiden Weltkriege und die anschließende Teilung Deutschlands drängten die Erinnerung an den Dreißigjährigen Krieg etwas in den Hintergrund. Doch auch die großen politischen Umbrüche des 20. Jahrhunderts konnten die Erinnerung an diesen Krieg nicht gänzlich beiseite schieben. Vielmehr erscheint die deutsche Erinnerungskultur zum Dreißigjährigen Krieg seit der Wiedervereinigung, besonders aber seit dem 350. Jahrestag des Westfälischen Friedens im Jahr 1998, immer vielfältiger. Geklärt werden müssen hier zunächst die Begrifflichkeiten »Erinnerung« und »Gedenken«. Die methodisch-theoretische Forschung rund um diese kulturwissenschaftlichen Paradigmen erlebte seit den 1980er-Jahren durch das Werk von Pierre Nora (*1931) einen Aufschwung, der zur Herausbildung einer neu-

1 Der folgende Beitrag greift einen Aspekt des Dissertationsvorhabens »Die ›Erinnerungsorte‹ des Dreißigjährigen Krieges – Ausprägungen einer materiellen Gedächtniskultur in Deutschland von 1945 bis heute«, das an der Eberhard Karls Universität Tübingen bei Prof. Dr. Matthias Asche entsteht, heraus. 2 Heinz Duchhardt: Das Feiern des Friedens. Der Westfälische Friede im kollektiven Gedächtnis der Friedensstadt Münster. Münster 1997.

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artigen Erinnerungsforschung führte.3 Dieser entwickelte unter Bezugnahme auf die wegweisenden Untersuchungen von Maurice Halbwachs (1877 – 1945)4 zum »kollektiven Gedächtnis« sein Modell der lieux de m¦moire oder – wie es im Deutschen meist übersetzt wird – der Erinnerungsorte. Der von Nora angestoßene Diskurs findet interdisziplinär statt. Dabei werden Erinnerungsorte als »Kristallisationspunkte kollektiver Erinnerung und Identität«5 verstanden. Unterschieden wird mittlerweile zwischen »materiellen Erinnerungsorten«, also geografisch verorteter Erinnerung, und »immateriellen Erinnerungsorten« wie beispielsweise Liedern oder Legenden.6 Für diesen Beitrag über Gedächtnisorte des Dreißigjährigen Krieges wurden, dem oben dargestellten Konzept folgend, »materielle Erinnerungsorte« herausgegriffen.

Die Schwedenstraße Eng verbunden mit der deutschen Erinnerungskultur ist der Wunsch vieler Regionen und Städte, den Tourismus zu fördern. Daher sind die wirtschaftlichen Interessen lokaler und regionaler Entscheidungsträger bei der Untersuchung von Erinnerungstraditionen zu beachten. Ein Mittel der regionalen Tourismusförderung, das sich großer Beliebtheit erfreut, ist die Themen- oder Ferienstraße. Sie gründet auf einem Zusammenschluss mehrerer Gemeinden und Regionen, die verschiedene Attraktionen zu einem übergeordneten Thema anbieten.7 Eine kulturhistorische Themenstraße, auf die hier der Fokus gerichtet wird, ist die »Schwedenstraße« in Norddeutschland. Die Initiative für diese länderübergreifende Kooperation ergriff die Schwedische Botschaft in Berlin im Jahre 2000. Beteiligt an der »Schwedenstraße« sind zudem die Bundesländer Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern, einzelne Gemeinden, die ErnstMoritz-Arndt-Universität Greifswald, mehrere Museen sowie das Schwedische Institut in Stockholm.8 Die »Schwedenstraße« erstreckt sich über etwa 700 Kilometer und setzt sich dabei aus drei Routen zusammen:9 Die Küstenroute führt von Gadebusch im Westen bis auf die Insel Usedom im Osten. Die Westroute 3 Pierre Nora (Hrsg.): Les lieux de m¦moire. 7 Bde. Paris 1984 – 1992. 4 Maurice Halbwachs: La m¦moire collective. Paris 1950. 5 Etienne FranÅois/Hagen Schulze: Einleitung. In: Etienne FranÅois/Hagen Schulze (Hrsg.): Deutsche Erinnerungsorte. Bd. 1. München 2001, 18. 6 Ebd., 17. 7 Kim Meyer-Cech: Themenstraßen als regionale Kooperationen und Mittel zur touristischen Entwicklung – fünf österreichische Beispiele. Nat. Techn. Diss. Ms. Wien 2003. 8 Schwedische Botschaft Berlin (Hrsg.): Schwedenstraße: Geschichte, Städte + Stätten, Aktuelles. Berlin 2003, 3. 9 www.schwedenstrasse.com/flash/de/map.html (24. 07. 2012)

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beginnt in Wismar und endet in Großbeeren südlich von Berlin. Von dort aus gelangt man über die Ostroute bis auf die Insel Rügen. Ziel dieser Initiative ist eine »Zusammenarbeit zur Förderung von Kulturgeschichte und Tourismus im Rahmen der engen Verbindungen im Ostseeraum«.10 Es sollen also vor dem Hintergrund der Deutschland und Schweden verbindenden gemeinsamen Geschichte der Austausch zwischen den beiden Ländern und der Tourismus gefördert werden. Dabei soll der in Deutsch und Schwedisch gehaltene Internetauftritt des Projekts als Plattform für Reisende, Veranstalter, Firmen, Schulen und andere Interessierte dienen.11 Neben Informationen über die Geschichte und Veranstaltungen der »Schwedenstraße« bietet die Homepage des Projektes unter der Rubrik »Reisen« die Möglichkeit, Unterkünfte entlang dieser kulturhistorischen Themenstraße zu buchen.12 Auch fungiert die Homepage als Forum für die geschichtswissenschaftliche Forschung. So werden unter der Rubrik »Forschung« aktuelle Forschungsprojekte rund um die Geschichte Brandenburgs, Mecklenburgs und Pommerns an deutschen und schwedischen Universitäten vorgestellt und ein direkter E-Mail-Kontakt zu den Forschern ermöglicht.13 Ziel der »Schwedenstraße« ist es also, einen engeren Kontakt zwischen Deutschen und Schweden zu ermöglichen sowie die Erinnerung an die gemeinsame Geschichte lebendig zu halten, wie auf der Homepage bei der Vorstellung des der Zusammenarbeit zugrunde liegenden Konzepts deutlich gemacht wird.14 Die historische Grundlage für diese kulturhistorische Themenstraße ist die sogenannte »Schwedenzeit« in Deutschland von 1628 bis 1815/1903, die eng mit der schwedischen »Großmachtzeit« verbunden ist. Dabei ist die »Schwedenstraße« thematisch zweigeteilt: Zum einen wird an die Zeit der schwedischen Herrschaft über das Herzogtum Pommern erinnert, zum anderen werden die kriegerischen Auseinandersetzungen der Schweden auf dem Gebiet des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation im 17. und 18. Jahrhundert dargestellt. Die Erinnerung gestaltet sich äußerst vielfältig und es wird auf unterschiedliche Medien zurückgegriffen, wie beispielsweise Gedenktafeln, Siegessäulen, Schlösser und andere Bauwerke, Volksfeste, Schlachtdarstellungen und Museen. Besonders Stralsund15 und Wittstock an der Dosse16 erinnern dabei an den Dreißigjährigen Krieg. Zu fragen ist nun, warum hier diese als grenzüberschreitend zu bezeichnende 10 11 12 13 14 15 16

www.schwedenstrasse.com/main/de/concept/index.html (24. 07. 2012). www.schwedenstrasse.com (24. 07. 2012). https://zimmer.im-web.de/Buchung.php3?id=623 (24. 07. 2012). www.schwedenstrasse.com/main/de/research/liste.php (24. 07. 2012). http://www.schwedenstrasse.com/main/de/concept/index.html (09. 05. 2013). www.wallensteintage.de/ (24. 07. 2012). www.mdk-wittstock.de/ (24. 07. 2012).

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kulturhistorische Themenstraße entstand, die sich der gemeinsamen deutschschwedischen Vergangenheit bedient. Lebendige Erinnerung setzt nicht nur eine Identifikation der Touristen mit dem angebotenen Thema voraus. Vielmehr muss das Gedenken vor Ort ebenfalls fest verankert sein. In Brandenburg und vor allem im Gebiet des heutigen Vorpommern ist bis heute ein großes Bewusstsein für die gemeinsame Vergangenheit mit Schweden zu erkennen. Die Zeit der schwedischen Herrschaft scheint für diese Region besonders prägend gewesen zu sein.

Historische Verbindungen zwischen Schweden und Norddeutschland Deutsch-schwedische Beziehungen bis 1648 Durch die direkte Nachbarschaft des nördlichen Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation und Schweden gab es schon lange vor dem 17. Jahrhundert Kontakte über den Ostseehandel zwischen den Gebieten Pommerns und Schwedens. Besonders gefördert wurde dies durch die Hanse, die seit dem 13. Jahrhundert diese Handelsbeziehungen mitbestimmte. Die Aktivitäten der Hanse führten außerdem dazu, dass sich das Niederdeutsche im Ostseeraum weit verbreitete,17 was den Austausch zwischen den Ländern erleichterte. Bis heute wird die sprachliche Nähe zwischen dem Plattdeutschen und dem Schwedischen an der Ostseeküste deutlich. So stand Schweden bereits vor dem Dreißigjährigen Krieg, der den Ausgangspunkt des schwedischen Engagements im Alten Reich markiert, in regem Kontakt zu den norddeutschen Territorien. Mit der Belagerung von Stralsund durch das kaiserliche Heer unter Wallenstein begann die Beteiligung Schwedens am Dreißigjährigen Krieg. In dieser Situation bat die Stadt sowohl Dänemark als auch Schweden um militärische Unterstützung, die Stralsund von beiden Ländern gewährt wurde. So konnte die Belagerung 1628 für die Stadt glücklich beendet werden.18 1630 folgte dann der endgültige Kriegseintritt Schwedens. Unter der Führung von König Gustav II. Adolf landete das Heer auf Usedom, von wo aus der Siegeszug des schwedischen Königs durch das Alte Reich begann, bis er 1632 in Lützen fiel. Auch danach blieben die Schweden bis zu seinem Ende 1648 am Krieg beteiligt.19 In den Friedensverhandlungen um den Westfälischen Frieden in Münster und Osnabrück wurde 17 Andreas Önnerfors: Schweden und Pommern. Stockholm 2004, 2. 18 Herbert Langer : Innere Kämpfe und Bündnis mit Schweden. Ende des 16. Jahrhunderts bis 1630. In: Herbert Ewe (Hrsg.): Geschichte der Stadt Stralsund. Weimar 1984, 155 – 167. 19 www.schwedenstrasse.com/flash/de/history.html (24. 07. 2012).

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Schweden eine Kriegsentschädigung zugesprochen. So konnte sich Schweden als Reichsstand und Garantiemacht im Alten Reich etablieren.20 Damit begann die schwedische Herrschaft in Norddeutschland, deren Gebiet ab 1679 stetig kleiner wurde, bis sie schließlich 1903 endgültig beendet war.21 Diese Zeit von 1628 bis 1903 nimmt nun die »Schwedenstraße« auf, womit in der ehemals schwedischen Einflusssphäre ein Beitrag zur Kooperation in der gemeinsamen Kulturgeschichte und zur Tourismusförderung geleistet werden soll.

Die schwedische Herrschaft in Pommern König Gustav II. Adolf wurde, zumindest von den Protestanten, im Dreißigjährigen Krieg und teilweise bis heute als Retter des deutschen Protestantismus wahrgenommen. Über die Konfession und die alten Handelsbeziehungen war zu den vorwiegend protestantisch geprägten Gebieten im Norden des Alten Reiches bereits eine Nähe zu Schweden vorhanden. Nach dem Krieg, als das Herzogtum Pommern an Schweden gefallen war, wurde diese verstärkt. In der Folgezeit genoss dieses Territorium einige Freiheiten, wie zum Beispiel das 1653 eingerichtete sogenannte »Tribunal« in Wismar als höchster Gerichtshof für die schwedischen Territorien im Alten Reich22 und eine eigene Verfassung für Schwedisch-Pommern von 1663.23 Somit genoss das Herzogtum Pommern unter schwedischer Herrschaft viele Privilegien, die den Landständen eine gewisse Freiheit in der Verwaltung des Landes ermöglichten. Dass daneben große Teile der ländlichen Bevölkerung ein ärmliches und fremdbestimmtes Leben führten, scheint in der sehr positiven Erinnerung an die schwedische Herrschaftszeit heute keine Rolle zu spielen. Für Schweden hatte die Provinz Pommern einen sehr hohen Stellenwert. Militärstrategisch galt sie als ein »Brückenkopf«24 auf dem Kontinent und als Möglichkeit, Teile der Ostseeküste zu kontrollieren. Damit hing auch die wirtschaftliche Bedeutung der Provinz zusammen. Mit den Häfen an der deutschen Ostseeküste und vor allem mit der Odermündung hatte Schweden nach 1648 mit den dort erhobenen Zöllen eine neue wichtige Einnahmequelle in Besitz ge20 Fritz Dickmann: Der Westfälische Frieden. Münster 1959, 316 – 324. 21 Michael North: Geschichte Mecklenburg-Vorpommerns. München 2008, 53 f. 22 Nils Jörn/Bernhard Diestelkamp/Kjell Ake Mod¦er (Hrsg.): Integration durch Recht. Das Wismarer Tribunal (1653 – 1806) (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 47). Köln-Weimar 2003. 23 Renate Schilling: Schwedisch-Pommern um 1700. Studien zur Agrarstruktur eines Territoriums extremer Gutsherrschaft (Abhandlungen zur Handels- und Sozialgeschichte 27). Weimar 1989. 24 Schwedische Botschaft Berlin (Anm. 8), 2.

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nommen. Außerdem konnten schwedische Produkte durch die Umgehung der Zölle leichter auf den Kontinent gelangen. Auch bei der Versorgung der schwedischen Bevölkerung nahm Schwedisch-Pommern in der Folgezeit eine wichtige Rolle ein. Die Region galt als »Kornkammer«25 Schwedens und wurde zu einem wichtigen Lieferanten von landwirtschaftlichen Produkten. Von besonderer Bedeutung für die heutige Erinnerung scheint jedoch vor allem die kulturelle Verbindung zwischen Schweden und Vorpommern zu sein, worauf auch die Einordnung der »Schwedenstraße« als kulturhistorische Themenstraße verweist. Zum einen wurde dies durch die sprachliche und räumliche Nähe in der Ostseeregion unterstützt. Zum anderen trieb die schwedische Herrschaft in Norddeutschland seit 1648 den kulturellen Austausch voran, vor allem durch die 1683 eingerichtete Postschiffverbindung zwischen Ystad und Stralsund, die die Migration zwischen Schweden und seiner Provinz förderte.26 Außerdem wurde 1689 die Zeitung Stralsundischer Relations-Courier gegründet, die das Herzogtum Pommern auf Deutsch mit Informationen über die politischen Vorgänge im Schwedischen Reich versorgte.27 Ebenfalls zur kulturellen Verbundenheit dürften die Gebetsaufrufe der schwedischen Krone in deutscher Sprache beigetragen haben.28 Das Interesse der pommerschen Bevölkerung an der schwedischen Kultur drückt sich auch in der Rezeption schwedischer Bücher in Pommern aus. So wurden neben wissenschaftlicher Literatur auch zum Beispiel schwedische Kochbücher und Haushaltsratgeber ins Deutsche übersetzt und verkauft.29 Eine ganz besondere Rolle im kulturellen Austausch über die Ostsee hinweg spielte die Universität Greifswald.30 Über diese Institution kamen schwedische Studenten und Professoren an die zu diesem Zeitpunkt älteste Universität des Schwedischen Reiches. Von 1773 an sollte die Bibliothek der Universität von jeder schwedischen Neuerscheinung ein Belegexemplar erhalten.31 Außerdem stand die Universität Greifswald in ständigem Kontakt zu den Universitäten in Uppsala und Lund.32 In ihrem Umkreis entstanden Zeitschriften und GelehrÖnnerfors (Anm. 17), 1. Ebd., 3; Schwedische Botschaft Berlin (Anm. 8), 2. Önnerfors (Anm. 17), 3. Ebd. Cajsa Warg: Schwedisches Koch- und Haushaltungsbuch nebst einem Unterricht auf Seide, Wolle und Leinen zu färben zum Nutzen junger Frauenzimmer entworfen. Greifswald 1772. 30 Matthias Asche: Zu den Funktionen der Universität Greifswald von ihrer Gründung bis zum Ende der schwedischen Herrschaft – eine Überprüfung von historiographischen Attributen. In: Jens E. Olesen (Hrsg.): Die Universität Greifswald in der Bildungslandschaft des Ostseeraums (Nordische Geschichte 5). Berlin 2007, 47 – 60; Ivar Seth: Universitetet i Greifswald och dess ställning i Svensk kulturpolitik 1637 – 1815. Uppsala 1952. 31 North (Anm. 21), 65. 32 Schwedische Botschaft Berlin (Anm. 8), 2.

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tengesellschaften, die sich mit der schwedischen Kultur und Geschichte auseinandersetzten.33 Die Greifswalder Universität kann somit als ein wichtiger »Integrationsfaktor zwischen Schweden und Pommern«34 bewertet werden. So wurde Ende des 18. Jahrhunderts die Nähe zu Schweden für die Bewohner Schwedisch-Pommerns immer selbstverständlicher. Dies scheinen die Gründe für die positive Erinnerung in Brandenburg und vor allem Mecklenburg-Vorpommern an die schwedische Beteiligung im Dreißigjährigen Krieg und an die darauf folgende Herrschaftszeit der Schweden in Pommern zu sein, wie im Folgenden für Pommern und ganz explizit für die Städte Stralsund und Wittstock an der Dosse dargestellt werden soll.

Pommern nach 1815 Die Nähe zu Schweden wird auch in Zeugnissen von Reisenden durch das Land belegt, die die Verbindung der pommerschen Bevölkerung kurz vor dem Ende der schwedischen Herrschaft zu Schweden als sehr eng beschreiben. Als Beispiel wäre hier der Bericht von Karl Nernst, einem Schüler des Pfarrers, Dichters und Theologieprofessor Ludwig Theobul Kosegarten (1758 – 1818), zu nennen, der in seinem Reisebericht die Herrschaft der schwedischen Könige in Pommern als »ehrenvolle Oberherrschaft« beschreibt.35 So begann bereits kurz nach dem Herrschaftswechsel in Pommern 1815 die Rückbesinnung auf die »Schwedenzeit«. Kosegarten prägte in Pommern in den 1820er-Jahren den Ausspruch »Wohl unter den drei Kronen, ließ sich’s gemächlich wohnen«.36 Damit spielte er auf das schwedische Wappen an, das neben dem Löwen auch drei Kronen beinhaltet, und kritisierte gleichzeitig die Umgestaltungen durch die neue preußische Herrschaft. Bis heute ist dieser Ausspruch als Sprichwort (»Unter den drei Kronen lässt sich’s gut wohnen«) bekannt und gebräuchlich.37 Aus dieser Äußerung lässt sich eine gewisse Sehnsucht nach den alten Verhältnissen heraushören. Dies unterstrich der schwedische Dichter und Literaturhistoriker Per Daniel Amadeus Atterbom, als er von seiner Reise durch Deutschland 1817 Folgendes berichtete: »Schwedische Ge33 North (Anm. 21), 65. 34 Önnerfors (Anm. 17), 4. 35 Ludwig Theobul Kosegarten (Hrsg.): Karl Nernst’s Wanderungen durch Rügen. Düsseldorf 1800, 245. 36 Zitiert nach Önnerfors (Anm. 17), 4. 37 Regina Hartmann: »Ich lehne den Wanderstab an die Wand und ergreife die Feder«. Pommersches Identitätsbewußtsein in Reisebildern um 1800. In: Ralf-Gunnar Werlich/Horst Wernicke (Hrsg.): Pommern. Geschichte – Kultur – Wissenschaft. »Pommern im Reich und in Europa« – 3. Kolloquium zur Pommerschen Geschichte 13.–14. Oktober 1993. Greifswald 1996, 260.

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wohnheiten, Gebräuche und Erinnerungen wurzeln vielfältig in Pommern, und das Volk ist äußerst unzufrieden mit der Trennung von Schweden.«38 Die Bewohner ehemals Schwedisch-Pommerns hielten also an ihrer schwedisch geprägten Kultur fest und pflegten sie. Ein Beispiel dafür ist die Tradierung von Legenden rund um die »Schwedenzeit«.39 Gefördert wurde diese anhaltende Nähe zu Schweden auch dadurch, dass einige der Privilegien aus der schwedischen Herrschaftszeit noch lange darüber hinaus ihre Gültigkeit behielten. So sprach etwa das Hofgericht in Greifswald als institutioneller Nachfolger des Wismarer Tribunals noch bis 1871 für die Provinz Recht und nutzte dabei das ehemals von der schwedischen Herrschaft eingeführte Gesetz.40 Auch der Austausch zwischen Schweden und seiner ehemaligen Provinz blieb sehr rege. Unterstützt wurde dies durch die Reiseverbindungen zwischen Schweden und der deutschen Ostseeküste, die im 19. Jahrhundert weiter ausgebaut wurden. 1830 konnte die erste Dampfschiffroute zwischen Ystad und Stralsund eröffnet werden, die von der Bevölkerung beider Länder viel genutzt wurde.41 1892 konnte eine weitere Dampfschiffverbindung von Sassnitz nach Trelleborg eingerichtet werden.42 Und noch im frühen 20. Jahrhundert wurden die Reisemöglichkeiten zwischen Pommern und Schweden durch den deutschen Kaiser und den schwedischen König gemeinsam mit der Einrichtung einer Eisenbahnfähre von Sassnitz nach Trelleborg 1909 weiter gefördert.43 Kurz vor der Eröffnung der neuen Eisenbahnfähre war die »Schwedenzeit« in Deutschland endgültig beendet worden, nachdem das bereits 1803 an Mecklenburg verpfändete Wismar 1903 endgültig in den Besitz der Großherzöge von Mecklenburg-Schwerin übergegangen war.44 Nach der Übergabe Wismars spendete der Großherzog Friedrich Franz IV. (1882 – 1945) seiner neuen Stadt einen »Schwedenstein«, der die Wappen Wismars, Mecklenburgs und Schwedens trug und bis heute an die lange Zugehörigkeit Wismars zur schwedischen Herrschaft erinnert.45 In die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts fiel auch das 300. Jubiläum des schwedischen Eintritts in den Dreißigjährigen Krieg. Dieses Ereignis wurde 1930 noch mit einer Vielzahl an Festen begangen. In diesem Rahmen wurde unter anderem der »Gustav-Adolf-Stein« in Peenemünde aufgestellt.46 In den folgen38 39 40 41 42 43 44 45 46

Zitiert nach Önnerfors (Anm. 17), 4. Siegfried Neumann (Hrsg.): Sagen aus Pommern. München 1991, 90 – 99. Önnerfors (Anm. 17), 4. Ebd., 5. Ebd. North (Anm. 21), 77. Christel Kindler/Hans Witte: Wismar 1803 – 2003. Eine Chronik. Rostock 2002, 121 – 294. Tourismuszentrale Wismar (Hrsg.): Wismars Schwedenzeit. Spurensuche. Wismar o. J., 11. Kreis Ostprignitz-Ruppin (Hrsg.): Museum des Dreißigjährigen Krieges Wittstock/Dosse. [Ausstellung]. Wittstock/Dosse 1998, 67.

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den Jahren ist ein Wandel in der von offizieller Seite geförderten Erinnerung zu erkennen. In der Geschichtsschreibung des NS-Regimes war die »Schwedenzeit« mit dem »fremden« Einfluss auf die innerdeutschen Verhältnisse verbunden und somit negativ belegt.47 Der Westfälische Frieden galt als zentrales Negativsymbol, mit dem eine Zeit der »Fremdsteuerung« Deutschlands begonnen habe.48 Damit griff die NS-Historiografie die Elemente der borussischen Geschichtsschreibung auf und betonte sie weiterhin. Daher wurde von der deutschen Politik in diesen Jahren keine besondere Rückbesinnung auf die »Schwedenzeit« propagiert. Nach dem Zweiten Weltkrieg und der Teilung Deutschlands pflegte die DDR auf der zwischenstaatlichen Ebene recht gute Kontakte zu dem formell neutralen Schweden. So kam der Kenntnis der Sprachen und der Gesellschaft der nordischen Länder gerade in Verbindung mit der Ausbildung des SED-Kaders ein hoher Stellenwert zu.49 Als der schwedische Ministerpräsident Olof Palme (1927 – 1986) 1984 zu einem Staatsbesuch in die DDR reiste, ließ die SED sein Flugzeug auf dem Militärflugplatz von Peenemünde landen.50 Damit betrat der Staatschef Schwedens die DDR an einem symbolträchtigen Ort, war doch bereits Gustav II. Adolf rund 350 Jahre zuvor an derselben Stelle in Deutschland an Land gegangen. Allerdings spielte die Rückbesinnung auf den Dreißigjährigen Krieg und die »Schwedenzeit« in Pommern neben solchem zwischenstaatlichen Geplänkel in der DDR keine Rolle. Einzige Ausnahme war die Gedenkstätte in Lützen, die jedoch ein schwedisch geführtes Museum war, auf das die DDRFührung – sicherlich auch vor dem Hintergrund der Wahrung guter Beziehungen zu Schweden – keinen Zugriff wagte. Trotz dieser langen Zeit der Unterbrechung der Erinnerungstradition blieb das Gedenken an diesen Abschnitt der deutschen Geschichte in Vorpommern sehr lebendig. So hielt sich hartnäckig der Mythos, dass die Insel Hiddensee mit der Bitte an Josef Stalin (1878 – 1953) herangetreten sei, er solle die Insel aus der DDR entlassen. Angestrebt hätten die Insulaner einen Anschluss an Schweden.51 Auch die Bezeichnung »Südschweden« für Vorpommern hat sich bis in die heutige Zeit erhalten. So wirbt die Stadt Stralsund beispielsweise auf ihrer Homepage mit dem Slogan »Willkommen in Südschweden«.52 Nach der politischen Wende in Ostdeutschland und der deutschen Vereinigung wurde und wird seit den 1990er-Jahren wieder an die alte Erinnerung an die »Schwedenzeit« 47 48 49 50 51 52

Duchhardt (Anm. 2), 75 – 84. Ebd. Önnerfors (Anm. 17), 5. Ebd.; Lothar Lentz: Olof Palme in Stralsund. Vor 27 Jahren. In: StraleSunth 1 (2011), 56 – 57. Önnerfors (Anm. 17), 5. http://www.stralsundtourismus.de/de/eine-stadt-aus-backstein/stadtgeschichte/die-schwedenzeit (24. 07. 2012).

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angeknüpft. Diese Entwicklung wurde auch von schwedischer Seite gefördert. Daher konnte 1993 bei der Sanierung des Zeughauses in Wismar das auf dem Hauptportal befindliche schwedische Königswappen dank einer Spende des Königs Carl XVI. Gustav (*1946) in Höhe von 80.000 Kronen restauriert werden.53 Im schwedischen Königshaus gibt es seit langem eine Tradition, Erinnerungsorte außerhalb Schwedens, die mit der Krone in Verbindung stehen, finanziell zu unterstützen. So wurde auch beispielsweise die Restaurierung der Schwedensäule bei Erfelden in Hessen mit einer Spende des Königs möglich gemacht.54 Neben dem Erhalt von Bauwerken aus der »Schwedenzeit« wird in Wismar seit 2003 mit dem »Schwedenfest« jährlich an die ehemalige schwedische Herrschaft erinnert und dabei besonders hervorgehoben, dass Wismar die letzte schwedische Stadt in Deutschland war.55 Insgesamt wird deutlich, dass nach dem Ende der DDR, ähnlich wie in anderen postkommunistischen Ländern, die Suche nach einer neuen Identität begann, wobei häufig auf historische Gegebenheiten aus der Neuzeit als Fundament einer solchen zurückgegriffen wird.56 Die Stadt Wismar ist hierfür nur ein Beispiel unter vielen Städten der ehemaligen DDR, die heute wieder an ihre schwedische Vergangenheit erinnert. Die schwedische Kultur, die, wie bereits dargestellt, bis in das beginnende 20. Jahrhundert einen großen Einfluss auf die nordostdeutschen Gebiete ausübte, scheint solch bleibende Spuren in der Identität der dort lebenden Bevölkerung hinterlassen zu haben, dass die Ideologie des NS-Regimes und der DDR diese nicht verdrängen konnte. Mit dem Scheitern der Deutschen Demokratischen Republik ist der Wunsch nach Abgrenzung von dieser Zeit verbunden. Durch den Rückgriff auf eine alte, offenbar nach wie vor tief verwurzelte Identität und ein traditionsreiches Zusammengehörigkeitsgefühl mit dem schwedischen Nachbarn war die Möglichkeit einer schnellen Neuorientierung gegeben. Vor diesem Hintergrund ist die Entstehung der »Schwedenstraße« mit Stralsund und Wittstock an der Dosse als Erinnerungsorte des Dreißigjährigen Krieges zu sehen, wobei hier ein weiterer Gesichtspunkt, der für die Erinnerung vieler deutscher Städte an den Dreißigjährigen Krieg von großer Bedeutung ist, eine Rolle spielt. Wenn Stralsund der Vertreibung des kaiserlichen Generalissimus Wallenstein gedenkt, erinnert die Stadt damit an eine Zeit, in der sie über eine gewisse Macht innehatte und in der sie eine Rolle im politischen Geschehen spielte. Ähnliches zeigt sich in Wittstock an der Dosse. Die Schlacht am Scharfenberg 1636 rückte die sonst wenig be53 Tourismuszentrale Wismar (Anm. 45), 7. 54 Fritzsche, Wolfgang: Die Schwedensäule bei Erfelden. In: Denkmalpflege & Kulturgeschichte 1 (2003), 36 – 41. 55 Hansestadt Wismar (Hrsg.): Schwedenjahr 2003. 15. bis 19. August Schwedenfest in Wismar. Wismar 2003. 56 Önnerfors (Anm. 17), 5.

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deutende Stadt für kurze Zeit in den Mittelpunkt einer europäischen Auseinandersetzung. Dieses Phänomen ist auch bei der Erinnerung ehemaliger Freier Reichsstädte zu beobachten. Beispiele wären hierfür Dinkelsbühl, Rothenburg ob der Tauber und Memmingen ebenso wie die ehemalige Universität Altdorf der Freien Reichsstadt Nürnberg. In diesen Städten wird, teilweise seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert, mit Festspielen an den Dreißigjährigen Krieg gedacht und dabei an eine Zeit, in der der heute wenig bedeutenden Provinzstadt noch eine Bedeutung auf der politischen Bühne Deutschlands zukam.

Erinnerungsorte des Dreißigjährigen Krieges Stralsund Stralsund ist die Stadt, in der das Engagement der Schweden im Dreißigjährigen Krieg begann. Der kaiserliche Feldherr Albrecht von Wallenstein verfolgte das Ziel, die deutsche Ostseeküste für den Kaiser zu sichern. In diesem Zusammenhang hatte er ein großes Interesse an der zu Stralsund gehörenden Insel Dänholm, auch »der Dänholm« genannt. Strategisch war der Dänholm wegen seines Ostseehafens von Bedeutung. Daher ließ Wallenstein die Insel im Februar 1628 besetzen und befestigen.57 Die Stadt Stralsund sah sich durch diese Eigenmächtigkeit in ihren Rechten verletzt und die Stadtoberen kam zu Beratungen zusammen. Doch noch bevor der Rat zu einer Entscheidung darüber kam, wie sich die Stadt gegenüber dem kaiserlichen Heer nun zu verhalten habe, blockierten die Stralsunder Bürger mit Booten die Zufahrt des Hafens auf der Insel.58 So begannen eine Seeblockade des Dänholms durch die Stralsunder und das Zerwürfnis zwischen Kaiser und Stadt. Im April 1628 – nach zwei Monaten Seeblockade – entschied sich Wallenstein, das kaiserliche Heer von der Insel abzuziehen.59 Um doch noch Zugriff auf den Dänholm zu bekommen und um die Stadt für ihre Gegnerschaft abzustrafen, belagerte er in den folgenden Monaten die Stadt.60 Da Stralsund selbst nicht über genug Schlagkraft verfügte und die Stadt von der Hanse aufgrund deren damals anhaltenden Schwäche keine Un57 Regina Nehmzow: Zur Geschichte des Dänholms. http://www.stralsund.de/hst01/content1.nsf/6FCEC69D8A7015F8C1256AFE005174EB/ 1E2616CE9A38F4D6C125786C0046069F?opendocument (24. 07. 2012). 58 Ebd. 59 Langer (Anm. 18), 159 f.; Hans-Joachim Hacker : Die Belagerung Stralsunds 1628. In: Hansestadt Stralsund (Hrsg.): Stralsunder Wallenstein-Tage 1991 19.–21. Juli. Festschrift zur Wiederaufnahme des Dank- und Volksfestes anläßlich der Abwehr Wallensteins 1628. Putbus 1991, 8. 60 Hans-Joachim Hacker : Die Schwedenstraße. Rostock 2003, 67.

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terstützung zu erwarten hatte, wandte sie sich an die Könige von Dänemark und Schweden um Hilfe. So verstärkten ab Sommer 1628 dänische und schwedische Truppen die Verteidigungsmacht der Stadt.61 Im Zusammenhang mit dieser militärischen Unterstützung schlossen Schweden und Stralsund ihr Bündnis. Das kaiserliche Heer beendete daraufhin kurze Zeit später die Belagerung und zog unverrichteter Dinge wieder ab.62 Dem Widerstand der Stralsunder Bürger gegen die Besetzung des Dänholms sowie dem glücklichen Ende der Belagerung der Stadt durch kaiserliche Truppen unter Wallenstein gedachte Stralsund bereits ab 1628 mit einem Fest auf dem Dänholm und einem Bootskorso rund um die Insel.63 Seitdem wird »alljährlich am 24. Julius, als an welchem Tage der Friedländer abzog und die Stralsunder das Wallensteinfest feiern, lustig und fröhlich von den jungen Bürgern und Jungfrauen der Stadt getanzt«,64 heißt es in einer pommerschen Sage. 1849 wurde das Fest in die Stadt verlegt, nachdem der Dänholm an den preußischen Militärfiskus verkauft worden war.65 So waren die sogenannten »Wallensteintage« ein fester Bestandteil der Stralsunder Erinnerungskultur bis zur Gründung der DDR. Da es ab 1949 keine besondere Rückbesinnung auf den Dreißigjährigen Krieg von staatlicher Seite gab, organisierte auch die Stadt Stralsund ihr traditionsreiches Fest nicht mehr. Wie tief diese Erinnerung jedoch verwurzelt war, zeigte sich, als nach der Wiedervereinigung sofort Bestrebungen aufgenommen wurden, die Tradition wiederzubeleben.66 Bereits 1991 konnte das historische Fest wieder stattfinden und wird heute wieder jährlich gefeiert. Die »Wallensteintage« haben sich mittlerweile zum größten historischen Volksfest Norddeutschlands entwickelt und sind weit über die Grenzen der Stadt hinaus bekannt.67 Neben traditionellen Elementen gehören auch immer neue Programmpunkte zum Repertoire des Festes, das an vier Tagen im Juli stattfindet. Alljährliche feste Bestandteile des Festes sind das »Hohnblasen«, das an die höhnischen Lieder der Stadtbläser erinnert, welche diese zu Wallensteins Abzug spielten,68 ein Bootskorso, der an die erfolgreiche Belagerung des kaiserlichen Heeres auf dem Dänholm durch die Bürger der Stadt erinnert, ein Festumzug 61 Hacker: Belagerung (Anm. 60), 67. 62 Langer (Anm. 18), 166. 63 Harald Lastovka: Geleitwort. In: Hansestadt Stralsund (Hrsg.): Stralsunder WallensteinTage 1991 19.–21. Juli. Festschrift zur Wiederaufnahme des Dank- und Volksfestes anläßlich der Abwehr Wallensteins, 1628. Putbus 1991, 4; Nehmzow (Anm. 58). 64 Neumann (Anm. 39), 91. 65 Nehmzow (Anm. 57). 66 Lastovka (Anm. 63), 4. 67 www.wallensteintage.de (24. 07. 2012). 68 Rente Schaarschuh: Die Wallensteintage in der Vergangenheit. In: Hansestadt Stralsund (Hrsg.): Stralsunder Wallenstein-Tage 1991 19. – 21. Juli. Festschrift zur Wiederaufnahme des Dank- und Volksfestes anläßlich der Abwehr Wallensteins, 1628. Putbus 1991, 12.

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durch die Altstadt und ein historischer Markt. Ein Beispiel für die wechselnden Elemente der »Wallensteintage« wäre das 1934 aufgeführte Festspiel von Ernst Hammer (1877 – 1940) »Stralsund und der Herzog von Friedland«,69 das auf der »Legende des zerschossenen Weinkelchs«70 basiert, auch bekannt unter dem Titel »Herzog Wallenstein vor Stralsund«.71 Glaubt man dieser Sage, so verließ Wallenstein die Gegend um Stralsund nach einem erschreckenden Erlebnis. Er sei, heißt es, in seinem Lager vor der Stadt vor seinem Zelt gesessen und habe einen Kelch Wein getrunken. Just in dem Moment, als er den Kelch an die Lippen setzte, sei dieser durch einen gezielten Schuss der Soldaten auf der Stadtmauer zerschossen worden. »Das ist ihm ein Zeichen gewesen, daß er hier solle zuschanden werden und daß er gegen Stralsund seine Drohungen nicht ausführen könne. Er brach daher mit seinem Lager umgehend auf und zog nach Mecklenburg zurück, nachdem er zwölftausend Mann vor der Stadt verloren hatte.«72 Beweise dafür, dass sich die Geschichte so zugetragen hat, gibt es keine. Es wird also dem kaiserlichen Feldherrn Wallenstein, der 1628 die Stadt bedrohte, negativ gedacht. Im Mittelpunkt der Erinnerung stehen allerdings das Ende der Belagerung und der glücklose Abzug Wallensteins. Damit ist das Gedenken der Stadt an den Dreißigjährigen Krieg in erster Linie positiv konnotiert.

Wittstock an der Dosse Auch Wittstock an der Dosse in Brandenburg gedenkt heute seiner gemeinsamen Vergangenheit mit Schweden. 1636 wurde am Scharfenberg nahe Wittstock eine wichtige Schlacht des Dreißigjährigen Krieges geschlagen, aus der die Schweden trotz zahlenmäßiger Unterlegenheit als Sieger hervorgingen.73 Anknüpfend an dieses Ereignis wurde im Amtsturm der Bischofsburg zu Wittstock 1998, genau 350 Jahre nach dem Westfälischen Frieden, das bis heute einzige »Museum des Dreißigjährigen Krieges« in Europa eröffnet.74 Konzipiert wurde das Museum von einem internationalen wissenschaftlichen Beirat, der sich aus österreichischen, schwedischen und deutschen Historikern zusammensetzt.75 Finanzielle Förderung erfährt das Museum von der Europäischen Union, was 69 70 71 72 73 74

Ernst Hammer/Emil Magnus: Stralsund und der Herzog von Friedland. Stralsund 1934. http://www.wallensteintage.de/Historie/Legende (24. 07. 2012). Neumann (Anm. 39), 90 f. Zitiert nach Neumann (Anm. 39), 91. Hacker: Schwedenstraße (Anm. 60), 91 ff. Katrin Hinz/Birgit Weller : Museumsgestaltung in historischer Bausubstanz. In: Kreis Ostprignitz-Ruppin (Hrsg.): Museum des Dreißigjährigen Krieges Wittstock/Dosse. [Ausstellung]. Wittstock/Dosse 1998, 11 f. 75 Beate Käser : Das Wittstocker »Museum des Dreißigjährigen Krieges.« Eine Neugründung in Brandenburg. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 49 (1998), 623.

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den internationalen Charakter des Museums zusätzlich unterstreicht. Gemäß dem Motto »7 Ebenen zum Frieden« steigt der Besucher von der ersten Ebene bis zur siebten Ebene, von der Ausgangssituation 1618 bis zum Westfälischen Frieden und der Nachkriegsordnung, auf.76 Neben der Dauerausstellung, die in deutscher, englischer und schwedischer Sprache gestaltet ist, gibt es ein umfangreiches museumspädagogisches Programm. Forschern dient das Museum als Diskussionsforum.77 Doch die Stadt erinnert nicht nur allgemein an den Dreißigjährigen Krieg, sondern auch ganz explizit an den schwedischen Sieg am Scharfenberg 1636. Alle Fünf Jahre findet vor diesem Hintergrund das »Historische Spektakel: Die Schweden kommen…« mit Festumzug, historischem Markt, Schlachtdarstellung und historischem Feldlager statt.78 Des Weiteren wurde an dem Ort, an dem das schwedische Heer nach gewonnener Schlacht einen Dankgottesdienst abgehalten hatte, ein »Schwedenstein« aufgestellt.79 Das jüngste Projekt der Stadt, die archäologische Untersuchung des Massengrabes auf dem Schlachtfeld von 1636, steht kurz vor der Vollendung. Dort wurde bereits im September 2011 die neue Aussichtsplattform mit Informationssäule eingeweiht80 und im März 2012 eröffnete die Ausstellung »1636 – ihre letzte Schlacht«81 zu den Funden der Ausgrabung. Das große öffentliche Interesse unterstützt die Stadt in ihrem Wunsch, den Grabfund als neue Touristenattraktion zu etablieren. So berichteten beispielsweise die Dokumentationssendung »Planet Wissen« des SWR82 und das Magazin Spiegel Geschichte83 über die Ausgrabungen. Somit bedient auch Wittstock an der Dosse die thematischen Vorgaben der »Schwedenstraße« und ist in dieses überregionale, tatsächlich grenzüberschreitende Tourismusprojekt eingebunden. Da diese Initiative als prozesshafte, nicht mittelfristig abzuschließende Aufgabe verstanden wird, ist eine Erweiterung der kulturtouristischen Straße durchaus erwünscht. Derzeit ist die Aufnahme Lützens als dem wohl bekanntesten Erinnerungsort zum Wirken Gustavs II. Adolf in der Diskussion.

76 http://www.mdk-wittstock.de/ (24. 07. 2012). 77 Käser (Anm. 75), 624. 78 Stadtverwaltung Wittstock/Dosse – Amt für Wirtschaftsförderung und Liegenschaften (Hrsg.): Wittstock/Dosse frischer Geist in alten Mauern. Wittstock/Dosse 2011, 9 f. 79 Ebd., 10. 80 Ebd., 9. 81 Sabine Eickhoff/Franz Schopper (Hrsg.): 1636 – ihre letzte Schlacht: Leben im Dreißigjährigen Krieg. Stuttgart 2012. 82 SWR, Planet Wissen, 22. 11. 2010. 83 Dietmar Pieper : Ortstermin: Geplünderte Tote. Ein Massengrab auf dem Wittstocker Schlachtfeld gibt Aufschluss über das Leben und Sterben der Söldner. In: Der Spiegel Geschichte 4 (2011), 106 f.

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Lützen Die Stadt Lützen, deren Name untrennbar mit dem Schlachtentod des schwedischen Königs im Jahre 1632 verbunden ist, steht in einer ganz besonderen Gedenktradition. Hier herrscht eine lange und anhaltende gemeinsame deutschschwedische Erinnerung vor. Schon kurz nach dem Tod Gustavs II. Adolf wurde auf dem Schlachtfeld bei Lützen ein Granitfindling mit der Inschrift »G A 1632« zum Gedenken an den schwedischen König gesetzt.84 Die Pläne des schwedischen Reichskanzlers Axel Oxenstierna (1583 – 1654) gingen jedoch schon damals weit darüber hinaus. Lange verhandelte er mit dem Kurfürsten von Sachsen über die Errichtung einer Kapelle und eines Standbildes auf dem Schlachtfeld.85 Doch nach dem Ende des schwedisch-sächsischen Bündnisses 1635 konnten diese Pläne nicht mehr verwirklicht werden. Im Zusammenhang mit dem wachsenden Interesse an Gedenkstätten und Denkmälern für historische Ereignisse und Persönlichkeiten im 19. Jahrhundert, das mit dem Reformationsjubiläum und den Lutherfeiern 1817 begann, bemühten sich in Lützen dann zwei Jahrhunderte nach dem historischen Ereignis die Bürger um die Errichtung eines würdigen Denkmals für Gustav II. Adolf.86 Der schwedische König avancierte in dieser konfessionell aufgeladenen Zeit zu einem protestantischen Helden in der Tradition Martin Luthers (1483 – 1546), was die spätere Ausgestaltung der Gedenkstätte verdeutlicht. Zur Verwirklichung des Denkmals wurde 1832 am 200. Todestag Gustavs II. Adolf ein Komitee gegründet, dessen Arbeit in den Feierlichkeiten rund um die Enthüllung des Denkmals 1837 gipfelte.87 Doch können die Feierlichkeiten in Lützen zum 200. Todestag auch als Geburtsstunde des Gustav-Adolf-Vereins, später Gustav-Adolf-Werk, bezeichnet werden. Im Zusammenhang mit den Spendensammlungen für das Denkmal entstand die Idee eines Hilfswerkes für protestantische Minderheiten-Gemeinden. So wurde 1834 der Gustav-Adolf-Verein gegründet.88 Ab 1837 wurde die Gedenkstätte in Lützen stetig ausgebaut. Die Parkanlage konnte 1853 und 1904 auch mit schwedischer Unterstützung erweitert werden.89 1906 folgte die Grundsteinlegung der vom schwedischen Konsul Oscar Ekman 84 Hartmut Mai/Kurt Schneider: Gustav-Adolf-Stätten in und bei Lützen. Die Stadtkirche St. Viti und die Gustav-Adolf-Gedenkstätte zu Lützen; die Gustav-Adolf-Gedächtniskirche zu Meuchen bei Lützen (Das christliche Denkmal 115). Berlin 1981, 23. 85 Ebd., 10. 86 Ebd., 23; Hans Wähner : Gustav-Adolf-Werk (GAW) – Entstehungs- und Wirkungsgeschichte. In: Maik Reichel/Inger Schuberth (Hrsg.): Gustav Adolf, König von Schweden – die Kraft der Erinnerung: 1632 – 2007. Dößel 2007, 145. 87 Mai/Schneider (Anm. 84), 25; Wähner (Anm. 86), 145. 88 Mai/Schneider (Anm. 84), 25; Wähner (Anm. 86), 148. 89 Mai/Schneider (Anm. 84), 27.

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(1812 – 1907) gestifteten Kapelle, die 1907 am 275. Todestag Gustav Adolfs geweiht wurde.90 In den 1920er-Jahren sah sich die Stadt Lützen aufgrund der wachsenden wirtschaftlichen Probleme außerstande, die Verwaltung der von Ekmann gestifteten Kapelle allein zu tragen, zumal sich die Kapelle in schlechtem Zustand befand. Zunächst sprang die Familie Ekmann erneut ein, um die Gustav-AdolfGedenkstätte zu erhalten. Doch langfristig war dies einer einzelnen Familie nicht möglich. Daher wurde 1931 die Schwedische Lützen-Stiftung (Stitftelsen Lützenfonden) mit Sitz in Göteborg ins Leben gerufen, die von 1932 bis Mitte der 1990er-Jahre die Unterhaltung der gesamten Gedenkstätte übernahm.91 Für die Arbeit vor Ort wurde ein schwedischer Verwalter eingesetzt, dem jedoch nach einem Urlaub in Schweden 1961 die Wiedereinreise in die DDR verweigert wurde.92 Damit wurde die Arbeit der Schwedischen Lützen-Stiftung deutlich erschwert. Doch begann die DDR-Führung mit der Zeit, sicher aufgrund der guten außenpolitischen Beziehungen zum neutralen Schweden, finanziell zur Erhaltung der Gedenkstätte beizutragen.93 So konnten auch die jährlichen Feiern zu Gustav Adolfs Todestag fortgesetzt werden. In den 1970er-Jahren entwickelte sich die Gedenkstätte in Lützen zu einem der meistbesuchten Privatmuseen der DDR und ein weiterer Ausbau zum Jubiläum 1982 war möglich.94 Nach der deutschen Vereinigung und im Zuge des steigenden Interesses der Stadtverwaltung Lützen an der Gustav-Adolf-Gedenkstätte kam es zu einer Annäherung zwischen der Schwedischen Lützen-Stiftung und der Stadt Lützen. Heute wird die Gedenkstätte von Schweden und Deutschen gemeinschaftlich geführt.95 Gemeinsam wird jährlich der Todestag Gustav Adolfs am 6. November begangen.96 Auch Gäste aus Schweden sind jedes Jahr dabei. In Zusammenarbeit mit dem Museum Lützen initiiert die Schwedische Lützen-Stiftung regelmäßig Ausstellungen, wie im Jahr 2012 über den großen Gegenspieler des schwedischen

90 Ebd.; Inger Schuberth/Lennart Limberg: Schweden und Lützen im 20. Jahrhundert: Kapelle, Reichsvereinigung und Lützenstiftung. In: Reichel/ Schuberth (Hrsg.): Gustav Adolf (Anm. 86), 161. 91 Ebd., 159 ff. 92 Ebd., 165. 93 Ebd. 94 Ebd. 95 Ebd., 166. 96 Inger Schuberth/Maik Reichel: Das Kuratorium der Lützener Kapellenstiftung, die Schwedische Lützen-Stiftung und die »Lützener Gespräche«. In: Maik Reichel/Inger Schuberth (Hrsg.): Leben und Sterben auf dem Schlachtfeld von Lützen. Beiträge eines wissenschaftlichen Kolloquiums der Schwedischen Lützen-Stiftung Göteborg in Zusammenarbeit mit der Stadt Lützen vom 5. bis 8. November 2009 in Lützen. Lützener Gespräch. Lützen-Göteborg 2011, 31 – 36.

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Königs, Wallenstein.97 Seit einigen Jahren werden zudem, ähnlich wie in Wittstock an der Dosse, archäologische Untersuchungen des Schlachtfeldes vorgenommen.98 Auch hierbei handelt es sich um ein deutsch-schwedisches Projekt. Damit steht die Gedenkstätte in Lützen sowohl thematisch als auch in ihrem grenzüberschreitenden Charakter den an der »Schwedenstraße« beteiligten Gemeinden in nichts nach und ihre Beteiligung am Projekt erscheint angezeigt.

Die Schwedenstraße – ein grenzüberschreitender Erinnerungsort Zusammenfassend ist die Frage, warum in Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg im Verbund mit schwedischen Partnern diese als grenzüberschreitend zu bezeichnende kulturhistorische, deutsch-schwedische Themenstraße entstand, folgendermaßen zu beantworten: Zwischen der deutschen Ostseeregion und Schweden herrschten über lange Zeit eine sprachliche Nähe und nachbarschaftliche Beziehungen, vor allem über den Handel. Die Erinnerung an die schwedische Beteiligung am Dreißigjährigen Krieg war unter Protestanten positiv geprägt. Das Bild Gustav Adolfs als »Retter des deutschen Protestantismus« wird teilweise bis heute tradiert. Die an den Krieg anschließende schwedische Herrschaft in Pommern ist mit den Freiheiten, die Schweden seiner Provinz gewährte, die jedoch nur auf einen Teil der Bevölkerung positive Auswirkungen hatten, sowie mit dem kulturellen Austausch zwischen den beiden Regionen, aus denen wiederum eine kulturelle Nähe resultierte, verbunden. In Schweden wurde Gustav II. Adolf als nationaler Held wahrgenommen, der die schwedische Großmachtzeit und die schwedische Vorherrschaft im Ostseeraum einleitete.99 Außerdem spielte er auch hier eine Rolle als protestantischer Held, der sich im Dreißigjährigen Krieg strikt für die protestantische Sache einsetzte. Der Kult um seine Person erlebte in Schweden, ähnlich wie in Deutschland, im 19. Jahrhundert einen erheblichen Auftrieb. Verbunden war dies mit der Zeit der Romantik und ihrer Verehrung für Heldengestalten. Bis weit in das 20. Jahrhundert hinein wirkte dieser Kult um seine Person, was auch eng mit dem schwedischen Nationalismus verknüpft war. Seit den 1960er-Jahren lässt die Gustav-Adolf-Begeisterung jedoch in Schweden merklich nach.100 Trotzdem 97 Inger Schuberth/Maik Reichel (Hrsg.): Die blut’ge Affair’ bei Lützen. Wallensteins Wende. Dößel 2012. 98 Andr¦ Schürger : 30 Jahre Schlachtfeldarchäologie: von Little Big Horn bis Lützen. In: Schuberth/Reichel (Hrsg.): Die blut’ge Affair’ bei Lützen (Anm. 97), 247 – 253. 99 Sverker Oredsson: Die Erinnerung an Gustav Adolf in Deutschland und Schweden. In: Reichel/ Schuberth (Hrsg.): Gustav Adolf (Anm. 86), 21. 100 Ebd., 25.

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stellt Gustav II. Adolf nach wie vor eine große, wenn auch mittlerweile kontrovers betrachtete Person der schwedischen Geschichte dar. Der grenzüberschreitende Charakter der »Schwedenstraße« beschränkt sich jedoch nicht nur auf ihre thematische Gestaltung. Vielmehr ist das Projekt durch seine Akteure und seine Besucher ein nationenübergreifendes Konzept. Die Besucher aller Orte der »Schwedenstraße« kommen aus unterschiedlichen Ländern, meist aus der EU. Hinzu kommt, dass auch die drei hier vorgestellten Erinnerungsorte von internationalen Akteuren getragen werden. In Stralsund beteiligen sich vor allem auch Schweden aktiv an der Erinnerung, indem sie beispielsweise am jährlichen Bootskorso teilnehmen. Das Museum des Dreißigjährigen Krieges wird von einem internationalen wissenschaftlichen Beirat konzipiert und in Lützen zeichnet neben der Stadt auch die Schwedische LützenStiftung verantwortlich für die Gestaltung der Gedenkstätte. Durch die zunehmende Europäisierung kommt solchen grenzüberschreitenden Erinnerungsangeboten eine immer größere Bedeutung zu. Auf der Suche nach einer kollektiven europäischen Identität bietet der Dreißigjährige Krieg als europäischer Krieg Anknüpfungspunkte – dank des ihn beendenden Westfälischen Friedens, der als erste Rahmenordnung der europäischen Diplomatie verstanden werden kann. Die Erinnerung an die aus diesem Frieden resultierende schwedische Herrschaft in Pommern betont vor allem die kulturelle Nähe zwischen der deutschen Ostseeküste und dem skandinavischen Land. Daher weist die gemeinschaftliche Pflege des gemeinsamen kulturellen Erbes im Rahmen dieser deutsch-schwedischen Kooperation genau den grenzüberschreitenden Charakter auf, der vor allem von Seiten der europäischen Politik immer wieder für ein Zusammenwachsen Europas gefordert wird. So erklärt sich auch die finanzielle Unterstützung der Europäischen Union für derlei Erinnerungskonzepte, wie zum Beispiel in Wittstock an der Dosse. Die Initiatoren der »Schwedenstraße« griffen also einen Aspekt der deutschen Geschichte auf, der zum einen in der Bevölkerung der beteiligten Regionen fest verwurzelt ist und der zum anderen auch von der Politik als förderungswürdig eingestuft wird. Hinzu kommt jedoch ein weiterer Aspekt, der bei der Betrachtung von Kulturförderung nicht außer Acht gelassen werden darf: der Tourismus als wirtschaftlicher Faktor. Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg standen nach der Wiedervereinigung vor neuen wirtschaftlichen Herausforderungen. Der politische Zusammenbruch der DDR ging einher mit einem wirtschaftlichen Verfall. Auch hier ist das Beispiel Wittstock an der Dosse anzuführen. Anfang der 1990er-Jahre verlor Wittstock mit dem Zusammenbruch der Textil-, Metall- und Möbelbranche die wichtigsten Wirtschaftsbetriebe der Stadt, was mit einem massiven Verlust an Arbeitsplätzen verbunden

Die Konzeption der »Schwedenstraße« als deutsch-schwedischer Erinnerungsort

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war.101 In der strukturschwachen Region musste Neues erschlossen werden. In diesem Zusammenhang entdeckte Wittstock in den Folgejahren seine Stadtgeschichte für sich, um für den Tourismus attraktiv zu erscheinen. Neben dem Naturerlebnis warb Wittstock an der Dosse fortan auch mit seiner Geschichte für sich und griff dabei auf den schwedischen Sieg 1636 ganz besonders zurück, einem kurzen Moment, in dem der Stadt eine vermeintliche Bedeutung im europäischen Mächtegefüge zukam. Rein regional signifikante historische Ereignisse sind für den Kulturtourismus weit weniger interessant als Ereignisse, die mindestens überregionalen, wenn nicht grenzüberschreitenden Charakter haben. So wird entlang der »Schwedenstraße« mit der Erinnerung an den Dreißigjährigen Krieg und die schwedische Herrschaftszeit in Pommern eine Verbindung zwischen dem angebotenen Thema und ausländischen Touristen hergestellt, was für den Tourismus als lokalem Wirtschaftsfaktor sehr erfolgversprechend ist. Doch auch die schwedischen Kultureinrichtungen profitieren von dieser Kooperation, können sie sich doch über die Homepage des Projektes einem breiten deutschen Publikum vorstellen. Die deutsch-schwedische kulturhistorische Themenstraße »Schwedenstraße« stellt also einen Erinnerungsort des Dreißigjährigen Krieges und der darauffolgenden schwedischen Herrschaftszeit dar. Dass diese Zusammenarbeit entstehen konnte und mittlerweile seit zwölf Jahren erfolgreich ist, verdankt sie der Verbindung dreier Elemente: erstens der vorherrschenden tiefen Verwurzelung der Erinnerung an die Schweden in Deutschland seit dem Dreißigjährigen Krieg bis 1903, zweitens dem Willen der europäischen Politik, grenzüberschreitende Erinnerungsangebote auf der Suche nach einer kollektiven europäischen Identität zu fördern und drittens der gewünschten Tourismusförderung in der strukturschwachen Region. Auch vereint die »Schwedenstraße« mehrere Ebenen der Erinnerung in sich, die lokale, die regionale und die grenzüberschreitende Erinnerung an eine Deutschland und Schweden verbindende Zeit, die im Dreißigjährigen Krieg begann. Daher scheint Friedrich von Schiller (1759 – 1805) heute noch modern in seiner »Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs«: »Diese Teilnehmung der Staaten aneinander, welche sich in diesem Krieg eigentlich erst bildete, wäre allein schon Gewinn genug, den Weltbürger mit seinen Schrecken zu versöhnen. (…) So wie die Flamme der Verwüstung (…) einen Weg fand, (…) das halbe Europa zu entzünden, so wird die Fackel der Kultur von diesen Staaten aus einen Weg sich öffnen, jene Länder zu erleuchten.«102 101 Marcus Hennen: »Mittendrin«. Wittstock/Dosse 20 Jahre nach der politischen Wende 1989. Beiträge zur Stadtsanierung und Stadtentwicklung 1989 – 2009. Wittstock/Dosse 2009, 14. 102 Friedrich Schiller : Geschichte des Dreissigjährigen Kriegs (Schillers Werke. Nationalausgabe 18). Weimar 1976, 10.

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Quelle: eigene Darstellung/Ó Nina Fehrlen

Nina Fehrlen

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Im Raume lesen wir die Zeit. In welcher Zeit liest wer warum welchen Raum? Oder: Haithabu, vom Kampfplatz deutscher Geschichtspolitik zum Ausflugsziel für die ganze Familie. Ein Essay Dreimal wurde der Raum gestaltet – und eben dadurch zu einem Ort.1 Erst eiszeitlich, dann mittelalterlich, dann von Archäologen in wissenschaftlichpolitisch-fremdenverkehrsfördernder Absicht. Womit die drei Zugänge zu Haithabu, dänisch Hedeby, dem Ort auf der Heide, benannt sind. Die imaginierte dreigeteilte Pyramide der Erinnerung ist aus regionalen, lokalen und nationalen Gedächtnissen konstruiert. Nur räumlich lassen sich diese drei Zugänge und Zugriffe denken (Hier zwei der Ordnungen des Raumes – gesehen vor einem Blick aus dem Wikinger-Museum Haithabu). Wenden wir uns dem Eindeutigsten zu, dem Raum. Dem Raum, der zugleich Komplexität verbürgt und den Zusammenhang aufrecht erhält und Einspruch gegen die Zumutungen von Zeit und Zivilisation zu erheben scheint, dem Raum, der für Dauer bürgt. Die Landschaft um Haithabu ist geologisch jung, vor 20.000 Jahren lagen die skandinavischen Gletscher auch hier und prägten den gut erkennbaren »eiszeitlichen Formenschatz«.2 Dicht nebeneinander liegen die Endmoränen, eine abwechslungsreiche, wenig nivellierte Landschaft. Das Eis hobelte den Untergrund ab, schürfte Becken aus, die sich später mit Wasser füllten. Bereits unter dem Eis spülte das Schmelzwasser tiefe Rinnen aus. Nach dem Abtauen des Eises nahmen sie die Flüsse auf – so ein langer Rinnensee, eine Wasserzunge glazialen Ursprungs, ist die Förde. Die Böden sind kalk- und nährstoffreich.

1 So Michel de Certeau: Die Kunst des Handelns. Berlin 1988, 217 – 218. Der Ort als »eine momentane Konstellation von festen Punkten«, der Raum ein »Geflecht von beweglichen Elementen«. 2 So Karl-Ernst Behre: Landschaftsgeschichte Norddeutschlands. Umwelt und Siedlung von der Steinzeit bis zur Gegenwart. Neumünster 2008, 13.

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Zwei der Ordnungen des Raumes – gesehen vor einem Blick aus dem Wikinger-Museum Haithabu. Foto/Montage: Wiebke Johannsen

1.

Vom Boden zum Denkmal – über Rätsel und Rassismen

Die Gletscher brachten Geschiebe mit, die später als Beschreibstoff dienen. Ein Runenstein ist ein Stück schwedischen Granits, ist Dokument, ist eine Stele, ist ein Link zwischen Archäologie und Historiografie, bildet doch gemeinhin die

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Schrift den Zaun, die Grenze zwischen Vorgeschichte und Geschichte. Ein Runenstein ist Memoria und Historia, Nekrolog und vielen Orakel. Die Steine sind versehen mit einer Schrift, die gern als »rätselhaft« bezeichnet wird. Im Wikinger-Museum Haithabu werden vier von ihnen im dunklen Raum dramatisch angeleuchtet. Sie mögen stehen für die größere Lust am Dunkel der Geschichte, der Bevorzugung des Rätsels gegenüber Analysen und Aufklärungen. Einst standen die Schriftsteine aufrecht am Haddebyer Noor. Ein schönes Bild: Die Schriftsteine als Inseln im Meer der Illiteralität. Die Steine kündeten von dem, der die Zeichen einritzte, von der Auftraggeberin oder dem Auftraggeber. Und sie sind Denksteine, besser Gedenksteine, ausgewählt, beschriftet und errichtet für bedeutende Männer. Männer, die seit der Steinsetzung bedeutend sind. Zwei setzte Königin Asfrid (10. Jahrhundert) für ihren Sohn Sigtrygg, die beiden anderen sind von Männern für Männer – König Sven setzte für Skarthe und Thoralf setzte für Erik (beide frühes 11. Jahrhundert). Einer der vier Haithabuer Steine wurde 1887 bei Bauarbeiten in einer Bastion des Schlosses Gottorf gefunden und nicht dort belassen, da das antiquarische und national interpretierende Geschichtsinteresse Hochkonjunktur hatte. Die Gemeinde Busdorf, in der auch das Wikinger-Museum liegt, wählte das Motiv Skarthistein übrigens zum Wappen. Zweite Schnurre aus nationalverliebter Zeit: Der Name Haithabu beruhe »auf eine(r) allzu buchstabengetreuen bis falschen Lesung der Namenform auf dem Erikstein«,3 die sich um 1900 durchsetzte. Die Schriftgestalt verweist auf die Materialität: Die spitzen steilen Zeichen lassen sich gut mit einem Messer in Holz ritzen oder mit einem Meißel in Stein hauen. Das klangschöne und Rätsel evozierende Wort Rune ist eine gelehrte Neubildung des 17. Jahrhunderts nach skandinavischem Vorbild. Gotisch garuni bedeutete Geheimnis; in den Bildungen Geraune (und in den Namen Sigrun und Gudrun) lebt das Wort weiter. Runenbeschriftungen existieren aus dem zweiten Jahrhundert bis zum späten Mittelalter, mithin gibt es sie viel länger als die Wikingerzeit (achtes bis elftes Jahrhundert) selbst. Die meisten Runeninschriften sind aus Schweden überliefert (zirka 3.600), es folgen Norwegen (1.600), Dänemark (850) sowie Deutschland und England (je etwa 90). Außerdem sind noch aus den Niederlanden, Island, Irland und Grönland Inschriften überliefert. Was hat den harkenartigen Zeichen zu ihrer Karriere als Bedeutungsträger jenseits des kommunizierten Inhalts verholfen? In der neueren Forschung werden die Runenschriften (es sind mehrere Alphabete) zunehmend als Kom-

3 Christian Radtke: Haidaby. In: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde. Bd. 13. Berlin-New York 1999, 361 – 387, 362.

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munikationsschrift angesehen.4 Doch volkstümlich, das heißt populär wie auch völkisch und tümlich, wird Runen ein magischer oder mantischer Sinn zugesprochen. Gern auch werden sie als »vor-christlich« (und damit »echt«) angesprochen.5 Unzweifelhaft entspricht ein Graphem einem Phonem, und unzweifelhaft hatte jede Rune einen Namen und eine Bedeutung (»F« zum Beispiel für Vieh). Über Runen ist in populären Schriften (etwa im GeoEpoche-Heft »Die Wikinger« von 2012) meist vom göttlichen Ursprung die Rede – Odin schuf sie. In der Geschichte H–vam–l der Göttersage der älteren Edda, die im 13. Jahrhundert im christlichen Island verschriftlicht wurde, sind es Runen, die Odin, der neun Tage im heiligen Baume Yggdrasil festhängt wie im Geburtskanal, befreien beziehungsweise gebären. Eher Zaubersprüche als Verständigungstext – in der Übersetzung von Karl Simrock (1802 – 1876): »… einige schnitt ich selbst./ Weißt Du zu ritzen? Weißt Du zu errathen? Weißt Du zu finden? Weißt Du zu erforschen? Weißt Du zu bitten? Weißt Opfer zu bieten? Weißt Du wie man senden, weißt wie man tilgen soll?«6

Ein Gang über das Gelände von Haithabu im Jahre 2012 zeigt sie, nicht geritzt und nicht geschnitten, sondern auf Textil gedruckt, auf T-Shirts getragen. Unzweifelhaft nicht Ausfluss des Geistes des Ortes, eher des Eigensinns der Besucher. Ihrer Wunschzeitlandschaft, die sie mitbringen an den historischen Ort. Junge Menschen mit Runen-T-Shirts, Walhalla-Inschriften, Thorshämmern und anderen heidnischen Insignien. Wer nachvollziehen möchte, woher die Besucher ihre sendenden Hemden beziehen, landet immer wieder auf rechten und rechtsradikalen Internetseiten wie www.viking.blood.com oder Wikingerversand.7 Zwei Fragen hat die Spaziergängerin an den Ort. Die praktisch-politische: Wie geht das Wikinger-Museum Haithabu mit dem Runen- und Wikinger4 Klaus Düwel: Runenschrift. In: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde. Bd. 25. Berlin-New York 2003, 571 – 585. Hier findet sich auch Kritik an der Auffassung, es handle sich um eine »männliche Kunst«, die Frauen nicht ausübten. Interessant, der göttliche Schriftursprung laut Edda wird für wahrgenommen, nicht aber die schreibende Walküre, ein Weib. 5 Drei Belege für Runen-Verehrung und »Weisheit«: http://www.runen-weisheit.de; http:// www.runen.net; http://www.nordischer-schamanismus.de (02. 08. 2012). 6 Karl Simrock: Die Edda. Die ältere und jüngere nebst den mythischen Erzählungen der Skalda. Stuttgart 1888, 56. 7 Anlass meiner näheren Beschäftigung mit Haithabu war ein Besuch im Jahr 2011, bei dem mir obige Besuchergruppe massiv auffiel. In einem Brief an das Museum äußerte ich – zugespitzt – die Vermutung, das Gelände habe sich zu einem Wallfahrtsort für rechtsradikale Gruppen entwickelt. Ich erhielt eine Antwort von Prof. Dr. Claus von Carnap-Bornheim, Leitender Direktor des Stiftung Schleswig-Holsteinische Landesmuseen, vom 09. 08. 2011, die aus drei Punkten bestand: Man ginge sensibel mit dem Thema um, man könne keine Gesinnungskontrollen durchführen, Vorverurteilungen hülfen da nicht weiter. Den beiden letzten Punkten stimme ich voll zu.

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Faszinosum in rechten Kreisen um? Und eine nach der Runen-Rezeptionsgeschichte allgemein. Die erste Frage wird auf den folgenden Seiten beantwortet. Zunächst wandert unser Blick noch in der Vorgeschichte der Grabungsgeschichte und erkundet die Frage, wie es eigentlich zum Runengebrauch in der Gegenwart kam. Die Fund- und Publikationszeit des Skarthisteins und der Edda ist auch die Inkubationszeit der Völkischen und die Wirkungszeit Guido von Lists (1848 – 1919), des Begründers der Ariosophie (der Wissenschaft von der Überlegenheit der Arier), eines Wotan huldigenden Wagner-Adepten und Antisemiten, der die Runenschrift für die Urschrift der Menschheit hielt. Im Zentrum des wahnhaften Systems, das die Münchener Thulegesellschaft und später die NSDAP fortschreibt, steht seine Runenesoterik. Seine Schrift Das Geheimnis der Runen von 1908, dessen Cover in einigen Ausgaben das Hakenkreuz trägt, lässt sich übrigens als Nachdruck bei der 1976 wieder gegründeten Nachfolgeorganisation bestellen (armanen-orden.blogspot.com). Die Sig-Runen gehen auf List zurück.8 Rassebewusste nordische Menschen können seither Runen-Yoga turnen. Dass Guido von List nicht nur seinen Adelstitel selbst erfand, sondern auch das Runenalphabet in einer Vision empfing, ist eine amüsante Petitesse, die weder Anhänger noch Zeitgeschichte beeinflusste.9

2.

Der zweite Blick in die Landschaft

Der zweite Blick in die Landschaft sollte der mittelalterlichen, also der Originalgeschichte gelten.10 Der Zeitschicht Haithabu, das der Museumsflyer (»Faszination Haithabu – Faszination Wikinger«) so beschreibt: »Haithabu liegt vor den Toren der Stadt Schleswig. In der Wikingerzeit, vom 9. bis 11. Jahrhundert, war die frühmittelalterliche Stadt eines der bedeutendsten Handelszentren Nordeuropas. Hier kreuzten sich die wichtigsten Fernhandelswege und führten Menschen und Waren aus aller Welt zusammen. Zum Schutze der Stadt wurde ein befestigter Halbkreiswall errichtet.« 8 Friedrich Paul Heller/Anton Maegerle: Thule – vom völkischen Okkultismus bis zur neuen Rechten. Stuttgart 1995, 21. 9 Rüdiger Sünner : Schwarze Sonne. Die Macht der Mythen und deren Missbrauch in Nationalsozialismus und rechter Esoterik. Freiburg 1999; am ausführlichsten, besonders in Bezug auf das Fortwirken der rechten Esoterik ab 1933: Brigitte Hamann: Hitlers Wien. Lehrjahre eines Diktators. München 1997, 293 ff. Hamann weist List-Gedanken und -Formulierungen in Hitlers Schriften und Reden nach: »Selbstsuggestion und der Glaube an die obskure Theorie eines Welterklärers seiner Wiener Jugend [also Guido von List – W.J.] trugen dazu bei, H.s [Hitlers, W.J.] Realitätssinn auf fatale Weise zu beeinträchtigen.« (Ebd. 308). 10 Literatur mit Literarturhinweisen: Birgit Maixner : Haithabu. Fernhandelszentrum zwischen den Welten (Ausstellungskatalog). Schleswig 2010.

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Aber nun ist die ganze theoretische Stratigraphie durcheinander geraten. Eben sollte es bloß um die Landschaft gehen, anthropogen, sicher, aber um die VorZeit. Die Runen und der Raum haben die Ordnung der Zeit durcheinandergebracht. Schriftquellen wie Bodenfunden zufolge ist Haithabu der wichtigste Siedlungsplatz der Wikingerzeit in Nordeuropa. Er lag im Zentrum von Handelswegen und im Grenzgebiet zwischen den Herrschafts- und Wirtschaftsräumen des Königreichs Dänemark, des fränkisch-deutschen Reiches und der Gebiete der Obodriten und der Nordfriesen. Noch dazu liegt er im Zentrum geschichtlichen Interesses und ist ein Traum für Archäologen, da die Siedlung – Schleswig ist ja ihre Nachfolgerin – nie überbaut oder sonst wie gestört wurde.

Flyer des Haithabu-Museums

Die zweite Geschichte ist die hier herangezoomte, mit den Motiven Handel und Schutz eher vertraut daherkommende, es ist modern gesprochen die Verkaufszeit des Museums. Dieses wendet sich an »die ganze Familie« (für die es Audioguides gibt). Ich wollte wissen, wie sich die Interessiertesten unter den Besuchern, hier : die Schülerinnen und Schüler der Grundschulklasse 4 c aus Brunsbüttel, auf dem Gelände bewegen und was sie von einem Rundgang mit

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einer Moderatorin (so heißen hier die Museumspädagoginnen) erinnern. Vor allem: wie ihr Wikingerbild beschaffen ist. Eine veritable Besucherforschung, die nach Lernerfolgen im Sinne eines Vorher/Nachher fragt, ist aufwändig und wünschenswert.11 Die am häufigsten für Schulklassen gebuchte Tour »Wie die Wikinger wohnten«12 führt zu den zwischen 2005 und 2008 rekonstruierten sieben sogenannten Wikinger-Häusern im Verhältnis 1:1. Hier scheint alles dafür vorbereitet zu sein, in die »Wikinger-Welt« einzutauchen – oder mindestens doch in ihr spazieren zu gehen. Es gibt keine Beschilderung, es gibt alte Haustierrassen in lebenden Einzelstücken, und an dem Tag meines Besuches, da ich die Grundschulklasse interessiert begleitete, waren in einigen Häusern auch frühmittelalterlich gewandete handwerkende Menschen zugange. Die Kinder erinnerten auf Befragung nach der neunzig-minütigen Tour nichts über die unterschiedlichen Ethnien und nichts über die Glaubensvorstellungen (Christen und Heiden), vermutlich waren die Erläuterungen anhand der Kirchenglocke, die vor dem Ausstellungsgebäude hängt und vor einer (für Erwachsene) eindrucksvollen Buche zu komplex. Sie waren vor allem vom dunklen Inneren der Häuser fasziniert. Hier am meisten von den Betten. »Die Wikinger trugen Mützen und waren keine tollen Leute – aber sehr interessant.« So ließe sich das Fazit der Schülerinnen und Schüler zusammenfassen. Die in damaligen Handwerkstechniken gebauten Häuser sind »integraler Bestandteil des Gesamtkomplexes – ein Modell im Maßstab 1:1, in das man mit allen Sinnen eintauchen kann«.13 Die Häuser für Sinne und Emotionen, die Ausstellung für ordentliche chronologische und faktentreue Aufbereitung? Das wird niemand wollen – doch eine Arbeitsteilung der Wikinger-Geschichts-Zugänge lässt sich erwarten und so suche ich nach einer Klärung des Begriffs 11 Besucherforschung in Museen führen als Dienstleister z. B. die Arbeitsgruppe für empirische Bildungsforschung e.V., Heidelberg, und das Zentrum für Evaluation und Besucherforschung am Badischen Landesmuseum durch. Ergebnisse werden nicht publiziert. Zwei Publikationen: Eva M. Reussner : Publikumsforschung für Museen. Internationale Erfolgsbeispiele. Bielefeld 2010; Annette Noschka Roos: Besucherforschung in Museen. Instrumentarium zur Verbesserung der Ausstellungskommunikation. München 2003. Mir scheint diese Forschung zuvorderst ein Marketing-Instrument zu sein, eher marktwirtschaftlich orientierter Evaluation zu gleichen, als an Lern- und Bildungserlebnissen der Besucher interessiert. Sinnfällig vor dem Hintergrund der Wandlung von Museen zu Erlebnisorten mit knappen öffentlichen Mitteln. 12 2011 wurde »Wie die Wikinger wohnten« 500 mal gebucht – Auskunft von Dr. Ute Drews vom 19. 07. 2012. Ebenso die Information, dass Besucherforschung ein »Desiderat« sei, die letzte im Rahmen einer Abschlussarbeit im Jahre 2005 stattfand und man einige Ergebnisse auch in die aktuelle Ausstellung aufnahm. 13 Konzeptpapier von Ute Drews: »Zwischen Experiment und Vermittlung – Verschiedene Ebenen im didaktisch-methodischen Konzept für die Wikinger Häuser Haithabu«. In: Experimentelle Archäologie in Europa – Bilanz 2012, Heft 11. Unterruhldingen 2012, 263 – 270.

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»Wikinger« in der 2010 eröffneten Dauerausstellung. Dieser Erwartung wird nicht entsprochen. Konflikte werden hier nicht benannt, eine Auseinandersetzung mit dem Wikingerbild und der Wikingerforschung findet nicht statt. Die Überblickstexte sind sehr kurz gehalten, vertiefende Informationen bietet vielleicht der Audioguide, oft fehlen Objektbeschriftungen. Ein stimmiges, polemisch gesagt anbiederndes Wikinger-Bild wird gepflegt, wozu Stelen mit Wikinger-Fotos, heutigen Menschen im Kostüm, also eine Art ReenactmentFotos, beitragen. Angaben über die Illustrationen fehlen. Noch mehr Aufmerksamkeit, besonders der jüngeren Besucherinnen und Besucher, ziehen die Filme auf sich, die müßiggehende, kostümierte Mittelalter-Darstellerinnen und Darsteller zeigen. Das alles wirkt sehr heiter und farbenfroh.14

3.

Der dritte Blick

Zeit für die dritte Geschichte des Ortes. Das Gedächtnis des Ortes ist seine Ausgrabungs- und Forschungsgeschichte. Sie beginnt in den 1880er-Jahren: Das Kieler Museum Vaterländischer Altertümer15 untersuchte und erfasste die Bodendenkmäler. 1897 brachte der dänische Archäologe Sophus Müller (1846 – 1934) den Halbkreiswall mit den Überlieferungen von Haithabu in Zusammenhang. Gegraben wurde unter der Leitung der Kieler Museumsdirektorin Johanna Mestorf (1828 – 1909) bis zum Ersten Weltkrieg, um 1921 gab es eine kurze Wiederaufnahme. Ende der 1920er-Jahre werden die Forderungen nach Fortsetzung der Grabungen lauter – und sind seitens des Schleswiger Landrats und des Magistrats der Stadt Schleswig deutlich anti-dänisch motiviert.16 Die Sammlungen und Grabungen sollen widerlegen, dass hier alle materielle Kultur dänischen Ursprungs sei. Das zu schaffende Schleswiger Museum sollte ein wichtiges Grenzmarkmuseum sein. Drei Hauptinteressen lassen sich ausmachen: touristische, denkmalpflegerische – und der Wunsch nach einer Waffe im Volkstumskampf. Drei Namen von Vorgeschichtsforschern müssen hier fallen: Gustav Schwantes 14 Im Ausstellungskatalog (Anm. 10), 34 – 37, gibt es einen »Exkurs: Forschungsgeschichte, der sich auf die Grabungs-, Methoden- und Technik-Fortschritte der Grabungen beschränkt. 15 Das Vorgängermuseum des Archäologischen Landesmuseums, des Wikinger Museums Haithabu, der Stiftung Schleswig-Holsteinisches Landesmuseum Gottorf sowie des Instituts für Ur- und Frühgeschichte der Kieler Universität. 16 Forschungsgeschichte nach: Heiko Steuer : Herbert Jankuhn und seine Darstellungen zur Germanen- und Wikingerzeit. In: Christoph Cornelißen/Carsten Mish (Hrsg.): Wissenschaft an der Grenze – Die Universität Kiel im Nationalsozialismus. Essen 2009, 417 – 473; Dirk Mahsarski: Herbert Jankuhn (1905 – 1990) – ein deutscher Prähistoriker zwischen nationalsozialistischer Ideologie und wissenschaftlicher Objektivität. Rahden 2011.

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(1881 – 1960)17 und Herbert Jankuhn (1905 – 1990). Schwantes war Lehrer von Jankuhn und Direktor des Kieler Museums von 1929 bis 1938, Jankuhn von 1938 bis 1944. Jankuhn leitete die neu aufgenommenen Grabungen. Beide traten 1933 in den »Kampfbund für deutsche Kultur« ein.18 Der dritte Mann ist eine Generation älter als Schwantes. Gustav Kossina (1858 – 1931)19 erfand die sogenannte Siedlungsarchäologie, er konstruierte den Link zwischen Ethnikum und materieller Kultur. 1911 in Die Herkunft der Germanen publiziert, lautet die Zentraldoktrin: »Scharf umgrenzte archäologische Kulturprovinzen decken sich zu allen Zeiten mit ganz bestimmten Völkern oder Völkerstämmen.«20 Analogie- und Zirkelschlüsse strukturieren hier Erkenntnis und Wissen. Problematisch ist auch die Verlängerung in die Vergangenheit – Jankuhn etwa folgt Schwantes in der fixen Idee, die Germanen seien am Übergang von Jungsteinzeit zu Bronzezeit auf die Welt gekommen. Reizvoll daran wohl auch die klare Grenzziehung zwischen Völkern und Kulturen – wobei beide Konstruktionen (modern gesprochen) undefiniert bleiben. Kulturen erscheinen statisch, Veränderungen bringen nur Kriege. Nun ist Kossina keineswegs die prägende Gestalt der deutschen Vorgeschichtsforschung,21 die These Kultur gleich Volk wird in der Forschung jedoch eher variiert und modifiziert als kritisiert. Eine fundamentale Kritik an Kossinna setzt erst in den 1950er-Jahren ein.22 17 Schwantes wurde 1923 über die neolithische Lyngby-Zivilisation promoviert, habilitierte sich 1928 und wurde erster Dozent für Vorgeschichte an der Universität Hamburg, 1929 Professor in Kiel. Er ist Autor mehrerer, sehr erfolgreicher populärwissenschaftlicher Bücher über die Vorgeschichte Norddeutschlands. Ulrich Müller zufolge lieferte Schwantes dem Ausbau der Germanenideologie im Kaiserreich grundlegende Bausteine. Neben der Ethnogenese der Germanen interessierte sich Schwantes für die »Seelenbeschaffenheit« bestimmter Kulturen (Vgl. Ulrich Müller : Die »Kieler Schule«. Ur- und frühgeschichtliche Forschung zwischen 1927 und 1945. http://www.uni kiel.de/ufg/bereiche/dateienInstitut/ ns_kiel.pdf (02. 08. 2012)). 18 Wolfgang Pape: Zehn Prähistoriker aus Deutschland. In: Heiko Steuer/Heinrich Beck/Dieter Greuenich (Hrsg.): Eine hervorragend nationale Wissenschaft. Deutsche Prähistoriker zwischen 1900 und 1995 (Ergänzungsbände des Reallexikons der Germanischen Altertumskunde 29). Berlin-New York 2001, 70. Pape zitiert auch aus Schwantes NachkriegsReinwaschung des Kollegen Jankuhn: »Wenn er schliesslich in ein loses Verhältnis zur SS trat, der er nie angehörte (…) so haben wir ihm dieses Opfer hoch angerechnet.« (ebd., 69). 19 Vgl. Heinz Grünert: Gustav Kossinna – Ein Wegbereiter der nationalsozialistischen Ideologie. In: Achim Leube (Hrsg.): Prähistorie und Nationalsozialismus. Die mittel- und osteuropäische Ur- und Frühgeschichtsforschung in den Jahren 1933 – 1945. Heidelberg 2002, 307 – 320. Einige Lebensstationen Kossinnas: Er begründete eine Schule, ab 1913 die »Gesellschaft für Deutsche Vorgeschichte«, wissenschaftlich geriet er zunehmend ins Abseits und in die Nähe extrem nationalistischer Kreise, so war er unter anderem Mitglied der Gobineau-Gesellschaft. 1928 trat er Rosenbergs »Kampfbund für deutsche Kultur« bei. 20 Zitiert nach Rainer Kipper : Der Germanenmythos im Deutschen Kaiserreich. Formen und Funktionen historischer Selbstthematisierung. Göttingen 2002, 270. 21 Müller (Anm. 17). 22 Mahsarski (Anm. 14), 106.

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Jankuhn verlässt Mitte der 1930er Jahre eigene Erkenntnis- und Wissenschaftsstandards. So hatte er 1931 noch in seiner Antrittsvorlesung zu Volkstum und Haithabu formuliert: »Haithabu kann hier nicht herangezogen werden, da das Volkstum dieser Handelsstadt von internationaler Bedeutung sehr verschieden zusammengesetzt war.«23 In seiner Dissertation 1933 verlangte er noch Schrift- und Bodenquellen zur Bestimmung des Ethnikums.24 Das änderte sich 1937 mit seiner populärwissenschaftlichen und ungeheuer populären Darstellung »Haithabu – Eine germanische Stadt der Frühzeit«. Das Vorwort appelliert an Volk, Gefühl und Glauben, deutlich ist die Absicht, mit Geschichte Politik machen zu wollen. »Es sind nicht nur die Funde in unseren Museen, die eine dem Kundigen verständliche Sprache vom Werden unseres Volkstums sprechen. Mehr zum Gefühl noch sprechen die einsamen Denkmäler in der Landschaft. Im Volksglauben sind sie eng mit der Gegenwart verknüpft und dem Verstehenden erzählen sie vom Leben und Sterben vergangener Geschlechter, die nicht etwas Abgeschlossenes, Einmaliges bilden, sondern ein Glied in der unendlichen Kette unseres Volkstums darstellen, ebenso eng verbunden mit den Ahnen, wie mit den Enkeln und Urenkeln und so hineinragen in das Leben der Jetztzeit, Haltung und Leistung der Gegenwart bestimmend durch das von Geschlecht zu Geschlecht weitergetragene Erbe.«25

Akteure der Geschichte sind »Blut- und Schicksalsgemeinschaften«, Zweck des Buches »ein Führer zu sein auf dem verschlungenen Wege zu den Wurzeln unseres Volkstums und zur Quelle der im Leben unseres Volkes wirkenden Kräfte.«26 Im letzten Satz des Buchs greift Jankuhn von Haithabu aus nach Osten, nach der (baltischen) Weltmacht: »[Haithabu] nimmt auch in der deutschen Geschichte einen bedeutungsvollen Platz ein als das große Denkmal aus dem Beginn des Kampfes um die Ostsee, der durch die Hanse mit einem Siege des Deutschtums abgeschlossen wurde.«27 23 Ebd., 99. 24 Ebd. 25 Herbert Jankuhn: Haithabu. Eine germanische Stadt der Frühzeit. Neumünster 1937, V. Wer die Ausgabe bequem zu Hause lesen möchte, kann das neben Texten von Jürgen Rieger, zur Rassenkunde oder zu »Globalisierung = Tod!« auf der rechtsradikalen Seite http:// www.velesova-sloboda.org/misc/jankuhn-die-geschichte-der-wikingerzeit.html (02. 08. 2012). 26 Ebd. 27 Jankuhn (Anm. 23), 135. Einige Belege für unseriöse Wissenschaft: Abt. Mythenannektion über einen Bildstein aus Gotland: »Auch das Leben germanischer Sagen können wir hier feststellen […, dass] das Osebergschiff, wo ja der Wagen der Königin Ose die Szene mit Gunnar in der Schlangengrube enthält, also eine nordische Fassung des Nibelungenliedes widergibt« (23 f.). Oder : Haithabu als Heidenort: »Die zweieinhalb Jahrhunderte grösster Machtenfaltung des Nordgermanentums sind verknüpft mit dem geistigen Ringen dieser beiden Weltanschauungen [also »eigener Gottesvorstellungen« vs. Christentum – W.J.],

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Jankuhns nationalsozialistische Karriere – 1933 Eintritt in die SA, 1936 Eintritt in die SS, 1939/40 Leiter der Forschungsstelle Ausgrabungen beim SSAhnenerbe, 1941 bis 1945 Leiter eines Sonderkommandos in der Ukraine, das ab 1942 Teil der SS-Division Wiking ist – ist erstaunlich. Oder auch nicht, Jankuhn war »ein gläubiger Nationalsozialist«,28 er war ein leistungsbereiter und sehr produktiver Archäologe.29 Der Haithabu-Archäologe in der SS-Division Wiking. Aus der geistesgeschichtlichen Vereinnahmung ist unter den Bedingungen der Okkupation der germanischen Länder eine Werbestrategie geworden. Die SS-Division Wiking wurde am 20. November 1940 im Rahmen des Ausbaus der SS-Verfügungstruppe zur Waffen-SS Germania für skandinavische, flämische, wallonische und niederländische Freiwillige aufgestellt. 1941 wurde die Division beim Unternehmen Barbarossa in der Heeresgruppe Süd eingesetzt. Jankuhn war ab 1942 für die weltanschauliche Schulung der Wikinger, wie sie sich selbst nannten, zuständig.30 Haithabu und das populäre Buch von 1937 sind Jankuhns Karriere-Billets. Mit Hilfe des Buchs kann Jankuhn in der Nachkriegszeit sogar die Einstufung als »Mitläufer« revidieren.31 Die Vor- und Frühgeschichte ist in den 1930er-Jahren eine junge, nach Lorbeeren strebende Wissenschaft, deren Grundannahmen die Superiorität der Germanen war. Das 1935 von Heinrich Himmler (1900 – 1945), Walther Darr¦ (1895 – 1953) und Herman Wirth (1885 – 1981) gegründete SS-Ahnenerbe fördert die populäre Haithabu-Forschung (auch mit Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft). Himmler war seit 1934 Schirmherr der Grabungen.

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deren Ausgang der Sieg des Christentums war, wenn es der neuen Religion auch nicht gelang, alle ethischen Werte der germanischen Weltanschauung zu zerstören und durch christliche Glaubensvorstellungen zu ersetzen« (125). Einen Beweis bleibt Jankuhn schuldig. Ganz plump: »Daß der große germanische Kriegergott Odin, der Schutzherr der Kriegerbünde, hier eine Stätte der Verehrung gefunden hat, ist sicher, wenn auch nur wenig darauf hinweist.« (ebd.). Michael H. Kater : Das »Ahnenerbe« der SS 1935 – 1945. Stuttgart 1994. Zu dessen Leistungen unter anderem Kunstraub auf der Krim gehörte – zum Nachweis deutschen Volkstums. http://www.bundesarchiv.de/öffentlichkeitsarbeit/bilder_dokumente/0183/index-19.html.de#top, 20, (02. 08. 2012). Hier Vermerk vom 16. 02. 1943 »Betr. Prähistorische und archäologische Funde aus Südrußland«, darin: »Von den uns durch das Sonderkommando Jankuhn gesicherten Altertümern soll ein Katalog zusammengestellt werden.« Das Winterhilfswerk bediente sich schon 1935/36 starker Wikinger-Bilder. Unter einem Schiff mit Kriegern (vgl. die SS-Werbung später) hieß es: »Mit vollen Segeln in den Kampf für das WHW!« Plaketten des WHW unter : http://www.dhm.de/gos-cgi-bin/dbfrage.pl?Thema=Wikinger& Status=20& Datenbank=allwww (02. 08. 2012). Kater : (Anm. 26), 82.

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Haithabu war das prominenteste und »wissenschaftlichste« Grabungsvorhaben – und Jankuhn galt als das »wissenschaftliche Paradepferd« des »Ahnenerbes«.32 Der 1943 in der Ahnenerbe-Stiftung erschienene »Vorläufige Grabungsbericht« Jankuhns genügt wieder wissenschaftlichen Standards.33 Dem rasch expandierenden »Ahnenerbe« gelang es nicht, die von Himmler gewünschten Beweise für ein versunkenes heidnisches germanisches Großreich zu liefern.34 Gleichwohl schuf das Ahnenerbe emotionalen Kitt, Begeisterungsfunken und Wissenschaftsfassaden für den Eroberungskrieg und Alltag in der Diktatur. Wichtiger als die Kritik am Verlassen wissenschaftlicher Standards ist die Frage nach der Vorgeschichtswissenschaft als der NS-Legitimationswissenschaft. In der »Grenzlanduniversität« Kiel waren die Bedingungen für die selbst initiativ werdenden Wissenschaftler ideal. Die Vorgeschichtler befehdeten sich heftig – vor allem die Anhänger des »Amtes Rosenberg« gegen die Mehrheit des »Ahnenerbes«. Die Gegnerschaft nutzen viele von ihnen nach 1945 zur Reinwaschung vom Nationalsozialismus. In den Nachkriegsausgaben der 1950er- und 1980er-Jahre über Haithabu spricht Jankuhn nicht mehr von Germanen – an Ethnien finden sich in den Registern nur mehr Dänen, Friesen, Sachsen und Wenden. Kulturgeschichtlich und international wird der gleiche Ort wird nun im Schlusskapitel gelesen: »So betrachtet, verschiebt sich die historische Bedeutung Haithabus stark aus dem Bereich nationalgeschichtlicher Vorstellungen in das weite Gebiet wirtschafts- und sozialgeschichtlicher Betrachtung und gewinnt hier eine weit über seinen engeren Raum hinausreichende paradigmatische Bedeutung für den große Teile Europas umfassenden Prozeß der frühen Stadtentwicklung.«35 Eine Beschränkung – Aussagen über Ethnikum fallen nicht mehr – die verbal als Expansion daherkommt: Haithabu »gewinnt eine weit (…) hinausreichende paradigmatische Bedeutung«. Die Cover der drei Ausgaben (1930er-, 1950er- und 1980er-Jahre) präsentieren unterschiedliche Zugriffsweisen auf Haithabu: Schwertknauf (Kampf und Krieg), Schiffssteven (Aufbruch und Handel) und Luftbild (Beherrschung des Raums, Globalisierung). Überall müssen wir den Menschen vermuten, der als Lockvogel des Haithabuer Museums dient, wie die Direktorin Dr. Ute Drews mir sagte: »Wenn dieses Museum Wikinger-Museum Haithabu heißt, dann ist das

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Mahsarski (Anm. 14), 306. So meine Einschätzung. Peter Longerich: Heinrich Himmler. Biographie. München 2008, 279 ff. Herbert Jankuhn: Haithabu. Ein Handelsplatz der Wikingerzeit. Neumünster 1986, 229.

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ziemlich geschickt gemacht, weil Wikinger ein Zauberwort ist. Das wissen wir und damit werben wir.«36 4. Die Landschaft ist peupliert – Coverhelden, Reenactment, Hörnerhelme und der Naturmann Abschließend vier Blicke auf die Lieblingsbarbaren: Blicke in den Blätterwald am Kiosk, Blicke aus dem All ins Netz, auf den Wikinger sui generis als Kind des 19. Jahrhunderts – und einen Diskurs, der alles enthält, alle Wünsche und Deutungen des Nordmannes.

Die Wikinger als Magazinthema – in GEO epoche

Bildmächtig, identitätsversichernd und für unter zehn Euro zu haben sind die drei Themenhefte Wikinger von mare (Nr. 88, 10 – 11/2011), GEO-Epoche (Nr. 53, 2/2012) und SPIEGEL-Geschichte (6/2010). Welche Wilden wirken in diesen Illustrierten? GEO vertraut auf dem Titel auf die Macht des Rätsels – in Dunkel gehüllt blickt uns blicklos »der einzige erhaltene Wikingerhelm« an. Unter dem Heldischen »Entdecker, Krieger, Staatengründer« sind die Wikinger historisch korrekt mit ihrer Epoche assoziiert: Das Zeitalter der nordischen Seefahrer 793 – 1066. 36 Persönliches Gespräch am 18. 04. 2012.

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Die Wikinger als Magazinthema – in mare

Im Heft wird Haithabu mit den Mitteln der Computergrafik vergegenwärtigt, ein Blick aus der Vogelperspektive zeigt die Metropole zwischen den Meeren, die verbal herangezoomt wird mit den Mitteln der Exotik und Multikulti-Flair (reich, orientalische Gewürze und Tausende Sklaven), um sie dann auf rätselhafte Weise untergehen zu lassen. Die Figuren vor den Palisaden Haithabus, die wie eingerammte Buntstifte aussehen, wirken wie Playmobil-Gestalten, die Optik verspricht Präzision – die der Text zum Teil wieder zurücknimmt. Das SPIEGEL-Cover wartet gleich mit mehr Sensationen auf: Kunst, Magie, Geheimnis sind die Code-Wörter der Krieger mit Kultur. Das Foto ist narrativer: ein Helm-Mann, im Hintergrund Fackeln und ein Schiffsmast. Ein Motiv eines Historical Reenactments auf den Shetland-Inseln. Im ersten Kapitel werden alle Register gezogen: Unter der brachialen Überschrift Räuber aus dem Norden sind die Wikinger die Globalisierer mit der Axt. Eine sublime Globalisierungskritik? Spannungsvoll dazu die Illustrationen, die nicht unkommentiert bleiben. Es sind unter anderem Gemälde eines Marine-Malers (Motiv : windgepeitschte Wellen, geblähte Segel und hübsche Schilde an den Bootsseiten) und die (falsch datierte) Gewalt-Phantasie des französischen Malers Evariste Vital Luminais (1821 –

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Die Wikinger als Magazinthema – in Der Spiegel

1896): ein sehr hellhäutiges, barbusiges, blondes Weib im Moment des »Davongeschlepptwerdens« durch zwei Barbaren, der eine davon mit Helm. Ganz anders das Heft mare, das mit der Grafik eines Wikingerschiffes und dem Klischee brechenden Text aufmacht: »Sie trugen keine Hörner, wuschen sich jeden Samstag, schwärmten für Gedichte und liebten das Gärtnern.« Im Innern des Heftes feine Strichzeichnungen und ein Bürsten gegen den Strich der obwaltenden Legenden – »vor allem brillierten die Nordmänner als Schiffbauer, Händler und Entdecker«. Auch hier der Bezug zur Jetztzeit: »gewiefte Netzwerker und Pioniere der Globalisierung«.37 In mare findet sich ebenfalls ein Artikel über den Wikinger-Mythos (»Operation Hornochse«). Das Thema Forschungsgeschichte, die Frage also nach dem Interesse und der Arbeit der Archäologen, hielten die Blattmacher offenbar nicht für interessant genug. Im Netz findet sich unter Wikinger viel »Nazi-Dreck« – besonders bei Youtube. Wikinger sind Lieblingsspielfiguren des Historical Reenactments. Es gibt längst spezialisierte Versandhäuser für dieses »Doing history« und »Doing 37 Mare Nr. 88, 10 – 11/2011, 33.

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gender«. Manche nennen sich Sippen – doch die meisten Szenen sind männerbündisch und männerkriegerisch. Von der Seite hobbymap zwei Auskünfte zweier Hobby-Wikinger : Wohlbeleibt und mit Trinkgefäß erklärt »Cedric« Reiz und Faszination der Wikinger : »Es ist die Art zu leben, das miteinander leben, den Umgang mit den Waffen und das gemeinsame Lagerleben.« Wie zeitlos und verschwitzt, wie ernsthaft, emotional und maskulin das klingt. Noch pädagogischer und ernster : ein sinnender »Cedric« mit Handwerksutensilien: »›Der germanische Geist ist der Geist der Freiheit‹, erkannte Hegel. Mir geht es heute noch so. Ich stelle nicht dar, sondern ich bin. Der Reiz liegt für mich eindeutig im Verständnis für ›unsere‹ Vorfahren. Für mich sind sie in vielerlei Hinsicht Vorbilder.«38 Eine umfassende Untersuchung der Motivation und Repräsentation in diesen theatralischen Animationen fehlt bislang.39 Tragödie und Farce – wir wissen seit Marx‹ Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte (selbst wenn wir nur die erste Seite lasen) um die Dopplung jedes historischen Ereignisses – die Tragödie ereignete sich unter anderem auf der Krim, die Farce kann man sich unter http://www.wiking.org anschauen: Historical Reenactment der Division Wiking in den USA. Die Männer der Nachwikingerzeit tragen Helme mit Hörnern. Das weiß jedes Kind – denn fast jedes Kind kennt Wickie. (Die älteren wissen es aber auch, dank Hägar, dem Pantoffelheld, dank Asterix und Obelix, oder weil sie skandinavische Fußball- oder Alkohol-Fans kennen, die sich mit Hörnern kostümieren.) Der Akt des Hörnens ist erstens ein Exempel für die geistesgeschichtliche Aneignung der altnordischen Götter- und Heldenwelten durch die Deutschen der Kaiserzeit. Und für ein weitführendes Missverständnis. Hörner-Helm trägt der Germane/ Wikinger spätestens seit 1876 – da setzte ihn der Berliner Maler und Kostümbildner Carl Emil Doepler (1824 – 1905) in der ersten Bayreuther Ring-Aufführung einigen Wagner-Recken auf.40 Richard Wagner (1813 – 1883) entnahm seine Mythenwelt den altnordischen Götter- und Heldenliedern und vor allem der Edda. Doepler brauchte die gängige preußische Pickelhaube nur zu doppeln – doch wir wollen keinen weiteren Mythos in die Welt setzen. Der Ursprung der Hör38 http://www.hobbymap.de/hobbys/look-lifestyle/living-historyreenactment/mittelalterwikinger-reenactment/hobbymap-mittelalterwikinger (02. 08. 2012). 39 Als Ausgleich daher der Hinweis auf eine britische Komödie mit echten »Viking-Reenactors«, die teilweise im Milieu der Reenactors spielt: »Faintheart«, Regie Vito Rocco. GB 2009. 40 http://www.dhm.de/ausstellungen/walhall/nib.htm#nib3 (02. 08. 2012). Zu Kostümen im »Ring« allgemein: Nora Eckert: Der Ring des Nibelungen und seine Inszenierungen von 1876 bis 2001. Hamburg 2001.

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nertracht liegt in Tierkopf-Helmen aus der Bronzezeit, gefunden im 18. und 19. Jahrhundert in Dänemark. Mangels Kenntnis von Stratigraphie und Chronologie galten sie pauschal als Kopfbedeckung der Ahnen. Der Hörnerhelm ist seither die Abbreviatur des Wikingers, sein Logo. Und übrigens auch und unter anderem das Logo einer skandinavischen Kleidermarke. Somit zählt der Hörnerhelm zu einem der erfolgreichsten Bühnenrequisiten überhaupt, ein perfektes Historien-Wunschobjekt, das den gesamten Wikinger/Germanen-Mythos verkörpert. Betont zivil dagegen kommt die Kopfbedeckung des Wikinger-Darstellers auf dem Flyer des Museums Haithabu daher : eine Kreuzung zwischen einer Jakobinermütze und des deutschen Michels Nachtmütze. Wickie, der Wikinger ist unter seinen Hörnern ein schmächtiger, ängstlicher, fantasievoller und kluger Typ – weshalb in einem Yahoo-Forum schon mal die GFrage debattiert wird: Junge oder Mädchen? Wickie ist das Geschöpf des schwedischen Journalisten und Autors Runer Jonsson (1916 – 2006). 1963 veröffentlichte er sein erstes Kinderbuch Wickie und die starken Männer (Originaltitel: Vicke Viking), das, zusammen mit Nachfolgebänden, die literarische Vorlage für Zeichentrick- und Realfilme lieferte. Auf der Suche nach Deutungsmustern begegnet einem immer der »Edle Wilde«. Der »Edle Wilde« gehört wohl zu den begehrtesten und putzigsten Geistern des Ortes, die hier umgehen und die von den Besucherinnen und Besuchern einerseits erwartet, andererseits mitgebracht und freigelassen werden. In der neueren populären Literatur ist die Assoziation Wikinger-Rousseau ein Teil des Begriffs-Mobiliars.41 Auf der Suche nach der Verbindung zwischen Ort und Diskurs, nach den Bedingungen des Gedeihens des fantastischen »Edlen Wilden« stellt die Leserin fest, dass sich bei Jean-Jacques Rousseau (1712 – 1778) weder der »Wikinger« noch der »Edle Wilde« findet. Die »Wilden«, die Rousseau namentlich nennt, sind lebende Ethnien – Indianer und Eskimos –, die mit verkommenen modernen Subjekten kontrastiert werden. Der »l’homme naturel« (können wir getrost mit Mann, Natur-Mann oder natürlicher Mann übersetzen) ist kein Untersuchungsobjekt, sondern ein menschliches Potenzial, ein Korrekturbild. Im »Diskurs über die Ungleichheit« beschwört Rousseau die wahre Geschichte und ihre Botschaften: »Oh Mensch, aus welchem Lande du auch seist, welches Deine Meinungen auch sein mögen, höre: Hier ist Deine Geschichte, wie ich sie zu lesen geglaubt habe – nicht in den Büchern von deinen Mitmenschen, die Lügner sind, sondern in der Natur, die niemals lügt. Alles, was von ihr kommen wird, wird wahr sein. (…) Wie hast du dich verändert gegenüber dem, was du warst! (…)

41 So etwa bei Arnulf Krause: Die Welt der Wikinger. Frankfurt/Main 2006.

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Es gibt, ich fühle es, ein Alter, bei dem der individuelle Mensch gerne stehen bleiben würde; du wirst das Alter suchen, von dem Du wünschtest, deine Art wäre bei ihm stehen geblieben. (…) … und dieses Gefühl muß zur Lobrede auf Deine ersten Ahnen, zur Kritik deiner Zeitgenossen und zum Schrecken jener werden, die das Unglück haben werden, nach Dir zu leben.«42

Haithabu ist eine Bühne dieser emphatischen Gesänge – wahr spricht die Natur, Zeit und Zivilisation sind Übel. Ich wünsche mir ein Ideal herbei. Ahnen. Ach, ich fühls (Regieanweisung: die Hand auf die Brust legen). Schöner als die Bücher der Menschen lügen nur die Bücher der Natur, wo Ahnen ahnen und siedeln und das Volk folgt. Am schönsten lügt der Ort auf der Heide, was selbst eine Lüge ist. In die gefällige Endmoränenlandschaft respektive den Ausflugsort, dessen wikingerzeitliche Schichten von Wissenschaftlern mit völkisch interpretierten Raum-Konzepten einst in geschichtspolitische Stellungen gebracht wurden, könnte sich Analyse und Kritik der Zeitgenossen ein wenig deutlicher hineinritzen.

42 Jean-Jacques Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit. Hrsg. von Volker Meier. Stuttgart 2008, 75. Der Discours sur l’in¦galit¦ erschien zuerst in Amsterdam 1755.

Ausblick

Janina Fuge, Rainer Hering, Harald Schmid

»Gedächtnisraum Norddeutschland«? Abschließende Überlegungen

Der wissenschaftliche Vorhang fällt – und am Ende ist sie womöglich noch offen, die Frage, der sich dieser Band – wenn auch letztlich unausgesprochen – widmet: Gibt es einen »Gedächtnisraum Norddeutschland«? Bewusst haben wir Herausgeber diese Bezeichnung vermieden und stattdessen von »Gedächtnisräumen« sowie »Geschichtsbilder und Erinnerungskulturen in Norddeutschland« gesprochen, für die jedoch dann ebenso die Frage gilt: Mit welchen Spezifika und »roten Linien« der Erinnerung sind Bewohner/innen der norddeutschen Bundesländer wie Geschichtsbild-Forscher konfrontiert? Ist Norddeutschland erinnerungskulturell anders zu charakterisieren als West-, Südund Ostdeutschland – und zwar jenseits landschaftlicher und mentalitätsbezogener Unterschiede? Lässt sich womöglich mit guten Gründen von einer norddeutschen Erinnerungskultur sprechen? Eine tragfähige Antwort auf diese Frage greift über das scheinbar zunächst bloß empirisch-regionale Interesse hinaus, denn die Komplexität und Schwierigkeit einer solchen Antwort ist aufs Engste mit den ebenfalls in diesem Band diskutierten theoretisch-konzeptionellen Ansätzen verknüpft. Insofern geht die analytische Frage nach Raum und Gedächtnis jener nach einem Gedächtnisraum Norddeutschland voraus und begleitet sie. Die Annäherung ist einfach, die analytische Durchdringung des Forschungsfeldes hingegen ein Stück Arbeit, zumal eines, das nach Fortsetzung, Ergänzung und Vertiefung ruft. Gleich von mehreren Seiten wird das Feld begrenzt und erschwert: vom »ungewissen Raum« (Martin Sabrow) nicht weniger als vom komplex-vielschichtigen Gedächtnis und den kreativen Erinnerungsprozessen. Herausgeber/in, Autorinnen und Autoren dieses Sammelbandes bewegen sich in beträchtlichen Teilen auf Neuland, sodass hier bestenfalls erste, begründete Antworten möglich sind. Der Ansatz, einen geografisch ebenso begrenzten wie umfassenden Raum auf seine erinnerungskulturellen Strukturen, auf seine Themen, Akteure und Regelmäßigkeiten in einem derart langen, von der Varusschlacht bis zur Gegenwart reichenden Zeit-Raum hin zu durchleuchten, ist neu – darin liegen gleichsam Reiz wie Risiko. Denn sich in einem

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Forschungsdesiderat zu bewegen, bedeutet auch, meist ohne vergleichende Studien auskommen zu müssen, die die Benennung von Unterschieden oder aber Parallelisierungen ermöglichten. Wer sich als einer der Ersten aufs Eis wagt, mag sich als Pionier wähnen und vielleicht Neues entdecken – aber er kann auch einbrechen, sei es, weil das Eis doch dünner ist als gedacht, sei es, weil er sich verlaufen, die Orientierung verloren hat. Was aber nun kennzeichnet »Erinnerungskulturen« in Norddeutschland? Ein Ergebnis der Untersuchungen dieses Bandes lässt sich so umreißen: Es handelt sich bei ihnen um ein mehrdimensionales Geflecht – wenn man denn so will: um eine Art memorialen Flickenteppich; die Gedächtnisräume in Norddeutschland sind mannigfaltig und weitverteilt, sie umfassen Stadtteile, Regionen, Sprachund Wirtschaftsräume oder Grenzgebiete. Pointiert gesagt: Jeder einzelne Raum entsteht (oder wird verändert) dabei stets dort, wo er gerade gebraucht wird, um eine Gemeinschaft mit zu konstruieren: Unabhängig davon, ob sich »Altona« gerade als Stadtteil mit Eigensinn vom übrigen Hamburg abgrenzen möchte oder aber in der deutsch-dänischen Grenzregion nationale Zugehörigkeiten neu justiert werden müssen. Denn die enge kausale Verbindung von Aufbau, Verteidigung und Weiterentwicklung von Gruppen-Selbstbildern just mit lokalen und regionalen Geschichtsbildern ist ein weiteres Resultat dieses Bandes, ist doch die lokale Konkretisierung von Geschichte ein maßgebliches Unterscheidungskriterium für Erinnerungskulturen und Gedächtnisräume (Dietmar von Reeken/Malte Thießen). Einen zentralen Aspekt der Aufmerksamkeit bilden dabei die »identitätsoder machtstiftenden Dimensionen der in den Raum eingeschriebenen repräsentierten Vergangenheit« (Claudia Fröhlich). »Erinnerung« schafft Identität, ist damit untrennbar mit Repräsentations- und Herrschaftsprozessen verquickt, wobei der Raum dafür gleichsam ein Auffangbecken darstellt, in dem die Mechanismen von Inklusion und Exklusion wirken: Wer gehört dazu – und wer nicht? Was wird erinnert – und was nicht? Wie wird erinnert – und warum in dieser Weise und nicht anders? Wer hat geschichtspolitische und erinnerungskulturelle Macht – und wozu wird sie benutzt? Die Autorinnen und Autoren des vorliegenden Bandes haben aus unterschiedlichen Perspektiven und Ansätzen danach gefragt, wie – um den auf diesen Seiten mehrfach zitierten Karl Schlögel ein letztes Mal paraphrasierend zu bemühen – man im Raum »Norddeutschland« die Zeit liest. »Norddeutschland« war dabei zunächst die geografisch-rhetorische Folie und forschungsstrategische Prämisse, vor deren Hintergrund die Beiträgerinnen und Beiträger anhand von Fallbeispielen untersuchten, wie Akteure »ihren« Raum gestalten, wie sie von ihm geprägt sind, wie Wechselwirkungen vonstatten gehen und wie sich die Bedingungen im Laufe der Zeit ändern. Grundsätzlich gilt dabei: Was erinnert wird, hängt ab vom Standort in der Gegenwart. Für die Hanse trifft dies

»Gedächtnisraum Norddeutschland«? Abschließende Überlegungen

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genauso zu wie für den binationalen Erinnerungsort Düppel/Dybbøl, das Wattenmeer oder das Hamburger Bismarckdenkmal. Auch die Kontroversität der Erinnerung ist an aktuelle Gegebenheiten gekoppelt – ohne freilich darin ganz aufzugehen. Sie kann von trotziger Grenzziehung bis zu transnational geprägter, friedvoller Erweiterung des Raumbegriffes schreiten, wie die Beispiele der »Schwedenstraße« oder wiederum Düppel/Dybbøl zeigen. Dass Erinnerung lokal und regional im selektiven Prozess das gegenwartsrelevante »Erinnerungswürdige« vom »Erinnerungsunwürdigen« trennt, zeigt insbesondere das Beispiel »Haithabu«: Lokal-regionale Erinnerungskulturen haben stets blinde Flecken, die meist freilich erst im Auge des externen, außerhalb von Interessen, Mentalitäten, Traditionen und Machtbezügen stehenden Beobachters sichtbarer werden. Derlei Strukturen lassen sich jedoch nur als allgemeiner Kontext, noch nicht als Spezifikum konkreter Gedächtnislandschaften konstatieren. Das genuin »Norddeutsche« dieser mit charakteristischer Vergangenheit und facettenreichen Vergegenwärtigungen imprägnierten Landschaften herauszufiltern, voneinander abzuheben und miteinander in Beziehung zu setzen bleibt indes schwierig und auch methodisch – in Anbetracht ausstehender Vergleiche – eine Herausforderung. Gewissermaßen den ersten Kreis einer Bestimmung norddeutscher Erinnerungskulturen und Gedächtnisräume bilden jene historischen Besonderheiten, die eben nur hier vorkamen, zu ereignisgeschichtlichen Marksteinen erhobene Geschehnisse, die Eingang in die Gedächtnisbildung fanden: Erinnerungen an Schlachten und Kriege mit den Anrainern, an heroische Unbeugsamkeiten und – gern auch lange zurückliegende – Zeichen kämpferischer oder handelsimmanenter Größe, wie sie mit der Varusschlacht und der Hanse exemplarisch benannt sind. Diese Besonderheiten gehen über in geografische Prägungsmuster : Nord- und Ostsee kommen eine besondere Rolle zu, dem Blick nach Skandinavien ebenfalls. Den zweiten Kreis beim Versuch der näheren Bestimmung des Norddeutschen der untersuchten Gedächtnisräume betritt man bei Antworten auf die Frage nach der inneren Beschaffenheit derselben. Hierzu zählt eine ganze Reihe von Aspekten. Zwei seien hier abschließend hervorgehoben. Da ist zum einen der in nahezu allen Beiträgen erkennbare Wandel der Gedächtnis- und Erinnerungsräume: Veränderung von Grenzziehungen, Umbruch in der politischen Herrschaftsordnung, neue Akteurskonstellationen, kulturelle Einflüsse, neue Geschichtsbilder (manchmal im Kleid der Tradition), Umgruppierung von Kontinuitäten und Diskontinuitäten – jeweils bezogen auf den norddeutschen Raum. Ein zweiter Aspekt: Hiesiges Erinnern erscheint oft bürgernah. Hingegen ist

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die Verehrung von Herrschaftshäusern und Herrschaftspersönlichkeiten im Norden weniger ausgeprägt als beispielsweise im Süden Deutschlands, das eine starke Tradition monarchischer Herrschaft aufweist. Akteure in Norddeutschland erinneren sich des Bürgers, des Soldaten, des Händlers, der Natur und der (kleinen Zahl an) Ereignissen, Strukturen und Zusammenhängen, die über den eigentlichen Ort hinauswiesen und eine gewisse Sehnsucht nach nationaler Bedeutung erahnen lassen (Flüchtlingslager Uelzen und Friedland). Eine Hypothese, die sich daraus ableiten ließe: In dieser Region sind Gedächtnisräume – konkret also etwa Erinnerungsinhalte, Geschichtsbilder, Akteurspraxen – nüchterner und sachlicher beschaffen. Oder sitzt man damit einem überkommenen Stereotyp auf ? Eine von vielen offenen Fragen für die weitere Forschung. Eine Kernfrage lautet dabei: Welche typischen Verbindungen gehen geografischlandschaftliche Rahmenbedingungen mit politisch-kulturellen Traditionen und Kontexten ein? Selbstredend sind die Strukturen norddeutscher Gedächtnisräume und Kulturen des Erinnerns mit diesen ersten Hinweisen bestenfalls annähernd ausgeleuchtet. Wenn von den Beiträgen dieses Bandes, die mit ersten »Tiefenbohrungen« vorläufige Befunde zutage gefördert haben, weiterführende und anregende Impulse theoretischer wie empirischer Art für die Auseinandersetzung mit dem Thema und für vergleichende Studien ausgehen, schätzen wir uns zufrieden.

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Knud Andresen, Dr. phil., geboren 1965, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg und Lehrbeauftragter an der Universität Hamburg. Forschungsschwerpunkte: Sozialgeschichte im 20. Jahrhundert, insbesondere Gewerkschaften, Arbeiterbewegung, Neue Soziale Bewegungen und Arbeitswelten, Biografieforschung und Regionalgeschichte. Tobias Arand, Prof. Dr. phil., geboren 1967, studierte Geschichte und Deutsch Lehramt SII/I in Münster, Professor für Geschichte und ihre Didaktik an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg. Forschungsschwerpunkte: Geschichtsdidaktik, antike Geschichtsschreibung, Landesgeschichte und Geschichtskultur des Kriegs. Alina Bothe, M.A., geboren 1983, studierte Geschichte, Politikwissenschaft sowie Ost- und Südosteuropäische Geschichte an der Freien Universität Berlin. Derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum Jüdische Studien BerlinBrandenburg und Dissertation an der Freien Universität Berlin zum Thema »Im virtuellen Zwischen der Erinnerung: Das Visual History Archive«. Forschungsschwerpunkte: Jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts, Geschichte der Shoah, Digital History und Postmoderne Theorie. Andrea Brait, Dr. phil., geboren 1982, studierte Geschichte, Politikwissenschaft und Germanistik in Wien. Lektorin an der Universität Wien, wissenschaftliche Mitarbeiterin und organisatorische Leiterin des Forschungsprojekts »Offene Grenzen, neue Barrieren und gewandelte Identitäten«. Forschungsschwerpunkte: Historische Museologie, Gedenkkulturen und Gedächtnisorte, österreichische und deutsche Zeitgeschichte. Christian Bunnenberg, M.A., geboren 1979, studierte Geschichte, Germanistik und Erziehungswissenschaften an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Geschichtsdidaktik

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

am Historischen Institut der Universität Duisburg-Essen. Forschungsschwerpunkte: Geschichtsdidaktik, Zeitgeschichte, Geschichte des Nationalsozialismus. Nina Fehrlen, M.A., geboren 1984, studierte Neuere und Neueste Geschichte, Philosophie und Politikwissenschaft in Tübingen. Dort Dissertation über »Die ›Erinnerungsorte‹ des Dreißigjährigen Krieges – Ausprägungen einer materiellen Gedächtniskultur in Deutschland von 1945 bis heute«. Forschungsschwerpunkte: Erinnerungskultur, europäische Geschichte. Janina Fuge, M.A., geboren 1978, studierte Geschichte, Politikwissenschaften und Öffentliches Recht in Hamburg. Ebd. Derzeit Arbeit an einer Dissertation über »Bürgerkrieg der Erinnerungen? Gedenktage im Hamburg der Weimarer Republik«; Projektmanagerin in einer Hamburger Karriereberatung, freie journalistische Tätigkeit. Forschungsschwerpunkte: Mediengeschichte, Erinnerungskultur. Claudia Fröhlich, Dr. phil., geboren 1971, studierte Politische Wissenschaft, Religionswissenschaft und Literaturwissenschaft in Göttingen und Hannover, Promotion an der Freien Universität Berlin, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen Smeinar der Leibniz Universität Hannover, Forschungsgruppe »Innerdeutsche Grenze«; Forschungsschwerpunkte: Widerstand und ziviler Ungehorsam im 20. Jahrhundert, Geschichte und Politik, Justiz- und Rechtsgeschichte, politische Kulturforschung, politische Systeme im 20. Jahrhundert. Rainer Hering, Prof. Dr. phil. Dr. theol., geboren 1961, studierte Evangelische Theologie, Geschichts- und Erziehungswissenshaft in Hamburg, Leiter des Landesarchivs Schleswig-Holstein, lehrt Neuere Geschichte und Archivwissenschaft an den Universitäten Hamburg und Kiel. Forschungsschwerpunkte: Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts; Archivwissenschaft. Nina Hinrichs, Dr. phil., geboren 1980, studierte Kunst, Germanistik und Mathematik an den Universitäten Kiel und Paderborn, Postdoc-Stipendium der Universität Paderborn- Forschungsschwerpunkte: Kunstgeschichte des 19.–21. Jahrhunderts mit den Schwerpunkten Caspar David Friedrich-Rezeption, künstlerische Darstellungstraditionen der Nordsee und des Wattenmeeres, Welterbe-Bildung (Vermittlungsstrategien des Weltnaturerbes Wattenmeer). Arne Hoffrichter, M.A., Diplomjurist, geboren 1982, studierte Geschichte, Politikwissenschaft und Jura an der Universität Göttingen. Derzeit Dissertation über das Flüchtlingsdurchgangs- und Notaufnahmelager Uelzen-Bohldamm am

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

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Institut für Historische Landesforschung. Forschungsschwerpunkte: DeutschDeutsche Geschichte, Niedersächsische Landesgeschichte, Rechtsgeschichte, Mentalitätsgeschichte. Wiebke Johannsen, M.A., geboren 1960, studierte Geschichte, Vor- und Frühgeschichte und Philosophie in Hamburg, Tübingen und Edinburgh. Freiberuflich tätig mit Stadt-, Museums-, Gedenkstättenführungen, Vorträgen, Lesungen und Bildungsurlauben. Forschungsschwerpunkt: Wie wird aus »Geschichte« Politik gemacht? Hiram Kümper, Prof. Dr. phil., geboren 1981, studierte Geschichte, Philosophie und Germanistik an der Ruhr-Universität Bochum, Professor für Geschichte des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit an der Universität Mannheim. Forschungsschwerpunkte: Rechtsgeschichte, Historische Hilfswissenschaften, Geschichte und Öffentlichkeit. Thomas Küster, Dr. phil., geboren 1959, studierte Geschichte und Germanistik in Köln, Bielefeld und Münster. Wissenschaftlicher Referent am LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der sozialen Sicherung, Erinnerungskultur, Historiografie- und Landesgeschichte. Matthias Manke, Dr. phil., M. A., geboren 1968, Studium der Geschichte, Politikwissenschaft und Soziologie an den Universitäten Rostock und Hamburg, stellvertretender Leiter des Landeshauptarchivs Schwerin; Arbeitsschwerpunkte: Neuere Geschichte Mecklenburgs und Pommerns, Archivgeschichte. Marcus Meyer, Dr. phil., geboren 1975, studierte Geschichte, Soziologie und Politikwissenschaft in Berlin und Bremen, Mitarbeiter der Landeszentrale für politische Bildung Bremen, wissenschaftlicher Leiter des Denkortes Bunker Valentin. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Zwangsarbeit im Nationalsozialismus, Regionalgeschichte, Bürgertumsgeschichte. Dietmar von Reeken, Prof. Dr. phil. habil., geboren 1959, studierte Geschichte, Ev. Religionslehre, Pädagogik und Soziologie in Münster und Oldenburg, Professor für Geschichtsdidaktik mit den Schwerpunkten Geschichtsunterricht und Geschichtskultur an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, ebd. mit Malte Thießen Leiter der »Arbeitsstelle Regionale Geschichtskulturen«. Forschungsschwerpunkte: Lokale und regionale Geschichtskulturen, Theorie und Pragmatik des Geschichtsunterrichts.

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Günter Riederer, Dr. phil., geboren 1967, studierte Geschichte, Politikwissenschaft und Anglistik in Regensburg und Trier ; wissenschaftlicher Mitarbeiter am Projekt »Stadtgeschichte nach 1945: Wolfsburg auf dem Weg zur Demokratie« am Institut für Zeitgeschichte und Stadtpräsentation der Stadt Wolfsburg. Forschungsschwerpunkte: Kulturgeschichte; Film und Geschichte. Martin Sabrow, Prof. Dr. phil., geboren 1954, studierte Geschichte, Germanistik und Politologie in Kiel und Marburg/Lahn, Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung (Potsdam), Professor für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Forschungsschwerpunkte: Politische Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts, Diktaturforschung, Historiografie- und Erinnerungsgeschichte. Sascha Schießl, M.A., geboren 1980, studierte Geschichte, Germanistik und Politikwissenschaft in Göttingen. Derzeit Dissertation über das Lager Friedland als Erinnerungsort und Ort der Kriegsfolgenbewältigung in der Bundesrepublik. Forschungsschwerpunkte: Vergangenheitsbewältigung, Lager in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, Geschichte sozialer Randgruppen und der Prostitution im 20. Jahrhundert. Jörg Schilling, Dr. phil., geboren 1960, Lehrbeauftragter am Kunsthistorischen Seminar der Universität Hamburg, wissenschaftlicher Mitarbeiter der MartinElsaesser-Stiftung. Forschungsschwerpunkte: Kultur- und Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Harald Schmid, Dr. phil., geboren 1964, studierte Politikwissenschaft und Geschichte in Duisburg und Hamburg, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Bürgerstiftung Schleswig-Holsteinische Gedenkstätten. Forschungsschwerpunkte: Deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts, Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, Diktatur und Demokratie, regionale Zeitgeschichte, politischer Extremismus. Jelena Steigerwald, M.A., geboren 1979, studierte Mittlere- und Neuere Geschichte, Ur- und Frühgeschichte sowie Anthropogeographie in Göttingen und Braunschweig. Dissertation über Denkmalschutz im deutsch-dänischen Grenzgebiet im 19. Jahrhundert im Rahmen der Graduiertenschule »Human Development in Landescapes« an der Universität Kiel. Forschungsschwerpunkte: Deutsche und dänische neuere Geschichte, Wissenschaftsgeschichte, Erinnerungsforschung.

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

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Malte Thießen, Jun.-Prof., Dr. phil., geboren 1974, studierte Geschichte, Germanistik sowie Pädagogik in Hamburg, Juniorprofessor für Europäische Zeitgeschichte an der Universität Oldenburg. Forschungsschwerpunkte: Geschichte des Nationalsozialismus, Geschichtskultur und Oral History sowie Medizingeschichte. Dirk Thomaschke, M.A., geboren 1981, studierte Geschichte, Philosophie und Medienkultur, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte der Universität Oldenburg, Arbeit an einer Dissertation zur Geschichte der Humangenetik in Deutschland und Dänemark; zudem Mitarbeiter der Arbeitsstelle Regionale Geschichtskulturen an der Universität Oldenburg. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Humangenetik, Geschichte der Bevölkerungswissenschaften, lokale Kulturen der Erinnerung an den Nationalsozialismus. Andreas Wagner, Dr. phil., geboren 1964, wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Politischen Memoriale e. V., seit 2013 Projektleiter im Grenzhus Schlagsdorf. Forschungsschwerpunkte: Wandel der Erinnerungskultur in MecklenburgVorpommern, historisch-politische Bildungsarbeit, Geschichte des Strafvollzugs in Mecklenburg-Vorpommern, Biografieforschung.

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Personenregister

Adorno, Theodor W. 43, 56, 59 f., 67 Akin, Fatih 140 Albert Wihelm Heinrich von Preußen 176 Ambiorix 290 Ancker, Johan Andres Peder 172 Andersen, Henning Hellmuth 198 Anderson, Benedict 78, 89, 102, 296 Apportin, Siegfried 258 Aragon, Louis 59 Arendt, Hannah 59 Arminius 291, 299 f., 303 – 305 Arndt, Ernst Moritz 300 Arnold, Karl 74, 76, 136, 209, 283, 293, 321 Asfrid 407 Assmann, Aleida 43 – 45, 63 f., 67, 73, 100, 117, 167, 297, 367, 370 Assmann, Jan 167, 287, 326, 367, 369, 371 Atterbom, Per Daniel Amadeus 391 Bachmann, Alf 237 Bachmann, Ingeborg 52 f. Barlach, Ernst 79, 148, 154 Bataille, George 60 Beer, Mathias 202 – 204, 206, 208, 325, 330 Benjamin, Emil 58 Benjamin, Pauline 58 Benjamin, Walter 12, 25, 43, 55 – 61, 64 – 70 Bergen, Claus 229, 234 f. Berke, Stephan 299, 301 f. Betscher, Silke 76, 358 Bhabha, Homi 64 f.

Bismarck, Ferdinand Fürst von 154 Blotevogel, Hans Heinrich 83 f., 89, 292 f. Blücher, Gebhard Leberecht von 315 Boelcke, Oswald 315 Bohleber, Werner 35 f. Bohrdt, Hans 234 Bourdieu, Pierre 51, 53, 78, 80 Brandi, Karl 88, 92 Brandt, Willy 9, 19, 103, 192 Bransch, Arthur 316 f., 319 Brauer, Max 132, 134 Brecht, Bertolt 59 Burke, Edmund 228 Burmeister, Stefanie 374, 376 – 383 Carl XVI. Gustav 394 Christian VIII. 188 Clausewitz, Carl Philipp Gottlieb von 315 Cornelißen, Christoph 72, 83, 98, 165 – 167, 287 f., 297, 326, 328, 412 Cs‚ky, Moritz 37, 43, 51, 63, 73, 78, 81, 370 Darr¦, Walther 415 De Buhr, Hermann 104 – 106 Dehio, Georg 29 De Mesa, Christian Julius 190 DeWaal, Jeremy 134 Dietrich, Christian 225, 300 Döblin, Alfred 59 Doepler, Carl Emil 420 Dönitz, Karl 351 Drachmann, Holger 164, 172, 177 Drews, Ute 411, 416

438 Ehrenberg, Richard 130 Eisenman, Peter 27 Ekman, Oscar 399 f. Evers, Tjark 240 Faehndrich, Jutta 203 – 206 Fahlbusch, Friedrich Bernward 105 – 107 Falck, Nicolas 186 f. Feddersen, Hans Peter 226 Felka, Rike 52 Flor, Christian 187 Fontane, Theodor 163 f., 173 Foucault, Michel 38, 61, 243, 370 FranÅois, Etienne 30, 100 – 102, 114, 152, 165, 288, 290 f., 299, 327 f., 334, 343, 386 Frandsen, Stehen Bo 100, 131 Friedrich, Caspar David 228, 239, 430 Friedrich der Große 24, 26 Frölich, Lorenz 190 Füesslin, Melchior 223 Fuge, Janina 9, 11, 34, 71, 83, 265, 328 f., 425, 430 Fuhr, Michael 181 Gad, Urban 172 Gartenschläger, Michael 257 f. Gericke, Bernhard 318 f. Glindmeier, Walter 208 Goebbels, Joseph 352 Goethe, Johann Wolfgang von 25, 27 f. Gormley, Anthony 239 f. Graumann, Carl Friedrich 293 Grenzer, Eckhart 226 f., 240 f. Großherzog Friedrich Franz VI. 392 Groth, Klaus 189 Gustav II. Adolf 385, 388 f., 393, 398 f., 401 f. Halbwachs, Maurice 12, 36 – 38, 71, 75, 166, 287, 326, 367 – 369, 386 Hammarskjöld, Dag 321 Hammer, Ernst 397 Hammerl-Kiesow, Rolf 103 – 105, 118 Handelmann, Heinrich 191 – 193 Hannibal 24 Hase, August 273

Personenregister

Haushofer, Karl 21 Heckel, Erich 232 Heine, Heinrich 23, 112, 114 f., 317 Heinritz, Günter 292 f. Herder, Johann Gottfried von 21 Hering, Rainer 9, 11, 34, 71, 83, 153, 265, 328 f., 425, 430 Hermann der Cherusker 299 – 302, 305 – 307 Hermel, Hans-Jürgen 382 Herzinger, Richard 45 Herzog, Rudolf 161, 174, 397 Heß, Rudolf 315 Hesse, Wolfgang 77, 320 Hessel, Franz 59 f. Heyl, Matthias 355 f. Himmler, Heinrich 302, 415 f. Hinrichsen, Thorkild 130, 134 f. Hitler, Adolf 21, 28, 136, 150, 235, 310, 315, 322, 357, 360, 409 Hobsbawm, Eric 296 Hoffmann, Paul Theodor 124, 132 f. Hoguet, Charles 230 Immelmann, Max

315

Jankuhn, Herbert 198, 412 – 416 Joachim zu Dänemark 181 Jonsson, Runer 421 Kamerun, Schorsch 139 f. Kant, Immanuel 228 Karl, Xaver 83, 123, 137, 208, 221, 232, 235, 260, 267 f., 270, 275, 289, 306, 317, 354, 385, 405 Kaschuba, Wolfgang 367 Kaufmann, Karl 130, 132 Kellner, Dora 58 Kennedy, John F. 321 Kerr, Alfred 145 Kindt, Carl von 185 – 189 Kleist, Heinrich von 300, 319 Klinke, Karl 172 – 174 Kloth, Heinrich 130, 133 f. Knoch, Habbo 80, 87, 353, 355 – 357, 369, 372, 376

439

Personenregister

Knorr, Friedrich 194, 196 f. Kobbe, Theodor von 229 Kohl, Helmut 153 Koller, Peter 312, 320 Kornerup, Jacob 190 Kosegarten, Ludwig Theobul 391 Koselleck, Reinhart 19, 30, 35, 38, 49, 56, 63, 212, 214 f., 296 Kossina, Gustav 413 Kraack, Detlev 99 Kreßmann, Willy 320 Krzeminski, Adam 35 Kühling, Monika 223, 240 Lachauer, Ulla 17 f. Landvai-Dircksen, Erna 235 f. Lang, Anne 40 Langbehn, Julius 145 f. Lange, Dirk 55, 102, 285, 370, 388, 395 f., 399 Langenohls, Andreas 39 Lederer, Hugo 144, 147 f. Lefebvre, Henri 61, 370 Leggewie, Claus 40, 45 Lemke, Helmut 57, 171 Lenz, Siegfried 151 Leopoldi, Hans Heinrich 270, 273 f. Levy, Daniel 368 Lichtwark, Alfred 145 f. Liebknecht, Karl 317 Liebknecht, Wilhelm 317 List, Guido von 160, 163, 172, 207 – 209, 211, 221, 317, 409 Litzmann, Karl 315, 317 Lorenzen, Christian C. 165, 190 Lossau, Julia 81, 91 Löw, Martina 38 f., 162, 175, 180 – 182, 206, 391 Lübbe, Hermann 24 Luhmann, Niklas 38 Luminais, Evariste Vital 418 Luther, Martin 108, 399 Margarethe II. 139 Marx, Karl 420 Masereel, Frans 152

Matthaei, Karl Otto 230 Mazur-Stommen, Susan 73 Mehring, Nicole 77 Mergel, Thomas 298 Mestorf, Johanna 192 – 194, 196 f., 412 Meyer, Erik 45 Meyer, Franz Andreas 13, 45, 144 – 146, 247, 354, 386, 431 Moeller, Robert G. 79, 93, 330, 338 Moltmann, Karl 270, 273 Montelius, Oscar 193 Mühsam, Erich 317 – 319 Müllenhoff, Karl 189 Müller, Sophus 26, 93, 159, 192 – 195, 280 f., 296 f., 412 f. Naumann, Friedrich 154 Neckel, Sighard 51, 53, 78, 80 Neergaard, Carl 194 f. Nernst, Karl 391 Nolde, Emil 232 f. Nolting-Hauff, Wilhelm 364 Nora, Pierre 12, 19, 57, 100 f., 165, 184, 287, 309, 327, 370, 385 f., 420 Nordhoff, Heinrich 321 – 324 Odin 408, 415 Oxenstierna, Axel

399

Palme, Olof 393 Paul, Gerhard 23, 73, 123, 125, 143, 191, 204, 270, 273, 296, 332, 369 – 371, 409 Paulsen, Christian 187, 209 Pechstein, Max 232 Petri, Rolf 126 Philippsen, Heinrich 195 f. Piefke, Johann Gottfried 173 f. Pinnau, Ruth 130, 136 Piwczyk, Anton 321 Popp, Herbert 292 Porsche, Ferdinand 321 – 324 Portefaix, Raymond 360 f. Probst, August 163, 225 Quandt, Bernhard

272 f.

440 Radziwill, Franz 232, 237 f., 245 Ratzel, Friedrich 21 Reulecke, Jürgen 78, 83 – 85, 295, 297 Ritter, Emma 101, 144, 148, 232, 247 Rohe, Karl 294 f. Röhm, Ernst 315 Roon, Albrecht Theodor Emil Graf von 315 Rosenberg, Alfred 302, 413, 416 Rousseau, Jean-Jacques 421 f. Rüsen, Jörn 65, 72, 98, 204 Saltzmann, Carl 234 Sarkozy, Nicolas 20 Schama, Simon 39 Schaudt, Johann Emil 144, 147 Scheel-Plessen, Carl von 191 Scheffler, Karl 148 Scheibe, Phillipp 242 Schiller, Friedrich 25, 27 f., 228, 403 Schlögel, Karl 17, 23, 32, 43, 55, 57, 62 – 64, 81, 249 f., 254, 309 f., 426 Schmid, Harald 9, 11 f., 33 f., 71, 81, 83, 90, 99, 122, 265, 267, 288 f., 328 f., 425, 432 Schmidt, Heinrich 87, 123 – 125, 223 Schmidt, Helmut 153 Schmidt, Jes Nielsen 190 Schmidt-Rotluff, Karl 232 Schnath, Georg 88 Scholem, Gershom 55, 59 Schönerer, Georg von 315 Schroer, Markus 39, 46, 48, 215 f. Schulze, Hagen 101 f., 114, 152, 165, 203, 288, 290 f., 327 f., 332, 334, 342 f., 386 Schuman, Robert 321 Schümer, Dirk 102 Schwantes, Gustav 198, 412 f. Schweitzer, Robert 116 Sedlaczek, Dietmar 372 f. Seebohm, Hans Christoph 320 Sigtrygg 407 Simmel, Georg 36 f., 40, 48 – 50 Simon, Moritz 125, 254, 373, 379 Simrock, Karl 408 Skarthe 407

Personenregister

Soja, Edward 46 f., 49 f., 61 f., 64 f. Sonne, Jørgen Valentin 18, 53, 149, 171, 409 Splieth, Wilhelm 193 f. Stachel, Holdine 37, 270, 273, 309 Stalin, Josef 393 Stauffenberg, Claus Schenk Graf von 321 Steber, Martina 85, 89 Steinecke, Werner 314 f. Stone, Gregory P. 293 Stöwer, Willy 234 Sünksen, Carl 195 – 197 Sven 58, 131, 188, 407 Swienty, Tom Buk 160 f., 164 Sywottek, Arnold 137 Sznaider, Natan 9, 368 Tacitus 290, 299, 304 Temple, Henry John 161 Terno, Emil 197 Thiele, Ulrike 124, 377 Thielen, Georg 146 Thomsen, Christian Jürgensen Thoralf 407 Thyra 185, 188, 190 Tilly 385 Timm, Uwe 129, 132, 155 Toller, Ernst 317 – 319 Ullrich, Maren

185 f.

44, 256, 258

Vercingetorix 290 Vogtherr, Thomas 82, 87, 289 Wagner, Richard 12, 61, 75, 124, 247, 262, 283, 340, 409, 420, 433 Wallenstein 385, 388, 394 – 397, 401 Warburg, Aby Moritz 11, 13, 147 f., 156, 222 Watzlawick, Paul 36 Weddigen, Otto 315 Weichhart, Peter 292 – 294 White, Hayden 35 Widera, Thomas 77 Wiesner, Erich 270, 272, 274, 276 f. Wilhelm II. 147, 176, 194, 233 f.

441

Personenregister

Wirth, Herman 415 Witte, Bernd 57, 392 Wolfrum, Edgar 45, 166, 326 Worsaae, Jens Jacob Asmussen 186, 188 – 190, 192 f. Wulff, Hermann 273

Wuttig, Dieter 381 Wuttke, Olaf 139 Zimmermann, Clemens Zuckmayer, Carl 59

124 f., 134

Ortsregister

Adolf-Hitler-Koog 235 Ahlem 13, 367 f., 373 – 383 Alsensund 161, 163 f., 175 Altona 12, 19, 121 – 140, 146, 176, 426 Altona-Nord 128 f. Alt-Rehse 22 Amerika 132 Arnekiel 164, 175, 178 Arnis 163 Augsburg 21, 109, 304 Auschwitz 44, 314, 368 f. Babelsberg 67 Baden-Württemberg 109, 160 Bahrenfeld 128, 135 Bardowiek 259 Bayern 84, 99, 320 Bayreuth 235, 344, 420 Belgien 290 Bergedorf 124 Bergen-Belsen 80, 371, 374 Berlin 11, 19 f., 23, 26 – 31, 43 – 45, 50, 52 f., 55 – 60, 62, 64 – 70, 73 f., 80, 85, 93, 100 f., 104, 108 f., 113, 123, 125, 133, 145 f., 148, 156, 159 – 161, 163, 165, 170 f., 173, 180, 183 f., 192, 247, 251, 254, 256 f., 260, 270, 274, 276, 279 f., 289, 295, 298, 309, 312, 318, 320, 332, 341, 347, 354, 357, 365, 367 – 370, 382, 386 f., 390, 399, 405, 407 f., 413, 420, 429 – 432 Blankenese 127, 143, 146 Bodenseeregion 109 Böhmen 279

Bonn 37, 44, 161, 165, 173, 295, 334, 343, 370 Bordeaux 147, 364 Bramstedtlund 201 f., 204 Brandenburg 17, 30, 50, 108, 173, 279 f., 285, 386 – 388, 391, 397, 401 f., 429 Braunschweig 82, 86, 106, 323, 333, 432 Breklum 209 Bremen 11 – 13, 76, 82, 88, 106, 110 f., 115, 129, 150, 155, 159, 266, 285, 351 – 355, 357, 360, 364, 431 Bremen-Nord 352, 357, 364 Brest 364 Bretagne 99 Broacker 166 Bröthen 257 Brüssel 103, 115 Büchen 260 Busdorf 407 Bützow 268 Chile 346 Coesfeld 110 Cuxhaven 143, 229 f., 239 Dachau 79 f., 360, 369 Dagebüll 235 Dänemark 131, 133, 139, 159 – 165, 170 – 172, 178 f., 182, 189, 191, 194, 198, 221, 290, 388, 396, 407, 421, 433 Dangast 226, 232, 237 Dänholm 395 f. Danzig 113, 279, 318, 320 Dechow 266

444 Deutschland 22, 25, 45, 58, 74, 87, 91 f., 99 f., 103 f., 106, 114, 116 f., 129, 140, 145 – 147, 153, 162, 164, 170 f., 178, 184, 198, 203 f., 214, 221 f., 229 f., 235, 245, 251, 267 – 269, 272, 282, 290, 292, 296 – 298, 309 f., 316, 321, 327, 332, 347, 352, 368 f., 372 f., 385, 387, 391 – 395, 401, 403, 407, 413, 428, 430, 432 f. Dinkelsbühl 395 Dogger Bank 234 Dornumersiel 240 Dortmund 102, 110, 115 Dresden 74, 76 f. Duburg 185 Duderstadt 82 Duhnen 230 Dülmen 110 Düppel 12, 159 – 161, 164, 166 – 174, 176 – 179, 427 Düppeler Schanzen 161, 163 f., 170 f., 176, 180 Eisenhüttenstadt 28, 316 Elbberg 252, 260 Elbe 99, 113, 131 – 133, 146, 160, 249, 258, 266 Elbhöhe 144 – 146, 148, 157 Elsaß 99 England 74, 156, 407 Erfelden 394 EU 46, 99, 104, 402 Europa 9, 20, 28, 35, 44 – 46, 50, 58, 62, 69, 74 f., 83, 99 – 103, 106 f., 111 f., 114 – 118, 132, 134, 154, 192, 200, 251, 288, 290 f., 295 – 297, 307 f., 326, 329, 344, 351, 355, 364, 368 f., 391, 397, 402 f., 411, 416 Fallersleben 311, 314, 317, 322 Farge 352 f., 355, 359 f., 362 f. Finnland 116 f. Flensburg 162 f., 180 f., 189 f., 192 Frankreich 20, 100, 171, 175, 184, 214, 290, 315, 327, 364 Französische Atlantikküste 355, 365

Ortsregister

Friedland 13, 325 – 331, 334 – 339, 341 f., 344 – 347, 397, 428, 432 Friesland 99 Gadebusch 255, 386 Gifhorn 316 f. Goldensee 255 Griese Gegend 266 Grönland 407 Großbeeren 387 Güstrow 266, 268 Haddebyer Noor 407 Hagenow 253, 268 Haithabu 13, 108, 135, 183, 192 – 194, 196, 198 – 200, 405 – 412, 414 – 416, 418, 421 f., 427 Halbinsel Sundewitt 163 Halle 66, 114 f., 301, 312, 357, 359 Hamburg 11, 13, 74, 76, 77 – 79, 106, 110 f., 121 – 127, 129 – 141, 143 – 147, 149 – 156, 195 f., 198, 210, 255 f., 279, 292, 413, 426, 429 – 433 Hannover 11, 74, 82, 86 – 89, 116, 133, 307, 311 f., 339, 343, 373 – 375, 377 – 382, 430 Harburg 124, 133 Hedeby/Haithabu 192 f., 405 Helgoland 143, 229 f., 233 Herrnburg 256 Herzogtum Lauenburg 255, 257, 259, 265 Heßlingen 311 Hessen 109 f., 394 Hiddensee 393 Horst/Lauenburg 252 Idstedt 162, 180, 182 Insel Alsen 161 Island 199, 407 f. Israel 368, 374 f., 383 Jena

25, 132

Kalkriese 289, 302 f., 305 – 307 Kassel 74 Kaunas 114

Ortsregister

Kiel 11 f., 74, 107, 131, 146, 160, 171, 184 – 187, 189, 191 – 199, 209, 228, 330, 352, 412 f., 416, 430, 432 Kiew 114 Klieversberg 319 Klosterstätte Ihlow 223 Knivsberg 176 Köln 20, 23, 38, 72 f., 98 f., 103, 109 f., 113, 115, 123, 134, 160, 203, 228, 295, 310, 389, 431 Königgrätz 159 Kopenhagen 131, 180, 185 f., 189 f., 193 f., 199 Krakau 114 f. Kreis Parchim 272 f. Kreisstadt Greifswald 267 Kreis Stormarn 126 Landkreis Ludwigslust 257 Landkreis Nordfriesland 201 Landkreis Westprignitz 266 Lankow 259 f. Lassahn 266 Leisterförde 258, 260 Lemgo 110, 291 Lenschow 259 Lettland 85, 112, 199 Lorient 364 Los Angeles 61, 330, 376 Lübeck 74 f., 107 f., 110 f., 113, 115, 117, 119, 247, 255 – 257, 259 f., 262, 280 Lübeck-Eichenholz 259 Lübecker Bucht 258, 352 Lübeck-Schlutup 256 f., 260 Lüdersdorf 258 Ludwigslust 273 Lützen 388, 393, 398 – 402 L’viv 114 Magdeburg 65 – 67, 112 – 115, 252 Mecklenburgisches Elbtal 258 Mecklenburg-Vorpommern 11 f., 22, 106, 109, 247, 249 f., 252, 254, 256, 259, 262, 277, 280, 284 f., 386, 389, 391, 401 f., 433 Mecklenburg(-Vorpommern) 254 f., 262,

445 265 f., 268, 272, 274 f., 279 f., 282 – 285, 387, 392, 397, 431 Memmingen 395 Midlum 209, 215 Missunde 163 Mittellandkanal 310 – 312, 316, 320 Morsum 208 Moskau 59 Münster 110, 159, 192, 222, 274, 299, 309, 319, 355, 385, 388 f., 429, 431 Mustin 259 Neubrandenburg 266 f., 279, 283 – 285 Neuengamme 79 – 81, 129, 314, 351 f. Neuhof 259 Neumühlen 128, 130 Niederlande 221, 290, 407 Niederrhein 109 Niedersachsen 11 f., 82, 85 – 88, 93, 106 – 108, 110, 113, 285, 307, 333 f., 344 f., 371 – 373, 381 f. Norddeutschland 11 f., 35 f., 41, 71, 74, 95, 97, 121, 129, 145 f., 221, 265, 328, 365, 386, 388 – 390, 396, 405, 413, 425 f., 428 Nordeuropa 107, 162, 409 f. Nordrhein-Westfalen 84, 103, 106, 108 – 111, 333 Nordsee 12, 221 – 224, 226 – 230, 232 – 237, 239, 244 f., 430 Norwegen 107, 199, 364, 407 Nübel 166 Nürnberg 113, 330, 395 Oberschlesien 335 Odermündung 389 Oeversee 163 Oldenburg 11, 82, 86 f., 98, 114, 123, 193 f., 196, 225, 232, 237, 307, 344, 431, 433 Ortsteil Farge-Rekum 351 Osnabrück 82, 105, 110, 203, 302, 305, 327, 332 f., 388 Osnabrücker Land 287, 290 Oster-Ohrstedt 211 – 213 Österreich 162 – 164, 376

446 Osteuropa 103, 111 f., 115, 117, 312, 337, 346 Ostfriesland 82, 86, 125, 240, 333 Ostpreußen 17, 20 Ostsee 110, 113, 229, 249, 254, 390, 414, 427 Ost- und Ostmitteleuropa 326 Ost-/Westdeutschland 247 f., 333 Ottensen 121 f., 127 – 131, 136 – 140 Palästina 373 Paris 23, 30, 58 – 61, 165, 289, 309, 386 Peenemünde 22, 392 f. Perleberg 268, 279, 285 Pfaueninsel 56, 67 Pinneberg 127 Polen 9, 74, 85, 112, 116 f., 262, 277, 335 f. Pommern 20, 343, 387 – 393, 401 – 403, 431 Port Bou 58 Preußen 18, 124, 131 f., 162 – 164, 171 – 173, 176 f., 191 Priwall 259 Prignitz 266 Prora 22 Ratzeburg 265, 283 Ratzeburger Land 255 Ratzeburger See 254 f. Ravensbrück 355 Reeperbahn 157 Regensburg 109, 432 Region Lippe 291 Rheinland(e) 103, 109, 279 Rostock 73, 266 – 268, 274 f., 279 f., 282 f., 285, 392, 395, 431 Rothehof-Rothenfelde 311 Rothenburg ob der Tauber 395 Rouen 23 Rügen 387, 391 Ruhrgebiet 38, 279, 295, 297 Rumänien 85, 112 Russland 117 Sachsenwald 144 Sandbostel 352

Ortsregister

Sassnitz 392 Schaalsee 254 f., 258, 261 Scharfenberg 394, 397 f. Schaumburg-Lippe 87 Schlagsdorf 260 f., 433 Schlesien 20 Schleswig 11, 100, 161, 162 – 164, 175, 183, 185 – 194, 196 f., 199 f., 249, 409 f., 412 Schleswig/Haithabu 183 Schleswig-Holstein 11 – 13, 83, 99, 106 – 109, 111, 127, 129, 131, 159 f., 189, 191 – 194, 199, 206, 247, 250, 254 – 257, 259, 430 Schleswig/Sønderjylland 183, 197, 199 Schönberg 255 Schweden 107, 116, 125, 387 – 403, 407 Schwedisch-Pommern 389 – 392 Schwerin 11 f., 31, 257, 265 – 282, 284 f., 431 Schwerin-Stadt 268 Sedan 159 Seelhorster Friedhof 373 Selmsdorf 256 Soest 110, 113 Sonderburg 161, 163, 166, 175 – 177 Sternschanze 129 Stettin 276 f., 280, 318 St. Nazaire 364 f. St. Pauli 125, 127, 129, 156 Stralsund 268, 387 f., 390 – 397, 402 Südafrika 20, 322 Süddeutschland 109 Südfrankreich 364 Südjütland/Nordschleswig 164 Sylt 208, 229 Teutoburger Wald 307 Thurow 266 Trelleborg 392 Troja 80, 302

288, 299, 302, 304 –

Uelzen 13, 325 – 330, 332, 334 – 337, 340 – 344, 346 f., 428 Ukraine 415

447

Ortsregister

Ulm 109, 344 Ungarn 85, 112, 117 Upstalsboom 223 USA 20, 69, 297, 368, 420 Usedom 386, 388 Vietnam

346

Wales 99, 166 Wandsbek 124, 129 Warschau 46, 115 Weimar 20, 25, 57, 72, 98 f., 103, 113, 115, 203, 228, 287, 292, 310, 388 f., 403 Weißrussland 112 Wendisch Lieps 258 f. Westdeutschland 247 f., 333

Wester-Ohrstedt 211 – 213 Westeuropa 111 Westfalen 85, 87, 109 f., 112, 198, 279 Westfalen-Lippe 12, 287, 306 Wilhelmsburg 124 Wismar 125, 266, 268, 387, 389, 392, 394 Wittstock an der Dosse 387, 391, 394, 397 f., 401 – 403 Wolfsburg 12, 309 – 312, 314, 316 – 323, 432 Wyk auf Föhr 229 Ystad

390, 392

Zarrentin/Gudow

251

Sachregister

Abendpost 330, 335 Abgrenzungsbedürfnis 308 AFN-Bremerhaven 152 Alldeutscher Verband 149 Allgemeine Zeitung der Lüneburger Heide 327 f., 340 – 344 Allgemeinhistorie, politische 105 Alliierte 77, 163, 213, 215, 329, 335, 357, 364 f. Alltagskultur 29, 143, 290, 294 Alterität 88, 126, 129 Altonaer Museum 121 f., 127, 130, 137, 141 Ambivalenz 143, 321 Amnesie, kollektive 80, 203 Analogien 299 Andenken 166, 336 Aneignung 10, 27, 31, 34, 53, 93, 134, 137 f., 141, 143, 148, 150, 156 f., 189, 420 – lokale Aneignung 183 – subjektive Aneignung 237, 245 Anerkennung 63, 188, 259 – 261, 321, 326 Annalen 299 Anschaulichkeit 31 Anschauung 30, 102 Anthropologischer Verein 192 – 194 Antifaschistischer Schutzwall 262 Antike 75, 116, 289 f., 299 f., 302, 306, 429 Arbeit, didaktische 9, 38, 59, 61 f., 92 f., 99, 104 f., 113, 115 f., 123, 131, 190, 203, 229 f., 240, 261, 267 – 269, 272 – 274, 285, 287, 312, 318, 320, 352, 355, 360 – 362, 372, 375, 379, 381, 399 f., 419, 425, 430, 433

Arbeiterbewegung 12, 31, 132, 265 – 269, 272, 274 – 282, 285, 352, 429 Arbeiter- und Bauernstaat 266 Arbeitserziehungslager 352, 364, 373 Architektur 26, 73, 77, 80, 143, 148, 157, 311 Archiv 74, 76, 112, 136, 194, 196, 201, 206, 249, 268, 274, 344, 429 Ariosophie 409 Asservate 356, 365 Ästhetik 222, 319 Asylbewerberheim 342 Atheismus 262 Atlantikschlacht 351 Attribute, regionale 205, 292, 390 Aufarbeitung 117, 203, 250, 253, 285, 322, 344, 367 f., 372, 376, 382 Aufladung, emotionale 28, 30, 91, 93, 243, 299, 338 f., 346 f. Aufmarsch 156, 314 Aufnahmebaracke 327 Aufrüstung, militärische 233 Auratisches 27 f., 31, 359 Auseinandersetzung 47, 65, 72, 85, 119, 129, 136, 148, 171, 251, 260, 302, 305, 318 f., 323, 345, 365, 370, 387, 412, 428 – europäische Auseinandersetzung 395 Außenlager 80, 252 f., 352, 360, 362 – 364, 381 Ausgrabung 194, 196 f., 199, 398, 412, 415 Aussichtsplattform 155, 398 Aussiedler 326, 335 f., 345 – Aussiedlungswelle 247 Ausstellung 22, 50, 77 f., 103, 112, 114,

450 117, 129, 133, 137 f., 176, 185, 252 f., 260, 269, 305 f., 316, 342 – 345, 364, 369, 371, 376, 379, 382, 392, 397 f., 400, 411, 420 – Dauerausstellung 374, 377, 398, 412 – Wanderausstellung 115, 271 Ausstrahlung 358, 369, 371 – mystische Ausstrahlung 358 – nationale Ausstrahlungskraft 143 Ausweisungsbefehl 343 Authentizität 25 f., 28 – 30, 44, 184, 276 Avantgardistische Strömungen 232 Barber-Lyaschenko Abkommen 255, 265 Barock 299 Basis, wissenschaftliche 184, 225, 281, 287, 295, 351, 365 Bataverkult 290 Bauern 187, 236, 255, 332 – Bauernbefreiung 283 f. – Bauerntum 301 Bauwerk 194, 247, 256, 365, 387, 394 Bedeutung 19 f., 22 – 26, 34, 36, 44, 51 f., 64, 70, 72 f., 75, 77, 79 – 82, 85, 87 – 91, 93, 99 – 102, 109, 113, 116, 118 f., 126, 129, 143, 151, 153, 157, 165, 171, 173, 177, 182 f., 185, 189, 194, 196 f., 202, 209, 222 f., 238, 240, 243, 260, 269, 271, 275 – 277, 289, 296, 305, 313, 321, 323, 328 f., 339, 343, 345 f., 354, 369 – 371, 373, 376 f., 380 – 383, 389 f., 394 f., 402 f., 408, 414, 416, 428 – Bedeutungsebenen 143, 157 – Bedeutungsrahmen 78, 382 – Bedeutungszusammenhang 208 – Bedeutungszuschreibungen 254 – symbolische Bedeutung 183, 188, 190 Begegnungs- und Gesprächsorte 262 Beglaubigung 296, 302 Begrenzungen 33, 222 Belagerung von Stralsund 388 Berichte der Überlebenden 76 – 78, 275 – 280, 361 Berliner Mauer 28, 31, 251, 327, 347 – Mauerfall 248 – 251, 259 f. – Todesstreifen 261

Sachregister

Besatzung 163, 165, 329, 351 – Besatzungsbehörde 325 – Besatzungsmacht 255, 333 – Besatzungspolitik 329 – Besatzungszone 325 f., 329, 335 f. – Britische Besatzungszone 335 – Sowjetische Besatzungszone 325 – westliche Besatzungszone 326, 329, 336 Bevölkerungsschichten 269 Bewegung, schleswig-holsteinische 189 Bewusstsein 33, 84, 154, 156, 167, 169, 294, 296, 327 f., 339, 345 – 347, 354, 385, 388 – gemeinschaftliches Bewusstsein 289 – kollektives Bewusstsein 296 – nationales Bewusstsein 225 – öffentliches Bewusstsein 102, 154, 327 f., 339, 345 – 347, 354 Bezirksbildung 265 f. Bezirksflüchtlingsamt 332 Bezirksparteischule 270 Bild 19, 23, 37 f., 40, 48, 56 f., 61, 66, 68 f., 71, 73 f., 78, 82, 85 f., 100, 103 f., 107, 113, 116 f., 123, 125, 131, 138, 140, 147 – 149, 155, 167, 172, 190, 210 f., 222, 228, 232, 234, 237 f., 240, 244, 249, 251, 256, 299, 312, 319, 327, 339, 355, 361, 371, 401, 407, 412, 414 f., 417, 426 f. – Bildkonzeption 228 – Bildmotive 306 Bildräume 239 Bildungsarbeit 354, 371 f., 433 Bildungsbürgertum 86, 147 Bildung, soziale 207 BILD-Zeitung 82, 155 Bindungen, identitätsstiftende 123, 126, 129, 136, 141, 151 Bischofsburg zu Wittstock 397 Bismarck 12, 28, 143 – 157, 176, 178, 300 – Bismarckdenkmal 143 f., 146 – 150, 153 f., 156 f., 427 – Bismarck-Gedenken 150 – Bismarckmonument 145, 147 – Bismarck-Mythos 146, 150, 157 – Bismarcksäule 144

451

Sachregister

– Bismarckstein 146 – Bismarckturm 22 – Bismarck-Verehrung 154 Blut- und Bodenideologie 236, 245 Boat people 346 Bodendenkmal 198 Bodenreform, demokratische 271 – 274, 278, 281 f. Boizenburger Heimatmuseum 252 Bombenkrieg 75, 77 Bombenlücken 73, 76 Bonn-Kopenhagener Erklärung 165 Borrussische Geschichtsschreibung 160, 393 Bremer Theater 354 Bruderschaft, klösterliche 287 BUND 251, 261 Bundesanstalt für Immobilienaufgaben 354 Bundesgrenzschutz 248, 260 Bundeskanzler 153, 157 – Bundeskanzleramt 28 Bundesländer 11, 106, 109 – 111, 249 f., 333, 372, 386, 425 Bundesrepublik 22, 45, 74, 77, 105 f., 129, 262, 311, 317, 320 f., 323, 326 – 328, 334 – 337, 339 f., 342, 347, 369, 371 f., 376, 382, 432 Bundestagsausschuss für gesamtdeutsche Fragen 341 Bundeswehr 353 f., 359 Bund für Denkmalerhaltung 156 Bunker 13, 73, 76 f., 155, 351 – 362, 364 f., 431 Bürgerinitiative 114, 121, 354 Bürgertum 58, 132, 147, 157, 188, 191, 315 – dänisch national-liberales Bürgertum 188 Bürgervereine 127 Busdorfer Runenstein 196 CDU 133, 259, 316, 321, 342 – 344, 378 Cherusker 305 Chronik 55, 59, 64 f., 70, 124, 201 – 215, 332, 344, 364, 392

Chronologie 49, 208, 421 Codes, räumliche 52, 292 Dänen 100, 161 – 164, 171 f., 175, 177 f., 181, 190, 194, 198 f., 416 Danevirke Museum 198 Danewerk 163, 183 – 191, 193 – 200 Dänischer Gesamtstaat 131, 162, 187 Dänisches Nationalmuseum 193 Danisierung 177, 189 Darstellung 11 f., 35, 93, 104 f., 107, 112, 115, 119, 121 f., 129 f., 133 – 138, 141, 144, 148, 152, 164, 169 – 173, 202, 204, 206 f., 209 – 211, 213, 222 f., 233 – 236, 267, 276, 280 f., 283, 301, 305, 332, 382, 412, 414 – Darstellungstradition 222, 244 f., 430 – Darstellungsweise 222 – kunstgeschichtliche Darstellung 148 – realistisch-naturalistische Darstellung 232 DDR 9, 23, 27 – 29, 31, 44, 74, 77, 247 – 249, 251 – 258, 260 – 262, 265, 267 – 269, 271 f., 275 f., 278, 280, 282 f., 285, 309, 326 f., 332 f., 335 f., 339, 343, 346, 393 f., 396, 400, 402 – DDR-Bezirk 265 – DDR-Führung 393, 400 – DDR-Grenzanlagen 26, 30 Debatte, erinnerungspolitische 30, 33, 44 f., 47, 49 f., 53, 88, 98, 100, 188, 252, 263, 292, 318, 329, 336 f., 345 – 347, 370, 381 Dekonstruktion 43 f., 51, 169 Demokratisierung 265 Demontage 265, 352 Denkmal 12, 27, 44 f., 47 f., 50, 79, 114, 125, 134, 144 – 149, 151 – 156, 160, 174 – 179, 184 f., 187 f., 193, 195 f., 199, 247, 249, 251, 257, 259, 263, 305, 307, 345, 357, 369, 399, 406, 414 – Denkmalsarchitektur 175 – Denkmal-Komitee 146 – Denkmalkunst 147 – Denkmalliste 151

452 – Denkmalpflege 30, 149, 153, 184 f., 394 – Denkmalplateau 146 – Denkmalschutz 29, 155, 185 f., 190, 199, 432 – Denkmaltradition 144 Denkort 354 f., 362, 365, 431 Denkräume, gesellschaftliche 367 Denkstein 407 Dependenz, räumliche 37 Deportation 373 Der Spiegel 153, 398, 419 Deutsch-Dänischer Krieg 159 – 163, 170, 181, 183, 190 Deutscher Bund 161 f. Deutscher Bundestag 26, 152 Deutsches Kaiserreich 159 Deutsches Reich 149, 159, 164, 237, 255, 315, 364 Deutsches Rotes Kreuz 179, 342 Deutsch-Französischer Krieg 169, 216 Deutsch Historisches Museum Berlin 289 Deutschlandsender 270 Deutung 12, 74 – 78, 84, 86, 126 f., 130, 132 f., 154, 167, 225, 248, 251, 256 – 258, 262 f., 288, 299, 306, 417 – Deutungskultur 294 f. – Deutungslinien 129 f., 132, 134, 140, 167 – Deutungsmacht 288 – Deutungsmuster 32, 73, 287, 295, 421 – objektivistische Deutung 222 Diaspora 39, 336 Die Linke (Partei) 121 f. Die Welt 19, 116, 151, 154 f., 297, 327, 330, 334, 342 f., 357, 413, 420 f. Diffamierung, gesellschaftliche 332 Diktatur 30, 44, 114, 250, 253, 256, 263, 416, 432 – nationalsozialistische Diktatur 124, 132, 138 Dimension 29, 40, 43, 46, 51, 53, 61 f., 72, 88, 98, 102, 110, 115, 119, 124, 126, 154, 165, 206, 214, 261 f., 287, 292 f., 328, 355, 357, 370, 426 – Dimension des Erinnerns 165, 168 f.

Sachregister

– historische Dimensionen 124, 261 Diskurs 35, 45, 47, 51, 53, 60 f., 89, 97, 122, 146, 222, 295, 297, 305, 327, 372, 386, 417, 421 f. Displaced Person Camp Bergen-Belsen 371 DNVP 149 Dokumentationsstätte 51, 261, 345 Dokumentationszentrum 29, 342 – 344, 371, 378 Dokumente 19, 59, 150, 249, 270, 282, 311, 344, 374, 379, 415 Dorf 17, 76, 129, 140, 171, 201, 206, 209 – 216, 259 f., 271, 332, 358 – Dorfgemeinschaft 206 f., 210, 214, 216 – Dorfzusammenhang 207, 215 – geschleiftes Dorf 256, 259 Dorfchronik 201 f., 208, 210 – 212, 214 dpa 82 Dreißigjähriger Krieg 112, 164, 385 – 389, 391 – 398, 401 – 403, 430 Dresdner Frauenkirche 29 Drittes Reich 75, 79 f., 90, 149, 151, 266, 311 f. DRK-Bezirksverband 270 Duhner Kunstkolonie 230, 232 Durchgangslager 326, 332 – 334, 343, 347 DVP 149 Edda 408 f., 420 Ehrenmal 79, 211, 213 Eichenlaub 150 Eiderdänen 162 Eingriffe, bewusste 245, 354 Einheit 9, 31, 36, 63, 84, 99, 104, 119, 153, 157, 162, 197, 214, 295, 297, 300 – deutsche Einheit 144, 153, 169, 248 f., 251, 259, 262, 299, 301 – deutsche Einheits- und Friedensidee 299 – Einheits- und Befreiungsmythos 302 Einigungskriege 159 f., 169 f. Einordnung des Ortes 356 Einzelnarration 169 f. Eiserner Vorhang 114, 250 f., 262, 330, 334

Sachregister

Eklektizismus 208 Elite, kulturelle 194, 287 f., 290 f., 295 f., 299, 301 Entfernung 23, 51, 81, 129, 148, 254, 364 Enthistorisierung 155, 157 Entkontextualisierung 213, 242, 365 Entnationalisierung 305 Entnazifizierungsverfahren 237 Entrücktheit 146, 148, 157 Entschädigungsmöglichkeit 259 Entstehungskontext 205 f., 353 Erfahrung, kollektive 9, 23, 31, 33, 67, 77, 89, 92, 129, 137, 144, 165 – 167, 228, 267, 275 – 277, 292, 298, 307 f., 328, 353, 357 Erfassung, kognitive 277, 292, 356 Erforschung, lokale 43, 46 f., 85, 88, 114, 122, 129, 188, 190, 252, 265, 267 – 270, 275 – 277, 282, 285, 293, 302 Erhaltung 12, 185 – 188, 194, 243, 314, 400 Erholungsraum 229 Erinnerung 10, 12 f., 15, 17 – 19, 21 f., 24 f., 27 – 31, 34, 36, 39 f., 43 – 53, 55 – 60, 64 f., 70 – 72, 74 – 81, 83, 90 – 93, 100 f., 114, 117, 122, 126, 137 f., 159 – 162, 165 – 169, 171, 173, 175, 179 f., 182 f., 196, 201, 204, 209, 213 f., 221, 223, 227, 245, 247, 249 – 251, 253, 257 – 259, 262 f., 268, 272, 274 f., 277 – 280, 282, 287 – 289, 291, 294 – 299, 302, 305 – 307, 318, 323, 326 – 329, 337, 341 – 343, 345, 351, 353, 360, 364, 367 – 369, 371 – 373, 375, 377, 385 – 387, 389 – 397, 399, 401 – 403, 405, 425 – 427, 429 f., 433 – bewusste Erinnerung 98, 326 – deutsch-schwedische Erinnerung 399 – Erinnerungsakteur 88 – Erinnerungsarbeit 263, 290, 302 – Erinnerungsbildung 102 – Erinnerungsbroschüre 275 – Erinnerungsdimension 168 f. – Erinnerungsebene 90, 176, 328 – Erinnerungsforschung 73, 81, 89, 93, 386, 432 – Erinnerungsfunktion 30, 221, 240, 245 – Erinnerungsgegenstand 205

453 – Erinnerungsgemeinschaft 77 f., 90, 93, 101, 205, 249, 263 – Erinnerungsimpuls 75 f. – Erinnerungsinteresse 167 – Erinnerungskomplex 100, 117 – Erinnerungskonjunktur 79, 180 – Erinnerungskultur 11 – 13, 24, 31, 40, 43 – 47, 49, 51, 53, 72, 78, 81, 83, 90, 95, 97 – 101, 112, 122, 159, 161, 165 – 167, 169, 202, 223, 240, 247, 262, 288 f., 295, 297, 306, 309, 326, 328, 365, 371 – 373, 385 f., 396, 425 – 427, 430 – 433 – bundesdeutsche Erinnerungskultur 325, 345 – Erinnerungskultureller Bezug 102, 326 – Erinnerungskulturelles Phänomen 204 – westdeutsche Erinnerungskultur 329 – Erinnerungslandschaft 11, 26, 44, 101, 247, 249, 256, 258 f., 262 f., 310, 323 – Erinnerungsmilieu 258 – Erinnerungsmotiv 301 – Erinnerungsnetzwerk 88 – Erinnerungsort 9, 12 f., 19, 24, 26, 28 – 30, 44, 47, 77, 79 f., 86, 97, 99 – 102, 114 – 117, 123, 152, 159 f., 165, 183 – 185, 190, 198 – 200, 245, 249, 251, 258, 262 f., 265 f., 281, 285, 287 – 291, 296, 299, 305 – 307, 327 – 329, 331, 337 f., 343, 345 f., 354, 368, 385 f., 394 f., 398, 401 – 403, 427, 430, 432 – immaterieller Erinnerungsort 386 – Erinnerungspolitik 101, 183, 305 – nationale Erinnerungspolitik 299 – Erinnerungspraktik 287 – Erinnerungsrahmen 72, 76, 78, 90 – Erinnerungsraum 23, 59, 76, 128, 161, 207, 209, 216, 249, 258, 353, 365 – Erinnerungsschicht 40 – Erinnerungstradition 75, 386, 393 – Erinnerungstransfer 328 – Erinnerungsverflechtung 92 – Erinnerungszeichen 256 – 260, 263

454 – grenzüberschreitendes Erinnerungsangebot 402 f. – kollektive Erinnerung 37, 159, 168, 183, 288, 290 f., 307, 309 – 311, 327, 334, 386 – lebendige Erinnerung 388 – nationale Erinnerung 100, 168, 171, 179 f., 289, 291, 369 Erkenntnis 35, 75, 301, 376, 413 f. – Erkenntnisinteresse 83 Erkennungswert 149 Erlebnisbericht 275 Erlebnisgeneration 204, 346 Ernst-Moritz-Arndt Universität Greifswald 386, 390 f. Eroberungspolitik 21 Erster Schleswig-Holsteinischer Krieg 162 f., 189 Erster Weltkrieg 24, 69, 79, 148, 164, 179, 197, 212 f., 233 f., 237, 268, 282, 315, 412 Erstürmung der Bastille 289 Erzählung 18, 41, 44, 77 f., 125, 130, 134 – 136, 140 f., 169, 207, 215, 292, 299, 301, 369, 408 – Erzählgemeinschaft 167 – Erzählmuster 35, 41, 122 f., 129 – historische Erzählung 122 – 126, 128 f., 135, 140 f. – national ideologische Erzählung 190 Ethnikum 413 f., 416 Europäische Union 46, 99, 104, 111, 118, 263, 368, 397, 402 Exklusion 426 Fachhochschule Hannover 377 Fackelzug 149 Faktoren, generationelle 37, 41, 48 f., 61, 65, 81, 157, 205, 294, 297, 308 Familiengedächtnis 78 Familienzusammenführung 326, 333, 335 f. FDGB-Bezirksvorstand 273 FDJ-Bezirksleitung 270 Feudalsystem 223 Flottenmanöver 234

Sachregister

Flucht 58, 75, 155, 203, 247 f., 319, 325 – 327, 333 f., 339, 343, 347 – Fluchtbewegung 332, 339 – Flüchtlingsbetreuung 342 – Flüchtlingsdurchgangslager 325 – Flüchtlingskommissar 332 – Flüchtlingspolitik 327, 332 – politischer Flüchtling 326 Fluktuation 126 Föderalismus 22, 92 Fördermittel 263 Forensik 356 Forschung 9 f., 20, 43, 45 – 53, 55, 72, 75, 82 – 85, 88 f., 91 f., 102 f., 105, 107, 113 – 115, 179, 185 – 187, 189 – 195, 197 – 199, 202, 206, 210, 250, 253, 261, 267, 269, 271, 275, 287, 297, 302, 310, 327, 365, 370, 383, 387, 389, 407, 411, 413, 415, 428, 432 – Forschungsaustausch 199 – Forschungsprojekt 85, 114 f., 369, 387, 429 – Forschungstradition 185 – methodisch-theoretische Forschung 385 – ortsgeschichtliche Forschung 202 Frankfurter Allgemeine Zeitung 154, 335, 346 Frankfurter Rundschau 333 f. Freie Reichsstadt 395 Freiheitskrieg 299 Freistaat Mecklenburg-Schwerin 265, 283 Frieden 18, 74, 108, 116, 181, 191, 234, 330, 334, 340, 385, 388 f., 393, 397 f., 402 Frieden von Wien 164 Friedland-Gedächtnisstätte 327, 345 Friedlandglocke 337 Friedliche Revolution 249, 285 Friesen 222 f., 416 Friesische Freiheit 223, 244 Führung 162, 196, 275, 282, 354, 357, 364, 376, 388 Funktionär 270, 272, 281 Funktionshäftling 360, 362

455

Sachregister

Gebetsaufruf 390 Gebräuche 392 Gedächtnis 9 – 12, 19 f., 28, 30 f., 33 – 35, 37 – 40, 43 f., 46 f., 51 f., 55 – 58, 60, 63 – 65, 70 – 81, 83, 85 – 87, 89 – 93, 100 – 102, 143, 165 – 167, 169, 176, 183 f., 199, 221 f., 249 f., 256, 263, 265, 285, 287, 289, 302, 305, 309, 321, 323, 326, 328 f., 331, 336, 339, 342, 344, 346, 365, 367 – 371, 385 f., 412, 425 – 428 – europäisches Gedächtnis 30, 40, 100, 117, 368 f. – Gedächtnisbildung 36, 427 – Gedächtnisforschung 37 – 39, 87, 369 – Gedächtnisfunktion 222, 245 – Gedächtnisgeschichte 31, 183 – Gedächtniskultur 100, 117, 309, 367, 385, 430 – Gedächtnislandschaft 35, 39 f., 93, 367, 427 – Gedächtnisort 10, 34, 74, 159, 165, 167 – 169, 174, 176, 179, 182, 226, 251, 307, 368 – 370, 372, 381 – 383, 386, 429 – Gedächtnisrahmen 368 – Gedächtnisraum 9, 20, 36, 41, 216, 252, 263, 265 f., 280, 285, 329, 344, 365, 425 – Gedächtnisritual 289 – Gedächtnisspeicher 43, 50 – historisches Gedächtnis 354 – individuelles Gedächtnis 166 – kollektives Gedächtnis 37, 122, 165 – 167, 265, 326 f. – kommunikatives Gedächtnis 310, 328 – kulturelles Gedächtnis 97 – öffentliches Gedächtnis 299, 367 – offizielles Gedächtnis 288 – regionales Gedächtnis 11 Gedankengut 225 Gedankenprozess 36 Gedenken 44, 74 f., 79 f., 171, 210 – 212, 214 – 216, 291, 327, 338, 340, 345, 367, 377, 383, 385, 388, 393, 397, 399 – Gedenkarbeit 381 – Gedenkbuch 131, 159 – Gedenkkreuz 257 f.

– – – –

Gedenkkultur 214, 257, 290, 429 Gedenkmuster 212 Gedenkort 22, 26 f., 43, 52, 138, 257 Gedenkstein 176 f., 212 f., 257 – 259, 407 – Gedenktafel 138, 211, 213 f., 257, 374, 387 – Gedenktag 167, 169, 430 – Gedenktradition 399 – Gedenkveranstaltung 52, 258 – Gedenkzeichen 44, 256 f., 371 Gedenkstätte 13, 24, 26, 28, 44, 47, 51, 73 f., 78 – 81, 129, 211 f., 256, 259, 355 f., 368 – 382, 393, 399 – 402, 432 – Ahlem 13, 368, 373 – 383 – Gedenkstättenkonzeption 354, 362, 372 – Gedenkstättenlandschaft 262, 371 – 373 – Gedenkstättenpädagogik 376, 383 – Lützen 388, 393, 398 – 402 – Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück 355 – Mauthausen 376 – Stiftung niedersächsischer Gedenkstätten 372 Gefangenschaft, sowjetische 214, 337 f. Gegenwart 18 – 20, 23 – 25, 32, 36, 38, 57, 71, 82, 86, 97 f., 102 – 104, 111, 116, 118 f., 130, 137 f., 148, 159, 166, 173, 212, 215, 225, 237, 256, 262, 288, 299, 306, 339 f., 405, 409, 414, 425 f. – Gegenwartsbezug 290 – Gegenwartsorientierung 166, 288 Geheimsache, militärische 353 Gemeinschaftsorientierung 209 Generation 24, 39, 78, 111, 118, 137, 167, 212, 243, 287, 327 f., 367, 383, 413 Genosse 270 – 274, 277 Geopolitik 17, 21 f., 34, 43, 55, 81, 249, 310 Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung 106 Germanen 115, 198, 288 f., 299, 301 f., 412 f., 415 f., 421

456 – Germanenideologie und -analogie 302 Geschichte 9 – 12, 19 f., 22, 34 – 40, 43 – 49, 52 f., 57, 62 f., 67, 72 – 75, 77, 79, 82 – 88, 90 – 92, 97 – 102, 104 – 111, 113 – 118, 121 – 127, 129 – 135, 137 – 141, 143, 145, 147, 153, 155 – 157, 160 f., 165, 171 f., 179, 182, 184, 188, 191 – 193, 196, 198, 201 – 205, 207 – 211, 216 f., 223, 225, 244, 248 f., 251 – 253, 255 – 257, 259 – 263, 265 – 270, 272, 274 – 277, 280 – 282, 284 f., 287, 289 f., 294, 296 f., 299, 302, 305, 307, 309, 311, 314, 321, 323, 325 – 327, 330, 332 f., 338 f., 344, 351, 354 f., 360, 365, 368, 370 – 374, 376, 378 – 383, 386 – 391, 393, 395, 397 f., 402 f., 407 f., 410, 412, 414, 417, 421, 426, 429 – 433 – Erinnerungskultur 11 – 13, 24, , 31, 40, 43 – 47, 49, 51, 53, 72, 78, 81, 83, 90, 95, 97 – 101, 112, 122, 159, 161, 165 – 167, 169, 202, 223, 240, 247, 262, 288 f., 295, 297, 306, 309, 325 f., 328 f., 345, 365, 371 – 373, 385 f., 396, 425 – 427, 430 – 433 – europäisches Geschichtsbuch 116 – Geschichte, jüdische 60, 138, 373, 381, 429 – Geschichtsbewusstsein 99, 102 f., 105, 157, 309 – Geschichtsbild 9, 11, 35, 71, 105, 152, 162, 203, 205 – 207, 254, 265, 328, 365, 425, 427 f. – Geschichtsdeutung 91, 249 – Geschichtsdidaktik 97 f., 105, 376, 429 – 431 – Geschichtskultur 11, 26, 41, 71 – 73, 75 – 82, 85, 89 – 91, 93, 97 – 106, 110, 121 – 123, 125 – 127, 136, 159, 161, 429, 431, 433 – Geschichtsnarrativ 34 – Geschichtspolitik 43 – 47, 49, 80, 82 f., 100 f., 122, 287 f., 290, 306, 309, 432 – Geschichtsraum 183 – Geschichtsschreibung 35, 62, 160, 201, 204, 209, 393, 429 – Geschichtstourismus 21, 25, 30

Sachregister

– Geschichtsunterricht 98 f., 105, 431 – Geschichtswerkstatt 137 – Geschichtswissenschaft 19, 46, 58, 62 f., 79, 83 f., 114, 166, 184, 201, 204 f., 207, 267, 295 Gesellschaft, lokale 10, 12, 19, 22, 34, 36, 50, 57, 78, 99, 103 – 105, 117, 124, 129, 134, 153, 155, 157, 171, 185 – 187, 191 – 193, 225, 260, 262, 269, 276, 280, 283 f., 287, 296 – 299, 319, 326, 332, 346, 369, 372 f., 393, 413 Gesinnung 156 Gestapo 373, 378 Gewalt 92, 165, 215, 224 f., 250, 352 f., 355 f., 360, 362, 418 Gewohnheit 66, 112, 392 Gezeiten 240 Goldenes Zeitalter 225 Grabmonument 175 f. Grabstein 177, 208 Grenze 11 f., 20, 22, 30 f., 36 f., 39, 44, 46, 56, 65, 71, 83, 87, 123 f., 127, 148, 150, 160, 164 f., 188, 191, 198, 201, 215 f., 226, 240, 247 f., 250 f., 253 – 260, 262, 266, 294 – 296, 309, 333, 336, 364, 396, 407, 412, 429 – Grenzbefestigung 190, 193 – Grenzdokumentationsstätte 260 – Grenzgeschichte 260 – 262 – Grenzlandpropaganda 197 – Grenzraum 159, 247 – 250, 253 f., 258, 262 – Grenzregion 99, 101, 197, 199, 254, 426 – Grenzsperrgebiet 247 f., 252, 258 – Innerdeutsche Grenze 12, 247 – 256, 259 – 263, 430 Große Freiheit 129 Groß-Hamburg-Gesetz 124, 131, 133, 255 Großherzogtum Oldenburg 86 Großmacht 164, 169 Grundgesetz 257, 372 Gruppe 10, 23, 37, 40, 71, 114, 138 f., 165 – 168, 184, 204, 256 f., 265, 288 – 290, 325 f., 329, 331 f., 335, 346, 367, 379 f., 408, 426

Sachregister

– Gruppenbewusstsein 293 – Gruppengedächtnis 183 – Gruppensolidarität 296 – Gruppierungen 149 Gutswirtschaft 266 Hakenkreuz 151, 154 f., 311, 409 Hambacher Fest 289 Hamburg 11 – 13, 19 f., 22, 31, 35, 39, 51, 58, 60, 71, 74 – 79, 92, 98 f., 106, 110 f., 121 f., 124 – 141, 143 – 157, 195 f., 198, 210, 222, 228, 254 – 256, 265, 279, 284, 292, 328, 365, 413, 420, 426 f., 429 – 433 – Hamburger Denkmalschutzamt 145, 152 – Hamburger Echo 331 f. – Hamburger Feuersturm 75 – 78 – Hamburger Fremdenblatt 149 – Hamburger Lichtwoche 149 – Hamburger Stadtrecht 107 f. Handlung 63 f., 206 f., 239, 299, 373 – Handlungsform 125 – Handlungsorientierung 292 f., 307 – Handlungsraum 239 – Handlungsspielraum 360 Hannoversche Allgemeine Zeitung 330, 339 – 342, 381 Hannoversche Presse 330, 332 f. Hanse 12, 97, 101 – 113, 115 – 119, 211, 388, 395, 414, 426 f. – Hanseforschung 102 – 105 – Hanseroute 107 – Hansetage 110 f., 119 – Hansischer Geschichtsverein 102 Heer, kaiserliches 24, 235, 388, 395 f., 398 Heidentum 301 Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation 385, 387 f. Heimat 10, 18, 20 f., 75, 89, 93, 123, 126, 197, 202 – 204, 208, 212, 216, 236 f., 267, 270, 293, 319, 325, 332 f. – Heimatbewegung 21, 86 – 89, 93, 134, 196, 201, 291 – Heimatbuch-Forschung 204 f. – Heimatdarstellung 245 – Heimatforschung 201

457 – Heimatgefühl 298 – Heimatland 355 – Heimatlose 337 – Heimatort 247 f. – Heimatvertriebene 22, 320, 332 Heimkehr der Zehntausend 327, 338 f. Heldenverehrung 22 Held, nationaler 18, 171, 212, 214, 315, 399, 401 Herangehensweise, forensischer 11, 354 – 356 Herkunft, regionale 107, 145, 156, 413 Hermann 10, 24, 104, 117, 152, 273, 289, 291, 299 – 301, 305, 323, 369 – Hermannsdenkmal 290 f., 300 – 302, 305 – 307 – Hermannmythos 290, 302 – Hermannverehrung 299 Hermeneutik 55 Herrschaft 37, 67, 117, 121, 130 f., 174, 176, 391, 410, 428 – Herrschaftsräume 112, 118 – nationalsozialistische Herrschaft 105 – schwedische Herrschaft 387 – 392, 394, 401 f. – sowjetische Herrschaft 339 Herzogtum 131, 162, 183, 185, 196 f., 255, 257, 259, 265, 387, 389 f. – Holstein 20, 131, 161 f., 164, 189, 192, 197, 206, 249, 255 – Lauenburg 161 f., 189, 192, 252, 254 f., 257, 259, 265 – Mecklenburg-Schwerin 255, 280, 392 – Mecklenburg-Strelitz 255, 284 – Pommern 20, 279, 343, 387 – 393, 401 – 403, 431 – Schleswig 11, 13, 20, 100, 127, 161 – 164, 171, 175, 177, 183 – 197, 199 f., 203, 221, 225, 249, 265, 408 – 410, 412, 432 Heterogenität 82, 87 f., 91, 290 Hierarchie 39 f., 48 – 50, 171 Hinterlassenschaft 30, 161, 358 f., 365 – historische Hinterlassenschaft 184 – materielle Hinterlassenschaft 47, 354 f. Historical reenactment 418 – 420

458 Historiecenter Dybboel Banke 179 Historikergesellschaft 274 Historikerstreit 369 Historiografie 201, 216, 393, 406, 431 f. Historische Kommission für Niedersachen und Bremen 11, 82, 88 f. Historismus 157, 296 Historizität 61, 183, 368 Holocaust 44 f., 50, 53, 74, 288, 329 f., 367 – 371, 376, 379 – Holocausterinnerung 369 – Holocaustgedenktag 288 – Holocaust Mahnmal 44 f., 50, 53 – Holocaust-Museum 372 Hügelgräber 185 Humanität 327, 346 Idealisierung 103 Identifikation 85, 99, 123, 134, 149, 172, 188 f., 198 f., 204, 284 f., 292 f., 296, 302, 388 – Identifikationsfigur 143 – Identifikationskonzept 85 – Identifikationsprozess 184 – Identifikationsraum 125, 138, 265 Identität 10, 12, 19, 21, 33 f., 53, 71, 82 f., 88, 91 f., 102, 119, 126, 129, 140, 143, 164, 184, 205, 215, 223, 262, 265 f., 271, 280, 282, 284, 287, 289, 292 – 298, 301, 307, 327, 334, 367 f., 386, 394, 426, 429 – europäische Identität 46, 97, 368, 402 f. – historische Identität 83, 87, 265 – Identitätsbezug 157 – Identitätsbildung 22 f., 187, 289, 294 f., 297 f. – Identitätsforschung 292, 297 – Identitätsklammer 288 – Identitätskonstrukt 184 – Identitätskonstruktion 82, 102, 184, 204 – Identitätspolitik 368 – Identitätsstiftung 187, 215, 291, 294, 296 – Identitätszuschreibung 294 – kollektive Identität 45, 90, 294 f., 298

Sachregister

– kulturelle Identität 10, 140, 167, 262, 293, 297, 326 – nationale Identität 88, 126, 289, 294, 296 f. – regionale Identität 84 – 88, 91, 122 – 124, 126, 146, 156 f., 184, 198, 200, 289, 291 – 295, 297 f., 306 Ideologie 22, 39, 86, 119, 210, 223, 236, 245, 277, 293, 298, 301, 311, 394 – Ideologische Aufladungen 300 – nationalsozialistische Ideologie 114, 198, 236, 412 f. Idstedt-Löwe 162, 180 – 182 Ikonografie der Konzentrationslager 356 Ikonologie 154 Illustration 208, 229, 233, 412, 418 Image 124, 290, 341 Imagination 18, 55, 62, 65 f., 367 Imagines community 78, 90 Imperialismus 275, 277, 282 Individuum 172, 205, 289 Industrialisierung 107 – 109, 121, 131, 255, 266, 280, 296 Industriearbeiterschaft 280 Informationspolitik, restriktive 337 Inklusion 48, 426 Innenministerium, niedersächsisches 341 Installation 223, 239 f., 242 Institut für Kultur und Geschichte der Deutschen 344 Institutionalisierung 51, 267 Instrumentalisierung 77, 148, 157, 245 Inszenierung 44, 93, 131, 151, 338 f., 420 Intention 84, 148, 156, 203, 205, 243 Interaktion 38, 49, 78, 84, 90, 166, 360, 377 Interesse 29, 45 – 47, 73, 82, 100, 105, 126 f., 133 – 135, 137, 139, 153 f., 184, 188, 192 f., 198 f., 205, 209 f., 228, 233, 249, 263, 288 f., 297, 302, 308, 335, 337, 339, 353, 369, 381, 386, 390, 395, 398 – 400, 410, 419, 425, 427 – geschichtspolitisches Interesse 250 – Interessensgruppen 184 – öffentliches Interesse 371

459

Sachregister

Internationalismus, proletarisches 269 Interpretation 74, 193, 196, 198 f., 202, 213, 299 Inventarisierung 191 Israelitische Gartenbauschule Ahlem 373 Judenverfolgung

203, 216, 369

Kaiserreich 85, 105, 164, 176, 301, 413 Kalter Krieg 92, 114, 262 Kampfbegriff 97 Kanonisierung 290 Kapitulation 279 Kapo 360 Kapp-Putsch 272, 274, 282 Kategorie 12, 19, 21 f., 32 f., 37, 43 f., 46, 48, 57, 62, 70, 90, 118, 156, 211, 287, 292, 355 – Kategorien des Erinnerns 287 – räumliche Kategorie 354 Kieler Altertumsgesellschaft 186 – 189, 192 Kieler Museum für Vaterländische Altertümer 412 Kirche 11, 17, 25, 27, 74 f., 240, 288, 291, 298, 336, 338 Kirche, katholische 303, 337 Klassenkampf 153, 276 Klimawandel 221, 226, 244 Klinke-Mythos 173 Kollektivierung 281 – Kollektivgedächtnis 368 – Kollektivgefühle 289 – Kollektivierung der Landwirtschaft 281 Kommunikation 36, 43, 51, 63, 65, 71, 73, 80, 82, 89, 118, 123, 125, 127, 166, 327, 370 – Kommunikationsraum 68, 81, 118 – Kommunikationsschrift 408 Kommunismus 262 Konfessionalismus 308 Königliche Kommission für die Aufbewahrung von Altertümern 185 Königreich Dänemark 162, 410 Königreich Hannover 86

Konsens, gesellschaftlicher 83, 90, 97, 289, 295 Konstruktion 10, 30, 33 – 36, 38, 44, 53, 81, 84 – 87, 90, 92 f., 103, 123, 154, 184, 206 f., 210, 297, 299, 310, 413 – interessengeleitete Konstruktion 203 – Konstruktionsarbeit 119 – Konstruktionsthese 296 Kontextualisierung 208, 362 Kontinuität, historische 64, 85, 140, 213, 215, 284, 288, 318, 427 Konzentrationslager 80, 314, 335, 355 f., 360, 362, 371 – KZ-Außenlager 252, 352, 362 f., 381, – KZ Außenlager Farge 362 f. – KZ-Baracke 252 f. – KZ Gedenkstätte 24, 79 – 81 – KZ-Häftlinge 76, 312, 319, 351 f. – KZ Neuengamme 80, 252, 314, 360, 362 – Stammlager Neuengamme 352, 362 – Lagergelände 342 – 344, 355, 362, 365 – Lagerkosmos 364 – Lagerstraße 362 – 364 – Lagerverwaltung 344 – Leichen von Häftlingen 357 Konzept 10, 12, 30, 33 f., 55, 57, 61, 63 f., 70, 83, 88, 98, 100, 102, 119, 152, 165, 184, 216, 228, 261, 267, 292 f., 296 – 298, 326, 379, 383, 386 f., 402, 411, 422 – Konzept der ästhetischen Beziehung 228 – Konzeptkunst 239 – politisches Konzept 184 Kopenhagener Altertumskommission 184 Kopenhagener Museum 186, 194 Körber-Stiftung 98 f. KPD 271 f., 275, 277 – 280, 282 f., 316 Krieg 40, 73, 92, 112, 114, 130 f., 138, 141, 151, 159 – 166, 169 – 171, 173, 175, 179, 181 – 183, 189 f., 193, 195, 211 – 215, 222, 234, 262, 325, 329, 336, 342, 351 – 353, 355, 358, 360, 364, 373, 385 – 389, 391 – 398, 401 – 403, 413, 416 – 418, 427, 429 f.

460 – Kriegergedenken 201, 207, 210, 212, 214 – 216 – Kriegseinwirkungen 128, 135 – Kriegsende 79, 178, 314, 316, 330, 353, 356 f. – Kriegsentschädigung 389 – Kriegsfolgen 339 – Kriegsgefangene 215, 312, 326, 337 f., 346 f., 351, 360, 364 – Kriegsheimkehrer 337, 339, 345, 347 – Kriegsmarine 234, 237, 351 f., 359 f., 364 – Kriegsopfer 79 – Kriegsverbrechen 77 Kult 11, 150, 154, 290, 401 Kultur 10, 17, 19, 34, 39 f., 44, 46, 62, 64, 81, 84, 93, 97, 99, 111, 114, 145 f., 161, 167, 171 f., 197, 222, 245, 262, 268, 284, 298, 301, 305 f., 319, 326, 365, 375, 377, 391 f., 403, 412 f., 418, 428, 432 f. – Kulturbehörde 149, 154 f. – Kulturbereich 121 – Kulturbund 270 – Kulturexpansion 301 – Kulturförderung 402 – Kulturgeschichte 23, 99, 103, 143, 157, 204, 274, 289, 310, 387, 389, 394, 432 – Kulturkampf 296, 302 – Kulturkreis 21 – Kulturkritiker 148 – Kulturlandschaft 22, 30, 160, 225, 243 – Kulturpolitik 51, 105, 390 – Kulturreform 145, 278 – Kulturwissenschaften 9, 33, 38, 43, 51, 61 – 63, 73, 100, 243, 292, 370 – politische Kultur 100, 105, 114, 291, 367 – schwedische Kultur 390 f., 394 Kunst 12, 23, 58 f., 121, 148, 151, 153 f., 157, 165, 191, 221 – 223, 225 f., 228, 233 f., 237, 239 – 241, 244 f., 405, 408, 418, 430 Künstlerhaus Seebüll 232 Küren 223 Küstenbezirk 268

Sachregister

Lager 7, 13, 73, 80, 97, 253, 312 – 314, 318, 325 – 347, 352, 354, 362, 371, 397, 432 Landarbeiterschaft 280 LandArt 239 f., 245 Länder, postkommunistische 11, 22 f., 49, 83, 87, 91, 106, 116, 124, 177, 251, 255, 265, 333, 343, 365, 368, 386 – 388, 392 – 394, 402 f., 415 Landesfachstelle für Gedenkstättenarbeit, Mecklenburg-Vorpommern 252 Landesgedächtnis 22, 71 f., 83 Landesgeschichte 22, 83 f., 87 f., 91, 187, 202, 208, 284, 291 f., 295, 312, 327, 334, 429, 431 Landesschule für zivilen Bevölkerungsschutz 342 Landgewinnung 225, 235 Landschaft 18, 20, 22, 30, 39, 46, 49, 51, 86, 91, 221 – 223, 225, 228 – 230, 232 f., 237 f., 240, 242, 249, 251, 254 – 256, 261, 292 f., 320, 354, 405, 409 f., 414, 417, 427 – Landschaftsaneignung 228 – Landschaftswahrnehmung 222 – subjektivistischer Landschaftsbegriff 222 Landsmannschaften 75 Landstände 389 Lebensgeschichte 76 f., 140 Lebenshorizonte 248 f. Lebensraum 21 f., 39, 216, 247 – Lebensraumideologie 21 Lebensstil, höfisch-repräsentativer 146, 308 Legende 108, 125, 129, 173, 223, 386, 392, 397, 419 Legitimationsquelle 291 – historischer Legitimationsversuch 307 Lichtkunst 239 Limes 193, 199 Lobbyarbeit 88, 347 Lokal 9 f., 12, 31, 35, 40 f., 48, 71 – 83, 89 – 93, 95, 119, 122 – 127, 134 – 138, 140, 143, 145, 157, 168, 176, 180 – 186, 192, 194 f., 197, 199 f., 202, 204, 206 f., 210, 212, 216, 249, 251 – 253, 261, 263, 266,

Sachregister

279, 288 f., 292, 294, 301 f., 307 f., 310 f., 314, 318, 320 f., 323, 325, 328 – 331, 337 f., 340 – 342, 344 – 347, 355, 368, 382, 386, 403, 405, 426 f., 431, 433 – Lokalbewusstsein 197 – Lokalgeschichtsschreibung 201 – Lokalität 184 Londoner Protokoll 162 Lübisches Stadtrecht 113 Luftkrieg 74 – 76, 78 f. Luftwaffe 358 f. Mädchenhaus 374 Magdeburger Recht 97, 102, 112 – 117, 119 Magdeburger Schöffenarchiv 112 Magischer Realismus 237 Mahnmal 44 f., 50, 53, 74 f., 211, 226, 353 f., 371, 375 Mahnung 74 Mangelernährung 362 Marine 163, 351, 353, 355, 418 – Bundesmarine 356 f. – Marinemalerei 225, 233 – Rüstungsprojekte der Kriegsmarine 352 Marschlandschaft 233 Massenkultur 287 f. Materialität 73 f., 91, 407 Medien 23, 64 f., 82, 89, 103 – 105, 117, 167, 172, 183, 204, 245, 309, 334, 337 f., 387 – gedächtnisrelevante Medien 290 – Medialisierung 204, 369 f. – Trägermedien 104, 110 Medium, öffentliches 10, 34, 46, 64 f., 68 f., 183, 201, 204 Meisternarration 104, 129, 159, 167 – 169, 174, 176, 179 Memoiren 55, 276 f. Menschenrechte 376 – Menschenrechtsverletzungen 203, 251, 263 Menschenverachtung 262 Milieu 19, 27, 39, 73, 81, 91, 280, 288, 296, 298, 420

461 – kulturelles Milieu 298 Militär 209, 298, 315 – britische Militärverwaltung 325, 336 – Militärinternierte 351 – Militarismus 176, 271, 275, 277, 282 Minderheiten 131, 325, 399 – Minderheitenrechte 165 – sprachlich-kulturelle Minderheiten 161 Mobilität 126 Modernität 173, 355, 359, 362 – Moderne 23 f., 29, 83, 86 – 88, 112, 126, 134, 143 f., 148, 153 f., 186, 212, 215 f., 245, 255, 287, 292, 296 – 298, 300, 338, 376, 421 – Modernisierungsprozess 131 Monarchie 284, 298 Monument 143 f., 146 – 157, 176, 178, 184 f., 195 Münchner Thulegesellschaft 409 Museum 13, 26, 104, 121, 153, 175, 184, 192 – 197, 199, 206, 253, 289, 316, 345, 381 f., 392 f., 397 f., 400, 402, 405 – 408, 410, 412 f., 416, 421, 431 – Museologie 179, 429 – Museum des Dreißigjährigen Kriegs 392, 397, 402 – Museum of Tolerance 376 – Museumsführung 186 – Museumspark in Kalkriese 305 – Museumsprojekt 252, 370 – Privatmuseum 400 Mythos 102 f., 151, 157, 163, 166, 172, 188, 288 f., 296, 299, 301, 305, 307, 316, 327, 357, 393, 419 – 421 – Mythologie 189 – nationaler Mythos 150, 172, 296, 299 Nachkriegszeit – Nachkriegsdeutschland 334, 342 – Nachkriegselend 329 – Nachkriegsgeneration 20 – Nachkriegsgeschichte 252, 342, 346 – Nachkriegsgesellschaft 327, 331 – 333, 337, 346 – Nachkriegsjahre 151, 310, 332

462 – – – –

Nachkriegsordnung 398 Nachkriegsrezeption 156 Nachkriegsutopien 353 Nachkriegszeit 126, 134, 237, 316, 329 f., 332, 346, 373, 415 Nachnutzung 254, 357, 365 Nachwirkung 105 Nähe 36, 49, 51, 56, 66 f., 79 – 81, 90, 101, 113, 119, 124, 126, 131, 156 f., 163, 203, 211, 214, 216, 254, 263, 270, 291, 298, 302, 315, 351, 376, 388 f., 391 f., 401 f., 413 – räumliche Nähe 80, 131, 390 – soziale Nähe 80, 90 Nahkontaktzone 102 Nahraum, regionaler 99, 123 Narrativ 11, 35 f., 41, 52, 71, 73, 166 f., 169, 172, 290, 311, 328, 418 – europäisches Narrativ 368 – Hauptnarrativ 212 – nationales Narrativ 290 – regionales Narrativ 41 Nation 99 – 101, 146, 157, 169, 212, 250, 287, 290, 295 f., 309, 385, 387 f., 402 Nationaldenkmal 143, 153, 187, 291 Nationale Front 271 Nationalismus 101, 153, 161, 172, 296, 308, 401 – Nationalismusforschung 295 Nationalsozialismus 12, 21, 50, 63, 79 f., 115, 129, 132, 136, 138, 160, 174, 202 – 204, 210, 213, 235, 237, 245, 266, 279, 281, 311, 321, 367, 369 – 372, 379, 382, 409, 412 f., 416, 430 f., 433 – Nationalsozialisten 235, 237, 281, 302, 311, 359, 368 f., 371, 373, 381 – nationalsozialistische Bevölkerungspolitik 329 – nationalsozialistische Rüstungspolitik 280 – nationalsozialistischer Völkermord 40 – nationalsozialistische Verfolgung 23, 79, 129, 375 – NS-Adler 151 – NSDAP 149, 237, 314 – 317, 409

Sachregister

– – – – – – – – – – –

NS-Geschichte 203, 322 NS-Gewalt 212 NS-Herrschaft 21 NS-Historiografie 393 NS-Propaganda 77 NS-Regime 85, 315, 317, 354, 393 f. NS-Staat 28, 150 NS-Verbrechen 80 f., 369, 371 – 373 NS-Verfolgung 215 NS-Vergangenheit 104, 370, 372 NS-Zeit 73, 75, 103, 165, 203, 216, 302, 310, 355, 372, 376, 381 Nationalstaat 102, 118, 154, 164, 167, 295, 300, 307 – Nationalbildungsprozess 85 – Nationalstaatsbildung 183 Nato-Doppelbeschluss 153 Naturauffassung 225, 239 Naturraum 221 f., 239, 242 f., 260 Naturverständnis 225 Naturwahrnehmung 228 Netzwerk 59, 88 – 91, 111 f., 127, 192, 308, 322, 347, 377, 419 Neubau 29, 66, 138, 255, 379 Neuer Vorwärts 327, 334 Neues Deutschland 268, 270 Neukonzeption 375, 377 f., 381, 383 Neuorientierung 61, 299, 394 Neuzeit 103, 105, 107 f., 110, 113, 115, 134, 169, 213, 287, 299, 394, 431 Niederdeutsch 144 – 146, 388 Niederlage 67, 164, 171, 179, 190, 195 Niederlage der Wehrmacht 359 Nissenhütte 345 Nominalismus 20 Norddeutsche Zeitung 331 Nordland- und Mittelmeerfahrten 234 Nordseeküste 93, 223, 229 f., 232, 238, 244 f. Notquartiere 330 Novemberverfassung 162 NS-Verbrechen 340, 356, 373, 376, 383 Objektivität 198, 202, 276, 412 Objekttausch 186 Öffentlichkeit 45, 47, 75, 103, 105, 150,

463

Sachregister

155, 157, 185, 195, 204, 253, 276, 296, 304, 309, 333, 345, 354, 376 f., 381, 383, 431 Operation Link 335 Opfer 22 f., 79, 212 – 215, 226, 262, 273, 338, 340, 342, 351 f., 360, 371 f., 375, 408, 413 – deutsche Opfer 329 f., 337, 340, 345, 347 – Opfergedenken 22 – Opfergruppe 259 f., 368, 372 – Opfertod 212, 215 f. Oral history 75, 276, 433 Orientierung 31, 63, 65, 136, 159, 289, 296, 376, 426 – individuelle Orientierung 291 – politische Orientierung 298 Ort 13, 18 f., 21, 25 – 32, 37, 39 f., 43 – 50, 52, 57, 60, 62 – 66, 69, 71 – 75, 78 – 80, 82, 90, 92, 99, 112, 119, 124 – 126, 129 f., 136, 138, 145 f., 156, 167, 169, 171, 175, 177, 179, 183 f., 188, 190, 193, 198 f., 201 – 204, 207 – 212, 214 – 217, 226, 240, 249 – 254, 256 f., 259 f., 263, 279, 288, 299, 301 f., 304 f., 309, 314, 320, 326 f., 330 f., 334, 338, 342, 345 – 347, 352 f., 355 – 357, 360 – 362, 364 f., 368 – 371, 374, 376, 378 – 383, 388, 393, 398, 400, 402, 405, 408, 412, 416, 421 f., 428, 432 – funktionaler Ort 359 – historischer Ort 29 – imaginierter Ort 43 – Ort der Kontemplation 228 – Orte des Terrors 365 – Ortschronik 12, 201 – 216 Osterschlacht 195 Ostkolonisation 115 Ostsee 110, 113, 229, 249, 254, 390, 414, 427 – Ostseehandel 388 – Ostseeküste 229, 388 f., 392, 395, 402 – Ostseeraum 116 f., 387 f., 390, 401 – Ostseeregion 390, 401 Ozean 23, 228 Palimpsest

39, 43, 63, 67, 73

Paradigma 20, 25, 49, 105, 323, 369 Parteiveteran 270, 273 – 275, 277 Pathos, nationalistischer 148, 175, 177 Perspektive 9, 36, 41, 44, 46 – 51, 53, 63, 69, 71 f., 81, 84, 88, 92, 98 – 101, 103, 115 f., 119, 131, 133, 165, 202, 204, 206, 208, 213, 248, 263, 288, 295, 297, 302, 326, 328 f., 343, 347, 370, 426 – emotionale Perspektive 292 – historiografische Perspektive 35, 205 – kultur- und geistesgeschichtliche Perspektive 221 – transnationale Perspektive 169 Phänomen, mentales 18, 32, 72, 78, 85, 101 f., 104, 111 – 113, 118, 137, 169, 202 f., 206, 222, 228, 292, 296, 395 Pilotprojekte 267 Planung, rationale 109, 358, 379 Plattdeutsch 388 Playboy 155 Politik, revanchistische 46, 63, 84, 97 – 99, 106, 122, 133, 140, 166, 203, 210, 283, 296, 298, 301, 311, 315, 317, 321, 332 f., 345, 370, 372, 378, 393, 402 f., 414, 430 f. Politik, revanchistische 157 Popularisierung 188, 195, 267, 269, 271 Positionierung, erinnerungspolitische 141, 336 Postkartenmotive 234 Potsdamer Abkommen 325 Potsdamer Garnisonkirche 24, 29 Prägemuster 298 Pressepolitik (der Lagerleitung) 341 Programm 306, 329, 337, 339 f. – erinnerungspolitisches Programm 329, 339 – museumspädagogisches Programm 398 Projekt 20, 75 f., 85, 102, 108, 115, 144, 146, 199, 209, 235, 245, 254, 301, 345, 370, 372, 377 f., 381 f., 387, 398, 401 – 403, 432 Projektion 355 – individuelle Projektion 359 – Projektionsraum 148, 221

464

Sachregister

Propaganda 77, 197, 234, 268 – 270, 273 f., 282, 352 Protestantismus 92, 114, 389, 401 – Protestanten 389, 401 Protestmarsch 334 Provinz 71, 80, 87 f., 185, 191, 193 f., 198 f., 255, 265, 279, 311, 342, 389 f., 392, 401 Publikationen 86, 89, 134, 138, 172, 186, 198, 202, 210, 268, 274 f., 290, 411 Quellenorientierung

105

Radio Bremen 353 Rasse 145 – Rassenideologie 198 – Rassenpolitik 329 – Rassenraum 235 – Rassismus 406 Raum 9 – 12, 15, 17 – 34, 36 – 40, 43 – 53, 55 – 65, 67, 69 – 73, 78, 81, 83 – 88, 90 f., 102 – 104, 106, 109, 118, 123 – 129, 139, 141, 146, 151, 157, 168, 177, 184, 196, 206 f., 210 – 212, 215 f., 222 f., 227, 230, 237, 239 f., 243 – 245, 248 f., 254, 258, 267, 269, 292, 309 f., 323, 328, 332 f., 337, 339, 354 f., 360, 362, 365, 370, 375, 405, 407, 410, 416, 422, 425 – 427 – entfernter Raum 355, 364 – gemeinsamer Raum 184 – historischer Raum 28, 354 – 356, 364 – kollektive Raumkonstruktion 40 – konkreter Raum 357 – öffentlicher Raum 46, 129, 184, 227, 309 – Raumalter 37 – Raumbewusstsein 292 – Raumdenken 23, 50, 60 – Raumerfahrung 23, 35, 40 – Raumgebundenheit 57, 67 – Raumindividualität 21 – Raumkonzept 210 – Räumlichkeit 10, 19, 25, 28, 48, 55, 57 f., 63 f., 68, 70, 376 – Raum- und Gedächtnisperspektive 33 – Raum- und Geschichtsbilder 297

– Raumzeit 39 – realer Raum 69 – regionaler Raum 328 – relationale Raumordnung 72, 78 – Verdichtungsraum 166 – vergessener Raum 355 – verschwundener Raum 360, 362 Recht 17, 27, 33, 101, 112 – 119, 132, 148 f., 152, 173, 180, 187, 196, 213, 223, 266 f., 271, 278, 281, 285, 290, 305, 315, 318, 355, 370, 381, 389, 392 f., 395, 408 f., 430 – Rechtsraum 112 – Rechtstradition 112 f. – römisch-kanonisches Recht 112 Reduktionismus 33 Reflexionsmedium 222, 244 Reformation 299 Region 9, 11 f., 20, 27 f., 30 f., 35, 37, 41, 44, 46, 49, 71 f., 82 – 87, 89, 91 – 93, 99 – 102, 111 – 113, 117, 119, 124, 126 f., 143, 145 f., 183, 197, 199 f., 203, 206, 230, 232, 244, 249, 254, 261, 265, 283, 287, 290 – 296, 298, 301 f., 305 – 307, 328, 334, 343 f., 352, 377 f., 380 f., 385 f., 388, 390, 401 – 403, 426, 428 – Regionalbewusstsein 80, 84, 292 f., 298 – Regionalbezug 108 – Regionalgeschichte 81, 83 – 85, 88, 99, 203, 206, 267, 282, 288, 295, 297, 355, 429, 431 – Regionalgeschichtsforschung 282 – Regionalidentität 123 – Regionalismuskonzept 296 – Regionalität 83, 267, 294, 297 – Regionsmarketing 198 – Regions- und Gedächtniskonflikt 87 Registrierungsstellen 329 Rehabilitierungsmöglichkeiten 259 Reich 48, 67, 75, 79 f., 87, 90 f., 103, 144 – 147, 149 – 151, 159 f., 164, 198 f., 233, 237, 255, 266, 277, 300, 311 f., 315, 364, 377, 385, 387 – 391, 410, 416, 418 – Reichsarbeitsdienst 214 – Reichseinigung 160

Sachregister

Reichsgründer 151 Reichsgründung 146 Reichshauptstadt 146, 320 Reichsidee 144, 296 Reichskanzler 144, 147, 150, 152, 154, 399 – Reichsmark 147 – Reichsreformpläne 291 – Reichsschwert 144 Reise 18, 20, 58, 68, 110, 221, 223, 225, 230, 244, 307, 332, 387, 391 – Reisebeschreibungen 229 – Reisemöglichkeiten 392 Rekonstruktion 26, 44, 46, 101, 166, 209, 260 f., 263, 284, 297, 355, 362 Reliquie 26, 28 Rembrandtdeutscher 145 f. Repräsentation 43, 47 – 51, 53, 126, 311, 420, 426 – Repräsentationsbedürfnis 225 Republik der Vereinigten Niederlande 225 Restaurierung 75, 111, 255 Restaurierung der Schwedensäule 394 Rezeption 51, 112, 122, 143, 153, 156 f., 297, 306, 328, 390, 430 – Rezeptionsgeschichte 103, 143, 409 – Rezipient 39, 51, 53, 169, 289 Rituale 89 f., 288, 291, 298 Roland 143 – 145, 148 – 155, 157 – Rolandsidee 144 Romantik 228 f., 239, 401 Römertum 301 Rote Armee 325 Rückbesinnung 151, 391, 393, 396 Rücksiedler 336 Rück-Wirkung 48, 50 f., 53 Ruhestätte 17 Ruinenteil 354, 357, 359 f. Runenstein 196, 406 f. Rüstungslandschaft 354, 364 f. – – – – –

SA 197, 214, 216, 415 Sachsen 99, 115, 252, 280, 298, 399, 416 Sachsenkönige 188 Sakrallandschaft 92

465 SBZ 44, 256, 265 f., 279 f., 325 – 327, 332 – 336, 343, 346 Schanzen 161, 163 f., 170 f., 174, 176 f., 189, 195 Schaufenster-Metaphorik 341 Schauplatz 9, 64, 138, 161, 221, 234, 244, 325, 327 Schenkung 186 Schlachtdarstellung 387, 398 Schlachtfeld 30, 40, 159, 166 – 169, 172, 174 – 177, 179, 398 – 401 Schlachtschiff Bismarck 150 Schlacht von Balaklawa/Wörth/Mats-laTour 169 Schleswiger Altertumsverein 184, 195 – 197, 199 Schleswiger Identitäten 183 Schleswig-Holstein 11 – 13, 83, 99, 106 – 109, 111, 127, 129, 131, 159 f., 171, 185 – 187, 189, 191 – 194, 199, 206, 247, 250, 254 – 257, 259, 430 – Schleswig-Holsteinische Altertumsgesellschaft 184 – Schleswig-Holsteins Befreiung 159 – Schleswig-Holsteinische Bewegung 189 – Schleswig-Holsteinischer Krieg 162 f., 171, 189 Schloss 108, 320, 396 Schloss Gottorf 194, 196, 407 Schuldidaktik 98 Schulgeschichtsbuch 117 Schwedenstein 392, 398 Schwedenstraße 13, 386 f., 389 f., 394 f., 397 f., 401 – 403, 427 Schwedenzeit 387, 391 – 394 Schwedische Botschaft Berlin 386, 389 f. Schweriner Bezirkskommission 267 f., 275, 282 SED 27, 250, 253, 267 – 276, 278 f., 281 – 283, 393 – SED Baupolitik 27 – SED-Bezirksleitung 268 – 270, 273 f., 277 – SED-Führung/Herrschaft/Regime etc 247 f., 250, 253, 258 f., 262

466 – SED-Kader 393 Seebäderwesen 229, 244 Seeblockade 395 Seefahrtsgeschichte 233 Seekrieg 234, 351 Seemänner 229 Seeschlacht 221, 234 Sehweise 221 f., 228, 240 f., 245 Selbstbewusstsein 225 Selbstbezug 288 Selbstbild 10, 34, 88, 126, 136, 209, 287, 307, 326 f. – kulturelles Selbstbild 127 Selbstkonzept 293 Selbstlegitimation 372 Selbst- und Fremdbilder 87 Selbstvergewisserung 24, 290 Selbstvernichtung 237 f. Selbstverortung, sinnhafte 126 Selbstverständnis 45, 100 – 102, 126, 147, 206, 272 Selbstviktimisierung 340 Senat 79, 121, 144, 353 Sensibilität 152, 156 – Sensibilisierung 10, 33 f. Shoah 56 f., 429 Siegessäule 170, 387 Sinnstiftung 122, 213, 215 Sinnwelten 27, 287 Sinti und Roma 50 Skarthistein 407, 409 Sklaverei 335 Skulpturen 239 Soldatenkult 216 Sonnenrad 150 Souveränität 118, 146 Sowjetunion 269, 271, 337 f. – Sowjets 247 Sozialdemokratie 281 – SPD 19, 79, 140, 270 f., 278 – 281, 318, 321, 331, 334, 377 Sozialismus 30, 257, 269, 271 f., 278 Sozialistengesetz 280 Soziokultur, regionale 294 f. spatial turn 19, 23 f., 31, 38, 43, 46, 51, 57 f., 60 – 63, 70, 73, 81, 122, 365, 370

Sachregister

Spielraum, lokaler 156 Spur, bauliche 25 f., 46 – 49, 63, 73 – 76, 90 f., 122, 124 f., 130, 254 – 256, 284, 301, 352, 355 f., 358 – 362, 370 f., 394 SS 198, 214, 216, 313, 318, 352, 357, 360, 413, 415 – SS-Ahnenerbe 415 – SS-Division Wiking 415 – Wachmannschaften der SS 352, 360 Staatssicherheit 247, 257 Stadt 11 f., 29 – 31, 35, 43 f., 52, 55 – 57, 59 f., 63, 65, 67, 70 – 75, 79 f., 82, 93, 99, 104 – 106, 109 f., 114, 121 – 129, 131 – 135, 138, 145 – 147, 154, 156, 180, 192 f., 197, 210, 225, 252 f., 255, 265 f., 268, 276 f., 310 – 312, 314 – 323, 327 f., 334 f., 344, 365, 370, 378 – 382, 388, 392 – 400, 402 f., 409, 412, 414, 431 f. – frühmoderne Stadtpolitik 131 – Stadtarchiv Schwerin 270 – Stadtgeschichte 74, 108 f., 125, 130, 133 f., 137, 311, 393, 403, 432 – Stadtrecht 113, 143 – Stadtrechtsfamilien 113 f. – Stadtteilidentität 122 – Stadtteilraum 125 Stammesräume 21 Standbild 125, 144, 151, 155, 399 Statue 143 Stein-Hardenbergsche-Reformen 283 Stilisierung, nationale 148, 170, 209, 214, 301 Stralsundischer Relations-Courier 390 Straßennamen 73, 309 f., 314 f., 317 – 319, 323 Studentenschaft 144 Sturmflutkatastrophen 221 f., 244 Suchdienste 337 supranational 31, 118 f. Sydslesvigsk Forening 198 Symbol 39, 75, 77, 89, 100, 123, 125, 151 f., 160, 167, 170, 177, 180, 182, 184, 189, 262, 290, 292, 295 f., 301, 327, 337 – 339, 346 f., 359, 367 – Symbolik, nationale 75, 157, 179, 301 – Symbolträger 143, 292

Sachregister

Tatort 355 f. Technisches Hilfswerk 342 Teilung, deutsche 24, 26, 46, 162, 247 f., 250 f., 255, 257, 263, 318, 337, 339 f., 343, 347 Teilung Deutschlands 31, 385, 393 Territorium 22, 39, 45, 88, 126, 164, 178, 255, 370, 389 Themen- und Ferienstraßen 386 Thyra-Mythos 188 Topografie 44, 58, 60, 62, 65, 67, 78, 80, 91, 354 Topographie des Terrors, Berlin 26, 80, 382 Topos 17, 169, 330 Tote 64, 79, 163, 213, 223, 244, 257, 336, 352, 398 – Totenehrung 340 – Totengedenken 287 Tourismus 229, 232, 386 f., 402 f. Tradition 10, 12, 22, 29, 60, 85, 87, 92, 98, 106, 109 – 111, 116 f., 127, 132 – 134, 140, 157, 172, 179, 229, 274, 280, 290, 296, 301, 316, 394, 396, 399, 427 f. – geschichtliche Traditionen 125 – Tradierung 76, 392 – Traditionsbezug 157 – Traditionsbildung 367 – Traditionslinien 184 Transformation 67, 76, 97, 169, 183, 370 Trophäe 28

Übereinkunft, soziale 288, 335 Überformungen 354 Übergangsräume 91 Überlieferung, literarische 12, 133, 188 f., 275, 279, 301, 303, 375, 412 Überreste 17, 73, 76, 185, 247, 249 – 251, 253 f., 256, 355 f., 362, 365 – Überreste, bauliche 254, 355 f., 362 Überwachung 248 U-Boot 76, 315, 351 – 355, 357 – 359, 364 f. – U-Bootbunker Valentin 76, 352 – 360, 362, 364, 431 – Tarnname »Valentin« 351 – U-Bootkrieg 351, 364

467 – U-Boot-Waffe 351 – U-Boot-Werft 351, 353, 359 f. Uelzen-Bohldamm 325, 327 f., 331 – 335, 339 – 344, 347, 430 Ultramontanismus 92, 301 Umkodierung, symbolische 74 UNESCO 116, 199, 221 f., 261 United States Holocaust Memorial Museum 376 Universalisierung 288, 369 Universität Göttingen 92, 430 Universität Hannover 377, 430 Universität Kiel 189, 191, 412, 430, 432 Universität Lund 390 Universität Uppsala 390 Unkultur 146 Unternehmen Barbarossa 415 Unterschiede, kulturelle 12, 51, 92, 109, 131, 213, 247, 255, 290, 292, 326, 335, 382, 386, 425 f. Urbanität 266 UNESCO-Weltkulturerbe 199 UNESCO-Weltnaturerbe 221 Varusausstellung 305 Varusschlacht 12, 31, 288 – 291, 298 – 307, 425, 427 Verband der Heimkehrer (VdH) 337 f., 345 Verbildlichung 233 Verbindung, kulturelle 17, 22, 60, 79, 91, 107, 111 f., 115, 117 f., 131, 135, 144, 157, 186, 188, 195, 256, 303, 320, 331, 343, 345, 364, 368, 372 f., 382, 387 f., 390 f., 393 f., 403, 421, 426, 428 Verbrechen 80, 345, 356, 368 – 373, 381 f. Verbundenheit 20, 91, 137, 292 f., 298, 320, 390 Verdichtung 73, 85 Verein für Sammlung und Konservierung vaterländischer Alterthümer 192 Verein »Geschichtslehrpfad Lagerstraße« 362 f. Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, VVN 79 Vereinsgründungen, regionale 186

468 Verfall 27, 255, 402 Verfolgung 129, 165, 215, 257, 333, 336, 352, 372 – Verfolgungsgeschichte 376 – Verfolgungsstätten 371 Vergangenheit 10, 17, 19, 22, 24 – 27, 32, 34 – 38, 41, 43, 47 – 53, 57, 62 – 64, 71, 73 f., 76, 93, 97 – 99, 101, 104 f., 108, 111 f., 117, 130, 132, 137, 165 – 167, 169, 187, 203, 249 f., 252 f., 255 f., 261 f., 287 f., 290, 298, 307, 310 f., 327 f., 338, 340, 353, 359, 370, 388, 394, 396 f., 413, 426 f. – heroisch konstruierte Vergangenheit 188 – Vergangenes 166, 222, 288 – Vergangenheitsbezug 367 – Vergangenheitsdeutungen 166 – Vergangenheitsdiskurs 295 Vergegenständlichung 73 Vergegenwärtigung 36, 250, 291, 427 – kollektive Vergegenwärtigung 9, 33 Vergessenheit 155, 289 Vergewisserungsrituale, soziale 291 Vermittlungskonzept, pädagogisches 376 f., 379 Vernetzung 23, 33, 40, 85, 89, 111 – europäische Vernetzung 112 Vernichtungskrieg 329 Verortung 21, 28, 37, 47 f., 80 f., 106, 355, 368 Verschweigen 202 f., 217, 276 Versöhnung, florentinische 74, 145, 285 Verteidigungsministerium 354 Vertreibung 18, 75, 140, 203, 319, 325 f., 343, 347, 394 – organisierte Vertreibung 325 – Vertreibungskontext 343 – Vertriebene 20 f., 75, 111, 203 f., 279, 281, 319, 325 – 327, 329, 331 – 333, 343, 347 – Vertriebenenfamilien 342 – Vertriebenenverbände 75 Verwaltungsbezirke Niedersachsens 335 Verwurzelung, regionale 112, 403 Vieldeutigkeit 222

Sachregister

Viktimisierungsdiskurse 329 f., 338, 345 Visionen 9, 237 Völkermord 40 Völkerschlacht bei Leipzig 299 Völkerwanderung 21 völkische Symbole 150 Volkseigentum 271 Volksfest 387, 395 f. Volksgemeinschaft 236, 311 Volkspolizei 247, 252 Volkssturm 237 Volkstrauertag 212 f. Volkstumskampf 412 Vorgeschichtsforschung 413 Vorstellung 9, 19 f., 23, 33, 49, 55, 65, 81, 88, 116, 119, 145, 185 f., 190, 222, 225, 238, 289, 297, 299, 353, 355, 359, 387, 416 – Vorstellungswelten 84, 98 Wahrheit, historische 31, 35 f., 154 Wahrnehmung 10, 23, 34, 37, 44, 53, 56, 84 f., 91, 101 – 103, 114, 125, 129, 143, 148, 152, 156 f., 166, 199, 207, 221 – 223, 225, 240, 243, 245, 292 f., 298, 307 f., 326, 329 – 332, 334 f., 337 – 339, 346, 359 – einseitige Wahrnehmung 353 – Wahrnehmungskonstruktion 33 – Wahrnehmungsmodelle 228 – Wahrnehmungsmuster 241, 243 – Wahrnehmungsproblem 250 – Wahrnehmungsraster 217 – Wahrnehmungsstruktur 239 – Wahrnehmungsveränderung 245 Wahrzeichen 145, 147, 149 – lokale Wahrzeichen 78 Wallensteintage 387, 396 f. Warft 232 Watt 221, 230, 233, 239 f., 242 – Wattenmeer 12, 31, 221 f., 229, 235 – 237, 239 – 245, 427, 430 Wehrdienst 214 Wehrmacht 165, 337 Weiheort 146 Weimarer Republik 105, 132, 137, 280 f., 283, 302, 373, 430

Sachregister

Weltgeschichte 165, 302 Welt, westliche 28, 37, 48, 78, 107, 112, 139, 145, 152, 238, 240, 289, 293, 306, 321, 327, 334, 409, 411 Wende, politische 60 – 62, 258, 285, 292, 358, 393, 401, 403, 405, 416 Wendepunkt 147, 157, 299 Werktätige 267, 271, 277 Werte, kollektive 117, 172, 293, 296, 415 Weser Kurier 353 Westfälischer Frieden 108, 385, 388 f., 393, 397 f., 402 Westfälischer Hansebund 110 Westfälische Rundschau 331 Widerstand 74, 127, 140, 278, 305, 321, 372, 396, 430 – Widerstandsmythen 290 Wiederaneignung des Ortes 365 Wiederaufbau 30, 74 f., 128, 259, 278, 296 Wiedererkennen 208 Wiedervereinigung 139, 154, 177, 302, 338 – 340, 385, 396, 402 Wikinger 13, 198, 200, 405, 407 – 409, 411 f., 415 – 421 – Wikingerstadt 198 Wilhelminisches Reich 233 – wilhelminischer Obrigkeitsstaat 157 Wir-Gefühl 293 f. Wirklichkeit 10, 36, 167, 222, 244, 251, 316, 328 Wirkungsmacht 28, 74, 249 Wirtschaftsflüchtling 336 Wissensmuster, räumliche 298 Wochenend 330 Wohlfahrtsverbände 331, 336, 346 f.

469 Zeitgenosse 84, 91, 133, 143, 329, 338, 422 Zeitgeschichte 11, 13, 44, 47, 76, 166, 250, 280, 332, 369, 409, 429 f., 432 f. Zeitraum 19, 49, 279 Zeiträume 278 Zeitzeuge 71 f., 75 – 78, 80 f., 90, 275, 310, 316, 367, 370, 380 – Zeitzeugenbefragung 24 – Zeitzeugenerinnerung 261 – Zeitzeugeninterview 285 Zeitzeugnisse, historische 257 Zionismus 373 Zivilinternierte 338 f. Zivilisation 146, 172, 405, 413, 422 – Zivilisiertheit 368 Zone, französische 326, 331, 333 f. Zonengrenze, innerdeutsche 325, 329, 336 Zugehörigkeit 99, 113, 119, 124 f., 161, 169, 183, 188, 216, 392, 426 – nationalstaatliche Zugehörigkeit 183 – Zugehörigkeitsempfindung 123, 140 Zukunftserwartung 166 Zuordnung, kognitive 28, 49, 293 Zusammengehhörigkeitsgefühl 298, 394 Zusammenhang, deutsch-deutscher 10, 35 f., 39 f., 51, 62, 65, 75, 77, 81, 84 f., 92, 103, 123, 136, 166, 168 f., 181, 209, 211 – 213, 215 f., 262, 287, 289, 302, 309 – 311, 315, 317 – 319, 356 – 358, 365, 367, 369, 377, 381, 395 f., 399, 403, 405, 412 Zwangsarbeit 312, 351 – 357, 360 f., 364, 375, 383, 431 Zweiter Weltkrieg 12, 216