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German Pages [321] Year 2022
Ann Katrin Düben Die Emslandlager in den Erinnerungskulturen 1945–2011 Akteure, Deutungen und Formen
Berichte und Studien Nr. 85 herausgegeben von Thomas Lindenberger und Clemens Vollnhals im Auftrag vom Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V.
Ann Katrin Düben
Die Emslandlager in den Erinnerungskulturen 1945–2011 Akteure, Deutungen und Formen
V&R unipress
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Diese Dissertation wurde am 2. Juli 2019 von der Fakultät für Geschichte, Kunst- und Orientwissenschaften der Universität Leipzig angenommen. © 2022 Brill | V&R unipress, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Willkommensbanner beim Moorsoldatentreffen am 8./9.9.1956 in Papenburg; Quelle: Archiv VVN BdA NRW, 6040. Satz: Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung, Dresden Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2366-0422 ISBN 978-3-7370-1316-1
Inhaltsverzeichnis
Vorwort 9 I. Einleitung 1. Gegenstand und Fragestellung
II.
11 14
2. Theorie und methodische Herangehensweise
16
3. Emsland: regionaler Handlungs- und Deutungsraum
26
4. Aufbau der Arbeit und Quellen
32
Die Emslandlager (1933–1945) 37 1. Moorkultivierung und Gefangenenarbeit
42
2. Konzentrations-, Strafgefangenen- und Kriegsgefangenenlager
51
2.1 Preußische Konzentrationslager (1933–1934) 51 2.2 Reorganisation und Aufbau des Strafgefangenenlager verbunds (1934–1939) 54 2.3 Eingliederung der Lager in die Kriegsführung (1938–1941) 56 2.4 Radikalisierung infolge des Krieges gegen die Sowjetunion (1941–1945) 58 2.5 Außenlager Neuengamme (1944–1945) 60 3. Zuchthausstrafen: drei Beispiele
61
4. Endphaseverbrechen 65
6
Inhaltsverzeichnis
III. Mahnung und Distanzierung: die frühe Kultur des Erinnerns (1945–1950)
71
1. Alliierte: »So the memory of the infamy […] does not fade« 73 1.1 Erste Richtlinien zum Totengedenken 1.2 Sowjetische Ehrenfriedhöfe im Emsland 1.3 »Tote klagen an«: britische Ermittlungsarbeit und frühe Prozesse 1.4 Strafpädagogische Maßnahmen im Februar 1946 2. (Um-)Deutungen der jüngsten Vergangenheit 2.1 »Asoziale Elemente polnischer Staatsangehörigkeit« 2.2 Das (Un-)Wissen der Gemeinden: Reaktionen auf die alliierten Suchaktionen 2.3 Internierte im Lager Esterwegen: »im Glauben an die gute Sache« 2.4 Wiederaufnahme der Moorkultivierung und Gefangenenarbeit
IV.
74 82 90 98 102 104 110 115 120
3. Zwischenfazit
126
Abwehr und Selbstbehauptung: Streit über den Gräbern (1950–1962)
129
1. Die Toten der Emslandlager im Schatten des Kriegsopfergedenkens
132
1.1 Das Kriegsgräbergesetz (1952) 1.2 »Dass eigentliche KZ-Friedhöfe im Kreise nicht beständen« 1.3 Die Toten der Emslandlager und das lokale Kriegsopfergedenken 1.4 An der Peripherie: sowjetische und polnische »Kriegsgräber« 2. Störungen: die »Emsland-Lagergemeinschaft« 2.1 Wer ist ein Moorsoldat? 2.2 Die erste Gedenkstätteninitiative (1957) 2.3 »Auch heute noch Stacheldraht« versus »Eine kommunistische Tarnorganisation« 2.4 Das Verhältnis der Lagergemeinschaft zur Friedensbewegung der 1950er-Jahre 3. Zwischenfazit
133 137 143 151 156 158 166 170 175 179
Inhaltsverzeichnis
V.
7
Alte und neue Akteure: in Bewegung (1962–1973)
181
1. Generationstypische Muster der Erinnerung und Verarbeitung
183
1.1 Die »Spiegel-Affäre« und der Gedenkstein für Carl von Ossietzky 1.2 »Nestbeschmutzer«: die Lokaljournalisten Vinke und Kromschröder 1.3 Erodierende Schutzbehauptungen: »Report-Beitrag« und »EZ-Umfrage« (1966)
185 193 201
2. Veränderte politische Konstellationen: die offizielle Anerkennung 206 2.1 Neue Denkmäler infolge der Novellierung des Gräbergesetzes (1965) 207 2.2 Kampf um die »Anerkennung der materiellen und moralischen Ansprüche« 212 2.3 Im Zusammenspiel: gesetzliche Anerkennung (1970) 217 3. Zwischenfazit VI. Spurensuche und -bewahrung (1974–2011) 1. Gedenkstätteninitiativen und Geschichte von unten
222 223 226
1.1 »Die Auseinandersetzung begann mit Ossietzky« 228 1.2 Neudeutung und -besetzung der Lagerorte im Spiegel der Friedensbewegung 236 1.3 Strukturen versus Spuren: Forschungsperspektiven 243 1.3.1 Elke Suhr 244 1.3.2 Erich Kosthorst 246 1.3.3 Detlef Hoffmann 248 2. Institutionalisierung: staatliche Förderung und kommunale Aneignung
251
2.1 Neubewertung der Lager in den 1980er-Jahren 2.2 Verstetigung des DIZ und Generationswechsel in der Kommunalpolitik 2.3 Exkurs: das Land-Art-Projekt »kunstwegen« in der Grafschaft Bentheim 2.4 Gedenkstätte Esterwegen
252
3. Zwischenfazit
269
256 258 260
8
Inhaltsverzeichnis
VII. Resümee
271
VIII. Anhang
279
1. Abkürzungsverzeichnis
281
2. Quellenverzeichnis
282
282 284 284 287 287
2.1 Archivregister 2.2 Gedruckte Quellen 2.3 Periodika 2.4 Filmmaterial 2.5 Interviewverzeichnis
3. Literaturverzeichnis
288
4. Tabellenverzeichnis
315
5. Abbildungsverzeichnis
315
6. Kartenverzeichnis
315
7. Personenverzeichnis
316
8. Ortsverzeichnis
319
Vorwort
Diese Arbeit behandelt die Geschichte der Erinnerungskulturen der Emslandlager zwischen 1945 und 2011. Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um eine leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die ich im August 2018 beim Dekanat für Geschichte, Kunst- und Orientwissenschaften der Universität Leipzig eingereicht und die ich im Juli 2019 verteidigt habe. Als erstes gilt mein herzlicher Dank meinem Doktorvater Prof. Dr. Alfons Kenkmann, der mir immer beratend zur Seite gestanden hat, sowohl bei inhaltlichen Fragen als Experte historischer und aktueller Erinnerungskulturen als auch im Hinblick auf praktische Herausforderungen einer Dissertation. Ebenfalls herzlich danke ich meiner Zweitbetreuerin Prof. Dr. Christiane Kuller für die stets bereichernden Anregungen und Anmerkungen. Mein großer Dank gilt der finanziellen und ideellen Unterstützung durch die Friedrich-Ebert-Stiftung, die Stiftung Zeitlehren sowie das Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung. Namentlich danken möchte ich Dr. Ursula Bitzegeio als damalige Teamleiterin der Promotionsförderung bei der Friedrich-EbertStiftung, Dr. Agnes Hartmann, Geschäftsführerin der Stiftung Zeitlehren, sowie Dr. Clemens Vollnhals, stellvertretender Direktor des Hannah-Arendt-Instituts. Herzlich danke ich den Teilnehmenden des Kolloquiums von Prof. Dr. Alfons Kenkmann für die konstruktiven Diskussionen meiner Arbeit. Darüber hinaus danke ich den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen der Archive, insbesondere des Niedersächsischen Landesarchivs Abteilung Osnabrück und des Archivs VVN BdA Niedersachsen, für ihre Unterstützung bei meinen Recherchen. Mein herzlicher Dank gilt außerdem den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen des DIZ Emslandlager, vor allem Kurt Buck, sowie der Gedenkstätte Esterwegen, insbesondere Dr. Sebastian Weitkamp, die meine Arbeit von Beginn an begleitet haben. Für das Lesen des Manuskripts, viele kritische Rückmeldungen und intensive Gespräche sowie die während meines Promotionsprojektes geleistete emotionale Unterstützung danke ich schließlich Dr. Sebastian Schönemann, Valerie Bleisteiner, Anja Neubert, Jan Perschmann und meiner Mutter Andrea Wolz.
I. Einleitung
»Der Angeklagte wird als gefährlicher Gewohnheitsverbrecher wegen Fahrraddiebstahls im Rückfalle zu einer Zuchthausstrafe von 1 – einem Jahr und 6 – sechs Monaten verurteilt. Er verliert die bürgerlichen Ehrenrechte auf die Dauer von zwei Jahren. Seine Sicherungsverwahrung wird angeordnet.«1 Dieses Urteil des Landgerichts Düsseldorf fiel am 23. September 1942 gegen den damals 28-jährigen Wilhelm Georg Möller.2 Da er als »moorfähig« galt, überführte man ihn einen Monat später in das Strafgefangenenlager Walchum, eines der 15 Emslandlager3 in den weiten Moorgebieten an der Grenze zu den Niederlanden, die für ihren besonders harten Strafvollzug berüchtigt waren. Bereits im Dezember 1942 wurde Möller von Walchum mit 125 weiteren »gefährlichen Gewohnheitsverbrechern« ins KZ-System überstellt.4 Nur ein Vierteljahr später, am 1 2
3
4
Gefangenenpersonalakte Wilhelm Georg Möller, Gerichtsurteil 8 KLs. 7/42 gegen Wilhelm Georg Möller, Strafkammer des Landgerichts in Dortmund, Sitzung vom 23.9.42 (NLA OS, Rep 947 Lin II, 4768, unpag.). Der Gefangenenpersonalakte ist zu entnehmen: »Wilhelm Möller, geb. 1.4.1914, Gelsenkirchen, Bergmann, wohnhaft in Essen, ledig, Strafg. Walchum, eingeliefert am 30.10.1942 von U. G. Dortmund, Gefangenennummer 147/42, Strafentscheidung 25. StA. Dortmund 9.42, Fahrraddiebstahl i. R. als gef. Gewohnheitsverbrecher, 1 Jahr 6 Monate Zuchthaus, abz. U. H. 2 J EV, Strafbeginn: Kriegsende Sicherungsverwahrung, am 18.12.1942 nach Polizeilager Garsleck/ Neuengamme überführt«, Gefangenenpersonalakte Wilhelm Georg Möller (NLA OS, Rep 947 Lin II, 4768, unpag.). Dieser auf die Nachkriegszeit zurückgehende Begriff bezeichnet alle »Moorlager«, also die Konzentrations-, Strafgefangenen- und Kriegsgefangenenlager. In den frühen britischen Ermittlungsberichten wird hingegen differenziert und die Strafgefangenenlager werden hier als Emsland Penal Camps geführt. Möller traf am 18.12.1942 im »Polizeilager Curslack/Neuengamme« ein. Seine Überstellung ins KZ-System ging auf eine Vereinbarung zwischen Reichsjustizminister Otto-Georg Thierack und Reichsführer SS Heinrich Himmler zurück, die vorsah, »gefährliche Gewohnheitsverbrecher« vom Strafvollzug zur »Vernichtung durch Arbeit« in das KZ-System zu überführen. Vgl. Hans-Peter Klausch, »Vernichtung durch Arbeit« – Strafgefangene der Emslandlager im KZ Neuengamme. In: Anne Alex/Dietrich Kalkan (Hg.), Ausgesteuert – ausgegrenzt … angeblich asozial, Neu-Ulm 2009, S. 62–86.
12
Einleitung
13. März 1943, verstarb er im Konzentrationslager Neuengamme an Herz- und Kreislaufversagen.5 Das harte Strafurteil und die Sicherungsverwahrung, die die Allgemeinheit schützen sollte, steht beispielhaft für eine politisierte Justiz, die, wie am Fall Möller nachzuvollziehen, ein soziales Milieu kriminalisierte. Denn eingeflossen in das Urteil war, dass Möller in der Schule zweimal eine Klasse wiederholen musste, vier uneheliche Kinder hatte, an die er laut Urteilsbegründung keine Alimente zahlte, und seit seinem Jugendalter Gelegenheitsjobs ausführte. Im Urteil bezeichnete man ihn als »arbeitsscheuen und haltlosen Menschen, [...] der kein geordnetes Leben führt«,6 und stilisierte ihn zur finanziellen und sozialen Belastung des »Volkskörpers«.7 An dem beschriebenen Einzelschicksal lässt sich ein Muster der Deutung der Emslandlager aufzeigen, das über Jahrzehnte, insbesondere in den emsländischen Landkreisen, diskursprägend war. In offiziellen Verlautbarungen war von Straflagern für Kriminelle die Rede, derer es nicht zu gedenken galt. Und auch in den Bestimmungen der Bundesentschädigungsgesetzgebung waren die Strafgefangenenlager bis 1970 nicht als NS-Haftstätten im Sinne von Konzentrationslagern anerkannt. Dass der hier praktizierte Strafvollzug das Recht des Einzelnen systematisch unterminierte, der Gefangeneneinsatz in der Kultivierung der Moorgebiete im Emsland der Disziplinierung und der Strafe diente und Teil eines groß angelegten und ideologisch aufgeladenen Binnensiedlungsprojektes war, spielte keine Rolle für die gesellschaftliche und gesetzliche Anerkennung des Unrechts. Die Lesart, wonach im Emsland nur Kriminelle inhaftiert gewesen seien, überblendete gleichsam die komplexe Geschichte des Lagerverbundes, der zwischen 1933 und 1945 mehrmalige administrative Wechsel durchlief: von Konzentrationslagern (1933–1934/36 und 1944/45) über Strafgefangenenlager (1934–1945) bis hin zu Kriegsgefangenenlager (1939–1945). Die im Sommer 1933 errichteten staatlichen Konzentrationslager, zu denen die Lager Börgermoor und Esterwegen zählten, gingen seit 1934 in einen 15-gliedrigen Strafgefangenenlagerverbund unter Justizverwaltung auf, der eine ähnlich wie in den SS-Lagern strukturierte Lagerordnung erhielt. Mit Kriegsbeginn wurden überdies neun der Lager dem 5 6 7
Vgl. Gefangenenbuch Polizeigefängnis Dortmund, Eintrag vom 13.3.1943 (ITS Digital Archive, Bad Arolsen, 1.2.2.1/11684932, unpag.); Sterbeurkunde Neuengamme (ITS Digital Archive, Bad Arolsen, 1.1.30.2/3463137, unpag.). Gefangenenpersonalakte Wilhelm Georg Möller, Gerichtsurteil 8 KLs. 7/42 gegen Wilhelm Georg Möller, Strafkammer des Landgerichts in Dortmund, Sitzung vom 23.9.42 (NLA OS, Rep 947 Lin II, 4768, unpag.). Vgl. Nikolaus Wachsmann, Gefangen unter Hitler. Justizterror und Strafvollzug im NS-Staat, München 2006, S. 9 f. (im Original erschienen 2004: Hitler’s Prisons. Legal Terror in Nazi Germany). Jüngst sind zwei Studien erschienen, die die marginalisierte KZ-Häftlingsgruppe der »Asozialen« und »Berufsverbrecher« tiefgreifend untersucht haben: Julia Hörath, »Asoziale« und »Berufsverbrecher« in den Konzentrationslagern 1933 bis 1938, Göttingen 2017; Dagmar Lieske, Unbequeme Opfer? »Berufsverbrecher« als Häftlinge im KZ Sachsenhausen, Berlin 2016.
Einleitung
13
Oberkommando der Wehrmacht übertragen, das hier Kriegsgefangene unterbrachte.8 Zwischen 1933 und 1945 waren Angehörige der politischen Opposition, Menschen, die nach antisemitischen und rassistischen Kriterien verfolgt wurden, »Straftäter«, militärgerichtlich Verurteilte, europäische Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfer sowie Angehörige sämtlicher Kriegsparteien in den Emslandlagern inhaftiert.9 Nach Erich Kosthorst und Bernd Walter starben schätzungsweise bis zu 30 000 Menschen in den Emslandlagern, wobei die höchste Mortalität mit Abstand bei den sowjetischen Kriegsgefangenen lag. Unweit der Emslandlager wurden die Gefangenen zwischen 1933 und 1945 auf sieben Friedhöfen in Einzel-, Sammel- und Massengräbern bestattet, zwei weitere Friedhöfe wurden in der unmittelbaren Nachkriegszeit für die bislang bloß verscharrten Toten angelegt.10 Auf diesen Friedhöfen kamen seit den 1950er-Jahren ehemalige kommunistische KZ-Häftlinge und Strafgefangene der Emslandlager zu großen Gedenkveranstaltungen zusammen und verhandelten hier ihre Interessen: Sie kämpften für die gesetzliche und moralische Anerkennung ihres Widerstandskampfes und gegen das Stigma des kriminellen Strafgefangenen. Die Frage, »Wer war Verfolgter des Nationalsozialismus?«,11 ist bis heute ein zentrales Streitthema, wie beispielsweise die Petition zur gesetzlichen Anerkennung der sogenannten Asozialen und Berufsverbrecher aus dem Jahr 2018 zeigt.12 Diese Problemstellung bildet den Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung eines dynamischen und fortwährenden Aushandlungsprozesses, der mit mentalen und politischen Wandlungsprozessen und den sich daraus ergebenden erinnerungskulturellen Konjunkturen auf der Makroebene korrespondiert. Diese Prozesse gilt es in einem regionalen Raum mit einem akteurs- und handlungsorientieren Zugriff und mit der hierdurch möglich werdenden Tiefenschärfe zu analysieren.13 8
Vgl. Habbo Knoch, Die Emslandlager 1933–1945. In: Wolfgang Benz/Barbara Distel (Hg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Band 2: Frühe Lager, Dachau, Emslandlager, München 2005, S. 532–570. 9 Vgl. Wachsmann, Gefangen unter Hitler, S. 10. 10 Vgl. Erich Kosthorst/Bernd Walter, Konzentrations- und Strafgefangenenlager im Dritten Reich. Beispiel Emsland. Dokumentation und Analyse zum Verhältnis von NS-Regime und Justiz, Düsseldorf 1983, Band 3, S. 3545–3554. 11 Harald Schmid, Zwischen Achtung und Ächtung. Opfer nationalsozialistischer Herrschaft im Bild der deutschen Öffentlichkeit. In: Henning Borggräfe/Hanne Leßau/Harald Schmid (Hg.), Die Wahrnehmung der NS-Verbrechen und ihrer Opfer im Wandel, Göttingen 2015, S. 10–22, hier 11. 12 Vgl. die von Frank Nonnenmacher initiierte Petition zur Anerkennung der als »Asoziale« oder »Berufsverbrecher« Verfolgten (https://www.change.org/p/deutscher-bundestag-anerkennungvon-asozialen-und-berufsverbrechern-als-opfer-des-nationalsozialismus; 15.5.2020). 13 Zur Aushandlung von Opferschaft als Kern einer Erinnerungskultur mit Bezug auf den Nationalsozialismus, aber auch anderer Gewaltgeschichte vgl. Schmid, Zwischen Achtung und Ächtung, S. 10–22; Ana Mijić, Verletzte Identitäten. Der Kampf um den Opferstatus im bosnisch-herzegowinischen Nachkrieg, Frankfurt a. M. 2014, S. 373.
14
Einleitung
1. Gegenstand und Fragestellung »Soviel Bedeutung, soviel Todverfallenheit, weil am tiefsten der Tod die zackige Demarkationslinie zwischen Physis und Bedeutung eingräbt.«14 Dieses Zitat von Walter Benjamin lässt sich an die Grundidee von Jan Assmann anschließen, der den Tod als die »Ur-erfahrung« eines Vergangenheitsbewusstseins beschrieben hat. Dieser Erfahrung versuchten Menschen unmittelbar Sinn zu verleihen, eine Sinnbildung, die Assmann als die »Urform kultureller Erinnerung« begreift.15 Vor eine besondere Herausforderung ist eine Gesellschaft angesichts des gewaltsamen Todes gestellt, denn er gilt »in der Regel als verfrüht und als integrationsbedrohend«, der gewaltsame Tod lässt »Schuldgefühle, Schuldzuweisungen und Rachevorstellungen« hervortreten.16 Um dem gewaltsamen Tod Sinn zu verleihen, verlangt er nach Zeichen und Symbolen, die »Ordnungsschemata und Deutungen« repräsentieren und deren Verwendung »Erfahrungs-, Erlebnis- und Traditionszusammenhänge« wachrufen.17 In Anlehnung an Assmann durchzieht meine Arbeit die Frage nach der gesellschaftlichen Deutung des gewaltsamen Todes und welche Deutungskonflikte dahinter liegen. Orientiert am erinnerungstheoretischen Forschungsstand schließe ich dabei zwei Hypothesen an sowie eine dritte und Fallthese: Erinnerungskultur wird nicht als in sich geschlossene, homogene und statische Entität betrachtet, sondern als ein Prozess, an dem eine Vielzahl von Akteuren beteiligt war und ist. Erinnerungskulturen müssen daher im Zeitkontext und in ihrem Wandel betrachtet werden. Sie sind dynamisch und 14 15
16 17
Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, Gesammelte Schriften, Band I, Frankfurt a. M. 1974, S. 343. Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1999, S. 61. Assmann greift damit einen Ansatz der Wissenssoziologen Peter L. Berger und Thomas Luckmann auf, die den Tod als fundamentale Grenzmarke sozialer Ordnung verstehen: »Die Integration des Todes in die oberste Wirklichkeit des gesellschaftlichen Daseins ist deshalb für jede institutionelle Ordnung von größter Wichtigkeit. Demzufolge ist die Legitimation des Todes eine der wichtigsten Funktionen symbolischer Sinnwelten.« Peter L. Berger/Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a. M. 1977, S. 108 f. Anknüpfend an Berger und Luckmann vgl. Gerd Sebald/René Lehmann/Florian Öchsner, Zur Gedächtnisvergessenheit der Soziologie. Eine Einleitung. In: dies. (Hg.), Formen und Funktionen sozialen Erinnerns. Sozial- und kulturwissenschaftliche Analysen, Wiesbaden 2013, S. 7–24. Zur Sozialgeschichte des Todes vgl. Philippe Aries, Geschichte des Todes, München 1991. Zur sozialen Bedeutung der Memoria am Beispiel des Totengedenkens im Mittelalter vgl. Otto Gerhard Oexle, Die Gegenwart der Toten. In: Herman Braet/Werner Verbeke (Hg.), Death in the Middle Ages, Leuven 1982, S. 19–77. Klaus Feldmann, Sterben und Tod. Sozialwissenschaftliche Theorien und Forschungsergebnisse, Opladen 1997, S. 76. Hans-Georg Soeffner, Symbolische Formung. Eine Soziologie des Symbols und des Rituals, Göttingen 2010, S. 16; Habbo Knoch, Mediale Trauer. Bildmedien und Sinnstiftung im »Zeitalter der Extreme«. In: Frank Bösch/Manuel Borutta (Hg.), Die Massen bewegen. Medien und Emotionen in der Moderne, Frankfurt a. M. 2006, S. 193–216, hier 212.
Gegenstand und Fragestellung
15
folgen unterschiedlichen Geschwindigkeiten, wie im Hinblick auf den Untersuchungszeitraum zu zeigen ist, in dem unterschiedliche Akteure auftreten, deren Sinnbildungen miteinander konkurrieren. Das Gedächtnis ist nicht losgelöst vom historischen Gegenstand zu denken, sondern es beruht auf der ihm zugeschriebenen Bedeutung. Historische Spezifika lassen sich demnach aus den Erinnerungskulturen mit herauslesen. Dies gilt für die 15 Emslandlager, die im Laufe ihres fast zwölfjährigen Bestehens mehrmalige Verwaltungswechsel durchliefen. Durchgängig erhalten blieb jedoch ein in seiner Größe variierender Strafgefangenenlagerverbund (1934–1945). An ihm bildete sich ein Grundmuster der Deutung der Emslandlager aus. Damit ist zur Fallthese überzuleiten. Regionale Eigenheiten werden in widerstreitenden Erinnerungskulturen sichtbar und greifbar, denn hier wird das Regio nalspezifische der Deutung der Vergangenheit ausgehandelt. Spannungsverhältnisse, die zwischen unterschiedlichen Akteuren entstehen, wirken dynamisierend. Das Emsland wird als kulturell und sozioökonomisch relativ homogener Raum verstanden, der eine Region konturiert und konstruiert.18 Der Katholizismus und ein Wirtschaftsbereich, der infolge der begrenzten Nutzbarkeit der Moorgebiete auf die Moorkultivierung und an sie anschließende Produktionsfelder eingeschränkt war, bildeten hier gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen, die regionalen Trägern eine besondere Autorität zusprachen und gegen die sich gleichsam eine besonders starke Gegenbewegung formierte. Aus diesen Grundüberlegungen leiten sich konkrete Fragen ab: Erstens, welche Akteure stritten um die Deutungshoheit? Zweitens, wie wurden die Gefangenen und die Lager in den jeweiligen Zeitkontexten gedeutet, welche diskursiven Strategien sowie Gegenwarts- und Zukunftsdiagnosen lassen sich dabei nachweisen und in welchen Formen materialisierten sich die Deutungen der Emslandlager?19 Drittens, wie genau korrespondieren erinnerungskulturelle Umbrüche im Emsland mit gesamtgesellschaftlichen Aushandlungsprozessen und erinnerungskulturellen Konjunkturen? Diese Überlegungen führen zu den titelgebenden und zentralen analytischen Begriffen dieser Arbeit: den Akteuren als Träger und Gestalter eines Gedächtnisses, ihren soziokulturell gerahmten Deutungen und Handlungen sowie den konkreten Formen ihrer Erinnerungen. Der Untersuchungszeitraum erstreckt sich von 1945 als Krisen- und Schwellenjahr, das gleichsam den Beginn erinnerungs18 Vgl. Clemens Wischermann, Wettstreit um Gedächtnis und Erinnerung in der Region. In: Westfälische Forschungen, 51 (2001), S. 1–18, hier 1. 19 Vgl. Reinhart Koselleck, Kriegerdenkmale als Identitätsstiftungen der Überlebenden. In: Odo Marquard/Karlheinz Stierle (Hg.), Identität, München 1979, S. 255–276, hier 256. Zur Bedeutung der Gräberfürsorge als Ausdrucksform einer Erinnerungskultur vgl. Insa Eschebach, Öffentliches Gedenken. Deutsche Erinnerungskulturen seit der Weimarer Republik, Frankfurt a. M. 2005.
16
Einleitung
kultureller Aushandlungsprozesse unter neuen Vorzeichen markiert, bis zum Jahr 2011, in dem in Erinnerung an die Gefangenen der Emslandlager die zentrale, vom Landkreis Emsland getragene Gedenkstätte Esterwegen eröffnet wurde. Durch die Orientierung auf die erinnerungskulturellen Akteure will die vorliegende Arbeit mit der Vorstellung und dem Bild von einer homogenen und in sich geschlossenen Erinnerungskultur brechen und legt das Gewicht auf die vielzähligen und größtenteils widerstreitenden Perspektiven in pluralen Gesellschaften.20 Der handlungsund akteursorientierte Zugriff gewährt zugleich einen Zugang zu den Handelnden selbst und es können subjektive Deutungsrahmen Berücksichtigung finden. Der regionale Zugriff bietet darüber hinaus die Möglichkeit, durch die kleinräumige Perspektive unterschiedliche Kräfteverhältnisse und Interaktionen in einem mittelgroßen Raum zu untersuchen. Damit soll auch der Auffassung von einer Region als ein geteiltes kulturelles Bezugssystem Rechnung getragen und somit nach den genuin regionalspezifischen Deutungen gefragt werden.21
2. Theorie und methodische Herangehensweise Die Wiederentdeckung des Gedächtnisparadigmas Ende der 1970er-Jahre stand im Zusammenhang mit weitreichenden globalen Veränderungen und einer zunehmenden gesellschaftlichen Orientierungssuche, die den viel beschworenen »Memory-Boom« auslöste.22 Insbesondere seit den 1990er-Jahren knüpfte eine
20
Für eine akteurs- und handlungsorientierte Herangehensweise im Rahmen der Memory Studies plädieren beispielsweise Gregor Feindt, Félix Kawatzek, Daniela Mehler, Friedemann Pestel und Rieke Trimçev, Europäische Erinnerung? Erinnerungsforschung jenseits der Nation. In: dies. (Hg.), Europäische Erinnerung als verflochtene Erinnerung. Vielstimmige und vielschichtige Vergangenheitsdeutungen jenseits der Nation, Göttingen 2014, S. 11–38, hier 32. 21 Da der Ansatz der »Volksgemeinschaft« im Hinblick auf das zitierte Urteil gegen den »Gewohnheitsverbrecher« naheliegen mag, sei vorwegzunehmen, dass das Paradigma zur Beschreibung von Vergemeinschaftungsprozessen vorliegender Arbeit nicht zugrunde liegt, da es die Vielfalt der Akteure und ihrer Vergangenheitsdeutungen im Kontext sozialen Wandels nach 1945 nicht in Gänze zu greifen vermag. Der Volksgemeinschaftsbegriff wird daher folgend als Quellenbegriff der nationalsozialistischen Exklusionspolitik Verwendung finden, nicht aber als Forschungsansatz. Vgl. Ian Kershaw, »Volksgemeinschaft«. Potenzial und Grenzen eines neuen Forschungskonzepts. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (VfZ), 59 (2011) 1, S. 1–17, hier 2. An dieser Stelle sei auch auf das Forschungskolleg »Nationalsozialistische ›Volksgemeinschaft‹? Konstruktion, gesellschaftliche Wirkungsmacht und Erinnerung vor Ort« hinzuweisen, aus dem eine Reihe von Studien hervorgingen, die den Fokus auf die Bevölkerung ländlicher Milieus richten und die hier wirkenden Mechanismen von Inklusion und Exklusion im Anschluss an das Konstrukt der »Volksgemeinschaft« untersuchen (https://www.foko-ns.uni-hannover. de/2338.html; 15.5.2020). 22 Vgl. Jay Winter, Die Generation der Erinnerung. Reflexionen über den ›Memory-Boom‹ in der zeithistorischen Forschung. In: WerkstattGeschichte, (2001) 30, S. 5–16.
Theorie und methodische Herangehensweise
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Vielzahl von geschichts- und kulturwissenschaftlichen Studien an die von Maurice Halbwachs zu Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelte Theorie des kollektiven Gedächtnisses an. Das Konzept und seine theoretischen Weiterentwicklungen blieben jedoch teils unbestimmt, auch weil die Übertragung psychologischer Vorgänge auf kollektive Prozesse notwendige analytische Unterscheidungen verwässerte.23 In diesem Zusammenhang hat Reinhart Koselleck konstatiert, dass kollektive Erinnerung im engeren Sinne nicht existieren könne, »wohl aber kollektive Bedingungen möglicher Erinnerungen«, wie »soziale, mentale, religiöse, politische, konfessionelle Bedingungen – nationale natürlich«, die die individuellen Erfahrungen prägten.24 Diese Kritik ist zu entkräften, wenn man sich die zwei Sichtweisen des Verhältnisses von Gedächtnis und Kultur und die daraus erwachsenden unterschiedlichen Erkenntnisinteressen vergegenwärtigt: Ist der Fokus auf die soziale und kulturelle Prägung der individuellen Erinnerung gerichtet, so wird »Gedächtnis als Kulturphänomen« verstanden. Wenn aber in einer kulturwissenschaftlich orientierten Gedächtnisforschung im Hinblick auf Museen oder Archive vom Gedächtnis der Stadt die Rede ist, dann wird hier »Kultur als Gedächtnisphänomen« in einem metaphorischen Sinn aufgefasst.25
23 Zur kritischen Bestandsaufnahme begrifflicher Unschärfen vgl. Mathias Berek, Kollektives Gedächtnis und die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Erinnerungskulturen, Wiesbaden 2009, S. 18; Astrid Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung, Stuttgart 2005, S. 4; Wulf Kansteiner, In Pursuit of German Memory. History, Television, and Politics after Auschwitz, Athens/Ohio 2006, S. 11 f.; Moritz Csáky, Die Mehrdeutigkeit von Gedächtnis und Erinnerung. Ein kritischer Beitrag zur historischen Gedächtnisforschung. In: Digitales Handbuch zur Geschichte und Kultur Russlands und Osteuropas, Juni 2004 (https://epub.ub.uni-muenchen.de/603/1/csaky-gedaechtnis.pdf; 15.5.2020). 24 Reinhart Koselleck, Gebrochene Erinnerung? Deutsche und polnische Vergangenheiten. In: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Jahrbuch 2000, Darmstadt 2001, S. 19–32, hier 20. Auch Harald Schmid gibt zu bedenken, dass das Verb »erinnern« im engeren Sinne den »Versuch des Wiederaufrufens eigener Erlebnisse« bezeichnet. Harald Schmid, Konstruktion, Bedeutung, Macht. Zum kulturwissenschaftlichen Profil einer Analyse von Geschichtspolitik. In: Horst-Alfred Heinrich/Michael Kohlstruck (Hg.), Geschichtspolitik und sozialwissenschaftliche Theorie, Stuttgart 2008, S. 75–98, hier 77. 25 Vgl. Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, S. 95 f. Erll orientiert sich bei ihrer Unterscheidung an Jeffrey K. Olick, der das kollektive Gedächtnis als einen umbrella term versteht, unter dem sowohl individuelle Erfahrungen als auch soziale und kulturelle Rahmen fallen. Begrifflich differenziert er zwischen collected und collective memory – zum einen die individuellen Erinnerungen, die sozial gerahmt sind und die es im Rahmen der Oral History zu rekonstruieren gilt. Zum anderen Kultur als objektivierte Muster von Vergangenheitsrepräsentationen. Vgl. Jeffrey K. Olick, From Collective Memory to the Sociology of Mnemonic Practices and Products. In: Astrid Erll/Ansgar Nünning (Hg.), Cultural Memory Studies. An International and Interdisciplinary Handbook, Berlin 2008, S. 151–162, hier 158; vgl. zudem ders., Collective Memory: The Two Cultures. In: Sociological Theory, 17 (1999), S. 333–348.
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Einleitung
In der folgenden überblicksartigen Darstellung und Diskussion der diskursprägenden Konzepte zum kollektiven Gedächtnis sollen diese beiden Sichtweisen verdeutlicht werden, um schließlich den methodischen Zugriff auf Erinnerungskultur zu erläutern. Dabei werden im Sinne eines offenen Kulturverständnisses die beiden Sichtweisen auf das Verhältnis von Gedächtnis und Kultur verbunden und die menschlichen Träger, deren an sozialen Rahmen orientierten Deutungen von Vergangenheit, sowie die kulturellen Ausdrucksformen der Erinnerung zusammengeführt, sodass eine Struktur entsteht, die das Konzept der Erinnerungskultur für eine historische Arbeit operationalisierbar macht.26 Maurice Halbwachs (1877–1945) entwickelte seine Gedächtnistheorie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, ausgehend von der Funktionsweise des Individualgedächtnisses, und verstand das Gedächtnis als Kulturphänomen.27 Im Zentrum der Theorie des kollektiven Gedächtnisses stehen die sozialen Bezugsrahmen (cadres sociaux de la mémoire), an denen die subjektive Erinnerung orientiert ist.28 Diese Rahmen werden »durch soziale und kulturelle Teilhabe« ausgehandelt.29 Sie umfassen Gruppen und Milieus, in denen sich ein Mensch Vergangenheit vergegenwärtigt, sowie aktuelle gesellschaftliche »Bedingungen und vorherrschende Ideen«.30 Halbwachs übertrug diese Vorstellung auf Gruppen und erkannte, dass beispielsweise Familien ihre Geschichte intergenerationell tradieren und daher Träger eines Gruppengedächtnisses sind. Zentral für vorliegende Arbeit ist seine Erkenntnis, dass das individuelle Gedächtnis immer sozial geprägt ist, es sich beim Prozess des Erinnerns entsprechend um aktuelle Bezugnahmen auf die Vergangenheit, gruppenbezogene Vergegenwärtigungen
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Zur Begriffsgeschichte von Erinnerungskultur, ein Begriff, der erst in den 1990er-Jahren »Eingang in die Wissenschaftssprache« erhielt. Vgl. Christoph Cornelißen, Kollektives und kulturelles Erinnern. Erinnerungskulturen leben von der Dynamik der Gegenwart. In: Forschung Frankfurt, 1 (2014), S. 27–31, hier 27. 27 Maurice Halbwachs hat seine Gedächtnistheorie in drei Schriften entwickelt: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen (1925), Frankfurt a. M. 1985; Stätten der Verkündigung im Heiligen Land: Eine Studie zum kollektiven Gedächtnis (1941), Konstanz 2003; Das kollektive Gedächtnis (unvollendet), Frankfurt a. M. 1991. 28 Halbwachs definierte: »Die Rahmen, von denen wir sprechen und die uns die Rekonstruktion unserer Erinnerungen nach ihrem Verschwinden erlauben, [...] sind nicht rein individuell; sie sind, wie wir sagen, den Menschen der gleichen Gruppe gemeinsam. Sie erstrecken sich auf alle jüngeren Ereignisse, sie umfassen diese alle derart, dass man ohne Unterschied jedes von ihnen als Anhaltspunkt nehmen kann, sie befinden sich alle auf der gleichen Ebene, weil die Gruppe als Ganze sie alle behält, und weil die neuesten Ereignisse für sie sämtlich eine etwa gleiche Bedeutung haben.« Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, S. 182 f. 29 Ebd., S. 296. 30 Susanne Rau, Erinnerungskultur. Zu den theoretischen Grundlagen frühneuzeitlicher Geschichtsschreibung und ihrer Rolle bei der Ausformung kultureller Gedächtnisse. In: Jan Eckel/ Thomas Etzemüller (Hg.), Neue Zugänge zur Geschichte der Geschichtswissenschaft, Göttingen 2007, S. 135–170, hier 143.
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und selektive Rekonstruktionen von Vergangenheit handelt. Das kollektive Gedächtnis basiert dabei immer auf menschlichen Trägern und ist keine von Individuen losgelöste Entität.31 Eine Gedächtnistheorie, die, anders als Halbwachs, Kultur als Gedächtnisphänomen begreift, hat der Historiker Pierre Nora entwickelt.32 Er brachte Ende der 1970er-Jahre das Paradigma des lieu de mémoire in den Diskurs ein.33 Nora beobachtete aus kulturkritischer Perspektive angesichts von Beschleunigung und Globalisierung ein Ende der mündlichen Tradierung von gruppenidentitätsstiftenden Vergangenheitsinhalten.34 Hier setzt sein Konzept des Gedächtnisortes ein, unter dem er jegliche bedeutungstragende Einheit, ob materiell oder immateriell, versteht, mit deren Hilfe eine Gruppe ihre gemeinsame Vergangenheit quasi extern speichert, sich vergegenwärtigt und daraus kollektive Identität bildet.35 Kritik brachte Nora vor allem ein, dass er in seiner Untersuchung französischer Gedächtnisorte nicht deren Entstehung, den Akteuren und sozialen Aushandlungsprozessen nachging, und sie vielmehr als national geteilt voraussetzte – eine
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Halbwachs schreibt hierzu, dass das Individualgedächtnis immer »›Ausblickspunkt‹ auf das kollektive Gedächtnis« ist. Vgl. ders., Das kollektive Gedächtnis, S. 31. Der Theorie Halbwachs’ sehr nahe stehen wissenssoziologische Ansätze zur Genese des kollektiven Wissensvorrats. So sieht Alfred Schütz den subjektiven Wissenserwerb, ähnlich wie Halbwachs das Individualgedächtnis, als »den Ursprung allen gesellschaftlichen Wissens«, da dieser auf »subjektiven Erfahrungen und Auslegungen« basiert, die in eine objektive Struktur eingegangen sind. Diese Struktur wirkt insofern auf die subjektiven Erfahrungen zurück, als sie dazu dient, aktuelle Erfahrungen interpretieren zu können, Alfred Schütz/Thomas Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, Konstanz 2003, S. 355 f. 32 Vgl. Pierre Nora, Entre Mémoire et Histoire. La problématique des lieux, Paris 1984; ders., Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Berlin 1990, S. 13; Astrid Erll, Medium des kollektiven Gedächtnisses – ein (erinnerungs-)kulturwissenschaftlicher Kompaktbegriff. In: dies./Ansgar Nünning (Hg.), Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität – Historizität – Kulturspezifität, Berlin 2004, S. 3–22, hier 8. 33 Der Gedächtnisort wird in vorliegender Arbeit nur begrifflich verwendet, ohne jedoch das ihm zugrundeliegende Konzept zu übernehmen. 34 Ähnlich und im Anschluss an Nora argumentiert James E. Young für die externe Speicherung des Gedächtnisses in Form von Denkmälern, vgl. James E. Young, The Texture of Memory. Holocaust Memorials and Meaning, New Haven 1993, S. 5. 35 Im Original: »Any significant entity, whether material or nonmaterial in nature, which by dint of human will or the work of time has become a symbolic element of the memorial heritage of any community.« Pierre Nora, From Lieux de Mémoire to Realms of Memory. Preface to the English-Language Edition. In: ders./Lawrence D. Kritzman (Hg.), Realms of Memory. Rethinking the French Past, New York 1996, S. XV–XXIV, hier XVII. Nora zufolge fallen unter Gedächtnisorte: »Museen, Archive, Friedhöfe und Sammlungen, Feste, Jahrestage, Verträge, Protokolle, Denkmäler, Wallfahrtsstätten, Vereine sind die Zeugenberge eines anderen Zeitalters, Ewigkeitsillusionen«. Nora, Zwischen Geschichte und Gedächtnis, S. 17.
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Einleitung
Kritik, die zur verstärkten Analyse der Akteure in den letzten Jahren führte und der sich vorliegende Arbeit mit dem Akteursansatz anschließt.36 Ebenso wie Nora betrachtet Jan Assmann, der zusammen mit Aleida Assmann zur enormen Popularisierung der Erinnerungsterminologie beitrug, Kultur als Gedächtnisphänomen und legt den Schwerpunkt auf ein verbindliches Sinnsystem der gedeuteten Vergangenheit, das einer Gruppe kollektive Identität stifte. Dabei hat Assmann das Konzept des kollektiven Gedächtnisses weiterentwickelt und ausdifferenziert.37 Um den Übergang von Inhalten des individuellen Erfahrungsgedächtnisses in objektivierte Kultur zu erklären, unterscheidet er in seiner 1992 erstmals erschienenen Studie »Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen« zum einen das kommunikative, also das mündlich tradierte intergenerationelle Gruppengedächtnis, das über 80 bis 100 Jahre reicht. Zum anderen das kulturelle Gedächtnis, das in kulturellen Ausdrucksformen gespeichert und von Überzeitlichkeit geprägt ist.38 Assmanns Gedächtnismodi stellen Analysekategorien dar, daher ist zu beachten, dass es sich beim Verhältnis vom kommunikativen und kulturellen Gedächtnis um Idealtypen handelt, die in einer modernen Gesellschaft so nicht vorzufinden sind, und es sich hier vielmehr um eine Interferenz handelt: Kommunizierte Erinnerungen sind immer an kulturellen Bezugssystemen orientiert,
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Gregor Feindt, Félix Kawatzek, Daniela Mehler, Friedemann Pestel und Rieke Trimçev kritisierten ebenso Studien, die an Noras Konzept des Gedächtnisortes anschließen und einen nationalen Referenzrahmen wählen und erinnerungskulturelle Materialisierungen nur formal untersuchen, ohne dabei die vielschichtigen Deutungsprozesse zu berücksichtigen. In solchen Studien würde der dekonstruktivistische Forschungsansatz der Memory Studies ad absurdum geführt, denn damit würden die Forschenden an der Identitätskonstruktion mittels einer Meistererzählung mitwirken. Vgl. dies., Europäische Erinnerung, S. 18–27; Monika Fenn/Christiane Kuller, Auf dem Weg zur transnationalen Erinnerungskultur? Konvergenzen, Interferenzen und Differenzen der Erinnerung an den Ersten Weltkrieg im Jubiläumsjahr 2014. In: dies. (Hg.), Auf dem Weg zur transnationalen Erinnerungskultur? Konvergenzen, Interferenzen und Differenzen der Erinnerung an den Ersten Weltkrieg im Jubiläumsjahr 2014, Schwalbach a. Ts. 2016, S. 9–34, hier 14 f. 37 Vgl. Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, 2. Auflage, München 1992. Im Folgenden wird mit der 4. Ausgabe von 1999 gearbeitet. Zu den »zwei Modi memorandi« vgl. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 48. Zur Kritik an der Formel »kollektive Identität«, die bei Jan und Aleida Assmann nicht ausreichend reflektiert, sondern vielmehr als Zuschreibung ohne Prüfung subjektiver Sichtweisen verwendet werde, vgl. Lutz Niethammer, Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur, Hamburg 2000, S. 364–366. 38 Vgl. Jan Assmann, Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: ders./Hölscher, Tonio (Hg.), Kultur und Gedächtnis, Frankfurt a. M. 1988, S. 9–19. hier 10. Vgl. zum kommunikativen und kulturellen Gedächtnis Sabine Moller, Das kollektive Gedächtnis. In: Christian Gudehus/ Ariane Eichenberg/Harald Welzer (Hg.), Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2010, S. 85–92, hier 87; dies., Vielfache Vergangenheit. Öffentliche Erinnerungskulturen und Familienerinnerungen an die NS-Zeit in Ostdeutschland, Tübingen 2003, S. 29.
Theorie und methodische Herangehensweise
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die zugleich von individuellen Erinnerungen geprägt werden.39 Astrid Erll konstatiert daher, dass es weder ein »vor-kulturelles individuelles Gedächtnis« gebe noch eine »vom Individuum abgelöste, allein in Medien und Institutionen verkörperte Kultur« und weist damit auf einen Punkt hin, den bereits Halbwachs in seiner Theorie betonte.40 Mit einer verbindenden Perspektive, die die menschlichen Träger des Gedächtnisses nicht aus dem Blick verliert, wird der Begriff der Erinnerungskultur41 eingeführt, der nur als Analysekategorie im Singular auftritt, in einer komplexen Gesellschaft jedoch immer eine Vielzahl umfasst, die den unterschiedlichen kulturellen Bezugssystemen, an denen Menschen teilhaben und die diese gestalten, entspricht.42 Orientiert am kultursemiotischen Dreieck von Erll, aber in die praktischen Begriffe der vorliegenden Arbeit übersetzt, werden die drei analytischen Dimensionen in ihrer Zusammenführung betrachtet: Akteure (sozial), Deutungen (mental) und Formen (materiell).43 Für den Begriff der Erinnerungskultur spricht zunächst, dass sich im ersten Wortbestandteil die subjektive Dimension ausdrückt.44 Der zweite Wortbestandteil lenkt den Blick auf das von Menschen gemachte dynamische »Gewebe an
39 Vgl. Jan Weyand/Gerd Sebald, Soziales Gedächtnis in differenzierten Gesellschaften. Relevanzstrukturen, mediale Konfigurationen und Authentizität in ihrer Bedeutung für soziale Gedächtnisse im generationellen Vergleich, 2006, S. 7 (https://www.soziologie.phil.fau.de/files/2018/01/soziale_erinnerung-antrag-gekuerzt_0.pdf; 15.5.2020). Ebenso hat Jan Assmann später die zeitliche Skalierung vom Übergang des kommunikativen in das kulturelle Gedächtnis als idealtypische Orientierung korrigiert. Vgl. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 55. Vgl. auch Gerd Sebald/Christian Brunnert, Methodische Erläuterungen. In: ders./René Lehmann/ Monika Malinowska/Florian Öchsner/Christian Brunnert/Johanna Frohnhöfer (Hg.), Soziale Gedächtnisse. Selektivitäten in Erinnerungen an die Zeit des Nationalsozialismus, Bielefeld 2011, S. 227–240, hier 228; Berek, Kollektives Gedächtnis und die gesellschaftliche Konstruktion, S. 43–45; Malte Thießen, Gedächtnisgeschichte. Neue Forschungen zur Entstehung und Tradierung von Erinnerungen. In: Archiv für Sozialgeschichte (AfS), 48 (2008), S. 607–634, hier 609 f.; Angela Keppler, Soziale Formen individuellen Erinnerns. Die kommunikative Tradierung von (Familien-)Geschichte. In: Harald Welzer (Hg.), Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung, Hamburg 2001, S. 137–159. 40 Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, S. 95. 41 Christoph Cornelißen definiert Erinnerungskultur als »einen formalen Oberbegriff für alle denkbaren Formen der bewussten Erinnerung an historische Ereignisse, Persönlichkeiten und Prozesse [...], seien sie ästhetischer, politischer oder kognitiver Natur«. Da er über diese Begriffsdefinition hinaus jedoch kein Modell einer Untersuchung von Erinnerungskulturen entwirft, ist sich im Folgenden auf Erll zu beziehen. Vgl. Christoph Cornelißen, Was heißt Erinnerungskultur? In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, (2003) 54, S. 548–563. 42 Erll teil die Ebenen wie folgt auf: die materiale (»Gegenstände, Texte, Monumente oder Dinge«), die soziale (»Personen, Praktiken und Institutionen«) und die mentale Dimension (»erinnerungskulturelle Schemata und Codes«). Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, S. 99 f. 43 Vgl. ebd., S. 100. 44 Berek, Kollektives Gedächtnis und die gesellschaftliche Konstruktion, S. 39.
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Einleitung
Bedeutungen«,45 also ein kulturelles Bezugssystem, das es erst möglich macht, Sinn zu bilden und damit die Welt bzw. die Vergangenheit zu erfassen und zu verstehen. Erinnerungskulturen werden daher als die von Menschen getragenen und sinnstiftenden Vergangenheitsdeutungen definiert, die helfen, »stabile, soziale Bezüge zu entwickeln und aufrechtzuerhalten«46, Handeln anleiten und Orientierung in der Gegenwart und für die Zukunft bieten und in bestimmten Formen manifest werden. So drücken sich Erinnerungskulturen in verschiedenen Zeichensystemen wie Sprache, Kunst und Wissenschaft und deren Objektivationen aus: Schrift, Filmund Bildmaterial, Denkmäler, Ausstellungen, Dinge, Symbole, Rituale und Bauwerke.47 Gesondert ist an dieser Stelle mit dem Symbol auf ein Zeichen einzugehen, dem in Erinnerungskulturen und insbesondere der Sinnfrage nach der Deutung des Todes eine herausgehobene Funktion zukommt. Gerade das Symbol verleiht »dem argumentativ nicht mitteilbaren, dem diskursiv nicht Ausdrückbaren eine eigene Sprache [...], Symbole sind Kommunikationsmaterialien für Außeralltägliches und Außergewöhnliches«, wie Hans-Georg Soeffner definiert.48 Beispielhaft ist hier das Ritual zu nennen, das als »symbolische Handlung« in Krisen- oder Übergangssituationen »Ordnung, ›Harmonie‹ und Verhaltenssicherheit« stiftet.49 Die Funktion des Symbols lässt sich am Beispiel von Trauerund Bestattungsritualen besonders deutlich zeigen, denn diese überbrücken und erleichtern den Übergang vom Leben zum Tod.50 Die Trauergemeinschaft greift auf ihr bekannte symbolische Praktiken zurück, die das Totengedenken formen. Zugleich drückt sich in der Regelhaftigkeit von Ritualen und dem ihnen immanenten Handlungswissen eine Grenzziehung aus.51 Rituale folgen Bedürfnissen und so auch Interessen, wenn etwas durch sie sichtbar gemacht werden soll: »eine
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Claus Leggewie/Dariuš Zifonun/Anne-Katrin Lang/Marcel Siepmann/Johanna Hoppen, Einleitung der HerausgeberInnen. In: dies. (Hg.), Schlüsselwerke der Kulturwissenschaften, Bielefeld 2012, S. 13–16, hier 13. 46 Ulrike Jureit, Generationenforschung, Göttingen 2006, S. 117; vgl. Hartmut Esser, Soziologie. Spezielle Grundlagen, Band 6: Sinn und Kultur, Frankfurt a. M. 2001, S. I. 47 Vgl. Cornelißen, Kollektives und kulturelles Erinnern, S. 27. 48 Soeffner, Symbolische Formung, S. 37 f. 49 Hans-Georg Soeffner, Zu den Stichwörtern »Kollektivsymbol« und »Ritual«. In: Rainer Bürgel (Hg.), Raum und Ritual. Kirchbau und Gottesdienst in theologischer und ästhetischer Sicht, Göttingen 1995, S. 139–149, hier 148. 50 Zu den rites de passage, ein Konzept, das auf den Ethnologen Arnold van Gennep zurückgeht, vgl. Arnold van Gennep, Übergangsriten (Les rites de passage), Frankfurt a. M. 2005, sowie die Weiterführung van Genneps Modell von Victor Turner, Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur, Frankfurt a. M. 1989; Sandra Petermann, Rituale machen Räume. Zum kollektiven Gedenken der Schlacht von Verdun und der Landung in der Normandie, Bielefeld 2007. 51 Esser, Soziologie. Spezielle Grundlagen, Band 6, S. I.
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Position, eine Person oder sich selbst [...] es kann auch heißen, entlarvt werden, gezeigt werden, wie man auch ist«.52 Ein weiterer Begriff, der im Hinblick auf die Interpretation von Vergangenheit, die in bestimmten Mustern erfolgt, näher erläutert werden soll, ist der des Deutungsmusters. Deutungsmuster der Vergangenheit werden hier als »eine verbreitete, also regelmäßig anzutreffende, Deutung vergangener Geschehnisse (verstanden), deren sprachliche Erscheinungsform – die Wörter, in denen sie geäußert wird – variieren kann«.53 Deutung ist dabei als »Verknüpfung eines allgemeinen typisierten Deutungsmusters mit einem konkreten referenziellen Anlass« zu verstehen, die nahelegt, »worum es sich bei einem Phänomen handelt« und wie es zu interpretieren ist.54 Beispielhaft sind an dieser Stelle Deutungsmuster zu nennen, die die Gefangenen der Emslandlager als Kriminelle stigmatisierten, ihr Leid marginalisierten und insbesondere für das lokale Umfeld der ehemaligen Emslandlager eine entlastende Funktion hatten.55 Mit diesem Verweis auf den strategischen und funktionalen Gebrauch von Vergangenheitsdeutungen wird zum Verständnis von Erinnerungskultur als politisches Handlungsfeld übergeleitet und der Akteursansatz im Hinblick auf den Gebrauch von Vergangenheitsdeutungen zur Durchsetzung politischer Interessen erläutert.56 Die Geschichte der sich auf die Emslandlager beziehenden Erinnerungskulturen ist zu einem ganz wesentlichen Teil als eine Streitgeschichte zu schreiben,
52 Ebd. 53 Christian Gudehus, Tradierungsforschung. In: ders./Ariane Eichenberg/Harald Welzer (Hg.), Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2010, S. 312–318, hier 315. So liegen nach der wissenssoziologischen Bestimmung von Reiner Keller Bedeutungen nicht »lose in den Diskursen«, sondern basieren auf »Grundmustern der Deutung, und den konkreten Elementen ihrer Manifestation (Beispiele, Symbole, Statistiken, Bilder u. a. m.)«. Reiner Keller, Wissenssoziologische Diskursanalyse. In: ders./Andreas Hirseland/Werner Schneider/Willy Viehöver (Hg.), Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse, Band 1: Theorien und Methoden, Wiesbaden 2001, S. 113–143, hier 131 f. 54 Ebd., S. 132. Vgl. auch Reinhold Sackmann, Das Deutungsmuster »Generation«. In: Michael Meuser/ders. (Hg.), Analyse sozialer Deutungsmuster. Beiträge zur empirischen Wissenssoziologie, Pfaffenweiler 1992, S. 199–216, hier 199. 55 Zur Deutung von Kriminalität Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, einerseits biologistisch, andererseits soziologisch, vgl. Thomas Kailer, Biologismus und Soziologismus: Normative Deutungsmuster von Kriminalität? Zum Verhältnis von übergeordneter Sinnstiftung und Verbrecherkategorien in Deutschland 1882–1933. In: Heike Franz/Walter Kogge/Torger Möller/Torsten Wiltholt (Hg.), Wissensgesellschaft. Transformationen im Verhältnis von Wissenschaft und Alltag, Bielefeld 2001, S. 50–84 (https://pub.uni-bielefeld.de/publication/2305319; 15.5.2020). 56 Eine konzise Bestimmung von Erinnerungskultur als Feldbegriff findet sich bei Berthold Molden, Mnemohegemonics. Geschichtspolitik und Erinnerungskultur im Ringen um Hegemonie. In: ders./David Mayer (Hg.), Vielstimmige Vergangenheiten – Geschichtspolitik in Lateinamerika, Wien 2009, S. 31–56.
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Einleitung
denn an den Berührungspunkten koexistierender Erinnerungskulturen stritten Akteure um die Durchsetzung ihrer Deutung: Es ging um die »Einwerbung von Legitimität«, wie erinnerungspolitisches Handeln und die funktionale Seite von Erinnerungskulturen zu verstehen ist.57 Charakteristisch und prägend war das spannungsgeladene Verhältnis zwischen den traditionell christdemokratisch regierten Landkreisen im Emsland und den sich in einer Häftlingsvereinigung organisierenden ehemaligen kommunistischen Gefangenen der Emslandlager. Auf der einen Seite bestimmte in der Region die Stigmatisierung der Gefangenen als Kriminelle den Diskurs. Auf der anderen Seite rangen die ehemaligen kommunistischen Gefangenen in Zeiten des Kalten Krieges um ihre Selbstbehauptung. Gegründet 1956 im Jahr des Verbotes der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD), kämpfte die »Emsland-Lagergemeinschaft Moorsoldaten« teils über Jahrzehnte erfolglos für die gesetzliche und moralische Anerkennung ihrer Mitglieder als Verfolgte des Nationalsozialismus.58 Erinnerungskultur ist demnach auch als politisches Handlungsfeld aufzufassen, in dem Akteure um die Deutungshoheit streiten.59 Dieses Handlungsfeld konturiert ganz unterschiedliche Bereiche, wie Peter Reichel am Beispiel der Geschichte der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus ausführt: »Die konfliktreiche Geschichte der Schuldbewältigung und Schuldverdrängung, des politischen Wandels, des trauernden Gedenkens, des öffentlichen Erinnerns und Vergessens, der historiografischen Deutung und Umdeutung, des Erfindens und Erzählens.«60 Ebenso wie in dieser Aufzählung werden in vorliegender Arbeit Historikerinnen und Historiker als erinnerungspolitische Akteure im Kontext sozialer Aushandlungsprozesse betrachtet. Eine Distanzierung der Geschichtswissenschaft vom kollektiven Gedächtnis, wie sie Aleida Assmann erkennt, wird nicht vertreten.61 57 Michael Kohlstruck, Erinnerungspolitik. Kollektive Identität, Neue Ordnung, Diskurshegemonie. In: Birgit Schwelling (Hg.), Politikwissenschaft als Kulturwissenschaft. Theorien, Methoden, Problemstellungen, Wiesbaden 2004, S. 173–193, hier 173. Anschlussfähig hat das Gedächtnisparadigma für die Politikwissenschaft neben Kohlstruck auch insbesondere Schmid gemacht, der dabei zudem die räumliche Dimension mitdenkt; vgl. Harald Schmid, Das Landesgedächtnis. Geschichtspolitik und Erinnerungskultur in Schleswig-Holstein. In: Janina Fuge/ Rainer Hering/ders. (Hg.), Das Gedächtnis von Stadt und Region. Geschichtsbilder in Norddeutschland, München 2010, S. 110–137, hier 110. 58 Vgl. Jens Matten, Einleitung. In: ders./Günter Oesterle (Hg.), Der Abgrund der Erinnerung. Kulturelle Identität zwischen Gedächtnis und Gegen-Gedächtnis, Berlin 2010, S. 9–21, hier 11. 59 Vgl. Peter Reichel, Politik mit der Erinnerung. Gedächtnisorte im Streit um die nationalsozialistische Vergangenheit, Wien 1995, S. 33. 60 Ders., Vergangenheitsbewältigung in Deutschland. Die Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur von 1945 bis heute, München 2001, S. 9. 61 Vgl. Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 2009, S. 142. Auch Halbwachs grenzte das kollektive Gedächtnis von der Geschichtsschreibung klar ab, da er Letztere als objektiv und systematisierend auszeichnete.
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Als Akteure werden im Folgenden all diejenigen identifiziert, die »handlungs- und deutungsfähig« sind.62 So wird in Anlehnung an Max Weber Handeln als sinnhaftes und verstehbares Verhalten in Abgrenzung zu ungerichtetem Verhalten aufgefasst.63 Handelnde sind dann Akteure, wenn sie in sozialen Zusammenhängen intentional und zukunftsgerichtet agieren und ihr Handeln auf andere bezogen ist. Demnach werden unter erinnerungskulturellen Akteuren Einzelpersonen, Gruppen, Organisationen, Institutionen und soziale Bewegungen verstanden, die öffentlich mit Vergangenheitsdeutungen operieren und deren Handeln an vorherrschenden oder marginalisierten Erinnerungskulturen orientiert ist und auf diese zurückwirkt.64 Mithilfe der Identifikation und Beschreibung von Akteuren, die die Möglichkeit haben, Deutungsmuster der Vergangenheit zu nutzen, zu hinterfragen oder zu verändern, werden zugleich aktuelle Machtverhältnisse und geltende Sagbarkeitsregeln in der Arbeit sichtbar gemacht.65 Es geht also auch um Status, wobei zu zeigen ist, dass gerade im ländlichen Raum die Eliten als Akteure auftreten. Elite wird dabei verstanden als »ein Einordnungs- und Sammelbegriff für all jene, die innerhalb einer gegebenen Ordnung die ranghöchsten Statuspositionen einnehmen und die Entwicklung des Gemeinwesens entscheidend steuern und beeinflussen«.66 Trotz dieser Engführung wird überwiegend der weite Akteursbegriff gewählt, um ein offenes Politikverständnis zu unterstreichen, das darunter nicht allein
Vgl. Gerald Echterhoff/Martin Saar, Einleitung. Das Paradigma des kollektiven Gedächtnisses. Maurice Halbwachs und die Folgen. In: dies. (Hg.), Kontexte und Kulturen des Erinnerns. Maurice Halbwachs und das Paradigma des kollektiven Gedächtnisses, Konstanz 2002, S. 13–35, hier 22. Dass die Geschichtswissenschaft ihre Entsprechung in aktuellen politischen Diskursen findet und somit auch Historiker und Historikerinnen als erinnerungskulturelle Akteure aufzufassen sind, hat insbesondere Nicolas Berg in seiner Arbeit über die Historiografie zum Holocaust intensiv herausgearbeitet. Vgl. Nicolas Berg, Der Holocaust und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung, Göttingen 2003, S. 42. Vgl. zur Argumentation gegen eine Trennung von Gedächtnis und Geschichte Jörn Rüsen, Kultur macht Sinn. Orientierung zwischen Gestern und Morgen, Köln 2006, S. 65–108; Konrad H. Jarausch/Martin Sabrow (Hg.), Verletztes Gedächtnis. Erinnerungskultur und Zeitgeschichte im Konflikt, Frankfurt a. M. 2002. 62 Anna Zofia Musiol, Erinnerung und Vergessen: Erinnerungskulturen im Lichte der deutschen und polnischen Vergangenheitsdebatten, Wiesbaden 2011, S. 46. 63 Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1922, S. 1; vgl. auch Uwe Schimank, Handeln und Strukturen. Einführung in die akteurstheoretische Soziologie, Weinheim 2016; Esser, Soziologie. Spezielle Grundlagen, Band 6, S. 120. 64 Vgl. Schimank, Handeln und Strukturen, S. 44 f.; Thomas Kron/Lars Winter, Aktuelle soziologische Akteurtheorien. In: Georg Kneer/Markus Schroer (Hg.), Handbuch soziologische Theorien, Wiesbaden 2009, S. 41–66. 65 Vgl. Achim Landwehr, Geschichte des Sagbaren. Einführung in die Historische Diskursanalyse, Tübingen 2001, S. 77 f. 66 Rainer Paris, Autorität – Führung – Elite. Eine Abgrenzung. In: Stefan Hradil/Peter Imbusch (Hg.), Oberschichten – Eliten – Klassen, Wiesbaden 2003, S. 55–72, hier 60.
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Einleitung
das staatliche Handeln begreift, sondern verschiedene Diskursebenen miteinbezieht.67 Daran schließt ebenfalls der Begriff der Erinnerungspolitik an, der für die interessengeleitete Aushandlung und »politische Indienstnahme von Vergangenheit«68 in vorliegender Arbeit Verwendung finden wird und die Dynamik von einer nicht abgeschlossenen Vergangenheitsdeutung akzentuiert.69 Das Forschungsset ist in Anlehnung an Michael Kohlstruck abschließend wie folgt zusammenzufassen: Erstens sind die Akteure und ihre Interaktionen zu bestimmen, zweitens werden ihre Strategien erfasst, mit denen politische Ziele verfolgt werden, drittens sind hierbei Selektionsprozesse nachzuzeichnen, die viertens im Sinne der Akteure interpretiert und fünftens öffentlich manifest und »wirksam werden«.70
3. Emsland: regionaler Handlungs- und Deutungsraum An die politische Dimension von Erinnerungskulturen ist die Beobachtung des Politikwissenschaftlers Harald Schmid anzuknüpfen, der argumentiert, dass die Deutungs- und Handlungsweisen von Akteuren vielfach erst »vor Ort« konkret werden und daher Erinnerungskulturen »per se eine lokale und regionale Dimension« haben.71 Hieran schließt die vorliegende Arbeit an und verbindet den Akteursansatz mit einer regionalen Perspektive. Diese verspricht zum einen, die unterschiedlichen Ordnungsebenen, Kräfte- und Machtverhältnisse von »lokaler, regionaler, partikularstaatlicher oder nationaler Art« in einem überschaubaren Untersuchungsraum zusammenzuführen und in ihrer Wechselwirkung zu un-
67 Als Diskursebenen bezeichnen Margarete und Siegfried Jäger »die sozialen Orte [...], von denen aus jeweils gesprochen oder geschrieben wird«, also »Wissenschaft(en), Politik, Medien, Literatur, Erziehung, Alltag, Geschäftsleben, Verwaltung etc.«. Margarete Jäger/Siegfried Jäger, Deutungskämpfe. Theorie und Praxis Kritischer Diskursanalyse, Wiesbaden 2007, S. 28. 68 Peter Reichel/Harald Schmid/Peter Steinbach, Die »zweite Geschichte« der Hitler-Diktatur. Zur Einführung. In: dies. (Hg.), Der Nationalsozialismus – Die zweite Geschichte. Überwindung – Deutung – Erinnerung, München 2009, S. 7–21, hier 16. 69 Der Begriff der Geschichtspolitik konnotiert stärker das staatliche Handeln, das eine hegemoniale Deutung widerspiegelt und meist politisch und gesetzlich abgesichert ist. Eine Unterscheidung, die die vorliegende Arbeit jedoch nicht machen wird und auch aus forschungspraktischen Gründen den Begriff der Erinnerungspolitik im Sinne eines beide Wirkrichtungen zusammendenkenden strategischen Gebrauchs von Vergangenheit und ihren Deutungen verwenden wird; vgl. Barbara Korte/Sylvia Paletschek/Wolfgang Hochbruck, Der Erste Weltkrieg in der populären Erinnerungskultur. Einleitung. In: dies. (Hg.), Der Erste Weltkrieg in der populären Erinnerungskultur, Essen 2008, S. 7–25, hier 12. 70 Kohlstruck, Erinnerungspolitik, S. 181. 71 Harald Schmid, Regionale Erinnerungskulturen – ein einführender Problemaufriss. In: ders. (Hg.), Erinnerungskultur und Regionalgeschichte, München 2009, S. 7–22, hier 11.
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tersuchen.72 Zum anderen wird durch die Verbindung der Makro- und Mikroperspektive ein »komplexes Panorama«73 verschiedener Erinnerungskulturen sichtbar und es kann zugleich nach regionalen Eigenheiten gefragt werden.74 Mit dieser Perspektive nimmt diese Arbeit einen Forschungstrend von Lokalund Regionalstudien auf, der homogene Vorstellungen von Erinnerungskulturen, wie sie noch in den Gedächtnistheorien der 1990er-Jahre betont wurden, mithilfe der kleinräumigen und -teiligen Betrachtung bricht und die Vielstimmigkeit von Erinnerungskulturen zeigt.75 Insbesondere aus einer handlungs- und akteursorientierten Herangehensweise rückt damit auch das Umfeld ehemaliger NS-Konzentrationslager in den Blick. Für diesen Forschungsbereich haben Harold Marcuse (»Das Erbe Dachaus«) und Jörg Skriebeleit (»Erinnerungsort Flossenbürg«) Pionierarbeit geleistet. Beide Längsschnittstudien richten den Fokus auf die historischen Orte Dachau bzw. Flossenbürg als Schauplätze von Erinnerungskulturen und betrachten das Handeln der hier auftretenden Akteure im Wechselspiel mit lokalen Sinnzuschreibungen.76 Eine andere Sicht als Marcuse und Skriebeleit, die die öffentlich wirksamen Erinnerungshandlungen fokussiert haben, nehmen Annette Leo und Gesa Anne Trojan ein. Aus einer alltagshistorischen Perspektive haben sie die Erinnerungen der Anwohner und Anwohnerinnen der ehemaligen Konzentrationslager Ravensbrück (Leo) und Neuengamme
72 Martina Steber, Ethnische Gewissheiten. Die Ordnung des Regionalen im bayerischen Schwaben vom Kaiserreich bis zum NS-Regime, Göttingen 2010, S. 34. Ähnlich äußern sich Dietmar von Reeken und Thießen, die »Regionen als Übergangsräume zwischen der lokalen und nationalen Ebene« auffassen. Dietmar von Reeken/Malte Thießen, Regionale oder lokale Geschichtskulturen? Reichweite und Grenzen von Erinnerungsräumen. In: Fuge/Hering/Schmid (Hg.), Das Gedächtnis von Stadt und Region, S. 71–94, hier 91. 73 Steber, Ethnische Gewissheiten, S. 34. 74 Zur Diskussion um einen räumlichen Zugriff in den Memory Studies vgl. Moritz Csáky/Christoph Leitgeb, Kommunikation – Gedächtnis – Raum, Orientierungen im spatial turn der Kulturwissenschaften. In: dies. (Hg.), Kommunikation – Gedächtnis – Raum, Kulturwissenschaften nach dem spatial turn, Bielefeld 2009, S. 7–10; Riccardo Bavaj, Was bringt der »spatial turn« der Regionalgeschichte? Ein Beitrag zur Methodendiskussion. In: Westfälische Forschungen, 56 (2006), S. 457–484. 75 So erkannte Thießen 2007 im lokalen und regionalen Zugriff auf Erinnerungskulturen ein Desiderat der Forschung. Vgl. Malte Thießen, Eingebrannt ins Gedächtnis. Hamburgs Gedenken an Luftkrieg und Kriegsende 1943 bis 2005, München 2007, S. 11. Dass diese Leerstelle in den letzten Jahren zunehmend gefüllt wird, ist mit Blick auf einige Studien mit lokalem und regionalem Schwerpunkt zu zeigen: Sarah Thieme, Nationalsozialistischer Märtyrerkult. Sakralisierte Politik und Christentum im westfälischen Ruhrgebiet (1929–1939), Frankfurt a. M. 2017; Gesa Anne Trojan, Das Lager im Dorf lassen. Das KZ Neuengamme in der lokalen Erinnerung, München 2014; Steber, Ethnische Gewissheiten; Jörg Skriebeleit, Erinnerungsort Flossenbürg. Akteure, Zäsuren, Geschichtsbilder, Göttingen 2009. 76 Harold Marcuse, Legacies of Dachau. The Uses and Abuses of a Concentration Camp, 1933– 2001, Cambridge 2001; Skriebeleit, Erinnerungsort Flossenbürg.
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(Trojan) in Form narrativer Interviews untersucht und deren subjektiven Deutungen eingefangen.77 In seiner Staatsexamensarbeit von 2004 hat Henning Harpel die »Formen und Probleme der aktiven Geschichtserinnerung« im nördlichen Emsland zwischen 1955 und 1993 beleuchtet und damit eine erste zusammenhängende Studie zu den erinnerungskulturellen Entwicklungen geliefert.78 Darüber hinaus ist die im Jahr 2018 erschienene Vergleichsstudie von Bianca Roitsch hervorzuheben, die das Verhältnis des lokalen Umfeldes der Lager Bergen-Belsen, Esterwegen und Moringen zwischen 1933 und 1960 mithilfe des Paradigmas der »Volksgemeinschaft« auf die Interaktionen zwischen den Lagern und den umliegenden Ortschaften während des Nationalsozialismus sowie die mentalen und personellen Kontinuitäten hinsichtlich erinnerungspolitischer Debatten nach 1945 betrachtet.79 Eine Studie, die die Gedächtnisgeschichte der Emslandlager von der Befreiung der Lager im Frühjahr 1945 bis zur Eröffnung einer zentralen Gedenkstätte Esterwegen im Jahr 2011 mithilfe des Akteursansatzes untersucht, dabei sowohl die Subjektivität der Handelnden als auch deren Eingebundensein in Erinnerungsmilieus beachtet sowie die Erinnerungskulturen in soziale Wandlungsprozesse einordnet und durch die mikroanalytische Betrachtung greifbar macht, stellt jedoch bislang ein Desiderat dar. An diese Forschungslücke schließt die vorliegende Arbeit an und führt mit der Untersuchung von Akteuren, Deutungen und Ausdrucksformen die kultur- und sozialgeschichtliche sowie politikwissenschaftliche Betrachtung von Erinnerungskultur zusammen. Wie Region in vorliegender Arbeit bestimmt wird, ist im Folgenden zu erörtern, um dann die Region Emsland aus historischer Perspektive zu beschreiben.80 77 Vgl. Annette Leo, »Das ist so’n zweischneidiges Schwert hier unser KZ ...«. Der Fürstenberger Alltag und das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück, Berlin 2008; Trojan, Das Lager im Dorf lassen. 78 Vgl. Henning Harpel, Die Emslandlager des Dritten Reichs. Formen und Probleme der aktiven Geschichtserinnerung im nördlichen Emsland 1955–1993. In: Emsländische Geschichte, 12 (2005), S. 134–239. 79 Vgl. Bianca Roitsch, Mehr als nur Zaungäste. Örtliche Bevölkerung und Konzentrationslager – Bergen-Belsen, Esterwegen und Moringen 1933–1960, Paderborn 2018. 80 Zu den verschiedenen Ansätzen einer Regionsbestimmung vgl. u. a. von Reeken/Thießen, Regionale oder lokale Geschichtskulturen, S. 71–94; Bernd Schönemann, Die Region als Konstrukt. In: Blätter für deutsche Landesgeschichte, 135 (1999), S. 153–187; Andreas Wirsching, Nationalsozialismus in der Region. Tendenzen der Forschung und methodische Probleme. In: Horst Möller/ders./Walter Ziegler (Hg.), Nationalsozialismus in der Region. Beiträge zur regionalen und lokalen Forschung und zum internationalen Vergleich, München 1996, S. 25–46; Bernd Schönemann, Die Region als Kategorie und Problem historischer Forschung, gesellschaftlicher Geschichtskultur und geschichtsdidaktischer Reflexion. In: Bernd Müller/Uwe Uffelmann (Hg.), Regionale Identität im vereinten Deutschland. Chance und Gefahr, Weinheim 1996, S. 54–80; Günther Lottes, Zur Einführung: Staat, Nation, Region – Zu drei Prinzipien der Formationsgeschichte Europas. In: ders. (Hg.), Region, Nation, Europa: historische Determinanten der Neugliederung eines Kontinents, Regensburg 1992, S. 10–44.
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Die räumliche Kategorie »Region« kann auf zwei Ebenen betrachtet werden: als wissenschaftlich konstruierte Beschreibungsgröße, bei der Region als überschaubare Untersuchungseinheit in Abgrenzung zur Landesgeschichte erscheint, und als Handlungs- sowie Wahrnehmungs- und Erfahrungsraum.81 In der vorliegenden Arbeit ist der erste Basistypus erkennbar, denn mithilfe des regionalen Zugriffs können erinnerungskulturelle Entwicklungen »in einem überschaubaren Gebiet exemplarisch und in der notwendigen Tiefe« untersucht werden.82 Über diese wissenschaftliche Bestimmungsgröße hinaus wird Region als ein Raum mittlerer Größe verstanden, in dem verschiedene strukturelle Elemente verdichtet vorliegen und diese durch ein geteiltes kulturelles Bezugssystem thematisiert werden und zu Handlungen anleiten.83 In diesem kulturellen und sozialen Zusammenhang kann sich ein Regionalbewusstsein ausbilden, das wiederum entscheidend an sozial vermittelten Deutungsmustern der Vergangenheit orientiert ist.84 Vom Emsland als Region soll im Folgenden die Rede sein, da hier verschiedene strukturelle Komponenten verdichtet vorliegen: erstens naturräumliche Voraussetzungen in Form der weiten Moorgebiete, zweitens eine daraus resultierende begrenzte Nutzbarkeit, die eine bestimmte sozioökonomische Lage hervorbrachte, drittens die Grenzlage zu den Niederlanden sowie viertens ein mit dem Katholizismus von weiten Bevölkerungsanteilen geteiltes kulturelles Bezugssystem.85 Als administrativ-politische Einheit kann das Emsland im engeren Sinne dagegen nicht gelten. So dehnten sich die Emslandlager zwischen 1933
81 Vgl. Georg Kunz, Verortete Geschichte. Regionales Geschichtsbewußtsein in den deutschen Historischen Vereinen des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2000, S. 16. Gemeinsam ist diesen beiden Blickrichtungen auf Region, dass sie die Gemachtheit des Raumes betonen und sich von »ausschließlich strukturell argumentierenden Ansätzen«, die beispielsweise geografische Anordnung, soziale und ökonomische Lage sowie politisch-administrative Einheiten als gegebene Entitäten auffassen, abgrenzen. Vgl. Steber, Ethnische Gewissheiten, S. 15. 82 Von Reeken/Thießen, Regionale oder lokale Geschichtskulturen, S. 85. 83 Zu den strukturellen Elementen gibt Steber an, dass sie Region versteht »als Raum relativer Größe, der erstens aufgrund von geografischen, ökonomischen, sozialen, administrativen, politischen oder lebensweltlichen, mithin kommunikativen Strukturen vernetzt und verdichtet ist. Diese räumlichen Strukturen können deckungsgleich sein, müssen dies allerdings nicht, sind in ständiger Veränderung begriffen und können miteinander konfligieren«. Steber, Ethnische Gewissheiten, S. 16. Vgl. auch Horst Möller, Regionalismus und Zentralismus in der neueren Geschichte. In: ders./Wirsching/Ziegler (Hg.), Nationalsozialismus in der Region, S. 9–24, hier 13. 84 Vgl. Jürgen Reulecke, Regionalgeschichte heute. Chancen und Grenzen regionalgeschichtlicher Betrachtungsweise in der heutigen Geschichtswissenschaft. In: Karl Heinrich Pohl (Hg.), Regio nalgeschichte heute. Das Flüchtlingsproblem in Schleswig-Holstein nach 1945, Bielefeld 1997, S. 23–32, hier 31. 85 Vgl. von Reeken/Thießen, Regionale oder lokale Geschichtskulturen, S. 85.
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und 1945 über insgesamt drei unterschiedliche Kreise aus: Aschendorf-Hümmling, Meppen und Grafschaft Bentheim. Diese Kreise zählten seit dem Jahr 1866 zur preußischen Provinz Hannover und lagen im Regierungsbezirk Osnabrück. Der heutige Landkreis Emsland, der aus den Kreisen Aschendorf-Hümmling, Lingen und Meppen gebildet wurde und somit zu Teilen mit der historischen Lagertopografie übereinstimmt, existiert seit dem Jahr 1977.86 Das Emsland meint zunächst eine Landschaft am Mittellauf der Ems, deren Topografie durch Bodenfließen, heftige Windstürme und Schmelzwasser während der Eiszeiten geformt wurde und die von Hochmoorgebieten und Geestlandschaften geprägt ist.87 Während die Erschließung der Moorgebiete auf der niederländischen Seite bereits im 16. Jahrhundert einsetzte, blieb das Moorgebiet auf deutscher Seite weitgehend unerschlossen. Erst im 19. Jahrhundert wurden staatliche Maßnahmen zur Landerschließung ergriffen, an die die nationalsozialistische Raumplanung seit 1933 anknüpfte.88 Die sozioökonomische Lage im Emsland war bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts von enormer Armut gekennzeichnet. Torfabbau und Kanalschifffahrt bildeten einen der wenigen Wirtschaftsbereiche in der kaum industrialisierten Region.89 Landwirtschaftlich zu nutzende Flächen konnten nur durch langwierige Verfahren entwässert und urbar gemacht werden, wobei es aufgrund der moorigen und sandigen Bodenverhältnisse sowie dem feuchtkalten Klima häufig zu Missernten kam.90 Noch bis ins 20. Jahrhundert teilte sich die Gesellschaft in drei Schichten auf,91 wobei den größten Teil besitzlose Heuerlinge ausmachten, die in ärmlichsten Verhältnissen lebten; teils in Moorkaten, teils in Erdlöchern, die allein von Planen geschützt waren.92 In dieser Gesellschaft wies der Katholizismus, der historisch durch die Zugehörigkeit zum Niederstift Münster
86 Vgl. Walter Ziegler, Gaue und Gauleiter im Dritten Reich. In: Möller/Wirsching/ders. (Hg.), Nationalsozialismus in der Region, S. 139–160, hier 141 f. 87 Vgl. Gerd Hugenberg, Das Emsland. Landschaft und Geologie. In: Horst Bechtluft/Werner Franke/ders. (Hg.), Das Emsland, Hannover 1982, S. 5–20, hier 7; Andrea Kaltofen, Archäologie. In: Werner Franke/Josef Grave/Heiner Schüpp/Gerd Steinwascher (Hg.), Der Landkreis Emsland: Geographie, Geschichte, Gegenwart – Eine Kreisbeschreibung, Meppen 2002, S. 222–235, hier 223. 88 Vgl. Ziegler, Gaue und Gauleiter im Dritten Reich, S. 141 f. 89 Vgl. Peter-Michael Steinsiek/Johannes Laufer, Quellen zur Umweltgeschichte in Niedersachsen vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Ein thematischer Wegweiser durch die Bestände des Niedersächsischen Landesarchivs, Göttingen 2012, S. 201. 90 Vgl. Annette Krug, Kleidung im Lingener Land 1815–1914. Eine Quellenuntersuchung, Münster 1998, S. 29. 91 Hierzu zählten: »Colone (Voll- und Halberben), Kötter (Erb- oder Großkötter, geringere Erben) [...] und Heuerlinge (Pächter ohne Haus- und Grundbesitz)«. Ebd., S. 28. 92 Vgl. ebd., S. 28–30.
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bedingt war, eine hohe Bindekraft auf und prägte ebenso die politische Kultur.93 Das Vereinswesen sowie die Presselandschaft waren ganz auf die katholische Kirche ausgerichtet und seit ihrer Gründung erhielt die Deutsche Zentrumspartei in den emsländischen Kreisen stets die höchsten Wahlergebnisse.94 Das katholische Milieu95 reichte dabei bis in den Kreis Grafschaft Bentheim hinein, dessen Bevölkerung ansonsten überwiegend lutherisch-reformiert war.96 Da sich der politische Katholizismus im Emsland durch einen Hang zur Obrigkeit auszeichnete, die kirchliche vor die staatliche Ordnung gestellt wurde und die Wählerschaft sowohl dem Liberalismus als auch dem Sozialismus misstraute,97 blieb die Mehrzahl der Bevölkerung dem Zentrum treu und ließ sich von der nationalsozialistischen säkularen Bewegung nicht unmittelbar mobilisieren.98 Noch im März 1933 erreichte die NSDAP bei der Reichstagswahl in den emsländischen Kreisen keine Mehrheit.99 Dieses vielfach als Zeichen von Resistenz und Resilienz
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Vgl. Karl H. Schneider, Wege in die Moderne. Varianten dörflicher Entwicklung zwischen 1945 und 1970. In: Daniela Münkel (Hg.), Der lange Abschied vom Agrarland. Agrarpolitik, Landwirtschaft und ländliche Gesellschaft zwischen Weimar und Bonn, Göttingen 2000, S. 69–92, hier 72; Martin Löning, Die Durchsetzung nationalsozialistischer Herrschaft im Emsland (1933–1935). In: Emsland/Bentheim. Beiträge zur Geschichte, 12 (1996), S. 7–53, hier 47. Vgl. Löning, Die Durchsetzung, S. 48–52. Zum emsländischen Vereinswesen im 19. und 20. Jahrhundert vgl. Hubert Rinklake, Katholisches Milieu und Nationalsozialismus – Traditionelle Verhaltensweisen und gesellschaftlicher Umbruch im Emsland vom Ende des Kaiserreiches bis zur Bundesrepublik Deutschland, Dissertation Universität Göttingen 1994, S. 85–149. Zu den Strukturmerkmalen des katholischen Milieus vgl. M. Rainer Lepsius, Parteiensystem und Sozialstruktur: zum Problem der Demokratisierung der deutschen Gesellschaft. In: Gerhard A. Ritter (Hg.), Deutsche Parteien vor 1918, Köln 1973, S. 56–80, hier 64–70. Es handelte sich dabei um die Lager Alexisdorf, Bathorn und Wietmarschen. Abgesehen von diesen wenigen Gemeinden war die Bevölkerungsmehrheit dieses Kreises lutherisch und reformiert. Vgl. Herbert Wagner, Die Gestapo war nicht allein ... Politische Sozialkontrolle und Staatsterror im deutsch-niederländischen Grenzgebiet 1929–1945, Münster 2004, S. 160. Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der deutsche Katholizismus im Jahr 1933. In: Rainer Bendel (Hg.), Die katholische Schuld? Katholizismus im Dritten Reich – Zwischen Arrangement und Widerstand, 2. Auflage, Münster 2004, S. 195–223, hier 216–223. Vgl. Cornelia Rauh-Kühne, Anpassung und Widerstand? Kritische Bemerkungen zur Erforschung des Katholischen Milieus. In: Detlef Schmiechen-Ackermann/Peter Steinbach (Hg.), Politische Kultur, Soziale Milieus und der Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Berlin 1997, S. 145–164, hier 148. Eine detaillierte Aufstellung der Reichstagswahlergebnisse in den Kreisen Aschendorf, Hümmling (seit der Kreisreform von 1932 Kreis Aschendorf-Hümmling), Meppen, Lingen und Grafschaft Bentheim findet sich in: Helmut Lensing, Quellen von der Novemberrevolution 1918 bis zur Konsolidierung der NS-Diktatur 1933, Teil 2, Sögel 2009, S. 549–638. Demnach war in den Kreisen Aschendorf, Hümmling, Meppen und Lingen zwischen 1919 und 1933 die Zentrumspartei stets am stärksten. Heterogener war die politische Kultur im Kreis Grafschaft Bentheim. Hier erzielte im Jahr 1919 die Deutsche Demokratische Partei (DDP) mit 45 % die meisten Stimmen, gefolgt von der Deutschen Volkspartei (DVP) (21,7 %), dem Zentrum
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des katholischen Milieus gedeutete Wahlergebnis sollte jedoch differenziert betrachtet werden.100 So bewertet Roitsch den geringen Wahlerfolg der NSDAP im Jahr 1933 als Zeichen des »Wunsches nach Stabilität und Kontinuität« und damit weniger als Ausdruck einer besonderen regionalen Widerstandsfähigkeit.101 Dieser Beobachtung schließt sich auch vorliegende Arbeit an, die ausgehend von der sozialen und wirtschaftlichen Verflechtung der Emslandlager mit dem Umland danach fragt, wie die Lager in der Region gedeutet wurden und inwiefern sich darin eine spezifisch regionale Erinnerungskultur widerspiegelt.102
4. Aufbau der Arbeit und Quellen Die zentralen Ordnungskategorien der Kapitelstruktur bilden Akteure, deren Handeln und Deuten in einer historischen Phase bestimmend war. Aus der akteurszentrierten Sicht der vorliegenden Arbeit werden dabei (Um-)Brüche dort markiert, wo erinnerungskulturelle Deutungsmuster etabliert oder verändert wurden. Dem daraus entstandenen Phasenmodell wohnen allerdings Begrenzungen inne und so wird es den unterschiedlichen Geschwindigkeiten von Veränderungen nicht ganz gerecht.103 Die Einteilung wird daher als Orientierung verstanden, die auch Übergänge zulässt. Der interne Aufbau der Kapitel spiegelt dabei folgende Struktur wider: Zunächst werden für den Untersuchungszeitraum auf der Basis der Forschungsliteratur zeittypische Entwicklungslinien dargestellt.
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(15,8 %) und der SPD (15,5 %). Seit 1930 ist hier der Aufstieg der NSDAP nachzuvollziehen, die schließlich im Jahr 1933 in der Grafschaft mit 53,4 % gewählt wurde. Eine Gemeinsamkeit des nördlichen und südlichen Emslandes liegt im geringen Wahlerfolg der KPD, die ihr höchstes Wahlergebnis im Jahr 1932 in den Kreisen Lingen und Grafschaft Bentheim erzielen konnte (mit 6,4 bzw. 6,6 %). Vgl. Rauh-Kühne, Anpassung und Widerstand, S. 145–164. Zum Resistenzbegriff vgl. Martin Broszat, Resistenz und Widerstand. Eine Zwischenbilanz des Forschungsprojekts. In: ders./Elke Fröhlich/Anton Grossmann (Hg.), Bayern in der NS-Zeit. Herrschaft und Gesellschaft im Konflikt. Band IV, Teil C, München 1981, S. 691–709. Bianca Roitsch, Alltägliches Miteinander und nachträgliche Marginalisierung. Das zivile Umfeld des Konzentrations- und Strafgefangenenlagers Esterwegen. In: Bernd Faulenbach/Andrea Kaltofen (Hg.), Hölle im Moor. Die Emslandlager 1933–1945, Göttingen 2017, S. 157–168, hier 158. Vgl. Steber, Ethnische Gewissheiten, S. 17. Zum Konstruktionscharakter historischer Zäsuren vgl. u. a. Anselm Doering-Manteuffel, Deutsche Zeitgeschichte nach 1945. Entwicklungen und Problemlagen der historischen Forschung zur Nachkriegszeit. In: VfZ, 41 (1993) 1, S. 1–29; Martin Broszat (Hg.), Zäsuren nach 1945. Essays zur Periodisierung der deutschen Nachkriegsgeschichte, München 1990; Hans Günter Hockerts, Das Ende der Ära Adenauer. Zur Periodisierung der Bundesrepublik. In: Winfried Becker/Werner Chrobak (Hg.), Staat, Kultur, Politik. Beiträge zur Geschichte Bayerns und des Katholizismus. Festschrift zum 65. Geburtstag von Dieter Albrecht, Kallmünz 1992, S. 461–475, hier 462.
Aufbau der Arbeit und Quellen
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Die nächste Unterebene führt dann Zugänge und Zugriffe auf die Wandlungsprozesse ein wie beispielsweise die generationelle Perspektive auf Erinnerungskultur. In den Unterkapiteln selbst werden erinnerungskulturelle Entwicklungen und Konfliktsituationen mit Bezug auf die Emslandlager fallbeispielhaft beschrieben und in die übergeordneten Aushandlungsprozesse eingeordnet. Nach einer historischen Hinführung in Kapitel II, die den Aufbau und die Entwicklung der Emslandlager, die Gefangenengruppen sowie Verbrechenskomplexe zum Kriegsende darstellt, rücken in Kapitel III die Alliierten in den Fokus, deren Auftreten einen Bruch markiert. Der Symbolbestand der von den Alliierten geprägten Erinnerungskulturen wird dabei in den Bereichen Bewahren, Gedenken, Ahnden und Erziehen untersucht. Diese erinnerungskulturelle Phase endet auf regionaler Ebene im Jahr 1950. So setzt Kapitel IV am Übergang von britischen zu deutschen Verwaltungsstrukturen an und richtet den Blick auf den Umgang deutscher Verwaltungseinheiten mit den neun Friedhöfen im Emsland, auf denen Gefangene der Emslandlager ruhen. Die Friedhöfe werden dabei als zentrale Schauplätze widerstreitender Erinnerungskulturen untersucht. Kapitel V beleuchtet den gesellschaftlichen Aufbruch im ländlichen Raum anhand einer Vielzahl fast zeitgleich auftretender Akteure, die etablierte Deutungsmuster der Vergangenheit öffentlich hinterfragten. In Kapitel VI wird die Entstehung einer Gedenkstätteninitiative Emslandlager Mitte der 1970er-Jahre bis hin zur Eröffnung der zentralen Gedenkstätte Esterwegen im Jahr 2011 nachgezeichnet. Wie bereits angesprochen, kristallisieren sich Erinnerungskulturen um die Toten und, so der Kerngedanke der Arbeit, um ihre Grabstätten. Daher ist die erinnerungskulturelle Entwicklung mit Blick auf den Umgang mit den Toten zu trassieren und korrespondiert mit den vier Kapiteln des Hauptteils der Arbeit: das Anlegen von Friedhöfen in der unmittelbaren Nachkriegszeit (Kapitel III), die interessengeleitete Kategorisierung der Gräber in Opfer und Kriminelle in den 1950er-Jahren (Kapitel IV), die Skandalisierung des Umgangs mit den Toten in den 1960er-Jahren (Kapitel V) und die Markierung der Friedhöfe und ehemaligen Lagergelände als Lernorte (Kapitel VI) – dieser Vierschritt greift die Phasen und Konjunkturen der Nachgeschichte der Emslandlager von der alliierten Aufklärung über die Marginalisierung und deren Skandalisierung hin zu einem Lernprozess auf. Die Auffassung der Region als mehrdimensionaler Handlungsraum, in dem verschiedene Kräfte wirken, spiegelt sich im Quellenmaterial wider, das alle Ordnungsebenen der Verwaltung von der Makro- bis zur Mikroebene umfasst und durch Schriftgut von Verbänden und Vereinen sowie Periodika ergänzt wurde. Die Gesamtheit der für die vorliegende Arbeit erhobenen Quellen ist in sechs Gruppen einzuteilen: erstens, Verwaltungsakten zur Nachnutzung der Emslandlager sowie zur Gräberfürsorge, zu Denkmalsetzungen sowie zu Gedenkveranstaltungen. Diese umfassen die höhere Ebene wie die der Alliierten,
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der britischen Besatzer und der Bundesrepublik sowie die Landesebene, die regionale und die kommunale Ebene. Auf Landesebene wurde Schriftgut des niedersächsischen Landesarchivs in Hannover ausgewertet, auf Ebene der Städte, Regierungsbezirke und Landkreise waren die Zweigstellen in Aurich, Oldenburg und Osnabrück relevant.104 Zweitens, Gesetzesentwürfe sowie Niederschriften von politischen Gremien und Plenarprotokolle, die ebenso alle Ebenen umfassen und dabei Diskussionen zur formalen Regelung des Totengedenkens oder zu Denkmal- und Gedenkstätteninitiativen wiedergeben. Drittens, britische und deutsche Gerichtsakten, die von Ermittlungsberichten zu den Emslandlagern über Sitzungsprotokolle bis hin zu Urteilen reichen. Viertens, Schrifttum von Gewerkschaften, Verbänden und Vereinen wie beispielsweise der »Emsland-Lagergemeinschaft Moorsoldaten« und der Initiative für ein Dokumentations- und Informationszentrum (DIZ) Emslandlager e.V. Darin enthalten sind Briefwechsel, Sachakten, Nachlässe, Mitgliederzeitschriften, öffentliche Aufrufe sowie Bild- und Filmmaterial. Fünftens, zeitgenössische und überwiegend regionale Periodika, die entweder unmittelbar auf die Emslandlager Bezug nehmen oder aber Aufschluss über Vergangenheitsdiskurse geben und zur Kontextualisierung der Erinnerungskultur der Emslandlager notwendig sind, und sechstens, ausgewählte wissenschaftliche Dokumentationen, die erinnerungskulturelle Konjunkturen widerspiegeln. Darüber hinaus wurden fünf Zeitzeugeninterviews geführt, von denen drei in die Arbeit aufgenommen wurden. Die heute noch sichtbaren Denkmäler, Grabzeichen und Lagerrelikte wurden außerdem von mir fotografisch dokumentiert, und es wurde eine interaktive Karte angelegt, in der die genauen Koordinaten der ehemaligen Lagerstandorte sowie der neun Friedhöfe eingetragen sind.105 Zu einem Teil wurde auf Quellenmaterial zurückgegriffen, das archivalisch noch nicht erschlossen oder von der Wissenschaft noch nicht ausgewertet wurde. Hervorzuheben sind hier folgende Bestände bzw. Sammlungen: Bedeutend für die Zeit der Besatzungszonen waren Schriftgut der Alliierten zum Umgang mit den Emslandlagern im Hinblick auf das Gedenken, das Bewahren der Gräber sowie die Ahndung der Verbrechen, die im The National Archives gesichtet wurden,106 sowie die Ordner des Bestandes »Grabermittlung/Friedhofspläne«, der 104 An dieser Stelle ist die Bedeutung der Zweigstelle Osnabrück des niedersächsischen Landes archivs hervorzuheben, da hier die für den Untersuchungsraum relevanten Akten der Mittelund Unterbehörden aufbewahrt werden, so die Bestände der Dezernate des Regierungsbezirks Osnabrück, der zwischen 1885 und 1978 bestand. 105 Im Rahmen eines Werkvertrags der Stiftung Gedenkstätte Esterwegen wurden die Koordinaten der Standorte von mir in eine Open-Source-Karte eingetragen. Die Karte mit den Standorten der Friedhöfe ist heute in die Webseite der Gedenkstätte Esterwegen eingebettet (https://www. gedenkstaette-esterwegen.de/geschichte/lagerfriedhoefe/; 15.5.2020). 106 Hier die Bestände des Foreign Office und des War Office (TNA, Kew/London, FO und WO).
Aufbau der Arbeit und Quellen
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auf eine Suchaktion des International Tracing Service (ITS) nach Grabstellen von Zwangsarbeitern, und Zwangsarbeiterinnen und Angehörigen der Vereinten Nationen zurückgeht. Diese Ordner enthalten Grabskizzen und Friedhofspläne zu den neun zentralen Friedhöfen von Gefangenen der Emslandlager.107 Eine Sammlung des ITS, die Einblick in die Selbstsicht regionaler Akteure sowie ihrer Deutung der Emslandlager gibt, sind die aus den ersten Nachkriegsjahren stammenden Antwortschreiben von Bürgermeistern, die im Rahmen einer Suchaktion nach vermissten UN-Angehörigen beim ITS eingingen.108 Hervorzuheben ist das im Archiv der VVN/Bund der Antifaschist/innen Landesvereinigung Niedersachsen e. V. eingesehene Schriftgut. Hier wurden u. a. die Nachlässe ehemaliger politischer Gefangener der Emslandlager und Mitglieder der »Emsland-Lagergemeinschaft Moorsoldaten« von den frühen 1950er-Jahren bis in die 2000er-Jahre gesichtet und ausgewertet. Einschränkend muss hinzugefügt werden, dass für die Zeit der 1950er-Jahre Quellen dominieren, die sich an die Öffentlichkeit wandten (Mitteilungsblätter, Briefe und Eingaben an Politiker), in der Zeit des sich zuspitzenden Antikommunismus also nur wenige private Korrespondenzen überliefert sind. Dahingegen hat August Baumgarte, der seit den 1960er-Jahren Mitglied im Moorkomitee der »Emsland-Lagergemeinschaft« war, einen umfangreichen Nachlass hinterlassen, der Einblicke in die verbandsinterne und -externe Kommunikation und Organisation gewährt. Zu einem bislang noch nicht erschlossenen Bestand zählt das Schriftgut zur Kriegsgräberfürsorge, das im niedersächsischen Ministerium für Inneres und Sport in Hannover eingesehen werden konnte und das über Schriftverkehr zwischen Ministerien und untergeordneten Behörden ebenso private Briefwechsel, Zeitungsartikel sowie Aufzeichnungen des Landesverfassungsschutzes über Gedenkveranstaltungen der kommunistischen »Emsland-Lagergemeinschaft« enthält.109
107 »Grabermittlung/Friedhofspläne« der Landkreise Aschendorf-Hümmling, Meppen und Grafschaft Bentheim von 1945–1951 (ITS Digital Archive, Bad Arolsen, 5.3.5.). 108 »Schriftwechsel und Unterlagen zur Zwangsarbeit« (ITS Digital Archive, Bad Arolsen, 2.2.0.1). 109 Einsicht in die Bestände, die im Referat 63, Niedersächsisches Ministerium für Inneres und Sport aufbewahrt werden, konnte ich durch die freundliche Unterstützung von Joachim Puppel, dem zuständigen Sachbearbeiter, erhalten.
II.
Die Emslandlager (1933–1945)
Zwischen Sommer und Herbst 1933 ließ das Land Preußen vier Konzentrationslager – Börgermoor, Neusustrum und das Doppellager Esterwegen (II und III) – in den nordwestlichen Moorgebieten an der deutschen Grenze zu den Niederlanden errichten, um hier Gegner der Nationalsozialisten zu inhaftieren.1 Im Jahr 1934 übernahm die SS das Doppellager Esterwegen und führte es zusammen, während das preußische Justizministerium die Lager Börgermoor und Neusustrum übernahm. Mit Ausnahme von Esterwegen, das erst 1936 in den Strafgefangenenlagerkomplex integriert wurde, baute das Justizministerium einen Lagerverbund aus, der im Jahr 1939 aus insgesamt 15 Strafgefangenenlagern bestand.2 Im September 1939 wurden neun dieser Lager – Oberlangen, Wesuwe, Versen, Fullen, Groß Hesepe, Dalum, Wietmarschen, Bathorn und Alexisdorf – dem Oberkommando der Wehrmacht zur Unterbringung von Kriegsgefangenen übertragen.3 Ein letzter Verwaltungswechsel fand im Herbst 1944 statt, als die Lager Versen und Dalum in den Außenlagerkomplex des Konzentrationslagers Neuengamme integriert wurden und bis zu ihrer Räumung im März 1945 der Inspektion der Konzentrationslager (IKL) unterstanden.4 1
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Vgl. zur Verfolgung politischer Gegner und Gegnerinnen der Nationalsozialisten sowie zu frühen Konzentrationslagern Nikolaus Wachsmann, Terror gegen links: Das NS-Regime und die frühen Lager. In: ders./Sybille Steinbacher (Hg.), Die Linke im Visier. Zur Errichtung der Konzentrationslager 1933, Göttingen 2014, S. 7–30; Johannes Tuchel, Organisationsgeschichte der »frühen« Konzentrationslager. In: Wolfgang Benz/Barbara Distel (Hg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Band 1: Die Organisation des Terrors, München 2005, S. 43–57. Vgl. Elke Suhr, Die Emslandlager. Die politische und wirtschaftliche Bedeutung der emsländischen Konzentrations- und Strafgefangenenlager 1933–1945, Bremen 1985, S. 15 f.; Erich Kosthorst/Bernd Walter, Konzentrations- und Strafgefangenenlager im Emsland 1933–1945. Zum Verhältnis von NS-Regime und Justiz, Darstellung und Dokumentation, Düsseldorf 1985, S. 29–32. Vgl. Andreas Lembeck, Befreit, aber nicht in Freiheit. Displaced Persons im Emsland 1945–1950, Bremen 1997, S. 12. Vgl. Marc Buggeln, Arbeit und Gewalt. Das Außenlagersystem des KZ Neuengamme, Göttingen 2009, S. 252–254; ders., Meppen-Dalum und Meppen-Versen. In: Wolfgang Benz/Barbara
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Karte: Übersicht über die Lage der Emslandlager.
Die Emslandlager (1933–1945)
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Die hier skizzierte Entwicklung zeigt, dass die Geschichte des Lagerverbundes von mehrmaligen administrativen Wechseln und teils parallel wirkenden Zuständigkeiten gekennzeichnet war. Einschlägige Phasenmodelle der KZ-Forschung, wie sie beispielsweise von Ulrich Herbert, Karin Orth und Christoph Dieckmann entwickelt wurden, sind aufgrund der komplexen Akteurs- und Verwaltungsstruktur daher nur bedingt auf die Emslandlager übertragbar.5 Dennoch kann sich ihrer zur Periodisierung der Geschichte der Emslandlager beholfen werden, richtet man den Blick auf die Verwaltungs- und Gefangenenstruktur sowie die Arbeitseinsätze und setzt diese in einen Zusammenhang mit den Phasen der nationalsozialistischen Herrschaft. Damit sind grob fünf Phasen zu unterscheiden. Die preußischen Konzentrationslager im Emsland werden in der Forschung zu den frühen Konzentrationslagern gezählt, die seit März 1933 überall im Reich entstanden.6 Auf Grundlage der »Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat«,7 dem sogenannten Schutzhaftbefehl, der die individuellen Grundrechte außer Kraft setzte, konnte die politische Opposition in einer Phase der Machtsicherung ohne Gerichtsurteil inhaftiert werden. Anders als viele der frühen Lager, die unter kommunaler Trägerschaft in bereits existierenden Haftstätten eingerichtet wurden, handelte es sich bei den Konzentrationslagern im Emsland um neu aufgebaute Lagerstätten, bei deren Planung der Zwangsarbeitseinsatz von Schutzhaftgefangenen in einem großangelegten Moorkultivierungsprojekt zentral war. Sie standen für die Zentralisierungsbestrebungen des preußischen Innenministeriums bei der Verfolgung politischer Gegner.8 Als der Plan, die Gegnerbekämpfung zur Kompetenz des preußischen Innenministeriums zu erklären, im Frühjahr 1934 aufgegeben wurde und die Unterdrückung zunehmend in den Justizbereich sowie in das KZ-System der SS überging, erfolgte in einer zweiten Phase die Reorganisation des Lagerverbundes. Die Lager
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Distel (Hg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Band 5: Hinzert, Auschwitz, Neuengamme, München 2007, S. 480–486. Vgl. Ulrich Herbert/Karin Orth/Christoph Dieckmann, Die nationalsozialistischen Konzentrationslager. Geschichte, Erinnerung, Forschung. In: dies. (Hg.), Die nationalsozialistischen Konzentrationslager. Entwicklung und Struktur, Band 1, Göttingen 1998, S. 17–40, hier 25–32. Eine kleinteiligere Periodisierung bei Nikolaus Wachsmann, KL. Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, München 2016, S. 140–142; ders., The Dynamics of Destruction. The Development of the Concentration Camps 1933–1945. In: Jan Caplan/ders. (Hg.), Concentration Camps in Nazi Germany, London 2010, S. 17–43. Vgl. Knoch, Die Emslandlager; Sebastian Weitkamp, Ein Rückzugsgefecht des Rechtsstaates 1934. In: VfZ, 66 (2018) 1, S. 43–86, hier 48 f.; Tuchel, Organisationsgeschichte. Vgl. Michael P. Hensle, Die Verrechtlichung des Unrechts. Der legalistische Rahmen der nationalsozialistischen Verfolgung. In: Wolfgang Benz/Barbara Distel (Hg.), Der Ort des Terrors: Geschichte der nationalsozialistischen Lager, Band 1: Die Organisation des Terrors, München 2005, S. 76–90, hier 76–78. Zur Klassifizierung früher Konzentrationslager am Beispiel Kislau vgl. Luisa Lehnen, Das Konzentrations- und Bewahrungslager Kislau (1933–1939). Ein Werkstattbericht. In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins, 167 (2019), S. 299–336.
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Börgermoor und Neusustrum wurden der preußischen Justizverwaltung über geben, die bis 1939 einen Strafgefangenenlagerverbund ausbaute, der eng mit dem Kultivierungsprojekt verflochten war. Esterwegen wurde erst 1936 der Justizverwaltung unterstellt. Zwischen 1934 und 1936 stand es unter der IKL und war damit Teil des SS-Lagersystems.9 Prägend war für diese Zeitspanne ebenso die Erweiterung der Inhaftierten um sozial Diskriminierte, Personengruppen, die nicht zur »Volksgemeinschaft« gezählt und mit harten Sanktionen belegt werden sollten. Eine dritte Phase ist in den Kriegsvorbereitungen und der Einbindung der Lager in die Kriegsführung zwischen 1938 und 1941 auszumachen. Die Gefangenengruppe erfuhr eine Internationalisierung mit den nun eintreffenden ausländischen Strafgefangenen aus den annektierten und besetzten Ländern, der wachsenden Zahl von Militärstrafgefangenen sowie der großen Gruppe der in den Lagern der Wehrmacht untergebrachten Kriegsgefangenen. Außerdem wurden die Gefangenen nun zunehmend in der lokalen Wirtschaft eingesetzt, um den Arbeitskräftemangel auszugleichen.10 Mit der Integration der Gefangenenarbeit in die Rüstungsindustrie seit 1941 beginnt eine vierte Phase, die sich bis zum extensiven Ausbau des Außenlagersystems steigerte, die, angelehnt an Stefan Hördler, als fünfte und letzte Phase zu beschreiben ist.11 Kennzeichnend für die Emslandlager sind ihre Barackenbauweise, eine brutale Strafpraxis und die von Beginn an für die Lager an Gesichtspunkten der Wirtschaftlichkeit orientierte Zwangsarbeit, die mit der Region eng verflochten war: Alle Baracken der Lager waren gleichförmig angeordnet und so ausgeleuchtet, dass eine allumfassende Bewachung gewährleistet war. Zur Strafpraxis zählten neben Misshandlungen eine unzureichende medizinische Versorgung und eine im Kriegsverlauf zunehmend sich verschlechternde Lebensmittelversorgung. Die Zwangsarbeit in der Moorkultivierung, im Straßen- und Kanalbau, in lokalen Betrieben sowie seit 1942 in der kriegswichtigen Industrie hatte eine strafende Funktion und folgte wirtschaftlichen Interessen. Die manuelle Kultivierung der Moorflächen mittels eines ausbeuterischen und zugleich der Disziplinierung dienenden Gefangeneneinsatzes bildete dabei das Kernelement des Lagersystems. Die Lager waren durch diese wirtschaftliche Einbindung schon frühzeitig umso sichtbarer – die Kleinspurbahn, der sogenannte Moorexpress, transportierte die Gefangenen zwischen den Konzentrationslagern Esterwegen und Börgermoor,
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Vgl. Weitkamp, Ein Rückzugsgefecht, S. 48 f. Vgl. Frank Bührmann-Peters, Ziviler Strafvollzug für die Wehrmacht. Militärgerichtlich Verurteilte in den Emslandlagern 1939–1945, Dissertation Universität Osnabrück 2002, S. 27. 11 Vgl. Stefan Hördler, Ordnung und Inferno: Das KZ-System im letzten Kriegsjahr, Göttingen 2015.
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der Anblick von Arbeitskolonnen war alltäglich, es gab unzählige Schnittstellen und Verflechtungen mit der einheimischen Bevölkerung.12 Aufgrund all der genannten Merkmale sind die Emslandlager über die gesamte Zeit ihres Bestehens hinweg Wolfgang Benz folgend als Zwangslager zu charakterisieren, um ihren repressiven und willkürlichen Charakter hervorzuheben.13 Die Forschung zu den Emslandlagern wurde insbesondere durch zwei Studien in den 1980er-Jahren angestoßen und geprägt. Zum einen erschien im Jahr 1983 die dreibändige kommentierte Quellensammlung von Kosthorst und Walter über die Konzentrations- und Strafgefangenenlager (1933–1945).14 Zum anderen schrieb Elke Suhr ihre Dissertation zu den Konzentrations- und Strafgefangenenlagern im Emsland, die 1985 veröffentlicht wurde.15 Habbo Knoch bündelte und systematisierte die Forschung zu den Emslandlagern in einem Aufsatz, der 2005 in der Reihe »Der Ort des Terrors« erschien.16 Studien der letzten zwei Jahrzehnte behandelten darüber hinaus die frühen staatlichen Konzentrationslager, spezielle Gefangenengruppen, Wachmannschaften und Verantwortliche.17 Ein Standardwerk zum Strafvollzug im Nationalsozialismus, in dem auch die Strafgefangenenlager im Emsland größeren Raum einnehmen, hat außerdem Nikolaus Wachsmann im Jahr 2004 vorgelegt.18 Die Geschichte des SS-Konzentrationslagers Esterwegen zwischen 1934 und 1936 sowie eine
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Vgl. David Reinicke, Aufstieg durch Gemeinschaft. Sozialutopie und Gemeinschaftspraxis der SA-Wachmannschaften emsländischer Strafgefangenenlager 1934–42. In: ders./Kathrin Stern/ Kerstin Thieler/Gunnar Zamzow (Hg.), Gemeinschaft als Erfahrung. Kulturelle Inszenierungen und soziale Praxis 1930–1960, Paderborn 2014, S. 129–155, hier 131. Zur ideologischen Aufladung von Geopolitik im Sinne der Vorstellung eines »Volks ohne Raum« vgl. Jörg Dünne, Politisch-geographische Räume. Einleitung. In: ders./Stephan Günzel (Hg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M. 2006, S. 371–385, hier 373 f. 13 Vgl. Wolfgang Benz, Nationalsozialistische Zwangslager. Ein Überblick. In: ders./Barbara Distel (Hg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Band 1: Die Organisation des Terrors, München 2005, S. 11–29. 14 Vgl. Kosthorst/Walter, Konzentrations- und Strafgefangenenlager im Dritten Reich. 15 Vgl. Suhr, Die Emslandlager. 16 Vgl. Knoch, Die Emslandlager, S. 532–570. 17 Vgl. u. a. Roitsch, Mehr als nur Zaungäste; Klausch, Vernichtung durch Arbeit; Hans-Peter Klausch, Tätergeschichten. Die SS-Kommandanten der frühen Konzentrationslager im Emsland, Bremen 2005; Bührmann-Peters, Ziviler Strafvollzug; Dirk Lüerßen, Wir sind die Moorsoldaten. Die Insassen der frühen Konzentrationslager im Emsland 1933 bis 1936 – Biographische Untersuchungen zum Zusammenhang zwischen kategorialer Zuordnung der Verhafteten, deren jeweiligen Verhaltensformen im Lager und den Auswirkungen der Haft auf die weitere Lebensgeschichte. Dissertation Universität Osnabrück 2001; Carola von Bülow, Der Umgang der nationalsozialistischen Justiz mit Homosexuellen, Dissertation Universität Oldenburg 2000. 18 Vgl. Wachsmann, Gefangen unter Hitler.
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Gesamtstudie zu den Kriegsgefangenenlagern im Emsland bilden hingegen bislang Desiderate der Forschung.19 Das vorliegende Kapitel wird auf die genannte Forschungsliteratur zurückgreifen und darüber hinaus historische Quellen, wie Straf- und Gefangenenpersonalakten, Behördenakten und Periodika, sowie britische Ermittlungs- und Prozessakten der unmittelbaren Nachkriegszeit hinzuziehen. Inhaltlich werden vier Schwerpunkte gesetzt: Erstens, die enge Anbindung an die Landwirtschafts- und Raumplanung beim Aufbau der Lager und die ideologische Aufladung der Moorkultivierung; zweitens, die Entwicklung der Emslandlager entlang der eingangs genannten Periodisierung; drittens, die Gruppe der Strafgefangenen und die gegen sie gefällten Urteile und viertens, die Verbrechenskomplexe am Kriegsende. Mit diesen vier Themensetzungen soll ein Überblick über die Geschichte der Lager gewonnen werden, um in den folgenden Kapiteln, die sich ihrer Deutung widmen, Rückbezüge herstellen und erläutern zu können. Demzufolge wird die Funktion der Emslandlager im NS-Herrschaftssystem als Repressions- und Disziplinierungsinstrument aufgezeigt, die zwischen 1933 und 1945 immer wieder entlang der radikalbiologistischen NS-Ideologie justiert und dadurch eine sich wandelnde Gefangenenstruktur zur Folge hatte; die Akteure, die den Aufbau der Lager unterstützten und gestalteten sowie das lokale Umfeld und seine Verflechtung mit den Lagern.
1.
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»Zu beiden Seiten der Ems, im Süden begrenzt von Westfalen, im Westen von Holland, im Norden von Ostfriesland und im Osten von Oldenburg, liegt ein Landstrich unseres Vaterlandes, dessen dürftiger Boden den zäh um ihre Existenz ringenden Bewohnern nur einen kargen Lebensunterhalt gewährt – das Emsland. Unübersehbare Moorflächen bedecken das Land und drücken ihm seinen eigenartig schwermütigen Charakter auf. Unaufgeschlossen liegt das Moor, ein ungehobener Schatz, der erst erobert werden muss wie eine Festung.«20
Das Zitat ist einem Aufsatz von Rudolf Marx entnommen, Ministerialdirigent beim Reichsjustizministerium und zuständig für die Planung der Gefangenenarbeit im Emsland, den er angesichts der bevorstehenden Übernahme der Emslandlager im Jahr 1934 in der Zeitschrift »Deutsche Justiz« veröffentlichte. Naturalisierende Deutungsmuster vom Moor verklären hier den großflächigen
19 Im Hinblick auf die Kriegsgefangenenlager, die zwischen 1939 und 1945 im Emsland existierten, verspricht das Dissertationsprojekt von Martin Koers diese Forschungslücke zu schließen. 20 Rudolf Marx, Die Kultivierung der emsländischen Moore. Eine Kulturaufgabe des Staates. In: Deutsche Justiz. Rechtspflege und Rechtspolitik, 96 (1934), S. 732–734, hier 732.
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Einsatz von Strafgefangenen in der Ödlandkultivierung. So wird den Moorgebieten ein melancholischer Charakter zugeschrieben, das Emsland wird als »ungehobener Schatz« romantisiert und die Kultivierung als Eroberung einer Festung heroisiert.21 Anfang der 1930er-Jahre nahmen fast 40 Prozent der Flächen des Emslandes Moorgebiete ein.22 Diese »Naturvorgegebenheit«23 war eine Voraussetzung für den Aufbau des Lagerverbundes im Emsland. Eine andere waren die bereits vom preußischen Staat seit 1919 geschaffenen Behörden der Raumplanung und Landwirtschaft. Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Verlust der deutschen Kolonien war eine Binnenkolonisation forciert und die staatliche Zentralisierung der Landerschließung und -besiedlung eingeleitet worden.24 An diese vorhandenen Strukturen schlossen die neuen Machthaber im Jahr 1933 an. Da einerseits das preußische Innenministerium unter Hermann Göring ein einheitliches und zentralisiertes Lagersystem zur Terrorisierung der politischen Opposition anstrebte und dabei nach geeigneten Flächen in möglichst dünn besiedelten Gebieten suchte, und andererseits regionale Behörden der Raumplanung die Kultivierung der emsländischen Moore forderten, entstand eine Interessenverflechtung zwischen politischen Akteuren und traditionellen Behörden. Aufseiten der Behörden vor Ort wurden in der Folge einige Posten neu besetzt, andere Mitarbeiter passten sich hingegen den veränderten Machtverhältnissen an und unterstützten tatkräftig den Auf- und Ausbau eines Lagersystems im Emsland. Auf Letztere und ihre Beteiligung an der Planung und Umsetzung des Gefangeneneinsatzes im Moor geht die folgende Beschreibung des Kultvierungsprojektes schwerpunktmäßig ein, da insbesondere der Landwirtschafts- und Raumplanungssektor in der Nachkriegszeit personelle Kontinuitäten aufwies. Kursorisch werden darüber hinaus lokale
21 Vgl. Margit Bensch, Die »Blut-und-Boden«-Ideologie. Ein dritter Weg in die Moderne, Berlin 1995, S. 36 f.; David Blackbourn, Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der deutschen Landschaft, München 2008, S. 344. 22 Vgl. Sebastian Weitkamp, Brechung des Widerstands und Machtsicherung des NS-Systems. Die Konzentrationslager im Emsland 1933–1936. In: Bernd Faulenbach/Andrea Kaltofen (Hg.), Hölle im Moor. Die Emslandlager 1933–1945, Göttingen 2017, S. 25–37, hier 28. 23 Reinhart Koselleck, Raum und Geschichte. In: ders. (Hg.), Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt a. M. 2000, S. 78–96, hier 83. 24 Erst mit dem Verlust der deutschen Kolonien nach dem Ersten Weltkrieg kann jedoch von einer flächendeckenden Raumplanung hinsichtlich der emsländischen Moorgebiete die Rede sein. Mit dem im August 1919 beschlossenen Reichssiedlungsgesetz begann die Zentralisierung und Verstaatlichung der Landerschließung. Dabei wurden im Zuge des Gesetzes preußische Landeskulturämter geschaffen, die das Land einteilten und Siedlungsstellen vergaben. Im Jahr 1919 wurde das Kulturamt Lingen und im Jahr 1921 das Kulturbauamt Meppen gegründet. Vgl. Horst H. Bechtluft, Das Emsland als historischer Raum. Kurzer Abriß der Geschichte im Landkreis Emsland von der Jungsteinzeit bis zur Gründung der Emsland GmbH. In: ders./Franke/ Hugenberg (Hg.), Das Emsland, S. 21–51, hier 48.
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Akteure, wie Kommunen und Betriebe, beschrieben, die wirtschaftlich und infrastrukturell vom Lagerverbund profitierten, um die Verflechtung der Lager mit ihrer Umgebung aufzuzeigen.25 Am 17. März 1933 erhielt der damalige Regierungspräsident in Osnabrück, Adolf Sonnenschein (Deutsche Zentrumspartei), eine Anfrage des preußischen Innenministeriums nach einem geeigneten Gelände für ein Barackenlager für 250 bis 300 Schutzhaftgefangene.26 Hintergrund der Anfrage waren die stark überbelegten Haftanstalten infolge des Schutzhaftbefehls, der eine Massenverhaftungswelle politischer Gegner und Gegnerinnen der Nationalsozialisten eingeleitet hatte, sowie die Pläne Görings zur dauerhaften Unterbringung von Schutzhäftlingen.27 In seinem Antwortschreiben verwies Sonnenschein im März 1933 auf das nördliche Emsland (Kreis Aschendorf-Hümmling), für das die periphere Lage an der Grenze zu den Niederlanden sprach, die strukturelle Rückständigkeit und dünne Besiedlung sowie der hier möglich werdende weitflächige Einsatz von Gefangenen zur Trockenlegung der Moorflächen.28 Nachdem Sonnenschein abgesetzt und durch den Nationalsozialisten Bernhard Eggers ersetzt worden war, erhielt sein Nachfolger den Auftrag, für 3 000 bis 5 000 Schutzhaftgefangenen mehrere Lager im Kreis Aschendorf-Hümmling zu errichten. Knapp drei Wochen nach der ersten Anfrage übermittelte der Regierungspräsident am 8. April 1933 einen Kostenvoranschlag, der auf Kalkulationen des Kulturbauamtes in Meppen basierte. Im Mai 1933 legte das Amt in Meppen dann einen Plan für den Einsatz der Schutzhaftgefangenen vor.29 Darauf basierend wurde über den Aufbau der Konzentrationslager Börgermoor und Esterwegen mit einer Aufnahmekapazität von 3 000 Schutzhaftgefangenen sowie kurze Zeit später über die Errichtung des Lagers Neusustrum entschieden. Am 28. Juni 1933 fiel außerdem die Entscheidung, eine »Verwaltungsdirektion der staatlichen Moorlager« in Papenburg einzurichten.30 Entscheidend für den Beschluss zum Aufbau von Schutzhaftlagern im nördlichen Emsland war also der hier möglich werdende Gefangeneneinsatz in der Moorkultivierung, der zwei Zielsetzungen verfolgte: Ganz im Sinne des Erziehungskonzeptes, das für die frühen Konzentrationslager charakteristisch war,
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Vgl. Knoch, Die Emslandlager, S. 563. Vgl. Bührmann-Peters, Ziviler Strafvollzug, S. 12; Suhr, Die Emslandlager, S. 186. Vgl. Knoch, Die Emslandlager, S. 535. Vgl. Hans Heinrich Seedorf, Allgemeine Landschaftsgliederung. In: Franke/Grave/Schüpp/ Steinwascher (Hg.), Der Landkreis Emsland, S. 336–402, hier 376; vgl. Kosthorst/Walter, Konzentrations- und Strafgefangenenlager im Dritten Reich, Band 2, S. 32. Vgl. ebd., S. 33 f. Vgl. Knoch, Die Emslandlager, S. 563.
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sollte die harte Arbeit im Moor als »Mittel der Disziplinierung – der Bestrafung wie auch der Umerziehung« dienen.31 Zugleich konnten hierdurch vor allem im Interesse der landwirtschaftlichen Abteilung im Regierungspräsidium in Osnabrück und lokal ansässiger Einrichtungen der Raum- und Landwirtschaftsplanung die weiten Moorgebiete als Siedlungsflächen erschlossen werden.32 Aber nicht nur regionale und lokale Einrichtungen des Hoch- und Tiefbaus, der Landwirtschaftsverwaltung und Raumplanung waren am Auf- und Ausbau des Lagerverbundes in der infrastrukturell rückständigen Region interessiert, auch Gemeinden und lokale Betriebe profitierten von der Errichtung der Lager. So erschloss sich für lokale Betriebe ein neues Auftragsfeld, wofür eine Reihe von Rechnungen für gelieferte Baustoffe in den Jahren 1933 und 1934 sprechen.33 Darüber hinaus hat Roitsch am Beispiel der Gemeinde Esterwegen nachgewiesen, dass hier die Stromversorgung aller Haushalte maßgeblich auf das unweit des Ortes errichtete Lager zurückging.34 Mit der Umstrukturierung und Übergabe der staatlichen Konzentrationslager an das preußische Justizministerium im Frühjahr 1934 wurde die Emslandkultivierung zum »Prestigeprojekt des Justizministeriums«35 stilisiert – in diesem Zusammenhang erschien der eingangs zitierte Aufsatz von Marx. Im Aufbau eines Strafgefangenenlagerverbundes in den emsländischen Moorgebieten sah der preußische Justizminister und spätere Leiter der »Reichsstelle für Raumordnung«, Hanns Kerrl, die Chance, Agrar- und Siedlungsflächen zur »Neubildung deutschen Bauerntums« zu gewinnen. Den Hintergrund seines Plans bildete das »Gesetz über die Neubildung deutschen Bauerntums« vom 14. Juni 1933. Dieses Gesetz führte die staatlich-zentralistische Siedlungsplanung entsprechend der Blut-und-Boden-Ideologie ein. Hierbei sollte Großgrundbesitz aufgelöst und in kleine Siedlungsflächen für Mitglieder der »Volksgemeinschaft« eingeteilt werden.36 Das Erschließungsprogramm des Justizministeriums sah dabei die
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Jürgen Kocka, Ambivalenzen der Arbeit. In: Marc Buggeln/Michael Wildt (Hg.), Arbeit im Nationalsozialismus, München 2014, S. 25–32, hier 25. 32 Vgl. Weitkamp, Brechung des Widerstands, S. 28. 33 Vgl. hierzu den Eingang von Rechnungen verschiedener regionaler Bauunternehmen für geliefertes Material zum Aufbau der Lager sowie zum Ausbau der Infrastruktur zwischen Oktober 1933 und April 1934 (NLA OS, Rep 675 Mep, Nr. 1040, unpag.). 34 Vgl. Bianca Roitsch, »Ueberall [...] merkt man, dass sich in nächster Nähe eine kleine Stadt aufgetan hat.« Interaktionsformen der frühen Konzentrationslager Moringen und Esterwegen mit ihrem Umfeld. In: Reinicke/Stern/Thieler/Zamzow (Hg.), Gemeinschaft als Erfahrung, S. 63–88, hier 75. 35 Reinicke, Aufstieg durch Gemeinschaft, S. 130. 36 Vgl. Gesetz über die Neubildung deutschen Bauerntums vom 14. Juli 1933, Reichsgesetzblatt (RGBl.) I 1933, S. 517 f.
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Kultivierung von 50 000 Hektar Land sowie die Errichtung von 2 300 »Neusiedlerbetrieben« vor.37 An der Umsetzung dieser Pläne sollten seit 1934 auf Reichsebene vier Behörden beteiligt sein: das Justizministerium, das als oberste Instanz die Haftbedingungen regelte; das Reich als Verwalter des Landes; das Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft, verantwortlich für die Kolonisation und landwirtschaftliche Nutzung, sowie seit 1935 die Reichsstelle für Raumordnung.38 Die mittlere und untere Behördenebene der Raumplanung bestand vornehmlich aus preußischen Einrichtungen, die nach dem Ersten Weltkrieg aufgebaut worden waren.39 Noch Anfang der 1930er-Jahre war zur Erschließung landwirtschaftlich nutzbarer Flächen sowie zum Straßenbau auf den Einsatz des Freiwilligen Arbeitsdienstes (FAD) gebaut worden, der im Emsland bis 1933 dem Zentrum nahestand.40 Die Arbeitsmänner sollten Trockenlegungsarbeiten ohne nennenswerte technische Hilfsmittel leisten. Diese kräftezehrende Arbeit unter ungewohnt harten klimatischen Bedingungen brachte jedoch kaum Erfolge. Dennoch wurde der Arbeitseinsatz seit 1933 im Sinne der Erziehung zur »Volksgemeinschaft« medial stark inszeniert.41 Raschere Erfolge versprachen sich die Landesplaner im Regierungsbezirk Osnabrück jedoch durch den Gefangeneneinsatz.42 Dass sich das Personal der regionalen Raumplanung und Landwirtschaftsverwaltung ideo37 Vgl. Suhr, Die Emslandlager, S. 190. 38 Vgl. Marx, Die Kultivierung, S. 732. 39 Ausführlich beschreibt Richard Holland, Wirtschaftsdirektor der Staatlichen Moorverwaltung, in einem Aufsatz von 1939 die Verwaltungsstruktur. Vgl. Richard Holland, Die staatlichen Ödlandkultivierungen im Emsland mit besonderer Berücksichtigung der Anlage von Sand-Milchkulturen auf flachstehendem Hochmoor. In: Beiträge zur Landeskunde des hannoverschen Emslandes insbesondere der Erschließung und Meliorationsmaßnahmen, Oldenburg 1939, S. 21–25, hier 21. 40 Die staatliche Förderung eines »Freiwilligen Arbeitsdienstes« (FAD) wurde im Jahr 1931 unter der Regierung Brüning I in Anbetracht der hohen Arbeitslosigkeit beschlossen. Vor der nationalsozialistischen Gleichschaltung nutzten verschiedene Träger die staatliche Förderung des Freiwilligen Arbeitsdienstes. Im Emsland richtete beispielsweise das Kolpingwerk im Jahr 1932 einen Arbeitsdienst ein, der junge Arbeitslose in der Moorkultivierung beschäftigte. Diese Initiativen folgten sowohl auf der Makro- als auch der Mikroebene arbeitsmarktpolitischen Zielen. Vgl. Lensing, Quellen von der Novemberrevolution, S. 543–548. 41 Der FAD bzw. seit 1935 Reichsarbeitsdienst (RAD) errichtete bis zum Jahr 1935 19 Abteilungen in den linksemsischen Moorgebieten. Vgl. Blackbourn, Die Eroberung der Natur, S. 344; Hubert Gerlich, »Die neue Provinz des Führers« – Der Reichsarbeitsdienst im Emsland (1935–1938). In: Jahrbuch Emsländischer Heimatbund, 53 (2007), S. 98–114, hier 102. 42 Mit dem Aufbau der ersten staatlichen Konzentrationslager im Emsland bildete sich ein Konkurrenzverhältnis auf dem Feld der Moorkultivierung. Aus Sicht von Konstantin Hierl, Leiter des FAD, handelte es sich bei der Moorkultivierung um ein Prestigeprojekt, das ihm nun von minderwertigen Arbeitskräften streitig gemacht werden sollte. Vgl. Falk Pingel, Die KZ-Häftlinge zwischen Vernichtung und NS-Arbeitseinsatz. In: Georg-Eckert-Institut (Hg.), Grenzgänger/Transcending Boundaries. Aufsätze von Falk Pingel/Essays by Falk Pingel, Göttingen 2009, S. 45–58, hier 48.
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logisch an die neuen Machthaber anpasste, zeigt ein Aufsatz von Richard Hugle.43 Der zuständige Landesplaner beim Regierungspräsidenten in Osnabrück, ehemaliger Sozialdemokrat, schrieb im Jahr 1937 über die Ödlandkultivierung:44 »Das Dritte Reich übernahm die Aufgabe der Emslanderschließung sofort, aber unter ganz neuen Gesichtspunkten. Zum ersten Male trat der Gedanke der inneren Kolonisation bewusst hervor. Ausnutzung des deutschen Bodens, Sicherung der Ernährungsgrundlage, Besinnung auf die eigene Kraft, das wurden fundamentale Grundsätze der Staatspolitik. [...] Jeder Teilabschnitt bleibt dann ein Teil des Ganzen, untergeordnet einer freien, schöpferischen Landesplanung. So werden große Ziele völkischer Wirtschaftspolitik mit den Bedürfnissen kommender Generationen in einer neugewonnenen Landschaft verbunden. Im Schoß des Moores schlummert wertvolles neues Bauernland. Es wartet auf Erschließung und Menschen, die ihm Sinn und Leben bringen.«45
Über die Ebene der Mittelbehörde in Osnabrück hinaus waren an der Planung, Realisierung und Kontrolle der Erschließungsarbeiten vor Ort zwei zentrale Einrichtungen beteiligt: das bereits erwähnte Kulturbauamt Meppen (seit 1939 Wasserwirtschaftsamt) unter der Leitung von Wilhelm Sagemüller (1880–1962) – dieses Amt hatte im Frühjahr 1933 unmittelbar einen Plan zum Gefangeneneinsatz ausgearbeitet – sowie die Staatliche Moorverwaltung in Neusustrum unter der Leitung von Richard Holland.46 Neben diesen beiden Einrichtungen waren die Kulturämter in den Kreisen für die Siedlungspläne verantwortlich.47 Sagemüller war seit 1925 Leiter des im Jahr 1921 eingerichteten preußischen Kulturbauamtes in Meppen.48 Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme machte es sich Sagemüller zum Ziel, seine bislang unbedeutende Außenstelle zum Mittelpunkt eines nationalsozialistischen Großprojektes zu machen.49 43
Vgl. Mechthild Rössler, »Blut und Boden – Volk und Raum«: Thesen zur Geographie im Nationalsozialismus. In: Jürgen Friedrichs (Hg.), 23. Deutscher Soziologentag 1986, Opladen 1987, S. 741–744, hier 741. 44 Dass Hugle Sozialdemokrat war, gibt Steinwascher an. Vgl. Gerd Steinwascher, Die Entwicklung eines »Armenhauses« – Höhen und Tiefen der Emslanderschließung von der Weimarer Republik bis zum Emslandplan. In: Niedersächsisches Jahrbuch, 77 (2005), S. 87–107, hier 96. 45 Richard Hugle, Neubildung deutschen Bauerntums im Emsland. Die Erschließung von „RhedeBrual“. Eine landesplanerische Untersuchung, Oldenburg 1937, S. 7. 46 Lebensdaten unbekannt. 47 Vgl. A. Hilleke, Der Anteil des Niedersächsischen Kulturamtes Meppen an der Emslanderschließung. In: Jahrbuch des emsländischen Heimatbundes, 17 (1970), S. 74–94. In diesem Aufsatz aus dem Jahr 1970 werden die Errungenschaften der Behörde hervorgehoben, ohne ihre belastete Vergangenheit zu erwähnen. 48 In einer Festschrift zu Sagemüllers 75. Geburtstag aus dem Jahr 1955 heißt es, dass er in diesem Amt seine »Lebensaufgabe« fand, die seinen »weitgespannten Fähigkeiten und inneren Neigungen so recht entsprach«. Vgl. Richard Hugle, Kleine Beiträge. Wilhelm Sagemüller zum 75. Geburtstag. In: Neues Archiv für Niedersachsen, 8 (1955/56), Heft 4 (NLA OS, Dep 116, 2001/059, Nr. 54, unpag.). 49 Vgl. Christoph A. Rass (unter Mitarbeit von Kathrin Hilgediek), Gutachten zur Verstrickung von Wilhelm Sagemüller in das System der Emslandlager im »Dritten Reich«, 2014, S. 16 (https://bit.ly/3eTMg6Y; 15.5.2020).
48
Die Emslandlager (1933–1945)
Zwar trat er erst 1937 nach Aufweichen des NSDAP-Aufnahmestopps der Partei bei, war jedoch bereits zu diesem Zeitpunkt Mitglied des »Reichsbundes deutscher Beamten«, der »Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt« (NSV), des »NS-Reichskriegerbundes« und des »Reichsluftschutzbundes«.50 Im Rahmen der Kultivierungspläne war das Kulturbauamt Meppen für die Entwässerungs- und Straßenbauten zuständig und entwickelte Erschließungspläne für die jeweiligen Lager. Dabei stellte das Amt für jedes Lager einen »Administrator«, Ingenieure oder Techniker, ab und wies den Arbeitskommandos »Anweisearbeiter« zu, sogenannte Kneiste. Diese zivilen Arbeiter waren zum Teil, und vonseiten des Kulturbauamtes toleriert, an Misshandlungen der Gefangenen beteiligt.51 Während das Kulturbauamt bereits seit 1921 existierte, wurde die Staatliche Moorverwaltung mit Sitz in Neusustrum erst im Jahr 1935 als Koordinationsstelle für die Kultivierung und Besiedlung gegründet.52 Die Moorverwaltung arbeitete eng mit dem Kulturbauamt sowie den Kulturämtern zusammen.53 Mit Holland stand der Moorverwaltung ein überzeugter Nationalsozialist vor, der von der Idee eines »deutschen Volkes ohne Raum« durchdrungen war und ebenso überzeugte Mitarbeiter rekrutierte.54 Einblicke in seine politische Überzeugung gewährt Holland in einem Aufsatz aus dem Jahr 1939. Zu diesem Zeitpunkt konnte das Emslandprojekt bereits als gescheitert gelten, denn die manuelle Kultivierung war wenig zweckmäßig und neue Siedlungsflächen entstanden nur überaus langsam.55 Holland verteidigte daher das Projekt der Emslanderschließung als »Erweiterung unseres Ernährungsraumes«, eine Erweiterung, die zwingend notwendig sei, da Deutschland »wertvolle, fruchtbare Provinzen und seine Kolonien durch den Schandvertrag von Versailles verloren« habe.56 Das Kulturbauamt unter Leitung von Sagemüller sowie die Moorverwaltung unter Holland gaben zusammen das Arbeitspensum für die Gefangenen vor. Regulär waren Arbeitszeiten von bis zu elf Stunden vorgesehen.57 Sowohl 50 51 52 53
Entnazifizierungsakte Wilhelm Sagemüller vom 15.11.46 (NLA OS, Rep 980, 56583, unpag.). Vgl. Rass, Gutachten Wilhelm Sagemüller, S. 33. Vgl. Kosthorst/Walter, Konzentrations- und Strafgefangenenlager im Emsland, S. 530. Vgl. Suhr, Die Emslandlager, S. 204; Gerd Steinwascher, Politische Geschichte. In: Franke/Grave/Schüpp/ders. (Hg.), Der Landkreis Emsland, S. 336–402, hier 376. 54 Suhr, Die Emslandlager, S. 205. 55 Die manuelle Kultivierung der nur ca. einen Meter starken Hochmoorgebiete erfolgte in fünf Arbeitsschritten: 1. wurden Entwässerungsgräben ausgehoben, 2. wurde die obere Humusschicht (20–30 cm) abgetragen und mit der obersten Sandschicht vermischt, 3. wurde die wasserundurchlässige und daher vegetationsfeindliche Ortsteinschicht, ein Teil des Unterbodens, gebrochen, zerkleinert und mit weichen unteren Moorschichten vermengt, 4. auf diesen aufgelockerten Unterboden wurde die in Schritt 2 ausgehobene Humusschicht verteilt, 5. wurde dieser aufbereitete Boden mit einer 10–15 cm tiefen Sandschicht bedeckt. Vgl. Suhr, Die Emslandlager, S. 201 f. 56 Holland, Die staatlichen Ödlandkultivierungen, S. 21. 57 Vgl. Suhr, Die Emslandlager, S. 204; Steinwascher, Politische Geschichte, S. 376.
Moorkultivierung und Gefangenenarbeit
49
Sagemüller als auch Holland hatten dabei einem Gutachten von Christoph A. Rass aus dem Jahr 2014 zufolge keine Skrupel an der Ausbeutung der Gefangenen und integrierten diese fest in ihre Erschließungspläne.58 Wie ausbeuterisch die Arbeitseinsätze geplant waren, ist den Erinnerungen eines ehemaligen Strafgefangenen zu entnehmen. Berthold Kruse, ein Kommunist aus Ostfriesland, der zwischen 1937 und 1939 im Lager II Aschendorfermoor inhaftiert war, gibt an, dass die Gefangenen jeden Morgen um sechs Uhr ihre Arbeit im Moor aufnahmen und dabei Torf abbauten und trockneten. Vorgegeben war während seiner Haftzeit ein tägliches Soll von 25 Kubikmeter. Sollte diese Vorgabe nicht erfüllt werden, mussten die Gefangenen mit Misshandlungen und Essensreduzierungen rechnen. Zu den lebensgefährlichen Strafen gehörte das Eingraben von Gefangenen im Moor, bei dem die Menschen nur durch Hilfe von Mitgefangenen dem Erstickungstod entgehen konnten.59 Neben der Planung des Gefangeneneinsatzes waren die ortsansässigen Kulturämter vor Ort für die Raumplanung verantwortlich. Sie vergaben in enger Kooperation mit der Moorverwaltung die zukünftigen Siedlerstellen und gestalteten dadurch die ideologische Aufladung der Moorkultivierung mit. Auch diese Ämter wurden von Nationalsozialisten bekleidet. Beispielhaft kann hier Adolf Herzog, NSDAP- und SA-Mitglied, genannt werden, der seit Herbst 1941 Leiter des Kulturamtes Meppen war.60 Herzog hatte zuvor als Kulturamtsvorsteher in Zichenau (Provinz Ostpreußen) gearbeitet und war hier mit »Rentenguts-, Siedlungs- und Ansiedlungssachen« sowie »Unschädlichkeitszeugnissen« und »Entpfändungsanträgen« beschäftigt gewesen.61 Der im Jahr 1939 gegründete Regierungsbezirk Zichenau war Mittelpunkt der völkischen Raumpolitik. Demzufolge war Herzog in seiner Tätigkeit als Kulturamtsvorsteher unmittelbar an der Organisation der Zwangsumsiedlung beteiligt. Der Großteil der polnischen und jüdischen Bevölkerung wurde in diesem Rahmen ins Generalgouvernement
58 Rass, Gutachten Wilhelm Sagemüller, S. 17. 59 Vgl. Berthold Kruse im Zeitzeugengespräch mit Schülerinnen und Schülern aus Rhauderfehn am 27.4.1978. Die Tonbandaufzeichnung wurde mir freundlicherweise von Werner Eggers zur Verfügung gestellt. 60 Bevor Herzog die Stelle erhielt, wurden sowohl er als auch seine Frau seitens des Reichsministeriums für Ernährung und Landwirtschaft eingehend nach rassenideologischen Kriterien überprüft. Ausschlaggebend für die Ernennung Herzogs war seine NSDAP- und SA-Mitgliedschaft. Herzog war im Jahr 1933 der SA beigetreten und 1939 der NSDAP. Vgl. Der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft an den Herrn Oberpräsidenten Landeskulturabteilung in Königsberg, Betr.: Kulturamtsanwärter Dr. Herzog, Anlage 1, Heft mit Urkunden zum Nachweis der deutschblütigen Abstammung vom 20.10.1941 (NLA OS, Rep 430 Dez 101, 2004/033 Nr. 10, unpag.). 61 Kulturamt Königsberg, Betr.: Beschäftigung des Kulturamtsanwärters Vermessungsassessor Dr. Herzog vom 29.6.1940 (NLA OS, Rep 430 Dez 101, 2004/033 Nr. 10, unpag.).
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Die Emslandlager (1933–1945)
(GG) ausgewiesen – für die jüdische Bevölkerung sollte dies den ersten Schritt hin zur Verschleppung in die Vernichtungslager bedeuten.62 Die Idee, den ausbeuterischen Gefangeneneinsatz zur Erziehung und Strafe mit einem großflächigen Kultivierungsprojekt zu verbinden, war jedoch ambivalent. Die manuelle Erschließung der weiten Moorflächen war kaum zweckmäßig, sodass das Emslandprojekt »im Zeichen eines Zielkonfliktes [stand], der letztlich ungelöst blieb«.63 War die Moorkultivierung in der Vorkriegszeit im Rahmen des »Vierjahresplans« ein zentrales Ziel gewesen, wurde der Arbeitseinsatz seit Kriegsbeginn zunehmend auf die Funktion der Bestrafung verengt. Vielmehr wurde im Sinne der Wirtschaftlichkeit seit Kriegsbeginn ein Großteil der Strafgefangenen in der Landwirtschaft und Industrie eingesetzt, um hier den Arbeitskräftemangel auszugleichen.64 An Bedeutung verlor die Gefangenenarbeit im Moor weiterhin im Verlauf des Krieges gegen die Sowjetunion.65 Seit dem Scheitern des Blitzkrieges gegen die Sowjetunion 1941/42 arbeiteten Strafgefangene und Kriegsgefangene vorwiegend in der Rüstungsindustrie und nur noch zu einem geringen Teil im Moor, da die manuelle Kultivierung ohnehin kaum zweckmäßig war. Die hier beschriebene Interessenkonstellation zeigt, dass nationalsozialistische, traditionelle und kommunale Akteure aus unterschiedlich gelagerten Motiven den Aufbau eines Lagerverbundes im strukturschwachen Emsland unterstützten und forcierten. Die regionale Landwirtschafts- und Raumplanung war an einer schnellen und kostengünstigen Trockenlegung der Moorgebiete interessiert – die Strukturen stammten bereits aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, der hinsichtlich der Landerschließung durch den Verlust der deutschen Kolonien als Motor gewirkt hatte. Wenngleich bereits der preußische Staat institutionelle Strukturen für die Kultivierung und Besiedlung der emsländischen Moorgebiete geschaffen hatte, deuteten jedoch erst die Nationalsozialisten die Nutzbarkeit der Moorgebiete unter radikal biologistischen Vorzeichen um. Während auf der einen Seite neues Bauernland entstehen sollte, diente der Gefangeneneinsatz im Moor auf der anderen Seite der Strafe und Disziplinierung, der »zwangsweisen 62 Vgl. Andreas Schulze, Regierungsbezirk Zichenau. In: Wolf Gruner/Jörg Osterloh (Hg.), Das »Großdeutsche Reich« und die Juden: Nationalsozialistische Verfolgung in den »angegliederten« Gebieten, Frankfurt a. M. 2010, S. 261–282. 63 Habbo Knoch, »Endlose Heide. Tempo! Tempo!« Die Emslandlager von 1933 bis 1936. In: Jörg Osterloh/Kim Wünschmann (Hg.), »... der schrankenlosesten Willkür ausgeliefert«. Häftlinge der frühen Konzentrationslager 1933–1936/37, Frankfurt a. M. 2017, S. 97–121, hier 105. 64 Zur Einbeziehung der Arbeitseinsätze von Häftlingen des KZ Neuengamme und dem Ausbau von KZ-Außenlagern seit 1942 vgl. Marc Buggeln, Tödliche Zone KZ-Außenlager: Raumorganisation und die Be- und Entgrenzung von Gewalt 1942–1945. In: Jörg Baberowski/Gabriele Metzler (Hg.), Gewalträume. Soziale Ordnungen im Ausnahmezustand, Frankfurt a. M. 2012, S. 189–204, hier 197–203. 65 Vgl. Suhr, Die Emslandlager, S. 43 f.
Konzentrations-, Strafgefangenen- und Kriegsgefangenenlager
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Erziehung durch Arbeit und zur Arbeit«, wie Marx es im Jahr 1935 formulierte.66 Diesem Gedanken schlossen sich auch Akteure der preußischen Ämter an und wirkten aktiv an der Ausbeutung der Gefangenen durch die Planung des Zwangsarbeitseinsatzes mit. Direkt und indirekt unterstützt wurden sie dabei von Kommunen und lokalen Betrieben in der strukturschwachen Region, für die der Aufbau des Lagerverbundes eine infrastrukturelle Verbesserung und erweiterte Auftragslage versprach.
2.
Konzentrations-, Strafgefangenen- und Kriegsgefangenenlager
In der Gesamtbetrachtung der Emslandlager, in denen zwischen 1933 und 1945 etwa 180 000 Menschen eingesperrt waren und schätzungsweise über 20 000 Menschen starben, zeigt sich aufgrund des mehrmaligen Verwaltungswechsels, ihres langen Bestehens sowie des Funktionswandels eine disparate Gemengelage aus verwaltenden Instanzen, Bewachung, Gefangenengruppen und Arbeitseinsätzen, die eine konzise Beschreibung des Lagerverbundes erschwert. Um sich dennoch ihrer Geschichte zu widmen, wird die Entwicklung der Emslandlager im Folgenden entlang der einleitend vorgestellten Periodisierung beschrieben, wobei die Aspekte Verwaltung, Bewachung und Gefangenengruppen vertieft werden. 2.1
Preußische Konzentrationslager (1933–1934)
Das staatliche Konzentrationslager Börgermoor war das erste Lager, das im Juni 1933 im nördlichen Emsland errichtet wurde. Knapp 50 Angehörige der Osnabrücker Schutzpolizei und der SS hatten hier zunächst das Lagergelände umzäunt. Ende Juni 1933 trafen die ersten 90 Schutzhaftgefangenen aus Düsseldorf, Essen und Solingen ein, um das Lager aufzubauen.67 Mitte Juli 1933 kamen weitere Schutzhäftlinge aus dem Ruhrgebiet ins Emsland, die im Sommer desselben Jahres zum Aufbau des Doppellagers Esterwegen (Lager II und III) und des Lagers V Neusustrum eingesetzt wurden – über das Eintreffen der Schutzhaftgefangenen im Emsland und den Aufbau der Lager berichtete die lokale Presse.68 In einer Zeit der Machtkonsolidierung wurden in den staatlichen Konzentrationslagern mehrheitlich politische Gegner der Nationalsozialisten eingeliefert: In das KZ Börgermoor zu 90 Prozent Kommunisten, unter ihnen Wolfgang Langhoff,
66 Rudolf Marx, Die Gefangenenarbeit unter besonderer Berücksichtigung der Urbarmachung von Ödländereien. In: Deutsches Strafrecht, 2 (1935), S. 364–373, hier 364. 67 Vgl. Knoch, Endlose Heide, S. 108. 68 Vgl. Suhr, Die Emslandlager, S. 31.
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Die Emslandlager (1933–1945)
aber auch Sozialdemokraten und Gewerkschafter, wie Ernst Heilmann (SPD) und Friedrich Ebert junior (SPD).69 Für die preußischen Konzentrationslager im Emsland wurde, anders als viele frühe KZ, die in traditionellen Disziplinaranstalten eingerichtet wurden, eine klare Bauplanung vorgegeben.70 Stacheldrahtzäune grenzten eine rechteckige Grundfläche ab und vom zentralen Lagertor führte »eine mittig verlaufende Lagerstraße« durch das Lagergelände, das räumlich in zwei Bereiche aufgeteilt war: Im vorderen Teil befanden sich »die Verwaltungsgebäude und Wohnbaracken der Wachleute«, im hinteren und durch einen Zaun abgetrennten Teil das Häftlingslager aus in der Regel zehn Baracken.71 Unterstellt waren die staatlichen Konzentrationslager dem Innenministerium, die Geheime Staatspolizei (Gestapo) organisierte die Einweisung entsprechend dem »Schutzhaftbefehl«. Formal verwaltet wurden sie vor Ort von der Schutzpolizei, die jedoch nur für die Bewaffnung und Ausbildung der für die Bewachung zuständigen Angehörigen der SS und SA verantwortlich war.72 Oberlangen (VI), zunächst als fünftes Schutzhaftlager geplant, diente als Ausbildungslager der Wachmannschaften.73
69 Zur Misshandlung von Heilmann und Ebert durch die SS-Wachmannschaften vgl. Lüerßen, Wir sind die Moorsoldaten, S. 83–85. Mit Blick auf den jüdischen Sozialdemokraten Ernst Heilmann hat Kim Wünschmann hervorgehoben, dass dieser unter besonders schweren und klar antisemitisch motivierten Misshandlungen durch die SS litt. Wünschmann unterstreicht damit, dass bereits in der Anfangsphase der Konzentrationslager jüdische Gefangene unter besonders schweren Ausschreitungen gegen sie zu leiden hatten. So wurde Heilmann den anderen Gefangenen im KZ Börgermoor von der SS als »SPD-Bonze«, »Schwein« und »Krimineller« vorgestellt – Bezeichnungen, die offenkundig an antisemitische Deutungsmuster anknüpften. Außerdem wurde er gezwungen, einen Dornenkranz auf dem Kopf zu tragen, den ein anderer jüdischer Schutzhaftgefangener gebunden hatte, und dabei wie ein Hund zu bellen. Vgl. Kim Wünschmann, Before Auschwitz. Jewish Prisoners in the Prewar Concentration Camps, Cambridge/Massachusetts 2015, S. 21–31. An dieser Stelle sei auch auf zwei aktuelle Dissertationsprojekte zu jüdischen Häftlingen in Konzentrationslagern vor 1939 hingewiesen: Karoline Georg, Die jüdischen Häftlinge im Berliner Konzentrationslager Columbia-Haus 1933 bis 1936; Julia Pietsch, Jüdische KZ- und »Schutzhäftlinge« in Berlin und Brandenburg 1933/34. 70 Vgl. Knoch, Die Emslandlager, S. 538. 71 Knoch, Endlose Heide, S. 99. 72 Hauptsächlich bestand das Wachpersonal in dieser Zeit aus Angehörigen der SS-Gruppe West. Oberlagerkommandant war Paul Brinkmann. Die Lagerkommandanten waren: Wilhelm Fleitmann (Börgermoor), Heinrich Katzmann (Esterwegen II), Ludwig Seehaus (Esterwegen III) und Emil Faust (Neusustrum). Vgl. Klausch, Tätergeschichten, S. 8–12. Aspekte des Strafvollzugs wie Fürsorge oder Gesetzesgrundlagen waren dabei nicht Teil der Ausbildung der SS- und SA-Angehörigen. Vgl. Kosthorst/Walter, Konzentrations- und Strafgefangenenlager im Emsland, S. 31. 73 Vgl. Habbo Knoch, Kameradschaftspraxis und Selbstverständnis der Wachmannschaften in den emsländischen Strafgefangengenlagern zwischen 1934 und 1942. In: Gedenkstätte Neuengamme (Hg.), Entgrenzte Gewalt. Täterinnen und Täter im Nationalsozialismus. Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland, 7 (2002), S. 50–65, hier 50.
Konzentrations-, Strafgefangenen- und Kriegsgefangenenlager
53
Im Sinne eines Handlungsgeflechts aus traditionellem Rechts- und Verwaltungssystem und politischen Organisationen, die gleichsam vorhandene Rechtsnormen unterminieren konnten, waren den staatlichen Konzentrationslagern bereits typische Elemente der nationalsozialistischen Herrschaftsstruktur immanent, die Ernst Fraenkel mit dem Konzept des Doppelstaates gefasst hat.74 So war die Planung der Konzentrationslager von Kompetenzkonflikten zwischen Göring und Heinrich Himmler um die »Ausschaltung« politischer Gegner begleitetet, da Göring beabsichtigte, mit den Lagern im Emsland einen staatlichen Gegenpol zum SS-Konzentrationslager in Dachau zu schaffen.75 Kennzeichnend für die vier staatlichen Konzentrationslager war daher die Wirksamkeit von staatlichen Regularien bei gleichzeitiger politischer Willkür. In diesem Spannungsfeld bewegten sich die Ausschreitungen der SS-Wachmannschaften gegen Schutzhaftgefangene und Teile der Lokalbevölkerung in den ersten Monaten,76 die solche Ausmaße annahmen, dass Göring schließlich den Austausch von SS-Wachmannschaften durch SA-Männer im Herbst 1933 anordnete.77 Nach einer kurzen Phase der Entspannung verschlechterten sich die Zustände bald wieder. Der rapide Anstieg von Misshandlungen stand dabei vor allem im Zusammenhang mit dem SA-Mann Heinrich Remmert, der im Dezember 1933 zum Lagerkommandanten des KZ Esterwegen II ernannt worden war. Mit Remmert waren 100 »ebenfalls alte SA-Leute« eingetroffen.78 Strafexerzieren und das Kriechen und Robben auf gefrorenem Boden gehörten im Winter 1933/34 zu den alltäglichen Schikanen der Gefangenen. Auch richtete Remmert seinen Schäferhund ab und hetzte ihn auf die Gefangenen.79 Besonders aufgeladen waren Begegnungen zwischen Wachmannschaften und Schutzhaftgefangenen, die sich noch von Straßenkämpfen in ihren Heimatstädten kannten. Beispielhaft ist die Misshandlung des Reichsbanner-Mitglieds Heinrich Wiesemann, der von ihm
74 Ernst Fraenkel analysierte bereits für die 1930er-Jahre die nationalsozialistische Herrschaftsstruktur als ein Ineinanderwirken von traditionellem Normenstaat und politischem Maßnahmenstaat. So währte der Normenstaat insbesondere im Bereich der Wirtschaft fort, konnte aber durch die stärkere Wirkmacht des Maßnahmenstaates entsprechend den politischen Interessen angepasst oder ausgehebelt werden. Diese Struktur spiegelten paradigmatisch die später aufgebauten Strafgefangenenlager im Emsland. Vgl. Ernst Fraenkel, Der Doppelstaat, Hamburg 2012. 75 Vgl. Knoch, Die Emslandlager, S. 535. 76 Vgl. Dr. J. Göken an Fritz Erichsen vom 28.4.1968 (VVN-Archiv Niedersachsen, N0033, AugBau0061, unpag.). 77 Vgl. Suhr, Die Emslandlager, S. 31 f. 78 Landgericht Osnabrück, Urteil in der Strafsache gegen den Klempner Heinrich Remmert in Osnabrück wegen Körperverletzung im Amt, in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung, und einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit vom 10.8.1950 (NLA OS, Rep 945, 6/1983 Nr. 529, Bl. 21). 79 Vgl. ebd.
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Die Emslandlager (1933–1945)
aus Osnabrück bekannten SA-Leuten im Lager II gepeinigt wurde.80 Wiesemann wurde so schwer mit einem Gewehrkolben geschlagen, dass er dauerhaft das Gehör auf dem rechten Ohr verlor – sogar in einem Ermittlungsverfahren der Osnabrücker Staatsanwaltschaft, das Ende August 1934 eingeleitet worden war, musste dies eingeräumt werden.81 Dieses Verfahren war infolge der Beschwerden von Schutzhaftgefangenen im Jahr 1934 eingeleitet worden, unter ihnen der jüdische Rechtsanwalt Hans Litten82 sowie der Sozialdemokrat Johannes Bremer, der im März 1934 »auf der Flucht« angeschossen worden war.83 Das strafrechtliche Verfahren wegen Körperverletzung führte im November 1934 zur Verurteilung von Remmert, die Sebastian Weitkamp als »Teilsieg des Rechtsstaates« einordnet, als einen der letzten Versuche der Justiz strafrechtliche Normen gegen die Einflussnahme der NSDAP und ihrer Organisationen einzuhalten.84 Zur Zeit des Urteils war die Reorganisation der Lager im Emsland bereits abgeschlossen: Das preußische Innenministerium hatte die Lager Börgermoor und Neusustrum an das Justizministerium abgetreten, seit August 1934 unterstand das Konzentrationslager Esterwegen der SS. 2.2
Reorganisation und Aufbau des Strafgefangenenlagerverbunds (1934–1939)
Infolge der Amnestierung politischer Gegner zum Jahresende 1933 hatte sich die Anzahl der Schutzhaftgefangenen in den preußischen Konzentrationslagern im Emsland auf 1 600 Gefangene verringert.85 Zugleich stiegen in dieser Zeit rechtskräftige Verurteilungen, da die Verfolgung der politischen Opposition in 80
Wiesemann trat im Prozess gegen Remmert im Jahr 1950 als Zeuge auf, allerdings zweifelte das Schwurgericht an seiner Glaubhaftigkeit, da er wegen Diebstahls und Urkundenfälschung im Jahr 1946 von einem österreichischen Gericht verurteilt worden war. Unter welchen Umständen es zu diesen Delikten kam, kann an dieser Stelle nicht nachgewiesen werden. Feststeht, dass Wiesemann nach der NS-Machtübernahme als politischer Gegner in Schutzhaft genommen worden war. Vgl. Landgericht Osnabrück, Urteil in der Strafsache gegen den Klempner Heinrich Remmert in Osnabrück wegen Körperverletzung im Amt, in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung, und einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit vom 10.8.1950 (NLA OS, Rep 945, 6/1983 Nr. 529, Bl. 18). 81 Vgl. Oberstaatsanwalt in Osnabrück an Zentralstaatsanwaltschaft beim Reichs- und Preussischen Justizministerium in Berlin, Betr.: Ermittlungsverfahren gegen Rudolf Kohlenbach und Gen. wegen Misshandlung vom 8.10.1934 (NLA OS, Rep 945, 6/983 Nr. 529, Bl. 43). 82 Zur Inhaftierung Hans Littens unmittelbar nach dem Reichstagsbrand vgl. Wünschmann, Before Auschwitz, S. 27–29. 83 Landgericht Osnabrück, Urteil in der Strafsache gegen den Klempner Heinrich Remmert in Osnabrück wegen Körperverletzung im Amt, in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung, und einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit vom 10.8.1950 (NLA OS, Rep 945, 6/983 Nr. 529, Bl. 23). 84 Weitkamp, Ein Rückzugsgefecht, S. 82. 85 Vgl. Knoch, Die Emslandlager, S. 535.
Konzentrations-, Strafgefangenen- und Kriegsgefangenenlager
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die Gerichtsbarkeit überging.86 Die Folge dieser Entwicklung war, dass die Haftstätten unter Justizverwaltung überbelegt waren. Vor diesem Hintergrund – und weil Göring den Plan eines eigenen preußischen KZ-Systems fallen ließ – fiel die Entscheidung, die staatlichen Konzentrationslager im Emsland aufzulösen. Das preußische Justizministerium übernahm am 1. April 1934 offiziell die Lager Börgermoor und Neusustrum.87 Bis 1939 ließ das Justizministerium (bzw. Reichsjustizministerium) weitere zwölf Lager links und rechts der Ems errichten und es entstand ein 15-gliedriger Lagerverbund mit zentraler Kommandantur in Papenburg.88 Das Doppellager Esterwegen wurde an die SS übergeben und am 1. August 1934 die Lagerordnung der Inspektion der Konzentrationslager (IKL) eingeführt. Als Kommandant wurde der SS-Mann Hans Loritz eingesetzt, in den letzten Monaten des Bestehens des KZ Esterwegen war hier Karl Otto Koch Lagerkommandant.89 Im Vergleich zu den preußischen Konzentrationslagern war die Zusammensetzung der Gefangenen im SS-Konzentrationslager Esterwegen bereits heterogener. Neben politischen Schutzhäftlingen wurden hier nun auch Homosexuelle sowie »Bibelforscher« und »Berufsverbrecher« untergebracht.90 Unter den Häftlingen des SS-Konzentrationslagers Esterwegen befanden sich aber auch viele prominente politische NS-Gegner wie Julius Leber (SPD), Fritz Husemann (SPD) oder Carl von Ossietzky.91 Esterwegen war damit im Jahr 1934 das einzige offizielle Konzentrationslager im Emsland, das jedoch im Zuge des Aus- und Aufbaus der großen Konzentrationslager im Jahr 1936 aufgelöst und in den Strafgefangenenlagerkomplex eingegliedert wurde.92 Nach der Übernahme der Lager Börgermoor und Neusustrum durch das Justizministerium dominierte weiterhin eine brutale Haft- und Strafpraxis, die ganz im Sinne der unscharfen Aufgabentrennung zwischen Partei- und Justizorga-
86 Vgl. Bührmann-Peters, Ziviler Strafvollzug, S. 14; vgl. Wachsmann, Gefangen unter Hitler, S. 398. 87 Die Einrichtung von Strafgefangenenlagern im Emsland versprach dabei die Haftvollzugskosten zu senken. Vgl. Reichsfinanzministerium (D.R.d.F.), Betr.: Gefangenenlager bei Papenburg vom 19.12.1936 (ITS Digital Archive, Bad Arolsen, 1.1.34.0/82147539, Bl. 20–24). 88 Die Lager I bis VII wurden also zwischen 1933 und 1937 errichtet und erweitert, während die Lager VIII bis XV zwischen 1938 und 1939 aufgebaut wurden. Vgl. Preussisches Staatshochbauamt an den Generalstaatsanwalt bei dem Oberlandesgericht in Oldenburg, Betr.: Strafgefangenenlager in den emsländischen Mooren vom 29.11.1945 (NLA OS, Rep 430 Dez 209, 61/87 Nr. 62, unpag.). 89 Vgl. Landgericht Osnabrück, Urteil in der Strafsache gegen den Klempner Heinrich Remmert in Osnabrück wegen Körperverletzung im Amt, in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung, und einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit, o. D. (1950) (NLA OS, Rep 945, 6/983 Nr. 529, Bl. 24). 90 Vgl. Lüerßen, Wir sind die Moorsoldaten, S. 154. 91 Zu den namentlich erfassten Gefangenen der Konzentrationslager vgl. ebd., S. 227–464. 92 Vgl. Knoch, Die Emslandlager, S. 535.
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Die Emslandlager (1933–1945)
nen war.93 So lag nur die Verwaltung in den Händen von Justizbeamten, die vor 1933 für den Strafvollzug und die Gefangenenfürsorge ausgebildet worden waren. Die Bewachung wurde hingegen von SA-Angehörigen gestellt, unter ihnen viele, die bereits in den frühen preußischen Konzentrationslagern tätig gewesen waren. Diese SA-Wachleute waren häufig in den Status von staatlichen Justizvollzugsangestellten erhoben worden und unterlagen sowohl dem Weisungsrecht der SA-Führung als auch der Justizverwaltung.94 Kennzeichnend ist dabei auch die Ernennung Werner Schäfers zum Leiter der Justizverwaltung in Papenburg, denn er stand zugleich an der Spitze des aus SA-Leuten gebildeten Sturmbanns, der sogenannten Moor-SA.95 Diese Personalunion aus Verwaltung und Parteiorganisation war paradigmatisch, denn einerseits war die SA-Standarte aufgrund ihrer weitreichenden Unterstützung aus Parteikreisen sehr mächtig. Andererseits waren weiterhin Gesetze wirksam, die die willkürliche Misshandlung von Gefangenen verboten. Da diese Gruppe sich jedoch gegenseitig deckte und unterstützte und eine starke soziale Binnenkraft aufwies, konnte sie sich häufig über gesetzliche Einschränkungen hinwegsetzen, die damit wirkungslos blieben.96 Schäfer bekleidete bis zu seiner Einberufung in die Wehrmacht den Posten des Kommandanten. Auf ihn folgte im September 1942 Regierungsrat Hans-Georg Hildebrandt, seit 1933 Mitglied der NSDAP und SA.97 Von Mai 1943 bis zur Befreiung der Lager im April 1945 war schließlich Generalstaatsanwalt Dr. Richard Thiel Präsident des Strafvollzugsamtes.98 2.3
Eingliederung der Lager in die Kriegsführung (1938–1941)
Bis 1938 waren überwiegend deutsche Straf- und Zuchthausgefangene in den Strafgefangenenlagern im Emsland inhaftiert gewesen. Infolge der deutschen Annexionen kamen seit 1938 österreichische und tschechische Gefangene ins Emsland und seit Kriegsbeginn polnische, jugoslawische, niederländische, bel93 94 95 96
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Vgl. Wachsmann, Gefangen unter Hitler, S. 98. Vgl. Knoch, Kameradschaftspraxis und Selbstverständnis, S. 50. Der offizielle Name lautete: SA-Pionierstandarte Emsland. Gänzlich autark konnten die SA-Leute im Emsland jedoch nicht handeln. Immer wieder wurden Disziplinarverfahren gegen Schäfer und seine Leute eingeleitet, die schließlich dazu führten, dass seit 1936 die SA-Männer ausschließlich für die Bewachung des Außendienstes eingesetzt werden sollten, während Strafvollzugsbeamte die Bewachung innerhalb der Lager übernahmen. Vgl. Knoch, Kameradschaftspraxis und Selbstverständnis, S. 51. Zur Rolle Hildebrandts bei der Auslieferung von »Gewohnheitsverbrechern« an das KZ-System vgl. Hans-Peter Klausch, »Vernichtung durch Arbeit« – Strafgefangene der Emslandlager im KZ Neuengamme. In: Anne Allex/Dietrich Kalkan (Hg.), ausgesteuert – ausgegrenzt … angeblich asozial, Neu-Ulm 2009, S. 62–86, hier 66. Vgl. zum Aufbau der Verwaltung der Strafgefangenenlager The Emsland Case (Report) Part III, o. D. (1946), S. 49 (TNA, WO 208/4297).
Konzentrations-, Strafgefangenen- und Kriegsgefangenenlager
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gische, luxemburgische, französische und italienische.99 Neben den zivilen Strafgefangenen waren seit 1939 Militärstrafgefangene in den emsländischen Justizstrafgefangenenlagern untergebracht.100 Ihre steigende Anzahl ging auf die Verschärfung der Militärstrafjustiz seit November 1939 zurück. Diese sah vor, dass Wehrmachtsoldaten, die mit Zuchthausstrafen belegt worden waren, das Urteil »wehrunwürdig« erhielten, wozu u. a. das Abhören von Feindsendern, Sabotage, Zersetzung der Wehrkraft, Vergehen gegen das Rassengesetz, Vorbereitung zum Hochverrat, Tätigkeit als Bibelforscher, Fahnenflucht, Entziehung von Wehrpflicht, unerlaubte Entfernung von der Truppe, Wachvergehen, Befehlsverweigerung, Ungehorsam, Selbstverstümmelung zählten. Dieses Urteil diente der Abschreckung, da die Haft in den Straflagern nur als Freiheitsentzug galt und die eigentliche Zuchthausstrafe erst nach Kriegsende angetreten werden sollte.101 In den sechs nördlichen Strafgefangenenlagern wurden nun u. a. wegen Wehrkraftzersetzung und Desertion militärgerichtlich Verurteilte inhaftiert.102 Seit Juni 1940 wurden die verschärften Bestimmungen der Militärstrafjustiz dann auf zivile »Kriegstäter« übertragen. Nun galt auch für Menschen, die von zivilen Gerichten mit Zuchthausstrafe oder Verlust der Ehrenrechte bestraft worden waren, die Regel, dass die Vollzugszeit während des Kriegszustandes nicht auf die Strafzeit angerechnet wurde.103 Mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges fiel im September 1939 die Entscheidung zwischen dem Land Preußen, der Eigentümerin der Strafgefangenenlager (Reichsjustizverwaltung), und dem Oberkommando der Wehrmacht (OKW), neun der mittleren und südlichen 15 Emslandlager als Kriegsgefangenenlager unter der Bedingung zu nutzen, dass 3 000 der Kriegsgefangenen in der
99 Vgl. Basic Report on Emsland Concentration Camps, Appendix ›O‹ to Report No.: PWIS (H)/ KP/718, Table of Allied Nationals, o. D. (1946), S. 14 (TNA, WO 208/4297). 100 Seit den 1980er-Jahren wird die Geschichte der durch die Militärjustiz Verurteilten stärker aufgearbeitet. Vgl. Norbert Haase, Deutsche Deserteure, Berlin 1987; Fietje Ausländer (Hg.), Verräter oder Vorbilder? Deserteure und ungehorsame Soldaten im Nationalsozialismus, Bremen 1990; Wolfram Wette/Detlef Vogel, Das letzte Tabu: NS-Militärjustiz und ›Kriegsverrat‹, Berlin 2007; Ulrich Baumann/Magnus Koch im Auftrag der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden (Hg.), »Was damals Recht war ...«. Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der Wehrmacht, Berlin 2008. 101 Zunächst war nur die Belegung des Lagers Esterwegen mit Militärstrafgefangenen geplant, jedoch folgte bald die Belegung der Lager Börgermoor, Aschendorfermoor, Brual-Rhede, Walchum und Neusustrum. Die Gruppe der wehrmachtgerichtlich verurteilten Strafgefangenen machte zum Kriegsende die größte Gefangenengruppe der nördlichen Emslandlager aus. Vgl. Knoch, Die Emslandlager, S. 552. 102 Vgl. Fietje Ausländer, Vom Wehrmacht- zum Moorsoldaten. Militärstrafgefangene in den Emslandlagern 1939–1945. In: Osnabrücker Jahrbuch Frieden und Wissenschaft, 4 (1997), S. 187–201, hier 187–190. 103 Vgl. Kosthorst/Walter, Konzentrations- und Strafgefangenenlager im Dritten Reich, Band 2, S. 236.
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Die Emslandlager (1933–1945)
ultivierungsarbeit eingesetzt werden sollten.104 Zu diesen Lagern zählten: OberK langen, Versen, Wesuwe, Fullen, Bathorn, Alexisdorf, Groß Hesepe und Dalum. Im September 1939 wurde zunächst das Mannschafts-Stammlager (Stalag) VI Versen mit den Zweiglagern Oberlangen, Wesuwe und Fullen gegründet. Diese für einfache Dienstränge genutzten Lager zählten zum Wehrkreis VI mit Dienststelle in Münster.105 Im ersten Halbjahr ihres Bestehens dienten die Lager vorwiegend als Durchgangslager, um die aus Polen und Westeuropa stammenden Kriegsgefangenen auf weitere Lager in den Wehrkreisen zu verteilen.106 War im Jahr 1939 noch geplant gewesen, die Kriegsgefangenen großflächig bei den Moorarbeiten einzusetzen, sollten sie im Laufe des Krieges und des damit einhergehenden Arbeitskräftemangels nun vornehmlich in kleineren landwirtschaftlichen Betrieben sowie seit 1941 in der Rüstungsindustrie eingesetzt werden.107 2.4
Radikalisierung infolge des Krieges gegen die Sowjetunion (1941–1945)
Eine Umstrukturierung der Arbeitseinsätze erfolgte im Zuge des Krieges gegen die Sowjetunion. Zunehmend wurden sowohl Strafgefangene als auch Kriegsgefangene in Betrieben der Metallverarbeitung eingesetzt, wobei teils kleinere Lager auf Firmengeländen entstanden.108 Die Kriegsgefangenenlager wurden außerdem zunehmend mit sowjetischen Kriegsgefangenen belegt: 1942 überführte man französische Kriegsgefangene in den Status ziviler Zwangsarbeiter, um sie in der kriegswichtigen Industrie einsetzen zu können und dabei nicht die Bestimmungen der Haager und Genfer Abkommen zu verletzen.109 Die freiwerdenden Lager wurden daraufhin mit sowjetischen Kriegsgefangenen belegt.110 Auch das bislang als Durchgangslager genutzte Lager Alexisdorf fungierte seit dem Jahreswechsel 1941/42 ausschließlich zur Unterbringung von sowjeti-
104 Vgl. Niederschrift über die Besprechung zwischen den Vertretern des Reichsarbeitsministeriums, Reichsernährungsministeriums, Preuß. Finanzministerium und OKW vom 29.9.1939 (NLA OS, Rep 675 Mep, Nr. 98, unpag.). 105 Vgl. Lembeck, Befreit, S. 12. 106 Vgl. ebd. 107 Vgl. Bürgermeister Esche an Kreisverwaltung Nordhorn zur Auskunft über Arbeitskommando Esche des Lagers Bathorn VI C vom 28.9.1949 (ITS Digital Archive, Bad Arolsen, 2.2.0.1/82394599, Bl. 451). 108 Vgl. Stadt Meppen an Landkreis Meppen zu Informationen über Ausländerläger vom 13.4.1949 (ITS Digital Archive, Bad Arolsen, 2.2.0.1/82416528, Bl. 245). 109 Vgl. Lembeck, Befreit, S. 12 f. 110 Vgl. Mitteilung des Stalag VI B Neu-Versen über den Austausch von französischen gegen sowjetische Kriegsgefangene im Arbeitskommando Kossentanne (Kreis Meppen) vom 31.8.1941. In: Rolf Keller/Silke Petry (Hg.), Sowjetische Kriegsgefangene im Arbeitseinsatz 1941–1945. Dokumente zu den Lebens- und Arbeitsbedingungen in Norddeutschland, Göttingen 2013, S. 67.
Konzentrations-, Strafgefangenen- und Kriegsgefangenenlager
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schen Kriegsgefangenen.111 Als Teil der rassistischen Kriegsführung gegen die Sowjetunion mussten die sowjetischen Kriegsgefangenen dabei unter katastrophalen Bedingungen in den Lagern leben.112 Infolge der unzureichenden Versorgung verschlechterte sich der gesundheitliche Zustand der ohnehin bereits bei ihrer Ankunft entkräfteten sowjetischen Kriegsgefangenen in den Lagern im Emsland rapide. Daher sah sich beispielsweise die Leitung des Stalag VI B Neu-Versen im Januar 1942 gezwungen, die Lohnsätze für die zur Zwangsarbeit eingesetzten sowjetischen Kriegsgefangenen zu senken. »Als Ausgleich für die Minderleistungen der sowjetischen Kr.Gef.« – die Unternehmen mussten demnach für die Monate Januar und Februar einen geringen Satz zahlen.113 Neben den sowjetischen Kriegsgefangenen sind drei weitere Gefangenengruppen zu nennen, deren Inhaftierung im Zusammenhang mit dem Kriegsverlauf steht. Hierzu zählten die insgesamt 2 696 weiblichen und männlichen Nacht-und-Nebel-Gefangenen (NN-Gefangene), die seit Mai 1943 in 66 Transporten im Emsland eintrafen. Es handelte sich bei ihnen um belgische, französische und zu einem kleineren Teil niederländische Widerstandskämpfer, deren Strafverfolgung infolge eines OKW-Erlasses in die allgemeine Gerichtsbarkeit übertragen wurde.114 Die NN-Gefangenen waren im Südabschnitt des Lagers Esterwegen sowie seit 1944 im Lager Börgermoor untergebracht.115 Die NN-Gefangenen litten unter katastrophalen Lebensbedingungen, waren streng bewacht, isoliert von den anderen Gefangenen und permanenten Misshandlungen durch die Wachmannschaften ausgesetzt. Aufgrund der strengen Geheimhaltung ihrer Inhaftierung wurden sie nicht zur Gefangenenarbeit eingeteilt.116 Ebenso schutzlos ausgeliefert waren die italienischen Militärinternierten in den Kriegsgefangenenlagern im Emsland.117 Die italienischen Soldaten waren nach der Verhaftung Mussolinis und dem geschlossenen Waffenstillstand der neuen italienischen
111 Vgl. Bürgermeister Großringe an Kreisverwaltung Nordhorn zur Erfassung der Ausländer-Lager 70 A vom 4.4.1949 (ITS Digital Archive, Bad Arolsen, 2.2.0.1/82394607, Bl. 459). 112 Vgl. Klausch, Vernichtung durch Arbeit, S. 63; Michael Wildt, Funktionswandel der nationalsozialistischen Lager. In: Mittelweg 36, 20 (2011) 4, S. 76–86, hier 81–84. 113 Mitteilung des Stalag VI B Neu-Versen über die vorübergehende Herabsetzung der Lohnsätze für sowjetische Kriegsgefangene vom 6.1.1942. In: Keller/Petry, Sowjetische Kriegsgefangene, S. 248 f. 114 Vgl. Kosthorst/Walter, Konzentrations- und Strafgefangenenlager im Dritten Reich, Band 2, S. 465–468; Christel Trouvé, Die »Nacht und Nebel«-Häftlinge 1942–1945. In: Dachauer Hefte, 21 (2005), S. 50–65, hier 56 f. 115 Die NN-Gefangenen waren im Südabschnitt des Lagers Esterwegen sowie seit 1944 im Lager Börgermoor untergebracht. Vgl. Bührmann-Peters, Ziviler Strafvollzug, S. 27; Kosthorst/Walter, Konzentrations- und Strafgefangenenlager im Emsland, S. 465–468. 116 Vgl. Vernehmung Edmond Blauwers, Emsland War Crimes Trial (Esterwegen), o. D. (1946), S. 615 (TNA, FO 1060/2024, Vol. 2). 117 Vgl. Mechtild Brand, Weggesperrt. Kriegsgefangenschaft im Oflag VI A Soest, Essen 2014, S. 16 f.
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Die Emslandlager (1933–1945)
Regierung mit den Alliierten seit September 1943 in großen Transporten ins Emsland gebracht worden.118 Am 1. Oktober 1943 befanden sich 11 268 Militärinternierte im Emsland, die auf die Zweiglager des Stalags VI C Bathorn verteilt worden waren.119 Darüber hinaus wurde das Offizierslager (Oflag) Oberlangen zwischen Mai und September 1944 auch zur Unterbringung von italienischen Offizieren genutzt.120 Seit Dezember 1944 wurden schließlich im Oflag Oberlangen ca. 1 700 weibliche Angehörige der Armia Krajowa (der polnischen Heimatarmee) untergebracht, die nach dem niedergeschlagenen Warschauer Aufstand festgenommen worden waren.121 2.5
Außenlager Neuengamme (1944–1945)
Über das KZ Esterwegen hinaus existierten zum Ende des Krieges Konzentrations lager unter der SS im Emsland. Die Lager Versen und Dalum waren im Herbst 1944 an das Hauptlager Neuengamme angegliedert worden. Am 14. November 1944 traf im Außenkommando Versen ein erster Transport mit 2 500 KZ-Häftlingen ein, die 16 unterschiedlichen Nationen angehörten.122 Insgesamt belief sich die Zahl der zwischen November 1944 und März 1945 im Emsland untergebrachten KZ-Häftlinge auf 2 500 bis 4 000 Menschen. Sie sollten in der Umgebung von Meppen Verteidigungswälle, den sogenannten Friesenwall, bauen und waren sowohl in den Außenlagern Dalum und Versen als auch in den Lagern Fullen und Groß Hesepe untergebracht – in letzteren zusammen mit anderen Gefangenengruppen.123 Aufgrund von Misshandlungen durch die Wachmannschaften, des gezielten Mordes, der harten Arbeitseinsätze sowie der im Kriegsverlauf sich verschlechternden Versorgungslage starben in den Emslandlagern zwischen 1933 und 1945
118 Das OKW ordnete angesichts des »Verrats« des ehemaligen Bündnispartners im September 1943 an, die italienischen Soldaten nicht nur zu entwaffnen und sie in Kriegsgefangenenlager als Arbeitskräfte zu verschleppen, sondern sie zukünftig als Militärinternierte von der Einhaltung der Genfer Konvention zu entheben. Vgl. Kurt Buck, Vorwort. In: Giovanni R. Frisone/Deborah Smith Frisone, Von Albanien ins Stalag VI C, Zweiglager Versen und Fullen. Zeichnungen und Tagebuchaufzeichnungen des italienischen Militärinternierten Ferruccio Francesco Frisone 1943–1945, Papenburg 2009, S. 4–7. 119 Neu Versen, Groß Hesepe, Fullen, Wietmarschen, Wesuwe, Oberlangen und Alexisdorf. 120 Hier betrug die Anzahl der Todesopfer 872. In der Mehrzahl wurden die Toten auf dem Friedhof Groß Fullen beerdigt, 17 Tote lagen aber auch laut Zählungen des italienischen Gräberdienstes auf der Grabstätte Wesuwe. Vgl. Lista di italiani sepolti in Wesuwe, Cimitero: Friedhof Wesuwe, o. J. (ITS Digital Archive, Bad Arolsen, 2.1.2.1/70689065, unpag.). 121 Vgl. Lembeck, Befreit, S. 27. 122 Kosthorst/Walter beziehen ihre Informationen aus dem Exhumierungsbericht von 1953, der vom französischen Gräberdienst angefertigt wurde. Vgl. Kosthorst/Walter, Konzentrationsund Strafgefangenenlager im Dritten Reich, Band 1, S. 463 f. 123 Vgl. Bührmann-Peters, Ziviler Strafvollzug, S. 27.
Zuchthausstrafen
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mindestens 20 000 Menschen. Kosthorst und Walter geben an, dass in den Konzentrationslagern Börgermoor, Neusustrum und Esterwegen zwischen 1933 und 1936 40 Todesfälle registriert wurden. Bei den von den Standesämtern der jeweiligen Gemeinden urkundlich erfassten Todesfällen in den Strafgefangenenlagern handelte es sich um 1 586 Tote. Allerdings, so Kosthorst und Walter, seien dabei nicht die im Lazarett in Papenburg und daher von der zentralen Verwaltung registrierten Toten erfasst.124 Die Zahl der in den Kriegsgefangenenlagern Verstorbenen wird in der Dokumentation zwischen ca. 15 000 und 27 000 angegeben, wobei mit Abstand die größte Opfergruppe die der sowjetischen Kriegsgefangenen ausmacht. Die nächsthöchste Opferzahl findet sich mit 872 Toten unter den italienischen Militärinternierten. Darüber hinaus starben mindestens 566 Menschen in den Außenkommandos des KZ Neuengamme (1944/45), die ebenfalls zu den Emslandlagern zu zählen sind.125
3.
Zuchthausstrafen: drei Beispiele
Wachsmann hat das Bewusstsein für den justiziellen Strafvollzug als »festen Bestandteil des Terrorapparates« geschärft. Er hebt die besondere Härte des Vollzugs in den Strafgefangenenlagern im Emsland hervor.126 Ansätze eines reformorientierten Strafvollzuges, der die Resozialisierung beachtet, blieben in den Strafgefangenenlagern gänzlich unberücksichtigt.127 Im Rahmen geltenden Strafrechts diente der Strafvollzug ausschließlich der Vergeltung, der Disziplinierung und dem Schutz der »Volksgemeinschaft«.128 Im Folgenden werden drei Strafurteile gegen Gefangene der Emslandlager vorgestellt, die zeigen, dass Kriminalität zwischen 1933 und 1945 in einem binären Bezugssystem von Konformität einerseits und Delinquenz andererseits gedeutet und entsprechend sanktioniert und bekämpft wurde. Außerdem soll deutlich werden, dass angesichts einer politisierten Justiz die Unterscheidung zwischen kriminellen und politischen Gefangenen verschwimmen. Dies wird folgend am Beispiel erstens der Kriminalisierung politischen Handelns nach der ersten Phase der Machtkonsolidierung aufzeigt, zweitens der Ahndung devianten Verhaltens am Beispiel der Verschärfung des § 175, der sowohl sexuelle Handlungen unter Männern als auch angebliche
124 Vgl. Kosthorst/Walter, Konzentrations- und Strafgefangenenlager im Dritten Reich, Band 3, S. 3548. 125 Vgl. ebd., S. 3545–3554. 126 Wachsmann, Gefangen unter Hitler, S. 10. 127 Vgl. Kosthorst/Walter, Konzentrations- und Strafgefangenenlager im Dritten Reich, Band 2, S. 1869; Wachsmann, Gefangen unter Hitler, S. 10. 128 Vgl. Knoch, Endlose Heide, S. 105.
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Die Emslandlager (1933–1945)
omosexuelle Gedanken unter Strafe stellte, und drittens des Straftatbestandes h des »Kriegstäters«.129 Beispielhaft für die strafrechtliche Verfolgung politischen Widerstands vor Kriegsbeginn sind die Zuchthausstrafen gegen die Kommunisten Matthias Pöllen (*13.8.1903) und Karl Stienen (*30.5.1906). Beide wurden zunächst im Lager II Aschendorfermoor untergebracht, das zu dieser Zeit als Strafgefangenenlager für vornehmlich politische Gefangene genutzt wurde – wie im weiteren Verlauf der Arbeit zu zeigen ist, waren viele der sich später organisierenden kommunistischen Verfolgten in diesem Lager inhaftiert gewesen.130 Pöllen und Stienen waren im Jahr 1936 im Rahmen des Krefelder Hochverratsprozesses gegen 58 Männer und Frauen wegen illegaler Parteitätigkeit angeklagt worden, da sie Druckschriften hergestellt und in Krefeld und Umgebung verteilt hatten.131 Pöllen wurde zu drei Jahren Zuchthaus, Stienen zu acht Jahren Zuchthaus sowie sechs Jahren Ehrverlust verurteilt. In der Urteilsbegründung der hohen Strafmaße wurde zum einen darauf hingewiesen, dass der Staat verpflichtet sei, die »Volksgemeinschaft« vor Angreifern zu schützen. Zum anderen wurde hier deutlich die politische Arbeit als »verbrecherisches Treiben« gekennzeichnet und der »verbrecherische Wille« der Angeklagten betont.132 Zur Gruppe der Gefangenen, die wegen abweichenden Verhaltens kriminalisiert wurden, zählten die nach §175 Verurteilten.133 Rainer Hoffschildt zufolge waren »an keinem Ort im Deutschen Reich mehr Homosexuelle in Haft (als) in den Emslandlagern«.134 In den ersten beiden Jahren der Machtsicherung waren Homosexuelle135 in Schutzhaft genommen worden, sofern es sich um politische 129 Zu den Deutungsmustern Devianz und Delinquenz im Nationalsozialismus vgl. Hörath, »Asoziale« und »Berufsverbrecher«, S. 20 f.; Detlev Peukert, Alltag und Barbarei. Zur Normalität des Drittens Reiches. In: Gewerkschaftliche Monatshefte, 38 (1987), S. 142–153, hier 147–149. 130 Vgl. Urteil Krefelder Hochverratsprozess, Abschrift aus der Volksparole vom 3.5.1936 (VVN-Archiv Niedersachsen, AugBau 0061, unpag.). 131 Vgl. Aurel Billstein, Der eine fällt, die anderen rücken nach ... Dokumente des Widerstandes und der Verfolgung in Krefeld 1933–1945, Frankfurt a. M. 1973, S. 94–103. 132 Krefelder Hochverratsprozess, Sitzung vom 24. April bis zum 2. Mai 1936. Zit. nach Billstein, Der eine fällt, die anderen rücken nach ..., S. 104. Besonders schwer fielen dabei die Strafen für Angeklagte aus, die bereits kurz nach der Machtübernahme in längere Schutzhaft genommen worden waren – sie wurden sowohl mit Zuchthausstrafe als auch dem Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte bestraft. 133 Zur Gruppe der nach § 175 verurteilten Gefangenen in den Emslandlagern vgl. Carola von Bülow, Die Verfolgung von homosexuellen Männern im nationalsozialistisch beherrschten Deutschland am Beispiel der Emslandlager. In: Verfolgung von Homosexuellen im Nationalsozialismus. Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland, 5 (1999), S. 62–69. 134 Rainer Hoffschildt, Die Verfolgung der Homosexuellen in der NS-Zeit. Zahlen und Schicksale aus Norddeutschland, Berlin 1999, S. 35. 135 Die strafrechtliche Verfolgung wegen homosexueller Handlungen und die daraus abgeleitete Zuschreibung der Homosexualität ist eine Verkürzung, die nicht dem Selbstbild der einzelnen
Zuchthausstrafen
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Gegner der Nationalsozialisten handelte. Mit der Verschärfung des §175 im Jahr 1935 wurde Homosexualität strafrechtlich verfolgt. Dabei galt laut §175 nicht mehr nur Beischlaf, sondern jegliche Handlung als Unzucht, die das Sittlichkeitsgefühl einer anderen Person verletzte. Ein besonders schweres Strafmaß wurde bei sexuellen bzw. zugeschriebenen Handlungen mit Minderjährigen, also unter 21-Jährigen, verhängt (§ 175a Ziff. 3 StGB).136 Für ein derartiges Urteil steht Norbert Engels (*3.5.1895), der im März 1938 wegen Verstoßes gegen »§ 175a Ziff. 3 StGB zu einer Zuchthausstrafe von 1 Jahr 6 Monaten« verurteilt worden war und einen Teil seiner Haft im Lager I Börgermoor verbüßte.137 Engels, der als Maschinist arbeitete, hatte im November 1937 zwei jugendliche Hilfsarbeiter unabhängig voneinander an der Innenseite ihrer Oberschenkel berührt und sie aufgefordert: »Komm, wir gehen mal in den Wald«. Die Fünfzehn- und Sechzehnjährigen zeigten ihn daraufhin an. In der Urteilsbegründung des Landgerichts Koblenz vom 14. März 1938 heißt es, dass Engels bereits im Jahr 1934 wegen »Vergehens gegen §175 a.F. StGB in vier Fällen zu einer Gesamtgefängnisstrafe von einem Jahr und zwei Monaten bei gleichzeitiger Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte auf die Dauer von drei Jahren verurteilt« worden war. Am 8. Mai 1935 war Engels sterilisiert worden »wegen erblicher Fallsucht«, wie es in der Begründung des Landgerichts heißt.138 Im Februar 1939 wurde er in das Lager VII Esterwegen überführt und hier am 14. Juli 1939 entlassen.139 Dass Engels in die »Moorlager« gebracht worden war, entsprach der ausdrücklichen Anordnung des Reichsjustizministeriums, das einen besonders harten Arbeitseinsatz im Moor für die nach § 175 Verurteilten forderte.140 Die hohe Anzahl dieser Gefangenengruppe in den Emslandlagern ist darüber hinaus auf die Kriegstäterverordnung von 1940 zurückzuführen.141 Denn seit Juni 1940
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bzw. ihrer sexuellen Orientierung entsprechen musste. Vgl. Andreas Pretzel, NS-Opfer unter Vorbehalt: Ein Forschungsbericht. In: ders. (Hg.), NS-Opfer unter Vorbehalt. Homosexuelle Männer in Berlin nach 1945, Münster 2002, S. 7–21, hier 8. Die Strafgesetznovellierung aus dem Jahr 1935 erweiterte den Straftatbestand des § 175. Jegliche sexuellen Kontakte unter Männern wurden nun unter Strafe gestellt. Darüber hinaus wurden Abhängigkeitsverhältnisse, Prostitution und sexuelle Handlungen mit unter 21-Jährigen geahndet. Vgl. Andreas Pretzel, Sonderstrafrecht gegen Homosexuelle. In: ders. (Hg.), NS-Opfer unter Vorbehalt, S. 23–42, hier 23–25. Gefangenenpersonalakte Norbert Engels, Urteil vom 7.3.1938 (NLA OS, Rep 947, Lin II, 1473, unpag.). Gefangenenpersonalakte Norbert Engels, Urteilsbegründung vom 14.3.1938 (ebd., Bl. 2–7). »Norbert Engels, geboren am 3.5.1895 in Belmicke, wurde am 6. Februar 1939 von Börgermoor zum Lager VII Esterwegen überführt und am 14. Juli 1939 nach Hölzemerf. im Sauerland entlassen.« Namenliste Strafgefangenenlager I Börgermoor, o. D. (1939) (ITS Digital Archive, Bad Arolsen, 1.1.34.1/3716417, unpag.). Vgl. Hoffschildt, Die Verfolgung der Homosexuellen, S. 29–32. Vgl. Gabriele Roßbach, Auswirkungen der NS-Verfolgung. In: Pretzel (Hg.), NS-Opfer unter Vorbehalt, S. 43–66, hier 49.
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Die Emslandlager (1933–1945)
galt für Personen, die von zivilen Gerichten mit Zuchthausstrafe oder Verlust der Ehrenrechte bestraft worden waren, die Regel, dass die Vollzugszeit während des Kriegszustandes nicht auf die Strafzeit anzurechnen sei.142 Zur Gruppe der »Kriegstäter« wurde Wilhelm Seeger (*10.5.1899) gezählt, der vom Sondergericht Königsberg als »Volksschädling« und »Kriegstäter« im August 1940 »wegen Verbrechens gegen § 4 der Verordnung gegen Volksschädlinge« zu einer »Freiheitsstrafe von 5 Jahren Zuchthaus und 5 Jahren Ehrverlust« verurteilt worden war.143 Zunächst war Seeger im Zuchthaus Ragnitz inhaftiert, im Jahr 1943 erfolgte seine Überstellung ins Strafgefangenenlager IV Walchum.144 In seiner Gefangenenpersonalakte ist überdies als weitere Station das Lager Nord vermerkt, ein Außenkommando der Emsland-Strafgefangenenlager, das 1942 im Rahmen der »Organisation Todt« in Norwegen errichtet wurde.145 Angeklagt worden war der Vater von sechs Kindern wegen der Unterschlagung von Spenden für das Kriegshilfswerk (Deutsches Rotes Kreuz). Auf der ihm zugeteilten Sammelliste hatte er einen Teil der bereits eingegangenen Spenden ausradiert und neun Reichsmark für sich einbehalten. Das Sondergericht warf ihm nun Unterschlagung mit schwerer Urkundenfälschung vor. Im Urteil hieß es dazu: »Besonders gemein ist seine jetzige Straftat aber, weil er sich an Geldern vergriffen hat, die von dem Deutschen Volke für seine verwundeten Soldaten geopfert waren. Das Deutsche Volk steht mitten in seinem schwersten Existenzkampf, in voller Geschlossenheit steht die Heimat hinter der kämpfenden Truppe und ist bereit, jedes Opfer zu bringen, um die Leiden der verwundeten Soldaten und das Los der Hinterbliebenen zu erleichtern. Wer sich dann aber an solchen geopferten Betrügern vergreift, steht außerhalb dieser geschlossenen Gemeinschaft und tritt die Ideale des Deutschen Volkes mit Füßen.«146
Dieses Urteil zeigt, wie während des Krieges selbst kleinste Delikte zum Verbrechen am »Volkskörper« und seinem »Existenzkampf« stilisiert und hart geahndet wurden.147 Angesichts derartiger Urteile muss die hohe Zahl der Zuchthausgefangenen, die in den Emslandlagern 84 Prozent ausmachten, differenziert betrachtet
142 Vgl. Kosthorst/Walter, Konzentrations- und Strafgefangenenlager im Emsland, S. 236. 143 Gefangenenpersonalakte Wilhelm Seeger, Justizinspektor bei der Geschäftsstelle des Landgerichts Königsberg, Schreiben vom 20.8.1940 (NLA OS, Rep 947 Lin II, 6022, Bl. 2). 144 Vgl. Kontobuch über Gefangenengelder des Strafgefangenenlagers IV Walchum, Eintrag Wilhelm Seeger, o. D. (1943) (ITS Digital Archive, Bad Arolsen, 1.1.34.1/3729639, unpag.). 145 Vgl. Gefangenenpersonalakte Wilhelm Seeger, Einlieferungsvermerk vom Zuchthaus Ragnitz in das Lager IV Walchum vom 25.5.1943 (NLA OS, Rep 947 Lin II, 6022, unpag.). Zu dem Lager Nord, dem sog. Viking-Einsatz vgl. Kosthorst/Walter, Konzentrations- und Strafgefangenenlager im Emsland, S. 153. 146 Gefangenenpersonalakte Wilhelm Seeger, Urteilverkündung Sondergericht Königsberg vom 29.8.1940 (NLA OS, Rep 947 Lin II, 6022, Bl. 3). 147 Vgl. Wachsmann, Gefangen unter Hitler, S. 9.
Endphaseverbrechen
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werden.148 So lassen die Straftatbestände nur ungenaue Rückschlüsse über die tatsächlichen Einweisungsgründe und -umstände zu. Ein Blick in die Gefangenenakten kann dabei jedoch Aufschluss darüber geben, inwiefern schwere Straftaten vorlagen, kleine Delikte zu Kapitalverbrechen erklärt oder politischer Widerstand und abweichendes Verhalten kriminalisiert wurden.
4. Endphaseverbrechen Die Kriegsendphase im Emsland fängt das Phänomen der »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen«149 beispielhaft ein: Während die 21st Army Group150 immer weiter vorrückte, wurden seit Ende März die KZ-Außenlager, die Strafgefangenenlager und einige der Kriegsgefangenenlager151 geräumt und die Gefangenen auf Märsche geschickt.152 Am 7. April 1945 wurde Lingen und das südliche Emsland eingenommen. Zeitgleich kämpften im nördlichen Emsland weiterhin Wehrmachtseinheiten und Volkssturm.153 Als am 12. April 1945 Angehörige des 2. Polnischen Panzerregiments im Oflag Oberlangen überraschend eintrafen und 1 736 weibliche Mitglieder der polnischen Heimatarmee sowie über 40 Kinder und Jugendliche befreiten,154 begannen unter dem Kommando eines selbsternannten Hauptmanns der Luftwaffe im Lager Aschendorfermoor die Massenerschießungen von Gefangenen, die bis zum 19. April 1945 andauern sollten.155
148 Vgl. Kosthorst/Walter, Konzentrations- und Strafgefangenenlager im Dritten Reich, Band 1, S. 1869. 149 Zum Begriffspaar vgl. Ernst Bloch, Erbschaft dieser Zeit, Frankfurt a. M. 1992, S. 15–20, 111–126. 150 Die 21. Army Group besetzte Anfang April unter dem Kommando von General Bernard L. Montgomery Nordwestdeutschland. Der alliierte Verband bestand aus der 9. US-Armee, der 2. Britischen Armee und der 1. Kanadischen Armee. Vgl. Klaus Fesche, Kriegsende und Neubeginn in Niedersachsen. In: Annette von Boetticher/Klaus Fesche/Rolf Kohlstedt/Christiane Schröder (Hg.), Niedersachsen zwischen Kriegsende und Landesgründung, Hannover 2005, S. 9–28, hier 9; Lembeck, Befreit, S. 24. 151 In Teilen geräumt wurden seit Ende März 1945 die Kriegsgefangenenlager Alexisdorf, Bathorn und Wietmarschen. Dabei wurden die Gefangenen unter Aufsicht von Wehrmachtsoldaten sowohl Richtung Süden als auch Richtung Norden transportiert. Vgl. Stadt Schüttorf, Landkreis Grafschaft Bentheim, an HQ British Zone Division, ITS, 922 I.R.O. Independent Team Göttingen, Betr.: Meldung der Transporte, die den Bezirk während der Kriegszeit berührt haben vom 17.4.1946 (ITS Digital Archive, Bad Arolsen, 2.2.0.1/82394655, Bl. 507). 152 Vgl. War Diary 812 Det. Mil. Gov., 1. bis 30. April 1945, Eintrag vom 25.4.1945 (TNA, WO 171/8077, unpag.). 153 Paul Meyer, Die Radikalisierung am Ende des Krieges. In: Faulenbach/Kaltofen (Hg.), Hölle im Moor, S. 237 f., hier 237. 154 Vgl. Lembeck, Befreit, S. 27. 155 Zum Verbrechenskomplex der Todesmärsche vgl. u. a.: Martin C. Winter, Gewalt und Erinnerung im ländlichen Raum. Die deutsche Bevölkerung und die Todesmärsche, Berlin 2018;
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Die Emslandlager (1933–1945)
Die erste Räumung, angeordnet am 24. März 1945 vom Befehlshaber der Ordnungspolizei Hamburg, betraf die KZ-Außenlager im Emsland.156 Im Zuge dieser Anordnung wurden ca. 1 600 KZ-Häftlinge der Außenlager Versen und Dalum am 25. März 1945 Richtung Westen auf einen Marsch geschickt, der am 1. April in Cloppenburg vorerst endete. Auf diesem Weg waren viele an Entkräftung, gezieltem Mord der Wachmannschaften sowie durch Tieffliegerangriffe ums Leben gekommen. Von Cloppenburg wurden die Häftlinge zunächst in das Außenlager Bremen-Farge getrieben und von dort ins KZ Neuengamme, wo sie auf weitere Todesmärsche geschickt wurden.157 Die ersten Planungen zur Räumung der Strafgefangenenlager im Emsland reichten ins Frühjahr 1944 zurück. Bereits im Mai 1944 hatte in Hamburg unter dem Vorsitz des Höheren SS- und Polizeiführers, Graf von Bassewitz-Behr, eine Versammlung der Generalstaatsanwälte von Celle, Oldenburg, Hamburg, Naumburg158 und Kiel stattgefunden, auf der debattiert wurde, wie mit den Haftstätten bzw. zivilen und militärischen Strafgefangenen umzugehen sei.159 Es wurde beschlossen, dass in diesem Fall alle »politisch unzuverlässigen« Gefangenen nach Celle »evakuiert« werden sollten.160 Darunter wurden politische Gegner und »Gemeinschaftsfremde« verstanden.161 Auf Basis dieses Beschlusses ordnete der Kommandant der Strafgefangenenlager, Generalstaatsanwalt Thiel, Ende März 1945 an, dass die Lagervorsteher der Strafgefangenenlager im Emsland alle »politisch unzuverlässigen« Insassen selektieren und ihm eine Liste mit den entsprechenden Namen zukommen lassen sollten.162 Diese 400 Gefangenen wurden Ende März 1945 in das Lager VII Esterwegen gebracht.163 Von hier wurde Hördler, Ordnung und Inferno; Sven Keller, Volksgemeinschaft am Ende. Gesellschaft und Gewalt 1944/45, München 2013; Martin C. Winter/Katrin Greiser, Untersuchungen zu den Todesmärschen seit 1945. In: Jean-Luc Blondel/Susanne Urban/Sebastian Schönemann (Hg.), Freilegungen: Auf den Spuren der Todesmärsche, Göttingen 2012, S. 73–84; Daniel Blatman, The Death Marches. The final Phase of Genocide, Cambridge 2011; Gabriele Hammermann, Die Todesmärsche aus den Konzentrationslagern. In: Cord Arendes/Edgar Wolfrum/Jörg Zedler (Hg.), Terror nach Innen. Verbrechen am Ende des Zweiten Weltkrieges, Göttingen 2006, S. 122–148. 156 Vgl. Lembeck, Befreit, S. 23. 157 Vgl. ebd. 158 Im britischen Ermittlungsbericht ist Naumburg mit einem Fragezeichen versehen: Section S, Annexe, The March to Werlte, The Emsland Case (Report), o. D. (1946), S. 109 (TNA, WO 208/4297). 159 An dieser Besprechung nahm auch Richard Thiel als Präsident des Strafvollzugsamtes teil. Vgl. ebd. 160 Ebd. 161 Vgl. Wachsmann, Gefangen unter Hitler, S. 372. 162 Section S, Annexe, The March to Werlte, The Emsland Case (Report), o. D. (1946), S. 109 (TNA, WO 208/4297). 163 Vgl. Section J, Dissolution of the Camps, The Emsland Case (Report), o. D. (1946), S. 17 (TNA, WO 208/4297).
Endphaseverbrechen
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am 25. März 1945 eine Kolonne zum Gefängnis in Celle losgeschickt, ohne dass die Männer zuvor medizinisch untersucht oder mit nennenswerter Verpflegung ausgestattet worden wären.164 In den frühen Morgenstunden des 26. März 1945 erreichte der Marsch das 30 Kilometer entfernte Werlte. Laut britischem Ermittlungsbericht waren auf diesem Weg bereits vier bis zehn Gefangene zusammengebrochen. Drei Gefangene wurden dabei erschossen, weil sie nicht mehr marschfähig waren. In Werlte wurde die gesamte Marschkolonne in einer Turnhalle untergebracht, die räumlich so begrenzt war, dass mindestens drei Menschen zu Tode getrampelt wurden. Nachdem Thiel über die chaotischen Zustände informiert worden war, ordnete er die Rückkehr der Kolonne ins Lager VII Esterwegen an – das eigentliche Ziel, das Celler Gefängnis, wurde also nicht erreicht.165 Das südliche Emsland wurde am 7. April 1945 mit der Einnahme der Stadt Lingen durch eine britische Einheit besetzt. Parallel rückten kanadische Truppen, die von einer polnischen Panzereinheit unterstützt wurden, von den Niederlanden aus in das mittlere und nördliche Emsland vor.166 Angesichts dieses Vorstoßes wurde ein zweiter Marsch aus dem Strafgefangenenlager Börgermoor am 9. April 1945 Richtung Leer über Collinghorst losgeschickt. Dieser setzte sich aus militärischen Untersuchungsgefangenen sowie den zuvor selektierten Strafgefangenen der Lager Börgermoor und Esterwegen zusammen. Die ca. 500 militärischen Untersuchungsgefangenen, die auf ihre Verurteilung warteten, waren seit Januar 1945 im Lager Börgermoor untergebracht und unterstanden dem Befehl des Wehrmachthauptmanns Hoeft. Die Befehlsgewalt über das Lager I Börgermoor hatte dabei weiterhin die Papenburger Justizzentralverwaltung. In diesem bereits überbelegten Strafgefangenenlager traf am 7. und 8. April 1945 eine Häftlingskolonne aus dem geräumten Lager Esterwegen ein. Damit erreichte das Lager Börgermoor eine Belegungsstärke von 1 800 bis 2 000 Mann, wobei 1 400 bis 1 500 unter dem Kommando der Zentralverwaltung Papenburg und die restlichen ca. 400 bis 500 Wehrmachtsoldaten unter dem Kommando des Militärs standen.167 Die Überbelegung und die daraus resultierende Lebensmittelknappheit sowie fehlende medizinische Versorgung dürfte unter den Gefangenen erhebliche Spannungen erzeugt haben. Aber auch das Wachpersonal wurde in Anbetracht der näher rückenden alliierten Truppen immer nervöser.168 Am 8. April kam es daher zu einer Besprechung zwischen dem Lagervorsteher Müller und Hauptmann 164 Vgl. ebd. 165 Vgl. Section S, Annexe, The March to Werlte, The Emsland Case (Report), o. D. (1946), S. 109 (TNA, WO 208/4297). 166 Vgl. War Diary 812 Det. Mil. Gov., 1. bis 30. April 1945, Eintrag vom 25.4.1945 (TNA, WO 171/8077). 167 Vgl. Section N, Annexe, The March to Collinghorst, The Emsland Case (Report), o. D. (1946), S. 60 (TNA, WO 208/4297). 168 Vgl. Wachsmann, Gefangen unter Hitler, S. 376 f.
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Die Emslandlager (1933–1945)
Hoeft. Letzterer hatte von höherer Dienststelle den Auftrag erteilt bekommen, die 500 militärischen Untersuchungsgefangenen in Kasernen der Marine in Leer zu bringen. Lagervorsteher Müller wollte sich diesem Marsch anschließen – für eine ausreichende Versorgung und Verpflegung der unter seinem Kommando stehenden 1 500 Strafgefangenen sorgte er im Voraus jedoch nicht. Im britischen Ermittlungsbericht wird diese vorsätzliche Fahrlässigkeit mit den Worten kommentiert: »In fact he completely abandoned his entire responsibility for his prisoners, not concerning himself in the least with their fate, either then or afterwards.«169 Am 9. April 1945 zwischen 5 und 6 Uhr wurden die fast 2 000 bereits völlig entkräfteten Menschen ohne Verpflegung auf den über 30 Kilometer weiten Marsch nach Leer getrieben. Aufgrund aufkommenden Nebels und der ungeordneten Verhältnisse war es einigen Strafgefangenen bereits kurz nach Aufbruch gelungen, aus den Kolonnen zu fliehen. Einer der Entflohenen wurde dabei von zwei Justizbeamten, die die Kolonne bewachten, erschossen. Weitere Gefangene, die sich aus den Kolonnenreihen entfernten, um bei der Zivilbevölkerung nach Essen zu betteln, wurden von den Angehörigen der Wachmannschaften misshandelt oder unmittelbar erschossen.170 Einige der Wachleute gaben später vor dem britischen Militärgericht an, die Gefangenen hätten die Zivilbevölkerung bestohlen und seien gewalttätig geworden, der Gebrauch von Waffen habe also zum Schutz gedient. Die Wachleute beriefen sich demnach selbst angesichts des Kriegsendes auf geltende Normen, die den rücksichtslosen Gebrauch von Waffen rechtfertigten.171 Der Marsch endete am Nachmittag des 9. April vorerst in Collinghorst. Hoeft konnte hier die Militärgefangenen auf einen Transport nach Leer schicken und ließ die restlichen Strafgefangenen unter dem Befehl von Müller zurück.172 Nachdem Hoeft und die ca. 500 Männer Collinghorst verlassen hatten, trat auch Müller mit der Marinedienststelle in Kontakt, um in der Kaserne mit den verbliebenen Strafgefangenen aufgenommen zu werden, wurde jedoch abgewiesen. Daraufhin telefonierte er mit der Zentralverwaltung in Papenburg und erhielt den Befehl, den Marsch Richtung Süden ins Lager II Aschendorfermoor umzuleiten. Am Abend des 10. April 1945 traf die Kolonne schließlich in Aschendorfermoor ein.
169 Section N, Annexe, The March to Collinghorst, The Emsland Case (Report), o. D. (1946), S. 60 (TNA, WO 208/4297). 170 An den Verbrechen, Misshandlungen und Erschießungen beteiligten sich: Platzmeister im Lager VII, Hagewald, und Platzmeister im Lager I, Fuellgrabe, Sanitätsoberwachmeister des Lagers I, Rossmeyer, Hilfsplatzmeister des Lagers VII, Hartwich, Halbzugführer Buss und Widhalm des Lagers I und die Wachmänner Johann Wessels, Krüger und Veenhuis. Vgl. Section N, Annexe, The March to Collinghorst, The Emsland Case (Report), o. D. (1946), S. 60 f. (TNA, WO 208/4297). 171 Vgl. Keller, Volksgemeinschaft am Ende, S. 4–9. 172 Vgl. Section N, Annexe, The March to Collinghorst, The Emsland Case (Report), o. D. (1946), S. 60 (TNA, WO 208/4297).
Endphaseverbrechen
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Bis dahin waren innerhalb von nur 36 Stunden 23 Menschen auf dem Marsch an Erschöpfung gestorben oder ermordet worden. Ca. 150 bis 200 Gefangenen war während des chaotischen Marsches die Flucht gelungen.173 Das Endphaseverbrechen im Lager II Aschendorfermoor und Umgebung, das Mitte April 1945 stattfand, steht im Zusammenhang mit den Räumungen, denn das Lager Aschendorfermoor war infolge des gescheiterten Marsches nach Leer um das Vierfache überbelegt.174 Darüber hinaus waren viele der auf dem Marsch nach Collinghorst Entflohenen kurz nach ihrer Flucht von der örtlichen Polizei und dem Volkssturm aufgegriffen und in die Arrestzelle des Lagers II gesperrt worden. In dieser Situation traf Willi Herold ein, ein versprengter Soldat, der eine Uniform eines desertierten Offiziers der Luftwaffe gefunden hatte und sich nun als Hauptmann ausgab. Drei bis fünf weitere versprengte Soldaten hatte er bei seinem orientierungslosen Weg durch das Emsland um sich geschart.175 Diese »Truppe« gelangte am 10. oder 11. April zum Haus des Ortsgruppenleiters von Surwold, Jan Budde. Budde lud den selbstbewusst auftretenden Herold und seine Männer bei sich zu Hause zum Essen und Trinken ein und erzählte hierbei von der chaotischen Räumung der Strafgefangenenlager. Herold, bereits stark angetrunken, wollte daraufhin zum Lager II Aschendorfermoor gebracht werden, um sich vor Ort von den Zuständen zu überzeugen. Hier angekommen, setzte sich Herold mit Karl Schütte, dem Einheitsführer des Lagers II, zusammen und es fiel, unterstützt vom NSDAP-Kreisleiter Gerhard Buscher, die Entscheidung, ein Standgericht einzurichten. Die Gefangenen, die auf ihrer Flucht wieder aufgegriffen worden waren, sollten dabei erschossen werden.176 Zwischen dem 12. und 19. April 1945 fanden im Lager II Massenerschießungen statt, bei denen um die 172 Menschen, mehrheitlich Deutsche, aber auch Tschechen, Polen und Niederländer, durch eine auf sie postierte Flugabwehrkanone (Flak), durch Handgranaten oder Pistolenschüsse ermordet wurden. Weitere 23 Gefangene wurden bei alliierten Bombardierungen am 19. April 1945, die einer Wehrmachtseinheit in der Nähe des Lagers galten, getötet, da man sie im Lager eingeschlossen hatte und sie somit keinen Schutz vor den Luftangriffen suchen konnten.177 Erst mit diesem Be-
173 Vgl. Section N, Annexe, The March to Collinghorst, The Emsland Case (Report), o. D. (1946), S. 62 (TNA, WO 208/4297). 174 Es handelte sich bei den Lagern um folgende: Brual-Rhede (III), Walchum (IV), Neusustrum (V), Esterwegen (VII) und Börgermoor (I): The Emsland Case (Report), o. D. (1946), S. 17 (TNA, WO 208/4297). 175 Vgl. Kosthorst/Walter, Konzentrations- und Strafgefangenenlager im Dritten Reich, Band 1, S. 483. 176 Second Statement by Gerhard Buscher, The Herold Case report by TXH Pantcheff vom 16.5.1946 (TNA, WO 309/2045, unpag.). 177 Vgl. T. X. H. Pantcheff, The Herold-Case report Chapter VI vom 9.5.1946, S. 14 f. (TNA, WO 208/5013).
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Die Emslandlager (1933–1945)
schuss des Lagers durch alliierte Truppen endeten die brutalen und tödlichen Ausschreitungen. Nach dem Bombenangriff, der das Lager in Flammen gesetzt hatte, bildete der Lagervorsteher aus den ca. 1 000 Überlebenden eine Marschgruppe, die er nach Papenburg führte und die am 21. April befreit wurde.178 Wurden die eingangs erwähnten polnischen Truppen, die die polnischen Frauen und Kinder im Oflag Oberlangen befreiten, euphorisch begrüßt,179 war wenige Tage später für die Soldaten desselben Regiments die Entdeckung des von alliierten Bombenangriffen völlig zerstörten Lagers Aschendorfermoor ein Schock. Überall verstreut lagen verkohlte Leichen, bald entdeckten die polnischen Truppenmitglieder die verscharrten Opfer der Massenerschießung. Sie fotografierten und bestatteten sie in einem der Erschießungsgräben.180 Fast zeitgleich wurden Herold und seine Männer von einer deutschen Marineeinheit festgenommen, nachdem sie zwischen Mitte und Ende April weitere Morde auf ihrem Weg vom nördlichen Emsland nach Ostfriesland begangen hatten. Die Anklage wurde jedoch fallengelassen, und Herold konnte in Wilhelmshaven untertauchen. Erst am 23. Mai 1945 wurde er von der britischen Marine festgenommen.181 Die Verbrechen im Emsland, sowohl die Erschießungen und Misshandlungen während der Räumungen als auch die Massenerschießungen, weisen Parallelen mit anderen Endphaseverbrechen auf, die im Zusammenhang mit der Auflösung von Zwangslagern und Gefängnissen erfolgten. Die Ausschreitungen und Ermordungen der Gefangenen folgten dabei dem Prinzip der »radikalst-präventiven Gefahrenabwehr«, wie es Sven Keller nennt.182 Bei den Verbrechen in der Kriegsendphase – die Räumungen der Lager, die Märsche sowie das Massaker im Lager II – spitzte sich die Aggression von Wachmannschaften, Parteiangehörigen, aber auch der Lokalbevölkerung angesichts des bevorstehenden Endes des »Drittens Reiches« zu und richtete sich mit aller Gewalt gegen die schutzlosen KZ-Häftlinge, Gefangenen und Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter.183 Der Ausnahmezustand des Kriegsendes gab lokalen Funktionsträgern dabei eine nicht gekannte Entscheidungsautonomie und es konnte ein letztes Mal und in vollem Umfang gegenüber den Verfolgten Macht demonstriert werden.184
178 Vgl. ebd., S. 19 f. 179 Vgl. Fotografien vom befreiten Lager Oberlangen, Instytut Polski i Muzeum im. gen. Sikors kiego/The Polish Institute and Sikorski Museum London, N IX 3994-4021 Oberlangen. 180 Vgl. Fotografien des zerstörten Lagers II Aschendorfermoor, Instytut Polski i Muzeum im. gen. Sikorskiego/The Polish Institute and Sikorski Museum London, N IX 4300-4303 Aschendorf. 181 Vgl. T. X. H. Pantcheff, The Herold-Case report Chapter X vom 9.5.1946, S. 27 (TNA, WO 208/50). 182 Keller, Volksgemeinschaft am Ende, S. 217. 183 Vgl. ebd., S. 434. 184 Vgl. ebd., S. 261.
III.
Mahnung und Distanzierung: die frühe Kultur des Erinnerns (1945–1950)
Im Mai 1945 waren die Folgen der deutschen Vernichtungs- und Ausbeutungspolitik überall in Deutschland und Europa sichtbar: Die geöffneten Lagertore offenbarten das Ausmaß der Massenverbrechen, europaweit kriegszerstörte Städte, eine zusammengebrochene Infrastruktur, Millionen Displaced Persons (DPs) und eine Massenfluchtbewegung von Osten nach Westen.1 Wie in Jalta und Potsdam beschlossen, nahmen sich die Alliierten der zukünftigen politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Neuordnung Deutschlands an,2 und den daraus resultierenden »Pflichten postdiktatorischer Gesellschaften«, die bedeuten, »sich um die Opfer zu kümmern, die Täter zu bestrafen und die Geschichte des Unrechts aufzuarbeiten. Es geht um legislative, exekutive und justizielle Maßnahmen, aber auch um Erinnerung und Gedenken«, wie Edgar Wolfrum formuliert.3 Diesen erinnerungskulturellen Handlungsfeldern widmet sich vorliegendes Kapitel und greift die These von Jan Assmann auf, wonach der gewaltsame Tod und seine kollektive Verarbeitung Kern und Ursprung einer jeden Erinnerungskultur ist. Im Mittelpunkt steht daher die Frage, wie eine frühe Erinnerungskultur mit Bezug auf die Emslandlager ihren Anfang nahm, welche Bedeutung die jeweiligen Akteure den Lagern zuschrieben, von welchen (nationalen) Diskursen und Konflikten sie begleitet wurde und welche Formen sie genau aufwies. Zeitlich wird eine erinnerungskulturelle Phase beleuchtet, die Franz Maciejewski
1 2
3
Vgl. Tony Judt, Postwar. A History of Europe since 1945, London 2007, S. 13–40. Vgl. einführend Wolfgang Benz (Hg.), Deutschland unter alliierter Besatzung 1945–1949/55. Ein Handbuch, Berlin 1999; Gunther Mai, Der Alliierte Kontrollrat in Deutschland 1945–1948. Alliierte Einheit – deutsche Teilung?, München 1995; Josef Foschepoth, Britische Deutschlandpolitik zwischen Jalta und Potsdam. In: VfZ, 30 (1982) 4, S. 675–714. Edgar Wolfrum, Erinnerungskultur und Geschichtspolitik als Forschungsfelder. In: Jan Scheune mann (Hg.), Reformation und Bauernkrieg. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik im geteilten Deutschland, Leipzig 2010, S. 13–47, hier 28.
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Mahnung und Distanzierung
als »rituelles Interregnum«4 auffasst. Denn bis zur »Etablierung neuer bzw. der Rehabilitation älterer Formen der Sinnstiftung«5 am Übergang zur Bundesrepublik wurde eine von den Alliierten getragene Erinnerungskultur öffentlich wirksam, die die NS-Verfolgten in den Mittelpunkt rückte. Zugleich fehlte der deutschen Mehrheitsbevölkerung jedoch ein Bezugssystem, um ihrer Trauer um die eigenen Verluste öffentlich Ausdruck zu verleihen, und es zeigen sich bereits in dieser frühen Phase Abwehrstrategien, die für die Nachkriegszeit kennzeichnend werden sollten. Dieses Spannungsverhältnis greift vorliegendes Kapitel in seiner Struktur auf. Kapitel III.1 rückt die Alliierten in den Mittelpunkt. Es geht frühen Ausdrucksformen alliierter Erinnerungskulturen nach: den Richtlinien zum Totengedenken im besetzten Deutschland, der Errichtung sowjetischer Ehrenfriedhöfe im Emsland, den strafrechtlichen Ermittlungen sowie Berichterstattungen über frühe Prozesse sowie der Anordnung zu Sühnebegräbnissen im Rahmen der Reeducation. Die Quellenbasis bilden insbesondere Bestände des Foreign Office (FO) und des War Office (WO), die Sammlungen (FO 1049) und (FO 1050) »Allied War Graves« und »Resuscitation of German Organisations to deal with war graves« zur Neuordnung der Gräberfürsorge in Deutschland. In ihnen sind die teils regen Diskussionen um ein »richtiges« Erinnern zwischen den Alliierten überliefert, die bereits früh vom Systemkonflikt überschattet waren, die aber auch wiederum die unterschiedlichen Sichtweisen aufseiten der Westalliierten aufzeigen.6 Kapitel III.2 fängt die lokalen und regionalen Perspektiven ein. Wie ging man im Emsland in einer Zeit der Neuordnung mit dem Erbe der Emslandlager um, mit den Lagern, die sich in direkter Nachbarschaft befanden, die Arbeitgeber gewesen waren und mit denen Gemeinden und Behörden aufs engste verflochten waren? Diese Fragen werden beleuchtet anhand von Artikeln aus regionalen Zeitungen, Akten der regionalen Verwaltung und Schreiben aus Gemeinden, die Innenansichten liefern und die im Zusammenhang mit der Suche der Alliierten nach dem Verbleib von Ausländern und deutschen Verfolgten entstanden sind.7 4 5 6
7
Franz Maciejewski, Trauer ohne Riten – Riten ohne Trauer. Deutsche Volkstrauer nach 1945. In: Jan Assmann/ders./Axel Michaels (Hg.), Der Abschied von den Toten. Trauerrituale im Kulturvergleich, Göttingen 2005, S. 245–266, hier 252. Alexandra Kaiser, Von Helden und Opfern. Eine Geschichte des Volkstrauertages, Frankfurt a. M. 2010, S. 212. Darüber hinaus bilden Ermittlungsergebnisse sowie Zeugenaussagen, die im Zusammenhang stehen mit der Ahndung der in den Emslandlagern verübten Verbrechen, aus den Sammlungen des Militärgeheimdienstes (WO 208) und des Judge Advocate General’s Office (WO 309) eine wichtige Quellengrundlage. Sie stammen aus Teilbeständen der Arolsen Archives: 2.1 »Durchführung der Alliiertenbefehle zur Erfassung von Ausländern und deutschen Verfolgten sowie verwandte Dokumente« sowie 2.2 »Dokumente über Registrierungen von Ausländern und den Einsatz von Zwangsarbeitern, 1939–1945«.
73
Alliierte
1.
Alliierte: »So the memory of the infamy […] does not fade«
Als die Alliierten in den deutschen Zwangslagern eintrafen, waren sie mit Verbrechen nie gekannten Ausmaßes konfrontiert – eine neuartige Erfahrung ohne ein Bezugssystem zur Verarbeitung:8 »the things I saw beggar description«, wie General Dwight D. Eisenhower nach seiner Besichtigung des Lagers Ohrdruf schrieb.9 Maciejewski hat diese Situation in Anlehnung an den Ritualtheoretiker Victor Turner als Schwellenzustand beschrieben.10 Ein Zustand, der bei Außeralltäglichem und Unbekanntem eintritt, bei einer herausgehobenen Krisensituation, die soziale Normen hinterfragt und in der Handlungs- und Kommunikationsroutinen fehlen, sodass auf Symbole und Rituale zurückgegriffen wird.11 Diese schaffen »dem argumentativ nicht mitteilbaren, dem diskursiv nicht Ausdrückbaren eine eigene Sprache« und bieten Verhaltenssicherheit in der Krise.12 Diese symbol- und ritualtheoretische Sicht erlaubt eine Einordnung der Reaktionen und Strategien der Alliierten, mit denen sie versuchten, sich den NS-Verbrechen zu nähern, sie zu bewältigen, mit ihnen also umzugehen.13 Zu solchen Ritualen zählen die in der amerikanischen und britischen Zone praktizierten forced confrontations.14 Nach der Befreiung wurden Anwohnerinnen und Anwohner zu Besichtigungen ehemaliger Zwangslager verpflichtet, Lagerpersonal, nationalsozialistische Funktionsträger oder Personen aus der Lokalbevölkerung mussten auf Anordnung hin die sterblichen Überreste von bislang nur notdürftig verscharrten Leichen exhumieren und bestatten.15 In diesen angeordneten Ortsbegehungen 8
Vgl. Reinhart Koselleck, Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt a. M. 2006, S. 36; Detlev Claussen, Grenzen der Aufklärung. Zur gesellschaftlichen Geschichte des modernen Antisemitismus, Frankfurt a. M. 1987, S. 148. 9 Zit. nach Marcuse, Legacies of Dachau, S. 56. 10 Vgl. Maciejewksi, Trauer ohne Riten. Skriebeleit orientiert sich im Hinblick auf die Untersuchung des Krisenzustands nach der Befreiung des KZ Flossenbürg ebenfalls am Modell der Liminalität von Victor Turner. Vgl. Skriebeleit, Erinnerungsort Flossenbürg, S. 50–52. 11 Vgl. Turner, Das Ritual, S. 94–104; Peter J. Bräunlein, Zur Aktualität von Victor Turner: Einleitung in sein Werk, Wiesbaden 2012, S. 50–53. 12 Soeffner, Symbolische Formung, S. 37 f. 13 Zu den Übergangsriten, die einen Schwellenzustand zum Ausdruck bringen, vgl. Turner, Das Ritual, S. 94–104. 14 Vgl. Skriebeleit, Erinnerungsort Flossenbürg, S. 52; Christopher E. Mauriello, Forced confrontation: the politics of dead bodies in Germany at the end of World War II, Lanham 2017; Habbo Knoch, Die Tat als Bild. Fotografien des Holocaust in der deutschen Erinnerungskultur, Hamburg 2001, S. 132–156; Dagmar Barnouw, Ansichten von Deutschland (1945). Krieg und Gewalt in der zeitgenössischen Photographie, Basel 1997. Zu den alliierten Aufklärungsfilmen vgl. Ulrike Weckel, Beschämende Bilder. Deutsche Reaktionen auf alliierte Dokumentarfilme über befreite Konzentrationslager, Stuttgart 2012. 15 Auch die alliierten Aufklärungsfilme, die die Bilder befreiter Lager einer breiten deutschen Öffentlichkeit zeigten und Teil des Demokratisierungsprogramms der westdeutschen Gesellschaft waren, gehören zu den erzwungenen Konfrontationen. Vgl. Ulrich Schnakenberg,
74
Mahnung und Distanzierung
und Bestattungsarbeiten erkennt Skriebeleit die Herausbildung eines Symbolbestandes aus einer »Melange kriminalistischer, pädagogischer, museologischer und religiös-ritueller Motive«,16 der, so ist mit Maciejewski zu ergänzen, kennzeichnend für die westalliierten Erinnerungskulturen im Sinne eines »negativen Gedächtnisses« ist.17 Im Mittelpunkt des »negativen Gedächtnisses« stand die Auseinandersetzung mit der deutschen Schuld und Verantwortung, die mit Blickrichtung auf die deutsche Mehrheitsbevölkerung eine Einsicht und einen langfristigen Wertewandel bewirken sollte. 1.1
Erste Richtlinien zum Totengedenken
Als britische Soldaten am 15. April 1945 im Konzentrationslager Bergen-Belsen eintrafen, befreiten sie rund 60 000 Menschen und entdeckten unzählige Tote.18 Deren würdige Bestattung in Einzelgräbern war aufgrund der akuten Seuchengefahr nicht mehr möglich und tausende Leichen konnten nur noch mit Bulldozern in Gruben geschoben werden. Aufnahmen, die massenmedial verbreitet wurden und sich tief in das kollektive Bildgedächtnis einbrannten.19 Auf den entstandenen Massengräbern in Bergen-Belsen hatten zunächst nur Überlebende provisorische Denkmäler errichtet, eine einheitliche Gestaltung, die Ausstattung mit Grabzeichen und namentlichen Kennzeichnungen, aber auch eine Bestimmung zum zukünftigen Umgang mit diesen Gräbern standen aus.20 Hier knüpft vorlieDemocracy-building. Britische Einwirkungen auf die Entstehung der Verfassungen Nordwestdeutschlands 1945–1952, Hannover 2007, S. 46. 16 Skriebeleit, Erinnerungsort Flossenbürg, S. 51. 17 Vgl. Maciejewski, Trauer ohne Riten, S. 257–261. 18 Der britische Offizier Derrick Sington, der als einer der Ersten im Lager eintraf, notierte später: »Ich hatte früher versucht, mir ein Bild vom Innern eines Konzentrationslagers zu machen, aber so hatte ich es mir nicht vorgestellt.« Derrick Sington, Die Tore öffnen sich. Authentischer Bericht über das englische Hilfswerk für Belsen mit amtlichen Photos und einem Rückblick von Rudolf Küstermeier, Münster 1995, S. 17. Im Original: Belsen uncovered, London 1946 [Erst erscheinung]. 19 Vgl. Habbo Knoch, Die Rückkehr der Zeugen. Gedenkstätten als Gedächtnisorte der Bundesrepublik. In: Paul Gerhard/Bernhard Schoßig (Hg.), Öffentliche Erinnerung und Medialisierung des Nationalsozialismus. Eine Bilanz der letzten dreißig Jahre, Göttingen 2010, S. 116–137, hier 116 f.; Knoch, Die Tat als Bild, S. 132–156; Weckel, Beschämende Bilder, S. 48 f.; Cornelia Brink, Der Soldat auf dem Bagger und die Toten. Bergen-Belsen, April 1945. In: Gerhard Paul (Hg.), Das Jahrhundert der Bilder, Band 1, Göttingen 2009, S. 698–705. 20 Vgl. Stiftung niedersächsische Gedenkstätten (Hg.), Bergen-Belsen. Geschichte der Gedenkstätte, Celle 2012, S. 32; Rainer Schulze, Ein Blick über die Grenze. Erinnerung an »Soldaten und andere Opfer« sowie die Rezeption deutscher Gedenkstätten in Großbritannien – Ein Diskussionsbeitrag. In: Ellen Ueberschär (Hg.), Soldaten und andere Opfer? Die Täter-Opfer-Problematik in der deutschen Erinnerungskultur und das Gedenken an die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft, Rehburg-Loccum 2007, S. 161–174, hier 165. Vgl. zur Rezeptionsgeschichte von Bergen-Belsen Suzanne Bardgett/David Cesarani (Hg.), Belsen 1945. New Historical Per-
Alliierte
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gendes Unterkapitel an und geht der Entstehung der alliierten Bestimmungen nach, die ebenfalls das Totengedenken im Emsland maßgeblich prägen sollten.21 Dabei ist zu zeigen, dass die frühen Richtlinien zur Erhaltung der Gräber von NS-Verfolgten den Grundstein für die westdeutschen »Gedenkstätten«22 legten, im Sinne von Orten der Totenruhe, der individuellen Trauer, aber auch der kollektiven Mahnung, denn den Gräbern von NS-Verfolgten wurde ein »Denkmalsoder Gedenkwert« eingeschrieben, ihre Erhaltung diente der Mahnung an die Gegenwart und Zukunft.23 »It is desired to call the attention of the Control Commission to the question of the future responsibility for the former Belsen concentration camps [...] As far as no British men and women were thus buried the matter is therefore not one for which the Military Grave Service has any responsibility. [...] On the other hand at present the significance of these mounds is in danger of being overlooked in that they appear merely as undulations in the desolate scene of the former camp. It is accordingly suggested for consideration that these mounds should be fenced in and a suitable memorial erected both as a tombstone to the 13,000 unknown dead who lie there and also as a reminder for all time of the infamy of which the German is capable.«24
Das Zitat stammt aus einem Schreiben vom 30. September 1945 an die Control Commission (British Element). Zeitlich steht es im Zusammenhang mit dem seit dem 17. September 1945 stattfindenden Lüneburger Bergen-Belsen Prozess, bei dem die Presse über die bislang kaum ausgestalteten Massengräber von Bergen-Belsen kritisch berichtet hatte. Kurze Zeit nach Eingang des Schreibens, am 10. Oktober, wurde die Provinzial-Militärregierung in Hannover angewiesen, die Gräber von Bergen-Belsen dauerhaft zu erhalten, das Gelände zu umzäunen, gartenarchitektonisch auszugestalten und ein »angemessenes« Denkmal zu errichten: »so the memory of the infamy of the concentration camps does not fade«,
21
22
23 24
spectives, London 2006; Jo Reilly/David Cesarani/Tony Kushner/Colin Richmond (Hg.), Belsen in History and Memory, London/Portland 1997. Vgl. Martina Staats, Bergen-Belsen in der Erinnerungskultur der frühen Bundesrepublik Deutschland. Ein nationaler Erinnerungsort? In: Janine Doerry/Alexandra Klei/Elisabeth Thalhofer/Karsten Wilke (Hg.), NS-Zwangslager in Westdeutschland, Frankreich und den Niederlanden. Geschichte und Erinnerung, Paderborn 2008, S. 179–192, hier 184 f. Zu den verschiedenen Bedeutungen des Begriffs »Gedenkstätte« im Sinne von symbolischen Orten einerseits und aktiv arbeitenden Lernorten andererseits vgl. Harald Schmid, Mehr als »renovierte Überbleibsel alter Schrecken«? Geschichte und Bedeutung der Gedenkstätten zur Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen. In: Katja Köhr/Hauke Petersen/Karl-Heinrich Pohl (Hg.), Gedenkstätten und Erinnerungskulturen in Schleswig-Holstein. Geschichte, Gegenwart und Zukunft, Berlin 2011, S. 25–53, hier 26 f. Habbo Knoch, Spurensuche: NS-Gedenkstätten als Orte der Zeitgeschichte. In: Frank Bösch/ Constantin Goschler (Hg.), Public History. Öffentliche Darstellungen des Nationalsozialismus jenseits der Geschichtswissenschaft, Frankfurt a. M. 2009, S. 190–218, hier 192. Brig. A (Co-ord) for Major-General, Chief of Staff, on COC (BE), Mass Graves at Belsen vom 30.9.1945 (TNA, FO 1032/829, unpag.).
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wie es in der Weisung heißt.25 Zugleich ging diese Weisung in Kopie an die Militärregierungen in Münster, Kiel, Düsseldorf, Hamburg und Berlin und galt somit in der gesamten Britischen Zone für die Gräber auf Geländen ehemaliger Konzentrationslager.26 Darüber hinaus wurde am 15. Februar 1946 festgesetzt, dass ebenso die Gräber von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern dauerhaft zu erhalten seien.27 Außerdem wurden die deutschen Gemeinden verpflichtet, die Grabpflege und -ausgestaltung zu finanzieren und für die dauerhafte Erhaltung der Gräber zu sorgen.28 So heißt es in einem Schreiben der Militärregierung in Hannover: »Alle deutschen Behörden sind dahingehend anzuweisen, dass es ihnen verantwortlich obliegt, die Gräber in befriedigender Weise zu pflegen, für ihre Unterhaltung zu zahlen und passende Grabmäler zu errichten.«29 Welche Form »passende Grabmäler« annehmen sollten, war jedoch im Herbst 1945 keineswegs klar, berührte diese Frage doch die Sinngebung des Massentodes und damit auch ganz entscheidend der nationalsozialistischen Verbrechen. Ebenso unklar waren die genauen Zuständigkeiten, weil ein zentraler Gräberdienst zur Koordinierung des Umgangs mit den Toten in Deutschland fehlte. Am 12. Oktober 1945 begann daher der Alliierte Kontrollrat als oberste Instanz über eine zonenübergreifende Direktive zum Umgang mit Massengräbern von Bürgerinnen und Bürgern der Vereinten Nationen zu diskutieren, die auch die Frage nach einem einheitlichen Denkmaltypus behandelte. Diese Debatte erstreckte sich über zwei Jahre, führte aber nur teilweise zu einer Einigung.30 Zu den ersten Ergebnissen des Treffens am 12. Oktober 1945 zählte, dass das »Directorate of prisoners of war and displaced persons« (PWDPD) als zuständige Unterabteilung des Kontrollrates ernannt wurde. Das Direktorat, das unter anderem die Rückführung der Kriegsgefangenen und DPs koordinierte, verwaltete die Suche nach Vermissten. In das Aufgabengebiet des Direktorats fielen
25 From Office of the Chief of Staff (British Zone), Control Commission for Germany (BE), No. 48, Main Headquarters Lubbecke B. A. O. R. to 229 ›P‹ Mil Gov Det Hannover vom 10.10.1945 (TNA, FO 1032/2308, unpag.). 26 Vgl. ebd. 27 Vgl. Office of the Deputy Military Governor, Control Commission for Germany (British Element) Lubbecke, B.A.O.R, an HQ Mil Gov Hannover Region, Westfalen, Schleswig-Holstein Region, North Rhine Region, Hansestadt Hamburg, Sites of Mass Graves – Memorials vom 15.2.1946 (TNA, FO 1032/829, unpag.); vgl. Staats, Bergen-Belsen in der Erinnerungskultur, S. 184 f. 28 Vgl. Central Secretariat, Zonal Executive Offices, Lubbecke, 60 HQ CCG/BAOR, Memorials and Sites of Mass Graves vom 18.10.1947 (TNA, FO 1035/235, unpag.). 29 Militärregierung in Hannover an Vorsitzenden des Gebietsrats Niedersachsen Hannover zum Umgang mit Massengräbern vom 21.2.1946 (NLA HA, 180 Log III, XXX Nr. 671, unpag.). 30 Vgl. Martina Staats, Alliierte als Gestalter von Friedhöfen für Opfer des Nationalsozialismus, 13.3.2013 (https://gedenkstaettenfoerderung.stiftung-ng.de/fileadmin/dateien/GFN/PDF_AK_ Friedhoefe_3._Workshop/Staats_-_Alliierte_als_Gestalter_-_Text.pdf; 15.5.2020).
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nun auch die Registrierung der Gräber von UN-Staatsangehörigen sowie die Aufsicht und Kontrolle über die Bestattung der Toten, die von deutschen Stellen auszuführen war.31 Mit der Ernennung des PWDPD beschränkte sich jedoch die Suche und nominelle Erfassung der Toten auf UN-Angehörige.32 Die Gräber von Deutschen, »Nicht-UN-Angehörigen« und Staatenlosen blieben zunächst unberücksichtigt.33 Mit der Beauftragung des PWDPD war die Frage nach einer einheitlichen, von den Alliierten vorgegebenen symbolischen Gestaltung der Gräber auch noch nicht geklärt. Deshalb wurde eine Vorlage unter dem Titel erarbeitet: »Welches Denkmal von den Deutschen errichtet werden sollte, um die Massengräber von Angehörigen der Vereinten Nationen entsprechend deren gemeinsamen Idealen zu markieren.«34 Laut der Vorlage sollten 200 einheitliche Denkmäler, uniform type of monuments, auf Kosten der Deutschen gestiftet werden.35 Für eine solche einheitliche und von den Alliierten vorgegebene Denkmalgestaltung setzte sich Frankreich ein, während Großbritannien und die USA darin die Gefahr gleichförmiger Siegerehrenmale sahen, die als Kollektivschuldanklage von den Deutschen interpretiert werden, und die daher möglicherweise Ziele deutscher Vergeltungsanschläge werden könnten.36 Da sich die Alliierten nicht einigen konnten, wurde die Idee eines einheitlichen, von den Alliierten vorgegebenen Denkmaltypus letztlich aufgegeben. Dahingegen wurde im Sommer 1947 beschlossen, dass es jedem Staat zukünftig freistehen sollte, Denkmäler auf den Gräbern der nationalen Opfergrup-
31
Vgl. From HQ I. A. & C Division, Main HQ, Control Commission for Germany (BE), B. A. O. R., to Office of the Chief of Staff (BE), Control Commission for Germany (BE), Main HQ, Lubbecke B. A. O. R., »German War Graves« vom 26.10.1945 (TNA, FO 1050/17, unpag.). 32 In der britischen Besatzungszone erging am 28. Januar 1946 die »Zone Policy Instruction No. 4«. Darin wurden alle deutschen Lokal- und Regionalverwaltungen angewiesen, sich an den Nachforschungen nach dem Verbleib von alliierten Militärangehörigen und zivilen UN-Staatsangehörigen zu beteiligen und Dokumentensammlungen zu erstellen, die u. a. Angaben zu den Grablagen enthielten. Vgl. Bernd Joachim Zimmer, International Tracing Service Arolsen. Von der Vermisstensuche zur Haftbescheinigung. Die Organisationsgeschichte eines »ungewollten Kindes« während der Besatzungszeit, Bad Arolsen 2011, S. 189. 33 Vgl. Zimmer, International Tracing Service, S. 162–165. 34 »This monument should be erected by the Germans in order to mark the mass graves of nationals of the United Nations in commemoration of their common ideal.« 35 Laut Entwurf sollten die Denkmäler fünf Meter nicht unterschreiten und 50 Meter nicht überschreiten. Vgl. CORC/P (46)370, Uniform Type of Monument to be Erected in Germany on Mass Graves of United Nations Nationals vom 13.11.1946 (TNA, FO 1032/2308, unpag.). 36 Vgl. Extract of the 89th Meeting of CORC (CORC/M(46) 60) vom 18.11.1946 (TNA, FO 1032/2308, unpag.). Zur Entstehung und Entwicklung der Kollektivschuld-Debatte vgl. Jan Friedmann/Jörg Später, Britische und deutsche Kollektivschuld-Debatte. In: Ulrich Herbert (Hg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945–1980, Göttingen 2002, S. 53–90, hier 56.
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pen zu errichten. Wenngleich es dem obersten Befehlshaber der jeweiligen Zone vorbehalten war, für ihre Stiftung die Erlaubnis zu erteilen, wurde damit doch der Grundstein für eine plurale Erinnerungskultur in den Westzonen gelegt.37 Ein besonders wichtiger Aspekt war darüber hinaus die weite Definition der zu erhaltenden Massengräber – hierunter sollten auch Aschegräber fallen sowie die Auflistung der Opfer, unter die namenlose und identifizierte zivile, militärische Gefangene und Deportierte aller Kategorien fielen, die in Missachtung des Völkerrechts in Deutschland ermordet worden waren: »By the term »Common Graves« should be understood the common burial pits, charnel-houses, or other depositories where lie mingled together the remains, or ashes, of a large number of nameless, or identified, victims (civilians, military, prisoners, or deportees, of all categories), killed in Germany in contempt of the Law of Nations, during the Second World War. They are distributed throughout all Zones of Germany, and in particular, in the vicinity of former concentration camps.«38
Außer diesen Bestimmungen kam es in Zeiten des sich zuspitzenden Systemkonfliktes zwischen den Westmächten und der Sowjetunion zu keinen weiteren Einigungen. In der britischen, amerikanischen und französischen Zone bewilligte der Militärgouverneur die Errichtung von Denkmälern, die Kosten hatten die deutschen Kommunen zu tragen und mit dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge (VDK)39 wurde ein privater Verein als Kontrollinstanz ernannt. Von der Sowjetunion wurde der VDK hingegen nicht anerkannt. Einheitlich in allen vier Besatzungszonen sollte somit allein die Suche und Registrierung, die Rückführung von Toten sowie die Graberhaltung von NS-Verfolgten geregelt sein.40 Die Initiative, die Gräberfürsorge an deutsche Kommunen zu übertragen und darüber hinaus den VDK als zentralen Gräberdienst einzusetzen, ging von Großbritannien aus und ist in die britische Deutschlandpolitik einzuordnen, die eine politische Stabilisierung durch den Wiederaufbau und die Integration lokaler und regionaler Verwaltungsstrukturen vorsah.41
37
Vgl. Allied Control Authority, Prisoners of War and Displaced Persons Directorate, ›Commemorate Monuments which the Zone Commanders may permit to be erected in Germany on the Graves of United Nations Citizens‹ vom 6.6.1947 (TNA, FO 1035/235, unpag.). 38 Ebd. 39 Vgl. zur Geschichte des Volksbundes Jakob Böttcher, Zwischen staatlichem Auftrag und gesellschaftlicher Trägerschaft. Eine Geschichte der Kriegsgräberfürsorge in Deutschland im 20. Jahrhundert, Göttingen 2018. 40 Vgl. Extract of the 89th Meeting of CORC (CORC/M(46) 60), meeting considered CORC/P(46)370 vom 18.11.1946 (TNA, FO 1032/2308, unpag.). 41 Vgl. Friedmann/Später, Britische und deutsche Kollektivschuld-Debatte, S. 56.
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Tabelle 1: Zuständigkeiten bei der Gräberfürsorge laut alliierter Bestimmungen Organisation der Gräberfürsorge zwischen 1945 und 1951 Verantwortliche
Aufgaben
Alliierter Kontrollrat
Direktiven und Anweisungen
PWDPD
Vermisstensuche und Registrierung der Toten/ Gräber
Oberster Befehlshaber
Einwilligung, Koordination, Kontrolle
Gräberdienste national
Exhumierung, Zusammenführung von Gräbern, Denkmäler
Deutsche Gemeinden
Ausführung und Finanzierung der Grabpflege und -gestaltung
Dennoch ist erklärungsbedürftig, warum der VDK am 28. März 1946 die Gräberfürsorge für alle deutschen und alliierten militärischen und zivilen Toten übertragen bekam.42 Denn der VDK war alles andere als politisch unbelastet. So konstatiert der Kunsthistoriker Christian Fuhrmeister, dass dieser Verein eine »partielle Kongruenz [...] mit nationalsozialistischen Wertvorstellungen« hatte.43 Die mehrheitlich nationalkonservativen Mitglieder der im Jahr 1919 gegründeten privaten Organisation der Kriegsgräberfürsorge hatten die nationalsozialistische Machtübernahme 1933 ausdrücklich begrüßt und der VDK hatte eigeninitiativ seine Satzung an das Führerprinzip angepasst.44 Nach Kriegsende begann eine
42
Vgl. Administration and Local Government Branch, Bünde, B. A. O. R. to »A« German Branch HQ B. A. O. R., Military Division PW/DP Division, Public Health Branch, Subject: German War Graves vom 24.5.1946 (TNA, FO 1050/17, unpag.). Der Verein äußert sich hierzu in seinem Tätigkeitsbericht 1947 wie folgt: »Dem Landesverband ist [...] die Fürsorge für die deutschen und ausländischen Kriegsgräber 1914/18 und 1939/45 übertragen worden. Der Landesverband hat es begrüßt, dass er auch für die Gräberstätten der ehemaligen Gegner zu sorgen hat [...]. Seit Jahrhunderten war es ein geheiligter Brauch, das Grab des Gegners so zu achten wie das der eigenen Nation. Im Zweiten Weltkrieg und in der Nachkriegszeit hat teilweise der Hass auch vor den Toten und Gräbern nicht Halt gemacht [...].« Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, Landesverband Niedersachsen, Tätigkeitsbericht 1947, S. 3. 43 Christian Fuhrmeister, Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge im 20. und 21. Jahrhundert. Bemerkungen aus Sicht der politischen Ikonographie. In: Ueberschär (Hg.), Soldaten und andere Opfer?, S. 45–66, hier 50. 44 Außerdem erweiterte die Machtübernahme das Aufgabenfeld des VDK um NS-Kultstätten. Beispielsweise plante der Landschaftsarchitekt Wilhelm Hübotter im Auftrag des VDK den Sachsenhain, eine NS-Kultstätte, die 1935 in Anwesenheit Himmlers und Alfred Rosenbergs eingeweiht wurde und seitdem vornehmlich als SS-Schulungsstätte genutzt wurde, vgl. Karl Banghard, Germanische ›Erinnerungsorte‹. Geahnte Ahnen. In: Martin Langebach/Michael Sturm (Hg.), Erinnerungsorte der extremen Rechten, Wiesbaden 2015, S. 61–77, hier 64–69.
80
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beispiellose Selbstumdeutung der Vereinsgeschichte. Im Juli 1945 behauptete der stellvertretende Bundesführer, dass der Verein »wiederholt den oft sehr zudringlichen Versuchen der NSDAP, den Volksbund nach dem Beispiel anderer Verbände sich einzugliedern, immer energisch entgegengetreten« sei und seine Aufgabe darin sehe, »im Geiste des Antifaschismus daran mitzuwirken«, zukünftige Kriege zu vermeiden.45 Derartige Äußerungen mögen zur Wiederzulassung des Vereins durch die britische Militärregierung beigetragen haben.46 Entscheidender aber waren pragmatische Gründe, denn die britische Militärregierung war angesichts unzähliger Suchanfragen nach dem Verbleib von Angehörigen aus der deutschen Zivilbevölkerung im Sommer 1945 dringend auf der Suche nach einem deutschen Gräberdienst, der die Pflege und Registrierung deutscher ziviler und militärischer Gräber übernahm. Mit dem VDK konnte sie auf einen Akteur zurückgreifen, mit dem der britische Gräberdienst bereits vor 1945 zusammengearbeitet hatte und der außerdem über ein weites Netzwerk verfügte.47 Vor diesem Hintergrund ist zu erklären, dass Anfang Juni 1945 Alexis Albrecht, VDK-Geschäftsführer und ehemaliger Major der Wehrmacht, von der britischen Militärregierung damit beauftragt wurde, in Zusammenarbeit mit dem britischen Gräberdienst Soldatengräber und zivile Gräber zu lokalisieren, zu registrieren und die Toten in Sammelgräbern zu bestatten.48 In diesem Kontext wurde auch der VDK-Vertragsarchitekt Oswald Langerhans (1894–1960) mit einem ersten Gedenkstättenentwurf für die Gräber von Bergen-Belsen beauftragt. Langerhans, der in den 1950er-Jahren alle neun Friedhöfe im Emsland als Landschaftsarchitekt betreute, war ehemaliges NSDAP-Mitglied und hatte zwischen 1933 und 1934 die Gleichschaltung der Berufsvertretungen der Garten architekten forciert. Auch gehörte er zu den »Landschaftsanwälten«, die die Raumgestaltung um die Reichsautobahn im Rahmen der Organisation Todt planten.49 Vermutlich infolge des Einspruches von Überlebenden-Verbänden wurde Langerhans der Auftrag zur Ausgestaltung der Massengräber von Bergen-
45
Zit. nach Manfred Wittig, »Der Tod hat alle Unterschiede ausgelöscht«. Anmerkungen zur Geschichte und Ideologie des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge nach 1945. In: Michael Hütt/Hans Kunst/Ingeborg Pabst/Florian Matzner (Hg.), Unglücklich das Land, das Helden nötig hat, Marburg 1990, S. 91–98, hier 98. 46 Vgl. Adm. and local Government Branch, I.A. & C. Division for Germany (BE), B. A. O. R. to IA & C Division, Subject: Maintenance of German War Graves vom 14.12.1945 (TNA, FO 1050/17, unpag.). 47 Vgl. Bernd Ulrich/Christian Fuhrmeister/Manfred Hettling/Wolfgang Kruse, Volksbund deutsche Kriegsgräberfürsorge: Entwicklungslinien und Probleme, Berlin 2019, S. 293–299. 48 Vgl. Dieter Tasch, Hannover zwischen Null und Neubeginn, Hannover 1985, S. 147 f. 49 Vgl. Axel Zutz, Wege grüner Moderne: Praxis und Erfahrung der Landschaftsanwälte des NS-Staates zwischen 1930 und 1960. In: Heinrich Mäding/Wendelin Strubelt (Hg.), Vom Dritten Reich zur Bundesrepublik. Beiträge einer Tagung zur Geschichte von Raumforschung und Raumplanung am 12. und 13. Juni in Leipzig, Hannover 2009, S. 107–148.
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Belsen Ende 1945 entzogen.50 Der Volksbund jedoch konnte, wie bereits erwähnt, seine Position als deutscher Kriegsgräberdienst stärken und wurde im Frühjahr 1946 offiziell in der britischen Besatzungszone wieder zugelassen. Kurze Zeit später erhielt der VDK dann in allen westlichen Besatzungszonen die Arbeitserlaubnis.51 Die Gestaltungsprinzipien des soldatischen Totengedenkens, die Anonymisierung der Toten in Form planierter Grabflächen und symbolischer Grabkennzeichnungen wurden nun vom VDK auf die Gestaltung der Friedhöfe von NS-Verfolgten übertragen, und sie waren bald wegweisend für die Gestaltung von Massengräbern, die dadurch den Anschein gleichförmiger Parkanlagen annahmen.52 Die frühen Bestimmungen zum Umgang mit Gräbern von NS-Verfolgten, die ihren Ausgang in Bergen-Belsen nahmen, prägten eine Gedenkstättenlandschaft in Deutschland aus, denn zuallererst wurde hiermit die dauerhafte Erhaltung der Gräber festgesetzt – und das in der britischen Zone bereits im Oktober 1945. Dabei wurde den Gräbern, nicht den baulichen Überresten der Lager, ein Symbolwert eingeschrieben und die Formel »so the memory of the infamy of the concentration camps does not fade« wurde sinnstiftend. Eine Wiederholung der Verbrechen in der Gegenwart und Zukunft sollte durch die dauerhafte Erhaltung der Gräber verhindert werden.53 Ebenso entscheidend, wenngleich von den Westalliierten nicht beabsichtigt, war die Ernennung des VDK als zentraler Kriegsgräberdienst, der sowohl die Sorge über die Gräber von Militärangehörigen als auch NS-Verfolgten übernahm und aufgrund dieser erweiterten Kompetenz insbesondere in der frühen Bundesrepublik in der Lage war, eine ganz auf das deutsche Kriegsopfer ausgerichtete Erinnerungskultur zu pflegen und die NS-Opfer dabei zugleich buchstäblich an den Rand zu drängen.
50
Im Herbst 1945 hatte die britische Militärregierung angewiesen, das ehemalige Konzentrationslager Bergen-Belsen gartenarchitektonisch als Memorialanlage auszugestalten. Der damalige kommissarische Oberpräsident der Provinz Hannover Hinrich Wilhelm Kopf hatte daraufhin den Volksbund damit beauftragt, »geeignete Pläne für die Gestaltung der Massengräber zu erarbeiten«. Zit. nach Wilfried Wiedemann/Joachim Wolschke-Bulmahn, Bergen-Belsen. Zur Entwicklung der Gedenkstätten-Landschaft. In: dies. (Hg.), Landschaft und Gedächtnis. Bergen-Belsen, Esterwegen, Falstad, Majdanek, München 2011, S. 75–93, hier 77; Schulze, Ein Blick über die Grenze, S. 165. 51 Vgl. Niedersächsischer Minister des Innern, Oberregierungsrat Miericke an Sekretariat des Länderrates des amerikanischen Besatzungsgebietes in Stuttgart zu Kosten der Kriegsgräberfürsorge vom 15.9.1948 (BA Koblenz, Z21/1245, Bl. 17). 52 Vgl. Helmut Schoenfeld, Grabzeichen für Soldaten. In: Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal/Museum für Sepulkralkultur Kassel (Hg.), Grabkultur in Deutschland. Geschichte der Grabmäler, Berlin 2009, S. 263–286. 53 From Office of the Chief of Staff (British Zone), Control Commission for Germany (BE), No. 48, Main Headquarters Lubbecke B. A. O. R. to 229 ›P‹ Mil Gov Det Hannover vom 10.10.1945 (TNA, FO 1032/2308, unpag.).
82 1.2
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Sowjetische Ehrenfriedhöfe im Emsland
Die formalen Rahmenbestimmungen zum Umgang mit den Toten etablierten eine plurale Erinnerungskultur in den Westzonen, da es jedem Mitglied der Vereinten Nationen freigestellt war, die Gräber der jeweiligen nationalen Opfergruppe nach seinen Vorstellungen auszugestalten. Vor diesem Hintergrund wird folgend der Blick auf die sowjetische Mission54 als Akteurin einer Erinnerungskultur gerichtet, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit große Ehrenfriedhöfe für sowjetische Tote in den Westzonen ausbauen ließ, so auch vier Friedhöfe für sowjetische Kriegsgefangene im Emsland. Diese waren bald Gegenstand und Schauplätze des sich zuspitzenden Systemkonfliktes, ein Konflikt, der im Folgenden ausführlicher dargestellt wird, weil er beispielhaft für die Indienstnahme des gewaltsamen Todes ist.55 Denn nicht Formen des Gedenkens wurden in dem Streit zwischen britischen und sowjetischen Vertretern ausgehandelt, sondern vielmehr realpolitische Interessen.56 Nach der Besetzung der emsländischen Kreise war der mit Großbritannien verbündeten 1. Kanadischen Armee die Verwaltung über die ehemaligen Emslandlager links der Ems zugeteilt worden, in denen nun DP-Camps eingerichtet wurden.57 Von den DP-Camps aus sollten die befreiten ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen mit Unterstützung der UN-Hilfsorganisation, der United Nations Relief and Rehabilitation Administra-
54
Auf dem Gebiet der 21. Armeegruppe, das Nordfrankreich, Nordbelgien, die Niederlande, Dänemark und Norddeutschland umfasste, waren bis Ende Mai 1945 alle befreiten sowjetischen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, KZ-Häftlinge sowie Kriegsgefangene in DP-Lagern untergebracht worden. Deren Repatriierung in die Sowjetunion wurde von der hierfür im November 1944 gegründeten Repatriierungsmission organisiert. Vgl. Pavel Polian, Deportiert nach Hause. Sowjetische Kriegsgefangene im »Dritten Reich« und ihre Repatriierung, München 2001, S. 130; Ulrike Goeken-Haidl, Die Repatriierung sowjetischer Zwangsarbeiter und Kriegsgefangener während und nach dem Zweiten Weltkrieg. In: Rebecca Boehling/Susanne Urban/ René Bienert (Hg.), Freilegungen. Displaced Persons. Leben im Transit: Überlebende zwischen Repatriierung, Rehabilitation und Neuanfang, Göttingen 2014, S. 241–254. 55 Vgl. Reinhart Koselleck/Michael Jeismann (Hg), Der politische Totenkult. Kriegerdenkmäler in der Moderne, München 1994; Koselleck, Kriegerdenkmale als Identitätsstiftungen. 56 Vgl. zur Einführung in die sowjetische Erinnerungskultur nach 1945 Sergej Kudrjašov, Erinnerung und Erforschung des Krieges: Sowjetische und russische Erfahrung. In: Jörg Echternkamp/ Stefan Martens (Hg.), Der Zweite Weltkrieg in Europa. Erfahrungen und Erinnerung, Paderborn 2007, S. 113–141; Olga Kurilo (Hg.), Der Zweite Weltkrieg im deutschen und russischen Gedächtnis, Berlin 2006; Thomas C. Wolfe, Past as Present, Myth, or History? Discourses of Time and the Great Fatherland War. In: Richard Lebow/Wulf Kansteiner/Claudio Fogu (Hg.), The Politics of Memory in Post-War Europe, Duke University Press, London 2006, S. 249–283; Peter Jahn, Triumph und Trauma. Sowjetische und postsowjetische Erinnerung an den Krieg 1941–1945, Berlin 2005. 57 Vgl. War Diary 812 Det. Mil. Gov., 1. bis 31. May 1945, Eintrag vom 4.5.1945 (TNA, WO 171/8077, unpag.); Fesche, Kriegsende und Neubeginn, S. 9 f.
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tion (UNRRA), in ihre Herkunftsländer repatriiert werden.58 Die sowjetische Mission organisierte die Rückführung der sowjetischen DPs auf Grundlage bilateraler, auf der Konferenz von Jalta beschlossener Verträge. Ebenfalls sorgte die Mission in den Westzonen für eine würdige Bestattung der sowjetischen Todes opfer. Auf Anordnung der sowjetischen Mission entstanden so große Ehrenfriedhöfe: Bislang verscharrte Tote oder in Sammel- und Massengräbern bestattete Gebeine wurden ausgehoben, eingesargt und auf Friedhöfen zusammengeführt. Die Gräber wurden einzeln und namentlich oder durch symbolische Grabzeichen in Form von Denkmälern gekennzeichnet.59 Auch die Gräber, die sich in der Nähe der Kriegsgefangenenlager Wesuwe, Dalum, Alexisdorf und Wietmarschen im Emsland befanden und auf denen mehrheitlich sowjetische Kriegsgefangene beerdigt worden waren, wurden dabei zu Friedhöfen ausgestaltet. In den Zweiglagern Dalum, Wesuwe, Wietmarschen und Alexisdorf sowie im Stammlager Bathorn VI C waren seit 1941 überwiegend sowjetische Kriegsgefangene untergebracht. Da sie kaum versorgt wurden, war die Sterblichkeit hier besonders hoch. Vielfach ohne Sarg wurden die Verstorbenen zwischen 1941 und 1945 auf den Kriegsgefangenenfriedhöfen Dalum, Wesuwe und Alexisdorf in Einzel- und Massengräbern beerdigt.60 Nach der Befreiung des Kriegsgefangenenlagers Wietmarschen entstand darüber hinaus Ende April 1945 ein neuer Friedhof. Dieser wurde von der sowjetischen Mission für 153 sowjetische Kriegsgefangene angelegt, die vermutlich kurz vor oder nach der Befreiung verstorben waren.61 Die Toten wurden dabei in Einzelgräbern bestattet, und es wurden Grabzeichen aus Holz mit den namentlichen Kennzeichnungen gestiftet.62 Die Entstehung des Friedhofs in Wietmarschen reiht sich ein in eine Vielzahl von Friedhöfen für sowjetische Kriegsgefangene, die auf Anordnung der sowjetischen Mission in den Westzonen in der unmittelbaren Nachkriegszeit entstanden. Wie erwähnt, wurden hierbei Gebeine exhumiert und in Särgen bestattet, es wurden ordentliche Grabreihen angelegt und Denkmäler gestiftet. Bis 58 UN-Angehörige und Staatenlose wurden nach ihrer Befreiung von der United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA) betreut, ab Mitte 1947 dann von der International Refugee Organization (IRO). Vgl. Holger Köhn, Die Lage der Lager, Displaced Persons-Lager in der amerikanischen Besatzungszone Deutschlands, Essen 2012, S. 9–11. 59 Vgl. Barbara Stelzl-Marx, »Ewiger Ruhm den Helden der Roten Armee«. Grabanlagen sowjetischer Kriegstoter in Österreich, 2011 (https://ru.stsg.de/cms/sites/default/files/dateien/texte/ Stelzl-Marx.pdf.; 16.9.2021). 60 Vgl. Kurt Buck, Fotodokumentation: Die Befreiung des Kriegsgefangenenlagers Wesuwe. In: KZ-Gedenkstätte Neuengamme (Hg.), Kriegsende und Befreiung, Bremen 1995, S. 133–141, hier 137. 61 Vgl. Bürgermeister Gemeinde Wietmarschen an Landkreis Grafschaft Bentheim zum Schreiben vom 11.1.1951 vom 2.2.1951 (ITS Digital Archive, Bad Arolsen, 2.2.0.1/82394672, Bl. 527). 62 Vgl. Gemeinde Wietmarschen zur Suchaktion deutscher Behörden nach vermissten Angehörigen der Vereinten Nationen vom 31.5.1946 (ITS Digital Archive, Bad Arolsen, 2.2.0.1/82394670, Bl. 523).
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September 1945 waren bereits in der gesamten britischen Zone »34 Mahnmale und Denkmäler für Gefallene und Opfer der deutschen Gefangenschaft« gestiftet worden.63 Diese Angabe stammt aus einem Bericht, den Oberstleutnant Melnikov im September 1945 an seinen Vorgesetzten schrieb, Generalmajor Dragun, zuständig für die Repatriierung auf dem Gebiet Westeuropas. In dem Bericht, der auch Bildmaterial enthält, wird Auskunft über die Denkmalstiftungen sowie die von der sowjetischen Repatriierungsmission ausgerichteten Gedenkfeierlichkeiten gegeben. Hier finden auch die Kriegsgefangenenfriedhöfe Dalum, Alexisdorf, Wesuwe und Wietmarschen Erwähnung. Auf den instandgesetzten Grabstätten, die nun zu einem sichtbaren Friedhof zusammengefasst worden waren, wurden ca. drei Meter hohe, aus Backsteinen gemauerte Denkmäler errichtet, die sich nach oben hin verjüngten und deren abschließende Spitze der fünfzackige Stern krönte. Auf den vier Seitenflächen der Denkmäler waren Gedenkplatten angebracht.64 Eine der Aufnahmen, die Melnikovs Bericht beigelegt ist, zeigt ein Ehrenbegräbnis, bei dem Melnikov ein Denkmal einweiht. Auf der für die Betrachter und Betrachterinnen sichtbaren Gedenkplatte, die auf dem Denkmal angebracht wurde, ist auf Kyrillisch zu lesen: »Ein riesengroßer Friedhof. Hier sind 34 000 Offiziere, die vom Hunger und den Faschisten gequält wurden. Ewiges Gedenken an euch Soldaten und Offiziere, die gestorben sind für die Freiheit und Unabhängigkeit unserer Heimat. Die Heimat vergisst euch nicht.«65 Es ist anzunehmen, dass es sich hierbei um den Friedhof Dalum handelt, da dort die meisten Kriegsgefangenen im Emsland beerdigt liegen. So wird auch in einem späteren Schreiben aus dem Jahr 1947 im Hinblick auf den Friedhof Dalum eine Opferzahl von 34 000 Toten genannt – heute hingegen geht man von bis zu 16 000 Toten aus.66 Eine weitere Aufnahme fängt das Denkmal, die frisch angelegten Grabhügel sowie die Trauergemeinde ein. Diese setzte sich vermutlich aus sowjetischen DPs der umliegenden Lager zusammen.67 Das Denkmal war schlicht gestaltet und aus einfachem Baumaterial gefertigt und entsprach damit der typischen Gestaltungsform von sowjetischen Denkmälern der unmittelba-
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Oberstleutnant Melnikov, Rechenschaftsbericht vom 18.9.1945 (Fotoalbum Melnikov I, Museum der Streitkräfte der Russischen Föderation, Moskau, 3/53490, Bl. 14–15, in Kopie: Dokumentationsstelle Stiftung Niedersächsische Gedenkstätten/Zentralnachweis). 64 Vgl. ebd. 65 Ebd. 66 Vgl. Major-General Konovalov, Head of the Mission of the Soviet C-in-C to the British Forces of Occupation in Germany vom 21.3.1947 (TNA, FO 1050/369, unpag.). Außerdem weichen die Totenzahlen der anderen Friedhöfe, die Melnikov in seinem Bericht aufzählt, zu stark von der genannten Opferzahlangabe ab. 67 Vgl. Oberstleutnant Melnikov, Rechenschaftsbericht vom 18.9.1945 (Fotoalbum Melnikov I, Museum der Streitkräfte der Russischen Föderation, Moskau, 3/53490, Bl. 14–15, in Kopie: Stiftung Niedersächsische Gedenkstätten/Zentralnachweis).
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ren Nachkriegszeit.68 Mit der Instandsetzung der Grabhügel und der Errichtung von Denkmälern sollte in erster Linie die hohe Opferzahl auf sowjetischer Seite sichtbar werden. Während sich diese Botschaft an die deutsche Bevölkerung und die Westalliierten richtete, waren die Adressaten der kyrillischen Inschriften der Denkmäler die sowjetische Bevölkerung bzw. die DPs. Die bereits zitierte Inschrift der Gedenkplatte in Dalum ist beispielhaft für eine sowjetische Deutung und Sinngebung des gewaltsamen Todes. Den Rahmen bildete der »Große Vaterländische Krieg« – ein Krieg, der von Westeuropa in die Heimat hineingetragen und von ihr besiegt worden sei.69 Diese Deutung machte aus der Sowjetunion Opfer und Held zugleich. So bezeichnet die Inschrift die sowjetischen Kriegsgefangenen zum einen als Opfer der faschistischen Quälereien und des Hungers.70 Zum anderen kann die Formulierung »Ewiges Gedenken an euch Soldaten und Offiziere, die gestorben sind für die Freiheit und Unabhängigkeit unserer Heimat« als posthume Heroisierung interpretiert werden.71 In der Zusammenführung der beiden Aussagen entsteht ein Bild vom Faschismus als Täter und den sowjetischen Kriegsgefangenen als Helden – die freilich nicht als Kriegsgefangene, sondern als Soldaten und Offiziere bezeichnet wurden und somit in ein sowjetisches Siegergedächtnis integriert werden konnten. Der Verweis auf die Heimat – ein angesichts des multiethnischen und multireligiösen sowjetischen Staates wichtiges integratives Symbol – kann darüber hinaus als eine an die sowjetischen DPs gerichtete Botschaft, als eine Art Mahnung an die Heimat gelesen werden, versuchten sich doch viele DPs aufgrund antisowjetischer Ressentiments oder aus Angst vor Repression und Verfolgung infolge des Kollaborationsverdachtes der Repatriierung zu verweigern.72 Zum in den Korrespondenzen nachweisbaren Konflikt zwischen sowjetischen und britischen Akteuren führten Schändungen und Abtragungen der sowjetischen Denkmäler auf den Ehrenfriedhöfen.73 Vertreter der sowjetischen Mission, die regelmäßig die Friedhöfe kontrollierten, beschwerten sich im Laufe des Jahres 1946,
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Vgl. Frank Kämpfer, Vom Massengrab zum Heroen-Hügel. Akkulturationsfunktionen sowjetischer Kriegsdenkmäler. In: Koselleck/Jeismann (Hg.), Der politische Totenkult, S. 327–349, hier 330–334; Jahn, Triumph und Trauma, S. 98–101. 69 Zur sowjetischen Lesart des Zweiten Weltkrieges vgl. Kämpfer, Vom Massengrab zum Heroen-Hügel, S. 330 f. 70 Vgl. Martin Hoffmann, Der Zweite Weltkrieg in der offiziellen sowjetischen Erinnerungskultur. In: Helmut Berding/Klaus Heller/Winfried Speitkamp (Hg.), Krieg und Erinnerung. Fallstudien zum 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 2000, S. 129–143. 71 Oberstleutnant Melnikov, Rechenschaftsbericht vom 18.9.1945 (Fotoalbum Melnikov I, Museum der Streitkräfte der Russischen Föderation, Moskau, 3/53490, Bl. 14–15, in Kopie: Stiftung Niedersächsische Gedenkstätten/Zentralnachweis). 72 Vgl. Polian, Deportiert nach Hause, S. 130. 73 Vgl. Generalmajor Konovalov, Head of the Mission of the Soviet C-in-C to the British Forces of Occupation in Germany vom 21.5.1947 (TNA, FO 1050/369, unpag.).
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dass viele der Denkmäler zerstört worden waren, ohne dass sich die für die Gräber verantwortlichen deutschen Gemeinden um ihre Wiederherstellung bemüht hatten. Im März 1947 ging eine entsprechende Beschwerde bei der britischen Militäradministration ein, in der Oberbefehlshaber Konovalov, Leiter der sowjetischen Verbindungsoffiziere, Zerstörungen und Abtragungen von Ehrenmalen auf sieben sowjetischen Grabstätten innerhalb der britischen Zone auflistete. Dazu zählten allein drei Friedhöfe im Emsland.74 Für die Zerstörungen machte Konovalov »faschistische Elemente« verantwortlich.75 Diese Kritik wurde in den folgenden zwei Jahren immer schärfer und nachdrücklicher formuliert und bald auch mit konkreten politischen Forderungen verbunden. So ging es nicht nur um die angemessene Ehrung der sowjetischen Toten, sondern ebenso um die Aktivitäten der sowjetischen Mission in der britischen Zone, die insbesondere im Hinblick auf die Rückführung baltischer DPs einen zunehmenden Zwangscharakter aufwiesen und von der britischen Militärregierung daher sanktioniert werden sollten. In ihrem ersten Antwortschreiben vom 18. April 1947 versuchte die britische Militärbehörde in Osnabrück den Vorwurf zu widerlegen, wonach es sich bei den Denkmalzerstörungen um mutwilligen und politisch motivierten Vandalismus seitens der deutschen Lokalbevölkerung handele. Vielmehr legten sie den Verdacht nahe, die Denkmäler seien von DPs geschändet worden.76 Dieser Verdacht kann anhand der aktuell vorliegenden Quellenlage nicht verifiziert werden. Feststeht aber, dass seit Anfang 1946 in den DP-Camps in der britischen Zone vonseiten ukrainischer Nationalisten antisowjetische Propaganda kursierte.77 Dass die zerstörten Denkmäler von den deutschen Gemeinden nicht den britischen Richtlinien entsprechend repariert wurden, deutet aber doch deutlich darauf hin, dass es am pietätvollen Umgang mit den sowjetischen Toten mangelte. Im Laufe der anhaltenden Diskussion um die sowjetischen Grabstätten in der britischen Zone schaltete sich bald das sowjetische Außenministerium ein und richtete am 29. April 1947 ein Schreiben an die britische Botschaft in Moskau. In bereits schärferem Ton heißt es in dem Beschwerdebrief, dass zwischen 1946 und 1947 »Übeltäter«78 acht Mahnmale auf den Grabstätten Dalum, Wietmar-
74 Die anderen Denkmäler befanden sich in der Region Braunschweig sowie in Hannover. 75 Major-General Konovalov, Head of the Mission of the Soviet C-in-C to the British Forces of Occupation in Germany vom 21.3.1947 (TNA, FO 1050/369, unpag.). 76 Vgl. HQ Mil Gov RB Osnabrück 604 COG. B. A. O. R. to HANRNG (PS), Destruction of Soviet Memorials, your letter in respect to a/m subject of 15 April 1947 vom 18.4.1947 (TNA, FO 1050/369, unpag.). 77 Vgl. u. a. Leiter des polnischen DP-Camps Eversburg/Osnabrück an das UNRRA Team 242 vom 9.11.1946 (TNA, FO 1052/365, unpag.). 78 Im Original: »malefactors«. Translation of note from Ministry of Foreign Affairs, Ref. 72/2E-An. vom 29.4.1947 (TNA, FO 1049/978, unpag.).
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schen, Alexisdorf und Hannover zerstört hätten und dass trotz Meldung dieser Vorfälle bei der Militärregierung keine Ermittlungsverfahren eingeleitet worden seien.79 Wenngleich der britische Botschafter in Moskau, Maurice Peterson, die regionalen Militärverwaltungen anwies, für die Instandsetzung der Friedhöfe zu sorgen – deutsche Landräte, Bürgermeister und der VDK sollten hierfür sorgen –, war der Konflikt damit nicht geschlichtet.80 Seit Januar 1948 ist schließlich ein reger Briefwechsel zwischen dem britischen Außenministerium in London, dem britischen Botschafter in Moskau und der britischen Militärregierung in Berlin nachzuweisen, in dem über den weiteren Umgang mit den sowjetischen Vorwürfen diskutiert wurde. Während das britische Außenministerium zunächst nicht weiter auf die Vorwürfe eingehen wollte,81 trat der britische Botschafter dafür ein, die deutschen Behörden in die Pflicht zu nehmen.82 Im April 1948 wurden die regionalen britischen Militärbehörden angewiesen, Listen von allen Denkmälern in der britischen Zone mit genauer Lagebeschreibung zu erstellen. Darüber hinaus forderte man die deutschen Gemeinden auf, halbjährlich die Friedhöfe zu kontrollieren und bei Bedarf Erhaltungsarbeiten durchzuführen.83 Fast zeitgleich erschien jedoch im Mai 1948 in der sowjetischen Militärzeitung »Krasnaja Zvezda« (Roter Stern) ein Artikel über die Schändung von sowjetischen Friedhöfen in der britischen Zone. Unter den insgesamt sechs kritisierten Friedhöfen werden auch die zwei Grabstätten Wesuwe und Dalum
79 »The Soviet Government cannot help drawing the British Government’s attention to the fact that to allow the desecration of memorials to dead prisoners of war to go unpunished is in contradiction not only with generally accepted principles of social ethics but also with the standards of statutory international law, and in particular with the terms of the Geneva Red Cross Convention of 1929 (paragraph 5, article 4) which require that the graves of dead prisoners of war should be respected. The Soviet Government expresses confidence that the British Government will take steps to discover and punish those guilty of the sacrilegious acts referred to.« Translation of note from Ministry of Foreign Affairs, Ref. 72/2E-An. vom 29.4.1947 (TNA, FO 1049/978, unpag.). 80 Die vom sowjetischen Außenministerium geforderte Einrichtung eines Strafverfahrens lehnte Peterson ab, da die Beschwerden nicht unmittelbar nach den Vorfällen bei der britischen Militärregierung eingegangen und somit die Verantwortlichen nicht mehr zu ermitteln seien. Vgl. Ambassador Moscow, His Majesty’s Principal Secretary of State for Foreign Affairs, No. 584, an Foreign Office despatch No. 702, of 19th of June 1947 vom 1.7.1947 (TNA, FO 1049/978, unpag.). 81 Vgl. Foreign Office S.W.1 to British Embassy in Moscow vom 3.1.1948 (TNA, FO 1049/1288, unpag.). 82 Vgl. British Embassy Moscow to Northern Department Foreign Office vom 19.1.1948 (TNA, FO 1049/1288, unpag.). 83 Vgl. Zonal Executive Offices, CCG Lubbecke, 60 HQ CCG BAOR 1 to Regional Commissioner HQ Land Niedersachsen, HQ Land North Rhine/Westphalia, HQ Land Schleswig-Holstein, HQ Hansestadt Hamburg, Subject: Desecration of Soviet Graves vom 8.4.1948 (TNA, FO 1049/1288, unpag.).
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erwähnt.84 In dem Artikel wurde herausgestellt, dass weltweit der Opfer der Roten Armee gedacht und ein besonderer Wert der Erhaltung und Pflege der Gräber der sowjetischen Bürgerinnen und Bürger beigemessen würde. Doch »faschistische Monster« hätten unter Duldung der britischen Militärregierung die Gräber der sowjetischen Militärangehörigen geschändet. Diese Schändung sei ziel gerichtet gewesen, denn die faschistischen »Pogromisten« verfolgten das Ziel, die Erinnerung an die Errungenschaften des sowjetischen Volkes, das Europa vom Joch des Faschismus befreit hatte, auszulöschen.85 Auch in diesem Artikel stand der »Große Vaterländische Krieg« im Mittelpunkt: der Triumph der Roten Armee über den deutschen Faschismus. In dem Artikel erhält dieses Narrativ jedoch eine eindeutig vor dem Hintergrund des einsetzenden Kalten Krieges propagandistische Bedeutung, denn nicht mehr nur der deutsche, sondern ebenso der »britische Faschismus« wird hier zum Feind erklärt. Dementsprechend wollte das britische Außenministerium auch zunächst eine propagandistische Gegenaktion in der britischen Militärzeitung »British Ally« aufnehmen.86 Die Auseinandersetzung sollte jedoch mit dem sowjetischen Artikel ein vorläufiges Ende erreichen, und die Maßnahmen zur Instandsetzung der sowjetischen Friedhöfe in der britischen Zone wurden fortgesetzt. Dieses Vorgehen ist auch im Tätigkeitsbericht des VDK Landesverband Niedersachsen aus dem Jahre 1949 belegt, in dem es heißt, dass »die Militärregierung einen starken Druck auf den Ausbau der russischen Kriegsgräberstätten ausübte«.87
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Zerstörungen auf folgenden weiteren Friedhöfen werden erwähnt: Fallingbostel, Warburg, Hannover, Wesel; englische Übersetzung des Zeitungsartikels in »Krasnaja Zvezda«. Vgl. British Embassy Moscow to Political Division, Appendix (A Part I, Section A) vom 29.5.1948 (TNA, FO 1049/1288, unpag.). 85 »The memory of those who lost their lives in the struggle against fascism, is dear to the peoples of the whole world. The people has displayed special concern for the graves of the Soviet citizens, who fell in battle against the German occupying forces or were tortured to death in Nazi concentration camps […] It is for this reason that all who honour the memory of those who fell in the struggle against German fascism are deeply indignant at the desecration of the graves of Soviet citizens, which is at present taking place in the British zone of Germany […] but the fascist monsters began with the connivance of the British Military authorities to desecrate the graves of Soviet troops. This treatment of the graves of Soviet people, who gave their lives for democracy and freedom of the peoples is far from accidental. The fascist pogromists and those who tolerate them are pursuing definite political aims, that of forcing mankind to forget the great achievement of the Soviet people, which freed Europe from the yoke of fascism.« Englische Übersetzung des Zeitungsartikels in »Krasnaja Zvezda«, British Embassy Moscow an Political Division, Appendix (A Part I, Section A) vom 29.5.1948 (TNA, FO 1049/1288, unpag.). 86 Vgl. Foreign Office to Political Division 277/36/48 vom 16.6.1948 (TNA, FO 1049/1288, unpag.). 87 So geht aus dem Bericht hervor, dass für die Grabstätte Dalum 8 900 DM und für Wesuwe 11 000 DM ausgegeben wurden. Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, Landesverband Niedersachsen, Tätigkeitsbericht 1949, S. 5 f.
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Warum aber wurde dieser Konflikt nicht weiter ausgetragen? Wie bereits erwähnt, stand die Auseinandersetzung auch im Zusammenhang mit der sowjetischen Repatriierungspolitik in der britischen Zone. Die Aktivitäten der sowjetischen Repatriierungsmission wurden dabei angesichts der häufig unter Zwang erfolgten Rückführungen sowjetischer Bürgerinnen und Bürger seit Anfang 1946 von der britischen Militärregierung zunehmend kritisch beobachtet.88 Die ersten sowjetischen Eingaben über Denkmalschändungen und vernachlässigte Grab stätten trafen im Frühjahr 1947 ein, zu einem Zeitpunkt, als die Aktivitäten der sowjetischen Repatriierungsmission in der britischen Zone sanktioniert werden sollten. Es ist daher anzunehmen, dass die sowjetischen Beschwerden darauf abzielten, Vertreter der Repatriierungsmission zur Inspektion der beschädigten Denkmäler in die Zone zu schicken. Da dies aus britischer Perspektive zu vermeiden war, wurden Wiederherstellungs- und Pflegemaßnahmen eingeleitet, die sorgfältig dokumentiert wurden und so als Argumentationsgrundlage dienten, Kontrollen durch die sowjetische Repatriierungsmission abzulehnen.89 Ein weiterer Grund für das Entgegenkommen von britischer Seite war möglicherweise, dass die Rückführungen britischer Toten oder ihre Zusammenführung auf zentralen Friedhöfen in der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) noch nicht abgeschlossen waren. Um die Arbeit des britischen Gräberdienstes in der SBZ nicht zu gefährden, wurde mit den sowjetischen Militärbehörden kooperiert. Perspektivisch ging es auch darum, britischen Angehörigen den Besuch der Gräber ihrer Verstorbenen in der sowjetischen Zone zu ermöglichen. Da die sowjetische Repatriierungsmission darüber hinaus darauf angewiesen war, weiterhin, wenn auch eingeschränkt, Zutritt zu den DP-Camps in der britischen Zone zu erhalten, entstand eine Interessenverflechtung. Weitere Propagandamaßnahmen erschienen zumindest im Bereich der Gräberfürsorge auf beiden Seiten als nicht zielführend.90
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»The Russian authorities have been requested to withdraw their Repatriation Mission from the British Zone by 1 October. Although repatriation of dead was not included in the competency of the Mission, they have already busied themselves with finding and marking the graves of 350,000 Soviet dead in our Zone. They have also erected many memorials, which have in some cases been desecrated and thus resulted in friction with the Mission.« Secretariat, Headquarters, Control Commission for Germany (BE), Berlin B. A. O. R. to Foreign Office, Norfolk House, St. Jame’s Square, London, Subject: Allied War Dead vom 3.9.1947 (TNA, FO 1049/978, unpag.). 89 Sehr deutlich wird die britische Ablehnung der Tätigkeiten der Mission in einem Schreiben der britischen Militärregierung, in dem es heißt: »For your information, we do not wish to afford the Soviet Repatriation Mission any possible excuse for remaining in, or sending extra representatives into our Zone«. Central Secretariat General Headquarters Control Commission for Germany BS, Berlin, B. A. O. R. to Region governmental Office HQ, Land Nord Rhein/Westfalen Düsseldorf vom 27.7.1947 (TNA, FO 1032/2308, unpag.). 90 Vgl. D. A. D. G. R. E. to Chief of D. P. Branch Political Division, C. C. G. (BE), Lancaster House Berlin, Operation in the Russian Zone vom 16.8.1948 (TNA, FO 1049/1288, unpag.).
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Fasst man die Aktivitäten der sowjetischen Repatriierungsmission in der britischen Zone zusammen, dann ist zunächst die Annahme zu korrigieren, dass Denkmalanlagen und Ehrenfriedhöfe für sowjetische Kriegsgefangene in der unmittelbaren Nachkriegszeit eine Ausnahme dargestellt hätten, wie beispielsweise noch Peter Fibich in seiner Dissertation aus dem Jahr 1998 angibt.91 Vielmehr ist Barbara Stelzl-Marx beizupflichten, die hinsichtlich der vielen Ehrenbegräbnisse und Denkmalstiftungen für sowjetische Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen in Österreich konstatiert hat, dass die des Vaterlandsverrats Beschuldigten posthum rehabilitiert wurden.92 Zwar standen die überlebenden sowjetischen Kriegsgefangenen zweifellos unter Kollaborationsverdacht, doch den Verstorbenen wurde eine angemessene Bestattung dadurch nicht verwehrt. Das Anlegen von Ehrenfriedhöfen im Emsland für die sowjetischen Opfer diente ebenso dazu, »Pietät gegenüber den Toten herzustellen und zu bewahren«.93 Durch die Heroisierung der verstorbenen Kriegsgefangenen wurde ihr Tod gleichsam sinnstiftend, denn allein die unzähligen Grabhügel mahnten die Deutschen an ihre Schuld und erinnerten die Westalliierten an den rein zahlenmäßig enorm hohen menschlichen Verlust, den die Rote Armee auf sich genommen hatte. Konkrete historische Bezüge oder Einzelheiten zum Schicksal der Kriegsgefangenen wurden hingegen ausgeklammert oder blieben vage, da sie der heroisierenden Lesart zuwidergelaufen wären.94 1.3
»Tote klagen an«: britische Ermittlungsarbeit und frühe Prozesse
Während die beiden vorangegangenen Unterkapitel das von den Alliierten getragene Totengedenken in den Blick nahmen, wird sich im Folgenden der britischen strafrechtlichen Ermittlungsarbeit zu den Emslandlagern gewidmet. Diese wird als Praxis im Sinne des Ausfindigmachens von Taten und Tätern, der Ahndung von »war crimes«, die mit den Emslandlagern in Verbindung gebracht wurden, sowie der Aufklärung der deutschen Öffentlichkeit gedeutet. So hat John Cramer die Berichterstattung über den ersten Bergen-Belsen Prozess als Teil der Re education bezeichnet, denn hiermit sollte »eine moralische Läuterung erzielt und
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Vgl. Peter Fibich, Gedenkstätten, Mahnmale und Ehrenfriedhöfe für die Verfolgten des Nationalsozialismus. Ihre landschaftsarchitektonische Gestaltung in Deutschland 1945–1960, Dresden 1998, S. 93. Stelzl-Marx, »Ewiger Ruhm den Helden der Roten Armee«. Skriebeleit, Erinnerungsort Flossenbürg, S. 73. Vgl. Reinhart Koselleck, Zur politischen Ikonologie des gewaltsamen Todes. Ein deutsch-französischer Vergleich, Basel 1998, S. 33–35; Kämpfer, Vom Massengrab zum Heroen-Hügel, S. 327–349.
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damit die Voraussetzung für ein neues Deutschland geschaffen werden«.95 In diesen Kontext werden die Ermittlungen zu den Emslandlagern und die drei darauffolgenden unter militärgerichtlicher Hoheit stattfindenden Prozesse eingeordnet, über die die regionale Presse ausführlich berichtete und damit die Verbrechen ins öffentliche Bewusstsein zu holen versuchte.96 Der Lagerverbund im Emsland war den britischen Ermittlern wohl bekannt, als sie im Spätsommer 1945 ihre Arbeit aufnahmen. Bereits im Jahr 1944 waren die »Moorlager« in einer Aufstellung über »Prisons, Internment and Concentration Camps« des Supreme Headquarters Allied Expeditionary Force (SHAEF) erwähnt worden.97 Einleitend wird darin auf die Schwierigkeit hingewiesen, zwischen den verschiedenen nationalsozialistischen Haftstätten zu unterscheiden, da sie vielfach in Verwaltung und Behandlung der Häftlinge Parallelen aufwiesen.98 Als am 2. September 1945 der Judge Advocat General der britischen Streitkräfte eine Ermittlungseinheit beauftragte, ging es daher darum, gesicherte Informationen über die Funktion der Emslandlager und die hier verübten Verbrechen zu erlangen. Der Fokus war auf Verbrechen gegen Angehörige der Vereinten Nationen 95
John Cramer, Der erste Bergen-Belsen-Prozess 1945 und seine Rezeption in der deutschen Öffentlichkeit. In: Jörg Osterloh/Clemens Vollnhals (Hg.), NS-Prozesse und deutsche Öffentlichkeit. Besatzungszeit, frühe Bundesrepublik und DDR, Göttingen 2011, S. 75–92, hier 77. 96 Unter dieser allgemeinen Bezeichnung wurden die Prozesse geführt, im engeren Sinn orientierte sich die Anklage aber an Völkerrechtsverbrechen entsprechend dem am 8. August 1945 beschlossenen Londoner Statut, dem »Abkommen über die Verfolgung und Bestrafung der Kriegsverbrecher«, sowie dem Kontrollratsgesetz Nr. 10 »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« vom 20.12.1945. Vgl. Arnd Bauerkämper, Das umstrittene Gedächtnis. Die Erinnerungen an Nationalsozialismus, Faschismus und Krieg in Europa seit 1945, Paderborn 2012, S. 22 sowie 111–119. 97 Supreme headquarters allied Expeditionary Force office of assistant chief of staff (SHAEF), preliminary list of concentration camps and general information on concentration camps vom 16.8.1944 (TNA, HS 6/622–630, unpag.). 98 »Definitions of KL’s: In view of the many types of detention camps it was impossible to ascertain whether a »camp of forced labor« is an »Arbeitslager« (work camp), »Zwangslager« (forcible detention camp), »Zwangsarbeitslager« (penal servitude camp) or »Zivilgefangenenlager« (detention camp for civilians) (…) An attempt has been made to specify camps which under German law are defined as Konzentrationslager. In many cases this is not possible. Straflager (punitive camps), Arbeitslager (working camps) and the types of detention camps are reported as KL’s or KZ’s, and often resemble them in administration and treatment of inmates. [...] Emsland: A group of camps with administrative headquarters at Papenburg; commonly referred to as Papenburg-Esterwegen or »Moorlager« (as general term), while a 1934/5 report knows only five, fourteen were reported in 1943; however, these camps are in operation »according to needs«, they are not all of the same type. The following have been identified (Roman numerals are official German designations): Börgermoor; Strafgefangenenlager, SA-Truppenführer Johannis, reported there 1940; Aschendorfermoor; SK-Lager with 1 700 inmates in 1940, at that time SA Stuf Sauthof; Brual-Rhede: SK-Lager; Dörpen, Walchum: Strafgefangenenlager; VII. Esterwegen; known as Moorlager, SK-Lager with 2 000 inmates in 1940, also reported as Straflager for Poles, Jews and Gypsies while Sonderlager for soldiers was only attached.« Supreme headquarters allied Expeditionary Force office of assistant chief of staff (SHAEF), preliminary list of concentration camps and general information on concentration camps vom 16.8.1944 (TNA, HS 6/622–630, unpag.).
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gerichtet, weshalb die folgend überblicksartig vorzustellenden Ermittlungsergebnisse keine vollständige Bestandsaufnahme aller in den Emslandlagern verübten Verbrechen darstellen.99 Die Untersuchungen erstreckten sich zeitlich über zwei Jahre und räumlich über Großbritannien, Deutschland, Polen, die Tschechoslowakei, Holland, Belgien und Frankreich. Im Rahmen der Ermittlungen wurden an die 900 Zeugen vernommen und 400 Aussagen in die Ermittlungen aufgenommen, die sowohl von ehemaligen Gefangenen als auch potenziellen Angeklagten stammten.100 Zunächst wurde ein Mitarbeiter der Ermittlungseinheit mit der Suche nach schriftlichen Zeugnissen aus der Lagerzeit beauftragt. Überall im Emsland verstreut – auf Dachböden, Kellern, in vergrabenen Kisten – wurden insgesamt zwölf Tonnen Dokumente gefunden, die von der Lagerverwaltung stammten und in Privathaushalten versteckt worden waren.101 Die Originaldokumente wurden gesichtet und evaluiert. Eine Tonne relevantes Beweismaterial wurde ausgewählt. Da der Fokus auf Verbrechen gerichtet war, die von Deutschen an Bürgern der Vereinten Nationen verübt wurden, stand der Zeitraum zwischen 1941 und 1945 im Mittelpunkt der Ermittlungen. Nur marginal berücksichtigt wurde das Arbeitskommando Nord, Norwegen, das der »Organisation Todt« unterstand, da auch hier vornehmlich Deutsche zur Zwangsarbeit eingesetzt gewesen waren. Die Ahndung der Räumung der Lager sowie das Endphaseverbrechen im Lager Aschendorfermoor II, der »Herold Case«, nahmen eigene Ermittlungsteile ein.102 Die ersten Zeugenbefragungen begannen im Oktober 1945 durch die »War Crimes Interrogation Unit«103 unter der Leitung von Major Theodore Xenophon Henry (T. X. H.) Pantcheff als Mitarbeiter des militärischen Geheimdienstes.104 Mithilfe vorläufiger Täterlisten, die Ergebnis von Zeugenbefragungen waren, setzte die Ermittlungseinheit ihre Arbeit ab Dezember 1945 in POW-Camps (Prisoners of War) in Deutschland und Belgien fort. Im Januar 1946 reiste die Einheit ins Emsland, da hier zum einen viele der ehemaligen Wachleute und Verwaltungsangestellten unbehelligt lebten. Zum anderen waren aber auch einige der Lagerverantwortlichen von den Alliierten festgenommen und im Civil 99 Vgl. Introduction, The Emsland Case (Report), o. D. (1946), S. 2 (TNA, WO 208/4297). 100 Vgl. ebd. 101 Vgl. Major T. X. H. Pantcheff an Lt. Col. A.P. Scotland, O.B.E. Comprehensive Report on ›Operation Emsland‹ vom 12.4.1947, S. 1 (TNA, WO 311/247). 102 Introduction, The Emsland Case (Report), o. D. (1946), S. 2 (TNA, WO 208/4297). 103 Major T. X. H. Pantcheff an Lt. Col. A.P. Scotland, O.B.E., Comprehensive Report on ›Operation Emsland‹ vom 12.4.1947, S. 1 (TNA, WO 311/247). 104 Vgl. Karola Fings, Krieg, Gesellschaft und KZ: Himmlers SS-Baubrigaden, Paderborn 2005, S. 20. Pantcheff veröffentlichte in den 1980er-Jahren zwei Dokumentationen, einerseits über die deutsche Besatzungszeit auf Alderney und andererseits über das sog. Herold-Massaker. Vgl. ders., Der Henker vom Emsland. Willi Herold, 19 Jahre alt. Ein deutsches Lehrstück, Köln 1987; ders., Alderney Fortress Island – The Germans in Alderney, 1940–1945, Chichester 1981.
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Internment Camp No. 101 Esterwegen interniert worden. Pantcheff beschreibt die Suche nach ehemaligem Verwaltungs- und Wachpersonal in seinem Ermittlungsbericht als »the big man-hunt«: »No interest was aroused by our quiet entry into the Emsland, where perhaps a majority of our potential accused were known to be normally resident. A week was spent in inconspicuous reconnaissance and liaison with the local British Authorities, lists of names and addresses were prepared and at 6:30 one Sunday morning the entire Police Force of the District was turned out to effect simultaneous arrests. The haul was considerable. Potential accused were interrogated in situ.« 105
Nach den Verhaftungen von Verdächtigen wurden zwei Mitarbeiter der Einheit damit beauftragt, die Suche nach Tätern in der gesamten britischen, amerikanischen und französischen Zone fortzusetzen. Im März 1946 kehrten die Ermittler mit den gesammelten Zeugenaussagen nach London zurück. Auch wurden einige der Beschuldigten nach London gebracht, um dort nochmals befragt zu werden.106 Hieraus entstand ein 153-seitiger Zwischenbericht, »The Emsland Case«, der das bis dahin gesammelte Beweismaterial zusammenfasste.107 Darin wurde unter anderem die Strafpraxis in den Lagern im Emsland vor dem Hintergrund der deutschen Strafvollzugsordnung von 1940 vergleichend betrachtet.108 Eindeutig wurde nachgewiesen, dass die Strafpraxis in den Emslandlagern selbst nach damaliger repressiver Strafvollzugsordnung von 1940 de facto einen Rechtsbruch darstellte. So war beispielsweise laut § 173 der Strafvollzugsordnung keine Bestrafung entflohener Häftlinge seitens des Wachpersonals vorgesehen. In den Emslandlagern jedoch erwarteten diese Menschen hohe Strafen oder aber sie wurden »auf der Flucht erschossen«, wie der gezielte Mord verschleiert wurde – unterstützt wurde diese Form des Mordes durch ein Prämienvergabesystem.109 Darüber hinaus kamen die britischen Ermittler zu dem Ergebnis, dass der Lagerkommandant der Strafgefangenenlager (1934–1942) Schäfer in Form von Kommandanturbefehlen und mit Billigung des Justizministeriums Modifikationen der Strafvollzugsordnung vorgenommen hatte.110 Hierzu gehörten 105 Major T. X. H. Pantcheff an Lt. Col. A.P. Scotland, O. B. E., Comprehensive Report on ›Operation Emsland‹ vom 12.4.1947, S. 1 (TNA, WO 311/247). 106 Ebd, S. 1 f. 107 Im ersten Teil wurde eine systematische Übersicht über die Entwicklung und Verwaltung der Lager präsentiert. Unter insgesamt neun Punkten wurden folgende Inhalte behandelt: 1. die Entstehung der Lager, 2. die Verwaltung sowie die Wachmannschaften, 3. die Inhaftierten, 4. die medizinische Versorgung und Todesfälle, 5. Verpflegung und Kleidung, 6. Arbeitseinsätze, 7. Disziplinargewalt und -methoden, 8. Dienstgrade und Uniformen des Lagerpersonals, 9. Auflösung der Lager. Vgl. Contents, Part I Background – Historical and Administrative, The Emsland Case (Report), o. D. (1946), S. 1 (TNA, WO 208/4297). 108 Vgl. Contents, Part II, Legal Background and General Responsibilities, The Emsland Case (Report), o. D. (1946), S. 1 (TNA, WO 208/4297). 109 Vgl. Section K, The Instructions for the Conduct of the Penal Camps Emsland, The Emsland Case (Report), o. D. (1946), S. 19 (TNA, WO 208/4297). 110 Vgl. Kosthorst/Walter, Konzentrations- und Strafgefangenenlager im Dritten Reich, Band 2, S. 2342.
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nordnungen zur Verschärfung von Disziplinierungs- und BestrafungsmaßnahA men in den Lagern: so die Einrichtung von Einzel-, Dunkel- und »Beruhigungszellen« und einer »Erziehungsbaracke«. Auch der eigenmächtige Gebrauch von Waffen, wie Gummiknüppeln, Gewehrkolben und Lederriemen, wurde von Schäfer legitimiert, wenn er dazu diente, Widerstand zu brechen – laut Ermittlungsbericht eine sehr dehnbare Begründung für die Misshandlung von Gefangenen.111 Die britischen Ermittler hielten in ihrer abschließenden Analyse fest, dass die Strafvollzugspraxis in den Emslandlagern, die durch die speziellen Anordnungen Schäfers verschärft worden war, einen alltäglichen Rechtsbruch darstellte. Hier wurde laut Ermittlungsbericht systematisch Gewalt ausgeübt, die zu einem moralischen Verfall unter dem Wachpersonal und den Gefangenen führte.112 Diese Ermittlungsergebnisse, die den rechtmäßigen Charakter der unter dem Justizministerium stehenden Strafgefangenenlager eindeutig widerlegten, sollten nun auch im Rahmen der Strafverfahren an die Öffentlichkeit getragen werden. Da die meisten Verbrechen in den Emslandlagern von Deutschen gegen deutsche Häftlinge verübt worden waren, wurde im Mai 1946 die Verantwortung für die zukünftigen Prozesse von dem britischen Militärgericht der Streitkräfte (J. A. G.) auf die Legal Division der britischen Militärverwaltung übertragen. Hierdurch wurde bereits die Übertragung des Gerichtswesens auf deutsche Gerichte vorbereitet und zudem konnte sichergestellt werden, dass zukünftige Verfahren vor dem Oldenburger Oberlandesgericht im Sinne der Militärverwaltung geführt würden.113 Darüber hinaus war entschieden worden, dass »Schlüsselverfahren« vor Gerichten der Militärverwaltung unter Vorstand britischer Richter stattfänden. Zu solchen Schlüsselverfahren zählten das Strafverfahren gegen die Täter des Endphaseverbrechens im Lager Aschendorfermoor sowie die Wachmannschaften des Lagers Esterwegen, die an Verbrechen an NN-Häftlingen beteiligt gewesen waren. Anhand dieser Strafverfahren wird deutlich, dass vor den britischen Militärgerichten »nur völkerrechtlich relevante« Prozesse wegen Verbrechen an Angehörigen der Vereinten Nationen geführt wurden. Deutsche Gerichte hingegen waren zukünftig für die Ahndung von Taten gegen Deutsche und Staatenlose zuständig.114 111 Eine Erweiterung der Strafvollzugsordnung stellte laut Bericht auch die Einrichtung einer der KZ-Häftlingsselbstverwaltung ähnlichen Gefangenenselbstverwaltung dar, die der besseren Kontrolle sowie Machtausübung diente. Vgl. Section L, The Infringements of the ›Regulations‹ in the Penal Camps Emsland, The Emsland Case (Report), o. D. (1946), S. 22 (TNA, WO 208/4297). 112 Vgl. ebd., S. 47. 113 Vgl. Major T. X. H. Pantcheff an Lt. Col. A. P. Scotland, O. B. E., Comprehensive Report on ›Operation Emsland‹ vom 12.4.1947, S. 2 (TNA, WO 311/247). 114 Vgl. Control Commission Court Case Record, in the Court of Oldenburg (TNA, FO 1060/4144); Edith Raim, NS-Prozesse und Öffentlichkeit. Die Strafverfolgung von NS-Verbrechen durch die deutsche Justiz in den westlichen Besatzungszonen 1945–1949. In: Osterloh/Vollnhals (Hg.), NS-Prozesse und deutsche Öffentlichkeit, S. 33–52, hier 36.
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Der erste große Prozess, der im Zusammenhang mit den Emslandlagern stand, fand zwischen dem 13. und 29. August 1946 im Augusteum in Oldenburg gegen 15 Männer statt, die an dem Massaker im Lager Aschendorfermoor im April 1945 beteiligt gewesen waren. Des Mordes und Verbrechens gegen die Menschlichkeit wurden zwölf Männer angeklagt, von denen fünf vom Mord freigesprochen wurden. Einer der sieben Verurteilten wurde vor Vollstreckung der Todesstrafe begnadigt, die restlichen sechs Männer, unter ihnen Herold, wurden am 14. November 1946 per Guillotine in der Strafanstalt Wolfenbüttel hingerichtet.115 Aufgrund der besonderen Brutalität des Verbrechens, des sich willkürlich noch zum Kriegsende bahnbrechenden Gewaltexzesses, der überdies von einem sich als Hauptmann verkleidenden 19-Jährigen (Herold) ausgelöst worden war, wurde in der Presse ausführlich über den Prozess berichtet. Wenngleich im Mittelpunkt Herold und seine »Köpenickiade« stand, wurde doch die Öffentlichkeit auch darüber informiert, dass ohne die »Fahrlässigkeit«, mit denen »die oberen Stellen Herold Vollmacht erteilt« hatten, ein solches Verbrechen nicht hätte verübt werden können.116 »Die Hölle Esterwegen Süd«,117 »83 Tote klagen an«118 und »›Heilmethoden‹ mit Todesfolge«119 – so wurden die Artikel über ein Verfahren gegen elf Angehörige der Wachmannschaften des Strafgefangenenlagers Esterwegen betitelt. Bei dem Prozess, der zwischen dem 15. Januar und dem 22. März 1947 wegen Verbrechen gegen Nacht-und-Nebel-Gefangene in Oldenburg geführt wurde, schilderten 23 Mitglieder des belgischen und französischen Widerstandes, denen in der Presse eine besondere Glaubhaftigkeit attestiert wurde, die brutalen Misshandlungen sowie Misshandlungen mit Todesfolge durch die Wachmannschaften.120 Sie machten vor Gericht ausführliche Angaben zu den neun auf der Anklagebank sitzenden ehemaligen Wachleuten. Insbesondere Ludwig Hartwich, erster Platzmeister des Südlagers, sowie Karl Nadler, Verwalter des Krankenreviers, wurden dabei schwer belastet.121
115 Das Gericht unter dem Vorsitz von Colonel Herbert Bown setzte sich aus fünf Offizieren zusammen, die Anklage vertrat Major M. Evelyn. Vgl. Major T. X. H. Pantcheff an Lt. Col. A. P. Scotland, O. B. E., Comprehensive Report on ›Operation Emsland‹ vom 12.4.1947, S. 3 (TNA, WO 311/247). 116 O. V., Herold für Massenmorde verantwortlich. Ankläger und Verteidiger kamen zu Wort. In: Osnabrücker Rundschau vom 30.8.1946, S. 4. 117 O. V., Die Hölle Esterwegen Süd. In: Nordwest-Zeitung vom 17.1.1947, S. 2. 118 O. V., 83 Tote klagen an. Schwer belastende Aussagen im Emsland-Prozeß. In: ebd. vom 24.1.1947, S. 3. 119 O. V., »Heilmethoden« mit Todesfolge. Die Aussagen der ersten Zeugen im Kriegsverbrecherprozeß. In: ebd. vom 21.1.1947, S. 2. 120 Vgl. o. V., Die Hölle Esterwegen Süd. In: ebd. vom 17.1.1947, S. 2. 121 Vgl. Edmond Blauwers, Emsland War Crimes Trial (Esterwegen), o. D. (1947), S. 613 (TNA, FO 1060/2024, Vol. 2).
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So gab Edmond Blauwers, ein belgischer Widerstandskämpfer, an, dass Nadler Kranke und Verletzte, die ihn um medikamentöse Versorgung baten, willkürlich misshandelt und gedemütigt hatte.122 Darüber hinaus belastete Clement Dupont, Mitglied der belgischen Geheimarmee und seit dem 7. Juli 1943 Gefangener im Südlager Esterwegen, Hartwich schwer. Nachdem er beim Stehlen von Karottenund Kartoffelschalen erwischt worden war, hatte Hartwich Dupont so stark mit Faustschlägen und Fußtritten malträtiert, dass er zwei Zähne verlor und für längere Zeit bewusstlos war.123 Derartige Aussagen wurden von der »Nordwest-Zeitung« (NWZ) in ihre Artikel aufgenommen. Wortwörtlich wurde beispielsweise der Belastungszeuge Abbé Foidure wiedergegeben: »Ein Kamerad, ein belgischer Kapitän, zwei Meter lang, war durch die geringen Lebensmittelrationen so weit heruntergekommen, dass er im Hungerdelirium Fliegen gegessen und Urin getrunken hat.«124 Drei der Angeklagten in diesem Prozess wurden freigesprochen, da gegen sie kein »Prima-facie-Beweis« – Anscheinsbeweis – vorlag.125 Zwei ehemalige Wachleute, unter ihnen Nadler, wurden wegen Mordes zum Tode verurteilt.126 Hartwich erhielt eine Freiheitsstrafe von 15 Jahren.127 Ein letzter während der Besatzungszeit stattfindender Prozess, der medial stark wahrgenommen wurde, war ein im September 1948 vor dem Schwurgericht in Oldenburg beginnendes Verfahren gegen 14 Angehörige des ehemaligen Aufsichts- und Wachpersonals der sieben emsländischen Strafgefangenenlager.128 In der Berichterstattung war von »KZ-Methoden in den Emslandlagern« und »gröbsten Missständen« die Rede, wie die »primitiven wie im höchsten Maße menschenunwürdigen Methoden der Krankenbehandlung und -betreuung, der Einsatz von Mitgefangenen als Funktionäre im Barackenordnungsdienst und der durch diese ausgeübte Terror«.129 Das Urteil vom 14. September 1948 fiel dagegen milde aus und spiegelt den Übergang vom britischen Militärgerichts- zum
122 Vgl. ebd., S. 615. 123 Vgl. Clement Dupont, Emsland War Crimes Trial (Esterwegen), o. D. (1947), S. 633 (TNA, FO 1060/2024, Vol. 2). 124 O. V., 83 Tote klagen an. Schwer belastende Aussagen im Emsland-Prozeß. In: Nordwest-Zeitung vom 24.1.1947, S. 3. 125 Entsprechend dem Kontrollratsgesetz Nr. 10 Artikel 2b, Kriegsverbrechen standen dabei Angeklagte vor Gericht, denen Misshandlungen von alliierten Staatsangehörigen mit Todesfolge vorgeworfen wurden. Vgl. Major T. X. H. Pantcheff an Lt. Col. A. P. Scotland, O. B. E., Comprehensive Report on ›Operation Emsland‹ vom 12.4.1947 (TNA, WO 311/247), S. 3. 126 Vgl. Gericht der Militärregierung, Einlieferungsbefehl für Karl Nadler in das Gefängnis Oldenburg vom 22.3.1947 (TNA, FO 1060/4144, Bl. 72). 127 Vgl. Gericht der Militärregierung, Einlieferungsbefehle in das Gefängnis Oldenburg vom 22.3.1947 (TNA, FO 1060/4144, Bl. 71–76). 128 Vgl. o. V., Der erste Emslandlager-Prozeß. In: Nordwest-Zeitung vom 31.7.1948, S. 3. 129 O. V., KZ-Methoden in den Emslandlagern. In: ebd. vom 18.9.1948.
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deutschen Gerichtswesen wider. Zwei der Angeklagten erhielten wegen einfacher und gefährlicher Körperverletzung fünf bzw. vier Monate, zwei Angeklagte wegen Körperverletzung drei Monate Freiheitsstrafe. Vier der Angeklagten wurden freigesprochen.130 Laut Pantcheffs Abschlussbericht vom 12. April 1947 war noch ein Prozess gegen Schäfer geplant, ein Gerichtsverfahren, das jedoch unter britischer Hoheit nicht mehr eröffnet wurde.131 Zusammenfassend ist zu konstatieren, dass bereits die britischen Ermittlungen den unrechtmäßigen Charakter, die von Willkür und Gewalt dominierte Haftpraxis, die selbst nach damaliger Strafvollzugsordnung einen Rechtsbruch darstellte, betonten.132 Solche Ermittlungsergebnisse wurden im Rahmen der Berichterstattung über die Strafverfahren zwischen 1946 und 1948 gezielt an die Öffentlichkeit getragen. Angesichts des außergewöhnlichen Falls, der mit dem sich als Hauptmann ausgebenden jungen Herold vorlag, nahm dieser zwar eine gesonderte Rolle in der Presse ein. Herold erschien dabei jedoch nicht als Einzeltäter, sondern es wurden auch die Strukturen benannt, die seine Tat erst möglich gemacht hatten. Ebenfalls kamen in der Presseberichterstattung die Opfer zu Wort. Ihre Schilderungen wurden teils wortwörtlich wiedergegeben und die Öffentlichkeit so mit den Erfahrungen der ehemaligen Gefangenen konfrontiert. Darüber hinaus wurde durch die Strafverfahren gegen Justizbeamte vergegenwärtigt, dass nicht nur die SS für die Massenverbrechen verantwortlich war, sondern dass ebenso staatliche Einrichtungen, wie beispielsweise das Gefängniswesen, Teil des Unterdrückungssystems waren – eindeutig war in der Berichterstattung von »KZ-Methoden« in den Strafgefangenenlagern im Emsland die Rede, eine Deutung, die im Laufe der 1950er-Jahre verwässerte und erst in den 1960er-Jahren langsam ins öffentliche Bewusstsein zurückkehrte.
130 Vgl. o. V., Das Urteil im Emslandlager-Prozess. In: ebd. vom 18.9.1948, S. 3. 131 Vgl. Major T. X. H. Pantcheff an Lt. Col. A. P. Scotland, O.B.E., Comprehensive Report on ›Operation Emsland‹ vom 12.4.1947, S. 3 (TNA WO 311/247). Schäfer wurde im September 1945 von der britischen Militärregierung festgenommen und interniert. Am 13. August 1946 war er als Zeuge für die SA beim Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess geladen, saß aber nicht auf der Anklagebank. Im März 1949 wurde Schäfer freigelassen, aber kurz darauf wieder von deutschen Behörden festgenommen und im Jahr 1950 ein Verfahren gegen ihn eröffnet. Vgl. Sebastian Weitkamp, Zwischen SA und Justiz – Die Verfahren gegen SA-Oberführer und Regierungsdirektor Werner Schäfer 1938 und 1950. In: Albrecht Pohle/Martin Stupperich/Wilfried Wiedemann (Hg.), NS-Justiz und Nachkriegsjustiz. Beiträge für Schule und Bildungsarbeit, Schwalbach a. Ts. 2014, S. 149–171, hier 159–164. 132 Vgl. Wachsmann, Gefangen unter Hitler, S. 58–68.
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Strafpädagogische Maßnahmen im Februar 1946
Zu den einleitend erwähnten forced confrontations zählten die angeordneten Exhumierungen und Bestattungen von ermordeten NS-Verfolgten durch die deutsche Zivilbevölkerung oder ehemalige Wachmannschaften von NS-Zwangslagern, die sich in der britischen und US-amerikanischen Besatzungszone zum festen Ritualbestand entwickelten.133 Die als Sühnebegräbnisse in die Forschungsliteratur eingegangenen Ausbettungen und Bestattungen hatten Dagmar Barnouw zufolge die Funktion, den Deutschen in den ersten Nachkriegsmonaten ihre bzw. die von ihnen geduldeten Verbrechen zu vergegenwärtigen, einzuprägen und eine Einsicht zu bewirken, damit sich derartige Verbrechen in der Zukunft nicht wiederholten. Sie waren Teil der frühen Reeducation.134 Ein derartiges Sühnebegräbnis fand im Emsland im Februar 1946 statt und damit zu einem relativ späten Zeitpunkt. Diese zeitliche Verzögerung erklärt sich daraus, dass die Exhumierung im Zusammenhang mit den strafrechtlichen Ermittlungen zum Endphaseverbrechen im Lager Aschendorfermoor stattfand. Um die Opferzahlen und den Tathergang zu rekonstruieren, mussten die Beschuldigten die Tatorte aufzeigen und die Gebeine bergen. Zugleich waren politisch Belastete aus dem nördlichen Emsland verpflichtet worden, bei den Ausbettungen der Gebeine und der anschließenden Bestattung anwesend zu sein – und sie wurden dabei fotografiert.135 Die Vorbereitung der Exhumierung der Opfer des Endphaseverbrechens traf Major Pantcheff zusammen mit Major A. E. Lock, dem »Public Safety Officer, der für den Kreis Aschendorf-Hümmling zuständigen Dienststelle der britischen Militärregierung«136 (225 Mil.Gov.Det.). Das zusammengestellte Exhumierungs133 Vgl. Soeffner, Symbolische Formung, S. 37 f. 134 Barnouw schreibt dazu: »Den Deutschen sollte mit diesem Ritual eingeprägt werden, dass sie sich nicht einfach abwenden dürften, sondern dass sie ansehen, anfassen, in ihren eigenen sakralen Raum einlassen mussten, was die Nazis – mit ihrer Hilfe – so brutal ausgegrenzt hatten und was nun als die grausigste, fremdeste Last zu ihnen zurückkam.« Barnouw, Ansichten von Deutschland, S. 88–90; vgl. auch Jörg Skriebeleit, Exhumierungen und Erinnerungen. Paradigmenwechsel im Umgang mit Gräbern von Todesmarschopfern: Das Beispiel Pleystein. In: Blondel/Urban/Schönemann (Hg.), Freilegungen. Auf den Spuren der Todesmärsche, S. 314–327, hier 315 f. 135 Die zwei wichtigsten Quellen zu den am 1.2.1946 stattfindenden Aus- und Umbettungen stammen vom damaligen Leiter der militärischen Ermittlungseinheit Pantcheff. Zum einen erstellte er einen Bericht, der als Beweismittel für den im August 1946 beginnenden Prozess gegen die an dem Endphaseverbrechen Beteiligten diente und der Aufnahmen der Exhumierung enthält. Zum anderen veröffentlichte er im Jahr 1987 ein Buch unter dem Titel »Der Henker vom Emsland«, in dem er seine Erinnerungen an die damalige Ermittlung festhielt. Vgl. T. X. H. Pantcheff, Der Henker vom Emsland. Willi Herold, 19 Jahre alt. Ein deutsches Lehrstück, Köln 1987, die zweite Auflage erschien unter demselben Titel, aber mit geändertem Untertitel: ders., Der Henker vom Emsland. Dokumentation einer Barbarei am Ende des Krieges, Leer 1995. 136 Pantcheff, Der Henker vom Emsland. Dokumentation, S. 95.
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kommando bestand aus 50 Insassen des Internierungslagers Nr. 101 Esterwegen und setzte sich sowohl aus ehemaligem Wachpersonal der emsländischen Strafgefangenenlager zusammen als auch aus Männern, die an dem Endphaseverbrechen beteiligt gewesen waren, unter ihnen Herold. Die Bewachung des Exhumierungskommandos leisteten Angehörige der polnischen und kanadischen Besatzungstruppen.137 Auf Initiative von Pantcheff und Lock forderte am 30. Januar 1946 eine Bekanntmachung des Landrates des Kreises Aschendorf-Hümmling »alle Parteimitglieder der NSDAP, Mitglieder der SS, Mitglieder der SA von Papenburg und Aschendorf« auf, sich »am Freitag, dem 1. Februar 1946, morgens um 9:30 Uhr beim Lager II, Aschendorfermoor, einzufinden«.138 Bei den an diesem Tag stattfindenden Ausbettungen waren dann über hundert NS-Belastete anwesend. Bevor die Grabungen begannen, mussten Herold und Gerhard Setzer, der ehemalige Vorsteher des Lagers Aschendorfermoor, die mutmaßlichen Grablagen zeigen. Die Stellen, an denen Leichen verscharrt worden waren, wurden markiert und 195 Gebeine nach und nach geborgen.139 Da bereits Ende April 1945 polnische Truppenangehörige nach ihrem Eintreffen im zerstörten Lager Aschendorfermoor einige der Toten bestattet hatten, war eine genaue Zuordnung der Todesursache – ob durch die Massenerschießungen oder den Luftangriff, bei dem die Gefangenen im Lager eingesperrt worden waren – jedoch nicht mehr möglich.140 Während der Exhumierung liefen die politisch Belasteten stetig um die ausgehobene Grube. Dies hatte laut Pantcheff den Zweck, dass niemand der Anwesenden später die Zeugnisse der Verbrechen anzweifeln oder als antideutsche Propaganda abtun konnte. Darüber hinaus wurde sowohl die Exhumierung als auch die Augenzeugenschaft fotografisch dokumentiert.141 Wie Dagmar Barnouw ausführt, diente die Evidenz der Bilder zum einen der Reeducation 137 Vgl. Jan Rydel, Die polnische Besatzung im Emsland 1945–1948, Osnabrück 2003, S. 247 f. 138 Zit. nach Pantcheff (1995), Der Henker vom Emsland, S. 99. Dass regionale Vertreter der Militärregierung solche Anordnungen ohne Weisung höherer Dienststellen trafen, war keine Seltenheit. Marcuse gibt an, dass auch in der amerikanischen Zone die Befehlshaber regionaler Militärregierungen die lokale Bevölkerung meist spontan und ohne Rücksprache mit übergeordneten Stellen zu solchen Ortsbegehungen oder Beerdigungsarbeiten verpflichteten, diese aber ausdrücklich von den Befehlshabern der Westalliierten befürwortet wurden. Den entscheidenden Anstoß hatte hierbei der Besuch des Buchenwald-Außenlagers Ohrdruf durch General Eisenhower gegeben. Zunächst waren von Eisenhower US-amerikanische Truppenangehörige aufgefordert worden, die Lager zu besichtigen und sich ein Bild von der deutschen Barbarei zu machen. Dieses Verfahren wurde bald auf die deutsche Bevölkerung aus der Umgebung der Orte der Verbrechen übertragen. Vgl. Marcuse, Legacies of Dachau, S. 56; Weckel, Beschämende Bilder, S. 48. 139 Vgl. T. X. H. Pantcheff, The Herold-Case, Record of proceedings of exhumation at Penal Camp II Aschendorfer Moor on 1 Feb 1946 vom 15.3.1946 (TNA, WO 208/5013), S. 45. 140 Vgl. ebd. 141 Vgl. Barnouw, Ansichten von Deutschland, S. 64.
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und zum anderen als wichtiges Beweismaterial. Übergeordnetes Ziel der forced confrontation war im Emsland, wie andernorts auch, bei den Beteiligten Gefühle von Scham und Reue hervorzurufen.142 Diese Sühnepraxis der »viewing the atrocities« sollte schmerzhaft sein und sich gerade durch den Schmerz ins Gedächtnis einprägen – eine rituelle Handlung, die Maciejewski in Anlehnung an Friedrich Nietzsche als »grausames Gedächtnismachen« bezeichnet.143 Über die innerlichen Reaktionen der Anwesenden lassen sich keine genauen Rückschlüsse ziehen, da die Gesichter auf den Fotos nur schemenhaft zu erkennen sind. Deutlich wird jedoch, dass die Zuschauerinnen und Zuschauer den Blick senkten und sich sowohl von den Kameras als auch den Leichen abwandten. Pantcheff notierte hinsichtlich der Reaktionen, dass die Männer und Frauen mehrere Stunden teilnahmslos ihre Runden liefen und bis auf wenige Ausnahmen keine Gefühlsregungen zeigten. Nur eine junge Frau habe im Laufe des Tages angefangen zu weinen, sei aber durch ihre Mutter mit einem Schlag ins Gesicht zur Räson gebracht worden. Auch die Mitglieder des Exhumierungskommandos scheinen eher stoisch ihre Arbeit verrichtet zu haben. Sie wenden sich von der Kamera ab, oder blicken während der Ausbettung nach unten, nur Herold schaut auf einem Bild direkt in die Kamera und scheint dabei zu lächeln. Trauer und Bestürzung zeigten laut Pantcheff allein die polnischen Truppenangehörigen, insbesondere wenn sie polnische Erkennungsmarken an den Toten entdeckten.144 Dass sichtbare Reaktionen wie Reue oder Trauer bei den Angehörigen des Exhumierungskommandos sowie den Zusehenden ausblieben, deckt sich mit den Beobachtungen von erzwungenen Ortsbegehungen an anderen Orten. So konstatiert Barnouw, dass Gefühle wie Reue und Scham eine Identifikation mit den Opfern vorausgesetzt hätten.145 Auf den Anblick der stark verwesten Leichen, die kaum mehr individuelle Züge aufwiesen, reagierten die Anwesenden in der Mehrzahl jedoch mit Abwehr. Sie empfanden die Konfrontation als ungerechte Strafe für ein Verbrechen, für das sie aus ihrer Sicht keine Verantwortung trugen.146 Nachdem 195 Leichen geborgen worden waren, wurden die Gebeine in drei Sammelgräbern bestattet, die sich in der Nähe des ursprünglichen Erschießungsgrabens befanden, und es fand eine feierliche Beerdigung statt. Anders als bei den sowjetischen Ehrenbegräbnissen handelte es sich hierbei um eine 142 143 144 145 146
Vgl. ebd., S. 53–119. Maciejewski, Trauer ohne Riten, S. 255. Vgl. Pantcheff, Der Henker vom Emsland. Dokumentation, S. 100–102. Vgl. Barnouw, Ansichten aus Deutschland, S. 79. Ähnlich äußert sich Skriebeleit, der am Beispiel der Errichtung des Friedhofs in Pleystein für die Todesmarschopfer erklärt, dass die »erzwungene Trauergemeinschaft« ihre Beteiligung am Anlegen der Grabstätte als Willkür der Besatzer empfand. Aus lokaler Perspektive sei ihnen »die Schuld für den gewaltsamen Tod dieser KZ-Häftlinge sowie zugleich die Verantwortung für ihre sterblichen Überreste aufgebürdet worden«. Skriebeleit, Erinnerungsort Flossenbürg, S. 321.
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Abb. 1: Zuschauende bei der Exhumierung der Opfer des Endphaseverbrechens im Lager II Aschendorfermoor am 1.2.1946; Quelle: NLA OS, Slg 50 Nr. 232.
Abb. 2: Exhumierungskommando bei der Exhumierung der Opfer des Endphaseverbrechens im Lager II Aschendorfermoor am 1.2.1946; Quelle: NLA OS, Slg 50 Nr. 232.
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religiöse Totenehrung: Ein protestantischer und ein katholischer Militärpfarrer hielten an den Sammelgräbern, die mit einem Holzkreuz markiert worden waren, einen Gottesdienst ab.147 Daran nahmen die vier britischen Offiziere der Ermittlungseinheit, die kanadischen und polnischen Truppenangehörigen, das Exhumierungskommando sowie die Zuschauerinnen und Zuschauer aus den umliegenden Ortschaften teil.148 In der Exhumierung der Opfer des Endphaseverbrechens und ihrer Bestattung ist der von Skriebeleit analysierte Symbolbestand aus »Bewahren, Gedenken, Ahnden und Erziehen« abschließend und verdichtet zu beschreiben. Vor dem Hintergrund strafrechtlicher Ermittlungen und in Vorbereitung des Prozesses gegen die Hauptangeklagten diente die Exhumierung der Gebeine der forensischen Untersuchung, der Zählung der Opferzahlen und der Rekonstruktion des Tathergangs.149 Die Bestattung und das Begräbnis dienten außerdem dazu, das Andenken an die Toten zu bewahren. Darüber hinaus waren Exhumierung und angeordnete Augenzeugenschaft ein Mittel der Strafe, denn sie konfrontierten die Tatbeteiligten sowie die Lokalbevölkerung mit den Verbrechen. Eine von der britischen Ermittlungseinheit beabsichtigte Einsicht wurde aber im Emsland ebenso wie an anderen Orten nicht erreicht. Insbesondere Personen aus der Lokalbevölkerung mögen sich als Opfer einer ungerechten Kollektivstrafe wahrgenommen haben, wie das Beispiel der über den Gefühlsausdruck ihrer Tochter erbosten Frau andeutet.
2.
(Um-)Deutungen der jüngsten Vergangenheit
Für die überlebenden Gefangenen der Emslandlager bedeutete das Eintreffen der polnischen und kanadischen Truppen ein Ende ihrer teils jahrelangen Gefangenschaft, für die Mehrheitsbevölkerung dagegen begann mit dem Vordringen der 21st Army Group und der vollständigen Einnahme der emsländischen Kreise Ende April die Besatzungszeit.150 Im Mai 1945 wurden die Lokalverwaltungen unter das 604. Detachment Military Government (MilGovDet) in Osnabrück gestellt.151 Zeitgleich waren die ehemaligen Emslandlager befreit worden.
147 Vgl. Barnouw, Ansichten aus Deutschland, S. 88. 148 Vgl. T. X. H. Pantcheff, The Herold-Case, Record of proceedings of exhumation at Penal Camp II Aschendorfer Moor on 1 Feb 1946 vom 15.3.1946, S. 45 (TNA, WO 208/5013). 149 Vgl. Marcuse, Legacies of Dachau, S. 56. 150 Vgl. »Liberation of the Camps by Polish and Canadian Troops of the 1. Canadian Army.« In: Basic Report on Emsland Group of Penal Camps 1945–1946, o. D. (1946), S. 4 (TNA, WO 208/4297). 151 Mit der Teilkapitulation, die am 4. Mai 1945 von Generaladmiral von Friedeburg unterzeichnet wurde, übernahm zunächst die Unit 812 Detachment Military Government (MilGovDet) die Dienstaufsicht über die Verwaltung der Landkreise Meppen, Lingen und Aschendorf-Hümm-
(Um-)Deutungen der jüngsten Vergangenheit
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Sie durchliefen nun in den Nachkriegsjahren verschiedene Nutzungskonzepte: angefangen von DP-Camps152 über ein Internierungslager in Esterwegen bis hin zur Wiedereröffnung von Justizstrafanstalten.153 Marcuse und Skriebeleit haben am Beispiel Dachau und Flossenbürg nachgewiesen, dass nach der Öffnung der Lagertore, der Besetzung der Lager und der von den Alliierten angeordneten Konfrontationen die lokalen Anwohner ihr Verhältnis zu den Lagern umdeuteten und sich in zweierlei Richtung entlasteten.154 Marcuse zeigt dies an einer Rede des Bürgermeisters von Dachau, die dieser anlässlich einer Gedenkfeierlichkeit am 9. November 1945 hielt und in der er versuchte, die Unschuld der Stadt zu verteidigen. Dachau sei demnach Opfer des nationalsozialistischen Schreckens geworden, die Lokalbevölkerung wusste nicht, was in dem Lager vor sich ging, aber die »wahre« Stadt Dachau sei anders und habe dem Nationalsozialismus widerstanden.155 Eine weitere Strategie beobachtet Skriebeleit in den kriminalisierenden und stigmatisierenden Sichtweisen des lokalen Erinnerungsmilieus auf die im DP-Camp Flossenbürg untergebrachten polnischen DPs. Diese knüpften an Deutungsmuster an, die von der SS bis 1945 geprägt worden waren und verschmolzen mit Blick auf die DPs zu einem Bild des kriminellen »KZlers«.156 Welche Strategien bzw. Umdeutungen im Emsland nachzuweisen sind und inwiefern sich hier regionaltypische Ausprägungen zeigen, wird im Folgenden fallbeispielhaft untersucht.
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ling. Vgl. War Diary Unit 604 Mil. Gov. Det., o. D. (Mai 1945) (TNA, WO 171/8021, unpag.). Im August erfolgte die Abspaltung der lokalen Militärregierungen von den Truppenverbänden, sodass die Lokalverwaltung nun unter der Control Commission for Germany, British Element (CCG BE) stand. Damit verblieben die Kreise in den zu dieser Zeit bestehenden regionalen MilGovDet und dienten als Exekutivorgane der zentralen Militärregierung. Vgl. Lembeck, Befreit, S. 32 f. Vgl. War Diary 812 Det. Mil. Gov., 1. bis 31. May 1945, Eintrag vom 4.5.1945 (TNA, WO 171/8077, unpag.); vgl. Fesche, Kriegsende und Neubeginn, S. 9 f. Vgl. Christof Haverkamp, Die Erschließung des Emslandes im 20. Jahrhundert als Beispiel staatlicher regionaler Wirtschaftsförderung, Sögel 1991, S. 94. Vgl. Skriebeleit, Erinnerungsort Flossenbürg, S. 91–96; Jens-Christian Wagner, Das Verschwinden der Lager. Mittelbau-Dora und seine Außenlager im deutsch-deutschen Grenzbereich nach 1945. In: Habbo Knoch (Hg.), Das Erbe der Provinz. Heimatkultur und Geschichtspolitik nach 1945, Göttingen 2001, S. 171–190. Vgl. Marcuse, Legacies of Dachau, S. 73 f. Vgl. Skriebeleit, Erinnerungsort Flossenbürg, S. 91–96.
104 2.1
Mahnung und Distanzierung
»Asoziale Elemente polnischer Staatsangehörigkeit«
Nach Kriegsende befanden sich in allen vier Besatzungszonen unzählige Menschen, die infolge des Zweiten Weltkrieges ihre Herkunftsstaaten zwangsweise verlassen hatten.157 Auch im Emsland trafen zu den vielen ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern, Kriegsgefangenen und verschiedenen zivilen Gefangenengruppen Flüchtlings- und Vertriebenenströme aus Ost- und Mitteleuropa ein.158 Das nördliche Emsland verzeichnete überdies schwere Kriegsschäden. Im Landkreis Aschendorf-Hümmling waren über 50 Prozent des Wohnraumes beschädigt oder zerstört.159 Zugleich lebten neben den DPs in den ersten Nachkriegsmonaten ehemalige deutsche Gefangene der Emslandlager in der Region, die keine Bleibe mehr hatten und auf lokale Fürsorgemaßnahmen angewiesen waren. Wie sich in dieser prekären Nachkriegssituation im Emsland tendenziell kriminalisierende und stigmatisierende Sichtweisen auf ehemalige NS-Verfolgte ausbildeten und welche genaue entlastende Funktion sie hatten, ist folgend zu beschreiben. Aufgrund der akuten Wohnraumknappheit wurden die Emslandlager links der Ems als DP-Camps nachgenutzt, um von hier mit Unterstützung der UNRRA160 entsprechend den alliierten Abkommen ihre Rückführung zu organisieren.161 Mit dem Ziel einer raschen Rückführung war bei der Belegung der Lager darauf geachtet worden, die Menschen entsprechend ihren Nationalitäten in den Lagern unterzubringen.162 Die sowjetischen Kriegsgefangenen verblieben so beispielsweise im Lager Alexisdorf, erst nach ihrer Repatriierung zogen hier polnische DPs ein.163 In relativ kurzer Zeit wurden die westeuropäischen ehemaligen Gefangenen, Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen in ihre Heimat überführt. Langwieriger war die Rückführung von ehemaligen italienischen Militärinternierten, die von der britischen Besatzungsmacht als nicht vollständig rehabilitiert galten und denen weiterhin der Vorwurf der Kollaboration anhaftete. Die polnischen, 157 Zu den Displaced Persons, Zivilpersonen, die sich infolge des Zweiten Weltkrieges außerhalb ihrer Herkunftsstaaten befanden oder staatenlos geworden waren, vgl. u. a. Boehling/Urban/ Bienert (Hg.), Freilegungen. Displaced Persons; Köhn, Die Lage der Lager; Herbert Diercks (Hg.), Zwischenräume. Displaced Persons, Internierte und Flüchtlinge in ehemaligen Konzentrationslagern, Bremen 2010. Explizit zur Situation jüdischer DPs vgl. Angelika Königseder, Flucht nach Berlin. Jüdische Displaced Persons 1945–1948, Berlin 1998. 158 Zur Flüchtlingspolitik in der Nachkriegszeit im Emsland vgl. Annette Wilbers-Noetzel, Die wohnräumliche und wirtschaftliche Eingliederung der Flüchtlinge und Vertriebenen im Ems land nach 1945, Sögel 2004. 159 Vgl. Harpel, Die Emslandlager des Dritten Reichs, S. 164. 160 Vgl. Köhn, Die Lage der Lager, S. 9–11. 161 Vgl. War Diary 812 Det. Mil. Gov., 1. bis 31. May 1945, Eintrag vom 4.5.1945 (TNA, WO 171/8077, unpag.); Fesche, Kriegsende und Neubeginn, S. 9 f. 162 Vgl. Lembeck, Befreit, S. 40–42. 163 Vgl. War Diary 812 Det. Mil. Gov., 1. bis 31. May 1945, Eintrag vom 10.5.1945 (TNA, WO 171/8077, unpag.).
(Um-)Deutungen der jüngsten Vergangenheit
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ukrainischen und sowjetischen DPs machten aber seit Mai 1945 die Mehrheit im Emsland aus. Unter ihnen verweigerten viele wegen der weitreichenden Grenzverschiebungen sowie der neuen politischen Verhältnisse die Rückkehr. Aufgrund der hohen Anzahl von polnischen DPs im Emsland, es handelte sich um fast 60 000 Menschen, fiel im Mai 1945 die Entscheidung, eine polnische Sonderzone einzurichten, die sich über das nördliche Emsland sowie die heutigen Kreise Leer und Oldenburg erstreckte.164 Aus Sicht Großbritanniens hatte diese Entscheidung strategische Hintergründe, denn die polnischen Truppen der Exilregierung galten sowohl als antideutsch als auch als Verbündete gegen Stalin und damit als wichtige Bündnispartner.165 Mit Erlaubnis der britischen Militärregierung wurde die Stadt Haren zum zentralen Verwaltungssitz des polnischen Sondergebietes erklärt.166 Haren wurde dabei vollständig von Vertretern der UNRRA sowie Truppenangehörigen der Militärregierungen geräumt. Ebenfalls musste ein Teil der Bevölkerung von Meppen und Papenburg den privaten Wohnraum verlassen, in den nun polnische Besatzungsmitglieder und polnische DPs einzogen, die den gesamten Hausrat übernahmen.167 Die Polinnen und Polen wurden von der Lokalbevölkerung als Eindringlinge wahrgenommen, ähnliche Reaktionen hat Holger Köhn im Hinblick auf die amerikanische Besatzungszone untersucht und beschrieben.168 Im Falle von Haren hatte die Lokalbevölkerung jedoch nicht nur ihre Wohnungen und Häuser aufgeben müssen, die Stadt erhielt auch einen polnischen Namen: Maczków bildete nun das kulturelle und politische Zentrum der polnischen Sonderzone. Einen Monat nach der Evakuierung war in der hier h erausgegebenen Zeitung zu lesen: »Maczków ist eine Stadt wie Warschau, Poznan oder Lwow, dass sie in einem fremden Land liegt und ein wenig kleiner ist, tut nichts zur Sache.«169 Wenngleich nicht die neuen polnischen Bewohner und Bewohnerinnen selbst, sondern die UNRRA und britische sowie polnische Besatzungsmitglieder die Evakuierung organisiert hatten, schwelte in der Lokalbevölkerung angesichts solcher Vereinnahmungen der Hass gegen die Polinnen und Polen und gegen osteuropäische DPs im Allgemeinen. 164 Vgl. Elke E. Theile, Die deutsch-polnische Beziehungsgeschichte im Fokus der Erwachsenenbildung, Schwalbach a. Ts. 2017, S. 184–188. Die Geschichte dieses Nachkriegskapitels, die Nutzung der Emslandlager als DP-Camps und die Einrichtung einer polnischen Besatzungszone, ist in zwei Darstellungen aufgearbeitet worden: Lembeck, Befreit; Rydel, Die polnische Besatzung im Emsland. 165 Zu den politisch-strategischen Überlegungen vgl. CCG (BE), Poles in British Zone, Vol. I, o. D. (1945) (TNA, FO 1049/104, unpag.). 166 Vgl. War Diary 812 Det. Mil. Gov., 1. bis 31. May 1945, Eintrag vom 21.5.1945 (TNA, WO 171/8077, unpag.). 167 Vgl. Lembeck, Befreit, S. 47. 168 Köhn, Die Lage der Lager, S. 58. 169 Notes on the present situation at Haren V66, now renamed ›Maczków‹ by the Poles, Appendix A to 21AGp/17453/5/LAG vom 25.6.1945 (TNA, FO 1049/104, unpag.).
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Mahnung und Distanzierung
Als Grenzverletzung scheint ebenso die Nachnutzung der ehemaligen Straflager als DP-Camps von lokalen Akteuren wahrgenommen worden zu sein. Verwaltungsstellen wie das Staatshochbauamt Lingen, das am Aufbau der NS-Zwangslager beteiligt gewesen war, betrachteten die Barackenlager als ihr Eigentum und bezeichneten die Nachnutzung als »Beschlagnahmung«. In Korrespondenzen mit der Regionalverwaltung nach der Räumung der DP-Camps im Herbst 1948 beklagte sich das Staatshochbauamt daher, dass die Lager »in einem ziemlich verwahrlosten Zustand« von den DPs zurückgelassen worden seien.170 An anderer Stelle gab das Amt an, das ehemalige DP-Camp Wietmarschen sei »restlos ausgeschlachtet worden«.171 Solche Formulierungen lassen auf ein Bild von in den Lagern hausenden DPs schließen. Eine Sichtweise, die anschlussfähig war: Wolfgang Jacobmeyer hat bereits in den 1980er-Jahren darauf hingewiesen, dass seitens der deutschen Mehrheitsbevölkerung in der Nachkriegszeit die »Perspektive auf die DP-Kriminalität verengt« wurde.172 Auf Straftaten bezugnehmend, kursierten im Emsland wie in der gesamten britischen Zone Erzählungen von kriminellen DP-Banden. Insbesondere den polnischen, ukrainischen und baltischen DPs wurden dabei Raub, Plünderung, Mord und Schwarzmarktgeschäfte vorgeworfen, wobei öffentliche deutsche Stellen die Angst schürten. Beispielsweise sprach die Osnabrücker Polizei in Anbetracht einer geplanten Rückführung von polnischen DPs im April 1946 folgende Warnung an die Bevölkerung des Regierungsbezirkes aus: »Dem Vernehmen nach sollen am 16.4.1946 aus der hiesigen Gegend asoziale Elemente polnischer Staatsangehörigkeit, die nach Deutschland zur Zwangsarbeit gezogen waren, abgeschoben werden. Es kann angenommen werden, dass diese Personen sich bis zur Abreise an ihren Aufenthaltsorten noch in der übelsten Form durch ärgste Belästigung ihrer Umwelt betätigen.«173 Hier war von »asozialen Elementen« die Rede, die die deutsche Zivilbevölkerung belästigten – Formulierungen, die an nationalsozialistische antipolnische Klischees anknüpften, die die Zwangsarbeiter als minderwertig und die »Volksgemeinschaft« akut bedrohend deuteten.174 Doch nicht nur seitens regionaler Akteure wurde ein negatives und tendenziell bedrohliches Bild von mittel- und ost170 Staatshochbauamt Lingen, Erläuterungsbericht über Hauptinstandsetzungs- und Ergänzungsarbeiten in den Strafanstalten Emsland, Abt. Versen vom 4.10.1948 (NLA OS, Rep 660 Lin, 2001/ 024 Nr. 29, unpag.). 171 Staatshochbauamt Lingen an Regierungspräsident in Osnabrück, Betr.: Ehemaliges Strafgefangenenlager Wietmarschen (Lager XIII), Bericht über Eigentumsverhältnisse und Nachnutzung ehem. Strafgefangenenlager Wietmarschen vom 14.7.1947 (NLA OS, Rep 430 Dez 209, 61/87 Nr. 86, unpag.). 172 Wolfgang Jacobmeyer, Vom Zwangsarbeiter zum heimatlosen Ausländer. Die Displaced Persons in Westdeutschland 1945–1951, Göttingen 1985, S. 210. 173 Zit. nach Lembeck, Befreit, S. 121. 174 Vgl. Jörg Skriebeleit, Vom Stigma zum Standortfaktor. Die Gemeinde Flossenbürg und das Erbe des Konzentrationslagers. In: Knoch (Hg.), Das Erbe der Provinz, S. 191–217, hier 203.
(Um-)Deutungen der jüngsten Vergangenheit
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europäischen DPs gezeichnet, auch britische Medien verbreiteten teils Vorurteile. Der »Daily Telegraph« berichtete im Jahr 1949 über sich in kriminellen Banden organisierende osteuropäische DPs in der britischen Zone, die die deutsche Zivilbevölkerung systematisch terrorisierten.175 Eine pauschale Verurteilung, die die britische Militärregierung öffentlich zu korrigieren versuchte.176 Denn wenngleich die Kriminalitätsrate unter den DPs in den ersten zwei Nachkriegsjahren im Vergleich zur deutschen Bevölkerung hoch war, handelte es sich doch insbesondere seit dem Jahr 1947 bei den Delikten vornehmlich um Schwarzmarktgeschäfte und zu einem geringeren Teil um Diebstahl. Im Emsland waren außerdem im Vergleich zu anderen Regionen Gewaltverbrechen oder Racheakte an der Zivilbevölkerung selten. Vielmehr charakterisiert Andreas Lembeck in seiner im Jahr 1997 über die DPs im Emsland erschienenen Studie die Mehrzahl der Straftaten als »Versorgungskriminalität«.177 In diesem Zusammenhang nennt Lembeck auch den Schwarzmarkthandel als mit den einzigen sozialen Raum, in dem die deutsche Bevölkerung mit den DPs in Berührung kam.178 Es kann daher angenommen werden, dass die negative Sicht auf die DPs nicht unbedingt auf eigenen Erfahrungen beruhte, sondern es sich vor allem um übernommene Vorurteile handelte. Ähnliche Vorurteile und Stigmatisierungen zeigen sich in den Sichtweisen auf die ehemaligen Strafgefangenen der Emslandlager. Dass dabei an Stereotype angeknüpft werden konnte, die bereits zwischen 1933 und 1945 die regionale Wahrnehmung bestimmt hatten, zeigt die Weigerung des Landkreises Aschendorf-Hümmling und der Stadt Papenburg, Fürsorgemaßnahmen für ehemalige Strafgefangene zu finanzieren. »Beim Einrücken der alliierten Truppen, am 20. April 1945, wurden die hiesigen Strafgefangenenlager aufgelöst und die Strafgefangenen, soweit sie nicht bereits infolge der Bombardierung des Lagers II geflüchtet waren, durch die alliierten Truppen auf freien Fuß gesetzt. Die Kranken, Verwundeten und Pflegebedürftigen wurden auf Anordnung der Militärregierung dem Marienhospital und dem Lazarett am Oeverhafen zugeführt. Während ein großer Teil der gesunden Gefangenen zu den Angehörigen zurückkehrte, blieb ein Teil im Kreise zurück und hält sich noch heute hier auf. Allen diesen Gefangenen musste auf Anordnung der Besatzungsmacht durch den Kreis Aschendorf-Hümmling Unterkunft, Verpflegung, Bekleidung, ärztliche Hilfe usw. gewährt werden. [...] Der Landrat und die Stadtverwaltung Papenburg vertreten den Standpunkt, dass diese Beträge, da es sich um Strafgefangene handele, die ihre Strafe noch nicht verbüßt hätten, von der Justizverwaltung zu zahlen seien, und bitten um baldige Erstattung.«179 175 Vgl. Major-General Moleau to Office of the Public Safety Adviser 62 H.Q. C.C.G., Bude, B.A.O.R. 1 vom 11.08.1949 (TNA, FO 1032/2106, unpag.). 176 Vgl. Displaced Persons, Polish – criminal activities (TNA, FO 1032/2106, unpag.). 177 Lembeck, Befreit, S. 112. 178 Vgl. ebd., S. 113. 179 Generalstaatsanwalt Oldenburg, Verwaltung Strafgefangenenlager Emsland (Badry) an Generalstaatsanwalt beim Oberlandesgericht in Oldenburg, Betr.: Erstattung von Kosten für Strafgefangene, die auf freien Fuss gesetzt wurden vom 19.1.1946 (NLA OS, Rep 947 Lin I, Nr. 599, unpag.).
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Dieses Schreiben, das der damalige Leiter der Strafgefangenenlager Emsland,180 Wilhelm Maria Badry, im Januar 1946 an den Oldenburger Generalstaatsanwalt, Friedrich Karl Andreas Meyer-Abich, richtete, ist in den Kontext früher Hilfsmaßnahmen für NS-Verfolgte einzuordnen. Badry informiert darin MeyerAbich, dass der Landkreis Aschendorf-Hümmling sowie die Stadt Papenburg die Einstellung von Fürsorgemaßnahmen für ehemalige Strafgefangene bzw. deren Übernahme durch die Justizverwaltung fordern. In diesem Zusammenhang sind insbesondere die Aspekte zu erwähnen, die im Zitat nicht genannt werden: Bei den Fürsorgeempfängern handelte es sich um Überlebende des Endphaseverbrechens sowie der Bombardierung des Lagers Aschendorfermoor. Unberücksichtigt blieb auch, dass die ehemaligen Gefangenen teils jahrelang aufgrund ihrer Gefangenschaft keine Einkünfte erhalten hatten und nun zwar befreit, aber völlig mittellos waren.181 Diese Einzelschicksale spielten aus Sicht lokaler und regionaler Akteure keine Rolle. Vielmehr unterstützte die Stadt Papenburg seit Anfang 1946 die Auflösung einer Vereinigung ehemaliger Strafgefangener der Emslandlager, die »Vereinigung der ehemaligen KZ-Häftlinge Emsland«, die sich kurz nach der Befreiung zur Beantragung von Fürsorgemaßnahmen organisiert hatte.182 Der Zusammenschluss stellte Ausweise aus, die die Haft in den Emslandlagern bezeugten und die Beantragung materieller Hilfe erleichtern sollte und forderte im Namen der registrierten ehemaligen Gefangenen die Rückgabe der persönlichen Gegenstände sowie die Auszahlung ausstehender Gefangenenlöhne.183 Da die Mitglieder der Vereinigung nicht alle aus nachweisbaren politischen, rassischen oder religiösen Verfolgungsgründen in den Emslandlagern inhaftiert gewesen waren, wurde diese von der Stadt Papenburg als moralisch nicht »unterstützungswürdig« eingestuft und Ende Januar 1946 aufgelöst.184 Welche Rolle gerade Badry als Multiplikator spielte, zeigt ebenfalls eine weitere Quelle. Im Verfahren vor dem Schwurgericht Osnabrück gegen Schäfer, dem ehemaligen Leiter der Strafgefangenenlager, im Jahr 1950 hatte Badry, zu der Zeit Vorstand der wiedereröffneten Strafanstalten im Emsland, als Sachverständiger fungiert. Sein Sachverständnis schien in das Urteil eingegangen zu sein, als es um den scharfen Waffengebrauch ging. 180 Auf diesen Aspekt der Nachgeschichte der Emslandlager wird in Unterkapitel III.2.4 näher eingegangen. 181 Zu den frühen Entschädigungsbemühungen von KZ-Häftlingen, die den schwarzen und grünen Winkel tragen mussten vgl. Lieske, Unbequeme Opfer, S. 312–322. 182 Vgl. Magistrat Papenburg an Generalstaatsanwalt Oldenburg, Abtg. Strafgefangenenlager Ems land, z. Hd. Oberregierungsrat Badry vom 29.1.1946 (NLA OS, Rep 947 Lin I, Nr. 599, unpag.). 183 Vgl. Vorsteher der Vereinigung ehemaliger KZ-Häftlinge Emsland an Verwaltungsstelle der Strafgefangenenlager Emsland, Betr.: Gefangenenlager 2 und 7 vom 15.1.1946 (NLA OS, Rep 947 Lin I, Nr. 599, Bl. 32). 184 Magistrat Papenburg an den Generalstaatsanwalt Oldenburg, Abtg. Strafgefangenenlager Emsland, z. Hd. Oberregierungsrat Badry vom 29.1.1946 (NLA OS, Rep 947 Lin I, Nr. 599, unpag.).
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»Trotz der getroffenen Sicherheitsmaßnahmen sind von den Gefangenen zahlreiche Fluchtversuche unternommen worden. [...] Durch diese Entweichungen entstand für die Öffentlichkeit eine große Gefahr, denn das erste Ziel eines jeden Ausbrechers musste es sein, sich möglichst schnell in den Besitz von Zivilkleidern und Lebensmitteln zu setzen. [...] Die Bestimmungen, die den Gebrauch von Waffen im Falle eines Fluchtversuchs regelten, waren aus Abschreckungs- und Sicherheitsgründen dementsprechend scharf. Sie wurden den Gefangenen durch Aushang in den Baracken bekannt gemacht. [...] Während der Amtszeit des Angeklagten sind laut Sterberegister 35 Gefangene der Emslandlager auf der Flucht erschossen worden. Zum Vergleich sei angeführt, dass seit 1946 in den Lagern 4 Fälle von Erschießungen auf der Flucht sich ereignet haben.«185
Schäfer hatte die Emslandlager in Personalunion als SA-Angehöriger und Justizbeamter bis zum Jahr 1942 verwaltet und in dieser Zeit für einen äußerst brutalen Strafvollzug gesorgt.186 Ein Mittel der Disziplinierung und Abschreckung war die von Schäfer eingeführte Einteilung Fluchtgefährdeter in separate Strafkolonnen, die nur im Lager oder in unmittelbarer Nähe des Lagers beschäftigt waren und besonders scharf bewacht wurden. Dass es dennoch zu häufigem Waffengebrauch der Wachposten gegen Gefangene kam, wird in dem Urteil damit begründet, dass er dem Schutz der Zivilbevölkerung vor geflüchteten Gefangenen gedient habe. Außerdem heißt es in der Urteilsbegründung, dass der scharfe Waffengebrauch bei Fluchtversuchen durch Aushänge angekündigt worden sei – hier bleibt unerwähnt, dass Wachmannschaften Fluchtversuche häufig vortäuschten, um Gefangene rechtlich abgesichert ermorden zu können.187 Kann das in dem Urteil gezeichnete Bild von den Strafgefangenen als tendenziell bedrohlich interpretiert werden, so ist diese Deutung an die regionale Berichterstattung über den Prozess anzuknüpfen. Denn hier wurde die Unglaubwürdigkeit und Widersprüchlichkeit der Zeugenaussagen ehemaliger »Zuchthausgefangener« hervorgehoben.188 Schäfer wurde schließlich am 19. Dezember 1950 wegen Körperverletzung im Amt und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu vier Jahren Gefängnis verurteilt.189 185 Schwurgericht beim Landgericht Osnabrück, Begründung des Urteils gegen Werner Schäfer vom 15.12.1950 (Niedersächsisches Ministerium für Inneres und Sport [NMfIS], 199/141/14 Band II, Bl. 236–237). 186 Nach teils erfolgreicher Revision wurde der Fall Werner Schäfer im Frühjahr 1953 erneut verhandelt. Das Urteil sah ein geringeres Strafmaß vor, das durch die Untersuchungshaftzeit sowie Internierung bereits verbüßt war und so zu Schäfers Freilassung führte. Vgl. Weitkamp, Zwischen SA und Justiz, S. 159–164. 187 Vgl. Schwurgericht beim Landgericht Osnabrück, Begründung des Urteils gegen Werner Schäfer vom 15.12.1950 (NMfIS, 199/141/14 Band II, Bl. 243). 188 Vgl. die abgedruckten Artikel in der regionalen Tagespresse bei Kosthorst/Walter, Konzentrations- und Strafgefangenenlager im Dritten Reich, Band 2, S. 2781–2786. 189 Urteil und Urteilsbegrünung im Prozeß gegen den ehem. Kommandeur der Strafgefangenen lager im Emsland (1934–1942) vor dem Schwurgericht beim Landgericht in Osnabrück 1950. In: Kosthorst/Walter, Konzentrations- und Strafgefangenenlager im Dritten Reich, Band 2, S. 2655 f.
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Mahnung und Distanzierung
Im Hinblick auf die einleitende Frage nach den regionaltypischen Strategien der Abwehr ist zu konstatieren, dass zwar wie auch im Umfeld anderer ehemaliger Lagerorte die Vorurteile gegen die Menschen, die vor 1945 von den Nationalsozialisten verfolgt, gequält und ausgebeutet worden waren, fortwirkten. Im Emsland spitzte sich jedoch die sowieso angespannte und prekäre Nachkriegssituation verursacht durch Wohnraum- und Versorgungsmangel infolge der eingerichteten polnischen Sonderzone zusätzlich zu. Die Wut und Trauer über den Verlust des privaten Wohnraums war dabei nicht ungerichtet, sondern traf vor allem die polnischen DPs, die als »asozial« diffamiert wurden. Ebenso mitleidslos wurde den ehemaligen Strafgefangenen begegnet. Sie wurden weiterhin pauschal als Kriminelle bezeichnet und sogar die Morde der Wachmannschaften, die als »auf der Flucht erschossen« getarnt worden waren, wurden mit dem Argument legitimiert, dass sie dem Schutz der Öffentlichkeit gedient hätten. Damit wurde der noch von britischen Ermittlern nachweislich für die radikale und inhumane Verschärfung des Strafvollzugs verantwortliche Schäfer entlastet. Insbesondere an diesem Verfahren zeigt sich die besondere Ambivalenz der Emslandlager, deren Zwangscharakter über das Jahr 1945 hinaus abgestritten werden konnte, da es sich ja nicht um Lager unter der SS, sondern um »reguläre« Strafanstalten gehandelt hatte. 2.2
Das (Un-)Wissen der Gemeinden: Reaktionen auf die alliierten Suchaktionen
Jens-Christian Wagner hat eindrücklich das »Verschwinden der Lager« in den Erzählungen des lokalen Umfeldes des Lagers Mittelbau-Dora und seiner Außenlager nach der Befreiung beschrieben. Demnach seien der alltägliche Anblick von zu Außeneinsätzen marschierenden Arbeitskolonnen, erkennbar durch die Häftlingskleidung, aber auch die verwaltungstechnischen und wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen Lagern und umgebenden Ortschaften und Städten im Frühjahr 1945 plötzlich vergessen gewesen.190 Wie die Emslandlager aus den Erinnerungen der Gemeinden verschwanden, untersucht das folgende Unterkapitel ausgehend von einem Bestand der heutigen Arolsen Archives, der auf eine alliierte Suchaktion nach vermissten »ausländischen Staatsangehörigen« zurückgeht. Im Rahmen dieser von einer alliierten Stelle koordinierten Suche gingen über 30 Antworten aus den Landkreisen und Gemeinden im Emsland ein. Das darin vorgebrachte Unwissen wies deutliche Distanzierungsstrategien auf. Die Suche wurde angesichts der unzähligen nach Deutschland verschleppten und nach Kriegsende vermissten Zivilpersonen und Militärangehörigen 190 Wagner, Das Verschwinden der Lager, S. 171.
(Um-)Deutungen der jüngsten Vergangenheit
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im Zuge der Zonen-Politik-Anordnung Nr. 4 vom 28. Januar 1946 aufgenommen.191 Zunächst auf Überlebende konzentriert, verengte sich die Suchaktion zunehmend auf Verstorbene und wurde dabei vom Zentralen Suchdienst, einer Vertretung der Alliierten, koordiniert. Diese stand bis 1947 unter der Leitung der UNRRA, wurde dann von der International Refugee Organization (IRO) übernommen und firmierte schließlich seit 1948 als ITS.192 Während der ersten Suchaktion, die im Jahr 1946 begann, waren die deutschen Gemeinden in der britischen Zone aufgefordert worden, die Personalien sowie Sterbeurkunden sämtlicher Ausländer, die sich seit Kriegsbeginn in den Kommunen aufgehalten hatten, sowie ihre Grablagen anzugeben.193 Wenngleich der Rücklauf umfangreich war, waren die Auskünfte der deutschen Behörden doch häufig ungenau.194 Im Jahr 1949 begann daher eine erneute Suche nach vermissten Personen nichtdeutscher Staatsangehörigkeit, welche die erste Suchaktion vervollständigen und abschließen sollte. Der Zentrale Suchdienst forderte nun alle Verwaltungsstellen öffentlichen und privaten Rechts auf, die Verzeichnisse von 1946 zu überprüfen und gegebenenfalls zu ergänzen.195 Laut Vordruck des Suchdienstes sollten folgende Ergänzungen vorgenommen werden: Neben den Angaben zu Grabstellen wurden die deutschen Behörden aufgefordert, Angaben zu »Ausländerlagern« zu machen, die zwischen dem 3. September 1939 und dem 8. Mai 1945 in den Gemeinden existiert hatten. Dabei mussten unter sechs Kategorien folgende Felder beantwortet werden: »1. Art des Lagers, 2. Belegungsstärke, 3. Nationalitäten der Insassen, 4. Namen von Wachmannschaften, die eventuell von Spruchkammern oder alliierten Gerichtshöfen verurteilt sind, 5. Namen von Insassen, 6. Besondere Einzelheiten.«196
191 Vgl. Landkreis Grafschaft Bentheim an Gemeinde Itterbeck vom 9.1949 (ITS Digital Archive, Bad Arolsen, 2.2.0.1/82394632, unpag.). 192 Vgl. Sebastian Schönemann, »Accounting for the dead«. Humanitäre und rechtliche Motive der alliierten Ermittlungsarbeit zu den Todesmärschen. In: Blondel/Urban/ders. (Hg.), Freilegungen. Auf den Spuren der Todesmärsche, S. 122–135, hier 128 f. Zur Entwicklung der Suche nach Vermissten am Beispiel der Todesmarschopfer vgl. Winter/Greiser, Untersuchungen. In: ebd., S. 73–84; Josephine Ulbricht, Die Untersuchungen der UNRRA zu den Todesmärschen des KZ Flossenbürg. In: ebd., S. 152–168. 193 Vgl. Regierungspräsident in Osnabrück zur Suchaktion nach ausländischen Staatsangehörigen vom 11.2.1946 (NLA OS, Rep 450 Wit, Nr. 1107, unpag.). 194 Bernd Joachim Zimmer deutet den mäßigen Erfolg der ersten großen Suchaktion nicht als Zeichen deutscher Abwehr, sondern als Folge der Nachkriegswirren. So hätte beispielsweise eine beratende Instanz vor Ort gefehlt und die technischen Mittel zur Reproduktion der Vordrucke seien häufig nicht vorhanden gewesen oder hätten einen enormen zeitlichen Mehraufwand bedeutet. Vgl. Zimmer, International Tracing Service Arolsen, S. 189. 195 Vgl. Landkreis Grafschaft Bentheim an Gemeinde Itterbeck vom 9.1949 (ITS Digital Archive, Bad Arolsen, 2.2.0.1/82394632, unpag.). 196 HQ British Zone Division an International Tracing Service zur Antwort der Gemeinde Oberlangen, o. D. (ITS Digital Archive, Bad Arolsen, 2.2.0.1/82393276, unpag.).
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Im Rahmen dieser beiden Suchaktionen trafen im Zeitraum zwischen 1946 und 1951 auch 33 Antwortschreiben aus den drei emsländischen Landkreisen, in denen sich ein Lager oder Außenkommando des Emslandlagerverbundes befunden hatte, ein.197 Bei den Antwortschreiben handelte es sich um zwölf Gemeinden aus dem Landkreis Meppen,198 13 Gemeinden aus dem Landkreis Aschendorf-Hümmling199 und acht Gemeinden aus dem Landkreis Grafschaft Bentheim.200 Im Hinblick auf die neun Friedhöfe, auf denen Gefangene der Emslandlager ruhten, bilden die Antwortschreiben der Gemeinden teils die einzigen Quellen, von denen der Zustand der Gräber in der unmittelbaren Nachkriegszeit abgeleitet werden kann. Darüber hinaus gewähren die Schreiben der Bürgermeister Einblicke in deren Verhältnis zu den Lagern. So gibt zwar die Mehrzahl der Gemeinden die Belegungsstärke des Lagers in der Umgebung sowie die Nationalität der Gefangenen an. Kaum eine Gemeinde macht jedoch konkrete Angaben zu den Namen der Wachmannschaften und Gefangenen oder gibt etwas über die Haftbedingungen preis. Diese Leerstellen werden in den überwiegenden Fällen damit begründet, dass die Ortschaften mit den Lagern nicht in Berührung gekommen seien. Da im Landkreis Aschendorf-Hümmling die ersten staatlichen Konzentrationslager im Sommer und Spätsommer 1933 errichtet wurden, soll der Blick zunächst auf die Antworten aus diesem Kreis gerichtet werden. Hier befanden sich zwischen 1933 und 1945 fast durchgängig genutzte Lager, von denen jedoch nur Oberlangen im Jahr 1939 an die Wehrmacht überging, die anderen sechs Lager verblieben unter dem Reichsjustizministerium. Der Oberkreisdirektor von Aschendorf-Hümmling gab daher im Oktober 1950 an: »Ausländische K.Z.-Häftlinge sind meines Erachtens in den Emslandlagern nicht einhaftiert [sic] gewesen. In den Jahren 1933–34 waren in den Emslandlagern zwar K.Z.-Häftlinge.
197 Vgl. Schriftwechsel und Unterlagen zur Zwangsarbeit (ITS Digital Archive, Bad Arolsen, 2.2.0.1). 198 Antworten der Gemeinden aus dem Landkreis Meppen, die in Bezug auf in Emslandlagern Verstorbene relevant sind: Dalum (Lager XII), Groß Fullen (Lager X), Klein Fullen (Lager X), Groß Hesepe (Lager XI), Wesuwe (Lager VIII), Versen (Lager IX), Außenkommandos Lager VI C Bathorn: Emmeln, Haren, Haselünne, Meppen, Rühle; Außenkommando Lager VI B Versen: Dörpen. 199 Antworten der Gemeinden aus dem Landkreis Aschendorf-Hümmling, die in Bezug auf in Emslandlagern Verstorbene relevant sind: Sögel (Lager I Börgermoor), Rhede (Lager III BrualRhede), Esterwegen (Lager VII), Oberlangen (Lager IV), Außenkommandos Lager VI C Bathorn: Aschendorf, Börger, Dörpen, Hilkenbrook, Sögel, Papenburg, Lehe, Surwold; Außenkommando Lager VI B Versen: Papenburg. 200 Antworten der Gemeinden aus dem Landkreis Bentheim, die in Bezug auf in Emslandlagern Verstorbene relevant sind: Großringe (Lager XV Alexisdorf), Emlichheim (Lager XV Alexisdorf), Wietmarschen (Lager XIII), Hoogstede (Lager VI C Bathorn), Außenkommandos Lager VI C Bathorn: Esche, Bardel, Schüttorf, Neuenhaus (Stadt).
(Um-)Deutungen der jüngsten Vergangenheit
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Diese waren aber deutsche Staatsangehörige. Später wurden diese Läger [sic] Strafgefangenenlager und wurden mit Gefängnisgefangenen und Zuchthausgefangenen belegt.«201 Indem die Anfrage des ITS auf ausländische KZ-Häftlinge verengt war, kann der Oberkreisdirektor ihr ausweichen. Dabei verschweigt er, dass seit 1938 tschechische, polnische und jugoslawische Strafgefangene im Emsland eintrafen und seit dem Jahr 1940 dann auch vermehrt westeuropäische Gefangene in den Strafgefangenenlagern untergebracht waren.202 Der Bürgermeister von Esterwegen, einer Gemeinde im Landkreis Aschendorf-Hümmling, gab hingegen im Jahr 1950 zu, dass im Lager Esterwegen zeitweise »Ausländer (vorwiegend Belgier)« untergebracht waren. Er bezieht sich hierbei auf die NN-Gefangenen, die zwischen 1943 und 1944 im sogenannten Lager Süd inhaftiert waren. Der Bürgermeister versichert jedoch, dass diese Gefangenen »mit der Bevölkerung überhaupt nicht in Berührung kamen« und er keine weiteren Angaben über die Insassen oder Wachmannschaften machen könne.203 Tatsächlich standen die westeuropäischen Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfer unter strenger Bewachung, wurden isoliert und waren nicht zu Arbeitseinsätzen außerhalb des Lagers eingeteilt. Selbst die Bestattung der Toten fand nur nachts statt.204 Allerdings ist auch belegt, dass ein entflohener NN-Gefangener im Jahr 1943 von einer Frau aus der Gemeinde Esterwegen entdeckt und an die Lagerverwaltung ausgeliefert wurde.205 Darüber hinaus handelte es sich bei den ausländischen Gefangenen im Lager Esterwegen nicht ausschließlich um streng bewachte NN-Gefangene, sondern hier waren bereits vor 1943 polnische, tschechische sowie französische Gefangene inhaftiert gewesen, die ebenso wie ihre deutschen Mitgefangenen zu Arbeitseinsätzen außerhalb des Lagers eingeteilt waren, ein Aspekt, der der Gemeinde bekannt gewesen sein dürfte.206 Während die Gemeinde Esterwegen argumentierte, mit dem an die Ortschaft angrenzenden Lager nicht in Berührung gekommen zu sein, verbürgt sich der Bürgermeister der Gemeinde Hilkenbrook (Landkreis Aschendorf-Hümmling), in der eines der Außenkommandos des Kriegsgefangenenlagers Bathorn VI C untergebracht war, für die geordneten Verhältnisse in diesem Lager. Die Namen 201 Oberkreisdirektor Aschendorf-Hümmling an IRO, British Zone Division, ITS Offices Göttingen vom 6.10.1950 (ITS Digital Archive, Bad Arolsen, 2.2.0.1/82393289, Bl. 147 f.). 202 Vgl. Appendix ›O‹ to Report No.: PWIS (H)/KP/718, Table of Allied Nationals, Basic Report on Emsland Group of Penal Camps 1945–1946, o. D. (1946), S. 14 (TNA, WO 208/4297). 203 Gemeinde Esterwegen an HQ British Zone Division, International Tracing Service vom 25.4.1950 (ITS Digital Archive, Bad Arolsen, 2.2.0.1/82393251, Bl. 110). 204 Vgl. Section ›T‹, Camp VII Suedlager, The Emsland Case (Report), o. D. (1947), S. 110 (TNA, WO 208/4297). 205 Vgl. ebd. 206 Vgl. Appendix ›O‹ to Report No.: PWIS (H)/KP/718, Table of Allied Nationals, Basic Report on Emsland Group of Penal Camps, 1945–1946, o. D. (1946), S. 14 (TNA, WO 208/4297).
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der Wachmannschaften seien ihm zwar nicht bekannt, aber er wisse sicher, dass sie sich nichts zuschulden hätten kommen lassen: »Das Lager war belegt mit französischen und zum anderen mit russischen Kriegsgefangenen. Die Namen der Wachmannschaften sind nicht mehr bekannt. Es ist auch nicht bekannt, dass von den ehemaligen Wachmannschaften sich jemand etwas zu Schulden kommen ließ. Die Verhältnisse im Lager waren immer zufriedenstellend. Da das Lager in meiner Nachbarschaft lag, habe ich verschiedentlich das Lager in Augenschein nehmen können. Mehr ist von hieraus nicht zu berichten.«207
Während der Bürgermeister von Hilkenbrook die geordneten Verhältnisse im Lager lobte, gab die Gemeinde Bardel aus dem Landkreis Meppen, in der ein Außenkommando des Hauptlagers Bathorn VI C (Kriegsgefangenenlager) untergebracht war, als einzige der 33 Gemeinden aus dem Emsland zwei Namen von Wachmannschaften an. Weitere Angaben konnte aber auch sie nicht machen.208 Hervorsticht die Antwort des Gemeindevorstehers von Dalum (Landkreis Meppen), denn hier wird im Hinblick auf das Massensterben von sowjetischen Kriegsgefangenen angegeben: »Es ist bekannt, dass in den Jahren 1940–42 Russenkommandos aus dem Kreis Bentheim durchs Moor kommend mit einem Spezialwagen auf dem Schienenstrang Bathorn−Wietmarschen−Dalum Leichen beförderten.«209 Die Auskunft kann als eine Art Geständnis gelesen werden, ob bewusst oder unbewusst, denn hier thematisiert die Gemeindeverwaltung die Augenzeugenschaft der Lokalbevölkerung. Dass den kommunalen Behörden insbesondere die katastrophalen Zustände in den Kriegsgefangenenlagern bekannt waren, in denen sowjetische Kriegsgefangene untergebracht waren, zeigt auch die Antwort der Gemeinde Wietmarschen (Landkreis Grafschaft Bentheim). Sie reichte bereits während der ersten Suchaktion im Jahr 1946 das Sterberegister des gleichnamigen Kriegsgefangenenlagers ein. Allein zwischen Mitte September und Ende November 1941 waren hier 301 Todesfälle registriert worden. Dem Verzeichnis zufolge sind 70 Prozent der Gefangenen an Herzschwäche gestorben, 13 Prozent an Ruhr und sechs Prozent an Darmkatarrh. Darüber hinaus waren hier die Gründe für Erschießungen aufgelistet, so wegen »Fluchtversuch«, »wegen Widerstand erschossen« oder »Schussverletzung« oder »Kopfschuss«.210 Nur drei Jahre nach
207 Bürgermeister Hilkenbrook an Oberkreisdirektor Aschendorf-Hümmling vom 3.4.1949 (ITS Digital Archive, Bad Arolsen, 2.2.0.1/82393259, Bl. 118). 208 Vgl. Landkreis Bentheim, Antwort Gemeinde Bardel an International Tracing Service vom 13.10.1949 (2.2.0.1/82394579/ITS Digital Archive, Bad Arolsen, Bl. 431). 209 Landkreis Meppen, Gemeinde Dalum an Landkreis Meppen, Betr. Suchaktion nach nichtdeutschen Staatsangehörigen, Bezug: dortiges Schreiben vom 31.1.1951, o. D. (1951) (ITS Digital Archive, Bad Arolsen, 2.2.0.1/82416486, Bl. 203). 210 Bürgermeister Gemeinde Wietmarschen an das Rote Kreuz Moskau zu Verzeichnis der Kriegssterbefallanzeigen über sowjetrussische Kriegsgefangene vom 8.6.1946 (ITS Digital Archive, Bad Arolsen, 2.1.2.1/70788280, die in Bezug auf in Emslandlagern Verstorbene relevant sind).
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Einreichen des Sterberegisters wusste der Bürgermeister der Gemeinde Wietmarschen jedoch von keinen »besonderen Vorkommnissen« mehr zu berichten.211 Im Gesamtüberblick der Auskünfte fällt auf, dass die Mehrheit der Gemeinden sich von den Lagern in ihrer Umgebung distanzierte, indem sie angab, die Namen von Wachleuten oder Gefangenen nicht zu kennen. Dadurch konnte der Eindruck vermittelt werden, die umliegenden Dörfer und Städte seien mit den Lagern und ihren Außenkommandos nicht in Berührung gekommen. Die Aussagen waren dabei teils widersprüchlich, wie die Antwort der Gemeinde Hilken brook veranschaulicht. Ihr Bürgermeister gab zwar an, sich mehrmals persönlich von den guten Zuständen in dem Außenkommando überzeugt zu haben, konnte aber dennoch keine Namen nennen. Auch die Gemeinde Wietmarschen mag mit ihrer Angabe, dass sie trotz der hohen vom lokalen Standesamt registrierten Todeszahlen von keinen besonderen Vorkommnissen zu berichten wüsste, nicht überzeugen. Tiefere Einblicke zum Verhältnis der Lokalbevölkerung zu den Kriegsgefangenenlagern gewährte die Gemeinde Dalum, die von Leichentransporten berichtete. Kurze Notizen oder Kommentare wie diese lassen erahnen, dass der Anblick von verstorbenen Kriegsgefangenen keine Ausnahmeerscheinung darstellte, sondern den Alltag der Lokalbevölkerung, die angrenzend an die Lager lebte, vielmehr prägte. Angesichts der alliierten Entnazifizierungspolitik und zum Schutz der Gemeinden wurde dieses Wissen jedoch geleugnet. 2.3
Internierte im Lager Esterwegen: »im Glauben an die gute Sache«
»Im Lager Esterwegen leben Menschen zweiter Klasse Das kleine Hümmlingsdorf Esterwegen wurde durch das von der SS errichtete Konzentrationslager bekannt. Ab 1936 war es eine reine Strafanstalt, die in erster Linie, vor allem während des Krieges, zur Unterbringung von Wehrmachtangehörigen bestimmt war, die wegen Kameradendiebstahls, Fahnenflucht, Zersetzung der Wehrkraft und anderer ehrenrühriger Verbrechen verurteilt wurden, die in jeder Wehrmacht der Welt mit schwersten Strafen belegt werden. Eine Tatsache, die im Für und Wider der Meinungen klar und deutlich gesagt werden muss. Der ›Mann auf der Straße‹ hat sie erkannt und sich sein Urteil gebildet. Die noch bei den Strafanstalten Emsland aufbewahrten Unterlagen und Karteikarten beweisen, dass es nicht nur ›Verfolgte des Naziregimes‹ waren. Seit Kriegsende steht dieses Lager erneut im Blickpunkt. Es wurde von der englischen Besatzungsmacht als Civilian Internment Camp eingerichtet. [...] Für welche Handlungen wurden die in Esterwegen einsitzenden politischen Häftlinge mit einer Gefängnisstrafe belegt, die heute – fast fünf volle Jahre nach Ende des Krieges – noch nicht abgelaufen ist? Nicht etwa, weil sie ein Verbrechen begingen, dessen Strafe jeder objektive Mensch befürwortet haben würde, sondern weil sie Mitglied einer der Organisationen waren, deren Handlungen in der Gesamtheit im Nürnberger Urteil (nachträglich!) als verbrecherisch erklärt wurden. Im Gros sind es die unteren Ränge dieser Organisationen, die im Glauben an die gute Sache ihr Bestes gaben [...]. 211 Gemeinde Wietmarschen an Kreisverwaltung Nordhorn Grafschaft Bentheim vom 1.11.1949 (ITS Digital Archive, Bad Arolsen, 2.2.0.1/82394671, Bl. 524).
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Wir wollen für niemanden eine Lanze brechen, sondern lediglich feststellen, dass Recht und Recht seit einigen Jahren in Deutschland zweierlei Dinge sind. Es ist wohl endlich an der Zeit, dem wirklichen Recht wieder in den Sattel zu helfen und mit Rechtsverfahren Schluss zu machen, die nicht dazu angetan sind, im deutschen Volk das Gefühl der Zusammengehörigkeit und der Einheit zu wecken, der wir so dringend bedürfen. Die Zeit wird sonst über uns hinweggehen. [...] Wenn auch dem Einzelmenschen, der nie eine kriminelle Handlung beging und doch büßen musste, mit der Wiederherstellung seiner Ehre nicht das genommen werden kann, was ihm in den Jahren der Rechtlosigkeit angetan wurde, so scheint uns doch, dass der Zeitpunkt einer radikalen Umkehr seit langem gekommen ist.«212
Ausgehend von diesem Artikel eines Mitarbeiters der emsländischen Regionalzeitung, in dem harsche Kritik an der britischen Entnazifizierungspolitik geübt wird, thematisiert das vorliegende Unterkapitel am Beispiel des im Sommer 1945 eingerichteten Internierungslagers Esterwegen einen kollektiven Begnadigungswunsch, der mit Verweis auf die Internierten ausgehandelt wurde und eine weitere typische Distanzierungs- und Entlastungsstrategie widerspiegelt. In den ersten Nachkriegsmonaten wurden von den Westalliierten Personen in Haft genommen, die ein »Sicherheitsrisiko« wegen möglichen Widerstands für die Besatzungsmächte darstellten, also unter anderem NS-System- und Funktionsträger und Angehörige nationalsozialistischer Organisationen wie der SS, Waffen-SS oder SA.213 In dieser Aufbau- und Sicherungsphase, in der nach amerikanischem Vorbild eine Internierungspolitik in allen Westzonen übernommen worden war, wurde im Sommer 1945 das Internierungslager No. 9 Esterwegen von der britischen Militärregierung eröffnet. Heiner Wember gibt in seiner Dissertation aus dem Jahr 1991 an, dass Esterwegen als »temporäres Lager« eingerichtet wurde. Hier waren mutmaßliche Kriegsverbrecher als »vorläufige Sicherungsmaßnahme«214 und in Vorbereitung auf Militärgerichtsverfahren interniert. Mit einer Belegungsstärke von 2 000 Personen im Nachkriegsjahr zählte Esterwegen dabei zu den kleineren Lagern.215
212 O. V., Im Lager Esterwegen leben Menschen zweiter Klasse. Noch immer Spruchgerichte/Recht nach zweierlei Maß?/Der Fall des Bürgers X/Macht endlich Schluß mit der Sondergerichtsbarkeit. In: Ems-Zeitung vom 9.12.1950. 213 Vgl. Lutz Niethammer, Alliierte Internierungslager in Deutschland nach 1945. In: Christian Jansen/ders./Bernd Weisbrod (Hg.), Von der Aufgabe der Freiheit. Politische Verantwortung und bürgerliche Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert. Festschrift für Hans Mommsen zum 5. November 1995, Berlin 1995, S. 469–492, hier 474. Zur amerikanischen Internierungspraxis und -politik vgl. Christa Schick, Die Internierungslager. In: Martin Broszat/Klaus-Dietmar Henke/Hans Woller (Hg.), Von Stalingrad zur Währungsreform. Zur Sozialgeschichte des Umbruchs in Deutschland, München 1988, S. 301–325. 214 Niethammer, Alliierte Internierungslager, S. 479. 215 Vgl. Heiner Wember, Umerziehung im Lager. Internierung und Bestrafung von Nationalsozialisten in der britischen Zone, Essen 1991, S. 81.
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Nachdem die wichtigsten Kriegsverbrecher aus dem Internierungslager Esterwegen in andere Lager überstellt und außerdem erste Entlassungen erfolgt waren, kam es am 1. Juli 1946 zu einem Verwaltungswechsel und Esterwegen wurde in Internment Camp Esterwegen No. 101 umbenannt. Das Lager stand nun unter einem deutschen Direktor, es handelte sich um Badry, sowie einem britischen Kommandanten.216 Zu dieser Zeit befanden sich in dem Lager sowohl Angehörige der Wachmannschaften der Emslandlager, die hier auf ihren Prozess warteten, als auch Wachmannschaften anderer Konzentrationslager wie Flossenbürg, Dachau, Ravensbrück oder Neuengamme. Die Lebensverhältnisse in den ersten zwei Jahren des Internierungslagers waren hinsichtlich der Lebensmittelversorgung und der medizinischen Versorgung ausreichend: Mit einem Kaloriensatz von 2 400 Kilokalorien waren in Esterwegen die Verhältnisse im Vergleich zu anderen Internierungslagern sowie dem durchschnittlichen Satz der deutschen Bevölkerung sogar überdurchschnittlich gut. Da die Barackenlager kaum verändert wurden, waren die Unterkünfte einfach, jedoch beheizt und mit einer Grundversorgung wie Matratzen und Decken ausgestattet.217 Seit Juli 1947 diente Esterwegen nicht mehr ausschließlich als Internierungslagers, sondern wurde als Justizstraflager weitergeführt – in der Haftanstalt waren sowohl wegen krimineller Delikte Verurteilte inhaftiert als auch weiterhin Personen, die wegen der Zugehörigkeit zu einer verbrecherischen Organisation von Spruchkammergerichten verurteilt waren oder aber noch auf ein rechtskräftiges Urteil warteten.218 Diese nun einsetzende Phase der Internierung, auf die auch der eingangs zitierte Artikel der »Ems-Zeitung« Bezug nahm, ist an dieser Stelle näher zu betrachten. Denn während zur Zeit des Internierungslagers No. 101 vornehmlich Familienmitglieder um die Freilassung von Internierten baten,219 wurde seit 1948 zunehmend Kritik an der Internierung geäußert und dies seitens der Internierten selbst, des Evangelischen Hilfswerks und, wie am Beispiel des Artikels gezeigt, der regionalen Presse. Führt man diese Beschwerden zusammen, dann werden hier wiederkehrend die Haftbedingungen mit denen in Konzentrationslagern verglichen und die Internierten als »politische Häftlinge« stilisiert. Ebenso wiederholt kritisiert wird die Inhaftierung von Internierten zusammen mit regulären »Kriminellen«. Wie im Folgenden zu veranschaulichen ist, verdichtete sich in solchen Aussagen eine Strategie, die Theodor W. Adorno als »Aufrechnung von Schuld« bezeichnet hat: Mit dem Verweis auf die alliierte
216 Vgl. ebd., S. 81–83. 217 Vgl. Reports and returns No. 9 C.I.C. Esterwegen, Public Health Branch Action Sheet, File No. 62054/3/J, o. D. (1946) (TNA, FO 1050/753, unpag.). 218 Vgl. Wember, Umerziehung im Lager, S. 81 f. 219 Vgl. Freilassungsgesuche (TNA, WO 309/1850).
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und als ungerecht dargestellte Internierungspolitik konnten die nationalsozialistischen Verbrechen relativiert werden.220 Beispielhaft ist ein Schreiben, das neun Internierte im Juni 1948 beim britischen Lagerkommandanten von Esterwegen einreichten, unter ihnen Paul Wipper, ehemaliger NSDAP-Politiker und SS-Obersturmbannführer. In dem Schreiben wurde sich über den Transport vom Gefängnis Hannover in die Strafanstalt Esterwegen beschwert: »Der Transport erfolgte zusammen mit Kriminellen. Im Gefängnis in Hannover wurde Station gemacht. Die Unterbringung kann nur als Menschlichkeitsverbrechen bezeichnet werden. Acht Mann wurden in eine Einmann-Zelle gepfercht, die unvorstellbar verwahrlost war. Der dort befindliche Kübel für die Notdurft reichte nicht aus. Wir waren daher gezwungen, einen Eimer zu benutzen. Die Entleerung erfolgte nur einmal am Tage. Die Luft war völlig verpestet. 44 Stunden mussten wir dort, ohne Freistunde, zubringen.«221
Besonders hervorgehoben wurde hier also, dass die Internierten während des Transportes nicht von den regulären Strafgefangenen getrennt worden waren und sie mit ihnen über mehrere Tage eine verwahrloste Gefängniszelle teilen mussten. In diesem Zusammenhang wird der Vergleich mit den Bedingungen in nationalsozialistischen Haftstätten deutlich formuliert, wenn hier von »Menschlichkeitsverbrechen« die Rede ist: eine diskursive Strategie, die in zahlreichen Eingaben von Internierten belegt ist.222 Eine Fürsprecherin der Internierten von Esterwegen war das Evangelische Hilfswerk in der Person von Gräfin M. von Bismarck. Wiederholt wandte sie sich an die Generalstaatsanwälte in der britischen Zone, leitete Eingaben von Internierten weiter, trat für eine Verbesserung der Seelsorge ein und bat um ein Besuchsrecht, um sich von den ihrer Meinung nach inhumanen Haftbedingungen im Lager zu überzeugen. Hinsichtlich des ihr verwehrten Besuchsrechts kritisierte sie den britischen Lagerkommandanten von Esterwegen, der sie »durch Unhöflichkeiten und andere Mittel in der Ausübung« ihrer Tätigkeit hindere. Ihn bezichtigt die Gräfin »ausschließlich [...] für die Zustände in Esterwegen verantwortlich« zu sein.223
220 Vgl. Theodor W. Adorno, Schuld und Abwehr. Eine qualitative Analyse zum Gruppen experiment. In: ders., Soziologische Schriften II.2, Frankfurt a. M. 2003, S. 121–324, hier 174. 221 Vorstand der Strafanstalten Emsland an Generalinspektor beim Zentraljustizamt für die britische Zone in Hamburg, Betr.: Transport der Spruchkammerverurteilten, beglaubigte Abschrift vom 9.6.1948 (BArch Koblenz, Z 42 I/460, unpag.). 222 Vgl. Alyn Beßmann, Der sozusagen für Euch alle im KZ sitzt. Britische Internierungspraxis im ehemaligen KZ Neuengamme und deutsche Deutungsmuster. In: KZ-Gedenkstätte Neuengamme (Hg.), Zwischenräume. Displaced Persons, S. 35–54, hier 35. 223 Hilfswerk der evangelischen Kirchen in Dtl., Interniertenbetreuung, Gräfin Bismarck an das Zentraljustizamt für die britische Besatzungszone, Dr. Schierholt, vom 3.10.1948 (BArch Koblenz, Z 42 I/460, unpag.).
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Eine gegen die britische Militärregierung erhobene Anklage spiegelte ebenfalls der eingangs zitierte Artikel in der Regionalzeitung, der auszugsweise an dieser Stelle noch einmal näher betrachtet wird: »Für welche Handlungen wurden die in Esterwegen einsitzenden politischen Häftlinge mit einer Gefängnisstrafe belegt, die heute – fast fünf volle Jahre nach Ende des Krieges – noch nicht abgelaufen ist? Nicht etwa, weil sie ein Verbrechen begingen, dessen Strafe jeder objektive Mensch befürwortet haben würde, sondern weil sie Mitglied einer der Organisationen waren, deren Handlungen in der Gesamtheit im Nürnberger Urteil (nachträglich!) als verbrecherisch erklärt wurden. Im Gros sind es die unteren Ränge dieser Organisationen, die im Glauben an die gute Sache ihr Bestes gaben.«224
Hier fällt zunächst die Formulierung »politische Häftlinge« auf, die eine repressive und nicht nach rechtsstaatlichen Grundsätzen erfolgende Inhaftierung suggeriert und diese zugleich mit der Haft in nationalsozialistischen Konzentrationslagern assoziiert. In diesem Zusammenhang wird eine generalisierte Kritik an der britischen Entnazifizierungspolitik formuliert und ein Ende der Spruchkammerverfahren gefordert, um »dem wirklichen Recht wieder in den Sattel zu helfen«. Untermauert wird die Forderung durch die Gegenüberstellung der Gefangenen des Strafgefangenenlagers und des Internierungslagers Esterwegen. So waren dem Autor zufolge seit 1934 allein Kriminelle in Esterwegen inhaftiert, während die Internierten nur auf Befehl gehandelt hatten, »im Glauben an die gute Sache ihr Bestes gaben«, und zu Opfern einer ungerechten alliierten Entnazifizierungspolitik geworden waren.225 Es ist anzunehmen, dass der Artikel ein zeittypisches Stimmungsbild einfing. Denn er erschien zu einem Zeitpunkt, als die westalliierten Spruchkammern ihre Verfahren zur flächendeckenden Entnazifizierung eingestellt hatten und nun ein Großteil der Bevölkerung der neugegründeten Bundesrepublik Deutschland die Begnadigung von ehemaligen NS-Funktionsträgern und mutmaßlichen Kriegsverbrechern sowie ein Ende der »Siegerjustiz« forderte. Kennzeichnend war hierbei die Aufrechnung von Schuld, die von Deutungsmustern geprägt war, die bis in die 1960er-Jahre öffentlich wirksam waren: Die Gefangenen wurden als Kriminelle dargestellt, während die Täter gänzlich ausgeblendet wurden.
224 O. V., Im Lager Esterwegen leben Menschen zweiter Klasse. In: Ems-Zeitung vom 9.12.1950. 225 Vgl. Adorno, Schuld und Abwehr, S. 174.
120 2.4
Mahnung und Distanzierung
Wiederaufnahme der Moorkultivierung und Gefangenenarbeit
Auf Betreiben lokaler und regionaler Verwaltungsstellen wurden in den Moorgebieten seit dem Jahr 1946 wieder Justizstrafgefangene zu Entwässerungsarbeiten eingesetzt. Deren Einsatz wurde von Raumplanungs- und Landwirtschaftsbehörden geplant, die starke personelle Kontinuitäten aufwiesen. Ihre Akteure gehörten den regionalen Funktionseliten an, die bereits vor 1945 das Entwässerungsprojekt durch Gefangenenarbeit vorangetrieben hatten.226 Nach Kriegsende versuchten sie nun durch die Wiederaufnahme des Gefangeneneinsatzes eine vermeintliche Erfolgsgeschichte der Moorkultivierung fortzuschreiben. Da sich nach Kriegsende tausende deutsche Vertriebene und Geflüchtete in Nordwestdeutschland befanden, für die es kaum Wohnraum gab, rückte das Emsland mit seinen weitgehend unerschlossenen Moorgebieten sowie seinen entdeckten Erdölvorkommen in den Fokus der Alliierten.227 Darüber hinaus zählte zur Neuordnung Deutschlands ebenso das Gefangenenwesen, das nicht länger an nationalsozialistischen Prinzipien von Strafe und Sühne orientiert sein, sondern einen aufgeklärten Strafvollzug praktizieren sollte, in dem der Aspekt der Resozialisierung Berücksichtigung fand. Vor diesem Hintergrund wurde in der britischen Zone seit Herbst 1945 die Wiedereröffnung einiger ehemaliger Emslandlager als Abteilungen einer Justizstrafanstalt Emsland vorbereitet. Da die Strafgefangenenlager Eigentum der Justizverwaltung waren, übernahm am 21. November 1945 der im September desselben Jahres ernannte Generalstaatsanwalt in Oldenburg, Meyer-Abich,228 die Dienstaufsicht.229 Zwei Tage zuvor war Badry von den britischen Besatzungsbehörden damit beauftragt worden, die 226 Zum Begriff der Funktionseliten sowie der Untersuchung von Kontinuitäten ihres Verhaltens und ihrer Einstellungen über das Jahr 1945 hinaus vgl. Cornelia Rauh-Kühne/Michael Ruck, Einleitung. In: dies. (Hg.), Regionale Eliten zwischen Diktatur und Demokratie. Baden und Württemberg 1930–1952, München 1993, S. 11–35. 227 Vgl. Haverkamp, Die Erschließung des Emslandes, S. 94. Darüber hinaus forderten auch die niederländischen Gebietsansprüche auf die dünn besiedelten linksemsischen Moorgebiete seit 1945 ein rasches Handeln. Denn die Niederlande hatten ihre Forderungen zur Entschädigung damit begründet, dass die Gebiete von deutscher Seite bislang vernachlässigt worden waren, der niederländische Staat hingegen über die notwendige Expertise zur Erschließung der Moor gebiete verfüge. Vgl. ebd., S. 84–87. 228 Der Emder Jurist Friedrich Karl Andreas Meyer-Abich (1895–1972), der im Jahr 1930 Angehörige der »Roten Hilfe« verteidigt hatte und im Zuge dessen seine Zulassung als Anwalt entzogen bekam, hatte diesen Posten unmittelbar nach Kriegsende von den britischen Militärbehörden angetragen bekommen. Da er sich für die Ahndung von NS-Verbrechen einsetzte, wurde er im Jahr 1946 zum Generalinspekteur für die Spruchgerichte ernannt. Vgl. Martin Tielke (Hg.), Biographisches Lexikon für Ostfriesland, Band 4, Aurich 2007, S. 312–314. 229 »Durch Verfügung der Militärregierung wurde mir die Dienstaufsicht über die früheren und nun wieder neu zu eröffnenden Strafgefangenenlager Emsland in Papenburg übertragen.« Generalstaatsanwalt in Oldenburg Meyer-Abich an Staatshochbauamt Lingen vom 21.11.1945 (NLA OS, Rep 660 Lin, Nr. 36, unpag.).
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ehemaligen Emslandlager »abzuwickeln und eine Wiedereröffnung vorzubereiten«.230 Badry wurde damit der erste Leiter der Strafanstalten Emsland nach Kriegsende. Seine berufliche Laufbahn hatte er als Justizbeamter im Strafvollzug der Weimarer Republik begonnen. Während der NS-Zeit war er als Oberlehrer »planmäßig«231 an der Untersuchungshaftanstalt Saarbrücken angestellt, wurde zwischen 1939 und 1942 als Lehrkraft und Fürsorger im Strafgefangenenlager Rodgau-Dieburg abgeordnet und ab dem Jahr 1942 übernahm er die Leitung des Jugendgefängnisses Johannesburg in Börgermoor.232 Da vor der Wiederbelegung mit Gefangenen die aktuelle Nutzung und der Zustand der Barackenlager geklärt werden mussten, wurde seitens der Justizverwaltung auf vorhandene lokale und regionale Strukturen zurückgegriffen.233 Das Staatshochbauamt in Lingen, das bereits den Aufbau der Barackenlager zwischen 1933 und 1938 koordiniert hatte, wurde als zuständige Baubehörde erneut tätig.234 Zusammen mit der Staatlichen Moorverwaltung, die weiterhin im Dezember 1945 unter der Leitung des Nationalsozialisten Holland stand, forderte das Staatshochbauamt Lingen, die mit dem Kriegsende zum Stillstand gebrachte Moorkultivierung mittels Gefangenenarbeit wieder aufzunehmen: Lager, die von DPs geräumt waren, sollten für die Wiederbelegung mit Justizstrafgefangenen instandgesetzt werden.235 Eine rasche Wiederaufnahme der Erschließungsmaßnahmen und Neuland gewinnung wurde angesichts der starken Flüchtlingsströme ebenso auf Landesebene gefordert. Hinrich Wilhelm Kopf gab als Oberpräsident der Provinz Hannover am 17. August 1946 bekannt, dass »mit möglichster Beschleunigung alle Vorbereitungen zu treffen [sind], um eine baldige Abgabe des Gebietes B
230 Wilhelm Maria Badry, Konzentrations- und Gefangenenlager im Emsland von 1933–1945. In: Jahrbuch des Emsländischen Heimatbundes, 15 (1968), S. 127–136, hier 127. 231 Personalakte Wilhelm Maria Badry, Reichsminister der Justiz an Generalstaatsanwalt in Celle vom 6.10.1942 (Hessisches Staatsarchiv Darmstadt [HStAD], G21B, 3207, unpag.). 232 Vgl. Personalakte Wilhelm Maria Badry, Reichsminister der Justiz an Generalstaatsanwalt in Celle zur Abordnung des Oberlehrers Badry an das Jugendgefängnis Johannesburg vom 9.10.1942 (HStAD, G21B, 3207, unpag.); Petra Götte, Jugendstrafvollzug im »Dritten Reich«. Diskutiert und realisiert – erlebt und erinnert, Rieden 2003, S. 415 f. 233 Vgl. Generalstaatsanwalt in Oldenburg Meyer-Abich an Staatshochbauamt Lingen vom 21.11.1945 (NLA OS, Rep 660 Lin, Nr. 36, unpag.). 234 Vgl. Staatshochbauamt Lingen an Generalstaatsanwalt in Oldenburg vom 29.11.1945 (NLA OS, Rep 660 Lin, Nr. 36, unpag.). 235 Dies geht u. a. aus einem Schreiben des Staatshochbauamtes an den Regierungspräsidenten von Osnabrück hervor. Darin wird um die Nutzung eines ehemaligen Wohn- und Wirtschaftsgebäudes der SA-Wachmannschaften in Börgermoor als landwirtschaftlicher Stützpunkt gebeten. Staatshochbauamt Lingen an Regierungspräsident in Osnabrück, Betr.: Instandsetzung des Wohn- und Stallgebäudes der Lager-Landwirtschaft in dem Gebiet B der Staatl. Moorverwaltung vom 29.12.1945 (NLA OS, Rep 660 Lin, 2001/024 Nr. 4, unpag.).
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als Siedlungsland zu ermöglichen«.236 Im Zuge dieses Erlasses fand am 28. August 1946 eine »Zusammenkunft der Vertreter der an der Emslandkultivierung beteiligten Behörden« statt.237 Dabei wurde die Wiederbelegung der ehemaligen Emslandlager und die Planung des Arbeitseinsatzes der Gefangenen beschlossen. Neben Badry und Vertretern der Raumplanung nahmen an dem Treffen auch Oberregierungsrat Sagemüller sowie Regierungsrat Herzog vom Kulturamt Meppen teil.238 Sagemüller und Herzog hatten ebenso wie Holland tragende Rollen beim brutalen und ideologisch aufgeladenen Kultivierungsprojekt vor 1945 gespielt. Herzog koordinierte im Sinne der Blut-und-Boden-Ideologie die Kolonisierung, während Sagemüller den ausbeuterischen Gefangeneneinsatz plante. Dennoch hatten beide ihre Funktionen in der Landwirtschaftsverwaltung bzw. Raumplanung nach Kriegsende nicht aufgeben müssen.239 Im Zuge der eingeleiteten Entnazifizierungsverfahren waren Sagemüller und Herzog als nominelle NaziUnterstützer der Kategorie V »Entlastete« zugeordnet worden. In der Akte von Sagemüller wurde diese Entscheidung damit begründet, dass er »auch in allen demokratisch gesinnten Kreisen einen besonders guten politischen und charakterlichen Ruf genossen hat«.240 Ebenfalls wurde Herzog, der seit dem Jahr 1933 SA- und seit 1939 Parteimitglied gewesen war, entlastet, da »die Prüfung des Belastungsmaterials und der Personalakte ergab, dass keine politische Aktivität sowie berufliche Bevorzugung vorliegt«.241 Insbesondere im lokalen und regionalen Landwirtschafts- und Raumplanungssektor scheinen gegenseitige Schutzbehauptungen besonders wirksam gewesen zu sein. Hugle, selbst zwischen 1933 und 1945 am Erschließungsprojekt beteiligt, schrieb aus Anlass des 75. Geburtstages von Sagemüller im Jahr 1955, dass dieser »zu den wenigen noch lebenden ›alten Fuhrleuten‹ der Wasserwirtschaft gehört und im Leben und Wirken eine Tradition verkörpert, von der sich die heutige Generation der Beamten kaum noch einen Begriff machen kann«.242 Hugle war es auch, der auf Landesebene den Gefangeneneinsatz zwischen 1933 236 Kulturamt Meppen, Betr.: Einsatz der Kultivierung in den Staatsgebieten, Vermerk vom 28.8.1946 (NLA OS, Rep 675 Mep Nr. 98, unpag.). 237 Ebd. 238 Vgl. ebd. 239 In einem Schreiben des Staatshochbauamtes an den Regierungspräsidenten von Osnabrück wird Holland noch Ende 1945 in seinem Amt als Wirtschaftsdirektor und Leiter der Staatlichen Moorverwaltung genannt. Vgl. Staatshochbauamt Lingen an Regierungspräsident in Osnabrück, Betr.: Instandsetzung des Wohn- und Stallgebäudes der Lager-Landwirtschaft in dem Gebiet B der Staatl. Moorverwaltung vom 29.12.1945 (NLA OS, Rep 660 Lin, 2001/024 Nr. 4, unpag.). 240 Entnazifizierungsakte Wilhelm Sagemüller, Category V Approved vom 15.11.1946 (NLA OS, Rep 980, 56583, unpag.). 241 Personalakte Adolf Herzog, Entnazifizierungs-Entscheidung im schriftlichen Verfahren vom 21.1.1949 (NLA OS, Rep 430 Dez 101, 2004/ 033 Nr. 12, unpag.). 242 Richard Hugle, Kleine Beiträge. Wilhelm Sagemüller zum 75. Geburtstag, Neues Archiv für Niedersachsen, o. D. (1955) (NLA OS, Dep 116, 2001/059 Nr. 54, unpag.).
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und 1945 in eine Erfolgsgeschichte von der Emslandkultivierung integrierte. In einem Schreiben an den Niedersächsischen Ministerpräsidenten aus dem Jahr 1949 erinnerte er daran, dass die Moorkultivierung zwischen 1933 und 1945 »durch den Einsatz von politischen Häftlingen, Strafgefangenen und zeitweise des RAD erheblich gefördert« werden konnte.243 Nachdem die ehemaligen Emslandlager von den polnischen Besatzungstruppen im Jahr 1948 vollständig geräumt worden waren, hatte die flächendeckende Instandsetzung und Wiederbelegung der Lager eingesetzt.244 Welche mentalen Kontinuitäten dabei aufseiten der Akteure der Moorkultivierung nachzuweisen sind, zeigt eine Quelle aus dem Jahr 1950. Am 14. Januar 1950 reichte ein Ingenieur, der für das Wasserwirtschaftsamt Meppen arbeitete und hierbei die Entwässerungsarbeiten in den Erschließungsgebieten kontrollierte, eine Beschwerde über das Verhalten eines Gefangenen bei seinem Arbeitgeber ein. Der Ingenieur hatte mit seinen Kollegen im Januar eine Arbeitsstelle besucht, an der Gefangene zum Grabenbau eingesetzt waren. Dabei hatte ein Vorarbeiter die Arbeitenden aufgefordert, ihre Arbeitsleistung zu steigern, woraufhin ihm ein Gefangener drohte, »ihm mit der Schaufel über den Kopf« zu schlagen. In seiner Beschwerde, in der er den Vorfall beschreibt, fordert der Ingenieur Disziplinierung und Bestrafung des Gefangenen: »Ich sagte zum Inspektor Enders, dass ich verlange, dass der Gefangene bestraft wird. Der Gefangene rief mir zu: Halt den Schnabel. Ich erklärte, dass ich so etwas nicht dulde und eine Anzeige machen würde und bat Ins. Enders, diesen Mann uns nicht mehr auf die Baustelle zu schicken. Der Gefangene rief mir dann in bedrohlicher Haltung zu: Ich komme mal wieder und ich werde Sie schon kriegen, ich bin seit 1929 in der KPD. Der Ins. drehte sich dann um zum Gehen und erklärte mir, dass er gegen den Mann nichts machen könne, wenn er ihn einsperre, hätte er getobt und 3 Arrestzellen demoliert. [...] Dieser Zustand ist untragbar. Wo sie heute bedrohen, können sie morgen tätlich vorgehen. Wenn ein freier Mensch mich bedroht, so begeht er damit eine strafbare Handlung. Ein Strafgefangener wird bestimmt nicht mehr Rechte haben. Es ist erforderlich, dass die Gefangenen entsprechend diszipliniert werden, dass sie es lernen, sich als anständige Menschen anderen Menschen gegenüber zu benehmen und nicht in Gegenwart eines Justizinspektors und eines Wachmannes noch bedrohen.«245 243 Regierungspräsident Osnabrück, Bezirksplaner Richard Hugle an den niedersächsischen Ministerpräsidenten, Betr.: 10-Jahresplan für die Erschließung des Emslandes vom 20.3.1949 (BArch Koblenz, B 116/ 3909, unpag.). 244 Im Jahr 1947 wurde der Plan zum Gefangeneneinsatz im Moor zwischen dem Vorstand der Strafanstalten, Badry, und dem Vorstand des Wasserwirtschaftsamtes Meppen, Sagemüller, beschlossen. In Kraft trat der Vertrag durch die Genehmigung des Generalstaatsanwalts in Oldenburg, Meyer-Abich, und des Regierungspräsidenten in Osnabrück, Johannes Petermann (CDU). Hierin wurde u. a. die anvisierte Arbeitszeit der Gefangenen festgelegt, die wöchentlich 48 Stunden betrug und an Samstagen um 13.00 Uhr endete. Dabei wurden die Wege zur Arbeitsstelle nicht eingerechnet, sofern sie weniger als 30 Minuten in Anspruch nahmen. Vertragsentwurf von 1947 (NLA OS, Rep 430 Dez 502, 15/65, Nr. 198, Band 1, unpag.). 245 Albert Hinrichs an Wasserwirtschaftsamt Meppen, Betr.: Anzeige gegen den Strafgefangenen Frankreiter vom Strafgefangenenlager Gr. Hesepe wegen Bedrohung vom 14.1.1950 (NLA OS, Rep 675 Mep, Nr. 317, unpag.).
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Von diesem in dieser Quelle nur angedeuteten Milieu wurde die Wiederaufnahme des Gefangeneneinsatzes in der Nachkriegszeit geplant. Aspekte des modernen Strafvollzugs wie Fürsorge, Bildung und Reintegration wurden dabei kaum berücksichtigt. So äußerte die britische Militärregierung in einem Schreiben an den Regional Commissioner vom 2. Januar 1949 starke Bedenken in Bezug auf die Strafanstalten im Emsland. Ihnen wurde weniger der Charakter aufgeklärter Justizstrafanstalten als vielmehr einfacher Arbeitslager attestiert, da sie abseits ökonomischer Überlegungen und materieller Versorgung soziale Aspekte völlig außer Acht ließen.246 Trotz solcher Zweifel waren im Mai 1949 acht der ehemaligen Emslandlager mit 2 061 Gefangenen wiederbelegt, von denen 565 Gefangene für das Wasserwirtschaftsamt im Moor arbeiteten.247 Dabei handelte es sich in der Mehrzahl um Justizstrafgefangene und nur zu einem geringen Teil um Internierte.248 Die Belegung der Lager war nur durch die Zuführung von Strafgefangenen aus Nordrhein-Westfalen möglich geworden, da zu dieser Zeit die Gefangenenzahlen in Niedersachsen stark zurückgegangen waren.249 Wenngleich zu dieser Zeit ein Mangel an Gefangenen bestand, insistierte Oberregierungsdirektor Dr. Hasso Kadelbach, Leiter der landwirtschaftlichen Abteilung der Regierung Osnabrück, im Mai 1949 darauf, bislang von Flüchtlingsfamilien bewohnte Barackenlager räumen zu lassen, um weitere Abteilungen der Strafanstalten Emsland eröffnen zu können.250
246 Im Original: »The Camps that have already been occupied by prisoners have been put into a reasonable state of repair but are completely devoid of anything connected with welfare, education or re-education. The prisoners are either out working or locked in with nothing to do. Not the slightest consideration has been paid, so far, to the human factor beyond bare material needs. A splendid opportunity presents itself for classifying different types of prisoners in seperate Camps but nothing has been done in this direction.« Land Legal Department HQ Land Niedersachsen, Hannover, 229 HQ CCG (BE), B. A. O. R. 5 an den Regional Commissioner, Subject: German Penal Administration Land Niedersachsen, Emsland Scheme, Apendix: Suggested Headings under which penal redeem in Land Niedersachsen is considered urgent necessary vom 2.1.1949 (TNA, FO 1060/912, unpag.). 247 Hierbei handelte es sich um die Lager Wietmarschen, Hesepe, Versen, Wesuwe, Neusustrum, Rhederfeld, Börgermoor und Esterwegen. 248 Vgl. Haverkamp, Die Erschließung des Emslandes, S. 84–87. 249 In einem Schreiben des Staatshochbauamtes Lingen an den Regierungspräsidenten wird da rauf hingewiesen, dass »durch die laufenden Zuweisungen weiterer Gefangener, die nunmehr beschleunigt für die Kultivierungsarbeiten eingesetzt werden sollen, vordringlich weitere Baracken bezugsfertig gemacht werden [müssen]«. Staatshochbauamt Lingen an Regierungspräsident in Osnabrück, Betr.: Einmalige Hauptinstandsetzung des Strafgefangenenlagers III BrualRhede vom 1.4.1949 (NLA OS, Rep 430 Dez 209, 61/87 Nr. 82, unpag.). 250 So sollte der Vorstand der Strafanstalten Emsland im Auftrag des Regierungspräsidiums den Kreis Grafschaft Bentheim dazu veranlassen, die Flüchtlingsunterbringung im ehemaligen Lager Bathorn zu räumen. Vgl. Vorstand Strafanstalten Emsland, Oberregierungsrat Badry an Regierungspräsident in Osnabrück z. H. Regierungsdirektor Dr. Kadelbach vom 3.5.1949 (NLA OS, Rep 430 Dez 502, 15/65 Nr.198 Band 1, unpag.).
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Parallel zur Wiederbelegung der Strafanstalten und einer regionalen Kultivierungsplanung, die fast ausschließlich auf der Arbeitskraft von Gefangenen basierte, wurde auf Landes- und Bundesebene über eine mögliche Förderung des strukturschwachen Emslandes durch amerikanische Aufbauhilfe diskutiert.251 Im Mai 1950 fiel schließlich der Bundestagsbeschluss zum sogenannten Emslandplan. Aus Mitteln des »European Recovery Program« (»Marshall-Plan«) wurde eine flächendeckende maschinelle Erschließung der Moorgebiete möglich.252 Im Zuge der Aufbauhilfe wurde der Arbeitseinsatz umstrukturiert und die Gefangenenzahl auf 1 000 Männer reduziert, während sich die Anzahl freier Arbeitskräfte auf 5 000 erhöhte.253 Letztendlich wurden die beiden Abteilungen Bathorn und Rhede im November 1951 geschlossen.254 Weitere Abteilungen der Strafanstalten Emsland, die geschlossen wurden und von nun an als Flüchtlingsunterkünfte oder Standorte der Moorkultivierung dienten, waren Fullen,255 Dalum, Neusustrum,256 Wesuwe257 und Oberlangen.258 Die Abteilung E sterwegen bestand bis 251 In diesem Zusammenhang äußerte sich Siegfried Palmer, Referent der Bizonenverwaltung für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (Frankfurt a. M.) über die Gefangenenarbeit: »Im Hinblick auf die amerikanischen Geldgeber kann man ein so großes Projekt wie die Emslandkultivierung nicht auf dem Gefangeneneinsatz aufbauen. Es müsste von deutscher Seite aus dieser Einsatz immer verschwiegen werden, zumindest kann er nicht zu diesem Angelpunkt des Emsland-Zehnjahresplanes gemacht werden.« Siegfried Palmer an Regierungsdirektor Gröbner vom niedersächsischen Ministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, Betr.: Erschließung des Emslandes vom 19.1.1950 (BArch Koblenz, B116/ 3909, unpag.). 252 Den Beschluss hierzu fällte der Bundestag am 5. Mai 1950, nachdem der Bundestagsabgeordnete Heinrich Eckstein aus dem Kreis Lingen/Ems sowie weitere 20 CDU-Abgeordnete einen entsprechenden Antrag gestellt hatten. Vgl. Deutscher Bundestag (Köhler) an den Herrn Bundeskanzler der BRD vom 5.5.1950 (BArch Koblenz, B 116/ 3909, unpag.). 253 Vgl. Niedersächsisches Kulturamt (Herzog) zum Siedlungsprogramm Emsland/Entwicklung eines 10 Jahresplans/Umstellung auf den verstärkten Einsatz von Erwerbslosen (Flüchtlingen) vom 15.2.1950 (BArch Koblenz, B116/ 3909, unpag.). 254 Die Übergabe der Lagergelände Bathorn und Brual-Rhede an das Regierungspräsidium Osnabrück wurde am 24.11.1951 bestätigt. Vgl. Regierungspräsident in Osnabrück an Generalstaatsanwalt in Oldenburg, Betr.: Übergabeverhandlung Lager Brual-Rhede vom 24.11.1951 (NLA OS, Rep 660 Lin, Nr. 49 Band II, unpag.). 255 Vgl. Staatshochbauamt Lingen, Protokoll Übergabeverhandlung vom 19.4.1951 (NLA OS, Rep 660 Lin, 2001/024 Nr. 32, unpag.). 256 Vgl. Niedersächsisches Landesamt für die Beaufsichtigung gesperrten Vermögens an Regierungspräsident in Osnabrück, Betr.: Übertragung von Vermögenswerten auf das Land Niedersachsen vom 2.2.1951 (NLA OS, Rep 430 Dez 306, 8/65 Nr. 87, unpag.). 257 Vgl. Regierungspräsident in Osnabrück an Wasserwirtschaftsamt Meppen, o. D. (1951) (NLA OS, Rep 675 Mep, 31/99 Nr. 14, unpag.). 258 Für Wohn- und Wirtschaftszwecke erhielt die Staatliche Moorverwaltung mit Berechtigung zur Untervermietung von Wohnungen an spätere Siedlerfamilien das Lager Oberlangen. Vgl. Mietvertrag zwischen Land Niedersachsen, Justizverwaltung (Generalstaatsanwalt in Oldenburg bzw. Vorstand der Strafanstalten Emsland in Papenburg) als Vermieter und Land Niedersachsen, landwirtschaftliche Verwaltung (Regierungspräsidenten in Osnabrück) als Mieter vom 14.4.1951 (NLA OS, Rep 430 Dez 209, 61/87 Nr. 82, unpag.).
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1952,259 Börgermoor bis in die 1960er-Jahre, Groß Hesepe260 und Versen existieren bis heute als Justizvollzugsanstalten im Emsland. Bis zum Jahr 1958 wurden Gefangene der Strafanstalt Lingen bei Kultivierungsarbeiten im Emsland eingesetzt.261 Mit Blick auf die Wiederaufnahme der Moorkultivierung ist zu konstatieren, dass die Wiederbelegung der ehemaligen Emslandlager mit Gefangenen zum einen die Funktion hatte, als Teil der Exekutive ein Gefangenenwesen wiederaufzubauen. Zum anderen, und dies war maßgeblich das Anliegen regionaler Akteure, sollte auf dem Gefangeneneinsatz aufbauend die kurzzeitig durch das Kriegsende unterbrochene Emslandkultivierung fortgesetzt werden. Nicht der Aspekt der Gefangenenarbeit stellt dabei ein Spezifikum dar, denn eine Tätigkeit als Teil der Gefangenenbetreuung war und ist im Strafvollzug üblich. Auffallend ist vielmehr, dass regionale Akteure den Erfolg des Kultivierungsprojektes allein vom Gefangeneneinsatz abhängig machten. Selbst als vonseiten der Westalliierten sowie auf Landes- und Bundesebene moralische und wirtschaftliche Zweifel an einem derartigen Kultivierungsprojekt geäußert wurden, hielten die Raumplaner an dem Gefangeneneinsatz fest. Diese eingangs als Kontinuierung beschriebene Strategie diente besonders wirkungsvoll der regionalen Entlastung: Der ausbeuterische Charakter des Zwangseinsatzes zu NS-Zeiten wurde ausgeblendet und in eine lineare Erfolgsgeschichte der Landerschließung integriert.
3.
Zwischenfazit
Die Einnahme des Emslandes durch britische, polnische und kanadische Truppeneinheiten markierte den Beginn eines erinnerungskulturellen Interregnums, das im Emsland spätestens im Jahr 1950 endete, als die Gestaltung des Gedenkens an die Todesopfer der Emslandlager vollständig an deutsche Akteure überging. In der hier beschriebenen Phase wurde die Krisenerfahrung der Entdeckung der nationalsozialistischen Verbrechen mit Formen verarbeitet, die sich zu einem Symbolbestand verfestigten: Im Bewahren, Gedenken, Ahnden und 259 Die Abteilung wurde im Laufe des Jahres 1952 aufgelöst, danach wurden hier aus der DDR Geflüchtete untergebracht. Vgl. Vorstand des Staatshochbauamtes zum Ausbau des Lagers Esterwegen zur Unterbringung von Ostzonenflüchtlingen, Erläuterungsbericht vom 30.3.1953 (NLA OS, Rep 660 Lin, Nr. 44, unpag.). 260 Vgl. Wasserwirtschaftsamt an Regierungspräsidenten zur Belegung mit Strafgefangenen vom 7.6.1949 (NLA OS, Rep 675 Mep, 31/99 Nr. 14, unpag.). Nach einem Brand im Oktober 1964 wurden die Holzbaracken durch einen Massivbau ersetzt. Vgl. Direktion Staatliche Moorverwaltung an Regierungsvermessungsrat Held beim Kulturamt Meppen vom 16.10.1964 (NLA OS, Rep 660 Lin, 2001/024 Nr. 26, unpag.). 261 Dies geht aus den bis April 1958 nachweisbaren Gefangenenlöhnen hervor. Vgl. Anlage zum Verwendungsnachweis über die Bundesbeihilfe des Rechnungsjahres 1957/58 für das Land Niedersachsen, Zusammenstellung der Ausgaben, o. D. (April 1958) (NLA OS, Rep 565, 32/90 Nr. 615, unpag.).
Zwischenfazit
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Erziehen ist diese öffentlich wirksam werdende Erinnerungskultur zu beschreiben. Die Exhumierungs- und Bestattungsarbeiten im Lager Aschendorfermoor im Februar 1946 reihten sich ein in die britischen und US-amerikanischen Rituale der forced confrontations. Ebenso waren die Prozesse gegen Kriegsverbrecher, die zwischen 1946 und 1948 unter britischen Militärgerichten stattfanden und die die Verbrechen in den Emslandlagern bestraften, aufgrund der intensiven Berichterstattung Teil des britischen Demokratisierungsprogramms. Dass der Umgang mit den Toten eine zentrale Bedeutung im Prozess einer Sinnbildung der Gewaltverbrechen hatte, wurde mit Blick auf die britischen Bestimmungen sowie die Diskussionen im Alliierten Kontrollrat zur Erhaltung der Gräber von NS-Verfolgten deutlich. In der britischen Zone wurde im Oktober 1945 das ewige Ruherecht für Gräber von »KZ-Toten« angeordnet. Zwei Jahre später erfolgte eine alliierte Direktive, die die dauerhafte Erhaltung der Massengräber von namenlosen und identifizierten zivilen, militärischen, gefangenen und deportierten UN-Bürgern und UN-Bürgerinnen vorsah, die in Missachtung des Völkerrechts in Deutschland ermordet worden waren. Wegweisend waren die britischen und alliierten Richtlinien insofern, als den Gräbern ein Denkmalwert eingeschrieben wurde und, wie am Beispiel der sowjetischen Ehrenfriedhöfe gezeigt, jedes UN-Mitglied die Gräber seiner Toten ausgestalten konnte. Richtungsweisend war auch die Wiederzulassung des VDK als deutschem Kriegsgräberdienst, denn er sollte in den 1950er-Jahren einer der zentralen Akteure der bundesrepublikanischen Erinnerungskultur werden. Dass die alliierten Erinnerungskulturen von deutscher Seite teils abgelehnt wurden und in Konkurrenz zum eigenen Opferverständnis standen, wurde entlang von Aussagen emsländischer Akteure nachgezeichnet, die Einblicke in den damaligen Diskurs über die Emslandlager geben: Typisch für die von einer Umkehrung geprägte Phase war eine viktimisierende Selbstdeutung, also eine Stilisierung zum Opfer des Krieges und seiner Folgen, die sich für die Bevölkerung des nördlichen Emslandes in der Räumung ihres privaten Wohnraums und dem Einzug polnischer DPs und Truppenangehöriger zugespitzt hatte. In dieses Opferbild fügten sich Deutungsmuster ein, die die ehemaligen Gefangenen der Emslandlager als Kriminelle stigmatisierten und ihnen damit ihr Leid absprachen. Eine Strategie, die im Falle der Zwangsauflösung einer ersten Gefangenen-Interessenvertretung im Jahr 1946 sowie der Verweigerung weiterer Fürsorgemaßnahmen durch die Stadt Papenburg weitreichende negative Konsequenzen für die ehemaligen Gefangenen hatte. Anhand der Antworten der Gemeinden und Landkreise, die im Rahmen des UN-Suchprogramms bei der UNRRA und ihrer Nachfolgeinstitution eintrafen, konnte darüber hinaus das Phänomen des »Verschwindens der Lager« aufgezeigt werden: Die bislang den Alltag prägenden Bilder, die Beziehungsverflechtungen insbesondere im Hinblick auf die Zwangsarbeit, wurden bewusst verschwiegen. Sind all diese Reaktionen typisch für ein mehrheitsgesellschaftliches Entlastungsbedürfnis,
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so zeigt sich im Emsland die Besonderheit vor allem in der Wiederaufnahme des Gefangeneneinsatzes im Moor. Der von personellen Kontinuitäten gekennzeichnete Landwirtschafts- und Raumplanungssektor hielt nach Kriegsende am großflächigen Gefangeneneinsatz im Moor fest und schrieb die vermeintliche Erfolgsgeschichte des NS-Kultivierungsprojektes fort.
IV.
Abwehr und Selbstbehauptung: Streit über den Gräbern (1950–1962)
Seit dem 20. September 1949 stand die Bundesrepublik Deutschland (BRD) unter der Kanzlerschaft von Konrad Adenauer (1949–1963). Seine Amtszeit war durch eine auf die Gegenwarts- und Zukunftsherausforderungen gerichtete Politik der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Festigung gekennzeichnet. Je nach Blickwinkel und Schwerpunktsetzung wurde diese mit unterschiedlichen Signaturen belegt, die von Restauration und Antikommunismus als ideologischer Kitt über Wiederaufbau und Wirtschaftswunder bis hin zur gesellschaftlichen Modernisierung reichen. Nach heutigem Forschungsstand stehen diese Beschreibungen nicht mehr in Konkurrenz zueinander, sondern laufen vielmehr zusammen und zeichnen ein differenziertes Bild der jungen Bundesrepublik.1 Als Rechtsnachfolgerin des »Drittens Reiches« distanzierte sich die Bundesrepublik außenpolitisch vom Nationalsozialismus, bekannte sich zum Westen und strebte ihre politische Souveränität an.2 Gleichzeitig war die Innenpolitik von legislativen Maßnahmen gekennzeichnet, die die mehrheitsgesellschaftlich abgelehnte alliierte Entnazifizierungspolitik überwinden, zur gesellschaftlichen und politischen Stabilisierung beitragen und das »kommunikative Beschweigen«3 gesetzlich
1 2 3
Vgl. Ulrich Herbert (Hg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945 bis 1980, Göttingen 2002; Axel Schildt/Arnold Sywottek (Hg.), Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1993. Vgl. zur Entwicklung der Politik der Westintegration zum Ziel der bundesrepublikanischen Souveränität Anselm Doering-Manteuffel, Die Bundesrepublik Deutschland in der Ära Adenauer. Außenpolitik und innere Entwicklung 1949–1963, Darmstadt 1983, S. 51–76. Hermann Lübbe, Vom Parteigenossen zum Bundesbürger – über beschwiegene und historisierte Vergangenheiten, München 2007, S. 143. Dem kollektiven Schweigegebot attestierte der konservative Philosoph eine wichtige Funktion im Demokratisierungsprozess der Bundesrepublik. Vgl. zur Kritik an dem von Lübbe geprägten Begriffspaar und seinen erinnerungspolitischen Implikationen Axel Schildt, Zur Durchsetzung einer Apologie. Hermann Lübbes Vortrag zum 50. Jahrestag des 30. Januar 1933, vgl. ders., Der Nationalismus im politischen Bewusstsein der Gegenwart. In: Zeithistorische Forschungen, 10 (2013) 1, S. 148–152.
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Abwehr und Selbstbehauptung
a bsichern sollten. Zentral für diese »Vergangenheitspolitik«4 waren die zwischen 1949 und 1954 erlassenen Straffreiheitsgesetze, die es ermöglichten, nationalsozialistische Straftäter als Gehilfen zu amnestieren.5 Ebenfalls prägend waren die milden Urteile bei der Ahndung von NS-Verbrechen. Bis Mitte der 1950er-Jahre sollte die Mehrheit der Angehörigen von den in den Nürnberger Prozessen als verbrecherisch erklärten Organisationen rehabilitiert sein.6 Das »sanktionsfreie Vergessen von Straftaten«7 entsprach dem mehrheitsgesellschaftlichen Entlastungsbedürfnis nach den von Konfrontation und Reeducation geprägten ersten Nachkriegsjahren.8 Darüber hinaus handelte die junge Bundesrepublik aber auch die finanzielle Entschädigung der NS-Verfolgten aus.9 Korrespondierend mit dem Streben nach außen- und innenpolitischer Konsolidierung, standen einerseits die Globalabkommen, die durch Entschädigungszahlungen an Staaten den Weg zur nationalen Souveränität ebnen sollten.10 Andererseits schloss das am 6. Juni 1956 verabschiedete Bundesentschädigungsgesetz (BEG) im Zeichen des Kalten Krieges kommunistische NS-Verfolgte aus. Auch blieben Homosexuelle, »Asoziale« oder wehrmachtgerichtlich Verurteilte unberücksichtigt.11 4 Vgl. Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 2012, S. 11–13; Petra Bock/Edgar Wolfrum, Einleitung. In: dies. (Hg.), Umkämpfte Vergangenheit. Geschichtsbilder, Erinnerung und Vergangenheitspolitik im internationalen Vergleich, Göttingen 1999, S. 7–14, hier 9. 5 Zu den Amnestien vgl. Joachim Perels, Amnestien für NS-Täter in der Bundesrepublik. In: Kritische Justiz, 28 (1995) 3, S. 382–389, besonders 382–385. 6 Vgl. Peter Bahlmann, Verbrechen gegen die Menschlichkeit? Wiederaufbau der Justiz und frühe NS-Prozesse im Nordwesten Deutschlands, Dissertation Universität Oldenburg 2008, S. 415– 452 (http://oops.uni-oldenburg.de/1015/1/bahver08.pdf; 15.5.2020). 7 Joachim Perels, Der Nationalsozialismus als Problem der Gegenwart, Frankfurt a. M. 2015, S. 81. 8 Vgl. Hans-Ulrich Thamer, Die westdeutsche Erinnerung an die NS-Diktatur in der Nachkriegszeit. In: Peter März/Hans-Joachim Veen (Hg.), Woran erinnern? Der Kommunismus in der deutschen Erinnerungskultur, Köln 2006, S. 51–70, hier 61. 9 Vgl. Constantin Goschler, Schuld und Schulden. Die Politik der Wiedergutmachung für NS-Verfolgte seit 1945, Göttingen 2005, S. 176–181; Edgar Wolfrum, Die Anfänge der Bundesrepublik, die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit und die Fernwirkungen für heute. In: Ursula Bitzegeio/Anja Kruke/Meik Woyke (Hg.), Solidargemeinschaft und Erinnerungskultur im 20. Jahrhundert. Beiträge zu Gewerkschaften, Nationalsozialismus und Geschichtspolitik, Bonn 2009, S. 363–377, hier 365. 10 Vgl. zu den zwischenstaatlichen Abkommen Lutz Wiegand, Kriegsfolgengesetzgebung in der Bundesrepublik Deutschland. In: Archiv für Sozialgeschichte (AfS), 35 (1995), S. 71–90, hier 72 f. 11 Vorläufer der bundesrepublikanischen Entschädigung war das US-Entschädigungsgesetz, das 1949 in Kraft trat und eine individuelle Entschädigungsberechtigung festlegte. Mit Gründung der Bundesrepublik wurde diese Gesetzgebung in das Grundgesetz aufgenommen, blieb aber föderalistisch und wurde nicht vereinheitlicht. Vgl. Ulrike Guckes, Opferentschädigung nach zweierlei Maß? Eine vergleichende Untersuchung der gesetzlichen Grundlagen der Entschädigung für das Unrecht der NS-Diktatur und der SED-Diktatur, Berlin 2008, S. 28 f. Sofern der Straftatbestand, der zwischen 1933 und 1945 zu einer Verurteilung geführt hatte, noch in der BRD galt, war eine Entschädigung ausgeschlossen. Dies betraf z. B. die nach § 175 Verurteilten. Vgl. Goschler, Schuld und Schulden, S. 195.
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Der bundesrepublikanischen Konsolidierungspolitik der 1950er-Jahre und ihren Folgen für die NS-Verfolgten widmet sich das vorliegende Kapitel. Es setzt damit am Übergang von britischen zu deutschen Verwaltungsstrukturen und der Gründung der Bundesrepublik an und untersucht, wie sich die Erinnerungskultur mit Bezug auf die Emslandlager in den 1950er-Jahren entwickelte und wandelte. Zeitlich reicht es dabei bis zum Jahr 1962, als die Emslandlager erstmals und dann schließlich wiederholt von der Presse und anderen gesellschaftlichen Akteuren als Thema aufgegriffen wurden. Im Zusammenhang mit einer allgemeinhin von Abwehr gekennzeichneten Haltung gegenüber der NS-Vergangenheit wird nach den spezifischen im regionalen Untersuchungsraum nachweisbaren kommunikativen Strategien und Handlungspraktiken gefragt. Dabei richtet sich der Blick zunächst auf den Umgang mit den neun Friedhöfen im Emsland und beleuchtet die Gräberfürsorge als zentrales kommunales und staatliches erinnerungskulturelles Handlungsfeld.12 Das folgende Unterkapitel führt mit der »Emsland-Lagergemeinschaft Moorsoldaten« einen neuen Akteur ein, der sich Mitte der 1950er-Jahre lautstark zu Wort meldete und die Erinnerungskultur in den kommenden Jahrzehnten entscheidend prägen sollte.13 Wie im Folgenden zu zeigen ist, hatten die neun Friedhöfe im Emsland sowohl aufseiten der Überlebenden als auch für kommunale und staatliche Akteure eine herausgehobene Bedeutung. In dieser Hinsicht knüpft die Untersuchung an vorliegende Forschungsergebnisse an – so hat Skriebeleit in Bezug auf den Umgang mit dem ehemaligen KZ Flossenbürg die Phase zwischen 1950 und 1960 unter der Kategorie »Grabgestaltung und Gründungsmythen« gefasst –, vertieft sie dabei und beleuchtet vor allem mit der Lagergemeinschaft einen bereits in den 1950er-Jahren besonders wirkmächtigen Akteur.
12 Vgl. Skriebeleit, Erinnerungsort Flossenbürg, S. 208–249; ausführlich zum Umgang mit den Friedhöfen im Emsland auch Ann Katrin Düben, »So daß dann diese gesamte Grabstätte in Bockhorst-Esterwegen verschwindet«: Die Friedhöfe für die Toten der Emslandlager im Spiegel der bundesdeutschen Erinnerungspolitik (1945 bis 1970). In: AfS, 55 (2015), S. 235–250. 13 Vgl. Reinhard Rürup, Der lange Schatten des Nationalsozialismus. Geschichte, Geschichtspolitik und Erinnerungskultur, Göttingen 2014; Joachim Perels, Entsorgung der NS-Herrschaft? Konfliktlinien im Umgang mit dem Hitler-Regime, Hannover 2004; Norbert Frei/Sybille Steinbacher (Hg.), Beschweigen und Bekennen. Die deutsche Nachkriegsgesellschaft und der Holocaust, Göttingen 2001; Reichel, Vergangenheitsbewältigung; Frei, Vergangenheitspolitik; Peter Steinbach, Nationalsozialistische Gewaltverbrechen. Die Diskussion in der deutschen Öffentlichkeit nach 1945, Berlin 1981.
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Abwehr und Selbstbehauptung
Die Toten der Emslandlager im Schatten des Kriegsopfergedenkens
Das von weiten Bevölkerungsanteilen geteilte Wissen um die nationalsozialistischen Verbrechen einerseits und die gefühlte eigene Opferschaft infolge der hohen Verluste andererseits schufen in der deutschen Nachkriegsgesellschaft ein Interpretationsproblem. Es fehlte ein Deutungsrahmen der Verarbeitung von Verlust und Trauer, aber auch von Schuld und Verantwortung. Wie sich am Beispiel des Emslandes zeigen lässt, wurde dieses Vakuum mithilfe der Hinwendung zur deutschen Opferschaft, dem Kriegsopfer, geschlossen. Dem deutschen Kriegsopfer kam »angesichts der sozialen Spannungen, politischen Provisorien und moralischen Sensibilitäten«14 eine enorm integrative und stabilisierende Funktion in der jungen Bundesrepublik zu. Zugleich hatte dies zur Folge, dass die NS-Verfolgten in der Erinnerungspraxis zunehmend an den Rand rückten. Diese Verschiebung wurde durch einen Deutungswandel von Opferschaft möglich. So hat Koselleck seit 1945 einen schleichenden Wandel des Opferbegriffs beobachtet. War die Kriegstotenehrung in Deutschland bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges von einem Opferbegriff geprägt, der den Soldatentod heroisierte, da der Soldat für das Vaterland gestorben war, trat nach Kriegsende eine Bedeutungs ebene hinzu, die das passive Erleiden von etwas konnotierte.15 Diese Erweiterung entsprach dem »Massenmord an Unschuldigen«, also den Opfern des Holocaust oder der nationalsozialistischen Okkupationspolitik.16 Seit dem Übergang von den Besatzungszonen zur Bundesrepublik wurden unter dem Kriegsopferbegriff die Millionen toten Soldaten und Zivilisten auf deutscher Seite erfasst.17 In diesem Begriff, so führen Herfried Münkler und Karsten Fischer aus, verschmelzen die beiden Bedeutungsebenen des Opfers: das Kriegsopfer galt als unschuldig und ehrwürdig zugleich, da es sein Leben für die Überlebenden gegeben hatte.18 Dabei lag seine Unschuld darin, dass es nicht mehr als Handlungssubjekt auftrat,
14 Knoch, Die Tat als Bild, S. 162 f. 15 Vgl. Koselleck, Begriffsgeschichten, S. 194, 232; vgl. Herfried Münkler/Karsten Fischer, »Nothing to kill or die for ...« – Überlegungen zu einer politischen Theorie des Opfers. In: Leviathan, 3 (2000), S. 343–362, hier 345 f. Zu den verschiedenen Dimensionen des Opferbegriffs sowie der gesellschaftlichen Funktion der Opferung als Katalysator und Besänftigung von Gewalt und Konflikten vgl. René Girard, Das Heilige und die Gewalt, Ostfildern 2012, S. 9–61. 16 Koselleck, Begriffsgeschichten, S. 194. 17 Vgl. Martin Sabrow, Held und Opfer. Zum Subjektwandel deutscher Vergangenheitsbewältigung im 20. Jahrhundert. In: Margit Frölich/Ulrike Jureit/Christian Schneider (Hg.), Das Unbehagen an der Erinnerung – Wandlungsprozesse im Gedenken an den Holocaust, Frankfurt a. M. 2012, S. 37–54, hier 41. 18 Vgl. Münkler/Fischer, »Nothing to kill or die for ...«, S. 346; Alexandra Kaiser, »Sie wollen gar nicht, dass wir mit lauten Worten sie ›Helden‹ nennen«. Der Volkstrauertag und der Mythos vom Sinn des Sterbens im Krieg. In: Heidi Hein-Kircher/Hans Henning Hahn (Hg.), Politische Mythen im 19. und 20. Jahrhundert in Mittel- und Osteuropa, Marburg 2006, S. 63–80, hier 70.
Die Toten der Emslandlager
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sondern der Krieg diese Position einnahm und so eine unmittelbare Täterschaft aufgelöst wurde.19 Schuld- und Schamgefühle ob der Mitwisserschaft oder -täterschaft konnten in den 1950er-Jahren auf eine abstrakte Kraft umgelenkt werden. Die Konstruktion einer Schicksalsgemeinschaft wurde möglich, die nach den durch die NS-Verfolgten und die Alliierten dominierten Trauerzeremonien der unmittelbaren Nachkriegszeit eine Erinnerungskultur institutionalisierte, in deren Mittelpunkt die eigenen Verluste standen. Qualitative Unterschiede zwischen Todesarten und -ursachen gingen gleichsam in einem nivellierenden Opferbegriff auf.20 Dass diese viktimisierende Selbstdeutung in einem engen Wechselverhältnis zu einer zunehmenden Marginalisierung der NS-Verfolgten steht, ist im Folgenden anhand des Umgangs mit den Toten der Emslandlager auszuführen.21 1.1
Das Kriegsgräbergesetz (1952)
Im Jahr 1948 rief die niedersächsische Landesregierung im Amtsblatt zur Teilnahme am »Gedenktag für die Opfer der NS-Gewaltherrschaft« auf. Darin mahnte sie: »Millionen aufrechter Männer und Frauen haben im Kampf für die unveräußerlichen Menschenrechte Freiheit, Gesundheit und Leben dahingegeben«; die Bevölkerung Niedersachsens habe ihrer daher »in Ehrfurcht und Mitgefühl« zu gedenken.22 Vier Jahre später, am 20. November 1952, hielt Bundespräsident Theodor Heuss zum feierlich begangenen Volkstrauertag im Plenarsaal des Bundeshauses eine Rede, die er mit den Worten einleitete: »Die Mal- und Mahnsteine wachsen – dies gilt den Opfern der Bombenangriffe, dies wächst an dem Rand eines Konzentrationslagers, dies steht auf dem und dem jüdischen Friedhof.«23 Heuss erweiterte mit dieser Ansprache den Kreis der Opfergemeinschaft um die der »Bombentoten«.24 Eine sich im Vergleich der beiden Quellen zeigende 19
Vgl. Hans-Georg Soeffner, Die Ordnung der Rituale. Die Auslegung des Alltags, Frankfurt a. M. 1992, S. 180; Münkler/Fischer, »Nothing to kill or die for ...«, S. 346. 20 Zum Verhältnis von Kriegstotengedenken und Gedenken an die NS-Opfer vgl. Sabine Behrenbeck, Between Pain and Silence. Remembering the Victims of Violence in Germany after 1949. In: Richard Bessel/Dirk Schumann (Hg.), Life after Death. Approaches to a Cultural and Social History of Euope during the 1940s and 1950s, Cambridge 2003, S. 37–64, hier insbes. 38 f.; Reichel/Schmid/Steinbach, Die »zweite Geschichte« der Hitler-Diktatur, S. 17. 21 Vgl. Reinhart Koselleck, Die Diskontinuität der Erinnerung. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 47 (1999), S. 213–222, hier 215. 22 Aufruf im Amtsblatt für Niedersachsen der niedersächsischen Staatsregierung zum Gedenktag für die Opfer der NS-Gewaltherrschaft am 19. September 1948 (NLA OS, Rep 430 Dez 201, 16B/65 Nr. 55, unpag.). 23 Zit. nach Constantin Goschler, Wiedergutmachung. Westdeutschland und die Verfolgten des Nationalsozialismus 1945–1954, München 1992, S. 220. 24 Vgl. Regula Ludi, Antifaschistische Kämpfer und Opfer des Faschismus nach dem Zweiten Weltkrieg. Überlegungen zur historischen Semantik des Opferbegriffs. In: Themenportal Europäische Geschichte (www.europa.clio-online.de/essay/id/artikel-3612; 15.5.2020).
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erspektivverschiebung spiegelten ebenso die kalendarischen Symbole wider. P Der in allen vier Besatzungszonen seit dem Jahr 1946 geltende Gedenktag »für die Opfer des Faschismus« (zweiter Sonntag im September) ging im Jahr 1952 offiziell im Volkstrauertag auf.25 In diese Neuperspektivierung fällt ebenso das Kriegsgräbergesetz, das im Folgenden näher in den Blick zu nehmen ist. Während die Geschichte des Volkstrauertages mittlerweile gut erforscht ist, liegen kaum Informationen zu den Hintergründen dieses Gesetzes vor.26 Dabei ist das Kriegsgräbergesetz für die 1950er-Jahre entscheidend, denn es schuf die Richtlinien zum Umgang mit den Toten der Emslandlager.27 Im Zuge der Gründung der Bundesrepublik und des damit einhergehenden Übergangs von staats- und verwaltungsrechtlicher Verantwortung wurde auch die Kriegsgräberfürsorge neu geregelt. Sie sollte durch ein Gesetz in die Kompetenz der Bundesländer übergehen.28 Im Sommer 1948 begann daher der »Länderrats-Ausschuss für staats- und verwaltungsrechtliche Fragen« einen entsprechenden Gesetzesentwurf vorzubereiten. Hierbei war vorgesehen, die »gesetzlichen Bestimmungen den heutigen Verhältnissen anzupassen und zwar möglichst einheitlich, wenigstens für die Länder der Westzone«.29 Die Anpassung an die »heutigen Verhältnisse« sah eine breitere Definition von Kriegsopfern vor, die nicht mehr nur Militärangehörige umfasste, wie dies noch im Vorgängergesetz von 1922 festgesetzt war, sondern auch zivile Kriegstote. Im »Entwurf für ein Gesetz über Feststellung, Erhaltung und Pflege der Gräber der Kriegsopfer und die als Ausführungsbestimmungen gedachten Richtlinien« vom 16. Oktober 1948 wurde das Kriegsopfer dann wie folgt bestimmt:
25 Vgl. Kaiser, »Sie wollen gar nicht«, S. 72; Harald Schmid, Deutungsmacht und kalendarisches Gedächtnis – die politischen Gedenktage. In: Reichel/ders./Steinbach (Hg.), Der Nationalsozia lismus – Die zweite Geschichte, S. 175–216, hier 175–181. Der Volkstrauertag wurde im Jahr 1952 als zentraler Gedenktag offiziell wieder eingeführt. Wenngleich dieser Tag allen Toten gewidmet war, die infolge des Zweiten Weltkrieges und durch nationalsozialistische Gewalt verstorben waren, richtete sich der Fokus in der Gedenkpraxis auf die Kriegsverluste der Deutschen. Vgl. Soeffner, Die Ordnung der Rituale, S. 180; Münkler/Fischer, »Nothing to kill or die for ...«, S. 346. 26 Vgl. Kaiser, Von Helden und Opfern. Vgl. auch Karin Hausen, The ›Day of National Mourning‹ in Germany. In: Gerald Sider/Gavin Smith (Hg.), Between History and Histories. The Making of Silences and Commemorations, Toronto 1997, S. 127–147. 27 Vgl. Bestand »Zentral-Justizamt für die Britische Zone« (BArch Koblenz, Z21). 28 Zum innenpolitischen Transformationsprozess vgl. Peter Reichel/Harald Schmid/Peter Steinbach, Die »zweite« Geschichte der Hitler-Diktatur. Zur Einführung. In: dies. (Hg.), Der Natio nalsozialismus – die zweite Geschichte. Überwindung – Deutung – Erinnerung, München 2009, S. 7–21, hier 12. 29 Niederschrift über Sitzung des Länderrats-Ausschusses für staats- und verwaltungsrechtliche Fragen in Stuttgart, Villa Reitzenstein am 3. u. 4. August 1948, vorgelegt am 20.9.1948 (BArch Koblenz, Z21/1245, Bl. 1).
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»Als Kriegsopfer gelten a. alle Personen, die bei ihrem Tode Angehörige der ehemaligen Wehrmacht (Heer, Luftwaffe, Marine) und der gleichgestellten Truppenverbände waren, b. alle fremdländischen Soldaten, die auf deutschem Boden gefallen oder als Kriegsgefangene gestorben sind und noch auf deutschen Friedhöfen ruhen, c. alle Luftkriegsopfer und Opfer in deutschen Kampfgebieten, soweit sie nicht in eigenen Familiengräbern beigesetzt sind, d. die in der Gefangenschaft gestorbenen deutschen Zivilinternierten und die ausländischen Zivilinternierten, deren Überreste in Deutschland bestattet worden sind, e. Umsiedler, die während der Sammelbetreuung in Umsiedlerlagern gestorben sind und nicht in Familiengräbern beigesetzt sind, f. ausländische Arbeiter, die von der deutschen Arbeitseinsatzverwaltung für eine Beschäftigung im Reichsgebiet angeworben wurden, ihren Heimatwohnsitz nicht aufgegeben haben und während des Krieges gestorben sind.«30
Wenige Wochen nach der Erarbeitung des Entwurfs legte der VDK am 3. Dezember 1948 eine »Denkschrift über die Neuregelung der Kriegsgräberfürsorge« vor, mit der er auf die Gesetzgebung einwirkte und definierte, welche Personengruppen zukünftig zu den Kriegsopfern zählen sollten.31 In dem Papier ist von deutschen Militär- und Ziviltoten die Rede, Letztere wurden laut VDK Opfer der »alliierten Invasionen und des Luftkriegs«.32 Die verstorbenen NS-Verfolgten finden in der Schrift des VDK keine Erwähnung. Da diese eindimensionale Ausrichtung vor den Westmächten nicht zu vertreten war, wurde auf der Sitzung des Länderausschusses am 6. Juli 1949 beschlossen, »den Kreis der Kriegsopfergräber und der den Kriegsopfern gleichzustellenden Toten dahin zu ergänzen, dass ebenfalls erfasst werden: [...] die Gräber der KZ-Opfer, soweit es sich nicht um feststellbar Kriminelle handelt.«33 Das schließlich am 27. Mai 1952 beschlossene und rückwirkend ab dem 1. April 1951 geltende »Gesetz über die Sorge für die Kriegsgräber« erfasste damit einen erweiterten Personenkreis.34 Das Gesetz regelte die Verwaltungsmodalitäten, sodass die inländische Kriegsgräberfürsorge nun in die Verantwortung der jeweiligen Innenministe rien der Länder überging, die Erhaltung und Pflege der ausländischen Gräber hingegen vom Bund getragen wurde. Die deutschen Gemeinden waren laut Gesetz, wie bereits in den Bestimmungen der Westalliierten, für die Ausführung der Grabpflege zuständig und erhielten pro Einzel- oder Sammelgrab einen festen
30 Länderrat des amerikanischen Besatzungsgebietes, Koordinierungsbüro der Länder, Abt. III an alle Mitglieder des Ausschusses für staats- und verwaltungsrechtliche Fragen, »Entwurf für ein Gesetz über Feststellung, Erhaltung und Pflege der Gräber der Kriegsopfer und die als Ausführungsbestimmungen gedachten Richtlinien« vom 16.10.1948 (BArch Koblenz, Z21/1245, Bl. 21). 31 Vgl. VDK e.V. Bundesgeschäftsstelle, Denkschrift über die Neuregelung der Kriegsgräberfürsorge vom 3.12.1948 (BArch Koblenz, Z21/1245, Bl. 46). 32 Ebd. 33 Auszug aus der Niederschrift über die 14. Sitzung des Ausschusses für staats- und verwaltungsrechtliche Fragen in Königsstein/Taunus vom 6.7.1949 (BArch Koblenz, Z21/1245, Bl. 76). 34 Gesetz über die Sorge für die Kriegsgräber (Kriegsgräbergesetz) vom 28.5.1952, Bundesgesetzblatt (BGBl) Teil I (Nr. 23/1952), S. 320–322.
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Pauschalsatz.35 Für den VDK hatte das Gesetz zur Folge, dass er nun offiziell alle deutschen Kriegsgräber im Ausland betreute sowie weiterhin die Pflege einiger Kriegsgräberstätten von ausländischen Toten in der Bundesrepublik beaufsichtigte. Für die Aufgaben wurde der VDK aus Bundesmitteln bezahlt. Seine Kompetenzen im Inland waren damit zwar beschränkt worden, doch hatte der Volksbund immer noch eine wichtige beratende Funktion inne.36 Neben der Definition des Geltungsbereiches sowie der verwaltungstechnischen Neuordnung gehörte die Bestimmung zur Erhaltung der Gräber zu den wichtigsten Aspekten des Gesetzes. Denn das »ewige Ruherecht« war laut § 4 nur für Kriegsgräber vorgesehen, das heißt für verstorbene deutsche und ausländische Militärangehörige sowie zivile Kriegstote.37 Die Gräber von »Opfern des Nationalsozialismus, die aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen« in Konzentrationslagern oder anderen NS-Haft- oder Heilstätten verstorben waren, sowie Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern wurden in einem separaten Paragrafen (§ 6) aufgezählt und erhielten dieses Recht nicht.38 Zwar trugen die Länder für sie die Pflegekosten, doch konnten die Gräber nach Ablauf der kommunalen Ruhefristen eingeebnet werden. Allein die Innenministerien der Länder konnten entscheiden, ob im »Zweifelsfall ein Grab als Kriegsgrab im Sinne von Absatz 1 anzusehen ist«.39 Die konkrete Folge des Kriegsgräbergesetzes war, dass 20 Prozent der Gräber von NS-Verfolgten im Jahr 1965 sowie 80 Prozent in den Jahren 1971 bis 1975 drohten, aufgehoben zu werden.40 Das Kriegsgräbergesetz hatte somit, wie der Name besagt, die Funktion, durch die Erhaltung der Gräber von Kriegstoten diese dauerhaft im öffentlichen Bewusstsein zu halten. Die Gräber der »politisch, rassisch und religiös« Verfolgten konnten hingegen nach Ablauf der kommunalen Ruhefristen aufgelöst werden.41 Das Gesetz war damit Ausdruck des gewandelten Opferbegriffs, denn unter »Kriegsopfer« konnten
35
Vgl. § 2 Abs. 1–5 Gesetz über die Sorge für die Kriegsgräber (Kriegsgräbergesetz) vom 28.5.1952, Bundesgesetzblatt (BGBl) Teil I (Nr. 23/1952), S. 321. 36 Vgl. Meinhold Lurz, Kriegerdenkmäler in Deutschland, Band 6, Heidelberg 1987, S. 114–116. 37 Hierzu zählten die Personen, die »bei ihrem Tode militärischen oder militärähnlichen Dienst nach § 2, 3 und 4 des Bundesversorgungsgesetzes vom 20. Dezember 1950 versehen haben«; an den Folgen ihres Militärdienstes oder der Kriegsgefangenschaft gestorben waren; Kriegsteilnehmer fremder Staaten sowie »Gräber der deutschen und ausländischen Zivilpersonen, die durch unmittelbare Kriegseinwirkungen im Zweiten Weltkrieg ihr Leben verloren haben«. § 1 Abs. 1–3 Gesetz über die Sorge für die Kriegsgräber (Kriegsgräbergesetz) vom 28.5.1952, Bundes gesetzblatt (BGBl) Teil I (Nr. 23/1952), S. 321. 38 Ebd., § 6, S. 321 f. 39 Ebd., § 1 Abs. 3 (3), S. 321. 40 Vgl. Referat V5, »Arbeitsunterlagen zu Fragen der Behandlung politisch bedeutsamer Gräbergruppen nach § 6 Kriegsgräbergesetz« vom 1.2.1961 (BArch Koblenz, B106/28378), S. 3 f. 41 Vgl. Kaiser, Von Helden und Opfern, S. 226.
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nahezu alle Personen gezählt werden, die infolge des Krieges verstorben waren.42 Es war ebenso wie die Wiedereinführung des Volkstrauertages zeittypisch für die sich konsolidierende Bundesrepublik, in der das Leid der NS-Verfolgten eine zunehmend geringere Rolle spielte. 1.2
»Dass eigentliche KZ-Friedhöfe im Kreise nicht beständen«
Der Umgang mit den Friedhöfen für die Gefangenen der Emslandlager hing bereits in den ersten Nachkriegsjahren sehr stark von den hier bestatteten Gefangenengruppen ab. Während die Friedhöfe, auf denen Kriegsgefangene, italienische Militärinternierte und ausländische KZ-Häftlinge bestattet waren, von den jeweiligen nationalen Gräberdiensten kontrolliert wurden, kümmerte sich um die Friedhöfe, auf denen deutsche Strafgefangene beerdigt lagen, kaum jemand. Besonders deutlich wird dies in einem Gutachten über den Zustand des Friedhofs Bockhorst-Esterwegen aus dem Jahr 1950, das auf Veranlassung des niedersächsischen Innenministeriums und in Vorbereitung der gesetzlichen Neuordnung der Gräberfürsorge in Auftrag gegeben wurde. Der zuständige Landschaftsarchitekt beschreibt hier, dass von Anwohnern regelmäßig Bauschutt auf den Gräbern abgeladen wurde. Eine Kapelle, die zu Lagerzeiten auf dem Friedhof errichtet worden war, wurde von der lokalen Bevölkerung abgetragen, um Baumaterial zum Wiederaufbau ihrer zerstörten Häuser zu gewinnen.43 Außerdem waren die Holzkreuze auf den Gräbern von der Witterung beschädigt oder umgefallen. Völlig verwahrlost war das Gräberfeld an der Südseite des geschlossenen Grabfeldes, das vermutlich im Jahr 1933 mit dem Aufbau der Konzentrationslager entstanden war.44 Laut Nachkriegsschätzungen verschiedener Quellen verteilte sich die Anzahl der Verstorbenen auf die Friedhöfe insgesamt wie folgt: Auf dem um das Jahr 1941 unweit des Sterbelagers Alexisdorf angelegten Friedhof Großringe waren 1 500 bis 2 000 sowjetische Kriegsgefangene beerdigt;45 auf dem Friedhof nahe des Lagers Aschendorfermoor 195 Tote;46 auf dem Friedhof Bockhorst-Esterwegen 42 43
Vgl. Koselleck, Die Diskontinuität der Erinnerung, S. 215. Vgl. Rudolf Stichnothe an Niedersächsisches Ministerium des Innern, z. Hd. Herrn Oberregierungsrat Miericke, Betr.: Denkschrift über den jetzigen Zustand des Ehrenfriedhofes in Esterwegen im Emsland sowie Vorschläge zur gärtnerischen Bearbeitung vom 9.6.1950 (NMfIS, 199 141/14 Band I, Bl. 3–4). Erwähnt wird die Kapelle auch von Oberregierungsrat Badry in einem Schreiben aus dem Jahr 1963. Vgl. Vorstand der Strafanstalt Lingen/Ems an Heinrich H. Klasen vom 22.5.1963, S. 2 (NLA OS, Rep 947 Lin I, Nr. 620, fol. 118–174, Bl. 181). 44 Vgl. ebd. 45 Vgl. Bürgermeister Großringe an Kreisverwaltung Nordhorn, Betr.: Erfassung der Ausländer lager 70A, vom 4.4.1949 (ITS Digital Archive, Bad Arolsen, 2.2.0.1/82394607, unpag.). 46 Vgl. T. X. H. Pantcheff, The Herold-Case, Record of proceedings of exhumation at Penal Camp II Aschendorfer Moor on 1 Feb 1946 vom 15.3.1946, S. 45 (TNA, WO 208/5013).
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ca. 1 300;47 auf dem Friedhof Dalum 8 000 bis 16 000;48 auf dem Friedhof Fullen ca. 1 700;49 auf dem Friedhof Oberlangen 2 000 bis 3 000;50 auf dem Friedhof Versen 566;51 auf dem Friedhof Wesuwe ca. 4 00052 und auf dem Friedhof Wietmarschen 153.53 Im Jahr 1950 führte das Innenministerium vier Friedhöfe als die von NS-Verfolgten:54 die Friedhöfe Aschendorfermoor, Bockhorst-Esterwegen, Dalum und Versen. Diese wurden jedoch unterschiedlich verwaltet. Während die Landkreise Meppen und Grafschaft Bentheim für die in ihren Gemeinden liegenden Friedhöfe zuständig waren, hatte sich im Landkreis Aschendorf-Hümmling, in dem sich die Friedhöfe Bockhorst-Esterwegen und Aschendorfermoor befanden, aufgrund der Gebietsverhältnisse eine abweichende Regelung etabliert. Die Friedhöfe lagen im Kultivierungsgebiet des niedersächsischen Ministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, das von der Staatlichen Moorverwaltung verwaltet wurde, einer Behörde, die vor 1945 den ausbeuterischen Einsatz der Gefangenen geplant hatte und seit der Wiedereröffnung der Strafanstalten im Dezember 1945 die Erschließungsarbeit durch Gefangene koordinierte. Aufgrund dieser besonderen Strukturen waren nicht die Gemeinden, sondern
47
48 49
50 51 52 53 54
Vgl. Rudolf Stichnothe an Niedersächsisches Ministerium des Innern z. Hd. Herrn Oberregierungsrat Miericke, Betr.: Denkschrift über den jetzigen Zustand des Ehrenfriedhofes in Esterwegen im Emsland sowie Vorschläge zur gärtnerischen Bearbeitung vom 9.6.1950 (NMfIS, 199 141/14 Band I, Bl. 3 f.). Vgl. Niedersächsischer Minister des Innern an Regierungspräsident in Osnabrück vom 8.5.1951 (NLA OS, Rep 430 Dez 207, 48/90 Nr. 93, unpag.). Die Grabstätten waren räumlich getrennt: auf der südlichen Seite lagen die sowjetischen Kriegsgefangenen beerdigt, auf der nördlichen Seite die italienischen Militärinternierten. Friedhofspläne, Ordner 22 Meppen, Groß Fullen, o. D. (1950) (ITS Digital Archive, Bad Arolsen, 5.3.5/101101897, unpag.). Vgl. Russischer Ehrenfriedhof Oberlangen 3 000–4 000 Russen, Friedhofspläne, Ordner 16 Aschendorf-Hümmling, Oberlangen, o. D. (1950) (ebd., 5.3.5/101100465, unpag.). Vgl. Namentliche Liste der auf dem KZ-Friedhof in Versen begrabenen Ausländer, Friedhofspläne, Ordner 22 Meppen, Versen, o. D. (1950) (ebd., 5.3.5/101101920, unpag.). Vgl. Skizze des Russenfriedhofes Wesuwe, Friedhofspläne, Ordner 22 Meppen, Wesuwe vom 28.2.1950 (ebd., 5.3.5/101101930, unpag.). Vgl. Bürgermeister Gemeinde Wietmarschen an Landkreis Grafschaft Bentheim vom 2.2.1951 (ebd., 2.2.0.1/82394672, Bl. 527). Am 16.4.1951 war ein Erlass des niedersächsischen Innenministers ergangen, der die Sanierung der Friedhöfe Bockhorst-Esterwegen und Aschendorfermoor im Landkreis Aschendorf-Hümmling sowie der Friedhöfe Versen und Dalum im Landkreis Meppen anwies. Da die Friedhöfe Versen, Dalum und Bockhorst-Esterwegen im Zusammenhang mit den gleichnamigen Konzentrationslagern angelegt worden waren und auf dem Friedhof Aschendorfermoor die während des Endphaseverbrechens Ermordeten beerdigt lagen, hatte das Innenministerium diese Gräber unter § 6 des Kriegsgräbergesetzes kategorisiert. Vgl. Niedersächsischer Minister des Innern an Regierungspräsident in Osnabrück vom 16.4.1951 (NLA OS, Rep 430 Dez 207, 48/90 Nr. 93, unpag.).
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Die Toten der Emslandlager
Tabelle 2: Zahlen und Herkunft der Toten auf den neun Friedhöfen laut Nachkriegsangaben Friedhof
Anlegungsjahr
Opferzahlen
Alexisdorf/Großringe
um 1941
ca. 1 500–2 000 sowjetische Kriegsgefangene
Aschendorfermoor/ Herbrum
1946
ca. 195 deutsche, polnische und tschechische Strafgefangene
Bockhorst-Esterwegen 1933
ca. 1 300 KZ-Häftlinge, Strafgefangene, NN-Gefangene
Dalum
um 1941
8 000–16 000 überwiegend sowjetische Kriegsgefangene sowie eine unbekannte Zahl von KZ-Häftlingen
Fullen
um 1941
ca. 1 700 Kriegsgefangene, überwiegend sowjetische sowie 753 italienische Militärinternierte
Oberlangen
um 1941
ca. 2 000–3 000 Kriegsgefangene, überwiegend sowjetisch, zu einem geringen Teil italienische Militärinternierte
Versen
1944
566 westeuropäische KZ-Häftlinge aus den Niederlanden, Frankreich, Belgien
Wesuwe
um 1941
ca. 4 000 Kriegsgefangene, auch einige italienische Militärinternierte
Wietmarschen
April 45
153 sowjetische Kriegsgefangene
Vertreter staatlicher Behörden für die Gräber zuständig. Eine weitere Sonderregelung stellten die Vereinbarungen über die Ausführung der Grabpflege dar, für die in Vertretung der niedersächsischen Justizverwaltung die Strafanstalt Lingen verantwortlich war. Die Grabpflege führten Gefangene aus, die nach 1945 im Emsland zu Entwässerungsarbeiten eingesetzt waren. Aufgrund dieser Pflegevereinbarung kam Badry als Leiter der Justizstrafanstalt Lingen ein Mitspracherecht bei der Entscheidung um den Status der Gräber auf den Friedhöfen Bockhorst-Esterwegen und Aschendorfermoor zu.55 55 Vgl. Niedersächsischer Minister des Innern, Vermerk über die Besichtigungen vom 8.5.1951 (NMfIS, 199 141/14 Band I, Bl. 8).
140
Abwehr und Selbstbehauptung
In Vorbereitung der Pflege- und Ausbaumaßnahmen der »KZ-Grabstätten« im Regierungsbezirk Osnabrück hatte das niedersächsische Innenministerium im Jahr 1950 mit Helmut-Ernst Miericke einen Referenten für diese Aufgabe abgestellt. Noch Anfang des Jahres 1950 hatte sich Miericke dabei zu einer guten Zusammenarbeit mit der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) bereit erklärt.56 Dem jüdischen Kommunisten Werner Stertzenbach versicherte Miericke, dass »die Gräber von ehem. KZ-Häftlingen ebenso wie jüdische Friedhöfe, soweit sie verwahrlost waren, vom Innenministerium wieder in einen würdigen Zustand gebracht«57 würden. Diese wohlwollende Haltung gegenüber der VVN gab er auf, nachdem Badry in die Gräberfürsorge beratend einbezogen wurde.58 Im Auftrag des Innenministeriums hatten am 23. und 24. April 1951 Besichtigungen der Friedhöfe stattgefunden. Zu den Teilnehmenden zählten Vertreter des niedersächsischen Innenministeriums, Oberregierungsrat Miericke und Regierungsinspektor Suppa,59 der zuständige Dezernent der Regierung Osnabrück, Dr. Römer, Vertreter der Landkreise, der Geschäftsführer des VDK-Landesverbandes, Alexis Albrecht, und sein Vertragsarchitekt Langerhans sowie Oberregierungsrat Badry als Vertreter der Justizverwaltung.60 In diesem Kreis nahmen der VDK und Badry zentrale Rollen ein. Der VDK genoss insbesondere im ländlichen Milieu starken Rückhalt und verzeichnete im Regierungsbezirk Osnabrück, zu dem die emsländischen Kreise zählten, die höchsten Mitgliederzahlen.61 Badry wiederum galt in der Region sowie bei den Landesvertretern als Kenner der Lagergeschichte. Er hatte die Übernahme der nationalsozialistischen Strafgefangenenlager im November 1945 mit der britischen Militärverwaltung abgewickelt und war außerdem bereits vor 1945 im Strafvollzug im Emsland tätig gewesen. Welche Sichtweise Badry auf die verstorbenen Strafgefangenen vertrat, führte er während der Besichtigung der Friedhöfe im April 1951 aus. Mit Nachdruck gab er in einem Schreiben an den Generalstaatsanwalt in Olden-
56 Vgl. o. V., Ein Mahnmal wie es nicht sein soll. In: die tat vom 13.8.1949, S. 11. 57 Landesvorstand der VVN/Hannover an Redaktion »Die Wahrheit« z. Hd. Stertzenbach vom 4.5.1950 (VVN-Archiv Niedersachsen, N0033/AugBau0061, unpag.). 58 Vgl. Niedersächsischer Minister des Innern an Regierungspräsident in Osnabrück vom 16.4.1951 (NLA OS, Rep 430 Dez 207, 48/90 Nr. 93, unpag.). 59 Wie in Kapitel V näher erläutert wird, veranlasste Suppa im Jahr 1966 die Stiftung eines zweiten Gedenksteins auf dem Friedhof Bockhorst-Esterwegen, der dem Friedhof eine nachrangige Bedeutung zuwies und auf Versen als eigentlichen Ehrenfriedhof für die NS-Opfer verwies. 60 Vgl. Niedersächsischer Minister des Innern, Vermerk über die Besichtigungen vom 8.5.1951 (NMfIS, 199 141/14 Band I, Bl. 8). 61 Es ist anzunehmen, dass die hohen Mitgliederzahlen auch auf die starken Kriegsschäden in der Region zurückzuführen sind. Im Tätigkeitsbericht des VDK von 1951 sind demnach die Mitgliederzahlen im Bezirksverband Osnabrück mit 27 529 angegeben und weisen damit mit Abstand die höchste Zahl auf. Vgl. Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, Landesverband Niedersachsen, Tätigkeitsbericht 1951, S. 5.
Die Toten der Emslandlager
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burg kurz nach der Besichtigung an, dass »eigentliche KZ-Friedhöfe im Kreise Aschendorf/Hümmling« nicht bestehen.62 Dagegen seien laut Badry folgende Friedhöfe vorhanden: »1. Der Friedhof in dem früheren Lager Aschendorfer Moor mit ca. 120–150 Leichen von Strafgefangenen. Es handelt sich um Leute, die von deutschen Gerichten, teilweise auch Militärgerichten zu Gefängnis- und Zuchthausstrafen verurteilt waren. Etwa 96–100 von diesen Gefangenen wurden durch den inzwischen hingerichteten ›Hauptmann‹ Herold erschossen, der Rest wurde aus zerstreut liegenden Gräbern nach hier überführt. [...] 2. Der große Friedhof am Küstenkanal zwischen Börgermoor und Esterwegen enthält etwa 1 300 Gräber. [...] Bei den Toten dieses Friedhofs handelte es sich im Wesentlichen um Strafgefangene aus allen Strafgefangenenlagern. Es ist anzunehmen, dass eine Reihe von Gräbern am Südrande auch Angehörige der KZ-Lager Neusustrum (bis 1934), Börgermoor (bis 1935) und Esterwegen (bis 1936) enthält. Klarheit darüber, insbesondere auch, wie viele KZ-Mitglieder hier begraben liegen, war bisher nicht zu erlangen.«63
Badry gibt hier in sachlichem Ton an, dass es sich bei den Verstorbenen in der überwiegenden Mehrzahl um Straftäter gehandelt habe und nur zu einem geringen Teil um »KZ-Mitglieder«. Damit verengt er die Definition von Verfolgte auf Personen, die in Lagern der SS verstorben waren.64 Ebenso im Hinblick auf die während des Endphaseverbrechens auf brutalste Art und Weise Getöteten legt er den Akzent auf die Strafurteile, nämlich die Gefängnis- und Zuchthausstrafen. Außerdem betont er die Rolle von Herold als Einzeltäter. Zu erwähnen sind daher die Aspekte, die Badry ausspart: Die Beteiligung lokaler Parteifunktionäre und Wachleute an den Massenerschießungen im Lager Aschendorfermoor, der durch lokale und regionale Behörden koordinierte Zwangseinsatz der Gefangenen der Emslandlager sowie die allgemein brutalen Haftbedingungen, die zu einer erhöhten Sterblichkeit unter den Gefangenen führten. Der Leiter der aktuellen Strafanstalt sprach damit den Strafgefangenen den Opferstatus gänzlich ab. Nach der gemeinsamen Besichtigung der Friedhöfe wurden nur die drei Friedhöfe Aschendorfermoor, Dalum und Versen vom Innenministerium als »KZ-Grabstätten« anerkannt. Über den Friedhof Bockhorst-Esterwegen notierte Miericke, dass »unter den etwa 1 500 Toten [...] sich nur rund 50 frühere Insassen des ehemaligen Konzentrationslagers Esterwegen befinden«.65 Folge dieser Ent-
62 Vorstand der Strafanstalten an Generalstaatsanwalt bei dem Oberlandesgericht in Oldenburg, Betr.: Gefangenenfriedhöfe vom 24.4.1951 (NMfIS, 199 141/46 Band I, Bl. 134–136, hier 134). 63 Ebd., Bl. 135 f. 64 In einem Aufsatz von 1968 beschreibt er, wie er nach Kriegsende einen Vertreter der britischen Militärbehörde von dieser Deutung überzeugte: »Es bedurfte wochenlanger Darstellungen, bis er einsah, dass der Begriff ›Konzentrationslager‹ nicht für alle Lager im Emsland zutraf.« Wilhelm Maria Badry, Konzentrations- und Gefangenenlager im Emsland von 1933–1945. In: Jahrbuch des Emsländischen Heimatbundes, 15 (1968), S. 127–136, hier 127. 65 Niedersächsischer Minister des Innern, Referent I/4 199.141, Miericke, Vermerk über die Besichtigungen vom 8.5.1951 (NMfIS, 199 141/14 Band I, Bl. 8).
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Abwehr und Selbstbehauptung
scheidung war, dass allein 51 »KZ-Gräber« unter das Kriegsgräbergesetz fielen, die anderen Toten jedoch nicht als NS-Opfer anerkannt wurden.66 Während das Innenministerium zunächst plante, die »KZ-Gräber« in einem separaten Gräberfeld zusammenzufassen und entsprechend von den anderen Gräbern abzugrenzen, wurde dieser Plan im Jahr 1954 verworfen, als der VDK beratend in die Gräberfürsorge einbezogen wurde.67 Am 13. Oktober 1954 besichtigten der Geschäftsführer des Volksbundes Albrecht, der VDK-Vertragsarchitekt Langerhans sowie der Leiter der Strafanstalten Badry den Friedhof Bockhorst-Esterwegen.68 Laut Badry konnten dabei die »KZ-Gräber« eindeutig identifiziert werden – wie diese Zuordnung ohne Grabliste und forensische Untersuchung erfolgt sein soll, erläutert Badry nicht.69 Wenige Zeit später fiel die Entscheidung, die besagten »KZ-Gräber« auf ein frei gewordenes Gräberfeld auf dem »KZ-Friedhof« Versen umzubetten. Hierdurch wurde es möglich, die verbliebenen Gräber auf dem Friedhof Bockhorst-Esterwegen im Jahr 1965 aufzulösen. Diese Entscheidung kommentierte Albrecht mit den Worten: »Die Gräber der Kriegsgefangenen,70 von denen die letzten im Jahre 1945 bestattet sind, werden also im Jahre 1965 aufgehoben werden können, sodass dann diese gesamte Grabstätte in BockhorstEsterwegen verschwindet.«71 Am 2. und 3. August 1955 fanden die Umbettungen von schließlich 71 Gebeinen statt, die »nach besonderer Vereinbarung mit dem Vorstand der Strafanstalt Lingen« durch Justizstrafgefangene ausgeführt wurden. Das niedersächsische Innenministerium ließ nun verlauten, dass keine weiteren Gräber nach § 6 des Kriegsgräbergesetzes auf der Begräbnisstätte Bockhorst-Esterwegen vorhanden seien.72 Damit war die erinnerungskulturelle Marginalisierung der verstorbenen
66 Vgl. Niedersächsisches Ministerium des Innern, Referat I/4 199.141 an niedersächsischer Minister der Justiz vom 11.10.1952 (NMfIS, 199 141/14 Band I, Bl. 10). 67 Vgl. Niedersächsischer Minister des Innern an niedersächsischer Minister der Justiz vom 25.3.1954 (NLA OS, Rep 947 Lin I, Nr. 619–20, fol. 7–56). 68 Vgl. VDK an Wilhelm Maria Badry über den Termin der Besichtigung vom 2.10.1954 (ebd., fol. 7–56). 69 Laut einem Bericht, den Badry nach der Besichtigung für den Generalstaatsanwalt in Oldenburg verfasste, waren in 24 Gräbern vermutlich Ausländer beerdigt worden, die »in den letzten Jahren aus versprengten Anlagen im Gelände dort zusammengefasst wurden«. Weitere 225 Gräber »enthielten« Gefangene aus den Lagern Esterwegen und Börgermoor. Vorstand der Strafanstalten Lingen/Ems an Generalstaatsanwalt bei dem Oberlandesgericht in Oldenburg, Betr.: Grabstätte in Bockhorst-Esterwegen vom 11.11.1954 (NLA OS, Rep 947 Lin I, Nr. 619–20, fol. 7–56). 70 Hierbei handelt es sich offenbar um eine fehlerhafte Bezeichnung, denn gemeint sind Straf gefangene bzw. Militärstrafgefangene. 71 Geschäftsführer des VDK Albrecht an niedersächsischen Minister der Justiz vom 21.10.1954 (NLA OS, Rep 947 Lin I, Nr. 619–20, fol. 7–56). 72 Vgl. Vorstand der Strafanstalten Lingen/Ems an Generalstaatsanwalt bei dem Oberlandesgericht in Oldenburg, Betr.: Grabstätte in Bockhorst-Esterwegen vom 26.10.1955 (ebd., fol. 57–117).
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»Kriminellen« staatlich anerkannt worden. Diese nun institutionalisierte Sichtweise ging jedoch nicht auf das Innenministerium, sondern zu einem entscheidenden Teil auf regionale Akteure zurück. Hier liegt die Vermutung nahe, dass angesichts des noch in den 1950er-Jahren fortgeführten Gefangeneneinsatzes im Moor, an dem auf Bundesebene zunehmend Kritik geäußert wurde,73 eine Traditionslinie des regulären Strafvollzugs gezeichnet werden sollte, in der die Anerkennung der inhumanen und teils mit dem Tod der Gefangenen endenden Haftpraxis keinen Platz haben konnte. 1.3
Die Toten der Emslandlager und das lokale Kriegsopfergedenken
In den 1950er-Jahren hatte das Kriegstotengedenken in der jungen Bundesrepublik Konjunktur. Nicht nur wurde der Volkstrauertag im Jahr 1952 zum nationalen Gedenktag ausgerufen, auch war diese Zeit von einer regelrechten Denkmalflut für die Kriegstoten des Ersten und Zweiten Weltkrieges gekennzeichnet.74 Insbesondere im ländlichen Raum errichtete fast jede Gemeinde ein Kriegsehrenmal, so auch die Ortschaft Herbrum (Landkreis Aschendorf-Hümmling), die zum Volkstrauertag im November 1953 ein großes Triptychon einweihte, das den verstorbenen lokalen Soldaten gewidmet war. Ein Jahr zuvor und nur wenige Kilometer entfernt, waren auf Initiative des niedersächsischen Innenministeriums die Sammelgräber ermordeter Strafgefangener in der Nähe des Lagers Aschendorfermoor zu einem Friedhof zusammengefasst worden, auf dem nun ein Denkmal als symbolisches Grabmal fungierte. Zeitgleich war im benachbarten Landkreis Meppen der ehemalige KZ-Lagerfriedhof Versen durch das Innenministerium instandgesetzt und ausgestaltet worden. Das eingangs beschriebene Spannungsverhältnis zwischen der deutschen Selbstwahrnehmung als Opfer einerseits und 73
Vgl. Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Wilhelm Niklas (CSU) an niedersächsischen Minister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Günther Gereke (CDU) vom 2.2.1950 (BArch Koblenz, B116/3909, unpag.). 74 Bei ihrer Gestaltung wurde meist eine christliche Ikonografie gewählt, die als unbelastet galt. Denn die Direktive Nr. 30 des Alliierten Kontrollrates vom 17.5.1946 hatte die »Beseitigung deutscher Denkmäler und Museen militärischen und nationalsozialistischen Charakters« angeordnet. Vgl. Arnold Vogt, Den Lebenden zur Mahnung. Denkmäler und Gedenkstätten. Zur Traditionspflege und historischen Identität vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Hannover 1993, S. 189. Auch in Österreich war der Fokus der Denkmalkultur während der 1950er-Jahre auf den Kriegstod gerichtet und Heidemarie Uhl konstatiert: »In den 50er Jahren wurde in nahezu jeder Gemeinde ein Kriegerdenkmal geschaffen oder das Denkmal des Ersten Weltkriegs durch die Anbringung zusätzlicher Namenstafeln erweitert.« Heidemarie Uhl, Erinnern und Vergessen. Denkmäler zur Erinnerung an die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und an die Gefallenen des Zweiten Weltkriegs in Graz und in der Steiermark. In: Stefan Riesenfeller/dies. (Hg.), Todeszeichen. Zeitgeschichtliche Denkmalkultur in Graz und in der Steiermark vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, Wien 1994, S. 111–195, hier 111.
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Abwehr und Selbstbehauptung
der Anerkennung eines durch Gewalt herbeigeführten Todes der NS-Verfolgten und somit einer deutschen Verantwortung andererseits ist im Folgenden am Beispiel der drei einleitend genannten Denkmalstiftungen aufzugreifen. Ziel ist es, mithilfe eines ikonografischen Zugriffs zu untersuchen, wie die Inschriften und Formen dieses Spannungsverhältnis symbolisch zu überwinden versuchten und welche Konflikte entstanden, wenn nationale Gedächtnisgemeinschaften den deutschen Opferdiskurs störten und für die herausgehobene Bedeutung ihrer eigenen Opfer stritten.75 Die Friedhöfe Aschendorfermoor und Versen wurden im Zuge des Kriegsgräbergesetzes als Ehrenfriedhöfe ausgestaltet.76 Für den Ausbau der Friedhöfe waren 30 000 DM aus Bundesmitteln zur Verfügung gestellt worden.77 Die einzige Auflage, die das niedersächsische Innenministerium an die Gestaltung stellte, war, dass sie »würdig und schlicht« sowie die Bepflanzung »dem Landschafts charakter [...] angepasst und dauerhaft« sein sollte.78 Mit der Gestaltung wurde Langerhans aus Hannover beauftragt.79 Das ehemalige NSDAP-Parteimitglied war politisch stark belastet, zählte aufgrund des VDK aber bald nach Kriegsende wieder zu den führenden Gartenarchitekten in der Bundesrepublik. So leitete Langerhans zum Beispiel das »Referat für die gartenkünstlerische Gestaltung« der ersten im Jahr 1951 in Hannover stattfindenden Bundesgartenschau.80 Auf dem Friedhof Aschendorfermoor ruhten die Opfer der Massenerschießungen, die im April 1945 im dortigen Lager stattgefunden hatten und bei denen 172 Menschen ermordet worden waren. Ihre Gräber waren im Februar 1946 von der britischen Militärverwaltung zu Sammelgräbern zusammengefasst worden. 75 Vgl. Reinhart Koselleck, Kriegerdenkmale als Identitätsstiftungen der Überlebenden. In: Odo Marquard/ Karlheinz Stierle (Hg.), Identität, München 1979, S. 255–276, hier 256. 76 Nachdem der zuständige Landschaftsarchitekt Langerhans Entwürfe für die Neugestaltungen beim Regierungspräsidenten eingereicht hatte, wurde ihm am 23. Juni 1951 offiziell der Planungsauftrag bestätigt. Vgl. Oswald Langerhans an Regierungspräsident in Osnabrück, z. Hd. Regierungsassessor Dr. Römer, Auftragsbestätigung zur Anfertigung von Entwürfen für Friedhof Versen vom 23.6.1951 (NLA OS, Rep 430 Dez 207, 48/90 Nr. 93, unpag.). 77 Vgl. Niedersächsisches Ministerium des Innern an Regierungspräsident in Osnabrück, Zustimmung zur Instandsetzung der KZ-Grabstätten Versen und Herbrum vom 27.7.1951 (ebd.). 78 Innenministerium Niedersachsen Oberregierungsrat Miericke an Regierungspräsident in Osnabrück, Instandsetzung der KZ-Grabstätten, Bezug: Erlass vom 16. April 1951, vom 8.5.1951 (NLA OS, Rep 430 Dez 207, 48/90 Nr. 93, unpag.). Die kostengünstige Umsetzung seiner Pläne garantierte Oswald Langerhans damit, dass er die Arbeiten durch ortsansässige Arbeitslose durchführen ließ, vgl. Oswald Langerhans an Ulrich Stöhr (Gartenbaubetrieb) und Theodor Otten (Bauunternehmung), Durchschriften der Auftragsvergaben vom 25.8.1951 (ebd.). 79 Vgl. Oswald Langerhans an Regierungspräsident in Osnabrück, Auftragsbestätigung für Entwürfe für Friedhof Herbrum vom 23.6.1951 (ebd.). 80 Die Bundesgartenschau im Jahr 1950 stand unter dem Motto, »bei dem kleinen Lebensraum, der dem deutschen Volk geblieben ist, [...] eine Verfeinerung aller landwirtschaftlichen Kulturen (zu) bringen«. Vgl. Niederschrift über die Sitzung des Ausschusses für Friedhof und Grabmal vom 25.5.1950 (Stadtarchiv Hannover, Handakten Hillebrecht Nr. 1029, unpag.).
Die Toten der Emslandlager
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Entsprechend den Plänen von Langerhans wurde im Jahr 1951 bei der Neugestaltung des Friedhofs das von polnischen Truppenangehörigen anlässlich der Beerdigung im Februar 1946 gestiftete Holzkreuz entfernt. An seine Stelle wurde am Rand der drei planierten Sammelgräber ein 1,70 Meter hoher und 1,30 Meter breiter Zementkubus, eine Art gedrungener Obelisk, errichtet. Die Spitze des Gedenksteins krönte ein kleines christliches Kreuz aus Metall, das heute nicht mehr existiert. Die Inschrift auf dem Kubus lautet: »Dem Andenken der hier ruhenden Toten.« Darunter ist ein Relief in Form eines Lorbeerkranzes eingemeißelt.81 Das Denkmal fungierte als symbolisches Grabmal für die unbekannten Toten. Dabei scheint die Formensprache dem Kriegstotengedenken entlehnt zu sein: Seit der Antike steht der immergrüne Lorbeer für Sieg und Unsterblichkeit, der Kubus wiederum war seit der Moderne eine beliebte Form von Kriegerehrenmälern.82 Parallel zur Ausgestaltung des Friedhofs Aschendorfermoor wurde auch der Friedhof Versen vom niedersächsischen Innenministerium saniert. Die Entstehung dieses Friedhofs ging auf die Zeit der Außenkommandos Versen und Dalum des KZ Neuengamme zurück. Zwischen November 1944 und März 1945 waren hierbei zum Bau eines Verteidigungswalls gegen die Alliierten KZ-Häftlinge aus insgesamt 23 Nationen eingesetzt.83 Nachdem im April 1945 alliierte Truppen in dem bereits geräumten Lager eingetroffen waren, ließen sie einen Holzzaun um die Gräber errichten und platzierten auf jedem Grab ein Kreuz.84 Im Sommer 1951 begann die Ausgestaltung des Friedhofs unter Langerhans’ Federführung, wobei die Grabkreuze aus dem Jahr 1945 entfernt wurden. Eine kleine Gedenkplatte, die von italienischen Militärinternierten kurz nach der Befreiung gestiftet worden war, blieb erhalten.85 Die Gräberreihen wurden mit »Kantensteinen
81
Vgl. Regierungspräsident in Osnabrück, Vermerk über Besichtigung der Instandsetzungsarbeiten auf Friedhöfen Versen und Herbrum vom 10.10.1951 (NLA OS, Rep 430 Dez 207, 48/90 Nr. 93, unpag.). 82 Vgl. Reinhard Alings, Monument und Nation. Das Bild vom Nationalstaat im Medium Denkmal – zum Verhältnis von Nation und Staat im deutschen Kaiserreich 1871–1918, Berlin 1996, S. 526. Zu den Motiven von Kriegerehrenmälern auf Soldatenfriedhöfen vgl. Lurz, Kriegerdenkmäler in Deutschland, Band 4, S. 140 f. 83 Vgl. Kosthorst/Walter, Konzentrations- und Strafgefangenenlager im Dritten Reich, Band 1, S. 463 f. Kosthorst/Walter beziehen ihre Informationen aus dem Exhumierungsbericht von 1953, der vom französischen Gräberdienst angefertigt wurde. 84 Vgl. ebd., S. 464. 85 Die Steinplatte ist noch heute am nördlichen Rand des Friedhofs zu finden und enthält folgende Zeilen: »Natione diversi/Iniquo coniuncti fato/Patria seiuncti pro patria perire/Vitam quam hominum iniuria/ Terra perdidere/ Pax domini in Coelis/Restituat sempiternam/Omnibus memoriae et pietati/Italiae milites captivitate liberati posuerunt A.D.M C M X L V« – »Verschiedene Nationen, durch das ungerechte Schicksal verbunden, getrennt von der Heimat, für die Heimat gestorben, die Menschen verloren durch großes Unrecht ihr Leben, Friede sei im Himmel, befreite italienische Gefangene gedenken in Ehrfurcht ihnen allen.« Vgl. hierzu auch Tommaso A. Melisurgo, Una storia dal campo di concentramento aprile–settembre 1945, 2005, S. 108.
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eingefriedet und in einfacher Form mit Heide bepflanzt«.86 Hierdurch entstand eine trapezförmige Gräberfläche, die leicht erhöht liegt. Da die Gräber bislang nur über einen Acker erreichbar gewesen waren, wurde außerdem ein Zugang zur Straße angelegt.87 Als zentrales Denkmal wurde ein Obelisk errichtet, in dem die Inschrift »1939–1945« eingemeißelt war.88 Auch wurde eine Steingedenkplatte zur Benennung der Opferzahlen der jeweiligen Nationen eingelassen.89 Mit dem Obelisken wurde eine Denkmalform gewählt, die zum Kanon des Kriegstotengedenkens zählt, aber ebenfalls in der Nachkriegszeit häufig von Überlebenden auf »KZ-Gräbern« gestiftet wurde, da der Obelisk laut Volkhard Knigge ein »durch Tradition nobilitiertes Grabdenkmal« ist und dabei weder eine dezidiert politische noch religiöse Botschaft vermittelt.90 Wenngleich die Inschrift auf dem Obelisken in Versen deutlicher war, da hier Jahreszahlen und verschiedene Nationalitäten als Hinweis auf NS-Verfolgte gelten können, wiesen doch die genannten Opferzahlen starke Abweichungen zu den Gräberlisten auf, die den internationalen Gräberdiensten vorlagen. Im Falle der niederländischen Opfer gab die Inschrift eine Zahl von 31 Toten an, während dem niederländischen Gräberdienst 150 Namen vorlagen.91 Diese sich widersprechenden Angaben führten hier zu einem erstmals nachzuweisenden Konflikt zwischen deutschen und niederländischen Akteuren.92 Aus Protest gegen das deutsche Denkmal ließ der niederländische Gräberdienst im April 1953 ein Triptychon unmittelbar neben dem Obelisken aufstellen.93 Hier waren die Namen von mehr als 150 Niederländern eingemeißelt.94
86 87 88 89 90 91 92
93 94
Landschafts- und Gartenarchitekt Rudolf Stichnothe, Erläuterungsbericht Versen vom 30.12.1966 (NLA OS, Rep 660 Lin, 2001/024 Nr. 18, unpag.). Vgl. Wasserwirtschaftsamt Meppen, Regierungspräsidium, Einteilungsplan (Verfügung vom 25.10.1951) vom 26.11.1951 (NLA OS, Rep 430 Dez 207, 48/90 Nr. 93, unpag.). Vgl. Regierungspräsident in Osnabrück, Bericht über Besichtigung des Friedhofs Versen vom 11.10.1951 (ebd., unpag.). Vgl. Regierungspräsident in Osnabrück an Innenministerium, Entwurfszeichnung vom 11.10.1951 (ebd., unpag.). Volkhard Knigge, Buchenwald. In: Detlef Hoffmann (Hg.), Das Gedächtnis der Dinge, Frankfurt a. M. 1998, S. 97; Lurz, Kriegerdenkmäler in Deutschland, Band 6, S. 198. Vgl. Gräberlisten 170–171, Dutch, Friedhof Versen vom 18.3.1952 (ITS Digital Archive, Bad Arolsen, 1.1.30.1/3415665, unpag.). Im April 1953 ging erstmals beim VDK eine Beschwerde des Direktors der Oorlogsgravenstichting ein. Der niederländische Gräberdienst reklamierte dabei die falsch angegebene Opferzahl auf der Gedenktafel des Friedhofs Versen. Vgl. VDK an Niedersächsisches Ministerium des Innern über die Beschwerde des niederländischen Gräberdienstes vom 20.4.1953 (NLA OS, Rep 430 Dez 207, 48/90 Nr. 93, unpag.). Vgl. Regierungspräsident Osnabrück an Landkreis Meppen, Anfrage vom 24.4.1953 (ebd., unpag.). Vgl. Kosthorst/Walter, Die Konzentrations- und Strafgefangenenlager im Dritten Reich, Band 1, S. 509.
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An der Gestaltung der Friedhöfe Aschendorfermoor und Versen waren natio nale Gräberdienste, Angehörige der Opfer oder Opferverbände nicht beteiligt worden. Dies ist eine Erklärung für die starke Tendenz zur Anonymisierung der Toten. Die Kennzeichnung der während des Endphaseverbrechens ermordeten sowie der bei den anschließenden Bombardierungen umgekommenen Gefangenen kann nicht mehr als formelhaft bezeichnet werden. Sie ließ die Verstorbenen, die Opfer einer Massenerschießung geworden waren, oder aber das Inferno überlebten, jedoch im Lager II eingesperrt waren und daher infolge der Bombardierung starben, völlig unbestimmt. Selbst das Kreuz, das von polnischen Truppenangehörigen im Jahr 1946 aufgestellt worden war, wurde abgetragen. Nur sechs Jahre nach Kriegsende wies also nichts mehr auf das Verbrechen hin, das hier im April 1945 stattgefunden hatte und an dem die lokale Bevölkerung eine Teilverantwortung trug, da sie entflohene Gefangene an den Volkssturm, die SA oder die Polizei ausgeliefert hatte.95 Die Inschrift auf dem Obelisken auf dem Friedhof Versen war dagegen insofern konkreter, als hier zumindest eine Jahreszahl und die verschiedenen Nationalitäten angegeben wurden, doch auch hier wurden die Toten nicht als Opfer oder Verfolgte identifiziert, und auch Täter wurden nicht genannt.96 Zu einem Konflikt zwischen dem niederländischen Gräberdienst, der als Träger einer nationalen und diesem Zeitpunkt tendenziell homogenen niederländischen Gedächtnisgemeinschaft auftrat, und deutschen Akteuren führte jedoch nicht die sprachliche Unbestimmtheit, sondern die Quantifizierung der Toten.97 In den Niederlanden verfestigte sich in der Nachkriegszeit eine Erinnerungskultur, die auf die deutsche Besatzungsherrschaft bezogen war und dabei ein bestimmtes Selbstbild konturierte, das Friso Wielenga als »klein-aber-tapfer« bezeichnet.98 Demnach war die niederländische Bevölkerung mehrheitlich unschuldiges Opfer der deutschen Besatzung und des Zweiten Weltkrieges gewor-
95
Vgl. Peter Reichel, Über das Totengedenken nach Auschwitz. Vom politischen Totenkult zur politischen Erinnerungskultur. In: Peter Stolt/Wolfgang Grünberg/Ulrike Suhr (Hg.), Kulte, Kulturen, Gottesdienste. Öffentliche Inszenierung des Lebens, Göttingen 1996, 70–80, hier 73–77; Schoenfeld, Grabzeichen für Soldaten, S. 278–281. 96 Vgl. Koselleck, Kriegerdenkmale als Identitätsstiftungen, S. 256. 97 Zur niederländischen Erinnerungskultur und ihrer intergenerationellen Tradierung vgl. Hans Marks/Friederike Pfannekuche, Die Toleranz der Generationen. Wie Gut und Böse in den Niederlanden unterschieden werden. In: Harald Welzer (Hg.), Der Krieg der Erinnerung. Holocaust, Kollaboration und Widerstand im europäischen Gedächtnis, Frankfurt a. M. 2007, S. 112–149. Vgl. zum deutsch-niederländischen Verhältnis mit Blick auf das geteilte Bezugsereignis Zweiter Weltkrieg: Christine Gundermann, Die versöhnten Bürger: Der Zweite Weltkrieg in deutsch-niederländischen Begegnungen 1945–2000, Münster 2014, S. 30–55. 98 Friso Wielenga, Erinnerungskulturen im Vergleich. Deutsche und niederländische Rückblicke auf die NS-Zeit und den Zweiten Weltkrieg. In: Jahrbuch des Zentrums für Niederlande-Studien, 12 (2001), S. 11–28, hier 13.
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den, jedoch war sie nicht duldend-passiv geblieben, sondern hatte für Freiheit und Gerechtigkeit Widerstand geleistet und hatte damit letztlich im Mai 1945 triumphiert, so die nationale Meistererzählung.99 Eingebettet in diese niederländische Lesart war die im Jahr 1946 erhobene Forderung, aufgrund der hohen Kriegsschäden und -verluste einen Teil des emsländischen Grenzgebietes als Reparationsleistung zu erhalten, der vonseiten der Alliierten jedoch nicht nachgekommen wurde. In diesem politisch und emotional aufgeladenen deutschniederländischen Konflikt, der sich durch die regionale Nähe im emsländischen Grenzgebiet zuspitzte, ist die Stiftung des niederländischen Denkmals beispielhaft für ein Konkurrenzverhältnis opferzentrierter Erinnerungskulturen.100 Die genannten Umgangsweisen mit den Friedhöfen von NS-Verfolgten und die sich darin widerspiegelnden Entlastungsstrategien sind an einem Beispiel des lokalen Kriegstotengedenkens zu veranschaulichen und zu vergleichen. Das im Frühjahr 1953 errichtete Kriegsehrenmal in der Ortschaft Herbrum, einem Ortsteil der Stadt Papenburg, konnte durch Spenden der Gemeindemitglieder sowie der lokalen Vereine in Höhe von 6 000 DM finanziert werden. Zu den Initiatoren der Denkmalstiftung zählten die lokale Schützenbruderschaft sowie der örtliche Heimkehrerverband.101 Gestaltet wurde das Ehrenmal von einem lokal ansässigen Bildhauer.102 Die Form des noch heute existierenden Ehrenmals ähnelt der eines Triptychons.103 In der Mitte befindet sich ein figürliches Relief, das einen toten Soldaten zeigt, der von dem auf einer Wolke schwebenden Christus gesegnet wird. Darüber ist der biblische Spruch eingemeißelt: »Komm du mein getreuer und guter Knecht.« Links und rechts dieses Bildes befinden sich zwei massive Steingedenktafeln, auf denen unter dem Eisernen Kreuz die Namen der im Ersten (links) und Zweiten Weltkrieg (rechts) verstorbenen Gemeindemitglieder eingemeißelt sind. Das Motiv des Reliefs sowie das biblische Zitat versehen den Kriegstod mit einer christlichen Sinngebung. Der Widerspruch zwischen Kriegsdienst und christlichem Tötungsverbot gilt überwunden, indem der Kriegstod als gottgegeben verklärt wird. Die Begnadigungsgeste durch Christus weist zwar darauf hin, dass der getötete Soldat durch seinen militärischen Dienst und den Bruch des christlichen Tötungsverbots Schuld auf sich geladen hat, von dieser spricht ihn Gott aber symbolisch frei.104 99 Vgl. ebd., S. 12 f. 100 Vgl. Haverkamp, Die Erschließung des Emslandes, S. 84–87. 101 Vgl. Schulleiter Josef Groß, Auszug aus der Schulchronik Herbrum, 1953 (Archiv des Heimatvereins Herbrum/Ems, unpag.). 102 Das Denkmal stammte von dem Papenburger Bildhauer Peter Sürken. Vgl. o. V., Einweihung des Herbrumer Ehrenmals. In: Ems-Zeitung vom 16.11.1953. 103 Vgl. Vorsitzender der Schützenbruderschaft Herbrum, Das Kriegerehrenmal in Herbrum, Zusammenstellung von Informationen über die Entstehungshintergründe des Denkmals (Archiv des Heimatvereins Herbrum/Ems, unpag.). 104 Vgl. Reichel, Politik mit der Erinnerung, S. 111 f.
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Mit ähnlicher Bedeutung wurden die Einweihungsfeierlichkeiten des Kriegs ehrenmals am Volkstrauertag im November 1953 aufgeladen, wie aus der Schul chronik Herbrum und einem Artikel in der »Ems-Zeitung« hervorgeht. Vor der lokalen Trauergemeinde sang die Schuljugend »Wir treten zum Beten«, das zum Kanon deutschen Kriegstotengedenkens zählt.105 Die zweite Strophe, der von Joseph Weyl stammenden Version, lautet: »Im Streite zur Seite ist Gott uns gestanden, Er wollte, es sollte das Recht siegreich sein: Da ward, kaum begonnen, die Schlacht schon gewonnen. Du Gott warst ja mit uns: Der Sieg, er war dein!«106 Mit Blick auf diese Zeilen verwundert es nicht, dass das Lied im Kaiserreich und während des Ersten Weltkriegs zur »religiös-nationalistischen« Hymne wurde.107 Auch die Nationalsozialisten eigneten sich das Lied als Durchhalteparole an und legitimierten ihr Handeln damit als gottgewollt.108 Der kriegerische Tonfall des Liedtextes erfreute sich insbesondere im ländlichen Raum nach 1945 bald wieder großer Beliebtheit, da in dem Lied soldatische Tugend und christliche Erlösungssehnsucht verbunden waren. Die integrative Wirkung einer derartigen Inszenierung des Kriegstotengedenkens kann dabei angesichts des katholischen emsländischen Milieus nicht hoch genug eingeschätzt werden.109 So war hier eine Lesart repräsentiert, in der christliche und militaristische Deutungsmuster des gewaltsamen Todes verschmolzen, eine Verbindung, der im Hinblick auf die bibelfeste Gegend eine symbolische Scharnierfunktion zukam.110 Im katholisch-ländlichen Milieu konnte hierdurch an tradierte christliche sowie militaristische Sinngebungen angeknüpft werden, die als politisch unverfänglich galten, da sie nicht unmittelbar eine »NS-Trauersemantik« zitierten.111 Diese Bezugnahme auf bekannte Vorkriegstraditionen nach einer als fremd wahrgenommen und von den Alliierten dominierten Erinnerungskultur bot Orientierung.112 Das Kriegerehrenmal
105 106 107 108 109 110
Vgl. o. V., Einweihung des Herbrumer Ehrenmals. In: Ems-Zeitung vom 16.11.1953. Zit. nach Kaiser, Von Helden und Opfern, S. 40. Ebd., S. 41. Vgl. ebd., S. 39–42. Vgl. o. V., Einweihung des Herbrumer Ehrenmals. In: Ems-Zeitung vom 16.11.1953. Frank Bösch führt zum Wandel des Kriegstotengedenkens im konservativen Milieu aus, dass in der Nachkriegszeit weniger »nationaler Revanchismus und die Verehrung der toten Helden« im Mittelpunkt standen, sondern vielmehr mit der »Wiederherstellung der soldatischen Ehre« das Ziel verbunden war, Versorgungsansprüche ehemaliger Militärangehöriger geltend zu machen und die Entlassung der Kriegsgefangenen in der Sowjetunion zu fordern. Frank Bösch, Das konservative Milieu. Vereinskultur und lokale Sammlungspolitik in ost- und westdeutschen Regionen (1900–1960), Göttingen 2002, S. 197 f. 111 Maciejewski, Trauer ohne Riten, S. 248. 112 Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Gedenktage und Geschichtsbewußtsein. In: Hans-Jürgen Pandel (Hg.), Verstehen und Verständigen. Jahrbuch für Geschichtsdidaktik, Pfaffenweiler 1991, S. 197–214, hier 210.
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in Herbrum kann daher im bundesrepublikanischen Kontext der 1950er-Jahre als exemplarisch gelten, da es Ausdruck einer integrativen, entlastenden und gemeinschaftsstiftenden Erinnerungskultur ist, in deren Mittelpunkt das Kriegsopfer steht, und die insbesondere innerhalb von dörflichen Erinnerungsmilieus gepflegt wurde.113 Am Anfang dieses Unterkapitels wurde danach gefragt, inwiefern die Denkmäler und Friedhofsgestaltungen ein Spannungsverhältnis zwischen der mehrheitsgesellschaftlich gefühlten Opferschaft und der Opferschaft der NS-Verfolgten ausdrückten. Zur Beantwortung dieser Frage ist zunächst im Hinblick auf die Entscheidungsprozesse festzuhalten, dass die Friedhofsausgestaltungen im Zuge des Kriegsgräbergesetzes vom niedersächsischen Innenministerium angewiesen wurden und die Initiative für ein Kriegsehrenmal in Herbrum von der lokalen Schützenbruderschaft sowie dem Heimkehrerverband ausging. Dennoch liegt eine Gemeinsamkeit darin, dass die drei beschriebenen Denkmäler alle an den Sinnhorizont der deutschen Mehrheitsbevölkerung anknüpften: Die Denkmäler auf den Friedhöfen anonymisierten die Toten, sie nahmen keinen oder kaum Bezug auf sie. Wessen hier gedacht wurde – ob Kriegstoten oder NS-Verfolgten – erschloss sich nicht. Die Anonymisierung der Verstorbenen vermittelte so eine entlastende Botschaft, denn die Inschriften blieben »personell richtungslos« und damit formelhaft, es war weder von Opfern noch von Tätern die Rede.114 Das Kriegsehrenmal in Herbrum nannte dagegen alle Namen der lokalen »Gefallenen« und fand darin einen Ausdruck für die Trauer und den Verlust. Überdies wirkte die christliche Ikonografie erlösend, da sie das Töten im Krieg als gottgewollt entschuldete. Die Anonymisierung der ermordeten Gefangenen einerseits und die Quantifizierung und Personalisierung der Kriegstoten andererseits kann daher als grundsätzlich entlastend und an eine deutsche Mehrheitsgesellschaft gerichtete Botschaft interpretiert werden. Gegen eine solche Botschaft lehnte sich der niederländische Gräberdienst im Jahr 1953 auf. Er trat aktiv mit der selbstviktimisierenden Erinnerungskultur in Konkurrenz und stiftete unmittelbar neben dem Obelisken auf dem Friedhof Versen ein Denkmal, das die Namen der niederländischen Opfer nannte und somit als Korrektiv diente.115
113 Vgl. Maciejewski, Trauer ohne Riten, S. 252. 114 Soeffner, Die Ordnung der Rituale, S. 180. Soeffner hat dieses Deutungsangebot am Beispiel der symbolischen Ausgestaltung des Totengedenkens in Verdun analysiert. Im Hinblick auf Kriegerdenkmäler für den »unbekannten Soldaten« konstatiert er, dass diese »aus dem ›jeder von uns‹ unter der Hand ein ›keiner von uns‹« bewirken. Ebd. 115 Vgl. Mijić, Verletzte Identitäten, S. 85.
Die Toten der Emslandlager
1.4
151
An der Peripherie: sowjetische und polnische »Kriegsgräber«
Auf neun der sechs Lagerfriedhöfe ruhen Kriegsgefangene, die Mehrheit davon waren sowjetische Kriegsgefangene. Bis heute sind die genauen Opferzahlen nicht geklärt, doch gehen Schätzungen von bis zu 30 000 Toten aus. Die sowjetische Mission hatte im ersten Nachkriegsjahr die Kriegsgefangenengräber im Emsland als Ehrenfriedhöfe ausgestalten lassen. Die dabei errichteten Denkmäler, die mit dem fünfzackigen Stern versehen waren und deren Inschriften die Toten als Helden markierten, spiegelten das sowjetische Siegergedächtnis, dessen zentrales Bezugsereignis der Große Vaterländische Krieg darstellte. Trotz des sich zuspitzenden Systemkonflikts wurde vonseiten der britischen Militärbehörden auf eine regelmäßige Pflege der Friedhöfe geachtet. Wie aber gingen deutsche Akteure mit diesen Friedhöfen um, nachdem die Gräberfürsorge zur Verwaltungs- und Bauaufgabe der Bundesländer erklärt worden war? Inwiefern spiegelt die Gräberfürsorge die Phasen des Kalten Krieges? Wie wurde der Tod von tausenden Kriegsgefangenen in den 1950er-Jahren gedeutet und welche regionalspezifischen Narrative lassen sich dabei nachweisen? Diese Fragen werden entlang der Praktiken der Gräberfürsorge untersucht: die Abtragung von sowjetischen Ehrenmälern, die Stiftung religiöser Grabsymbole sowie die Umbettung von polnischen Gebeinen auf sowjetische Kriegsgräberstätten.116 Wenngleich bis zum Fall des Eisernen Vorhangs kein Kriegsgräberabkommen zwischen der Bundesrepublik und der UdSSR zustande kommen sollte, fanden die Phasen der deutsch-sowjetischen Beziehungen doch ihren Niederschlag in der Gräberfürsorge. Wurden die Friedhöfe im Emsland, auf denen überwiegend sowjetische Kriegsgefangene beerdigt lagen, zwischen 1950 und 1957 nur notdürftig gepflegt, erfolgten seit Ende der 1950er-Jahre regelmäßigere Kontrollen – sowohl von deutscher als auch sowjetischer Seite. Es ist anzunehmen, dass diese Hinwendung zu den sowjetischen Gräbern im Zusammenhang mit der Aufnahme von diplomatischen Beziehungen zwischen der UdSSR und der Bundesrepublik im Jahr 1955 und der Rückführung deutscher Kriegsgefangener aus der Sowjetunion stand.117 Denn seit dieser Zeit bemühte sich das Auswärtige Amt mit Unterstützung des VDK um ein deutsch-sowjetisches Gräberabkommen, das es dem VDK erlauben sollte, Zugang zu den Gräbern von Deutschen in der UdSSR zu gewähren, diese zu registrieren, als Ehrenanlagen auszugestal-
116 Zu den Praktiken der Gräberfürsorge, die mit erinnerungskulturellen Konjunkturen korrespondieren, vgl. Skriebeleit, Exhumierungen und Erinnerungen, S. 314–327. 117 Zur Rückkehr von deutschen Kriegsgefangenen infolge des Moskaubesuchs Konrad Adenauers vgl. Andreas Hilger, Deutsche Kriegsgefangene in der Sowjetunion, 1941–1956. Kriegsgefangenenpolitik, Lageralltag und Erinnerungen, Essen 2000.
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Abwehr und Selbstbehauptung
ten und für Angehörigenbesuche zu öffnen.118 Im Zuge dieser Annäherung entstand jedoch in erinnerungskultureller Hinsicht ein Spannungsverhältnis: Der Stellungskrieg, die deutschen Kriegsgefangenen und die Übergriffe der Roten Armee gegen die deutsche Zivilbevölkerung waren die zentralen Referenzen in der deutschen Erinnerungskultur.119 Innerhalb dieser auf die deutschen Opfer gerichteten Deutung wurden die geschätzten drei Millionen Toten unter den sowjetischen Kriegsgefangenen ausgeblendet.120 Mit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur UdSSR wurde die Sorge um Grabstätten sowjetischer Bürger jedoch zunehmend als außenpolitisches Handlungsfeld im Sinne der Annäherung zwischen den beiden Staaten entdeckt. Für das angestrebte Zustandekommen eines deutsch-sowjetischen Gräberabkommens sollten die Gräber ausgestaltet und regelmäßig gepflegt werden.121 Die Ausgestaltungen von sowjetischen Kriegsgräberstätten im Emsland wurden Ende der 1950er-Jahre von dem VDK-Vertragsarchitekten Langerhans geplant und beaufsichtigt. Hierbei wurden die Friedhöfe Fullen, Wesuwe, Dalum und Alexisdorf instandgesetzt und ausgestaltet. Zunächst wurde der dichte Baumwuchs auf den Gräberflächen abgeholzt. Dann erfolgte die vollständige Planierung der Grabhügel, die nun mittels Heide- oder Preiselbeerwuchs angedeutet wurden. Darüber hinaus wurden die Denkmäler und Grabzeichen abgetragen, die von der sowjetischen Mission in der unmittelbaren Nachkriegszeit errichtet worden waren. Die Abtragung von Denkmälern wurde mit pragmatischen Gründen erklärt. So gab Langerhans in Bezug auf den Friedhof Wesuwe an, dass »das Denkmal sehr baufällig ist, von der ehemaligen Beschriftung ist nichts
118 Vgl. von Tschischwitz, VDK Osnabrück an alle Kreisverbände der Regierungsbezirke Osnabrück und Aurich, Betr.: Gedenken an die Toten des Ostraumes vom 3.3.1958 (NLA OS, Dep 3 c, 2012/ 098 Nr. 32, unpag.). 119 Vgl. u. a. Johannes Hürter, »Moskau 1941« als westdeutscher Erinnerungsort. In: Andreas Wirsching/Jürgen Zarusky/Alexander Tschubarjan/Viktor Ischtschenko (Hg.), Erinnerung an Diktatur und Krieg. Brennpunkte des kulturellen Gedächtnisses zwischen Russland und Deutschland seit 1945, München 2015, S. 51–61; Bernd Stöver, Der Kalte Krieg 1947–1991. Geschichte eines radikalen Zeitalters, München 2007, S. 285–289. 120 Zur Geschichte des kollektiven Gedächtnisses an den Krieg gegen die Sowjetunion vgl. Wirsching/Zarusky/Tschubarjan/Ischtschenko (Hg.), Erinnerung an Diktatur und Krieg; Elke Scherstjanoi (Hg.), Russlandheimkehrer. Die sowjetische Kriegsgefangenschaft im Gedächtnis der Deutschen, München 2012. Zur russischen Perspektive vgl. Ludmila Lutz-Auras, »Auf Stalin, Sieg und Vaterland!«. Politisierung der kollektiven Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg in Russland, Wiesbaden 2013. Zu den Verbrechen an den sowjetischen Kriegsgefangenen vgl. Keller/Petry (Hg.), Sowjetische Kriegsgefangene; Rolf Keller, Sowjetische Kriegsgefangene im Deutschen Reich 1941/42. Behandlung und Arbeitseinsatz zwischen Vernichtungspolitik und kriegswirtschaftlichen Zwängen, Göttingen 2011. 121 Vgl. Referat V5, »Arbeitsunterlagen zu Fragen der Behandlung politisch bedeutsamer Gräbergruppen nach § 6 Kriegsgräbergesetz« vom 1.2.1961 (BArch Koblenz, B106/28378, unpag.), S. 2.
Die Toten der Emslandlager
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mehr zu erkennen. [...] Nur auf den 291 Einzelgräbern sind mit Namen versehene Holzkreuze vorhanden, die aber sehr baufällig sind.«122 Nach der Abtragung der sowjetischen Denkmäler wurden die Friedhöfe durch Eingangspylonen markiert. In den beiden Eingangspfeilern zum Friedhof Dalum, die aus dem Jahr 1958 stammen, ist das russisch-orthodoxe Kreuz eingemeißelt sowie die Inschrift »Russischer Soldatenfriedhof«.123 Das Zweibalkenkreuz wurde ebenso in den symbolischen Grabzeichen verwendet, die von den Behörden als »Russenstelen« bezeichnet wurden.124 Die Eingangsmonolithen auf dem Friedhof Wesuwe tragen die Inschrift »Kriegsgräberanlage Wesuwe 1941–1945«.125 Darüber hinaus ist hier ein quadratischer Gedenkstein errichtet worden, der »den hier ruhenden Kriegstoten zum Gedenken 1941 1942 1943 1944 1945« gewidmet war.126 Wie bereits im Hinblick auf die Friedhöfe Versen und Aschendorfermoor erläutert, kann auch hinsichtlich der Neugestaltung der Kriegsgefangenenfriedhöfe beobachtet werden, wie hiermit vor allem ein Sinnangebot an die deutsche Gedächtnisgemeinschaft hergestellt wurde. So kam die Bundesrepublik der deutschen Ehrenpflicht zwar nach, die Gräber der sowjetischen Kriegsgefangenen zu erhalten, doch dabei wurden die Friedhöfe nun konsequent mit einer an der offiziellen bundesrepublikanischen Erinnerungskultur orientierten Lesart überschrieben, die die materiellen Spuren des sowjetischen Siegergedächtnisses verwischte. Die Abtragung sowjetischer Denkmäler war dabei in den 1950er- und 1960er-Jahren eine gängige Praxis, die als die Mehrheitsbevölkerung entlastend zu verstehen ist, da die Denkmäler »nicht als Referenz an die Kriegstoten, sondern als Symbol sowjetischer Bedrohung interpretiert« worden waren.127 Ebenso an einen mehrheitsgesellschaftlichen Sinnhorizont angelehnt war die christliche Symbolik: Das Zweibalkenkreuz ersetzte die sowjetischen Insignien, die politi122 Oswald Langerhans an Regierungspräsident in Osnabrück zu Plänen zur Instandsetzung »des Ausländerfriedhofs Wesuwe« vom 10.1.1959 (NLA OS, Rep 430 Dez 207, 48/90 Nr. 42, unpag.). 123 Verzeichnis über Gräberanlagen in Niedersachsen, auf denen russische Kriegsgefangene bestattet sind, Dalum, Landkreis Meppen, o. D. (1965) (BArch Koblenz, B189/9423, Bl. 233–234). 124 Oswald Langerhans an Regierungspräsident in Osnabrück zu Plänen zur Instandsetzung »des Ausländerfriedhofs Wesuwe« vom 10.1.1959 (NLA OS, Rep 430 Dez 207, 48/90 Nr. 42, unpag.). 125 Über die Inschriften der Stelen gab es offenbar zunächst Unklarheiten. Langerhans schlug vier mögliche Formulierungen vor: 1. Unbekannte Russen, 2. Unbekannte Ausländer, 3. Unbekannte Kriegstote, 4. Unbekannte russische Kriegstote. Die ersten beiden Optionen wurden abgelehnt, da sie als unpräzise galten und zu der Fehldeutung führen konnten, bei den hier begraben Liegenden handele es sich nicht um Kriegsgräber, für die das ewige Ruherecht galt. Vgl. Oswald Langerhans an Regierungspräsident in Osnabrück, Betr.: Ausländerfriedhof Wesuwe vom 5.10.1960 (NLA OS, Rep 430 Dez 207, 48/90 Nr. 42, unpag.). 126 Heinz Jürgen Stamm an Regierungspräsident in Osnabrück zum Tod von Langerhans vom 2.11.1960 (ebd., unpag.). 127 Jürgen Zarusky, Sowjetische Opfer von Krieg und nationalsozialistischer Verfolgung in der bundesdeutschen Erinnerungskultur. In: Wirsching/ders./Ischtschenko/Tschubarjan, Erinnerung an Diktatur und Krieg, S. 227–245, hier 231.
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Abwehr und Selbstbehauptung
sche Zeichen gewesen waren.128 Unter einem Symbol der christlich-orthodoxen Kirche wurde dabei erneut die überaus heterogene Gruppe der sowjetischen Kriegsgefangenen homogenisiert.129 Als entlastend können zudem die ausweichenden Inschriften der Denkmäler interpretiert werden, die von russischen Soldaten anstatt von Kriegsgefangenen sprachen, die Toten unbestimmt ließen und damit keinen näheren historischen Bezug zu den Kriegsgefangenenlagern in der Region herstellten.130 Während sich diese Gestaltungselemente auf allen Friedhöfen sowjetischer Kriegsgefangener noch heute im Emsland wiederfinden, ist im Umgang mit dem Friedhof Fullen eine Besonderheit zu beschreiben. Denn auf diesem Friedhof, auf dem Mitte der 1950er-Jahre sowjetische Kriegsgefangene sowie italienische Militärinternierte ruhten, wurden im Jahr 1958 bislang auf dem Gemeindefriedhof Haren bestattete Gebeine polnischer DPs umgebettet.131 Als 1945 eine polnische Enklave im Emsland eingerichtet wurde, war die Stadt Haren vollständig besetzt, der private Wohnraum zwangsgeräumt und von polnischen Besatzungsmitgliedern und polnischen DPs bezogen worden. Unter den neuen Bewohnerinnen und Bewohnern waren auch ehemalige polnische Kriegsgefangene der Emslandlager. Polnische Kinder, Frauen und Männer, die während der Besatzungszeit verstorben waren, wurden auf dem Harener Gemeindefriedhof bestattet.132 Nachdem die polnischen Truppen abgezogen waren und die Lokalbevölkerung wieder ihre Häuser bezogen hatte, befanden sich weiterhin die an die Besatzungszeit erinnernden Gräber auf dem Gemeindefriedhof. Als jedoch im Jahr 1955 der italienische Gräberdienst die letzten italienischen Gebeine, die auf dem fast 20 Kilometer von der Stadt Haren entfernten und weit von Dörfern abgelegenen Lagerfriedhof Fullen beerdigt waren, repatriieren ließ,133 war dieses Grä128 Vgl. Soeffner, Die Ordnung der Rituale, S. 180. 129 Vgl. ebd. 130 Ähnliche Inschriften fanden sich auch auf anderen sowjetischen Kriegsgefangenenfriedhöfen, wie in Stukenbrock, wo der Formel von den Kriegstoten noch die Zeile »die fern ihrer Heimat starben« zugefügt wurde. Vgl. Reichel, Politik mit der Erinnerung, S. 106. 131 Hier waren zu Lagerzeiten 753 italienische Militärinternierte beerdigt worden, sowie ca. 1 500 sowjetische Kriegsgefangene. Vgl. Friedhofspläne, Ordner 22 Meppen, Groß Fullen, o. D. 1950 (ITS Digital Archive, Bad Arolsen, 5.3.5/101101897, unpag.). 132 Im Mai 1945 hatten die polnischen Besatzungstruppen mit Erlaubnis der britischen Militärregierung die Stadt Haren besetzt und zur polnischen Enklave erklärt. 30 000 polnische Displaced Persons und 18 000 Militärangehörige lebten bis zum 10.9.1948 in den beschlagnahmten Häusern der deutschen Bevölkerung. Zur Besetzung der Stadt Haren sowie zum Verhältnis der polnischen Besatzung zur deutschen Lokalbevölkerung vgl. Rydel, Die polnische Besatzung im Emsland, S. 137–163. 133 Die Gebeine der italienischen Militärinternierten wurden in der Nachkriegszeit zum einen nach Italien repatriiert, zum anderen entsprechend dem deutsch-italienischen Kriegsgräberabkommen von 1955 auf das italienische Ehrenfeld auf dem Friedhof Hamburg-Öjendorf umgebettet. Vgl. die Umbettungsprotokolle (NLA OS, Dep 63b, 2002/011 Nr. 59 und Nr. 60, unpag.).
Die Toten der Emslandlager
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berfeld frei geworden.134 Der Landkreis Meppen entschied, die polnischen Gebeine vom Gemeindefriedhof Haren auf den Lagerfriedhof Fullen umzubetten.135 Nachdem im Juli 1958 die Aus- und Umbettungen der polnischen Toten erfolgt waren, verschwanden mit ihnen auch die Spuren einer polnischen Erinnerungskultur und somit auch der polnischen Besatzung aus der Stadt.136 Es ist zusammenzufassen, dass die deutsche Kriegsgräberfürsorge sowohl ein innen- als auch außenpolitisches Handlungsfeld darstellte und hier Konjunkturen auf der Makroebene ihren Niederschlag fanden. Im Zuge der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Bonn und Moskau wurde die Totenehrung neu verhandelt. Seit dieser Zeit sind im Emsland Instandsetzungen von sowjetischen Kriegsgräberstätten angewiesen worden, die zuvor jahrelang kaum gepflegt und teils durch den dichten Baumwuchs kaum mehr sichtbar waren. Im Zeichen des Kalten Krieges stand bei der Neugestaltung die Abtragung sowjetischer Denkmäler mitsamt ihren politischen Insignien, die nun durch eine christliche Symbolik ersetzt wurden. Damit waren die vielfältigen Hintergründe der Kriegsgefangenen erneut nivelliert worden: Während die sowjetischen Denkmäler der unmittelbaren Nachkriegszeit von einer politischen Deutung des gewaltsamen Todes gekennzeichnet waren, wurde das Gewaltsame nun überschrieben und damit gänzlich ausgeblendet. Die kollektivierende Zuschreibung einer Religionszugehörigkeit war dabei an den Sinnhorizont der mehrheitlich christlichen deutschen Bevölkerung orientiert. Wurden die sowjetischen Denkmäler als anklagend und feindlich wahrgenommen, waren sie nun durch christliche Symbole ersetzt worden.137 Diese Art der Gestaltung von sowjetischen Kriegsgräberstätten ist jedoch keineswegs regionalspezifisch, sondern entspricht vielmehr den vom VDK geprägten Gestaltungsprinzipien und einem weitverbreiteten Bedürfnis nach Entlastung. Die Aus- und Umbettung von polnischen Gebeinen hingegen ist Ausdruck einer dezidiert lokalen Erinnerungskultur, denn mit der Umbettung der polnischen Gebeine vom zentralen Gemeindefriedhof Haren auf die abgelegene Kriegsgräberstätte Fullen hatte sich die Stadt auch symbolisch von der polnischen Besatzung befreit.
134 Vgl. Landkreis Meppen an Gemeinde Groß Fullen, Betr.: Italienische Kriegsgräber vom 10.5.1955 (ebd., Nr. 58, unpag.). 135 Vgl. Gräberlisten No. 2, Groß Fullen (ITS Digital Archive, Bad Arolsen, 2.1.2.1/70688911, unpag.). 136 Vgl. Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, Landesverband Niedersachsen, Umbettungsprotokolle vom 23.7.1958 (NLA OS, Rep 430 Dez 207, 48/90 Nr. 90, unpag.). 137 Vgl. Soeffner, Zu den Stichwörtern »Kollektivsymbol« und »Ritual«, S. 148.
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2.
Abwehr und Selbstbehauptung
Störungen: die »Emsland-Lagergemeinschaft«
»Heute, 11 Jahre nach Erwachen aus dem faschistischen Albtraum, stehen die gleichen Männer, die vor 20 Jahren in den Konzentrationslagern saßen, wieder mahnend vor der deutschen Öffentlichkeit, um ihr im Namen der ungezählten Ermordeten zuzurufen: Erinnert euch!«138 »Emsland-Lagergemeinschaft die Moorsoldaten«
Betrachtet man die Staatswerdung der beiden deutschen Teilstaaten als Kon trastfolien, dann ist mit dem von der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) zur Staatsräson erklärten Antifaschismus seine bundesrepublikanische Entsprechung im Antitotalitarismus zu suchen. Diese den Konsolidierungsprozess der Bundesrepublik in den 1950er-Jahren unterfütternde konservative Ideologie verengte sich im Laufe der Jahre zunehmend auf den Antikommunismus und fand ihren Höhepunkt im Verbot der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) im Jahr 1956.139 In diesem Zusammenhang ist auch der staatliche Umgang mit der VVN einzuordnen. Die VVN hatte sich im Jahr 1946 als interzonale, parteiübergreifende Verfolgtenvertretung gebildet. Während ihre Mitglieder noch in der Anfangszeit verschiedene Verfolgtengruppen repräsentierten, entwickelte sich die VVN bald zu einer kommunistischen Interessenvertretung.140 Im Zuge der Berlin-Blockade schloss die SPD im Jahr 1948 im sozialdemokratischen Unvereinbarkeitsbeschluss die Mitgliedschaft in SPD und VVN aus.141 Folge des Beschlusses sowie des großen Anteils von Kommunisten unter den NS-Verfolgten war die Entwicklung der VVN zu einer kommunistischen Vereinigung: Immer
138 O. V., 11 Jahre danach! In: Der Moorsoldat vom 8./9.9.1956. 139 Vgl. Katrin Hammerstein, Schuldige Opfer? Der Nationalsozialismus in den Gründungsmythen der DDR, Österreichs und der Bundesrepublik Deutschland. In: Regina Fritz/Carola Sachse/Edgar Wolfrum (Hg.), Nationen und ihre Selbstbilder. Postdiktatorische Gesellschaften in Europa, Göttingen 2008, S. 39–61, hier 53; Michael Lemke, Die Wahrnehmung des westdeutschen Antikommunismus durch die SED/DDR. In: Stefan Creuzberger/Dierk Hoffmann (Hg.), »Geistige Gefahr« und »Immunisierung der Gesellschaft«. Antikommunismus und politische Kultur in der frühen Bundesrepublik, München 2014, S. 75–86, hier 77; Jan Korte, Instrument Antikommunismus. Sonderfall Bundesrepublik, Berlin 2009. 140 Vgl. Olaf Groehler, Verfolgten- und Opfergruppen im Spannungsfeld der politischen Auseinandersetzungen in der SBZ und DDR. In: Jürgen Danyel (Hg.), Die geteilte Vergangenheit. Zum Umgang mit Nationalsozialismus und Widerstand in beiden deutschen Staaten, Berlin 1995, S. 17–30, hier 23–28. 141 Vgl. Boris Spernol, Die ›Kommunistenklausel‹. Wiedergutmachungspraxis als Instrument des Antikommunismus. In: Creuzberger/Hoffmann (Hg.), »Geistige Gefahr«, S. 254; ders., Der Rote Winkel als »Banner des Friedens«. Friedenspolitik der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes bis 1950. In: Detlef Bald/Wolfram Wette (Hg.), Friedensinitiativen in der Frühzeit des Kalten Krieges 1945–1955, Essen 2010, S. 133–153; Sabine Barck, Antifa-Geschichte(n). Eine literarische Spurensuche in der DDR der 1950er und 1960er Jahre, Köln 2003, S. 23 f.
Die »Emsland-Lagergemeinschaft«
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mehr nichtkommunistische Gruppen traten aus der Vertretung mit der Begründung aus, dass der kommunistische Einfluss zu groß geworden sei. Sie trugen mit ihrem Austritt zugleich dazu bei, dass sich der Einfluss der Kommunistinnen und Kommunisten in der VVN verstärkte.142 Im Zuge der Illegalisierung der KPD rückte auch die VVN in den Brennpunkt strafrechtlicher Ermittlungen.143 Begonnen hatte diese Entwicklung mit der Verabschiedung des 1. Strafrechtsänderungsgesetzes am 11. Juli 1951, das Till Kössler als eine »Zäsur in der Auseinandersetzung mit der kommunistischen Bewegung« begreift.144 Hiermit wurden die durch die Alliierten aufgehobenen Normen des NS-Strafrechts neu verhandelt und Straftatbestände wie Hochverrat, Staatsgefährdung und Landesverrat wieder aufgenommen.145 Während das Verbot der kommunistischen Partei in der Bundesrepublik noch einige Jahre auf sich warten ließ, wurde der Rat der VVN bereits am 26. Juli 1951 verboten.146 Parallel war ein Verbotsverfahren gegen die VVN-Landesorganisation in Niedersachsen eingeleitet worden, deren Geschäftsstellen vom niedersächsischen Innenministerium am 27. Juli 1951 geschlossen wurden.147 Wenngleich der Klage des niedersächsischen Landesverbandes gegen das Verbot stattgegeben wurde, erlangte die VVN hier erst im Verbotsjahr der KPD (1956) eine Wiedereintragung in das niedersächsische Vereinsregister – sie war jedoch zugleich aufgrund ihrer mehrheitlich kommunistischen Mitglieder politisch handlungsunfähig geworden.148 Das Eingangszitat stammt von der »Emsland-Lagergemeinschaft Moorsoldaten«, die sich im Jahr 1956, im Verbotsjahr der KPD, offiziell gründete und über die Grenze der beiden deutschen Teilstaaten hinweg organisiert war.149
142 Vgl. Goschler, Wiedergutmachung, S. 194 f. 143 Vgl. Till Kössler, Abschied von der Revolution. Kommunisten und Gesellschaft in Westdeutschland 1945–1968, Düsseldorf 2005, S. 288; ders., Die Grenzen der Demokratie. Antikommunismus als politische und gesellschaftliche Praxis in der frühen Bundesrepublik. In: Creuzberger/ Hoffmann (Hg.), »Geistige Gefahr«, S. 229–250. 144 Kössler, Abschied von der Revolution, S. 288. 145 Vgl. Ulrich Herbert, Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, München 2014, S. 669. 146 Vgl. Kössler, Abschied von der Revolution, S. 292. 147 Vgl. Niedersächsisches Ministerium des Innern, Abschrift zu den Akten I/ 4 – 120.819, »Auflösung VVN« vom 11.7.1952 (NLA HA, Nds. 100, 17/97 Nr. 14–7, unpag.). 148 Vgl. Wolfgang Wippermann, Heilige Hetzjagd. Eine Ideologiegeschichte des Antikommunismus, Berlin 2012, S. 30–32. 149 Die »Moorsoldaten« reihen sich ein in eine (Wieder-)Gründungswelle von Lagergemeinschaften Mitte der 1950er-Jahre. Einschneidend war das zehnjährige Jubiläum der Befreiung, zu dem ehemalige Gefangene an ihre Leidensorte zurückkehrten und gegen die bundesrepublikanische Entschädigungspraxis, die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik und die pragmatische Nachnutzung der ehemaligen Lager protestierten. Vgl. Cornelia Siebeck, 50 Jahre »arbeitende« NS-Gedenkstätten in der Bundesrepublik. Vom gegenkulturellen Projekt zur staatlichen Gedenkstättenkonzeption – und wie weiter? In: Elke Gryglewski/Verena Haug/Gottfried Kößler/ Thomas Lutz/Christa Schikorra (Hg.), Gedenkstättenpädagogik. Kontext, Theorie und Praxis
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Abwehr und Selbstbehauptung
Die Lagergemeinschaft als zentraler erinnerungskultureller Akteur – ihr Selbstverständnis und ihr erinnerungspolitisches Programm – wird im Folgenden schwerpunktmäßig anhand von Schrifttum der VVN aus dem Nachlass des »Moorsoldaten« Baumgarte sowie den Mitteilungsblättern der Lagergemeinschaft und Dokumenten von Häftlingsausschüssen und Entschädigungsämtern beleuchtet. Die staatliche Perspektive auf die Lagergemeinschaft ist durch einen bislang nicht erschlossenen Aktenbestand des niedersächsischen Innenministeriums (NMfIS, 1991 41/14 Band I) zu betrachten, der Korrespondenzen zwischen Landes- und Bundesministerien sowie dem Landesverfassungsschutz enthält. 2.1
Wer ist ein Moorsoldat?
Diametral zur passiven Opferkonstruktion, wie sie das Kriegsgräbergesetz spiegelte, stand der antifaschistische Opferbegriff, der dem heldenhaften Widerstand einen überlegenen Status gegenüber den passiven Opfern von Gewalt, anderen NS-Verfolgten sowie Kriegstoten zuwies. An dieses heroisierende Deutungsmuster knüpfte die Selbstbezeichnung der Mitglieder der »Emsland-Lagergemeinschaft Moorsoldaten« an, denn hiermit wurde ein distinktives Selbstbild konturiert, wie dieser Auszug aus dem Manifest der Lagergemeinschaft eindrücklich zeigt:150 »Wer kündet vom Heldentum dieser Männer, die Deutschlands Ansehen in der Welt retteten? Wo erhebt sich das Denkmal für Carl von Ossietzky, dem als Moorsoldat der Friedens-Nobelpreis verliehen wurde, und dessen Name im Ausland besseren Klang hatte als der aller Verherrlicher Hitlers zusammengenommen, die aber heute schon wieder Anspruch erheben, Deutschland zu vertreten, als hätte es nie ein Drittes Reich gegeben? Um ihre unvergesslichen Toten zu ehren und an deren Gräbern ihre unwandelbare Treue zu den Idealen der Widerstandsbewegung – zu Freiheit, Demokratie und Völkerverständigung – zu bekunden, haben sich die Überlebenden der Emsland-Moorlager in Papenburg wieder getroffen.«151
der Bildungsarbeit zu NS-Verbrechen, Berlin 2015, S. 19–43, hier 19; Henning Fauser, »In dignez-vous!« Zur Empörung in den Äußerungen französischer KZ-Überlebender. In: Maria-Therese Mäder/Chantal Metzger/Louise Schellenberg/Adjaï Paulin Oloukpona-Yinnon/ Stefanie Neubert (Hg.), Brücken bauen – Kulturwissenschaft aus interkultureller und multidisziplinärer Perspektive, Bielefeld 2016, S. 307–320, hier 311–315. Vgl. zu den Interventionen von ehemaligen NS-Verfolgten Katharina Stengel, Hermann Langbein. Ein Auschwitz-Überlebender in den erinnerungspolitischen Konflikten der Nachkriegszeit, Frankfurt a. M. 2012; dies./Werner Konitzer (Hg.), Opfer als Akteure. Interventionen ehemaliger NS-Verfolgter in der Nachkriegszeit, Frankfurt a. M. 2008. 150 Vgl. Knoch, Endlose Heide, S. 110. 151 O. V., Manifest der Moorsoldaten. In: Der Moorsoldat vom 15.11.1956.
Die »Emsland-Lagergemeinschaft«
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Das Manifest wurde während des ersten internationalen Moorsoldatentreffens, bei dem über zwei Tage Kundgebungen und Gedenkveranstaltungen stattfanden, im September 1956 verlesen. Auf seiner Basis wurden die ersten Vorsitzenden des »Moorkomitees« gewählt: Kruse aus Leer und Ernst Wiggershaus aus Papenburg. Beide waren 1899 geboren und als Strafgefangene in den Emslandlagern aufgrund ihrer illegalen Tätigkeit für die KPD inhaftiert gewesen. Kruse war bis zu seiner Verhaftung im Jahr 1937 als politischer Leiter des Unterbezirks Leer ein wichtiger Knotenpunkt der kommunistischen Untergrundarbeit in Ostfriesland gewesen.152 Nach 1945 schlossen sich Kruse und Wiggershaus der VVN an, seit dem Jahr 1955 betrieben sie in Leer das »Büro der Lagergemeinschaft« und gaben hier das interne Mitteilungsblatt der Lagergemeinschaft »Der Moorsoldat« heraus.153 Heldentum, Carl von Ossietzky, unvergessliche Tote, Freiheit, Demokratie und Völkerverständigung – all diese Topoi verband die Selbstbezeichnung des Moorsoldaten, die auf die Zeit der staatlichen Konzentrationslager zurückging und durch das gleichnamige Lied sowie einen der frühesten Häftlingsberichte, »Die Moorsoldaten« von Langhoff, weltberühmt wurde.154 Kurz nach schweren Ausschreitungen der SS gegen die Häftlinge des Konzentrationslagers Börgermoor war das »Moorsoldatenlied« mit dem einprägsamen Refrain – »Wir sind die Moorsoldaten/und ziehen mit dem Spaten/ins Moor« – von den hier inhaftierten Widerstandskämpfern Wolfgang Langhoff, Johann Esser und Rudi Goguel komponiert und gedichtet worden.155 Im Rahmen einer Zirkusvorstellung, dem »Zirkus Konzentrazani«, der Ende August 1933 zur Aufheiterung der Gefangenen und im Beisein der SS stattfand, wurde das Lied erstmals aufgeführt.156 Da das Moorsoldatenlied »sowohl Ausdruck einer solidarischen 152 Im Jahr 1939 gelang ihm die Flucht nach Holland, wo er bis zum Kriegsende im Untergrund lebte. Vgl. Berthold Kruse im Gespräch mit Schülerinnen und Schülern aus Rhauderfehn am 27.4.1978. Die Tonbandaufzeichnung des Gesprächs wurde mir freundlicherweise von Werner Eggers zur Verfügung gestellt. 153 Wie Habbo Knoch betont, handelte es sich bei den Mitteilungsblättern der Lagergemeinschaften um Nischenmedien, die von der Mehrheitsgesellschaft kaum wahrgenommen wurden. Vgl. Knoch, Die Rückkehr der Zeugen. S. 118. 154 Vgl. Juliane Brauer, ... so machtvoll ist der Heimatlieder Klang. Musik im Konzentrationslager. In: Gerhard Paul/Ralph Schock (Hg.), Sound der Zeit. Geräusche, Töne, Stimmen – 1889 bis heute, Göttingen 2014, S. 179–186; Fietje Ausländer/Susanne Brandt/Guido Fackler, Das Lied der Moorsoldaten 1933 bis 2000. Bearbeitungen. Nutzungen. Nachwirkungen, hg. vom Dokumentations- und Informationszentrum (DIZ) Emslandlager, Papenburg 2002; Wolfgang Langhoff, Die Moorsoldaten. 13 Monate Konzentrationslager, Zürich 1935. 155 Zit. nach Christoph Kleßmann, Der unbekannte Moorsoldat. Der kommunistische KZ-Häftling Rudi Goguel (1908–1976) als kritischer Zeithistoriker der DDR. In: Andreas Degen/Margrid Bircken (Hg.), Reizland DDR. Deutungen und Selbstdeutungen literarischer Ost-West-Migration, Göttingen 2015, S. 135–148, hier 135. 156 Vgl. Langhoff, Die Moorsoldaten, S. 164–183.
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Häftlingsgemeinschaft als auch eines starken Überlebenswillens« war, wurde es bald von der Lagerverwaltung verboten und nun heimlich und als Zeichen des Widerstandes von den Gefangenen gesungen.157 Durch den Abdruck des Liedes im Erlebnisbericht Langhoffs, den er nach seiner Freilassung im Schweizer Exil im Jahr 1935 veröffentlichen konnte, und seiner bald darauffolgenden Übersetzung ins Englische verbreitete es sich rasch. Zu den Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg gelangte es über den Sänger und Schauspieler Ernst Busch, der es vor den Brigadisten vortrug. Bereits Ende der 1930er-Jahre war das Lied zur antifaschistischen Hymne avanciert, nach dem Sieg Francos über die Internationalen Brigaden und deren vielfacher Inhaftierung gelangte es zurück in die deutschen Konzentrationslager und war hier in vielen Sprachen zu hören.158 Während das Moorsoldatenlied in der DDR seit ihrer Gründung zum Kanon antifaschistischen Liedgutes gehörte, fristete es ein Nischendasein in der Bundesrepublik und verbreitete sich erst im Laufe der 1960er-Jahre als Protestlied des linken Spektrums.159 Vor dem Hintergrund der skizzierten Rezeptionsgeschichte des Moorsoldatenliedes wird die Strahlkraft der Selbstbezeichnung deutlich, denn »Moorsoldat« war ein Schlüsselbegriff des Antifaschismus und zeichnete ein klares Bild von den solidarisch, Seite an Seite kämpfenden »Soldaten des antifaschistischen Widerstandes«, die sich trotz Schikanen, Misshandlungen und schwerer Zwangsarbeit nicht hatten brechen lassen.160 Der Moorsoldat abstrahierte dabei die individuellen Erfahrungen des Lageralltags und wurde zum Symbol des Widerstandskampfs.161 Aus dieser Abstraktion resultierte auch das hohe Identifikationspotenzial des Moorsoldaten, der die politischen Widerstandskämpfer der Emslandlager repräsentierte. An diese Deutungsmuster wird auch im Gründungsmanifest der Lagergemeinschaft aus dem Jahr 1956 angeknüpft, wenn es heißt, dass das aktive Leisten von Widerstand zur Zugehörigkeit der Lagergemeinschaft berechtige. Betont wird, dass die Moorsoldaten »nicht nach Stand
157 Susanne Urban, Zeugnis ablegen. Narrative zwischen Bericht, Dokumentation und künstlerischer Gestaltung. In: Daggi Knellessen/Ralf Posskel (Hg.), Zeugnisformen. Berichte, künstlerische Werke und Erzählungen von NS-Verfolgten, Berlin 2015, S. 22–44, hier 36. 158 Vgl. ebd., S. 36–38. 159 Vgl. zur Verbreitungs- und Rezeptionsgeschichte des Liedes Juliane Brauer, Das »Moorsoldatenlied«: Dokument unmenschlichen Leidens und Zeugnis menschlichen Lebenswillens. In: Anja Kruke/Meik Woyke (Hg.), Deutsche Sozialdemokratie in Bewegung. 1948–1863–2013, Bonn 2013, S. 194–199, hier 196–198. 160 O. V., Vergessene Soldaten? Internationales Treffen der Emsland-Moorsoldaten in Papenburg. In: Deutsche Volkszeitung vom 15.9.1956. 161 Vgl. Günter Morsch, Von der Erinnerung zum Monument – eine Einführung. In: ders. (Hg.), Von der Erinnerung zum Monument: die Entstehungsgeschichte der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Sachsenhausen, Berlin 1996, S. 12–25, hier 24 f.; Juliane Brauer, Musik im Konzentrationslager Sachsenhausen, Berlin 2009, S. 108.
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und Rasse, nach Parteibuch und Religion [fragten], wenn sie als verschworene Gemeinschaft dem übermächtigen Terrorregime Trotz boten«.162 Dieses den Handlungsaspekt konnotierende Selbstverständnis muss im Kontext einer zunehmenden gesellschaftlichen und politischen Marginalisierung des kommunistischen Widerstandskampfs im Zeichen des Kalten Krieges gelesen werden, denn es diente der Distinktion gegenüber den »passiven« Verfolgtengruppen und lässt ein Spannungsverhältnis zwischen den verschiedenen Gefangenengruppen der Emslandlager erkennen.163 In der unmittelbaren Nachkriegszeit hatten sich Häftlingsausschüsse gegründet, die für die Beantragung erster Fürsorgemaßnahmen und Entschädigungen bei kommunalen Entschädigungsbehörden Inhaftierungsbescheinigungen ausstellten.164 In den ersten Nachkriegsjahren arbeiteten dabei vor allem politische NS-Verfolgte in den Ausschüssen. Sie hierarchisierten die Verfolgten und versuchten, den überlegenen Status des Widerstandskampfes gegenüber anderen Verfolgtengruppen zu institutionalisieren. In der frühen Entschädigungspraxis trafen daher konfligierende Selbstbilder auf prekäre Lebensverhältnisse und es entstand eine »doppelte Konkurrenz der Opfer«, die zur Partikularisierung der ehemaligen Verfolgtengruppen beitrug und von der ebenso das Verhältnis der ehemaligen Gefangenen der Emslandlager zueinander gekennzeichnet war.165 Wie bereits geschildert, hatte sich im Frühjahr 1945 die »Vereinigung KZ-Häftlinge Emsland« gegründet, die ihren Hauptsitz in Düsseldorf hatte.166 Die Vereinigung wurde Anfang des Jahres 1946 durch eine Verfügung des
162 O. V., Manifest der Moorsoldaten. In: Der Moorsoldat vom 15.11.1956. 163 Vgl. Kössler, Abschied von der Revolution, S. 164. 164 Besonders wirkmächtig war der Berliner Hauptausschuss »Opfer des Faschismus«, der im Mai 1945 unter maßgeblicher Mitwirkung des Kommunisten Ottomar Geschke entstand, der selbst KZ-Überlebender war. Während andere Vertretungen ehemaliger Häftlinge bald durch Verordnung der sowjetischen Militärregierung aufgelöst wurden, gelang es Geschke, den Ausschuss als Abteilung des Hauptamtes für Arbeit und Soziales in Berlin zu etablieren. Über diese Wohlfahrtsstelle hinaus entstand eine politische Interessenvertretung der in Berlin lebenden ehemaligen NS-Verfolgten, die auch unter Hauptausschuss »Opfer des Faschismus« firmierte. Beiden Stellen stand Geschke als Stadtrat für Soziales vor. Während der dreimonatigen sowjetischen Verwaltung dominierte im Hauptausschuss die Meinung, dass nur politisch Verfolgte Ansprüche auf Entschädigung hätten. Andere Verfolgtengruppen, darunter auch jüdische Überlebende, sollten ausgeschlossen werden. Erst infolge der Aufteilung Berlins in vier Sektoren wurden im September 1945 auch jüdische Überlebende als NS-Verfolgte vom Ausschuss anerkannt. Vgl. Susanne zur Nieden, Unwürdige Opfer. Die Aberkennung von NS-Verfolgten in Berlin 1945 bis 1949, Berlin 2003, S. 28–49. 165 Goschler, Schuld und Schulden, S. 77. 166 Die zentrale Stelle der Vereinigung saß in Düsseldorf, weitere Zweigstellen existierten in Nordwestdeutschland. Vgl. Engelbert Friedrich Oxenfort an stellvertretenden Vorsitzenden der Vereinigung der ehemaligen KZ-Häftlinge Rudolf Hohnen vom 16.1.1946 (ITS Digital Archive, Bad Arolsen, 1.1.34.1/3760466, unpag.).
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Oberbürgermeisters Düsseldorf aufgelöst, da sie laut Stadtverwaltung »kriminelle Elemente« unterstütze und »das Ansehen der politisch, rassisch und religiös Verfolgten« schädige.167 Auf diese Zwangsauflösung folgten Verbote in weiteren Kommunen, so auch in den emsländischen Landkreisen. Die Hintergründe der Entstehung und Auflösung der ersten Vereinigung sind insofern bedeutsam, als sie zunächst übergeordnet sowohl die Rechte der »politischen« als auch anderer Gefangenengruppen vertreten hatte.168 Verschiedene Zweigstellen der Vereinigung stellten Ausweise aus, die die Haft bezeugten: Politische Gefangene erhielten einen grünen Ausweis, während andere Gefangenengruppen einen weißen Ausweis erstellt bekamen.169 Mit dieser farblichen Trennung wurde zwar der überlegene Status der politischen Gefangenen deutlich, die anderen Gefangenen sollten hiermit aber nicht grundsätzlich von Fürsorgemaßnahmen ausgeschlossen werden. Doch innerhalb der wirtschaftlich angespannten Nachkriegssituation verschlechterte sich das Verhältnis unter den ehemaligen Gefangenen der Emslandlager zusehends. Die Zwangsauflösung der Vereinigung im Januar 1946 kommentierte schließlich ihr Vorsitzender Engelbert Friedrich Oxenfort mit den Worten: »Es sind von Mitgliedern der Vereinigung in so häufiger Form Unlauterkeiten vorgekommen, dass ich sowieso nicht länger gewillt war, durch meine Person diesem [sic!] Vorschub zu leisten«.170 Diese Haltung korrespondiert mit den Reaktionen anderer Häftlingsausschüsse gegenüber ehemaligen Emslandlagergefangenen, die nicht eindeutig ihren Status im Sinne von »politisch, rassisch und religiös« nachweisen konnten. So verwehrte im Sommer 1945 die Vorläuferorganisation der VVN, der »Ausschuss ehemaliger Konzentrations-Häftlinge« mit Sitz in Hannover, dem ehemaligen Militärstrafgefangenen Hans Holzkamp die Registrierung und Betreuung als Verfolgter des Nationalsozialismus. Zwar hatte Holzkamp nachweisen können, dass er im Militärstrafgefangenenlager Börgermoor inhaftiert gewesen war, auch gab er an, aus politischen Gründen verfolgt worden zu sein, doch diese Angaben reichten nicht aus. Der Ausschuss verlangte ein Originaldokument der damaligen Lagerverwaltung, das den Haftgrund angab – nur dieser durch eine politisierte Verwaltung bestimmte Tatbestand galt als Kriterium der Anerkennung.171 Demnach war
167 Ebd. 168 Vgl. Beigeordneter der Stadtverwaltung Düsseldorf Dr. Kaschade an Vereinigung ehemaliger KZ-Häftlinge Emsland, o. D. (1946) (NLA OS, Rep 947 Lin I, Nr. 599, Bl. 30). 169 Vgl. Vorsteher der Vereinigung ehemaliger KZ-Häftlinge Emsland an Verwaltungsstelle der Strafgefangenenlager Emsland, Betr.: Gefangenenlager 2 und 7 vom 15.1.1946 (ebd., Bl. 32). 170 Beigeordneter der Stadtverwaltung Düsseldorf an Bürgermeister in Lendringsen/Iserlohn und Papenburg/Emsland vom 28.1.1946 (ITS Digital Archive, Bad Arolsen, 1.1.34.1/3760466, unpag.). 171 Vgl. Ausschuss ehemaliger Konzentrations-Häftlinge an Bürgermeister Gemeinde Lendringsen vom 21.8.1945 (ITS Digital Archive, Bad Arolsen, 1.1.34.1/3760460, unpag.). Ebenso verwehrte
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nicht der inhumane Strafvollzug entscheidend, sondern das in der Inhaftierungsbescheinigung formulierte und die Haft begründende Delikt.172 Das Bundesentschädigungsgesetz von 1956 zementierte den Ausschluss von Personengruppen, die nicht unter die drei anerkannten Verfolgungsgründe fielen. Schmid sieht daher in den Bestimmungen einen Ausdruck von »ideologisch-mentalen Kontinuitäten und fortbestehenden sozialen Strukturen«.173 Die fortwährende gesellschaftliche Stigmatisierung hatte zur Folge, dass Homosexuelle, »Berufsverbrecher«, »Asoziale« und wehrmachtgerichtlich Verurteilte weder eine stabile Interessenvertretung bildeten noch finanziell entschädigt wurden.174 Selbst Strafgefangene der Emslandlager, deren Urteile unter politischen Implikationen gefällt worden waren, erlangten in den 1950er-Jahren selten den Verfolgtenstatus.175 Alle anderen Strafgefangenen erhielten nur dann Renten oder einmalige
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der Berliner Hauptausschuss »Opfer des Faschismus« im Jahr 1947 dem ehemaligen stellvertretenden Vorsitzenden der Emsland-Häftlingsvereinigung die Anerkennung als Opfer des Nationalsozialismus, da er als Militärstrafgefangener inhaftiert gewesen war. Vgl. Magistrat der Stadt Berlin, Hauptamt für Sozialwesen, Hauptausschuss »Opfer des Faschismus« an Bürgermeister Gemeinde Lendringsen vom 3.10.1947 (ITS Digital Archive, Bad Arolsen, 1.1.34.1/3760459, unpag.). Vgl. zur Nieden, Unwürdige Opfer, S. 18 f., 59 f.; Henning Borggräfe/Hanne Leßau, Die Wahrnehmung der NS-Verbrechen und der Umgang mit den NS-Verfolgten im International Tracing Service. In: dies./Schmid (Hg.), Die Wahrnehmung der NS-Verbrechen, S. 23–44, hier 31. Die »normativen Setzungen« prägten auch entscheidend die Widerstandsliteratur der Nachkriegszeit. Vgl. Miriam Schumacher, Erzählen vom Widerstand als Erzählen von Gemeinschaft: Literarische Repräsentationen des Widerstands gegen den Nationalsozialismus in (West-)Deutschland (1945–1989), Göttingen 2016, S. 39. Schmid, Zwischen Achtung und Ächtung, S. 17. Unter NS-Verfolgte fielen laut BEG nur Menschen, die »aus politischer Gegnerschaft gegen den Nationalsozialismus oder aus Gründen der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung durch nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen verfolgt worden sind und hierdurch Schaden an Leben, Körper, Gesundheit, Freiheit, Eigentum, Vermögen und beruflichem und wirtschaftlichen Fortkommen erlitten«. § 1 Abs. 1 Drittes Gesetz zur Änderung des Bundesentschädigungsgesetzes zur Entschädigung von Opfern der nationalsozialistischen Verfolgung vom 29.6.1956 (Bundesentschädigungsgesetz – BEG), Bundesgesetzblatt (BGBl), Teil I (Nr. 31/1956), S. 563. Eine Ausnahme bildete die Verfolgtenvereinigung »Die Vergessenen«, die sich aus ehemaligen Häftlingen zusammensetzte, die den schwarzen und grünen Winkel in den NS-Lagern trugen. Vgl. Goschler, Wiedergutmachung, S. 89. Im Falle der Strafgefangenen erfolgte eine Aufhebung des von der NS-Justiz gefällten Urteils nur bei Vorlegen eines entsprechenden Nachweises über das nationalsozialistische Unrecht. »Ist die Freiheit im Zusammenhang mit einer strafgerichtlichen Verurteilung entzogen worden, so kann die Entschädigung in Zweifelsfällen davon abhängig gemacht werden, dass die Verurteilung im Wiederaufnahmeverfahren oder nach Rechtsvorschriften zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Strafrechtspflege aufgehoben oder geändert worden ist. (2) Die Aufhebung oder die Änderung einer strafgerichtlichen Verurteilung ist durch die gerichtliche Entscheidung nachzuweisen, durch welche die Verurteilung aufgehoben oder geändert worden ist. Im Falle der Aufhebung oder der Änderung kraft Gesetzes ist eine Bescheinigung der nach den in Absatz 1 genannten Rechtsvorschriften zuständigen Gerichte oder Behörden vorzulegen«, § 44 Abs. 1 und Abs. 2 Drittes Gesetz zur Änderung des Bundesentschädigungsgesetzes
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Schadensersatzzahlungen, wenn sie während ihrer Haftzeit einen Unfall erlitten hatten.176 Aber selbst für die kommunistischen Gefangenen der Emslandlager, die als NS-Verfolgte anerkannt waren, spitzte sich die Situation mit dem Verbot der KPD und einem damit drohenden Ausschluss aus der Entschädigungspraxis zu. Vor diesem Hintergrund ist das zentrale Banner des ersten internationalen Moorsoldatentreffens zu lesen, das am 8. und 9. September 1956 stattfand. Am Festzelt auf dem Marktplatz in Papenburg war die Losung angebracht: »Die Überlebenden wollen leben!«177 In der für die kommunistischen ehemaligen Gefangenen und Widerstandskämpfer zunehmend angespannten politischen Situation nahm die klare Distanzierung von den »Kriminellen« erneut eine wichtige Funktion ein, um den überlegenen Status des Widerstandskampfes zu verteidigen.178 Wiggershaus schrieb in der Novemberausgabe des Mitteilungsblattes der Lagergemeinschaft, dass die »Kriminellen« nach Kriegsende »mit ihrem KZ-Ausweis hausieren gingen, sich als ›Moorsoldaten‹ aufspielten und auf ihre Weise die Konjunktur eines politischen Umschwungs wahrnahmen«.179 Ebenfalls wurden die »Kriminellen« für den schlechten Ruf der Moorsoldaten in der Region verantwortlich gemacht.180 Dennoch wurde dieser Gefangenengruppe von den Mitgliedern der »Emsland-Lagergemeinschaft« nicht grundsätzlich der Opferstatus abgesprochen, und Kruse schrieb in derselben Ausgabe: »So wollen wir dennoch nicht übersehen, dass die Ermordeten auch dieser Kategorie Opfer des nationalsozialistischen Unrechtsstaates sind. In einem Rechtsstaat kann der Kriminelle seine Freiheit verwirken – sein Anspruch auf menschenwürdige Behandlung
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zur Entschädigung von Opfern der nationalsozialistischen Verfolgung vom 29.6.1956 (Bundesentschädigungsgesetz – BEG), Bundesgesetzblatt (BGBl), Teil I (Nr. 31/1956), S. 570. Bis zur Verabschiedung des »Allgemeinen Kriegsfolgegesetzes« im Jahr 1958 zahlte der Generalstaatsanwalt in Oldenburg »in seiner Eigenschaft als Ausführungsbehörde der Unfallfürsorge für Gefangene« Renten und Zuschläge an ehemalige Strafgefangene der unter dem Reichsjustizministerium stehenden Emslandlager. Dies entsprach der Verordnung über die Inkraftsetzung des Gesetzes, betreffend die Unfallfürsorge für Gefangene vom 30.6.1900 und der Allgemeinen Verfügung des früheren Reichsministers der Justiz vom 3.1.1936 – III a 1 1461. Mit der Verabschiedung des »Allgemeinen Kriegsfolgegesetzes« übernahm nun der Bund diese Zahlungen. Vgl. Oberfinanzdirektion Hannover an Bundesminister der Finanzen in Bonn zum Allg. Kriegsfolgengesetz vom 5. November 1957, Renten für ehem. Strafgefangene, die in Strafgefangenenlagern im Emsland einen Unfall erlitten haben, vom 24.10.1958 (BArch Koblenz, B 126/19261, unpag.). O. V., Die Überlebenden wollen leben! In: Der Moorsoldat vom 15.12.1956. In diesem Zusammenhang sind auch die Einladungen zur Teilnahme am Moorsoldatentreffen zu verstehen, die die Lagergemeinschaft an regionale Wiedergutmachungsbehörden versandte, wie die Behörde in Aurich. Die Anwesenheit von Vertreterinnen und Vertretern der Wiedergutmachungsbehörde sollte ein politisches Zeichen zur Anerkennung der Lagergemeinschaft bzw. ihrer Mitglieder als NS-Opfer setzen. Vgl. Emsland-Lagergemeinschaft Moorsoldaten an Wiedergutmachungsbehörde in Aurich, Bitte um Teilnahme, vom 3.8.1956 (NLA AU, Rep 107, Nr. 324, unpag.). »Da staunten die Papenburger«. In: Der Moorsoldat vom 15.11.1956. Vgl. ebd.
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Abb. 3: Festzelt auf dem Marktplatz in Papenburg, Moorsoldatentreffen am 8./9.9.1956; VVN BdA NRW, 6040.
bleibt bestehen, und niemand hat das Recht, ihn zu misshandeln oder gar zu ermorden.«181 Mit dieser Aussage ist das Verhältnis der kommunistischen Lagergemeinschaft zu anderen Gefangenengruppen zusammenzufassen: Der Nationalsozialismus wurde als Unrechtsstaat gesehen, dem ebenso Straftäter zum Opfer gefallen waren – im Sinne des passiven Opfers, denn sie hatten keinen Widerstand geleistet. Allein die aktiv gegen den Nationalsozialismus Kämpfenden sollten den Status der »Moorsoldaten« und damit das Recht auf Entschädigung erhalten. Die Bezeichnung des Moorsoldaten wurde demnach exklusiv gebraucht, sie rief Bilder von Solidarität, Widerstandswillen und antifaschistischem Kampf wach und kompensierte gleichsam individuelle traumatische Lagererfahrungen von Unterdrückung, Hunger und Gewalt.182 Gerade angesichts der antikommunistischen Gesetzgebung, die den heroisierenden Selbstentwurf der kommunistischen NS-Verfolgten akut bedrohte, gewann der Moorsoldat daher an sinnstiftendem Potenzial.183 Diese Selbstdeutung und -behauptung wurde durch das ritualisierte Singen des Moorsoldatenliedes während der Gedenkveranstaltungen immer wieder aktualisiert und gleichsam tradiert.184 181 Ebd. 182 Vgl. Elke Suhr, Weg zu Ossietzky. In: Jürgen Lüthje (Hg.), Universität Oldenburg. Entwicklung und Profil, Oldenburg 1984, S. 81–92, hier 92. Zu dem hier zu beobachtenden Übergang vom Erinnerungsmilieu zur Gedächtnisgemeinschaft vgl. Moller, Vielfache Vergangenheit, S. 29–31. 183 Morsch, Von der Erinnerung zum Monument, S. 25. 184 Vgl. Münkler/Fischer, »Nothing to kill or die for ...«, S. 355.
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Die erste Gedenkstätteninitiative (1957)
Jan Assmann zufolge ist »jede Gruppe, die sich als solche konsolidieren will«, bestrebt, »sich Orte zu schaffen und zu sichern, die nicht nur Schauplätze ihrer Interaktionsformen abgeben, sondern Symbole ihrer Identität und Anhaltspunkte ihrer Erinnerung sind«.185 Das vorliegende Unterkapitel richtet den Fokus auf den Friedhof Bockhorst-Esterwegen, auf dem seit den 1950er-Jahren die großen Gedenkveranstaltungen der Überlebenden stattfanden.186 Am Beispiel dieses Friedhofs ist die Tendenz zur Verräumlichung von Gruppengedächtnissen zu zeigen, die sich über den Friedhof als zentralem Schauplatz der Gedenkveranstaltungen hinaus ebenso in der Forderung der Lagergemeinschaft zeigt, auf dem ehemaligen Lagergelände Esterwegen eine zentrale Gedenkstätte einzurichten. Der Friedhof Bockhorst-Esterwegen geht auf die Zeit der staatlichen Konzentrationslager Börgermoor, Esterwegen und Neusustrum zurück, die seit Sommer 1933 zur Inhaftierung von vorwiegend politischen Gegnern des Nationalsozialismus im Emsland errichtet worden waren; hier wurden die ersten verstorbenen »Schutzhaftgefangenen« bestattet. Mit der Umstrukturierung des Lagersystems seit dem Jahr 1934 wurde Bockhorst-Esterwegen schließlich zum zentralen Friedhof aller nördlichen Strafgefangenenlager.187 Bereits im Jahr 1949 erschien eine Meldung in der VVN-Zeitung »die tat«, in der über den verwilderten Zustand des Friedhofs berichtet wurde und Fotografien abdruckt waren, die abgesunkene Birkenkreuze auf kaum noch zu erkennenden Grabreihen zeigten.188 Ein Jahr darauf besuchten Mitglieder der VVN aus Anlass des fünften Jahrestages der Befreiung den Friedhof. Über ihren Besuch erschien am 19. April 1950 ein Artikel sowohl in »die tat« als auch in der KPD-Zeitung »Die Wahrheit«. Autor dieser Artikel war Stertzenbach,189 der sich im Anschluss an die Gedenkveranstaltung auf dem Friedhof an die VVN-Landesleitung gewandt hatte und von ihr forderte, dass sie sich für die Erhaltung aller Friedhöfe von NS-Verfolgten in Niedersachsen »als Mahnmale gegen den Faschismus und für den Frieden« einsetzen sollte. Wie in Unterkapitel IV.1.2 erwähnt, suchte Stertzenbach parallel den Kontakt zum zuständigen Mitarbeiter des niedersächsischen Innenministeriums und mahnte ihn zur regelmäßigen Pflege und Instandsetzung der Fried185 186 187 188 189
Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 39. Vgl. o. V., Rückblick auf den 8. Mai. In: DIZ-Nachrichten 8, o. D. (1988), S. 18. Vgl. Knoch, Endlose Heide, S. 104. Vgl. o. V., Ein Mahnmal wie es nicht sein soll. In: die tat vom 13.8.1949, S. 11. Werner Stertzenbach (1909–2003) war seit 1929 Mitglied der KPD, emigrierte nach der nationalsozialistischen Machtübernahme in die Niederlande, wo er im Jahr 1940 verhaftet wurde und dann im Internierungslager Westerbork bis zu seiner Flucht im Jahr 1943 festgehalten wurde. Zwischen 1960 und 1972 war er Chefredakteur von »die tat«, der Wochenzeitung der VVN. Außerdem war er Landessekretär der VVN Nordrhein-Westfalen. Vgl. Carsten Gansel (Hg.) unter Mitarbeit von Tanja Walenski, Erinnerung als Aufgabe? Dokumentation des II. und III. Schriftstellerkongresses in der DDR 1950 und 1952, Göttingen 2008, S. 623.
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höfe von NS-Verfolgten in Niedersachsen.190 Da das Innenministerium die Toten aber nicht als NS-Verfolgte anerkannte und entschieden hatte, die Gräber im Jahr 1965 aufzulösen, riefen kommunistische Akteure zum Protest auf. Am 1. Dezember 1954 richtete Herta Dürrbeck eine »Kleine Anfrage« an die niedersächsische Landesregierung: »In Esterwegen befindet sich ein Friedhof, auf dem 1 300 von den Faschisten ermordete ehemalige Insassen des Konzentrationslagers Esterwegen begraben sind. Ich frage die Landesregierung: Ist der Landesregierung bekannt, dass dieser Friedhof sich in einem vollkommen verwahrlosten Zustand befindet? Was gedenkt die Landesregierung zu tun, um diese Gedenkstätte der Opfer des Faschismus würdig zu gestalten? Ist die Landesregierung bereit, Mittel zur dauernden Pflege dieser Gedenkstätte bereitzustellen?«191 Die kommunistische Widerstandskämpferin war nach der Neugründung des Landes Niedersachsen als KPD- und seit 1952 als fraktionslose Landtagsabgeordnete im Parlament. Dürrbeck hatte Anfang der 1930er-Jahre als Schreibkraft bei der »Roten Hilfe« gearbeitet und saß zwischen 1935 und 1936 wegen Vorbereitung zum Hochverrat im Gerichtsgefängnis Hannover. Nach ihrer Freilassung stand sie bis 1945 unter ständiger polizeilicher Beobachtung. Im November 1954 wurde gegen sie ein Verfahren wegen Unterstützung der Freien Deutschen Jugend (FDJ) eingeleitet.192 Geprägt durch die eigene Verfolgungserfahrung, die ihre politische Überzeugung gefestigt hatte, erschien in Dürrbecks Anfrage der Friedhof gleichbedeutend mit dem Konzentrationslager Esterwegen. Sie verknüpfte diese beiden Orte zum Symbol Esterwegen, das für viele der Schutzhäftlinge den Beginn einer Odyssee durch das NS-Lagersystem bedeutet hatte. Am 14. Februar 1955 antwortete der niedersächsische Ministerpräsident, Hinrich Wilhelm Kopf (SPD), auf die Anfrage Dürrbecks: »Herr Präsident! Meine Damen und Herren! [...] Mittel zur dauernden Pflege dieser Grabstätte stehen bereit. Die Landesregierung wird alles tun, um die Grabstätten der Opfer des Faschismus würdig zu erhalten. Nach der letzten Meldung vom 3. Januar dieses Jahres, die ich von nachgeordneten Dienststellen bekommen habe, sind diese Grabstätten in Ordnung. Allerdings finden zur Zeit Umbettungen statt. Nach Beendigung dieser Umbettungen wird auch das, was dort jetzt vielleicht noch zu sehen ist, beseitigt werden; jedenfalls werde ich mich persönlich davon überzeugen, dass diese Grabstätten anständig gepflegt werden.«193 190 Vgl. Redaktion »Die Wahrheit« (Stertzenbach) an Landesvorstand der VVN/Hannover vom 26.4.1950 (VVN-Archiv Niedersachsen, N0033/AugBau0061, unpag.). 191 Dürrbeck, Kleine Anfrage (für Fragestunde), Friedhof in Esterwegen vom 1.12.1954 (NMfIS, 199 141/14 Band I, Bl. 31). 192 Dürrbeck wurde wegen Unterstützung der verbotenen KPD im Jahr 1964 zu einer zehnmonatigen Freiheitsstrafe verurteilt, die sie zum Teil im Gefängniskrankenhaus Lingen im Emsland verbrachte. Vgl. Peter Dürrbeck, Herta und Karl Dürrbeck – Aus dem Leben einer hannoverschen Arbeiterfamilie, Hannover 2010, S. 31–71. 193 Stellungnahme zur Kleinen Anfrage von Frau Dürrbeck, Vermerk vom 14.2.1955 (NMfIS, 199 141/14 Band I, Bl. 36).
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Abwehr und Selbstbehauptung
Als Kopf diese Antwort verlas, war die Umbettung der angeblich lokalisierten »KZ-Gräber« bereits vom Innenministerium beschlossen. Bei näherer Betrachtung der Quelle fällt daher auf, dass Kopf nur Bezug auf die Gräber der »Opfer des Faschismus« nimmt; nur für sie verspricht er eine würdige Ausgestaltung und dauerhafte Erhaltung. Das Versprechen galt hingegen nicht für die Mehrzahl der verbliebenen Gräber auf dem Friedhof Bockhorst-Esterwegen.194 Die erste größere VVN-Gedenkveranstaltung auf dem Friedhof BockhorstEsterwegen im Jahr 1955, an der 250 Menschen teilnahmen, stand unter dem Zeichen der Entscheidung des Innenministeriums.195 Sie bildete außerdem den Auftakt zur Gründung einer eigenen »Emsland-Lagergemeinschaft Moorsoldaten«.196 Die nun seit dem Jahr 1956, der offiziellen Gründung der Lagergemeinschaft, in relativ regelmäßigen Abständen stattfindenden Moorsoldatentreffen umfassten Kundgebungen und Gottesdienste in einer der größeren Ortschaften des Emslandes, wie Papenburg oder Lingen, sowie Fahrten zu den ehemaligen Lagerstandorten und -friedhöfen. Die abschließende große Gedenkveranstaltung fand seit den 1950er-Jahren immer auf dem Friedhof Bockhorst-Esterwegen statt.197 Welchen Sinn die Lagergemeinschaft dem Friedhof in den 1950er-Jahren verlieh, gibt sie in der zweiten Ausgabe des Mitteilungsblattes an: Der Umgang mit dem Friedhof spiegele »das systematisch geförderte Vergessen der Leiden und Verdienste der ehemaligen Widerstandskämpfer« und »das Wiederaufkommen der antidemokratischen Kräfte von damals« wider.198 Mit dieser Haltung kämpfte die Lagergemeinschaft für die Erhaltung des Friedhofs Bockhorst-Esterwegen sowie der anderen acht Friedhöfe im Emsland und richtete dazu am 15. Januar 1957 eine Petition an die Bundesregierung und den Bundestag mit einem Fünf-Punkte-Katalog: Sie forderte erstens die Aufsicht über die Pflege und Erhaltung der »KZ-Friedhöfe des Emslandes«, zweitens die Übertragung des ehemaligen Lagers VII Esterwegen, um hier eine »Gedenkstätte« für die Treffen der Moorsoldaten einrichten zu können, drittens eine jährliche Unterstützung für die Geschäftsführung der Lagergemeinschaft, viertens die Errichtung eines zentralen Mahnmals für die »ehemaligen politisch, religiös und
194 Vgl. ebd. 195 Vgl. Landesamt für Verfassungsschutz zur Emsland-Lagergemeinschaft Moorsoldaten vom 24.2.1957 (NMfIS, 199 141/14 Band I, Bl. 53). 196 Bis in die 1970er-Jahre fanden solche von ehemaligen Gefangenen der Emslandlager organisierten Fahrten zu den Friedhöfen statt, deren Höhepunkt eine große Gedenkveranstaltung auf dem Friedhof Bockhorst-Esterwegen war. In der Tradition der Moorsoldatentreffen wurden die Gedenkveranstaltungen von der in den 1970er-Jahren entstehenden Gedenkstätteninitiative weitergeführt. 197 Vgl. zur kulturellen Herstellung und gemeinschaftsstiftenden Funktion eines »Ritualortes«: Burckhard Dücker, Rituale. Formen – Funktionen – Geschichte, Stuttgart 2007, S. 44 f. 198 »Ein Wort zur Gründung unserer Lagergemeinschaft«. In: Der Moorsoldat vom 15.11.1956.
Die »Emsland-Lagergemeinschaft«
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rassisch Inhaftierten der KZ-Lager des Emslandes« aus Bundesmitteln auf dem Friedhof Bockhorst-Esterwegen sowie fünftens, dass »die Bundesregierung die Kosten, die zur Pflege der Grabstätten und des Lagers Esterwegen aufgewandt werden müssen, übernimmt«.199 Die Petition dokumentiert die erste Initiative zur Errichtung einer Gedenkstätte Esterwegen am historischen Ort. Die Mitte der 1950er-Jahre noch sichtbaren Relikte des Lagers Esterwegen – Wachtürme, Stacheldraht und Baracken – sollten laut Forderung erhalten und in ihrer Gesamtheit ein abschreckendes Mahnmal bilden.200 Liegt heute ein Aufgabenschwerpunkt von Gedenkstätten auf der Vermittlung von Wissen über die Vergangenheit am historischen Ort, so fassten die ehemaligen Verfolgten in der Nachkriegszeit den Gedenkstättenbegriff im Sinne eines Mahnmals enger.201 Sie wollten hier die Schrecken des Lageralltags in Form der baulichen Überreste konservieren und zugleich einen festen Ort für Gedenkveranstaltungen und Zusammenkünfte schaffen. Da diese Forderungen von der Bundesregierung mit dem Hinweis auf die kommunistische Dominanz innerhalb der Lagergemeinschaft abgelehnt wurden, nahm die Bedeutung des Friedhofs Bockhorst-Esterwegen für die Lagergemeinschaft zu.202 Der Symbolcharakter des Friedhofs Bockhorst-Esterwegen erschließt sich demnach sowohl aus der Lagergeschichte als auch aus dem konfliktreichen Umgang mit diesem Ort nach 1945. Der Friedhof Bockhorst-Esterwegen stand in der Erinnerungskultur der Moorsoldaten für die ersten Konzentrationslager im Emsland, die gleichsam sinngebend waren, denn hier hatte der teils jahrelange Überlebens- und Widerstandskampf seinen Lauf genommen. Ob hier nun nach 1945 überwiegend politische Widerstandskämpfer oder aber »kriminelle« Strafgefangene ruhten, war für die Gedächtnisgemeinschaft nachrangig, vielmehr gewann die Vernachlässigung des Friedhofs zunehmend an Bedeutung, da sie stellvertretend für den staatlichen Umgang mit den kommunistischen ehemaligen NS-Verfolgten stand: Im Zeichen des bundesrepublikanischen Antikommunismus waren die Kommunisten nicht nur politisch an den Rand gedrängt worden, ebenso war die »moralische Autorität des kommunistischen Widerstands unterminiert« worden.203 Der wohl deutlichste Ausdruck des Statusverlustes war dabei
199 Emsland-Lagergemeinschaft Moorsoldaten an die Bundesregierung vom 11.1.1957 (NMfIS, 199 141/14 Band I, Bl. 54). 200 Vgl. Lurz, Kriegerdenkmäler in Deutschland, Band 6, 1987, S. 192. 201 Vgl. Bert Pampel, »Mit eigenen Orten sehen, wozu der Mensch fähig ist«. Zur Wirkung von Gedenkstätten auf ihre Besucher, Frankfurt a. M. 2007, S. 26–28. 202 Vgl. Niedersächsischer Minister des Innern an Bundesinnenminister, Betr.: Petition der Emsland-Lagergemeinschaft Moorsoldaten in Leer/Ostfriesland vom 11. Januar 1957 über die Erhaltung und Pflege von Grabstätten der Opfer des Nationalsozialismus im Emsland, Stellungnahme vom 13.5.1957 (NLA OS, Rep 430 Dez 207, 48/90 Nr. 93). 203 Ludi, Antifaschistische Kämpfer und Opfer des Faschismus.
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Abwehr und Selbstbehauptung
der Entzug der Entschädigungsberechtigung infolge des KPD-Verbotes. Verknüpft man diese Situation in den 1950er-Jahren mit dem eingangs erwähnten Zitat Assmanns, dann ist zu konstatieren, dass der Friedhof Bockhorst-Esterwegen nicht nur Schauplatz von Interaktionen war, sondern Symbol für das Konzentrationslager Esterwegen, das an die von den Kommunisten erlebte Niederlage gegen den Nationalsozialismus und ihre demütigende Illegalisierung nach der nationalsozialistischen Machtübernahme erinnerte, aber auch an die Erfahrung einer solidarischen Gefangenengemeinschaft und deren Selbstbehauptung. 2.3
»Auch heute noch Stacheldraht« versus »Eine kommunistische Tarnorganisation«
»Aus Westdeutschland: auch heute noch Stacheldraht, wo vor 20 Jahren die ersten Konzentrationslager geschaffen wurden. Wenige Wochen nach dem Verbot der KPD versammelten sich hier ehemalige Häftlinge. Worte des Gedenkens sprach Nationalpreisträger Wolfgang Langhoff. Die Zusammenkunft wurde zum Protest gegen den aufkommenden Faschismus in Westdeutschland.«204
Mit diesen Worten wurde ein halbminütiger Beitrag in der DDR-Wochenschau »Der Augenzeuge« über das »Erste internationale Moorsoldatentreffen« eingeleitet. In der für das DDR-Kino produzierten Sendung wurde das Treffen im September 1956, bei dem sich die Lagergemeinschaft konstituiert hatte, als Protestveranstaltung bezeichnet und in einen direkten Zusammenhang mit dem KPD-Verbot gebracht. Die regional ansässigen Organisatoren Kruse und Wiggershaus bemühten sich hingegen im Voraus, auch ein bürgerlich-christliches Publikum anzusprechen und die ideologische Ausrichtung des Treffens im Hintergrund zu halten.205 Dennoch lenkten sie bald die Aufmerksamkeit des Verfassungsschutzes auf sich, der die Lagergemeinschaft als »kommunistische Tarnorganisation mit internationalen Beziehungen« einstufte.206 Welche Funktion hatte die Einschätzung des Verfassungsschutzes genau und wie wurden die Moorsoldatentreffen in der DDR politisch genutzt und der Öffentlichkeit vermittelt? Wiggershaus und Kruse hatten im Sommer 1956 in kommunistischen, gewerkschaftlichen und bürgerlichen Kreisen Einladungen zum Moorsoldatentreffen versandt.207 Damit war das Treffen bekannt geworden und hatte in der Regi204 Wolfgang Langhoff, Esterwegen im Emsland-Moor: Treffen der Moorsoldaten, DEFA, Der Augenzeuge, 38/1956, 01:19-01:49 ((http://www.progress-film.de/der-augenzeuge-1956-38.html; 15.5.2020). 205 Vgl. Persönlicher Referent des Bundespräsidenten Horst Oberüber an die Emsland-Lagergemeinschaft Moorsoldaten vom 1.8.1956 (BArch Koblenz, B112/2076, unpag.). 206 Landesamt für Verfassungsschutz über Emsland-Lagergemeinschaft Moorsoldaten vom 24.2.1957 (NMfIS, 199 141/14 Band I, Bl. 53). 207 Vgl. Ernst Wiggershaus, »An die Bevölkerung von Papenburg und Umgebung!«, September 1956. In: Der Moorsoldat vom 15.11.1956.
Die »Emsland-Lagergemeinschaft«
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on für Furore gesorgt. Am 16. August 1956 veröffentlichte der Landesbezirk des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) Niedersachsen in der »Ems-Zeitung« eine Warnung an die Lokalbevölkerung. Es handele sich um ein »kommunistisches Unternehmen« und die »Integrität« der Veranstalter sei aus diesem Grund »fragwürdig«. Außerdem nannte der DGB die Organisatoren Kruse und Wiggershaus namentlich und wies sie als Kommunisten aus.208 Hatte der Landkreis Aschendorf-Hümmling noch im Sommer seine ideelle Unterstützung des Treffens zugesagt, zog er diese nach dem Aufruf des DGB öffentlich zurück.209 Die Warnung des DGB mag die sowieso schon skeptische Haltung gegenüber den Treffen im katholischen Milieu verstärkt haben, denn die Mehrheit der Lokalbevölkerung blieb den Gedenkveranstaltungen fern. Dennoch nahmen an dem Treffen am 8. und 9. September 1956 rund 1 500 Personen teil, unter ihnen vor allem ehemalige Widerstandskämpfer und ihre Angehörigen.210 Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren aus beiden deutschen Teilstaaten angereist, darüber hinaus waren größere Delegationen aus Jugoslawien, Frankreich und den Niederlanden anwesend.211 Von einem dichten Programm gerahmt, umfasste das Treffen neben Kundgebungen in Papenburg, die in einem großen Festzelt stattfanden, auch Fahrten zu den neun Friedhöfen sowie eine große Gedenkveranstaltung auf dem Friedhof Bockhorst-Esterwegen.212 Im Festzelt sprachen dabei führende KPD- und SEDFunktionäre wie Karl Schabrod, Willy Perk und Langhoff.213 Sie erinnerten an das gemeinsam erlebte Leid in den Lagern, aber auch an die Solidarität unter den Gefangenen und ihren Widerstand gegen die Wachmannschaften.214 Während in der westdeutschen Presse bis auf wenige Ausnahmen die Resonanz auf das Treffen gering war, wurde ihm in der DDR-Berichterstattung weit größerer Raum eingeräumt. Hier wurde das Treffen vor dem Hintergrund des KPD-Verbotes zur Agitation gegen die Bundesrepublik genutzt. Aussagen wie die des eingangs zitierten Wochenschau-Beitrags vermittelten dem DDR-Publikum, dass in der Bundesrepublik wieder Kommunistinnen und Kommunisten hinter Stacheldraht festgehalten werden. Die Inhaftierung von Kommunistinnen 208 Vgl. o. V., DGB zum Treffen der Moorsoldaten. In: Ems-Zeitung vom 16.8.1956. 209 Vgl. o. V., Redaktionelle Erklärung. In: Ems-Zeitung vom 22.8.1956. 210 Die Gesellschaft hatte sich 1953 in Form eines vorbereitenden Arbeitskreises in Aurich gegründet. Vgl. Erich Lester, Aufruf zur Teilnahme am Arbeitskreis, der dem Verständnis und der Aussöhnung mit Israel und allen Juden auf der Welt dienen soll, vom 20.5.1953 (NLA Aurich, Rep 107, Nr. 324, unpag.). 211 Vgl. o. V., Vergessene Soldaten? Internationales Treffen der Emsland-Moorsoldaten in Papenburg. In: Deutsche Volkszeitung vom 15.9.1956, S. 6. 212 O. V., Internationales Treffen in Papenburg. In: Ems-Zeitung vom 11.9.1956. 213 Vgl. o. V., Vergessene Soldaten? Internationales Treffen der Emsland-Moorsoldaten in Papenburg. In: Deutsche Volkszeitung vom 15.9.1956, S. 6. 214 Vgl. o. V., Rede des Kameraden Wolfgang Langhoff auf dem Kameradschaftsabend. In: Der Moorsoldat vom 15.11.1956.
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Abwehr und Selbstbehauptung
und Kommunisten wurde dabei als Zeichen des wiederaufkommenden Faschismus gedeutet.215 Auf ähnliche Weise wurde im »Neuen Deutschland« über das Treffen berichtet.216 Darüber hinaus verfasste der in Nordrhein-Westfalen lebende jüdische Kommunist Stertzenbach, der zunächst im Durchgangslager Westerbork inhaftiert war und nach seiner Flucht aus dem Lager im Versteck überlebt hatte, einen Bericht über das internationale Moorsoldatentreffen des Jahres 1956 für die »DDR-Wochenpost«. In der Sammlung des Aktionskomitees für ein DIZ Emslandlager e. V. ist sein Anschreiben an den stellvertretenden Chefredakteur der »Wochenpost« Herbert Bergner überliefert. Darin schrieb Stertzenbach, dass er mit seinem Bericht die DDR-Öffentlichkeit über die »westdeutsche Realität« informieren wolle.217 Im beigelegten Artikelentwurf, der den Titel trug »Wir sind die Moorsoldaten ...«, beschrieb er die Widerstände, auf die die Organisatoren des Moorsoldatentreffens im Vorfeld gestoßen waren. So habe sich die Organisation des Treffens aufgrund der »Totschweigepolitik« sowie der »offiziellen Warnung durch das Bundesinnenministerium, die dieses Treffen als kommunistische Tarnorganisation hinstellte«, in die Länge gezogen. Diese Warnung habe dazu geführt, dass die lokalen Behörden den Organisatoren jegliche praktische Unterstützung versagt hätten und sich öffentlich allein »zur moralischen Unterstützung« bereit erklärten.218 Ein längerer Abschnitt in dem Bericht geht auf die Strafverfolgung von KPD-Mitgliedern in der Bundesrepublik ein: »Justizverwaltung Lingen, Straflager Börgermoor. Die alten Moorkameraden berichteten, wie es damals war. Und erschreckt, ja empört nahmen sie wahr, dass alles noch vorhanden ist. Die Baracken, der Stacheldraht, die Bewacher. Allerdings, keine SS-Leute mehr, sondern von der Justizbehörde. Ein wenig nervös kamen sie mit ihren großen Schlüsseln an den Eingang. ›Nein‹ sagten sie, ›das Betreten ist verboten. Hier sind jetzt Strafgefangene, keine politischen Häftlinge.‹ [...] Politische? Wir wissen es nicht. Aber wohl wissen wir, dass bereits wiederum Menschen verfolgt, verhaftet und ins Gefängnis geworfen werden, ihrer Gesinnung wegen. Ja, wir wissen auch, dass hier in Börgermoor politische Häftlinge ihre Strafe verbüßen mussten. Und uns ist bekannt, dass ein junger Friedenskämpfer
215 Vgl. Langhoff, Esterwegen im Emsland-Moor. 216 Vgl. o. V., Moorsoldaten-Treffen. In: Neues Deutschland vom 8.8.1956, S. 2; o. V., Das friedliebende Deutschland ehrte die Opfer des Faschismus/Manifest der Moorsoldaten. In: Neues Deutschland vom 11.9.1956, S. 2. Die Medienrezeption in der Bundesrepublik Ende der 1950er-Jahre war hingegen kaum nennenswert. Einzig die »Deutsche Volkszeitung«, die eine DDR-neutrale bis -affirmative Haltung vertrat, berichtete ausführlicher über das erste internationale Moorsoldatentreffen im Jahr 1956. Vgl. o. V., Vergessene Soldaten? Internationales Treffen der Emsland-Moorsoldaten in Papenburg. In: Deutsche Volkszeitung vom 15.9.1956. 217 Werner Stertzenbach an Herbert Bergner, stellvertretender Chefredakteur der »Wochenpost«, vom 12.9.1956 (Aktionskomitee DIZ Emslandlager e. V., Papenburg, Sammlung Moorsoldaten, unpag.). 218 Ebd.
Die »Emsland-Lagergemeinschaft«
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mehrere Monate in demselben Lager im Jahre 1955 verbrachte, in dem sein Vater in der Hitlerzeit in ›Schutzhaft‹ war. Wie ein Protest erscholl jetzt das Lied der Moorsoldaten am Stacheldraht von Börgermoor, dort wo es entstand. Wie ein Protest und ein Schwur, niemals wieder solche Verbrechen gegen die Menschlichkeit zuzulassen, wie sie an diesem Ort geschehen sind.«219
Der Topos Freiheit bekommt in Stertzenbachs Bericht angesichts der Strafverfolgung von KPD-Mitgliedern eine zentrale Bedeutung, denn er wird hier mit physischer Freiheit konnotiert. Aus dieser Sichtweise deutet Stertzenbach die bundesrepublikanischen Gefängnisse als Fortsetzung der Konzentrations- und Strafgefangenenlager im Nationalsozialismus. Insgesamt zeichnet Stertzenbach das Bild eines repressiven westdeutschen Staates. Seinen Text adressiert er dabei konsequent an ein DDR-Publikum – er will es über die Verhältnisse in der Bundesrepublik aufklären, möglicherweise auch aus der Enttäuschung heraus, dass die Bevölkerung rund um die ehemaligen Lagerstandorte kein Interesse an den Moorsoldatentreffen gezeigt hatte. In den Fokus des Verfassungsschutzes geriet die Lagergemeinschaft im Februar 1957, als sie bei der Bundesregierung und dem Bundestag in einer Petition die Errichtung einer Gedenkstätte auf dem ehemaligen Lagergelände Esterwegen forderte. In einer Stellungnahme des niedersächsischen Innenministers August Wegmann (CDU), die er an Bundesinnenminister Gerhard Schröder (CDU) richtete, wurde die Lagergemeinschaft als »unter kommunistischem Einfluss stehende Organisation« bezeichnet und die beiden Vorsitzenden des Lagerkomitees, Kruse und Wiggershaus, als »linksradikal eingestellt«. Kruse sei »nach 1945 einige Jahre KP-Vorsitzender in Leer« gewesen und Wiggershaus sei »ebenfalls aktiv für die KPD tätig«.220 Darüber hinaus schreibt Wegmann, dass Kruse und Wiggershaus sich zwar in den letzten Jahren aus der Parteiarbeit zurückgezogen hätten, aber in ihrer »politischen Einstellung Kommunisten« geblieben seien.221 Auch das Landesamt für Verfassungsschutz hatte zuvor angegeben, dass Kruse und Wiggershaus »sich auftragsgemäß vom Parteileben fernhielten, um für Sonderaufgaben frei zu werden«, denn dies sei »ein bei der KPD häufig geübtes Verfahren«.222 In dem Bericht des Verfassungsschutzes ist weiterhin über die Gedenkveranstaltungen in den Jahren 1955 und 1956 zu lesen:
219 Ebd. 220 Niedersächsischer Minister des Innern an den Bundesinnenminister, Betr.: Petition der Emsland-Lagergemeinschaft Moorsoldaten in Leer/Ostfriesland vom 11. Januar 1957 über die Erhaltung und Pflege von Grabstätten der Opfer des Nationalsozialismus im Emsland, Stellungnahme vom 13.5.1957 (NLA OS, Rep 430 Dez 207, 48/90 Nr. 93, unpag.). 221 Ebd. 222 Landesamt für Verfassungsschutz über Emsland-Lagergemeinschaft Moorsoldaten vom 24.2.1957 (NMfIS, 199 141/14 Band I, Bl. 53).
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Abwehr und Selbstbehauptung
»Das Auftreten der Teilnehmer allgemein, die Übernahme von Festfunktionen durch KP-Funktionäre, die fast alle nicht in KZ-Lägern eingesessen hatten; das Mitwirken des Landesfunktionärs einer anderen kommunistischen Tarnorganisation, Dr. Kauter; die geführten Festreden deutscher und ausländischer Teilnehmer; einige spezielle Zwischenfälle und das nachfolgende Presseecho in der SBZ, ließen einzig frei den Schluss zu, dass es sich bei beiden Treffen in erster Linie um den Versuch handelte, die Erlebnisse der frühen ›Moorsoldaten‹ zur Gründung einer kommunistischen Tarnorganisation internationalen Ausmaßes auszunutzen.«223
In den Aussagen des Innenministeriums und des Verfassungsschutzes werden zwei Argumentationslinien erkennbar. Zum einen werden hier die Aufgabenbereiche und Ziele der Lagergemeinschaft auf die Agitation verengt.224 Zum anderen wird der Mehrzahl der Mitglieder eine Verfolgungs- und Hafterfahrung abgesprochen.225 Indem der Verfolgtenstatus der Mitglieder der Lagergemeinschaft angezweifelt wurde, konnten ebenso ihre Forderungen abgelehnt werden.226 Aus dem beschriebenen Kontext des Moorsoldatentreffens im Jahr 1956 wurde deutlich, dass sich die Lagergemeinschaft unter dem Eindruck des KPD-Verbotes gründete und dabei auch die Funktion hatte, die öffentliche Aufmerksamkeit für die Strafverfolgung von Kommunisten in der Bundesrepublik zu steigern.227 Kruse, Wiggershaus oder Stertzenbach, die sich in der Organisation des Moorsoldatentreffens besonders hervortaten, waren während des Nationalsozialismus im Widerstand gewesen und verfolgt worden. Kruse und Wiggershaus hatten die Lager im Emsland in den 1930er-Jahren erlebt. Die gegen Kommunisten gerichtete bundesrepublikanische Gesetzgebung alarmierte die Lagergemeinschaft. In Westdeutschland hatte der Erosionsprozess der KPD bereits Anfang der 1950er-Jahre begonnen und, wie die Warnungen des DGB zeigten, die kommunistischen NS-Verfolgten wurden in fast allen gesellschaftlichen Kreisen mit Argwohn bis Ablehnung betrachtet. Das in der Bundesrepublik beschworene Gefahrenpotenzial, das von einer kommunistischen und von Moskau g elenkten 223 Ebd. 224 Vgl. Stefan Creuzberger, Kampf gegen den inneren Feind. Das gesamtdeutsche Ministerium und der staatlich gelenkte Antikommunismus in der Bundesrepublik Deutschland. In: ders./ Hoffmann (Hg.), »Geistige Gefahr«, S. 103 f. 225 Vgl. Ministerium für Inneres, I/4 199.141, Vermerk vom 18.2.1957 (NMfIS, 199 141/14 Band I, Bl. 67). 226 Vgl. Camilla Bertheau, Politisch unwürdig? Die Entschädigung von Kommunisten für nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen. Bundesdeutsche Gesetzgebung und Rechtsprechung der 50er Jahre, Berlin 2016, S. 12. 227 Vgl. Kössler, Abschied von der Revolution, S. 340–346. Kruse klagte über Jahre mithilfe des Sozialausschusses der VVN gegen das Land Niedersachsen auf Entschädigung. War die Forderung auf individuelle Entschädigung für seine Haftzeit in deutschen Gefängnissen und Lagern erfolgreich, blieb Kruses Klage auf »Schaden an Freiheit wegen Leben in der Illegalität« jedoch erfolglos. 1967 gab er die Klage letztlich auf Anraten des VVN Sozialausschusses auf. Vgl. Sozialausschuss VVN Niedersachsen an Regierungspräsident Entschädigungsbehörde Hannover, Entschädigungssache Berthold Kruse vom 21.2.1967 (VVN-Archiv Niedersachsen, NR 634, 69/634, unpag.).
Die »Emsland-Lagergemeinschaft«
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Infiltration ausging, war dabei faktisch gering. Die Handlungsmacht der Lagergemeinschaft wurde demnach auch in den Schreiben der Innenministerien überzeichnet. Denn nicht die »Gefahrenabwehr« wurde hier vom Staatsschutz verhandelt, sondern vielmehr mit dem Argument der Verfassungsfeindlichkeit der marginale Status des kommunistischen Widerstandskampfes in der offiziellen Erinnerungskultur durch ihre Kriminalisierung weiter zementiert.228 2.4
Das Verhältnis der Lagergemeinschaft zur Friedensbewegung der 1950er-Jahre
Im Jahr 1955 hatte erstmals eine größere Gedenkveranstaltung auf dem Friedhof Bockhorst-Esterwegen stattgefunden, an der 250 Mitglieder der VVN teilnahmen. Hier wie beim Moorsoldatentreffen im Jahr 1956 wurden friedenspolitische Themen verhandelt. Neben den Mitgliedern der Lagergemeinschaft trat dabei eine Gruppe von Wehrdienstgegnern auf, die ihrer Kritik an der bundesrepublikanischen Vergangenheitspolitik Ausdruck verleihen wollte. Darüber hinaus gingen vor Stattfinden des Treffens Solidaritätsbekundungen von westintegrationskritischen Politikerinnen und Politikern bei der Lagergemeinschaft ein. Diese Akteure sollen folgend vorgestellt und in die Friedensbewegung der 1950er-Jahre eingeordnet werden. Damit ist der Ausschnitt einer Gegen-Erinnerungskultur in den 1950er-Jahren zu zeigen, die mit dem Bild des bleiernen, tendenziell apolitischen Jahrzehnts bricht. Mit Aufnahme der Diskussion um eine Wiederbewaffnung der neugegründeten Bundesrepublik entstand die erste große außerparlamentarische Friedensbewegung, die »Ohne-mich«-Bewegung. Ihr schlossen sich ehemalige Wehrmachtsangehörige, Teile der evangelischen Kirche, Gewerkschaften, die KPD und die Gesamtdeutsche Volkspartei (GVP) an. Nachdem die Bewegung mit Beginn des Korea-Krieges (1950) und der nun einsetzenden antikommunistischen Propaganda ihre Massenmobilisierung einbüßt hatte, bildete sich im Zuge der Verhandlungen um den NATO-Beitritt Deutschlands Mitte der 1950er-Jahre aus ihr die Paulskirchenbewegung. Sie war überwiegend von bürgerlichen Kräften getragen, die gegen die auf Remilitarisierung basierende Westbindung eintraten.229
228 Vgl. Kössler, Abschied von der Revolution, S. 346. 229 Vgl. Michael Werner, Die »Ohne-mich«-Bewegung. Die bundesdeutsche Friedensbewegung im deutsch-deutschen Kalten Krieg (1949–1955), Münster 2006; Helmut Kramer, Die justizielle Verfolgung der westdeutschen Friedensbewegung in der frühen Bundesrepublik. In: Bald/Wette (Hg.), Friedensinitiativen, S. 49–62; Axel Schildt, Moderne Zeiten. Freizeit, Massenmedien und ›Zeitgeist‹ in der Bundesrepublik der 50er Jahre, Hamburg 1995, S. 307–309; Ulrike C. Wasmuht, Friedensbewegungen. Vom traditionellen Pazifismus zu neuen politischen Bewegungen. In: Arnold Sywottek (Hg.), Der Kalte Krieg – Vorspiel zum Frieden?, München 1994, S. 128–139.
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Abwehr und Selbstbehauptung
Während die Paulskirchenbewegung nach dem NATO-Beitritt der BRD (6. Mai 1955) ebenso »an Mobilisierungskraft« verlor,230 entstand mit der Wiedereinführung der Wehrpflicht im Jahr 1956 erneut eine Protestwelle, der sich insbesondere junge Menschen anschlossen.231 Zu denjenigen, die auf die Einladung der »Moorsoldaten« zu dem Treffen im Jahr 1956 mit einer Sympathieerklärung reagierten, gehörte Arno Behrisch (SPD). Der ehemalige Widerstandskämpfer war ein Kritiker des NATO-Beitritts und zählte zu den zentralen Akteuren der späteren Ostermarsch-Bewegung. Er konnte an dem Moorsoldatentreffen nicht teilnehmen und begründete seine Absage damit, dass er am 8. und 9. September 1956 zu verhindern suche, »dass wir wieder Barras232 und in dessen Gefolge wieder Moorsoldaten bekommen«. Gerade daher finde er es wichtig, »daran zu erinnern, was sich in diesem Lande zugetragen hat und doch nur ereignen konnte, im Schatten der sogenannten bewaffneten Macht, die man wieder installieren will und die so überflüssig ist wie Läuse auf dem Kopfe«.233 Weitere Sympathieerklärungen stammten von den SPD-Politikerinnen und -Politikern Irma Keilhack, Fritz Erler, Georg Kühl und Fritz Corterier sowie von der FDP-Bundestagsabgeordneten Herta Ilk. Auch Robert Scholl, Vater der ermordeten Geschwister Scholl und Mitglied der GVP, eine die Politik der Westintegration kritisierende Kleinpartei, sandte eine Erklärung an die Lagergemeinschaft. Darin kritisierte er den Umgang mit den ehemaligen Verfolgten und erläuterte: »Stehen doch manche der heute Herrschenden gedanklich und gefühlsmäßig eher aufseiten der Verfolger als der Verfolgten. Aber letztere dürfen auch heute noch erhobenen Hauptes sich mit gutem Gewissen jener Zeit erinnern, da sie ohne Gewissheit des Überlebens tapfer und ihrem Gewissen treu stellvertretend für ihr Volk hingestanden sind und gelitten haben. Dem Treffen der Emsland-Lagergemeinschaft Moorsoldaten wünsche ich einen guten Verlauf. Möge der Einzelne dabei innere Stärkung erfahren. Eine spätere Zukunft wird den einst Verfolgten wieder mehr Gerechtigkeit widerfahren lassen.«234
Keilhack, Scholl, Behrisch und Erler waren während des NS verfolgt worden und in verschiedenen Haftstätten inhaftiert gewesen. Erler war im Strafgefangenenlager Aschendorfermoor eingesperrt gewesen. Sie alle standen der Wiederbewaffnungspolitik der Adenauer-Regierung kritisch gegenüber. Behrisch trat sogar im 230 Herbert, Geschichte Deutschlands, S. 649. 231 Vgl. Markus Gunkel, Der Kampf gegen die Remilitarisierung: Friedensbewegung in Hamburg 1950–1955, Frankfurt a. M. 2009, S. 205–216, 330–333. 232 Synonym für Wehrmacht. 233 Die Erklärung von Behrisch wurde abgedruckt im Aufruf zur Teilnahme am Moorsoldatentreffen und in der zweiten Ausgabe des Mitteilungsblattes veröffentlicht, »An die Bevölkerung von Papenburg und Umgebung«. In: Der Moorsoldat vom 15.11.1956. 234 Oberbürgermeister i. R. Scholl, Vater der Geschwister Scholl, Zur Teilnahme am Moorsoldatentreffen am 8./9.9.1956. In: Der Moorsoldat vom 15.12.1956.
Die »Emsland-Lagergemeinschaft«
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Jahr 1961 aus der SPD aus und wurde Mitglied der Deutschen Friedens-Union.235 Diese Politikerinnen und Politiker brachten zwar in ihren Antwortschreiben ihre Sympathie für die Lagergemeinschaft zum Ausdruck, nahmen aber, so ist anzunehmen, im Zeichen des KPD-Verbotes nicht an dem Treffen teil. Anders die Mitglieder der »Interessensgemeinschaft der Wehrdienstgegner in Leer«, die vom 8. bis 9. September 1956 am Moorsoldatentreffen teilnahmen. Vom allgemeinen Einzug zur Grundwehrausbildung waren junge Männer betroffen, die ab dem 30. Juni 1937 geboren waren. Diese Jugendlichen hatten als Kinder den Krieg und das Kriegsende erlebt. In ihrer Kindheit hatten sie den Verlust größtenteils männlicher Familienmitglieder erfahren sowie die nachkriegsbedingten Entbehrungen.236 Vor diesem Hintergrund ist die Erklärung der Wehrdienstgegner aus Leer zu lesen, die im Dezember 1956 im Mitteilungsblatt der Lagergemeinschaft veröffentlicht wurde. Unter dem Titel »Warum sagt man zur Wehrpflicht ›Nein‹!« schrieben sie: »Die Jugend hat sich zusammengeschlossen und verweigert zum größten Teil den Wehrdienst. [...] Trotz aller Schmähungen von alten Militärs und verbohrten Politikern hat die Anti-Kriegsbewegung einen kolossalen Aufschwung erlebt. Der Wille zum Frieden ist stärker in der deutschen Jugend verankert als der Wille zur Gewalt. [...] Ihr, die Ihr schon einmal Verfolgung erdulden musstet, seid die besten Mahner zur Vernunft. [...] Nachhaltiger denn je mahnt uns die weltpolitische Situation, dass Ihr alten Moorsoldaten und wir jungen Kriegsdienstgegner eine Front bilden müssen, die Front des Friedens! Wir wollen in einer friedlichen und freien Welt leben.«237
Die »jungen Wehrdienstgegner« appellierten hier an die »alten Widerstandskämpfer«, zusammen eine »Front des Friedens« zu bilden. Hierbei sprachen sie die bundesrepublikanische »Vergangenheitsbewältigung«238 an, denn mit den »alten 235 Diese Partei, die sich auffächerte in ein linksbürgerliches und ein kommunistisches Lager, wurde im Laufe der 1960er-Jahre immer mehr durch die SED dominiert. Vgl. Richard Stöss (Hg.), Parteien-Handbuch. Die Parteien der Bundesrepublik Deutschland 1949–1980, Sonderausgabe, Opladen 1986, S. 290 f.; Dirk Mellies, Trojanische Pferde der DDR? Das neutralistisch-pazifistische Netzwerk der frühen Bundesrepublik und die Deutsche Volkszeitung, 1953–1973, Frankfurt a. M. 2007, S. 51–61. 236 Zu den Erfahrungen der sogenannten Kriegskinder vgl. Matthias Grundmann/Dieter Hoffmeister/Sebastian Knoth (Hg.), Kriegskinder in Deutschland zwischen Trauma und Normalität. Botschaften einer beschädigten Generation, Berlin 2009; Sabine Bode, Die vergessene Generation. Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen, Stuttgart 2013. 237 O. V., Die Überlebenden wollen leben! In: Der Moorsoldat vom 15.12.1956. 238 »Vergangenheitsbewältigung« war ein Begriff, den der Historiker Hermann Heimpel prägte und der seit Mitte der 1950er-Jahre im Hinblick auf die Verdrängung der jüngsten Vergangenheit im Sinne der Erinnerungs- und Schuldabwehr im Umlauf war. Vgl. Berg, Der Holocaust und die westdeutschen Historiker, S. 248–252. Zur Begriffsgeschichte von »Vergangenheitsbewältigung« vgl. Peter Dudek, Vergangenheitsbewältigung. Zur Problematik eines umstrittenen Begriffs. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 40 (1992) 1/2, S. 44–53; Grete Klingenstein, Über Herkunft und Verwendung des Wortes Vergangenheitsbewältigung. In: Geschichte und Gegenwart, 7 (1988) 4, S. 301–312.
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Abwehr und Selbstbehauptung
Militärs« wurde deutlich Kritik an den personellen Kontinuitäten in der neugeschaffenen Bundeswehr geübt.239 Die obersten Dienstränge der Bundeswehr bestanden in der Mehrzahl aus Generälen, die bereits unter den Nationalsozialisten gekämpft hatten und an einer positiven Traditionspflege der deutschen Wehrmacht interessiert waren.240 Gegen diese Traditionspflege sprachen sich die Wehrdienstgegner aus und forderten: »Wir sollten uns an 1945 – die Zeit des Zusammenbruchs – erinnern.«241 Diesen Appell kommentierte die Redaktion des Mitteilungsblattes mit den Worten: »Wir haben nicht umsonst gekämpft, Kameraden. Wir stehen nicht allein. Die Jugend kämpft in unserem Sinne weiter. Sie bekennt sich zu unseren Idealen: Freiheit, Gerechtigkeit und Humanität [...] Sie haben die unverbrauchte Frische und den Elan, wir die Erfahrung. Gelingt es uns, einander zu ergänzen und zusammenzugehen, dann, Kameraden, ist Hoffnung.«242 Inwiefern die Wehrdienstgegner jedoch dieselben »Ideale« wie die Lagergemeinschaft vertraten, ist an dieser Stelle nicht zu klären. Es ist aber anzunehmen, dass sie keine Kommunisten waren und ihr Konzept von Frieden nicht deckungsgleich war mit dem der Lagergemeinschaft. Denn bei den Wehrdienstgegnern der 1950er-Jahre handelte es sich um eine wenig organisierte Bewegung, die jedoch davon gekennzeichnet war, dass die jungen Menschen für ihre individuelle Freiheit angesichts des bevorstehenden Einzugs zum Wehrdienst kämpften und dabei eine grundsätzliche Kriegsgegnerschaft vertraten. In den Verlautbarungen der »Moorsoldaten« hingegen wird die physische Freiheit angesichts des KPD-Verbotes und der drohenden Strafverfolgung, die ihre politische Handlungsfreiheit beschnitt, betont.243 Auch stand diese Friedensvorstellung im Zeichen des Kommunismus. Die KPD verstand sich als gesamtdeutsche Partei und trat daher gegen die von der Adenauer-Regierung forcierte Westintegration ein. Patrick Major bezeichnet die Friedenspolitik der westdeutschen KPD dabei als »Peace without Pacifism« und meint damit den einseitig gegen die Westanbindung und die damit einhergehende Remilitarisierung der Bundesrepublik formulierte Kritik, die dabei die Aufrüstung der UdSSR nicht einbezog.244 Der Topos Frieden war also in den 1950er-Jahren je nach politischer Überzeugung und Ausrichtung unterschiedlich aufgeladen, dabei schuf er aus Sicht
239 Vgl. Edgar Wolfrum, Die 50er Jahre. Kalter Krieg und Wirtschaftswunder, Darmstadt 2006, S. 41–43, 62 f. 240 Vgl. Heiner Möllers/Rudolf J. Schlaffer, Einleitung. In: dies. (Hg.), Sonderfall Bundeswehr? Streitkräfte in nationalen Perspektiven und im internationalen Vergleich, München 2014, S. 11–34, hier 29. 241 O. V., Die Überlebenden wollen leben! In: Der Moorsoldat vom 15.12.1956. 242 »Ein Wort zur Gründung unserer Lagergemeinschaft«. In: Der Moorsoldat vom 15.11.1956. 243 Vgl. Spernol, Der Rote Winkel, S. 133–137. 244 Patrick Major, The death of the KPD: Communism and anti-communism in West Germany, 1945–1956, Oxford 1997, S. 142.
Zwischenfazit
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der »Emsland-Lagergemeinschaft« über ideologische Divergenzen eine Bündnisgrundlage. Vor dem Hintergrund der Politik der Westintegration, der Wiederaufrüstung und dem NATO-Beitritt wurde die Friedensmahnung zur inhaltlichen Schnittmenge, die zugleich den erst wenige Jahre zurückliegenden Zweiten Weltkrieg vergegenwärtigte. Die Emslandlager wurden in diesem Kontext mit friedenspolitischen Deutungsmustern belegt, die sich mit Aufkommen der Neuen Friedensbewegung seit Ende der 1970er-Jahre verfestigten und die in Form großer Antikriegskundgebungen bis heute tradiert werden.245 Im Hinblick auf die Friedensbewegten, die im Jahr 1956 im Kontext der Moorsoldatentreffen auftraten, ist darüber hinaus festzustellen, dass sie Vorboten eines erinnerungskulturellen Wandels in Richtung einer Enttabuisierung waren. Sie anerkannten die Mitglieder der Lagergemeinschaft trotz des antikommunistischen Klimas als NS-Verfolgte und kritisierten personelle Kontinuitäten in der Bundesrepublik.246
3. Zwischenfazit Während die Emslandlager in den ersten Nachkriegsjahren von den Alliierten präsent gehalten wurden, indem beispielsweise über die Prozesse gegen Wachmannschaften ausführlich in der Regionalpresse berichtet wurde, waren die Lager in den 1950er-Jahren kaum mehr ein Thema. Die polnische Sonderzone im Emsland war bereits 1948 aufgelöst worden, die vielen DPs repatriiert und Prozesse fanden nur noch selten statt. In dieser Zeit bildete sich eine Erinnerungskultur heraus, die, wie am Beispiel des Ehrenmals in der Gemeinde Herbrum gezeigt, auf das deutsche Kriegsopfer ausgerichtet war. War die darin zum Ausdruck kommende viktimisierende Selbstdeutung typisch für die Nachkriegszeit, in der die NS-Verfolgten sogar durch das Kriegsgräbergesetz gesetzlich abgesichert einen niedrigeren Status verliehen bekamen als die deutschen Kriegstoten, ist hinsichtlich der Stigmatisierung und Marginalisierung der Toten ein regionales Spezifikum zu erkennen. Der in dem Kriegsgräbergesetz genannte enge Verfolgtenkreis machte es deutschen Stellen möglich, die Toten zu kategorisieren. Der Leiter der Strafanstalten Emsland sprach den verstorbenen Strafgefangenen dabei den Opferstatus gänzlich ab und hielt daran fest, dass es sich bei ihnen um Kriminelle gehandelt habe. Dass bereits die britischen Nachkriegsermittlungen zu dem Ergebnis gekommen waren, dass die Strafpraxis in den Emslandlagern selbst nach damaliger repressiver Strafvollzugsordnung von 1940 de facto einen Rechtsbruch darstellte, spielte keine Rolle. Vielmehr war in der Stigmatisierung
245 Vgl. Wischermann, Wettstreit um Gedächtnis und Erinnerung, S. 1. 246 Vgl. Marcuse, Legacies of Dachau, S. 290–295.
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Abwehr und Selbstbehauptung
der Gefangenen als Kriminelle ein besonders wirkungsvolles Mittel gefunden worden, um die Strafgefangenenlager ex post zu legitimieren. Gegen diese nachträgliche Entlastung, die zugleich der Ehrenrettung des Lagersystems und des Kultivierungsprojektes diente und die sich in der Vernachlässigung der Gräber von Strafgefangenen widerspiegelte, protestierten Kommunisten zunächst vereinzelt bereits seit Anfang der 1950er-Jahre. Doch erst das Verbot der KPD im Jahr 1956 mobilisierte über 1 000 Menschen. »Die Überlebenden wollen leben«, das zentrale Banner des Treffens, gab die Forderungen der Moorsoldaten wieder: Sie kämpften gegen die Kriminalisierung der kommunistischen NS-Verfolgten und für eine gesellschaftliche und politische Anerkennung ihres Widerstandskampfes. Dass sich in den 1950er-Jahren bereits einige Friedensbewegte mit den ehemaligen Gefangenen der Moorlager solidarisierten, zeigten die Unterstützungsschreiben von Behrisch (SPD) oder Scholl. Während diese allerdings ihre Solidarität allein schriftlich kundtaten, trat mit der Gruppe der jungen Wehrdienstgegner ein neuer und sichtbarer erinnerungskultureller Akteur auf.
V.
Alte und neue Akteure: in Bewegung (1962–1973)
Ende der 1950er-Jahre wurden erstmals »moralische Fehlentwicklungen und Versäumnisse im Wiederaufbau« der Bundesrepublik öffentlich diskutiert.1 Paradigmatisch war der 1959 gehaltene Vortrag »Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit?«2 von Theodor W. Adorno.3 In ihm stellte Adorno das Demokratiedefizit in der Bundesrepublik in einen Zusammenhang mit der ausgebliebenen »wirklichen Aufarbeitung« der Vergangenheit durch Abwehr von Schuld und Erinnerung.4 Kurze Zeit später schienen sich seine Thesen zu bestätigen: Zu Weihnachten 1959 wurde die Kölner Synagoge mit Hakenkreuzen beschmiert, eine Reihe von weiteren Taten folgte.5 Zurück ins öffentliche Bewusstsein kehrte 1
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Axel Schildt, Fünf Möglichkeiten, die Geschichte der Bundesrepublik zu erzählen. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, 44 (1999), S. 1234–1244, hier 1242. Vgl. Herbert, Geschichte Deutschlands, S. 756–883; Bauerkämper, Das umstrittene Gedächtnis, S. 304. Paradigmatisch zum Wandel des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft: Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied 1962. Theodor W. Adorno, Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit. In: ders., Kulturkritik und Gesellschaft II, Band 10.2, Frankfurt a. M. 2003, S. 555–572. Vgl. Matthias Heyl, Was ist und zu welchem Ende studiert man die Geschichte des Holocaust? »Aufarbeitung der Vergangenheit« heute. In: Hans Erler (Hg.), Erinnern und Verstehen. Der Völkermord an den Juden im politischen Gedächtnis der Deutschen, Frankfurt a. M. 2003, S. 202–222, hier 202; Hans-Ulrich Thamer, Die NS-Vergangenheit im politischen Diskurs der 68er-Bewegung. In: Westfälische Forschungen, 48 (1998), S. 39–53, hier 45 f. Adorno, Aufarbeitung der Vergangenheit, S. 558. Ähnlich äußerte sich Karl Jaspers im Gespräch mit Rudolf Augstein anlässlich der Verjährungsdebatte im Jahr 1965. Vgl. Karl Jaspers, Wohin treibt die Bundesrepublik? Tatsachen, Gefahren, Chancen, München 1966. Ein Jahr später wurde die psychoanalytische Diagnose formuliert, die zum Bestseller werden sollte. Vgl. Alexander Mitscherlich/Margarete Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens, München 1967. Vgl. zum Fortwirken antisemitischer Einstellungen, die nicht öffentlich kommuniziert werden, Werner Bergmann, Kommunikationslatenz und Vergangenheitsbewältigung. In: Helmut König/Michael Kohlstruck/Andreas Wöll (Hg.), Vergangenheitsbewältigung am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, Leviathan, Sonderheft 18 (1998), S. 393–408, hier 396 f.
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Alte und neue Akteure
die jüngste Vergangenheit aber vor allem durch die großen Strafverfahren gegen Täter des Holocaust wie dem Ulmer Einsatzgruppen-Prozess (1958), dem Eichmann-Prozess in Jerusalem (1961) und den seit 1963 verhandelten Auschwitz-Prozessen in Frankfurt am Main, die die Dimension der nationalsozialistischen Verbrechen ans Licht brachten. Keineswegs handelte es sich bei der Ermordung der jüdischen Bevölkerung um das Verbrechen einzelner prominenter Nazis, sondern um ein kleinteilig organisiertes und in sämtliche gesellschaftliche Bereiche durchdringendes Massenverbrechen.6 Die Berichterstattung – insbesondere über den Eichmann-Prozess und die Auschwitz-Prozesse – trug dabei die Ermittlungsergebnisse an eine breite Öffentlichkeit, dämonisierte die Täter jedoch, was der deutschen Gesellschaft eine entlastende Distanzierung zu den Verbrechen ermöglichte.7 Dennoch lösten die Prozesse erstmals öffentlich geführte und massenmedial verbreitete Debatten über den Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in der Bundesrepublik aus. Das vorliegende Kapitel widmet sich einer Phase des Aufbruchs, den Debatten und Konflikten, die im Emsland Anfang der 1960er-Jahre einsetzten, und endet mit dem Aufkommen der Gedenkstättenbewegung Anfang der 1970er-Jahre. Es geht der Frage nach, wie sich im Kontext des eingangs beschriebenen Wandels im ländlichen Raum das Schweigen über die Lager löste, beleuchtet die Hintergründe und beschreibt die Akteure, die diesen Prozess anstießen und maßgeblich prägten. Kapitel V.1 legt den Schwerpunkt auf Personen und Gruppen, die den Erinnerungsdiskurs in Bewegung brachten und fragt insbesondere nach generationsspezifischen Deutungs- und Handlungsmustern. Kapitel V.2 richtet den Blick auf die politische Bewältigung, den Weg der gesetzlichen Anerkennung der Emslandlager als unrechtmäßige Haftstätten. Es zeigt beispielhaft Erinnerungsformen und -handlungen auf, die auf sich wandelnde gesetzliche Entwicklungen im Umgang mit der NS-Vergangenheit zurückzuführen sind, und fragt nach den politischen Konstellationen, die diesen Weg ebneten.
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Vgl. zu den Prozessen u. a. Werner Renz (Hg.), Interessen um Eichmann. Israelische Justiz, deutsche Strafverfolgung und alte Kameradschaften, Frankfurt a. M. 2012; ders., Der 1. Frank furter Auschwitz-Prozess 1963–1965 und die deutsche Öffentlichkeit. Anmerkungen zur Entmythologisierung eines NSG-Verfahrens. In: Osterloh/Vollnhals (Hg.), NS-Prozesse und deutsche Öffentlichkeit, S. 349–362; Annette Weinke, Die Verfolgung von NS-Tätern im geteilten Deutschland. Vergangenheitsbewältigung 1949–1969 oder: Eine deutsch-deutsche Beziehungsgeschichte im Kalten Krieg, Paderborn 2002; Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 1965. Vgl. Marc von Miquel, Explanation, Dissociation, Apologia: The Debate over the Criminal Prosecution of Nazi Crimes in the 1960s. In: Philipp Gassert/Alan E. Steinweis (Hg.), Coping with the Nazi Past. West German Debates on Nazism and Generational Conflict, 1955–1975, New York 2006, S. 50–63, hier 53–56.
Muster der Erinnerung und Verarbeitung
1.
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Generationstypische Muster der Erinnerung und Verarbeitung
Marcuse hat entlang der historischen Generationen des 20. Jahrhunderts und deren Deutung des Nationalsozialismus eine Generationentypologie entwickelt, die die horizontale und vertikale Perspektive auf die Analysegröße Generation verbindet. Zum einen bezeichnet der Begriff Generation – ganz im Sinne Karl Mannheims – generationstypische Handlungs- und Deutungsmuster, die sich entlang einschneidender Erfahrungen in der Adoleszenz, also zeitlich diachron herausbilden. Zum anderen beschreibt der Begriff die intergenerationellen Aushandlungen und Konfliktkonstellationen auf synchroner Ebene: das Aufeinandertreffen von Generationen in einer Gegenwart. Diese Verbindung dient als Erklärungsansatz für erinnerungskulturelle Umbrüche8 und ist folgend mit der Perspektive von Christina von Hodenberg zum Wandel der Medienöffentlichkeit seit Ende der 1950er-Jahre zusammenzuführen, um den Erinnerungswandel in den 1960er-Jahren zu erklären.9 In beiden Betrachtungsweisen werden längerfristige Erfahrungswandel berücksichtigt, wobei insbesondere von Hodenberg die Bedeutung und den Einfluss der massenmedialen Thematisierung der nationalsozialistischen Verbrechen herausgearbeitet hat. Wichtig war im Hinblick auf den Wandel der Medienöffentlichkeit der Beitrag der »45er«10 (Geburtsjahrgänge 1921–1932), die sich in einer Zeit gesellschaftlicher Veränderungen vom Konsensjournalismus der Adenauer-Ära 8
Vgl. Marcuse, Legacies of Dachau, S. 295. Zum Generationenkonzept vgl. Jureit, Generationenforschung; Jürgen Reulecke (Hg.), Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert, München 2003; Karl Mannheim, Das Problem der Generationen. In: ders./Kurt H. Wolff (Hg.), Wissenssoziologie, Berlin 1964, S. 509–565. Zu Generationen als Gedächtnisgemeinschaften vgl. Aleida Assmann, Geschichte im Gedächtnis. Von der individuellen Erfahrung zur öffentlichen Inszenierung, München 2007, S. 58–69; Ulrike Jureit, Generationen als Erinnerungsgemeinschaften. Das »Denkmal für die ermordeten Juden Europas« als Generationsobjekt. In: dies./Michael Wildt (Hg.), Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs, Hamburg 2005, S. 244–265; Heinz Bude, Die Erinnerung der Generationen. In: Helmut König/ Michael Kohlstruck/Andreas Wöll (Hg.), Vergangenheitsbewältigung am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, S. 69–85. 9 Vgl. Christina von Hodenberg, Konsens und Krise. Eine Geschichte der westdeutschen Medienöffentlichkeit 1945–1973, Göttingen 2006, S. 293–440. 10 Diese Alterskohorte, die in der Generationenforschung mit Signaturen wie »skeptische Generation« (Helmut Schelsky) oder »Flakhelfer-Generation« (Heinz Bude) belegt wurde, trug maßgeblich zur demokratischen Neuorientierung bei, wobei sie ihre eigene Politisierung in Kindheit und Jugend weitgehend ausblendete. Impulsgebend für die Untersuchung dieser Generation ist Helmut Schelskys Studie, Die skeptische Generation. Eine Soziologie der deutschen Jugend, Düsseldorf 1957. Vgl. zur skeptischen Generation auch Franz-Werner Kersting, Helmut Schelskys »Skeptische Generation« von 1957. Zur Publikations- und Wirkungsgeschichte eines Standardwerkes. In: VfZ, 50 (2002) 3, S. 465–495. Zur Flakhelfer-Generation vgl. Heinz Bude, Deutsche Karrieren: Lebenskonstruktionen sozialer Aufsteiger aus der Flakhelfer-Generation, Frankfurt a. M. 1987; Bude, Die Erinnerung der Generationen, S. 77.
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Alte und neue Akteure
abwendeten und durch ihren Aufstieg in den Redaktionen den »zeitkritischen Journalismus« zwischen 1958 und 1965 entscheidend vorantrieben.11 Dieser zunehmende Einfluss der »45er« prägte zugleich die Geburtsjahrgänge zwischen 1937 und 1953.12 Ein Generationszusammenhang, der sich aus der gemeinsamen Erfahrung bildete, in den Nachkriegsjahren eine Zeit des ökonomischen Mangels erlebt zu haben, in der prosperierenden und westorientierten Bundesrepublik sozialisiert worden zu sein und die Verarbeitung des Holocaust in Theater, Film und Massenmedien als einschneidend erlebt zu haben.13 Denn diese insbesondere mit den großen Strafverfahren gegen Täter des Holocaust einsetzende kulturelle Auseinandersetzung brach sich mit den bruchstückhaften Erzählungen der Eltern und Großeltern.14 Die Aushandlung dieser Spannungserfahrung, das erlebte Schweigen der Zeitgenossen, verband sich für diese Geburtsjahrgänge zu einem gemeinsamen Erfahrungshintergrund. Einzelne dieser Altersgruppe formulierten dabei eine politische Agenda, die heute unter der Chiffre der »68er« firmiert. Sie einte der Bezug auf den Nationalsozialismus als Kritik- und Protestmittel, sie klagten die Ereignisgeneration15 an und identifizierten sich mit marginalisierten Gesellschaftsgruppen.16 Blickt man auf das journalistische Handlungsfeld, so waren die »68er« durch die Praxis des zeitkritischen Journalismus geprägt, politisierten und positionierten sich seit 1965 jedoch zunehmend und pflegten, wie von Hodenberg herausarbeitet, einen »engagierten Journalismus«. Angehörige dieser Generation rebellierten gegen hierarchisch organisierte Chefredaktionen 11 Zur Praxis des »zeitkritischen Journalismus« gehören laut von Hodenberg ein investigatives Vorgehen und die gezielte Skandalisierung und Überspitzung, mit der politische und gesellschaftliche Defizite offengelegt wurden. Vgl. von Hodenberg, Konsens und Krise, S. 293 f. 12 Karl Mannheim definiert den Generationszusammenhang als eine sich aus der Generationslagerung konstituierende Verbundenheit, die »eine Partizipation an den gemeinsamen Schicksalen« kennzeichnet. Mannheim, Das Problem der Generationen, S. 542. Vgl. zu den verschiedenen Kategorien des Generationsbegriffs Jürgen Zinnecker, Das Problem der Generation. Überlegungen zu Karl Mannheims kanonischem Text. In: Reulecke (Hg.), Generationalität und Lebensgeschichte, S. 33–58, hier 40 f. 13 Marcuse fasst den Generationszusammenhang weiter als andere Forschende, indem er weniger die Kriegskindheit, sondern vielmehr die Sozialisation in den 1950er- und 1960er-Jahren akzentuiert; vgl. Marcuse, Legacies of Dachau, S. 295. Jureit hingegen beobachtet ein generationsspezifisches Erinnern bei den Jahrgängen zwischen 1935 und 1945. Vgl. Jureit, Generationenforschung, S. 118. 14 Vgl. Marcuse, Legacies of Dachau, S. 290. 15 Diese offene Beschreibung soll im Folgenden für all diejenigen gelten, die den Nationalsozialismus bewusst erlebt hatten. Vgl. Jureit, Generationen als Erinnerungsgemeinschaften, S. 254. 16 Vgl. Harold Marcuse, Generational Cohorts and the Shaping of Popular Attitudes towards the Holocaust. In: John Roth/Elizabeth Maxwell (Hg.), Remembering for the Future: The Holocaust in an Age of Genocide, Band 3, London 2001, S. 652–663; Bude, Die Erinnerung der Generationen, S. 79; Dan Diner, Vom Stau der Zeit. Neutralisierung und Latenz zwischen Nachkrieg und Achtundsechzig. In: Hans Ulrich Gumbrecht/Florian Klinger (Hg.), Latenz. Blinde Passagiere in den Geisteswissenschaften, Göttingen 2011, S. 165–172, hier 170.
Muster der Erinnerung und Verarbeitung
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und setzten die Forderung nach Partizipation in Form von Publikumsgesprächen und Aufrufen zu Leserdiskussionen um.17 Von Hodenberg und Marcuse arbeiten generationelle Deutungs- und Handlungsmuster heraus, verengen hinsichtlich eines sich verändernden Vergangenheitsdiskurses in den 1960er-Jahren jedoch nicht die Perspektive auf das Jahr 1968 und die politische Generation der »68er« als einzige Impulsgeber.18 Entsprechend wird in den folgenden Unterkapiteln nach generationsspezifischem Verarbeiten der nationalsozialistischen Vergangenheit und Handlungsmotivationen sowie daraus resultierenden intergenerationellen Aushandlungen gefragt.19 1.1
Die »Spiegel-Affäre« und der Gedenkstein für Carl von Ossietzky
»Unsere Freiheit verdanken wir nicht den Helden ehemaliger Geschichtsbücher, sondern den Aufrechten in schwerer Zeit.«20 Dieser Satz stammt aus der Ansprache des Jugendgewerkschaftssekretärs Manfred Albus anlässlich der Einweihung eines Denkmals für Carl von Ossietzky auf dem Friedhof Bockhorst-Esterwegen, nahe dem ehemaligen KZ Esterwegen. Das Denkmal wurde von der Jugendgruppe der »Industriegewerkschaft (IG) Bergbau, Chemie, Energie« Essen im Herbst 1963 gestiftet. Ausdrücklich sollte es laut der Jugendgewerkschaftsgruppe einen Zusammenhang zwischen dem berühmten Publizisten der Weimarer Republik und der »Spiegel-Affäre« (1962) herstellen. Dieser Aktualitätsbezug sorgte dafür, dass die Denkmalstiftung sowohl von der regionalen als auch überregionalen Presse beachtet wurde. Das Denkmal für von Ossietzky und die ihm vorausgegangene Initiative stand jedoch nicht allein, vielmehr ist seit Anfang der 1960er-Jahre ein gesteigertes Interesse am Umgang mit dem Friedhof Bockhorst-Esterwegen festzustellen, auf dem nach der offiziellen Deutung des niedersächsischen Innenministeriums sowie regionalen Akteuren
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Vgl. von Hodenberg, Konsens und Krise, S. 414 f. Diese Perspektive korrespondiert mit der Beobachtung von Wilfried Mausbach, der konstatiert, dass die »68er« nicht den Anstoß zur Auseinandersetzung mit dem Erbe des Nationalsozialismus gaben, sondern einen bereits in Gang gesetzten Prozess beschleunigten. Ders., Wende um 360 Grad? Nationalsozialismus und Judenvernichtung in der »zweiten Gründungsphase« der Bundesrepublik. In: Christina von Hodenberg/Detlev Siegfried (Hg.), Wo »68« liegt. Reform und Revolte in der Geschichte der Bundesrepublik, Göttingen 2006, S. 15–47, hier 17. Ebenso wie Julia Kölsch hervorhebt, sollen im Folgenden nicht allein die »68er« als Tabubrecher in die Betrachtung einbezogen, sondern gesamtgesellschaftliche Wandlungsprozesse berücksichtigt werden. Vgl. dies., Politik und Gedächtnis. Zur Soziologie funktionaler Kultivierung von Erinnerung, Wiesbaden 2000, S. 87–91. O. V., Der vergessene Kämpfer. Im Emsland: Ein Mahnmal erinnert an Carl von Ossietzky. In: Die Einheit. Organ der Industriegewerkschaft Energie und Bergbau Essen, 20 (1963), S. 1.
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Alte und neue Akteure
wie dem Landkreis Aschendorf-Hümmling nach den Umbettungen von 1955 keine NS-Opfer mehr ruhten. Im Frühjahr 1962 sorgte der Besuch des Friedhofs Bockhorst-Esterwegen durch den niedersächsischen Ministerpräsidenten Georg Diederichs (SPD) erstmals für Unruhe. Der Sozialdemokrat war selbst mehrere Monate im Konzentrationslager Esterwegen inhaftiert gewesen. Während eines Aufenthalts im Landkreis Aschendorf-Hümmling machte der Ministerpräsident daher am Friedhof Bockhorst-Esterwegen Halt, um hier, begleitet von der Presse, der Verstorbenen zu gedenken. Die Bilder von dem Besuch zeigen, wie Diederichs durch hohes Gras die Grabreihen entlanggeht.21 Betroffen von dem ungepflegten Zustand der Gräber reichte der Ministerpräsident nach seinem Besuch eine Beschwerde bei dem für den Friedhof zuständigen niedersächsischen Justizministerium ein. Justizminister Arvid von Nottbeck stellte daraufhin 3 000 DM für dessen Instandsetzung in Aussicht.22 Damit war die Diskussion um den Friedhof jedoch nicht beendet. Der Besuch Diederichs bildete vielmehr den Auftakt einer insbesondere im Kreis Aschendorf-Hümmling geführten Debatte über den Umgang der zuständigen Behörden mit den Toten, und dies nicht mehr hinter vorgehaltener Hand, sondern in der Lokalzeitung und hier vor allem im Leserbriefteil. Dort rief im April 1963 Heinrich Klasen, ein Arzt aus Papenburg, die Bevölkerung des Kreises auf, die Errichtung einer »Kapelle Lagerfriedhof Esterwegen« zum Gedenken an die Verstorbenen zu unterstützen.23 Diese Erinnerungsinitiative setzte kommunale Entscheidungsträger unter Handlungsdruck und es wurde ein zehnköpfiges Gremium bestimmt, das über die Kapelle zu entscheiden hatte. Dem Entscheidungsgremium gehörten neben Klasen der Landrat, der Oberkreisdirektor, CDU-Landtagsabgeordnete an – und auch Oberregierungsrat Badry, der maßgeblich in den 1950er-Jahren für die Umbettung der »KZ-Gräber« verantwortlich gewesen war.24 21
Vgl. o. V., Dr. Diederichs besuchte den Waldfriedhof in Esterwegen. In: Ems-Zeitung, Osterausgabe vom 22./23.4.1962. 22 Vgl. Wilhelm Maria Badry, Betr.: Friedhof am Küstenkanal vom 30.5.1962 (NLA OS, Rep 947 Lin I, Nr. 620, fol. 118–174, Bl. 165). Zur weiteren Prüfung und Planung der Instandsetzung wurde die Mittelbehörde in Osnabrück um Hilfe gebeten. Der im Regierungspräsidium für die niedersächsischen Kriegsgräberstätten zuständige Referent sollte einem Vertreter des Justizministeriums sowie dem Vorstand der Strafanstalt Lingen beratend zur Seite stehen. Vgl. Generalstaatsanwalt in Oldenburg an Regierungspräsident in Osnabrück, Betr.: Anlegung und Instandhaltung von Friedhöfen, hier: Friedhof Bockhorst-Esterwegen, Krs. Aschendorf/Hümmling vom 6.6.1962 (NLA OS, Rep 947 Lin I, Nr. 620, fol. 118–174, Bl. 168). 23 Heinrich Klasen, Denk Papenburg. In: Ems-Zeitung vom 22.4.1963. 24 Dem Gremium gehörten an: Pfarrer der Gemeinden Esterwegen und Bockhorst-Esterwegen, Gewerkschaftssekretär Kuper aus Papenburg (CDU), Oberregierungsrat Wilhelm Maria Badry, Landrat Josef Buchholz (CDU), Oberkreisdirektor Hans Tiedeken (CDU), CDU-Landtagsabgeordnete a. D. August Löning und CDU-Landtagsabgeordnete Hermann Lüken-Klaßen. Vgl. Heimatverein für den Kreis Aschendorf-Hümmling e. V. Vgl. Protokoll ehemaliger Lagerfriedhof Esterwegen vom 16.7.1963 (NLA OS, Rep 947 Lin I, Nr. 620, fol. 175–225, Bl. 199).
Muster der Erinnerung und Verarbeitung
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Parallel zu diesen Entwicklungen im nördlichen Emsland betrat mit der Jugendgewerkschaftsgruppe aus Essen ein weiterer Akteur die erinnerungspolitische Bühne und erweiterte sie um neue Aktualitätsbezüge. Bei dem geplanten Carl-von-Ossietzky-Denkmal, für dessen Standort ursprünglich das ehemalige Lagergelände Esterwegen vorgesehen war, sollte es sich um einen mit einer Gedenkplatte versehenen Findling handeln, auf der zu lesen war: »Dem Friedensnobelpreisträger 1935 Carl von Ossietzky *1889 †1938 und seinen politischen Mithäftlingen des Naziregimes zum Gedenken. Gegen Gewalt und Willkür opferten sie ihr Leben für die Freiheit.« Um das Denkmal zu finanzieren, hatte die Jugendgruppe seit Frühjahr 1963 in der Gewerkschaftszeitung »Einheit« zu Spenden aufgerufen. Ebenso erschien darin ein einseitiger Artikel, der die Wiederentdeckung von Ossietzkys im Zuge der »Spiegel-Affäre« thematisierte: »Erst aufgrund der Inhaftierung des ›Spiegel‹-Herausgebers Rudolf Augstein erinnerte man sich in Deutschland wieder in starkem Maße des Friedensnobelpreisträgers Carl von Ossietzky.«25 In dieser kurzen Zeile wird die gegenwartsorientierte Bezugnahme auf von Ossietzky sehr deutlich. Denn aus Sicht der Gewerkschaftsgruppe stand von Ossietzky für Pressefreiheit und Antimilitarismus,26 Topoi, die die Verbindungslinie zur »Spiegel«-Redaktion bildeten.27 Der »Spiegel«-Artikel »Bedingt abwehrbereit«, der am 10. Oktober 1962 erschienen war, hatte die mangelhafte Rüstungspolitik sowie die daraus folgenden Bemühungen des damaligen Verteidigungsministers Franz Josef Strauß um den Zugang zu Atomwaffen offenbart. Die infolge des Artikels erfolgten Festnahmen der »Spiegel«-Redakteure wegen
25 O. V., Mahnmal für Carl von Ossietzky. In: Einheit. Organ der Industriegewerkschaft Energie und Bergbau Essen vom 1.5.1963, S. 5. 26 Von Ossietzky hatte im Jahr 1929 Geheimpapiere des Verkehrsministeriums veröffentlicht, welche die gegen den Versailler Vertrag verstoßende Wiederaufrüstung der deutschen Republik belegten. Daraufhin war er wegen Landesverrats vor dem Reichsgericht zu einer Haftstrafe von 18 Monaten verurteilt worden, aus der er vorzeitig entlassen wurde. Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme wurde von Ossietzky noch in der Nacht des Reichstagsbrandes verhaftet und letztlich ins Konzentrationslager Esterwegen gebracht. Ossietzky wurde, während er in Esterwegen inhaftiert war, für den Friedensnobelpreis nominiert, der ihm in Abwesenheit im Jahr 1936 verliehen wurde. Zu von Ossietzky, seiner politischen Publizistik und der Verleihung des Friedensnobelpreises im Jahr 1936 vgl. Wolfgang Wippermann, Der umstrittene Friedensnobelpreisträger Carl von Ossietzky. In: Hans Kloft (Hg.), Friedenspolitik und Friedensforschung. Der Friedensnobelpreisträger aus Deutschland, Berlin 2011, S. 45–56; Gerhard Kraiker/Elke Suhr, Carl von Ossietzky, Hamburg 1994; Elke Suhr, Carl von Ossietzky, Köln 1988; Hermann Vinke, Carl von Ossietzky, Hamburg 1978. 27 Vgl. zur »Spiegel-Affäre« u. a. Martin Doerry/Hauke Janssen (Hg.), Die SPIEGEL-Affäre. Ein Skandal und seine Folgen, München 2013; von Hodenberg, Konsens und Krise, S. 323–360; Frank Bösch, Öffentliche Geheimnisse. Die verzögerte Renaissance des Medienskandals zwischen Staatsgründung und Ära Brandt. In: Bernd Weisbrod (Hg.), Die Politik der Öffentlichkeit – Die Öffentlichkeit der Politik. Politische Medialisierung in der Geschichte der Bundesrepublik, Göttingen 2003, S. 125–150.
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Alte und neue Akteure
Landesverrats lösten in der Bundesrepublik aufgrund des harschen Vorgehens gegen Pressevertreter heftige Proteste aus.28 Auch hatte der Vergleich mit dem Schicksal von Carl von Ossietzky und der »Spiegel«-Redaktion zu dieser Zeit Konjunktur.29 Vor dem Hintergrund der Diskussion um die Aufnahme einer Notstandsverfassung ins Grundgesetz rückten Anfang der 1960er-Jahre zudem die Notverordnungen in der Weimarer Republik und die Auflösung der Pressefreiheit durch die Nationalsozialisten wieder stärker ins öffentliche Bewusstsein.30 Wenngleich im Zuge der »Spiegel-Affäre« von Ossietzky eine Art Renaissance erlebte und die Bedeutung der Massenmedien für die Mobilisierung einer kritischen Öffentlichkeit zunahm,31 schien das Denkmalprojekt der Jugendgewerkschaftsgruppe am Widerstand kommunaler Politiker zu scheitern. Jugendsekretär Albus hatte im Sommer 1963 den Landkreis Aschendorf-Hümmling besucht, um vor Ort die Genehmigung für das Mahnmal einzuholen, und war dort laut eigener Aussage bei der Bevölkerung auf Desinteresse und bei den Behörden auf Ablehnung gestoßen. Die »Neue Ruhrzeitung« berichtete am 1. August 1963, dass bislang weder ein Grundstück zugesichert noch die Genehmigung für das Denkmal eingeholt werden konnte.32 Dank der Unterstützung führender SPD-Landespolitiker, wie dem Präsidenten des niedersächsischen Landtages und Gewerkschafter Richard Lehners und dem niedersächsischen Ministerpräsidenten Diederichs, konnte das Denkmal jedoch gegen den Willen emsländischer Kommunalpolitiker letztendlich auf dem Friedhof Bockhorst-Esterwegen errichtet und am 5. Oktober 1963 eingeweiht werden.33 Damit hatten sich zwar sozialdemokratische Landespolitiker im Hinblick auf das gewerkschaftliche Carl-von-Ossietzky-Denkmal durchgesetzt, das Gremium auf kommunaler Ebene entschied aber am 26. September 1963 gegen den Bau der Sühnekapelle auf dem Friedhof und erzielte damit zumindest einen Teilerfolg. Denn erneut
28 Vgl. Herbert, Geschichte Deutschlands, S. 757–759. 29 Vgl. o. V., Wer war Carl von Ossietzky. Eine Dokumentation aus möglicherweise gegebenem Anlaß. In: Die Zeit vom 9.11.1962. 30 Vgl. Boris Spernol, Notstand der Demokratie. Der Protest gegen die Notstandsgesetze und die Frage der NS-Vergangenheit, Essen 2008, S. 24. 31 Vgl. Christina von Hodenberg, Die Journalisten und der Aufbruch zur kritischen Öffentlichkeit. In: Ulrich Herbert (Hg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland, S. 278–311, besonders 309–311. 32 O. V., Noch kein Platz für das Mahnmal. In: Neue Ruhrzeitung vom 1.8.1963. 33 Zuvor hatte Richard Lehners im Gespräch mit dem Innenminister seine Zweifel an der von Tiedeken verbreiteten Deutung geäußert. Vgl. Vermerk Niedersächsisches Innenministerium vom 4.10.1963 (NMfIS, 199 141/14 Band I, Bl. 78). Die Findlinge, aus denen das Denkmal bestand, spendete die Staatliche Moorverwaltung. Vgl. Direktion der Staatlichen Moorverwaltung Emsland an Oberregierungsrat Badry vom 2.9.1963 (NLA OS, Rep 947 Lin I, Nr. 620, fol. 175–225, Bl. 217).
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wurde die Entscheidung damit begründet, dass eine Kapelle an diesem Ort den Eindruck erwecken könnte, »dass auf dem Friedhof in Bockhorst-Esterwegen nur Menschen lägen, die für ihre politische Überzeugung gestorben bzw. ermordet worden seien«, wie Badry in einem Schreiben an seinen Vorgesetzten angibt. Diesen Eindruck galt es aus Sicht des Gremiums unbedingt zu vermeiden.34 An der von der Gewerkschaftsjugend organisierten Einweihungsfeierlichkeit am 5. Oktober 1963 nahmen prominente Vertreter des DGB und ehemalige politische Häftlinge teil, unter ihnen der Gewerkschafter Johann Esser (1896–1971), der 1933 als Schutzhäftling im KZ Börgermoor festgehalten worden war und hier das Moorsoldatenlied verfasste. Der stellvertretende Bundesvorsitzende des DGB Hermann Beermann (1903–1973) hob in seiner Rede die Rolle der Gewerkschaftsmitglieder im Widerstand gegen den Nationalsozialismus hervor.35 Jugendsekretär Albus hingegen konzentrierte sich in seiner Rede ganz auf von Ossietzky: »Es ist nicht Schuld der heutigen Jugend, dass es erst einer gewissen Furcht vor Einschränkungen von Grundfreiheiten bedurfte, um Carl von Ossietzky nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Gerade er, der 1945 der unabhängigste Publizist der Weimarer Zeit genannt wurde, hätte mehr als Worte verdient. Die Gedenktafel soll nicht schrankenlose Begeisterung zu einer Idee, sondern Dank und Anerkennung für beispiellosen Mut sein. Unsere Freiheit verdanken wir nicht den Helden ehemaliger Geschichtsbücher, sondern den Aufrechten in schwerer Zeit. Dieses Mahnmal soll nicht anklagen, sondern versöhnen. Die Jugend der Bundesrepublik sollte täglich neue Entdeckungen dieser Art suchen. Menschlichkeit muss durch Taten, nicht durch leere Worte getragen werden.«36
Wie bereits in der Stellungnahme der jungen Wehrdienstgegner aus dem Jahr 1956, die in Kapitel IV beschrieben wurde, betonte auch Albus, dass er die Stimme der Jugend einnehme.37 Die Jugend stand für ihn für einen neuen Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit, die sich nicht länger die »Helden ehemaliger Geschichtsbücher«, sondern die »Aufrechten in schwerer Zeit« zum
34 Oberregierungsrat Badry an Generalstaatsanwalt in Oldenburg, Betr.: Friedhof Bockhorst- Esterwegen am Küstenkanal vom 27.9.1963 (NLA OS, Rep 947 Lin I, Nr. 620, fol. 175–225, Bl. 207). Badry wurde erst am 25.9.1963 telefonisch über die Entscheidung informiert – nur einen Tag bevor das bereits erwähnte Kuratorium sich zur Abstimmung über das Projekt Sühnekapelle treffen sollte. Dieses Treffen war also ganz entscheidend durch die von der Gewerkschaftsgruppe geplante Denkmalsetzung geprägt. Aufgrund der einseitigen Ausrichtung des Kuratoriums konnte daher am 26.9.1963 die Entscheidung gegen den Bau einer Sühnekapelle fallen. 35 Vgl. o. V., Auf der Suche nach Vorbildern. Gewerkschaftsjugend weihte Mahnmal für Carl von Ossietzky ein. In: Ems-Zeitung vom 7.10.1963. 36 O. V., Der vergessene Kämpfer. Im Emsland: Ein Mahnmal erinnert an Carl von Ossietzky. In: Die Einheit. Organ der Industriegewerkschaft Energie und Bergbau Essen, o. D. (2. Oktoberausgabe 1963), S. 1. 37 Vgl. Philipp Sarasin, Diskurstheorie und Geschichtswissenschaft. In: Keller/Hirseland/Schneider/Viehöver (Hg.), Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse, S. 61–90, besonders 76–78.
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Vorbild nimmt. Bis auf diesen Appell werden in der Rede keine historischen Bezüge hergestellt – auch nicht zur nationalsozialistischen Verfolgung von Sozialdemokraten und Gewerkschaftsmitgliedern. Wenngleich die Gewerkschaftsjugend noch keine radikale Anklage gegen die Ereignisgeneration erhob, trägt die Denkmalinitiative doch bereits Anleihen einer generationsspezifischen, weil intergenerationell ausgehandelten Erinnerungskultur. Denn das Vorgehen des Staates gegen Journalisten hatte den Impuls gegeben, aktiv nach Vorbildern in der Geschichte zu suchen, die im Sinne der Verteidigung der Grundrechte einer positiven Traditionsbildung dienen konnten. Mit der Denkmalinitiative grenzte sich somit erstmals ein jugendlicher Akteur gegen die von Angehörigen der Ereignisgeneration geprägte Vergangenheitsdeutung ab.38 Die Personalisierung und Gegenwartsbezogenheit der Denkmalinitiative erhöhten den Bekanntheitsgrad des Friedhofs, die Geschichte der Emslandlager wurde zunehmend als Gegenstand der Jugendarbeit entdeckt und der Platz vor dem Carl-von-Ossietzky-Stein entwickelte sich zum zentralen Ort von Gedenkveranstaltungen. In Bezug auf die Jugendarbeit sticht eine im Jahr 1964 vom »Referat politische Bildung der Abteilung Jugend und Sport des Bezirksamtes Kreuzberg« organisierte Gedenkfahrt hervor.39 Hier trafen 350 Jugendliche und junge Erwachsene (14- bis 25-Jährige) aus Berlin, Bremen und den Niederlanden am 7. Juni auf dem Friedhof Bockhorst-Esterwegen zu einer Gedenkfeier zusammen. Gestaltet wurde die Gedenkfeierlichkeit, die vor dem Gedenkstein stattfand, von »jungen Schauspielern des Berliner Forum-Theaters der Max-Reinhardt-Schule« und dem berühmten Kantor der Berliner jüdischen Gemeinde und Holocaust-Überlebenden Estrongo Nachama.40 Einzuordnen ist die Gedenkfahrt in
38 Vgl. o. V., Der vergessene Kämpfer. Im Emsland: Ein Mahnmal erinnert an Carl von Ossietzky/Der Vergessenheit entrissen. In: Die Einheit, o. D. (2. Oktoberausgabe 1963). O. V., Jugend errichtet Ossietzky-Mahnmal in Nähe des ehemaligen KZ Esterwegen. Bundesjugendring begrüßt Ehrung des Friedensnobelpreisträgers. In: Rhein-Ems-Zeitung vom 3.10.1963; o. V., Zum ständigen Gedenken Ossietzky. In: Westdeutsche Allgemeine Zeitung vom 7.10.1963. 39 Das Jugendamt Bremen fragte beispielsweise nach dem Gräberverzeichnis des Friedhofs Bockhorst-Esterwegen (NLA OS, Rep 947 Lin I, Nr. 620, fol. 175–225, Bl. 217), und das Bezirksamt Kreuzberg, Abteilung Jugend und Sport, wandte sich in Vorbereitung der im Juni stattfindenden Gedenkfahrt an Badry, um nähere Informationen zu den Lagerstandorten Esterwegen und Börgermoor zu erhalten. Vgl. Bezirksamt Kreuzberg an Badry vom 1.4.1964 (NLA OS, Rep 947 Lin I, Nr. 620, fol. 175–225, Bl. 218). Fritz Majer-Leonhard, Leiter der »Hilfsstelle für Rasseverfolgte bei der Evangelischen Gesellschaft« wandte sich darüber hinaus seit der Denkmalstiftung für von Ossietzky wiederholt an Badry, um weitere Informationen über die Lager und Friedhöfe zu erhalten. Vgl. Hilfsstelle für Rasseverfolgte bei der Evang. Gesellschaft an Vorstand der Strafanstalt, Betr.: Gräberhilfe für Verfolgungsopfer »Gewahrsams-Opfer des Dritten Reiches« vom 4.7.1964 (NLA OS, Rep 947 Lin I, Nr. 620, fol. 230–288, Bl. 222, und fol. 175–229, Bl. 227). 40 Pressemeldung dpa-Landesdienst vom 3.6.1964 (NMfIS, 199 141/14 Band I, Bl. 91).
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die seit Ende der 1950er-Jahre staatlich stärker unterstützte Jugendarbeit, insbesondere im Bereich der politischen Bildung, die u. a. auf die Hakenkreuzschmierereien zurückzuführen ist. Wenngleich die Fahrt ins Emsland von einer Behörde und nicht von den Jugendlichen selbst organisiert worden war, veröffentlichte im Anschluss einer der jugendlichen Teilnehmer eigeninitiativ einen Aufsatz, der deutlich Kritik am Schweigen der regionalen Akteure übte. Darin wird die Gewerkschaftsjugend dafür gelobt, dass sie ein Jahr zuvor »gegen die Intention der örtlichen Behörden die überwucherten und verfallenen Gräber dieses Waldfriedhofes dem Vergessen entrissen« hatte.41 Mit der Stiftung des Denkmals nahm zugleich das Interesse an den Moorsoldatentreffen zu. Seit Mitte der 1960er-Jahre nahm an ihnen nicht mehr nur die Lagergemeinschaft teil, sondern auch Gewerkschaftsangehörige, Vertreterinnen und Vertreter der westdeutschen Friedensbewegung, Mitglieder der Evangelisch-reformierten Kirche Nordwestdeutschlands und Studierendenvertretungen aus der Umgebung.42 Ein prominenter Unterstützer der Treffen war Friedrich Justus Heinrich Middendorf, der zwischen 1946 und 1953 als Kirchenpräsident der Evangelisch-reformierten Kirche amtierte und seit 1960 die Deutsche Friedensunion (DFU) vertrat. Diese Kleinpartei, die nach dem Verbot der KPD als Auffangbecken von Kommunisten galt, hatte zwar tatsächlich viele kommunistische Mitglieder, stellte aber auch eine Alternative für Christen, enttäuschte Sozialdemokraten und Liberale dar, die im Umfeld der Ostermarsch-Bewegung zu verorten waren.43 Eine weitere Unterstützerin aus dem christlich-pazifistischen Milieu war Gertrud Wolferts. Sie war eine der Mitbegründerinnen der »Westdeutschen Frauenfriedensbewegung« (WFFB), einem überparteilichen Zusammenschluss von Friedensaktivistinnen, der sich aus Protest gegen die Wiederbewaffnung Anfang der 1950er-Jahre gegründet hatte.44 Für die lokale Unterstützung aus
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Gräber der Moor-Opfer sind nicht vergessen! In: Nachrichten aus der Gräber-Hilfe für Verfolgungs-Opfer, August 1964 (NLA OS, Rep 947 Lin I, Nr. 620, fol. 175–225, Bl. 223). 42 Vgl. AG Moorsoldaten, Bericht über die Arbeitstagung des Komitees vom 25.4.1969 (VVN-Archiv Niedersachsen, N0028, AugBau0052, unpag.). 43 Vgl. Wolf-Dieter Hauschild, Evangelische Kirche in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1961 und 1979. In: Siegfried Hermle/Claudia Lepp/Harry Oelke (Hg.), Umbrüche. Der deutsche Protestantismus und die sozialen Bewegungen in den 1960er und 1970er Jahren, 2. Auflage, Göttingen 2012, S. 51–90, besonders 75–77. Zur anti-antikommunistischen Haltung innerhalb des deutschen Protestantismus vgl. Mirjam Loos, Antikommunistische und anti-antikommunistische Stimmen im evangelischen Kirchenmilieu. Die Debatte um Wiedervereinigung, Westbindung und Wiederbewaffnung. In: Creuzberger/Hoffmann (Hg.), »Geistige Gefahr«, S. 199–213. 44 Vgl. Gaby Swiderski, Die westdeutsche Frauen-Friedensbewegung in den fünfziger Jahren, Hamburg 1983. Unterzeichner des Aufrufs zum Moorsoldatentreffen im Jahr 1969: »Pastor Middendorf, Kirchenpräsident i. R. Schüttorf, Landesjugendpastor Theodor Immer (Leer), Prof. Hans-Joachim Gamm (Oldenburg), Dr. med. H. Specht (Nordhorn), Baron C. A. von Pentz
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protestantischen Kreisen stand überdies Theodor Immer, Landesjugendpastor in Leer. Er hielt seit 1964 regelmäßig Gedenkreden und mahnte aus christlicher Perspektive zur Erinnerung.45 Die Moorsoldatentreffen öffneten sich also in den 1960er-Jahren, sie wurden über das Erinnerungsmilieu ehemaliger Gefangener hinaus zunehmend anschlussfähig für Akteure unterschiedlichen Alters und mit unterschiedlichen Hintergründen, die sich auf die Forderung des »Nie wieder« einigen konnten. Dem niedersächsischen Innenministerium war das gesteigerte öffentliche Interesse ein Dorn im Auge, wie ein Schreiben des zuständigen Referenten im Innenministerium zeigt. Er teilte darin der Osnabrücker Mittelbehörde mit, dass die Besuchenden des Friedhofs aufgrund des Denkmals und der »ungenügenden Berichterstattung der Presse« der Annahme seien, dass es sich bei den »Toten um Opfer des Nationalsozialismus« handele.46 Der Beamte schlug vor: »Es ist daher vorgesehen, [...] eine Kupferplatte o. Ä. anzubringen, deren Inschrift darauf hinweist, dass die im Konzentrationslager umgekommenen Opfer des Nationalsozialismus auf dem Friedhof Versen zur Ruhe gebettet worden sind. Sobald sich der Deutsche Gewerkschaftsbund – auf dessen Veranlassung der Gedenkstein aufgestellt worden ist – und auch der Herr Nieders. Minister der Justiz mit der Maßnahme einverstanden erklärt haben, werde ich auf die Angelegenheit zurückkommen.«47
Am 30. Juni 1966 wies das Referat Kriegsgräberstätten im Innenministerium den Osnabrücker Regierungspräsidenten an, den geplanten Gedenkstein mit folgendem Text zu versehen: »Zum Gedenken an die im Konzentrationslager Esterwegen umgekommenen Opfer des Nationalsozialismus. Ihre sterblichen Überreste ruhen in Versen.«48 Im September 1966 schließlich, wenige Tage nach einem Treffen der Moorsoldaten, wurde in Absprache mit dem DGB und dem
(Wilhelmshaven), Ludwig Landwehr (Landesv. der VVN Niedersachsen), Pastor Fr. Bultmann (Gandeskeese), Bürgermeister Klaas Meyer (Ostfriesland), Bauer Erwin Oltmann (Woltzeten), Oberstudienrat Dr. J. Göken (Lingen), Berthold Kruse, Fritz Erichsen (Städt. Angesteller Osnabrück), Stadtdirektor a. D. August Lückgen (Wilhelmshaven), Prof. Burkhard Schomburg (Osnabrück), Pastor Gerhard Brüning (Osnabrück), Werner Hohmann (Osnabrück).« Aufruf zum Moorsoldatentreffen am 14.6.1969 (Aktionskomitee DIZ Emslandlager e. V., Papenburg, Sammlung Moorsoldaten, unpag.). 45 Vgl. Theodor Immer, Evangelisch-reformierte Kirche in Nordwestdeutschland, Landesjugendpastor Leer, an Lagergemeinschaft vom 27.5.1969 (VVN-Archiv Niedersachsen, N0028 AugBau0052, unpag.). 46 Niedersächsisches Ministerium des Innern an Regierungspräsident in Osnabrück, Betr.: Gedenkstein auf dem Friedhof in Bockhorst-Esterwegen vom 5.11.1964 (NMfIS, 199 141/14 Band I, Bl. 104–105). 47 Ebd. 48 Niedersächsisches Ministerium des Innern an Regierungspräsident in Osnabrück, Betr.: Friedhof der Justizverwaltung in Bockhorst-Esterwegen Ldkr. Aschendorf-Hümmling vom 30.6.1966 (NMfIS, 199 141/14 Band V, Bl. 10).
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niedersächsischen Justizminister nur unweit des Carl-von-Ossietzky-Denkmals ein zweiter Stein mit oben zitierter Inschrift aufgestellt. Wie noch zu zeigen sein wird, führte die Stiftung des zweiten Steins jedoch keineswegs zum Verstummen der kritischen Stimmen.49 Denn seit Anfang der 1960er-Jahre war erstmals von einer breiteren Öffentlichkeit die Widersprüchlichkeit der Stigmatisierung der Gefangenen wahrgenommen worden: Diederichs und von Ossietzky entsprachen weder dem Bild des kriminellen Strafgefangenen noch des bedrohlichen Kommunisten. Während die Aktivitäten der »Emsland-Lagergemeinschaft« sechs Jahre zuvor noch mit dem Argument der »kommunistischen Tarnorganisation« abgewehrt werden konnten, war dies sowohl im Falle der Kritik des Ministerpräsidenten Diederichs als auch der Denkmalstiftung für von Ossietzky durch die Gewerkschaftsjugend nicht mehr möglich – auch mit einem symbolischen Korrektiv ließ sich diese Deutung nicht länger aufrechterhalten. 1.2
»Nestbeschmutzer«: die Lokaljournalisten Vinke und Kromschröder
»Und meine Generation, die von Kromschröder und mir, die hat gesagt: Jetzt haben wir die Nase voll. Das reicht uns jetzt. Wir wollen wissen, was passiert ist. Wir wollen wissen, was unsere Eltern, die Generation unserer Eltern im Krieg gemacht haben und wieso. Und hier vor der Haustür wollen wir es ganz genau wissen.«50 Diese Passage ist einem Interview mit dem Journalisten Hermann Vinke (*1940) entnommen, das im Sommer 2014 geführt wurde. Ebenfalls interviewt wurde sein ehemaliger Kollege Gerhard Kromschröder (*1941), mit dem er in den 1960er-Jahren bei der »Ems-Zeitung« arbeitete und für eine Reihe kritischer Artikel über die Emslandlager und den regionalen Umgang mit den Lagern verantwortlich war. Die Aussage von Vinke aus dem Jahr 2014 kann als typisch für ein retrospektives Generationenbewusstsein gelesen werden, das in den 1960er-Jahren nicht auf dieselbe Weise ausgeprägt gewesen sein mag.51 Dennoch bringt Vinke hier den damaligen Willen zur Enttabuisierung der nationalsozialistischen Vergangenheit plastisch zum Ausdruck. Diese Forderung teilte er Anfang der 1960er-Jahre mit dem fast gleichaltrigen Gerhard Kromschröder. Vinke hatte im zweiten Jahr seines Volontariats bei der damaligen »Neuen Tagespost« die Verantwortung für die Lokalredaktion übernommen, zunächst kommissarisch, dann als Redakteur. Mit Kromschröder arbeitete er für die Bezirksausgabe der 49 50 51
Vgl. Hermann Vinke, Über Nacht stand plötzlich ein zweiter Gedenkstein auf dem Lagerfriedhof. In: Ems-Zeitung vom 1.10.1966. Hermann Vinke im Gespräch mit A. Düben, am 5.6.2014. Zur retrospektiven Konstruktion der 68er-Generation vgl. Michał Stefański, Die 68er-Generation vor Gericht. Untersuchungen zu den Konfliktsituationen in den Texten der 85er-Generation, Frankfurt a. M. 2013, S. 71.
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»Neuen Tagespost«, die »Ems-Zeitung«, zwischen 1963 und 1967 zusammen.52 Ende der 1960er-Jahre sprach die Verlagsleitung gegenüber beiden die Kündigung aus. Zunächst verließ Kromschröder im Jahr 1967 die Redaktion, und Vinke musste in der Folge die Verantwortung für die Lokalausgabe mit einem anderen Kollegen teilen, bevor auch er ein Jahr später gehen musste. Ausschlaggebend für die Kündigung durch die konservative Chefredaktion dürfte dabei insbesondere die Berichterstattung von Vinke und Kromschröder über die Emslandlager und das regionale Schweigen über die NS-Vergangenheit gewesen sein, aber auch über andere im katholischen Emsland unübliche Themen wie die Kritik an Konfessionsschulen.53 Um zu beleuchten, was diese jungen Journalisten antrieb, sich mit den Emslandlagern zu beschäftigen, inwiefern ihnen ein Erfahrungshintergrund gemeinsam war und inwieweit ein neues journalistisches Selbstverständnis sowie eine neue journalistische Praxis dabei eine Rolle spielten, werden im Folgenden ihre Selbstbeschreibungen vergleichend untersucht und ihre Rolle als Akteure, als Impuls- und Stichwortgeber der Jugend im nördlichen Emsland beschrieben.54 Kromschröder war in Frankfurt am Main in einfachen und, wie er 2014 angibt, unpolitischen Verhältnissen aufgewachsen. Tief in sein Gedächtnis eingebrannt haben sich die Bunkeraufenthalte als Kind während der Luftangriffe auf Frankfurt, die er mit beiden Elternteilen erlebte, denn sein Vater nahm nicht am Krieg teil.55 Bereits als Jugendlicher beschäftigte Kromschröder die Frage, »wie die monströsen Verbrechen, die die Nazis verübt haben, wie die zustande gekommen sind«.56 Diese Frage prägte seine gesamte berufliche Entwicklung und Politisierung. So verweigerte er nach dem Abitur den Wehrdienst, schrieb sich an der Universität Frankfurt ein, wo er im Rahmen seines Soziologiestudiums Vorlesungen von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno hörte, und war in der Ostermarsch-Bewegung aktiv.57 In dieser Zeit las er von Ossietzkys Texte, auch war ihm das Moorsoldatenlied in der Fassung von Ernst Busch bekannt.
52
Vgl. Harpel, Die Emslandlager des Dritten Reichs, S. 181. Die »Ems-Zeitung«, der Lokalteil der in Osnabrück herausgegebenen »Neuen Tagespost«, die im Jahr 1967 in »Neue Osnabrücker Zeitung« umbenannt wurde, gehörte zu insgesamt sieben Lokalausgaben der Osnabrücker Zeitung. Die Bezirksausgaben wurden mit dem überregionalen Teil, der in Osnabrück entstand, zu einer Zeitungsausgabe zusammengefügt. 53 Die Karriere dieser später sehr erfolgreich werdenden Journalisten nahm vom Emsland ihren Lauf und war dabei von dem von Vinke formulierten enttabuisierenden Impetus geprägt: Gerhard Kromschröder trug beispielsweise in den 1970er-Jahren, noch vor Günter Wallraff, dazu bei, die Methode der Undercover-Recherche in Deutschland zu etablieren. 54 Zum Thema der Protestbewegungen im ländlichen und kleinstädtischen Milieu vgl. Julia Paulus (Hg.), »Bewegte Dörfer«: Neue soziale Bewegungen in der Provinz 1970–1990, Paderborn 2018. 55 Vgl. Gerhard Kromschröder im Gespräch mit A. Düben, am 6.6.2014. 56 Ebd. 57 Vgl. ebd.
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Dass dieses Lied im Emsland gedichtet worden war, wurde ihm jedoch erst bewusst, als er mit seiner aus Meppen stammenden Frau nach Papenburg zog, um hier ein Volontariat zu beginnen.58 Der im emsländischen Rhede aufgewachsene Hermann Vinke, in dessen frühesten Kindheitserinnerungen ebenfalls der Krieg und die Luftangriffe einen dominanten Platz einnehmen, war in seiner Jugend unmittelbarer mit den Emslandlagern in Berührung gekommen. Unweit seines Heimatdorfes befand sich das Lager Brual-Rhede, dessen Gefangene in der Umgebung zur Zwangsarbeit eingesetzt waren. Alltäglich und sichtbar war die Gefangenenarbeit bei der Entwässerung der Moore. Im Jahr 2014 erinnert sich Vinke daran, von der Existenz der Emslandlager zwar zu wissen, aber weder in der Schule noch innerhalb der Familie Näheres in Erfahrung bringen zu können.59 Während Kromschröder Antworten zur in weiten Teilen gesellschaftlich beschwiegenen jüngsten Vergangenheit in der Kritischen Theorie suchte, setzte sich Vinke als junger Erwachsener kritisch mit dem Katholizismus und damit zugleich seinem Umfeld auseinander, dem tiefkatholisch geprägten Emsland.60 Kromschröder und Vinke beschreiben in den Gesprächen im Jahr 2014 beide ein Spannungsgefühl angesichts ungeklärter Fragen zur nationalsozialistischen Vergangenheit, das jedoch nicht dazu führte, innerfamiliäre Konflikte auszutragen. Die Forderung nach einem Ende des Schweigens richteten sie vielmehr an die gesamte bundesrepublikanische Nachkriegsgesellschaft und deren Eliten, wobei sich die kritisierten Strukturen aus ihrer Sicht im Emsland verdichteten und hier konkret wurden. So gibt Kromschröder an, dass sich im Emsland die »Realität bestätigt. Auch die ganze Verweigerung der vorherigen Generation, diese Dinge nicht zu akzeptieren, zu leugnen, zu verdrängen, der Versuch, das alles zu vergessen und unterzupflügen.«61 Er führt weiterhin aus: »Der Hinweis auf den Schrecken im Moor am Beispiel der Emslandlager war eine Anklage betreffend den Zustand der BRD und ihren Umgang mit dem Dritten Reich.«62 Den von ihm erwähnten Zustand erläutert Vinke, indem er auf den historischen Kontext 58
»Nein, nein, überhaupt nicht. Ich hab’, als ich in Frankfurt war, überhaupt kein Bild gehabt. Nur kam meine Frau daher. Wie gesagt, ich kannte das Moorsoldatenlied, ich kannte Ossietzky und durch Zufall bin ich dann dahin gekommen, wo Geschichte, ein Teil der Geschichte, die mich interessiert hat, real stattgefunden hat.« Vgl. ebd. 59 Marcuse greift die Leerstelle Nationalsozialismus in den Curricula der 1960er-Jahre auf. Folge sei eine emotionale Distanz zu den NS-Verbrechen gewesen, die der ersten Nachkriegsgenera tion so fern gewesen seien wie die Verbrechen der Inquisition in der Frühen Neuzeit. Vgl. Marcuse, The Legacies of Dachau, S. 305. 60 Vinke las vor Beginn des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962–1965) in einem philosophischen Lesekreis Schriften von Pierre Teilhard de Chardin und anderen reformorientierten Theologen. Hermann Vinke im Gespräch mit A. Düben, am 5.6.2014. 61 Gerhard Kromschröder im Gespräch mit A. Düben, am 6.6.2014. 62 Ebd.
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der 1960er-Jahre eingeht, aber auch die regionale Mentalität und Kultur im Besonderen betont: »Dieser Kalte Krieg, die Berliner Mauer, das alles spielte auch in den Köpfen der Emsländer eine Rolle, und darüber hinaus die Bedeutung der Geistlichkeit in der politischen Kultur im Emsland.«63 Während Kromschröder und Vinke diesen gesellschaftskritischen Blick auf die Bundesrepublik und insbesondere deren ländliches und konservatives Milieu mit anderen Angehörigen ihrer Generation teilten, kam ihnen als Journalisten jedoch ein wirkmächtiges Medium der Auseinandersetzung zu, wobei ihnen gerade die Arbeit in der Lokalredaktion in Papenburg, über 100 Kilometer von der Chefredaktion in Osnabrück entfernt, besondere journalistische Freiheiten gewährte. Der Verlag in Osnabrück zahlte für die technische Herstellung jeder Seite der »Ems-Zeitung«, die in Papenburg gesetzt und gedruckt wurde, einen bestimmten Betrag. Da Kromschröder und Vinke viele Seiten produzierten, erhöhte sich das Entgelt für den lokalen Zeitungsdruck. Die Chefredaktion in Osnabrück hatte durch dieses Verfahren zudem kaum Zugriff auf die Druckinhalte.64 Hinsichtlich ihrer journalistischen Methoden und ihres Selbstverständnisses betonen sowohl Kromschröder als auch Vinke die Vorbildfunktion des »Spiegels«, dessen Grundsätze »unabhängig, investigativ und aufklärend« sie sich aneigneten.65 Mit einem distanziert-kritischen Blick lehnten sie Vereinnahmungsversuche vonseiten der lokalen Honoratioren ab – Einladungen zum Teetrinken und zu Tennismatches – und berichteten über die klassischen Themen des Lokaljournalismus hinaus auch über die regionale »Last der Vergangenheit«.66 Dieser wurde sich entsprechend dem investigativen Vorgehen mithilfe erster Zeitzeugeninterviews genähert. Die beiden Journalisten befragten Anwohnerinnen und Anwohner der Lager, Angehörige der Wachmannschaften und ehemalige Gefangene. Wenn Kromschröder zu Besuch in Frankfurt war, recherchierte er im Archiv der VVN-Wochenzeitung »die tat« nach historischen Dokumenten und Bildern.67 Außerdem waren Kromschröder und Vinke die ersten Lokaljournalisten, die über die in den 1960er-Jahren wieder regelmäßig stattfindenden Moorsoldatentreffen im Emsland berichteten. Wenngleich sie dabei die Instrumentalisierung vonseiten der Teilnehmenden aus der DDR kritisierten,68 zeigten sie
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Hermann Vinke im Gespräch mit A. Düben, am 5.6.2014. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Von Hodenberg, Konsens und Krise, S. 307. Vgl. Gerhard Kromschröder im Gespräch mit A. Düben, am 6.6.2014. Unter der Rubrik »Offen gesagt ...« kritisierte Gerhard Kromschröder die offene Agitation Perks für den »Ulbricht-Staat« während seiner Rede auf dem am 17. September 1966 stattgefundenen Moorsoldatentreffen. So hatte Perk von »einer Mauer des Hasses und des Kalten Krieges, die abgebaut werden muss«, gesprochen, jedoch mit keinem Wort die Berliner Mauer erwähnt. Gerhard Kromschröder, Demokratisch. In: Ems-Zeitung vom 17.9.1966.
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sich mit den ehemaligen Widerstandskämpfern doch grundsätzlich solidarisch und pflegten mit den Mitgliedern der »Emsland-Lagergemeinschaft« Kruse und Baumgarte einen engeren Kontakt.69 Aus Solidarität mit der Lagergemeinschaft sowie dem Anspruch, das Publikum aufzuklären, agierten Kromschröder und Vinke seit Mitte der 1960er-Jahre zunehmend konfrontativ, setzten Mittel der Skandalisierung ein und vernetzten sich mit Medienangehörigen überregionaler Reichweite. Ein unmittelbarer Auslöser für eine stärkere Positionierung war dabei die Aufstellung des zweiten Gedenksteins durch das Innenministerium. Am 1. Oktober 1966 veröffentlichten Kromschröder und Vinke in der »Ems-Zeitung« einen umfassenden Bericht unter dem Titel: »Über Nacht stand plötzlich ein zweiter Gedenkstein auf dem Lagerfriedhof. Das Emsland sollte endlich ein ehrliches Zeichen auf dem Friedhof errichten.«70 Kurze Zeit später veröffentlichte die »Frankfurter Rundschau« eine kurze Meldung über den Gedenkstein, auf die Reimar Allerdt stieß, Redakteur von »Report München«. Das Magazin »Report«, das 1962 auf Sendung ging und sich in den Anfangsjahren vornehmlich aus Journalisten der »45er« zusammensetzte, stand ähnlich wie »Panorama« vom Norddeutschen Rundfunk (NDR) für die Behandlung zeitkritischer Themen und legte einen Schwerpunkt auf die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Allerdt entschied, einen Beitrag über die Hintergründe der Stiftung des zweiten Gedenksteins zu drehen und die Bevölkerung von Papenburg und Umgebung zu den Emslandlagern zu befragen.71 Unterstützung erhielt er von den jungen Lokaljournalisten Kromschröder und Vinke. Aus dieser Zusammenarbeit entstand ein Beitrag, der am 14. November 1966 bundesweit ausgestrahlt wurde und in der Region Proteste auslöste, auf die noch näher eingegangen wird.72 Aufgrund ihrer ungewohnten und aneckenden Berichterstattung wurde Kromschröder und Vinke im Emsland mit zunehmender Skepsis begegnet, während sie überregional mit anderen Medienvertretern vernetzt waren. Doch auch im Emsland geriet die Jugend in Bewegung und unter ihr fanden Kromschröder und Vinke Gleichgesinnte, denn »die Jugendkultur hat nicht an der Kreisgrenze Halt gemacht«, wie Kromschröder 2014 konstatiert.73 Er, der damals erst 23 Jahre alt war, rief eine Schülerredaktion ins Leben, die zwischen 1964 und 1966
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Gerhard Kromschröder im Gespräch mit A. Düben, am 6.6.2014. Vgl. Hermann Vinke, Über Nacht stand plötzlich ein zweiter Gedenkstein auf dem Lagerfriedhof. In: Ems-Zeitung vom 1.10.1966. Vgl. von Hodenberg, Konsens und Krise, S. 320; Gerhard Lampe, Panorama, Report und Monitor. Geschichte der politischen Fernsehmagazine 1957–1990, Konstanz 2000, S. 147. Vgl. Reimar Allerdt im Interview mit Hermann Vinke. In: Ems-Zeitung vom 3.12.1966. Gerhard Kromschröder im Gespräch mit A. Düben, am 6.6.2014.
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eine Jugendseite in der »Ems-Zeitung« gestaltete.74 Die »junge redaktion« war ein Zusammenschluss von Schülerinnen und Schülern aus Papenburg und Umgebung. Sie gestaltete eine satirische Zeitungsseite, auf der »nur die Jugend zu Wort« kommen sollte und die aus kurzen Artikeln, Karikaturen und Collagen bestand.75 Hier wurden an die Lebenswelt der Jugendlichen anknüpfende Themen behandelt: Empfehlungen für Tanzveranstaltungen ebenso wie die Kritik an der Remilitarisierung der Bundesrepublik und der »unaufgearbeiteten« NS-Vergangenheit. Im Fokus aber stand die »provinzielle« Mentalität, die in einer Ausgabe unter der Rubrik »brennende Sorge [...] um das Gedeihen unseres heißgeliebten emsländischen Vaterlandes« verhandelt wurde.76 An anderer Stelle veröffentlichte die Jugendredaktion eine Fotocollage, die Soldaten der Wehrmacht neben denen der Bundeswehr zeigte und mit der Zeile »man geht nicht mehr ohne Hut« kommentiert war.77 Dass solcher Spott nicht unwidersprochen blieb, zeigt ein Leserbrief, der die Redaktion als »Nestbeschmutzer« beschimpfte und sie aufforderte, »gefälligst die Finger von den Uniformen unserer deutschen Wehrmacht, die zu tragen wir stolz gewesen sind«, zu lassen. Der Leser äußerte den Verdacht, dass die Redaktion »anscheinend vom Osten gekauft« sei.78 Der Kommunismusvorwurf lastete in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre ebenfalls auf dem Demokratischen Club Papenburg (DCP), der in der Region als »Kanal-Kommune« verschrien war.79 Neben Vinke, der, bevor er die Lokalredaktion im Jahr 1968 verließ, um bei verschiedenen Tageszeitungen in Nordrhein-Westfalen zu arbeiten, seine Mitgliedschaft verdeckt halten musste, bestand der Club aus Schülerinnen und Schülern, Auszubildenden und Studierenden, die in Papenburg und Umgebung lebten.80 In den 1970er-Jahren sollte sich u. a. aus diesem Kreis die Initiative für ein Dokumentations- und Informationszentrum
74 Die Gruppe von Schülerinnen und Schülern kann als Vorbote der sich Ende der 1960er-Jahre mobilisierenden linken Schülerbewegung gewertet werden. Zur Schülerbewegung vgl. Linde Apel, Gefühle in Bewegung. Autobiographisches Sprechen über die Jugend. In: Knud Andresen/ dies./Kirsten Heinsohn (Hg.), Es gilt das gesprochene Wort. Oral History und Zeitgeschichte heute, Göttingen 2015, S. 59–77; Axel Schildt, Nachwuchs für die Rebellion – die Schülerbewegung der späten 60er Jahre. In: Reulecke (Hg.), Generationalität und Lebensgeschichte, S. 229–251, hier 229–234. 75 Die Arbeit der »jungen redaktion« wurde letztlich mit der letzten Silvesterausgabe 1966 aufgrund zu geringer Teilhabe seitens der Jugendlichen eingestellt. Vgl. Junge Redaktion ist tot! In: Jugendseite, Ems-Zeitung vom 31.12.1966, S. 1. 76 Junge Redaktion, Es lebe die Provinz. In: Jugendseite, Ems-Zeitung vom 19.2.1966, S. 1. 77 Junge Redaktion, Man geht nicht mehr ohne Hut. Jung – der Stil der neuen Hüte. In: Jugendseite, Ems-Zeitung vom 27.2.1965, S. 1. 78 O. V., Pathologischer Schmierfink, Leserbriefe. In: Junge-Seite, Ems-Zeitung, o. D. (1965). 79 Hermann Vinke im Gespräch mit A. Düben, am 5.6.2014. 80 Vgl. Jureit, Generationenforschung, S. 62 sowie von Hodenberg, Konsens und Krise, S. 17.
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Abb. 4: Ausmeißelung durch den Demokratischen Club Papenburg vom 6. Juli 1969, Aktionskomitee DIZ Emslandlager e. V., Papenburg, Sammlung Kromschröder/Vinke; Quelle: Hermann Vinke, Bremen.
(DIZ) Emslandlager bilden.81 Der DCP fiel durch typische Handlungsmuster der »68er« auf: Die Mitglieder trafen sich zu Lesekreisen, organisierten die erste Anti-Vietnamkrieg-Demonstration im nördlichen Emsland und protestierten gegen die Notstandsgesetze.82 Eine wichtige Rolle bei der »inneren und äußeren Abgrenzung«, insbesondere von den Autoritäten im Emsland, s pielte die Kritik
81 Vgl. Vereinsregister der AG Papenburg VR 321 vom 12.12.1985 (NMfIS, 199 141/53 Band I, unpag.). 82 Vgl. Aufruf der ADF gegen den Truppenübungsplatz in Nordhorn: »Grafschafter, wißt Ihr, in welcher Gefahr wir leben?«, o. D. (1968) (BArch Berlin Lichterfelde, DR/117/12155, Teil II, unpag.).
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am regionalen Umgang mit den Emslandlagern.83 Vor allem der vom Innenministerium im Jahr 1966 auf dem Friedhof Bockhorst-Esterwegen gestiftete Stein mit seiner die Toten diskriminierenden Inschrift war für den DCP Anlass zum Protest. Während einer Gedenkveranstaltung der »Moorsoldaten« am 14. Juni 1969 übermalte Hermann Vinke im Beisein des Norddeutschen Rundfunks und des Deutschen Fernsehfunks aus der DDR in einer Art »Happening« den letzten Satz der Inschrift »ihre sterblichen Überreste ruhen in Versen«.84 Da die Farbe bald darauf wieder von den Behörden entfernt wurde, meißelten Vinke und drei weitere DCP-Mitglieder, die wenige Jahre später Teil der Gedenkstätteninitiative werden sollten, in der Nacht zum 5. Juli 1969 den letzten Satz des Gedenksteins aus.85 Während die Übermalung vor Publikum und Presse inszeniert worden war, liegt von der Ausmeißelung ein Bild vor, das zunächst nicht öffentlich verbreitet wurde, da mit strafrechtlichen Konsequenzen zu rechnen war. So wurden auch bald Ermittlungen von der Staatsanwaltschaft Osnabrück gegen die Aktivisten eingeleitet, die jedoch ein Jahr später »wegen Geringfügigkeit« eingestellt wurden. Der beschädigte Stein war in der Zwischenzeit abtransportiert worden und wurde nicht wieder aufgestellt.86 Kromschröder zog im Jahr 1967 wieder nach Frankfurt und arbeitete hier bei der Satirezeitschrift »Pardon«. Er kehrte aber auch nach seinem Umzug wiederholt ins Emsland zurück und beteiligte sich an Protestaktionen. Anlässlich einer im Jahr 1969 stattfindenden Gewerbeschau in Papenburg gestaltete und verteilte er ein Flugblatt, das in der Region für Furore sorgte. Die als »Extrablatt« aufgemachte Schrift trug den Titel: »Rund um Papenburg. Konzentrationslager … hinter Stacheldraht … gequält, gefoltert … auf der Flucht erschossen und der Rest ist Schweigen …« Sie zeigte Fotoaufnahmen von der Exhumierung der Opfer des Endphaseverbrechen, die am 1. Februar 1946 von den britischen Ermittlern aufgenommen worden waren. Darauf zu sehen waren nicht nur die verwesten Leichen, sondern erkennbar waren im Hintergrund auch die NS-Belasteten, die damals auf britische Anordnung hin den Aus- und Umbettungen beiwohnen mussten.87 Darüber hinaus war ein Bild von einer SA-Einheit abgedruckt, das
83 Detlef Siegfried, Time is on my Side: Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre, Göttingen 2006, S. 72. 84 Vgl. Nachrichtenstelle Nordhorn an niedersächsisches Innenministerium Abt. IV und das Landeskriminalamt Abt. D, Betr.: Emslandtreffen der ehemaligen Moorsoldaten am 14.6.1969, Bericht vom 16.6.1969 (NMfIS, 199 141/53 Band I, Bl. 22). 85 Vgl. Erster Oberstaatsanwalt in Osnabrück an Generalstaatsanwalt in Oldenburg, Betr.: Ermittlungsverfahren gegen Hermann Vinke, Hermann-Josef Stell, Wilfried Krallmann, Karl-Heinz Stell wegen Beschädigung öffentlicher Sachen vom 6.8.1969 (NMfIS, 199 141/53 Band I, Bl. 39). 86 Vgl. Erster Staatsanwalt in Osnabrück zur Einstellung des Verfahrens gegen die Beschuldigten wegen Geringfügigkeit nach § 153 Abs. 2 vom 28.5.1970 (NMfIS, 199 141/53 Band I, Bl. 66). 87 Extrablatt. Rund um Papenburg, o. D. (1969), S. 1.
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mit der Unterschrift versehen war: »Ein Großteil der Wachmannschaften rekrutierte sich aus Einheimischen.«88 Hatten Kromschröder und Vinke bereits in ihrer Zeit als Lokaljournalisten die regionalen Eliten herausgefordert, so erhoben sie Ende der 1960er-Jahre mit radikaleren Mitteln eine Anklage gegen die Ereignisgeneration. Dabei ist ihre starke Hinwendung zu den Emslandlagern im Zusammenhang mit einem für diese Generation typischen und ähnlich gelagerten Erfahrungshintergrund zu erklären. Kromschröder und Vinke teilen Kindheitserinnerungen an Luftangriffe und ein bereits im Jugendalter zunehmendes Spannungsgefühl, das mit der einsetzenden Thematisierung der nationalsozialistischen Vergangenheit in der Bundesrepublik korrespondierte. Sie teilten mit Gleichaltrigen den Wunsch nach einem Aufbrechen der Werte und Normen der Nachkriegsgesellschaft und konnten diese Erfahrung bereits Anfang der 1960er-Jahre journalistisch verarbeiten. In der Lokalredaktion lehnten sie sich gegen Obrigkeiten auf und trugen den zeitkritischen Journalismus in die »Provinz«, indem sie sich unabhängig machten von den Vorgaben und Wünschen der regionalen Eliten und durch ein investigatives Vorgehen auffielen.89 Wenngleich die Kritik von Vinke und Kromschröder dabei zunehmend schärfer wurde und sie bald selbst Teil der Protestbewegung waren, erhoben sie – anders als den »68ern« häufig zugeschrieben – jedoch keinen pauschalen Faschismusvorwurf, sondern trugen durch ihre journalistische Praxis zur historischen Aufklärung maßgeblich bei.90 Sie gingen auf Spurensuche, interviewten Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, sammelten Dokumente aus der Zeit des Nationalsozialismus und nahmen damit bereits Ideen der Ende der 1970er-Jahre entstehenden Geschichtsbewegung vorweg, die in Geschichtswerkstätten die Spurensuche »vor der Haustür« schließlich weiterentwickelte und letztlich institutionalisierte. 1.3
Erodierende Schutzbehauptungen: »Report-Beitrag« und »EZ-Umfrage« (1966)
Im Folgenden soll der Blick zurück auf die im Herbst 1966 erfolgte Stiftung eines zweiten Gedenksteins auf dem Friedhof Bockhorst-Esterwegen durch das Innenministerium geworfen werden, denn dieser erregte entgegen der Intention der staatlichen Behörden eine ungeheure öffentliche Aufmerksamkeit und setzte erstmals eine Debatte über die historische Mitverantwortung der Region in Gang. Angestoßen worden war dieser Diskurs durch den oben genannten Beitrag der Sendereihe »Report« des Bayerischen Rundfunks (BR) über die Einstellung der 88 Ebd., S. 4. 89 Von Hodenberg, Konsens und Krise, S. 183. 90 Zur Faschismustheorie im Vergangenheitsdiskurs der »68er« vgl. Thamer, NS-Vergangenheit im politischen Diskurs, S. 49–53.
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emsländischen Bevölkerung zu den Emslandlagern, der im Herbst 1966 im Ersten Deutschen Fernsehen ausgestrahlt wurde. In dem Beitrag waren Ausschnitte einer Straßenbefragung in Papenburg und Umgebung gezeigt worden, in der die Befragten äußerst wortkarg Auskunft gaben. Der Beitrag löste in der Region einen Skandal aus. Emsländische Honoratioren versuchten im Anschluss an die Sendung beharrlich ihre gegenseitigen Schutzbehauptungen aufrechtzuerhalten – das Neue daran war, dass dies öffentlich und im Rahmen eines von Kromschröder und Vinke bewusst lancierten Leserbriefstreits (»Ems-Zeitung[EZ]-Umfrage«) geschah, in dem auch kritische Stimmen zu Wort kamen. Der Streit gibt einen Einblick in den damaligen Diskurs, die widerstreitenden Denk- und Deutungsmuster und den Kampf um die Deutungshoheit über die Emslandlager. Um wiederkehrende Argumente greifbar und vergleichbar zu machen, wurden die Zuschriften auf ihre Kernaussagen reduziert und Kategorien gebildet, die ihre Zuordnung erleichtern.91 Im »Report«-Beitrag hatten die Sendungsmacher einleitend dem Publikum erklärt, dass die Verstorbenen der Emslandlager in der Nachkriegszeit willkürlich nach Opfern und »Nichtopfern« sortiert worden waren und dieser Umgang auf den starken Antikommunismus der katholischen Region zurückzuführen sei.92 Scheinbar belegt wurden diese Vorwürfe mit Ausschnitten einer spontanen Straßenbefragung in Papenburg und Umgebung. Der Zusammenschnitt von 17 auf der Straße angehaltenen Personen war insbesondere auf visueller Ebene prägnant. Er ist Ausdruck einer neuen, durchaus konfrontativen Bildstrategie:93 Hier 91
Angelehnt an Philipp Mayring wurde die Umfrage zusammengefasst und ausgewertet. Vgl. ders., Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken, Weinheim 2015, S. 50–64. 92 »Diese Selektion musste scheitern. Und das nicht nur, weil keine ausreichenden Unterlagen mehr vorhanden waren. Gelegentlich wird die Bevölkerung noch mit der Vergangenheit konfrontiert – dann nämlich, wenn der Verband der Moorsoldaten, die Vereinigung der ehemaligen Lagerhäftlinge dieser Zeit, auf dem KZ-Friedhof Esterwegen gedenkt. Viele Ehemalige kommen aus dem Ausland und aus beiden Teilen Deutschlands. Dabei geben die Vertreter aus der DDR in letzter Zeit immer mehr den Ton an. Für die Bevölkerung, die Behörden ist das ein Alibi, von Kommunisten-Treffen zu sprechen und erst recht nicht teilzunehmen. Und von da aus ist es ja dann nur ein Schritt zu der Feststellung, neben den Kriminellen hätte es in den Emslandlagern zwar politische Häftlinge gegeben, aber sie seien eben Kommunisten gewesen und wer heute noch so beharrlich an diese Zeit erinnert, sei auch nur ein Kommunist.« Reimar Allerdt, Das KZ im Emsland, report München (1966), Bayerischer Rundfunk, 14.11.1966 (Aktionskomitee DIZ Emslandlager e. V., Papenburg, Filmmaterial). 93 Zur Gemachtheit von Bildern vgl. Gerhard Paul, Die (Zeit-)Historiker und die Bilder. Plädoyer für eine Visual History. In: Saskia Handro/Bernhard Schönemann (Hg.), Visualität und Geschichte, Berlin 2011, S. 7–22; Frank Bösch, Ereignisse, Performanz und Medien in historischer Perspektive. In: ders./Patrick Schmidt (Hg.), Medialisierte Ereignisse. Performanz, Inszenierung und Medien seit dem 18. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2010, S. 7–29; Gerhard Paul, Von der historischen Bildkunde zur Visual History. Eine Einführung. In: ders. (Hg.), Visual History. Ein Studienbuch, Göttingen 2006, S. 7–36; Horst Bredekamp, Drehmomente – Merkmale und Ansprüche des iconic turn. In: Hubert Burda/Christa Maar (Hg.), Iconic Turn. Die neue Macht der Bilder, Köln 2005, S. 15–26.
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wurde das Klischee des spröden und weltabgewandten Emsländers vermeintlich bestätigt. Die Kamera zoomt auf von Sonne und Wind gegerbte Gesichter von Straßen- und Hafenarbeitern. Passantinnen und Passanten, die auf der Straße angehalten und zu den Emslandlagern interviewt werden, wenden sich von der Kamera ab oder reagieren mit schroffen, einsilbigen Antworten auf die Frage nach ihrem Wissen über die Lager, die Gefangenen94 sowie die Thematisierung der Lagergeschichte vor Ort.95 Die Mehrheit der Angehörigen der Ereignisgeneration blieb stumm oder gab ausweichende Antworten.96 Der Frage, ob in der Region über die Lager gesprochen würde, wichen die meisten aus oder gaben an, dass man darüber nicht spreche. Eine Befragte sagte im aggressiven Tonfall: »Nee! Spricht man nicht drüber!« Die befragten Jugendlichen zeigten hingegen ehrliches Unwissen. Sie konnten weder beantworten, wer in den Lagern inhaftiert gewesen war, noch um welche Art von Lagern es sich überhaupt gehandelt hat. Allein ein Mann stach unter den Befragten mit einer ausführlicheren Antwort hervor. Er erklärte, das regionale Schweigen sei darauf zurückzuführen, dass sich die Bevölkerung »quasi so ein bisschen mitschuldig« fühle.97 Über den Kreis der spontan Befragten hinaus wurden in dem Fernsehbeitrag vier längere Stellungnahmen gezeigt. Der Oberkreisdirektor des Landkreises Aschendorf-Hümmling, Hans Tiedeken (CDU), sowie der Papenburger Bürgermeister, Godfried Meyer (CDU), äußerten sich zu der Einstellung der Bevölkerung gegenüber den Lagern. Meyer gab an, dass »die Bevölkerung selbst ja nichts zu tun hat mit den Insassen bzw. mit denjenigen, die die Leute in das Konzentrationslager gebracht haben«.98 Außerdem wurde ein Interviewausschnitt mit einem jungen Handelslehrer präsentiert, der das emsländische Milieu als eine »geschlossene Gesellschaft« kritisierte.99 Der Sprecher des Fernsehbeitrags fasste am Ende zusammen, das Schweigen der emsländischen Bevölkerung müsse »nicht immer Totschweigen« bedeuten, sondern könne auch Zeichen von Scham sein.
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Nur einer der Befragten gibt an, dass es sich bei den Insassen der Emslandlager um Strafgefangene gehandelt habe, die anderen Befragten machen hierzu keine Angaben. 95 Sieben der Befragten geben an, dass man in der Region nicht über die Lager sprechen würde. Ein Mann erklärt dies damit, dass die Lager nach Kriegsende aufgelöst worden waren. 96 Zwölf der älteren Befragten (in der Folge B) gaben an, nichts über die Lager in der Region zu wissen. Sie antworten mit »Nö« (B5), »Nö, weiß ich auch nicht. Ich weiß von nix« (B6) oder »Das weiß ich nicht, ich war ja nicht da« (B12). Auf die Frage, wer in den Lagern inhaftiert gewesen sei, gab dieselbe Person aber eine konkrete Antwort: »Ich wollte mal sagen: Strafgefangene, ne?!« (B12). 97 Allerdt, Das KZ im Emsland. 98 Im ganzen Wortlaut: »Es ist für die Papenburger Bevölkerung nicht angenehm, dass der Name Papenburg mit den Konzentrationslagern in Verbindung gebracht wird, da die Bevölkerung selbst ja nichts zu tun hat mit den Insassen bzw. mit denjenigen, die die Leute in das Konzentrationslager gebracht haben«, so Godfried Meyer. Allerdt, Das KZ im Emsland. 99 Ebd.
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Folge des Schweigens sei aber, dass »die Bevölkerung des Emslandes das totalitäre Unrecht, das in ihrer unmittelbaren Nähe verübt wurde, nicht durchschaut und für die Zukunft fruchtbar gemacht hat«.100 Kromschröder und Vinke baten nach der Ausstrahlung des »Report«-Beitrags um Stellungnahmen aus der Region. Ausgangspunkt war der in der Sendung erhobene Vorwurf, die Bevölkerung im Emsland habe die in den Lagern verübten Verbrechen nicht aufgearbeitet. Über 14 Tage wurde über diese Frage in der »Ems-Zeitung« gestritten, wobei Kromschröder und Vinke 19 Leserbriefe auswählten und abdruckten. Fasst man die Zuschriften zusammen und vergleicht sie, dann werden hier fünf wiederkehrende Aussagemuster erkennbar (vgl. Tabelle 3). In zehn Zuschriften wurde erstens die Fragetechnik der Reporter und die Auswahl der gesendeten Beiträge kritisiert, in sechs Zuschriften wurden zweitens Argumente für die Unschuld der emsländischen Bevölkerung angeführt. Drittens wurde in fünf der Leserbriefe gefordert, dass die Bevölkerung eine Mitverantwortung trage und sich daher mit den Lagern auseinandersetzen müsse. Viertens behaupteten drei Leser, dass die Sendung einen Kollektivschuldvorwurf erhoben hätte, und fünftens wurde in zwei Zuschriften auf den wirtschaftlichen Erfolg des Emslandes verwiesen und damit ein Schlussstrich unter die Vergangenheit gefordert. Ein gemeinsames Kennzeichen der Stellungnahmen war, den »schlechten Querschnitt« der Befragung zu kritisieren. So monierte der Geschäftsführer des emsländischen Heimatvereins, Dr. Hans Kraneburg, der fast während der gesamten NS-Zeit Bürgermeister von Meppen gewesen war, an der Gleichschaltung von Vereinen mitgewirkt hatte und bei der Inbrandsetzung der Meppener Synagoge am 10. November 1938 anwesend war,101 dass die Sendung zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre, »wenn man etwas mehr darauf bedacht gewesen wäre, Menschen anzusprechen, die geistig etwas lebendiger sind«.102 Der Vikar der Gemeinde Papenburg attestierte den Befragten sogar einen »peinlichen Eindruck«.103 Die Interviewten seien nicht repräsentativ, denn die eigentliche emsländische Bevölkerung sei, wie Tiedeken in seiner Zuschrift bekräftigte, aufgrund der Tradition des politischen Katholizismus resilient gewesen.104
100 Ebd. 101 Vgl. Heinz Kleene, Der Umgang mit dem Nationalsozialismus in einer Kleinstadt. Das Beispiel des ehemaligen Bürgermeisters und späteren Stadtdirektors Dr. Hans Kraneburg aus Meppen. In: Studienarbeit Universität Münster, S. 671 f. (https://d-nb.info/1150778822/34; 15.5.2020). 102 Dr. Kraneberg (Geschäftsführer emsländischer Heimatverein), Zuschrift/Leserbrief. In: EmsZeitung vom 16.11.1966. 103 Theo Dierkes (Vikar St. Michael Gemeinde Papenburg), Zuschrift/Leserbrief. In: Ems-Zeitung vom 16.11.1966. 104 »Das Emsland war zur ›braunen‹ Zeit als schwarz, konservativ und dem Nationalsozialismus kaum aufgeschlossen verschrien. Man könnte zahlreiche Beispiele offenen oder versteckten Widerstands gerade im Emsland aufführen. Hier gab es noch zur Zeit des Dritten Reichs Menschen
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Tabelle 3: Zusammenfassung der Kernaussagen im Rahmen des Leserbriefstreits Kernaussagen
Anteil in Prozent
Kritik an Fragetechnik
10 von 19 Befragten, 52,63 %
Emsland ist unschuldig
6 von 19 Befragen, 31,58 %
Forderung nach Auseinandersetzung
5 von 19 Befragten, 26,32 %
Fremdbehauptung von Schuld
3 von 19 Befragten, 15,79 %
Schlussstrichforderung mit Verweis auf wirtschaftlichen Erfolg
2 von 19 Befragen, 10,53 %
Ganz anders sahen das diejenigen, die während des Nationalsozialismus verfolgt worden bzw. Angehörige von Verfolgten waren, und die nun versuchten, diese regionalen Schutzbehauptungen zu widerlegen. Reinhold Krinke, ein evangelischer Pfarrer und ehemaliger Gefangener des Strafgefangenenlagers Esterwegen, forderte, dass »die Geschehnisse nicht in die Mülltonne des Vergessens« geworfen werden sollten, und verwies vor allem auf die Rolle der emsländischen Bevölkerung, die Augenzeuge der alltäglich vorbeiziehenden Arbeitskolonnen sowie der Endphaseverbrechen im Emsland gewesen sei.105 Die Frau eines verfolgten Kommunisten wies in ihrem Leserbrief überdies darauf hin, dass ihr verstorbener Mann NSDAP-Mitgliedslisten gesammelt hatte: »Wie viele der Größen [...] waren damals braun? Ich weiß es nicht genau, aber die meisten dürften jetzt wieder schwarz sein.«106 Wirft man den Blick auf die Stellungnahme des CDU-Kreisverbandes, so scheint sich dieser Eindruck zumindest hinsichtlich des stark ausgeprägten Antikommunismus zu bestätigen: »Wir wehren uns aber gegen alle, die von außen oder innen dem deutschen Volk, oder gar den Emsländern, ein dauerndes Kollektivschuldgefühl einimpfen möchten, um uns daran zu hindern, unsere nationalen Anliegen mit dem notwendigen Selbstbewusstsein zu vertreten und uns gegen die Gefahren, die uns heute immer noch – wenn auch von anderer Seite – bedrohen, zu wehren. Es gibt in der deutschen Geschichte nicht nur die schreckliche braune Zeit; andererseits ist kein Volk ohne dunkle Flecken in seiner Geschichte.«107
mit Mut, die an ihren politischen Grundsätzen festhielten. Eine spezielle emsländische politische Vergangenheit gilt es also ganz gewiss nicht zu bewältigen.« Hans Tiedeken, Zuschrift/ Leserbrief. In: Ems-Zeitung vom 18.11.1966. 105 Reinhold Krinke (Pfarrer, Guttenberg LK Kulmbach), Zuschrift/Leserbrief. In: Ems-Zeitung vom 25.11.1966. 106 E. Schneiders (Leer), Zuschrift/Leserbrief. In: Ems-Zeitung vom 25.11.1966. 107 CDU Kreisverband Aschendorf-Hümmling, Zuschrift/Leserbrief. In: Ems-Zeitung vom 22.11.1966.
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Alte und neue Akteure
In der Zuschrift verdichten sich weitere Abwehrstrategien. Es wird ein kollektiver Schuldvorwurf konstruiert und die Verbrechen des Nationalsozialismus werden gleichsam mit dem Hinweis auf die dunklen Kapitel in der Geschichte anderer Länder relativiert.108 Ähnlich relativierend äußerte sich der stellvertretende Vorsitzende des Kreisheimatvereins Dr. Rudolf Knoke. Er forderte, dass das Emsland nicht in Verbindung gebracht werden sollte mit den Strafgefangenenlagern, sondern mit dem wirtschaftlichen Erfolg: den »Produkten, die die hiesige Wirtschaft hervorbringt und die sich in der ganzen Bundesrepublik und auch im Ausland größter Wertschätzung und Achtung erfreuen«.109 Hermann Vinke schloss den Leserbriefstreit am 3. Dezember 1966 mit einem Kommentar. Darin betonte er, dass die abwehrenden Reaktionen ein starkes Demokratiedefizit offengelegt hätten, denn auf die »pauschale und massive Beschuldigung hätte der Beweis erbracht werden müssen, dass man eben doch aus der Vergangenheit gelernt habe«.110 Daher stellte Vinke drei Forderungen auf: die wissenschaftliche Aufarbeitung der Geschichte des Emslandes zwischen 1933 und 1945, die Aufnahme des Themenfeldes Nationalsozialismus in die Curricula im Emsland und die Erstellung von Gedenkkonzepten durch lokale Heimatvereine.111 Seine Forderungen sollten erst in den 1980er-Jahren infolge des zunehmenden Drucks einer immer breiter werdenden zivilgesellschaftlich getragenen Gedenkstätteninitiative, an der auch Vinke beteiligt war, vom Landkreis Emsland umgesetzt werden. Dennoch gab der Fernsehbeitrag und der daran anschließende Leserbriefstreit wichtige Impulse. Erstmals waren in der öffentlich geführten Debatte die gegenseitigen Schutzbehauptungen der regionalen Eliten diskursiv greif- und angreifbar geworden.
2.
Veränderte politische Konstellationen: die offizielle Anerkennung
Ludwig Erhard verkündete 1965 »das Ende der Nachkriegszeit« und den Aufbruch in die Zukunft. Seine Aussage stand im Zusammenhang mit gesetzlichen Novellierungen, die das Erbe des Nationalsozialismus politisch bewältigen sollten. Trotz ihrer teils starken Unzulänglichkeiten waren die Gesetzesnovellierungen Ausdruck eines neuen politischen Umgangs mit der nationalsozialistischen Vergangenheit, der nun stärker die Opfer des Nationalsozialismus berücksichtigte: Das Bundesentschädigungs-Schlussgesetz sah eine Verlängerung der Antragstellung 108 Vgl. Bernd Greiner, Antikommunismus, Angst und Kalter Krieg. Eine erneute Annäherung. In: Creuzberger/Hoffmann (Hg.), »Geistige Gefahr«, S. 251–273. 109 Dr. Knoke (Oberstudienrat/stellv. Vorsitzender Kreisheimatverein). In: Ems-Zeitung vom 16.11.1966. 110 Hermann Vinke, Am Ende steht Ratlosigkeit. In: Ems-Zeitung vom 3.12.1966. 111 Vgl. ebd.
Die offizielle Anerkennung
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für Entschädigungsleistungen vor, das Gräbergesetz löste die Hierarchisierung zugunsten der »Kriegstoten« auf und das Gesetz über die Berechnung strafrechtlicher Verjährungsfristen112 verlängerte die Verjährungsfrist von Mord um vier Jahre und ermöglichte somit die weitere Strafverfolgung von NS-Verbrechen.113 Diesen gesetzlichen Neuerungen waren innen- und außenpolitische Aushandlungen vorausgegangen. Seit Ende der 1950er-Jahre war durch das Bekanntwerden der weitreichenden personellen NS-Verstrickungen in öffentlichen Ämtern der außenpolitische Druck auf die Bundesrepublik gewachsen. Erstmals wurde die NS-Vergangenheit von Politikern wie Hans Globke, Theodor Oberländer und Hans-Christoph Seebohm thematisiert, nicht zuletzt durch eine gezielte Kampagne der DDR.114 Doch nicht nur äußere Kräfte bewirkten gesetzliche Neuformulierungen und Anpassungen, ebenso erodierten angesichts der zunehmenden Kenntnis über das Ausmaß des Massenmordes an den Jüdinnen und Juden einseitig selbstviktimisierende Deutungen.115 Vor dem Hintergrund dieser politischen Entwicklungen fragen die folgenden Unterkapitel danach, wie die sich wandelnden »politisch-juristischen Bedeutungsrahmen«116 die öffentliche Erinnerung an die Emslandlager prägten und veränderten, welche Gesetzesänderungen dabei ausschlaggebend waren und welche Akteure einen Deutungswandel der Emslandlager sowohl auf erinnerungskultureller Ebene als auch in der Entschädigungsgesetzgebung als Teil der sogenannten Vergangenheitsbewältigung beschleunigten. 2.1
Neue Denkmäler infolge der Novellierung des Gräbergesetzes (1965)
»In zweiter und dritter Lesung verabschiedete das Parlament ein neues Kriegsgräbergesetz. Eine dazu nötige Änderung des Grundgesetzes beschlossen die Parlamentarier in der Berliner Kongresshalle zuvor ebenfalls ohne Gegenstimmen und Stimmenthalten in namentlicher Abstimmung. Mit dem neuen Gesetz wird die Pflege nicht nur der Kriegsgräber, sondern auch der Gräber von Opfern der Vertreibung und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft bundeseinheitlich geregelt.«117 112 Vgl. Goschler, Schuld und Schulden, S. 289. 113 Vgl. Gesetz über die Berechnung strafrechtlicher Verjährungsfristen (Berechnungsgesetz) vom 13.4.1965, Bundesgesetzblatt (BGBl) Teil I, S. 315. 114 Die DDR veröffentlichte die sogenannten Braunbücher, die die personellen Kontinuitäten in der Bundesrepublik offenlegten. Vgl. Moller, Vielfache Vergangenheit, S. 60–64; Axel Schildt, Der Umgang mit der NS-Vergangenheit in der Öffentlichkeit der Nachkriegszeit. In: Wilfried Loth/ Bernd-A. Rusinek (Hg.), Verwandlungspolitik. NS-Eliten in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, Frankfurt a. M. 1998, S. 19–54, besonders 50–54. 115 Als Überblick über die erinnerungskulturellen Veränderungen auf politischer Ebene vgl. Bauerkämper, Das umstrittene Gedächtnis, S. 208 f. 116 Henning Fischer, Überlebende als Akteurinnen. Die Frauen der Lagergemeinschaften Ravensbrück: Biografische Erfahrungen und politisches Handeln, 1945–1950, Konstanz 2018, S. 289. 117 O. V., Verabschiedung eines neuen Kriegsgräbergesetzes. In: Osnabrücker Tageblatt vom 7.4.1965.
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Alte und neue Akteure
Wenige Monate nach dieser im »Osnabrücker Tageblatt« erschienenen Meldung trat das »Gesetz über die Erhaltung der Gräber der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft« am 1. Juli 1965 in Kraft. Das Gräbergesetz verhinderte die zwischen den Jahren 1965 und 1975 drohende Auflösung der Gräber von Opfern des Nationalsozialismus, KZ-Gefangenen und Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern.118 Wie aber war es zu dieser Gesetzesänderung gekommen, die neue Denkmalstiftungen auch im Emsland zur Folge hatte? Fritz Majer-Leonhard, Leiter der »Hilfsstelle für Rasseverfolgte bei der Evangelischen Gesellschaft« in Stuttgart, eine Organisation, die im Jahr 1945 zur Hilfe und Fürsorge von zum Christentum konvertierte jüdische Verfolgten gegründet wurde, hatte sich bereits seit Mitte der 1950er-Jahre im Rahmen der Initiative »Gräber-Hilfe« für eine Änderung des Kriegsgräbergesetzes starkgemacht. Er reichte unzählige Petitionen bei verschiedenen Landesinnenministerien ein, um gegen die Auflösung der Gräber von jüdischen Opfern zu protestieren, aber auch um auf die drohende Auflösung der Gräber im Emsland aufmerksam zu machen. Seine Initiative fand jedoch erst in den 1960er-Jahren Gehör. Das Bundespräsidialamt unter Heinrich Lübke (1959–1969) hatte sich seit 1960 für eine Gleichstellung der Gräber von Kriegstoten und NS-Verfolgten ausgesprochen.119 Die Landesinnenministerien und Mittelbehörden nahmen zeitgleich einen gesellschaftlichen Klimawandel wahr und erklärten ihre Unterstützung der Gesetzesänderung damit, dass die Auflösung der Gräber von NS-Verfolgten für öffentliche Unruhe sorgen könnte, wie z. B. »Anfragen im Landtag, Presseangriffe«.120 Auf der Landesinnenministerkonferenz im Mai 1962 wurde daher beschlossen, dass eine gesetzliche Anpassung des Kriegsgräbergesetzes erfor-
118 Unter die neutrale Formulierung Grab (§ 1) fielen nun die Gräber von: 1. Gefallenen des Ersten Weltkriegs, 2. Militärangehörigen im Zweiten Weltkrieg, 3. zivilen Kriegstoten, 4. »Personen, denen die Freiheit durch Verbringung in Konzentrationslager oder aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen entzogen worden war«, 5. Personen, die auf ihrer Flucht aus der SBZ verstorben waren, 6. Vertriebenen, 7. Deutschen, die seit dem 1. September 1939 »verschleppt« worden waren, 8. Personen, die in deutschen Internierungslagern im Ausland verstorben waren, 9. Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern sowie 10. Displaced Persons, die zwischen dem 9. Mai 1945 und dem 30. Juni 1950 verstorben waren. Gesetz über die Erhaltung der Gräber der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft (Gräbergesetz) vom 8.7.1965, Bundesgesetzblatt (BGBl) Teil I (Nr. 29/1965), S. 589; Manfred Hettling, Militärisches Ehrenmal oder politisches Denkmal? Repräsentationen des toten Soldaten in der Bundesrepublik. In: Herfried Münkler/Jens Hacke (Hg.), Wege in die Bundesrepublik. Politische Mythen und kollektive Selbstbilder nach 1989, Frankfurt a. M. 2009, S. 131–152, hier 136. 119 Vgl. Referat V5, Arbeitsunterlagen zu Fragen der Behandlung politisch bedeutsamer Gräbergruppen nach § 6 Kriegsgräbergesetz vom 1.2.1961 (BArch Koblenz, B106/28378), S. 2. 120 Ebd., S. 6.
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derlich sei.121 Einen entsprechenden Gesetzesentwurf reichte die SPD-Fraktion im Jahr 1964 ein, der von der CDU-Bundesregierung und den Landesinnenministern unterstützt wurde.122 Darin wurde auch für erweiterte Ausführungsbestimmungen plädiert. Nicht mehr die engen, im Bundesentschädigungsgesetz formulierten Verfolgungsgründe »rassisch, religiös oder politisch« sollten allein ausschlaggebend für das ewige Ruherecht sein, sondern auch die Haft in Konzentrationslagern. »Kriminelle« waren somit von den Bestimmungen nicht länger grundsätzlich ausgeschlossen, da die nationalsozialistischen Konzentrationslager »rechtsstaatlichen Anschauungen in jedem Fall widersprechen« und ebenso die Bezeichnung Kriminelle »aus rechtsstaatlicher Sicht« als unzutreffend anzusehen sei, wie es im Gesetzesentwurf hieß.123 Im April 1965 wurde schließlich einstimmig im Parlament das Gesetz verabschiedet, das nun den Titel trug: Gesetz über die Erhaltung der Gräber der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft. Zur wichtigsten Neuerung zählte neben der rechtlichen Gleichstellung der bislang unter § 6 geführten Personengruppen die zusätzliche Aufnahme von »Personen, die auf ihrer Flucht aus der SBZ verstorben waren«.124 Die im Gesetzesentwurf vorgesehene explizite Erwähnung von Menschen, die als Kriminelle markiert und in Konzentrationslagern verstorben waren, wurde hingegen nicht umgesetzt. Dafür wurde die bedeutungsoffene Formulierung »Opfer nationalsozialistischer Gewaltmaßnahmen« gewählt, die den zuständigen Behörden der Gräberfürsorge Interpretations- und Handlungsspielraum eröffnete. Vor allem aber hatte die Erweiterung des Personenkreises eine
121 Vgl. Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft der Innenministerien der Bundesländer Dr. Brösamle an Vorsitzenden der Ständigen Konferenz der Innenminister der Bundesländer Staatsminister Schneider, Betr.: Schutz der Gräber von KZ-Opfern und Fremdarbeitern vom 24.7.1962 (BArch Koblenz, B189/9396, Band 1, Bl. 25). 122 Vgl. Referat V5, Betr.: Gräbergesetz, Entwurf einer Gegenäußerung der Bundesregierung zu BR-Drucksache 57/64 vom 25.3.1964 (BArch Koblenz, B189/9398, Bl. 269). 123 Der volle Wortlaut war: »Nach der Bestimmung Nummer 4 wurden entgegen § 6 Buchstabe a Kriegsgräbergesetz politische, rassische oder religiöse Gründe für Verbringung und Feststellung in Konzentrationslager nicht mehr erfordert, da diese Einrichtungen rechtsstaatlichen Anschauungen in jedem Fall widersprechen. Bei anderen Gewahrsamsformen waren diese Gründe als ursächlich für den Freiheitsentzug beinhaltet. Was die von der NS-Lagerleitung meist als besondere Gruppe erfassten ›Kriminellen‹ anlangt, [...] handelte es sich entweder um Personen, die einem gerichtlichen Verfahren nicht zugeführt und durch Strafgerichte nicht abgeurteilt worden waren, sodass in keinem Fall feststeht, ob die ihnen zur Last gelegten Handlungen auch nach rechtsstaatlicher Anschauung strafrechtlich zu qualifizieren gewesen wären, […] die Bezeichnung ›Kriminelle‹ ist demnach als unzutreffend aus rechtsstaatlicher Sicht anzusehen.« Entwurf eines Gesetzes über die Erhaltung der Gräber der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft vom 18.8.1964 (BT-Drucksache IV/2549), S. 7. 124 Gesetz über die Erhaltung der Gräber der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft (Gräbergesetz) vom 8.7.1965, Bundesgesetzblatt (BGBl) Teil I, (Nr. 29/1965), S. 589.
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weitere semantische Verschiebung des Opferbegriffs zur Folge.125 Die Formulierung »Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft« betonte die »totalitäre Gemeinsamkeit von NS- und SED-Diktatur« und stellte damit eine Kompromissformel dar, die gesellschaftlich besonders anschlussfähig war: Die Bedeutungsebene der sich aktiv Opfernden ging nun in einer passiv konnotierten Opfervorstellung auf. Wie bereits im Vorgängergesetz von 1952 wurde kein Subjekt benannt und die historische Verantwortung auf abstrakte Kräfte umgelenkt.126 Mit dieser integrativen Formel konnten viktimisierende und entlastende Selbstdeutungen aufrechterhalten und zugleich NS-Verfolgte in das offizielle Totengedenken einbezogen werden.127 Wie im Emsland nachzuweisen ist, wurde die Änderung des Gräbergesetzes in Inschriften auf Grabmalen und Denkmälern umgesetzt.128 Allerdings wurden allein für die Opfer des Endphaseverbrechens im Lager Aschendorfermoor und die verstorbenen KZ-Häftlinge der Außenlager Dalum und Versen neue Denkmäler mit dem novellierten Gräbergesetz entsprechenden Inschriften gestiftet. Auf den Friedhöfen lauteten die Inschriften nun: »Zu Ehren der hier ruhenden Opfer nationalsozialistischer Gewaltherrschaft« (Aschendorfermoor), »Den Opfern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft zum Gedenken« (Versen) und »Den hier ruhenden Opfern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft 1933– 1945« (Dalum). Entworfen und gestaltet wurden die Denkmäler vom Osnabrücker Bildhauer Hans Gerd Ruwe (1926–1995). Ruwe hatte nach Langerhans’ Tod im Jahr 1960 die denkmalkünstlerische Gestaltung auf den Lagerfriedhöfen im Emsland übernommen. Der ausgebildete Steinmetz und Bildhauer machte sich in den 1950er-Jahren in Osnabrück und Umgebung einen Namen mit seinen bildhauerischen Arbeiten, zu denen Brunnenanlagen und Plastiken in Osnabrück sowie Kriegerehrenmäler in der Region zählten.129 125 Vgl. Koselleck, Die Diskontinuität der Erinnerung, S. 216. 126 Vgl. u. a. Manfred Hettling/Jörg Echternkamp, Heroisierung und Opferstilisierung. Grundelemente des Gefallenengedenkens von 1813 bis heute. In: dies. (Hg.), Gefallenengedenken im globalen Vergleich. Nationale Tradition, politische Legitimation und Individualisierung der Erinnerung, München 2013, S. 123–158, hier 141; Koselleck, Die Diskontinuität der Erinnerung, S. 214; Kaiser, Von Helden und Opfern, S. 282; Hettling, Militärisches Ehrenmal oder politisches Denkmal, S. 136. 127 Vgl. Koselleck, Die Diskontinuität der Erinnerung, S. 215; ders., Kriegerdenkmale als Identitätsstiftungen, S. 256. 128 Vgl. Hilfsstelle für Rasseverfolgte bei der evangelischen Gesellschaft, Nachrichten aus der Gräber-Hilfe für Verfolgungs-Opfer vom 4.4.1964 (BArch Koblenz, B189/9398, Band 7, Bl. 272–275). 129 Nachdem Ruwe im Dezember 1948 aus der französischen Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt war, absolvierte er eine Bildhauerlehre bei Emil Jung in Osnabrück. Danach begann er als 25-Jähriger ein Studium der Bildhauerei zunächst in Hannover, dann seit 1952 an der Hamburger Landeskunstschule. Seit 1954 arbeitete Ruwe als freischaffender Bildhauer und Grafiker in Osnabrück. Vgl. ausformulierter Lebenslauf von Hans Gerd Ruwe, o. D. (1974), (NLA OS, Erw A23, Nr. 15), S. 1.
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Auf den Sammelgräbern des Friedhofs Aschendorfermoor ließ Ruwe 1965 eine gedrungene Stele errichten, die im Vergleich zum Kubus von 1952 durch eine organischere Formgebung auffällt. Anders als der von Langerhans entworfene Kubus am Rand der drei Sammelgräber wurde die neue Stele mittig auf den Gräbern platziert. Die Gräber, die bereits vollständig planiert waren, rückten so optisch noch weiter in den Hintergrund, sodass der Eindruck einer Parkanlage, nicht eines Friedhofs entstand. Nur die Inschrift zeichnete nun die Anlage als Grabfläche aus.130 Im Jahr 1967 gestaltete Ruwe für den Friedhof Versen ein weiteres neues Denkmal. Dabei wurde der baufällige, sich an der Kopfseite der Friedhofsanlage befindende Obelisk, der 1952 vom Innenministerium bei Langerhans in Auftrag gegeben worden war, abgetragen und durch eine 2,10 Meter hohe rechteckige Stele aus Sandstein ersetzt. Die von Ruwe entworfene Stele hebt sich von der bislang dominanten Ästhetik insofern ab, als sie wie ein abstraktes Zitat des Obelisken erscheint. Es handelt sich um eine asymmetrische Stele, die sich nach unten hin verjüngt und in deren oberes Ende eine Kerbe eingehauen ist.131 Die Frontseite wird durch die Inschrift, eine Art Runenschrift, markiert. Hervorsticht das Denkmal auf dem Friedhof Dalum, denn die konvexe Denkmalfigur, deren Enden sich zueinander neigen und optisch verstärkt sind, weist anthropomorphe Merkmale auf.132 Die beiden Enden der Plastik können als zwei abstrahierte Gestalten bzw. sich gegenseitig stützende Gefangene interpretiert werden. Mit dieser Formgebung bekamen erstmals auf einem der Friedhöfe die Leiderfahrungen der Opfer einen symbolischen Ausdruck. Während der 1950er-Jahre war die Friedhofsgestaltung von Formen geprägt, die dem Typus des klassischen Grabmals zuzuordnen sind: Obelisken und Stelen, die mit traditionellen Motiven des Totengedenkens wie dem Lorbeer verziert waren. Sprachlich bezeichneten die Inschriften der Grabmale die hier beerdigten Gefangenen als Tote, ohne präzisere Beschreibung der Umstände ihres Todes. In den 1960er-Jahren zeichnete sich nun ein Deutungswandel ab, und zwar sowohl auf formal-ästhetischer als auch sprachlicher Ebene. Die auf Bundesebene mit
130 Vgl. Staatshochbauamt Lingen an Regierungspräsident in Osnabrück, Betr. Grabstätte von Opfer des Nationalsozialismus (Aschendorfermoor), Anlage: Rechnung des Bildhauers Ruwe vom 13.10.1965 (NLA OS, Rep 660 Lin, 2001/024 Nr. 11, unpag.). 131 Vgl. Regierungspräsident in Osnabrück an Hans Gerd Ruwe, Betr.: Erhaltung der Gräber der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft; hier: Instandsetzung des KZ-Friedhofs in Versen vom 14.7.1967 (NLA OS, Rep 660 Lin, 2001/024 Nr. 18, unpag.). 132 Vgl. Hans Gerd Ruwe an Regierungspräsident in Osnabrück, Betr. Kostenvoranschlag für die Instandsetzungsarbeiten an der Gräberanlage für die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft auf dem Friedhof für ausländische Kriegstote 1939/1945 bei Dalum vom 25.5.1968 (NLA OS, Rep 430 Dez 207, 48/90 Nr. 83, unpag.).
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der Novellierung des Gräbergesetzes vollzogene Erweiterung des Opferbegriffs hatte zur Folge, dass ausgewählte Gefangenengruppen der Emslandlager erstmals sprachlich als Opfer nationalsozialistischer und damit beabsichtigter Gewalt identifiziert und definiert wurden. Insbesondere im Hinblick auf die bei dem Endphaseverbrechen Getöteten, die auf dem Friedhof Aschendorfermoor ruhten, ging damit ein Statuswechsel einher. Denn waren sie noch in den 1950er-Jahren von Oberregierungsrat Badry als Kriminelle diffamiert worden, wurden sie nun in den Inschriften als Opfer der NS-Gewaltherrschaft gekennzeichnet. Über diese sprachliche Ebene hinaus waren erstmals Formen gewählt worden, die sich vom Kriegstotengedenken abhoben und eine eigene Formsprache fanden, die wie im Falle des Denkmals auf dem Friedhof Dalum zumindest in Anklängen einen Ausdruck für das Leid der Menschen fand. Dennoch blieben auch hier die Verstorbenen anonym und die Tat, die zu ihrem Tod geführt hatte, unbestimmt. Es wurde weder ein Bezug zu den Emslandlagern in unmittelbarer Nähe der Friedhöfe hergestellt noch ein Handlungssubjekt benannt. Damit schwebten die Widmungen im luftleeren Raum und hielten eine entlastende Botschaft an das Umfeld der Lager aufrecht, die dem allgemeinen erinnerungskulturellen Klima der 1960er-Jahre entsprach. Selbstviktimisierende Deutungen des Nationalsozia lismus blieben aufrechterhalten, gleichwohl der Opferstatus ausgewählter und eindeutiger NS-Verfolgter zumindest symbolisch anerkannt wurde.133 2.2
Kampf um die »Anerkennung der materiellen und moralischen Ansprüche«
Im Jahr 1965 wurde nicht nur das Gräbergesetz, sondern auch das Bundesentschädigungsgesetz (BEG) novelliert. Bis Ende der 1960er-Jahre folgten weitere Rechtsverordnungen zur Durchführung des BEG.134 Einschneidend für die ehemaligen Gefangenen der Emslandlager war die am 3. Februar 1967 verabschiedete Ergänzungsverordnung des BEG. Die Bundesregierung hatte darin 902 Lager und Außenkommandos aufgenommen, die als Konzentrationslager im Sinne des § 31 Abs. 2 BEG-Schlussgesetz anerkannt waren. Nicht alle Strafgefangenenlager im Emsland wurden jedoch darunter gezählt.135 Denn, wie das Bundesfinanz ministerium erklärte, es handelte sich bei den Emslandlagern nicht um »Kon-
133 Reichel, Politik mit der Erinnerung, S. 90. 134 Vgl. August Baumgarte an Fritz Erichsen vom 23.10.1967 (VVN-Archiv Niedersachsen, N0033 AugBau0061, unpag.). 135 Die Angaben sind der Eingabe der VVN entnommen: Erich Hollack an Bundesfinanzminister Franz Josef Strauß, Eingabe der VVN in Bezug auf Ergänzungsverordnung des BEG (Haftstättenverzeichnis) vom 6.12.1968 (VVN-Archiv Niedersachsen, N0033 AugBau0061, unpag.).
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zentrationslager im technischen Sinne«, da sie »nicht dem SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamt unterstanden«.136 Dass die Strafgefangenenlager im Emsland in der Ergänzungsverordnung unberücksichtigt blieben, gab aufseiten der »Emsland- Lagergemeinschaft« den Impuls, sich noch stärker als bislang zu vernetzen, um für »die Anerkennung der materiellen und moralischen Ansprüche der in der Zeit des Naziregimes inhaftierten politischen Gefangenen der Emslandlager« einzutreten, wie es auf einer Tagung der »Moorsoldaten« im Jahr 1967 hieß.137 Die Lagergemeinschaft hatte Ende der 1950er-Jahre an Auflösungserscheinungen gelitten. Es fehlte an personellen Ressourcen, um die Arbeit aufrechtzuerhalten, und auch die Herausgabe des Mitteilungsblattes »Der Moorsoldat« war Ende 1957 eingestellt worden.138 Erst infolge einer Eingabe der VVN-Kreisvereinigung Lüneburg im April 1960 wurde die niedersächsische VVN-Landesvereinigung aktiv und unterstützte die Gründung eines Arbeitskreises innerhalb des Landesverbands, der die Lagergemeinschaft wiederbelebte.139 Anders als in den 1950er-Jahren, als die Vorsitzenden der Lagergemeinschaft Kruse und Wiggershaus infolge des KPD-Verbotes offiziell aus der Partei ausgetreten waren, bestand der Vorstand der Lagergemeinschaft, das sogenannte Moorkomitee, in den 1960er-Jahren aus kommunistischen Spitzenfunktionären. Die Vorsitzenden des Komitees, Fritz Erichsen und Baumgarte, waren zudem wichtige VVN-Funktionäre. Neben ihnen gehörten dem »Moorkomitee« Schabrod, Hermann Bogdal, Erich Hollack und Hans Schwarz an. Mit Ausnahme von Schwarz waren sie alle als KZ-Häftlinge und/oder Strafgefangene in den Emslandlagern inhaftiert gewesen und hatten sich nach 1945 am Wiederaufbau der KPD beteiligt. Schabrod (1900–1981) und Baumgarte (1904–1980) wurden dabei aufgrund ihrer politischen Tätigkeit nach dem KPD-Verbot wiederholt strafrechtlich verfolgt, zu Gefängnisstrafen verurteilt und verloren ihre Entschädigungsberechtigung.140
136 Der Bundesminister für Finanzen an Fritz Erichsen, Betr.: VI A/4 – 0 1478 – B 20/67 vom 28.3.1967 (VVN-Archiv Niedersachsen, N0033 AugBau0061, unpag.). 137 Protokoll Tagung der Moorsoldaten in Osnabrück vom 25.1.1967 (VVN-Archiv Niedersachsen, N0033 AugBau0061, unpag.). 138 Aus einem Brief von Baumgarte an Wiggershaus geht hervor, dass Wiggershaus die Redaktionsarbeit Ende 1957 einstellte. Vgl. August Baumgarte an Ernst Wiggershaus vom 16.2.1970 (VVN-Archiv Niedersachsen, N0028 AugBau0052, unpag.). 139 Vgl. VVN-Kreisvereinigung Lüneburg an Landeskonferenz der VVN vom 10.4.1960 (VVN-Archiv Niedersachsen, N0033 AugBau 0061, unpag.). 140 Zu Karl Schabrod vgl. Detlev Peukert, Ruhrarbeiter gegen den Faschismus. Dokumentation über den Widerstand im Ruhrgebiet 1933–1945, Frankfurt a. M. 1976, S. 73–77, sowie Diether Posser, Anwalt im Kalten Krieg. Deutsche Geschichte in politischen Prozessen 1951–1968, Bonn 2000, S. 183 f. Zu Baumgarte vgl. Hans Hesse, Das frühe KZ Moringen (April 1933–November 1933) »… ein an sich interessanter psychologischer Versuch«, Moringen 2003, S. 163–165.
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Die Aktivitäten des »Moorkomitees« sind im Zusammenhang mit der eigenen Kriminalisierungserfahrung, aber auch aktuellen Entwicklungen wie der Gründung der NPD141 (1964) und den Diskussionen um die Notstandsgesetzgebung in den 1960er-Jahren einzuordnen. So verstand sich die Lagergemeinschaft seit den 1960er-Jahren zunehmend als »Petitionsgemeinschaft«, die ihre Berechtigung aus dem »gemeinsamen Erleben unserer Demonstrationen, Kundgebungen und Gedenkveranstaltungen« ableitete.142 Dieses Selbstverständnis zeigte sich besonders klar in ihrem geschlossenen Vorgehen gegen die Durchführungsverordnung, die Bogdal mit den Worten kommentierte: »Wir dürfen doch nicht zulassen, diese Lager als Sanatorien abstempeln zu lassen. Denn in diesen Lagern steht die Sterbeziffer anderen KZ kaum nach, abgesehen von Gesundheitsschädigungen.«143 In diesem Sinne handelte die Lagergemeinschaft und wandte sich in vielen Schreiben an Behörden und Politiker. Der Sozialdemokrat Martin Hirsch, Vorsitzender des Bundesausschusses für Wiedergutmachung, gab schließlich im Herbst 1967 in seiner Antwort den entscheidenden Impuls zur Aufarbeitung der Emslandlager. Er riet Pöllen, einem ehemaligen kommunistischen Strafgefangenen des Lagers Aschendorfermoor: »Sie können dem berechtigten Wunsch, die notwendige Abgrenzung zwischen Kriminal- und politischen Straflagern zu ergänzen, einen guten Dienst tun, wenn Sie und Ihr Kreis Material sammeln und vorlegen könnten, das für diese Feststellungen brauchbar ist.«144 Daraufhin bildete die »Emsland-Lagergemeinschaft« unter dem Stichwort »Moorlager als KZ-Lager« Arbeitsgruppen, die Erfahrungsberichte zu den Emslandlagern zusammentrugen. Ziel war es, eine Dokumentation zur Vorlage für politische Gremien zu erstellen, die den KZ-Charakter der Lager bewies.145 Im September 1968 forderten die gebildeten Arbeitsgruppen ehemalige deutsche, dänische und niederländische KZ- und Strafgefangene der Emslandlager auf, ihre Hafterfahrungen zu verschriftlichen.146 Den Kontakt zu internationalen Häftlings-
141 Zur Gründung der NPD vgl. Armin Pfahl-Traughber, Die »alte« und die »neue« NPD. Eine vergleichende Betrachtung zu Gefahrenpotential und Profil. In: Stephan Braun/Alexander Geisler/ Martin Gerster (Hg.), Strategien der extremen Rechten. Hintergründe – Analysen – Antworten, 2. Auflage, Wiesbaden 2016, S. 55–76, besonders 57–59. 142 August Baumgarte, handschriftliche Notiz, o. D. (1975) (VVN-Archiv Niedersachsen, N0033 AugBau 0061, unpag.). 143 Hermann Bogdal an Fritz Erichsen vom 25.4.1968 (VVN-Archiv Niedersachsen, N0033 AugBau0061, unpag.). 144 Martin Hirsch an Matthias Pöllen vom 8.11.1967 (VVN-Archiv Niedersachsen, N0033 AugBau0061, unpag.). 145 Vgl. August Baumgarte an Fritz Erichsen vom 23.10.1967 (VVN-Archiv Niedersachsen, N0033 AugBau0061, unpag.). 146 Vgl. Protokoll über die Sitzung des Arbeitsbüros des Komitees der Moorsoldaten in Hannover, Schwerpunkte: Planung, Ausarbeitung zur Geschichte und Gegenwart vom 19.9.1968 (VVN-Archiv Niedersachsen, N0033 AugBau0061, unpag.).
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vereinigungen stellte Schwarz her, der seit 1958 Generalsekretär der »Amicale Internationale de Neuengamme« und international gut vernetzt war.147 Über die Vernetzung insbesondere mit dänischen und niederländischen Häftlingsvereinigungen zum Sammeln von Erinnerungsberichten hinaus begann die Lagergemeinschaft seit Anfang 1968 mit der systematischen Recherche nach historischen Dokumenten.148 Es wurden Unterlagen des Reichsjustizministeriums gesammelt, die die Verschärfung des Strafrechts sowie der Strafvollzugsverordnung belegten, und Dokumente der zentralen Kommandantur der Strafgefangenenlager, die Misshandlungen und Tötungen von Strafgefangenen dokumentierten. Ebenso wurden Strafverfahrensakten aus der Nachkriegszeit zusammengetragen. An diese Dokumente gelangte das in Westdeutschland ansässige »Moorkomitee« durch seine Verbindungen in die DDR. Wichtige Verbindungsglieder waren dabei Goguel (1908–1976) und Perk (1905–1991), die zwischen 1933 und 1945 mehrfach sowohl in den Konzentrations- als auch Strafgefangenenlagern im Emsland inhaftiert gewesen waren und dem »Komitee der antifaschistischen Widerstandskämpfer« (KdAW) angehörten.149 Es ist anzunehmen, dass das »Moorkomitee« über den Historiker Goguel, der zwischen 1960 und 1970 als »geheimer Informator« arbeitete,150 an Unterlagen aus dem MfS gelangte: aus der Hauptabteilung (HA) XX (Staatsapparat, Kultur, Kirchen, Untergrund) und der Hauptabteilung IX/11 (Aufklärung von Nazi- und Kriegsverbrechen).151 Die Hauptabteilung IX/11 arbeitete mit dem »Dokumentationszentrum 147 Vgl. Amicale Internationale de Neuengamme, Betr.: Pilgerfahrt unserer dänischen Kameraden nach Meppen-Dalum, Meppen-Versen, Esterwegen und Neuengamme vom 10.9.1968 (VVN-Archiv Niedersachsen, N003 AugBau0061, unpag.); Kranzniederlegungen auf den Friedhöfen Versen und Dalum, Anwesende: VVN, dänische und holländische Delegation, Fotografien, o. D. (1967) (VVN-Archiv Niedersachsen, N0007 AugBau0013, unpag.). 148 Vgl. August Baumgarte an Fritz Erichsen vom 8.11.1967 (VVN-Archiv Niedersachsen, N0033 AugBau 0061, unpag.). 149 Vgl. August Baumgarte an Rudi Goguel vom 20.12.1968 (VVN-Archiv Niedersachsen, N0033 AugBau0061, unpag.). 150 Goguel war nach seiner Übersiedlung in die DDR im Jahr 1952 zunächst am Deutschen Institut für Zeitgeschichte angestellt. Seit 1960 war er dann Leiter der Abteilung »Imperialistische Ostforschung«, ein Amt, das er im Jahr 1968 auf Druck der Partei niederlegen musste, da er bei aller ideologischen Überzeugung um die Einhaltung wissenschaftlicher Prinzipien bemüht gewesen war. Vgl. Christoph Kleßmann, Der unbekannte Moorsoldat. Der kommunistische KZ-Häftling Rudi Goguel (1908–1976) als kritischer Zeithistoriker in der DDR. In: Margrid Bircken/Andreas Degen (Hg.), Reizland DDR. Deutungen und Selbstdeutungen literarischer Ost-West-Migration, Göttingen 2015, S. 135–148, hier 142. Mario Keßler weist im Zusammenhang der historischen Tätigkeit nach, dass Goguel bereits in den 1950er-Jahren Studien zum Holocaust unterstützte. Vgl. ders., Die SED und die Juden – zwischen Repression und Toleranz. Politische Entwicklungen bis 1967, Berlin 1995, S. 109–111. 151 Von der Hauptabteilung HA XX ist ein neunseitiges Papier unter dem Titel »Moorlager – Emslandlager« überliefert, in dem die Phasen der Emslandlager und ihrer Außenkommandos entsprechend den Verwaltungswechseln nachgezeichnet werden. Da dieselbe Systematik in den
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der Staatlichen Archivverwaltung der DDR« zusammen und konnte Rechtshilfeersuchen bei westdeutschen Staatsanwaltschaften zu den Verfahren gegen Personal der Emslandlager erbitten.152 Über die Informationen aus der DDR hinaus erhielt die »Emsland-Lagergemeinschaft« auch Hilfe vom Bundesarchiv Koblenz sowie dem ITS.153 Mithilfe des ITS wurden dabei Totenzahlen ermittelt, die den KZ-Charakter der Strafgefangenenlager belegen und somit als Grundlage für die Aufnahme der Lager in das Haftstättenverzeichnis dienen sollten.154 Basierend auf dem gesammelten Quellenmaterial sowie den Erinnerungsberichten entstanden Druckschriften zu den einzelnen Lagern, die an das Bundesfinanzministerium verschickt wurden.155 Auf Basis der Recherchen der Lagergemeinschaft und in ihrem Auftrag verfasste Willy Perk (1905–1991) außerdem das Buch »Die Hölle im Moor«, das im Jahr 1970 im VVN-eigenen Röderberg Verlag erschien.156 Perk legte damit erstmals eine geschlossene Darstellung über die Konzentrations- und Strafgefangenenlager im Emsland vor. Der historische Verlauf wurde rekonstruiert und die »Dokumentenschrift« durch abgedruckte Archivalien aus dem »Dokumentationszentrum der Staatlichen Archivverwaltung der DDR« ergänzt. Perk beschreibt die Machtübernahme im Jahr 1933 als Klassenkampf und weist in seiner Einleitung auf eine geschlossene Arbeiterschaft hin, die nur durch die Hilfe der »reaktionären Konzernherren«, die als Steigbügelhalter der Nationalsozialisten fungiert hätten, im letzten Moment niedergeschlagen worden sei.157 Im Hinblick auf den Alltag in den Emslandlagern wurde die »Gemeinschaft der Moorsoldaten«, der politischen Gefangenen, beschworen, deren Solidarität über ideologi-
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Druckschriften der Lagergemeinschaft auftaucht, ist anzunehmen, dass ihr das Papier des MfS bekannt war. Vgl. Positionspapier, 2. Fassung, Betr.: Moorlager – Emslandlager vom 3.2.1968 (BStU, MfS, HA XX, Nr. 6829, Bl. 64–72). Zum Aufbau der Abteilung IX/11 vgl. Henry Leide, NS-Verbrecher und Staatssicherheit. Die geheime Vergangenheitspolitik der DDR, Göttingen 2005, S. 96–99. So stellte Fritz Erichsen im Namen der AG Moorsoldaten beim Bundesarchiv Koblenz eine Anfrage nach dem Verbleib der Akten der zentralen Lagerverwaltung in Papenburg. Aus dem Schreiben geht hervor, dass zu diesem Zeitpunkt der Lagergemeinschaft nicht einmal die Verwaltungsordnung der Strafgefangenenlager bekannt war. Vgl. Fritz Erichsen (Arbeitsgemeinschaft ehem. Moorsoldaten Emsland) an Bundesarchiv in Koblenz vom 13.11.1968 (VVN- Archiv Niedersachsen, N0033 AugBau0061, unpag.). Vgl. Beschlussprotokoll der Besprechung des kleinen Moorkomitees vom 13.4.1968 (VVN- Archiv Niedersachsen, N0033 AugBau0061, unpag.). Vgl. Arbeitsgemeinschaft Moorsoldaten, Komitee der Moorsoldaten (Fritz Erichsen Vors.) an Bundesminister für Finanzen, Betr.: Wiedergutmachung, Dokumentation über die Strafgefangenenlager im Emsland, o. D. (1969) (BArch Berlin-Lichterfelde, DR 117/12155/Moorsoldaten, unpag.). Vgl. Willy Perk, Die Hölle im Moor, Frankfurt a. M. 1970. Vgl. ebd., S. 9–13.
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sche Differenzen hinwegreichte.158 Schwäche wurde allein unpolitischen Gefangenengruppen zugeschrieben, wie den »Kriminellen«, die als passiv und schwach dargestellt wurden, weil sie sich den Haftbedingungen und harten Zwangseinsätzen im Moor durch Selbstverstümmelungen zu entziehen suchten.159 Der Diskreditierung der bundesrepublikanischen Strafverfolgung diente das Kapitel »Verbrechen sind noch ungesühnt«, das die milden Strafen gegen Hauptverantwortliche, die mit Klarnamen benannt wurden, beschrieb.160 Wenngleich mit dem Buch erstmals zusammenhängend die Geschichte der Emslandlager dargestellt wurde, ist die kampagnenartige Darstellung von »Die Hölle im Moor« nicht von der Hand zu weisen. Denn das Buch diente in erster Linie dazu, eine Argumentationsgrundlage für die Forderungen nach Anerkennung und Überlegenheit zu schaffen. Die Forschung zu den Emslandlagern durch die Lagergemeinschaft ist somit, typisch für eine Selbsthistorisierung, von der Problematik gekennzeichnet, dass sie identitätspolitischen Zielen unterworfen war, was zur Folge hatte, dass Vorurteile gegenüber anderen Gefangenengruppen reproduziert wurden. Dennoch leistete die Emsland-Lagergemeinschaft mit ihren Recherchen eine wichtige Rekonstruktionsarbeit, die die Zustände in den Lagern und die hier verübten Verbrechen dokumentierte. Außerdem streute sie die gesammelten Informationen breit an Politiker auf Bundes- und Landesebene in Form von Petitionen. Wie im folgenden Unterkapitel zu zeigen ist, erhöhten die Mitglieder der Lagergemeinschaft damit den Druck auf politische Entscheidungsträger, von denen sie nicht nur die Berücksichtigung der Emslandlager in der Entschädigungsgesetzgebung, sondern auch die Abtragung des zweiten, vom Innenministerium 1966 auf dem Friedhof Bockhorst-Esterwegen gestifteten Steins forderten und schließlich mit erwirken konnten. 2.3
Im Zusammenspiel: gesetzliche Anerkennung (1970)
Der Gedenkstein des Innenministeriums von 1966 auf dem Friedhof Bockhorst-Esterwegen, der mit der Inschrift versehen war »Zum Gedenken an die im Konzentrationslager Esterwegen umgekommenen Opfer des Nationalsozialismus. Ihre sterblichen Überreste ruhen in Versen«,161 hatte den verbliebenen Toten den Opferstatus abgesprochen. Diese Diskriminierung löste erstmals eine breit 158 Neben bekannten Kommunisten erwähnt Perk an dieser Stelle die »Moorsoldaten« Carl von Ossietzky, den Gewerkschaftsvorsitzenden Fritz Husemann (1873–1935) sowie den SPD-Polizeipräsidenten Otto Eggerstedt (1886–1933). Vgl. ebd., S. 67 f. 159 Vgl. ebd., S. 58–64. 160 Vgl. ebd., S. 111–115. 161 Niedersächsisches Innenministerium an Regierungspräsident in Osnabrück, Betr.: Friedhof der Justizverwaltung in Bockhorst-Esterwegen Ldkr. Aschendorf-Hümmling, hier: Gestaltung des Gedenksteins vom 30.6.1966 (NMfIS, 199 141/14 Band V, Bl. 10).
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Alte und neue Akteure
g eführte Diskussion über den Umgang mit den Verstorbenen und den Emslandlagern im Allgemeinen aus: Die »Report«-Sendung sorgte deutschlandweit für Furore und die Journalisten Kromschröder und Vinke initiierten eine Diskussion in der Regionalzeitung. Während die von Konflikten begleitete einsetzende Thematisierung der Emslandlager bereits dargestellt wurde, ist im Folgenden die Regelung – nicht Lösung – des Konfliktes darzustellen: die rechtliche Anerkennung aller Emslandlager als Folge erinnerungskultureller Veränderungen, die die Auflösung der Gräber im Emsland schließlich verhinderte. Die Emsland-Lagergemeinschaft war Ende der 1960er-Jahre nicht nur gegen die Entschädigungsgesetze vorgegangen, sondern auch gegen die in Stein gemeißelte Herabwürdigung der Toten und forderte in einer Vielzahl von Eingaben die Abtragung des vom Innenministerium 1966 gestifteten Gedenksteins.162 Damit übte sie politischen Druck aus. So fand infolge einer Eingabe von Erichsen, Vorsitzender des Moorkomitees, am 2. Mai 1968 eine Sitzung des Ausschusses für Rechts- und Verfassungsfragen des niedersächsischen Landtages statt, bei der über die Abtragung des Gedenksteins diskutiert wurde. Diskussionsgrundlage bildete ein zehnseitiges Positionspapier von Rudolf Suppa, Referent für Kriegsgräberfürsorge, der für die Stiftung des zweiten Gedenksteins auf dem Friedhof Bockhorst-Esterwegen im Jahr 1966 verantwortlich gewesen war. Er verteidigte daher die Stiftung des Gedenksteins und argumentierte: »Die Tatsache, dass von den Gerichten verurteilte Häftlinge der Emslandlager von einer NS-Organisation bewacht wurden, Misshandlungen unterworfen waren und an Entbehrungen starben, macht sie noch nicht zu Opfern nationalsozialistischer Gewaltmaßnahmen im Sinne der gesetzlichen Bestimmungen. Allein ausschlaggebend ist vielmehr, dass entweder der Freiheitsentzug als solcher oder aber die Misshandlungen und angeordneten Entbehrungen aus Gründen der Verfolgung vorgenommen wurden.«163
Im Rechts- und Verfassungsausschuss, dem das Positionspapier vorgelegt wurde, waren sechs CDU- und vier SPD-Landtagsabgeordnete sowie ein NPD-Abgeordneter vertreten.164 Der Landtagsabgeordnete Hans-Alexander Drechsler (SPD) gab zu Beginn der Sitzung zu bedenken, dass nicht »alle Urteile der Kriegsgerichte [...] unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten gefällt worden« waren.
162 Vgl. Komitee der Moorsoldaten, Emsland-Lagergemeinschaft an niedersächsischer Landtag und niedersächsische Landesregierung vom 20.2.1967 (NMfIS, 199 141/14 Band I, Bl. 143). 163 Niedersächsisches Ministerium des Innern I/3 – 199.141 an Büro des niedersächsischen Landtages vom 28.3.1968 (NMfIS, 199 141/14 Band I, Bl. 167). 164 Die Ausschussmitglieder waren: Bruno Brandes (CDU), Ursula Benedix (CDU), Ursula Flick (CDU), Ulrich Goerdeler (CDU), Ernst Klische (CDU), Bruno Schmidt-Braunschweig (CDU), Hans-Alexander Drechsler (SPD), Hans Günther Fessel (SPD), Wilhelm Hinsche (SPD), Wilhelm Mader (SPD), Maria Meyer-Sevenich (SPD), Helmut Hass (NPD). Darüber hinaus nah-
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Daher halte er es »für absolut sicher, [...] dass eine Anzahl von Gefangenen aus politischen Gründen erschossen worden sei. Nur darauf könne auch die Zahl von 1 300 Toten zurückgeführt werden, die bei normalen Strafgefangenen in einem Zeitraum von neun Jahren keineswegs normal sei. Schließlich komme hinzu, dass während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft eine scharfe Trennung zwischen politischen Gefangenen und normalen Strafgefangenen überhaupt nicht vorgenommen worden sei, sodass wohl unterstellt werden könne, dass in den Strafgefangenenlagern auch eine ganze Reihe von Personen inhaftiert gewesen seien, die aus politischen Gründen zu Zuchthaus- und Gefängnisstrafen verurteilt worden seien.«165
Auf diese Stellungnahme hin, die den Widerspruch des bislang vorherrschenden Diskurses klar benennt, wurde Drechsler vonseiten CDU-Abgeordneter vorgeworfen, nicht auf sachlichen Grundlagen zu argumentieren – implizit wurde ihm unterstellt, sich mit der kommunistischen Lagergemeinschaft gemeinzumachen, woraufhin sich Drechsler offenbar in die Enge getrieben fühlte und betonte, dass er »sich nicht mit den Forderungen des Komitees« identifiziere.166 Auch seine Parteikollegin Maria Meyer-Sevenich lenkte nun ein, offenbar alarmiert über die unterstellte Solidarität, und befand, dass die Forderungen des »Moorkomitees« unangemessen seien, selbst wenn »unter den Toten noch der eine oder andere Verfolgte« sei.167 Schließlich wurde auf Anraten von CDU-Ausschussmitgliedern entschieden, die Eingabe an die Landesregierung zu überweisen.168 Deren Entscheidung, die sich unter anderen Umständen eventuell in die Länge gezogen hätte, sollte einen entscheidenden Impuls erhalten. Denn Willy Brandt legte im Oktober 1969 dem Bundesrat eine Rechtsverordnung zum BEG zur Zustimmung vor, die am 10. Januar 1970 in Kraft trat. In der »Verordnung zur Änderung und Ergänzung der Sechsten Verordnung zur Durchführung des
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men folgende Ministerialvertreter an der Sitzung teil: Dr. Lühr, Röhr, Dr. Düwel (Justizministerium); Tabarth, Suppa, Reichardt (Innenministerium); Schöngreen (Finanzministerium); Dr. Gödel (Ministerium für Bundesangelegenheiten für Vertriebene und Flüchtlinge); Balzer (Landtagsverwaltung); Dr. Giesing (Gesetzgebungs- und Beratungsdienst beim Landtag): vgl. Niederschrift der 48. Sitzung des Ausschusses für Rechts- und Verfassungsfragen am 2. Mai 1968 (NMfIS, 199 141/14 Band I, Bl. 173). Niederschrift der 48. Sitzung des Ausschusses für Rechts- und Verfassungsfragen am 2. Mai 1968 (ebd., Bl. 175). Ebd., Bl. 176. Ebd., Bl. 178. Dass die Entscheidung vertagt wurde, war auf Regierungsrat Suppa zurückzuführen. Er hatte zu bedenken gegeben, dass Erichsen bereits dreimal mit seinen Forderungen an das Innenministerium herangetreten sei: einmal als Privatperson, dann im Namen der Osnabrücker Kreisvertretung der VVN und ein drittes Mal »über eine Institution in Stuttgart« – damit war wohl die Hilfsstelle für Rasseverfolgte gemeint. Dieser Beharrlichkeit entnahmen die Ausschussmitglieder offenbar, dass sich Erichsen nicht mit einer erklärenden Ablehnung zufriedengeben würde. Vgl. Niederschrift der 48. Sitzung des Ausschusses für Rechts- und Verfassungsfragen am 2. Mai 1968 (NMfIS, 199 141/14 Band I, Bl. 178).
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Alte und neue Akteure
undesentschädigungsgesetzes« wurden erstmals die Strafgefangenenlager im B Emsland im Sinne des »§ 31 Abs. 2 BEG« als Konzentrationslager anerkannt.169 Diese Ergänzung hatte weitreichende Folgen. Nicht nur Entschädigungsansprüche, die bislang abgelehnt worden waren, weil die entsprechende Haftstätte nicht als KZ anerkannt war, konnten nun erneut beantragt werden, auch der bisherige Umgang mit den Gräbern im Emsland musste überdacht werden.170 Denn wenn es sich laut BEG bei den Emslandlagern um eine Art Konzentrationslager handelte, konnten die hier Verstorbenen nicht länger von den Bestimmungen des Gräbergesetzes ausgeschlossen werden. Vor diesem Hintergrund entschied der niedersächsische Innenminister Lehners (SPD) als erstes, und gegen die Empfehlung seines Mitarbeiters Rudolf Suppa, den 1966 gestifteten Stein auf dem Friedhof Bockhorst-Esterwegen abtragen zu lassen.171 Als zweites wurden im Mai 1970 auf Basis der Zusatzverordnung des BEG alle Gräber auf dem Friedhof Bockhorst-Esterwegen gemäß dem Gräbergesetz vom 1. Juli 1965 anerkannt als »Gräber von Personen, die als Opfer nationalsozialistischer Gewaltmaßnahmen seit dem 30. Januar 1933 ums Leben gekommen sind oder an deren Folgen bis 31. März 1952 gestorben sind«.172 Dadurch änderten sich die Verwaltungsbestimmungen für den Friedhof Bockhorst-Esterwegen. Die Zwischenvereinbarung, wonach der Friedhof in die Zuständigkeit des Ministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten übertragen worden war, da er sich auf moorfiskalischem Grund befand, wurde nun aufgehoben. Stattdessen wurden die Gräber entsprechend dem Gräbergesetz in den Zuständigkeitsbereich des Innenministeriums übertragen.173
169 Vgl. Verordnung zur Änderung und Ergänzung der Sechsten Verordnung zur Durchführung des Bundesentschädigungsgesetzes (ErgVO-6.DV-BEG) vom 10.1.1970, Bundesgesetzblatt (BGBl) vom 16.1.1970, Teil 1 (Nr. 5/1970), S. 65–100. 170 Vgl. Bundesrepublik Deutschland Bundeskanzler an Präsident des Bundesrates, Bitte um Zustimmung des Bundesrates vom 16.10.1969 (NMfIS, 199 141/14 Band 2, Bl. 297). 171 Der Bezirksleiter der IG Metall Hamburg, Heinz Scholz, hatte am 28.10.1969 vor Richard Lehners erklärt, dass er die Entfernung des Gedenksteins »für die zweckmäßigste Lösung« halte. Der Innenminister gab ihm Recht und legte dar, dass sowieso geplant sei, den Stein in Kürze zu Reparaturzwecken abzuholen, ihn dann aber nicht mehr an selber Stelle aufzustellen. Den Stein ganz abzutragen stieß auf seine Zustimmung. Abteilung I I/3c-199.141, Betr.: Friedhof am Küstenkanal in Bockhorst-Esterwegen, Landkreis Aschendorf-Hümmling vom 31.10.1969 (NMfIS, 199 141/53 Band I, Bl. 54); vgl. Industriegewerkschaft Metall Bezirksleitung Hamburg an niedersächsischen Minister des Innern Richard Lehners vom 29.10.1969 (NMfIS, 199 141/53 Band I, Bl. 56). 172 Niedersächsischer Minister des Innern I/3c-199.141 an Regierungspräsident in Osnabrück, Betr.: Gräber der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft vom 26.5.1970 (NMfIS, 199 141/14 Band 3, Bl. 327). 173 Vgl. Niedersächsischer Minister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten an Regierungspräsident in Osnabrück, Betr.: moorfiskalischer Grundbesitz im Emsland, hier: Lagerfriedhöfe vom 28.10.1969 (NMfIS, 199 141/14 Band 3, Bl. 326–329).
Die offizielle Anerkennung
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Noch im selben Jahr wurde die Um- und Ausgestaltung des Friedhofs Bockhorst-Esterwegen mit Kosten in Höhe von 350 000 DM veranlasst.174 An den Planungen waren von Behördenseite das Innenministerium und das Osnabrücker Regierungspräsidium sowie Vertreter des niedersächsischen Landesbezirks des DGB beteiligt.175 Infolge der damaligen politischen Machtverhältnisse gestalteten also erstmals maßgeblich Sozialdemokraten den Erinnerungsort. Dass die Bedeutung des Ortes dabei anerkannt wurde, zeigt seine Ausgestaltung: Für die Besuchenden wurde ein Parkplatz angelegt sowie ein zentraler Weg und eine Wegeführung entlang der Grabreihen. Der Carl-von-Ossietzky-Stein wurde näher an die Grabreihen versetzt, um einen größeren Gedenk- und Versammlungsplatz zu schaffen. Im Eingangsbereich wurde ein Gedenkstein aufgestellt, der die Inschrift trug: »Den hier ruhenden Toten zum Gedenken 1939–1945.«176 Außerdem entwarf der Bildhauer Ruwe eine Plastik, die drei ineinander verschlungene Körper andeutet und die am Kopfende des Friedhofs aufgestellt wurde.177 Feierlich eingeweiht wurde der nun von Gewerkschaftern und Sozialdemokraten als Gedenkstätte bezeichnete Friedhof am 9. August 1973.178 Für die rechtliche Anerkennung der Emslandlager und ihrer Toten waren zwischen 1966 und 1969 verschiedene Akteure auf- und eingetreten. Erst im Zusammenspiel der Berichterstattung durch die Presse, des wiederholten Protestes seitens außerparlamentarisch organisierter Gruppen und der Emsland-Lagergemeinschaft sowie mit erheblicher politischer Unterstützung sozialdemokratischer und gewerkschaftlicher Akteure war die Unrechtmäßigkeit des Strafvollzugs in den Emslandlagern dabei gesetzlich anerkannt worden.179 Entsprechend den neuen Richtlinien im BEG, das die Strafgefangenenlager im Emsland nicht länger als rechtmäßige Haftstätten deutete, sondern ihren KZ-ähnlichen Charakter anerkannte, konnte auch die Auflösung der Gräber von Strafgefangenen verhindert werden. Die einseitige Betrachtung der Lager als reguläre Strafanstalten war somit zumindest teilweise aufgebrochen. Der Konflikt um die Stigmatisierung der Gefangenen blieb jedoch über das Jahr 1970 ungelöst. 174 Das Garten- und Landschaftsarchitekturbüro Nolte und Zilmer erhielt den Auftrag zur Ausgestaltung, vgl. Erläuterungsbericht zum Gestaltungsentwurf vom 20.11.1971 (NMfIS, 199 141/14 Band 3, Bl. 339). 175 Vgl. Niedersächsisches Ministerium des Innern, Vermerk vom 9.3.1972 (ebd., Bl. 345). 176 Pikantes Detail war, dass der 1966 vom Innenministerium aufgestellte Stein hierbei wiederverwendet wurde. Vgl. Regierungspräsident in Osnabrück an niedersächsischen Minister des Innern, Betr.: Erlaß vom 4.10.1971 – I/3c-199/141/14 vom 6.12.1971 (ebd., Bl. 337). 177 Vgl. Ansprache des Regierungspräsidenten in Osnabrück Zürlick bei der Einweihung der Gedenkstätte Bockhorst-Esterwegen am 9. August 1973 (ebd., Bl. 376). 178 Vgl. Rede des Regierungspräsidenten Josef Zürlik anlässlich der Einweihungsfeierlichkeiten am 9.8.1973 (ebd., Bl. 353). 179 Vgl. ITS, Vorläufiges Verzeichnis der Konzentrationslager und deren Außenkommandos sowie anderer Haftstätten unter dem Reichsführer-SS in Deutschland und Deutsch besetzten Gebieten (1933–1945), Bad Arolsen, o. D. (1968), (NMfIS, 199 141/14 Band 2, unpag.).
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Alte und neue Akteure
3. Zwischenfazit Typisch für die 1960er-Jahre war die Erosion von Schweigegeboten.180 Wie gezeigt, war dieser Aufbruch auch im Emsland zu beobachten. Welche Faktoren aber begünstigten, dass Anfang der 1960er-Jahre die öffentliche Aufmerksamkeit auf die tabuisierte Vergangenheit im Emsland gerichtet wurde? Hier zeigte sich eine Konstellation unterschiedlicher Akteure und eine Dynamisierung auf mehreren Ebenen. Auf der Akteursebene war der sich in den 1960er-Jahren vollziehende Wandel geprägt von Sozialdemokraten und Gewerkschaftsangehörigen, einer neuen Generation, kritischen Journalisten und einer sich konsolidierenden Lagergemeinschaft. Diese Akteure verhandelten mit Bezug auf die Emslandlager gruppenbedingt unterschiedliche Interessen. Die Mitglieder der »Emsland-Lagergemeinschaft« versuchten, ihre Deutungshoheit zu verteidigen. Sozialdemokraten und Gewerkschaftsangehörige besannen sich auf ihre eigene Verfolgungserfahrung. Eine in Bewegung geratende Jugend klagte die Region stellvertretend für die gesamte bundesrepublikanische Gesellschaft an und etablierte neue erinnerungskulturelle Praktiken. Trotz der genannten Unterschiede näherten sich diese Akteure in den 1960er-Jahren einander an und der soziale Bezugsrahmen des Gedenkens erweiterte sich: Über das Erinnerungsmilieu ehemaliger Gefangener hinaus bildete sich eine Gedächtnisgemeinschaft, die die Forderung des »Nie wieder« vereinte und zusammenhielt. Prozesse gegen NS-Täter, »Spiegel-Affäre«, Notstandsgesetze, Gründung der NPD – all diese Ereignisse und Entwicklungen vergegenwärtigten dabei die jüngste Vergangenheit und liefen als Deutungslinien zugleich in von Ossietzky zusammen. Er repräsentierte den politischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus und stand auf einer abstrakteren Ebene für Grundrechte, Pressefreiheit und Pazifismus. Eine Bedeutung, die im Kern stabil war und die Legitimationsgrundlage für viele linksorientierte Akteure schuf. Da der Friedensnobelpreisträger von Ossietzky mit Abstand einer der prominentesten Gefangenen des KZ Esterwegen war, konnte sich in den 1960er-Jahren das friedensbewegte Ossietzky-Gedenken verstetigen, das mit dem Denkmal von 1963 einen festen Ritualort erhalten hatte. Der Symbolfigur von Ossietzky kam damit eine hohe Integrationskraft zu.
180 Vgl. Thamer, NS-Vergangenheit im politischen Diskurs, S. 44.
VI.
Spurensuche und -bewahrung (1974–2011)
Nach Eric Hobsbawm zeichnete sich um das Jahr 1974 infolge der Ölkrise ein Ende des »Goldenen Zeitalters« ab, es begann die »Geschichte einer Welt, die ihre Orientierung verloren hat und in Instabilität und Krise geschlittert ist«.1 Auf bundespolitischer Ebene markierte der Rücktritt Willy Brandts (1974) einen Einschnitt und den Beginn der Regierungszeit von Helmut Schmidt, die von den Folgen der Wirtschaftseinbrüche, des Linksterrorismus und einer allgemeinen gesellschaftlichen Verunsicherung geprägt war.2 Die Zeit »nach dem Boom«3 ist nach heutigem Forschungsstand jedoch nicht nur als krisenhaft zu kennzeichnen, sondern auch als Aufbruch zu Neuem, auch durch ein gesteigertes Orientierungsbedürfnis. So war eine der Folgen des zunehmenden Bewusstseins für die »Grenzen des Wachstums«4 die Entstehung der neuen sozialen Bewegungen, die sich mit Themen wie Umweltschutz, Atomgegnerschaft, Frauen- und Minderheitenrechten, Fragen der Arbeitsmarkt- und Wohnraumpolitik, aber auch Geschichte auseinandersetzten. Harald Schmid hat in dieser Zeit der Orientierungs- und Sinnsuche den »Beginn der zweiten geschichtskulturellen Achsenzeit«5 beobachtet. Seit Mitte der 1970er-Jahre bildeten sich die noch heute aktuellen Kernelemente einer
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Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1998, S. 325 und 503. Vgl. Eckart Conze, Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis in die Gegenwart, München 2009, S. 463–578. Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008. Dennis Meadows/Donella H. Meadows/Erich Zahn/Peter Milling, Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit, Stuttgart 1972. Harald Schmid, Von der »Vergangenheitsbewältigung« zur »Erinnerungskultur«. Zum öffentlichen Umgang mit dem Nationalsozialismus seit Ende der 1970er-Jahre. In: Paul/Schoßig (Hg.), Öffentliche Erinnerung und Medialisierung, S. 171–202, hier 172.
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Spurensuche und -bewahrung
opferzentrierten, den Umgang mit der NS-Vergangenheit historisierenden und problematisierenden Erinnerungskultur aus.6 In diesem Zusammenhang wird oft die Erstausstrahlung der Fernsehserie »Holocaust« (1979) genannt, die aufgrund ihres individualisierenden Darstellungsprinzips das Bewusstsein für die jüdischen Opfer schärfte.7 Aber auch andere und frühere Entwicklungen deuten auf einen tiefgreifenden erinnerungskulturellen Wandel hin. Der vom damaligen Bundespräsidenten Gustav Heinemann (SPD) initiierte und seit dem Jahr 1973 ausgerufene Schülerwettbewerb Deutsche Geschichte war gekennzeichnet von einer »Orientierung auf die Lokalgeschichte und der Berücksichtigung neuer Arbeitsformen wie der Zeitzeugenbefragung«.8 Ende der 1970er-Jahre gingen immer breitere Bevölkerungsanteile unter dem Diktum »Grabe, wo du stehst« des Schweden Sven Lindqvist auf Spurensuche: Sie interessierten sich für die Vergangenheit ihres sozialen und geografischen Umfeldes, wollten Wissenshierarchien abbauen und traten für eine dezentrale Erinnerungskultur ein.9 Die »Neue Geschichtsbewegung«, wie sie »Der Spiegel« im Jahr 1983 bezeichnete und damit bewusst mit den neuen sozialen Bewegungen assoziierte, stellte dabei auch eine Gegenbewegung dar.10 Denn in den 1980er-Jahren setzte sie der Geschichtspoli-
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Vgl. Manfred Hettling, Die Historisierung der Erinnerung – Westdeutsche Rezeption der natio nalsozialistischen Vergangenheit. In: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte, 29 (2000), S. 357–378, hier 360. 7 Vgl. Habbo Knoch, Die Serie »Holocaust«. Geschichtsvermittlung als Fernsehunterhaltung. In: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, 1 (2016), S. 62–73; Frank Bösch, Film, NS-Vergangenheit und Geschichtswissenschaft. Von »Holocaust« zu »Der Untergang«. In: VfZ, 55 (2007) 1, S. 1–32, hier 11. 8 Alfons Kenkmann, Einleitung. Ein Phänomen in der bundesdeutschen Geschichtslandschaft: Der Schülerwettbewerb Deutsche Geschichte um den Preis des Bundespräsidenten. In: ders. (Hg.), Jugendliche erforschen die Vergangenheit: Annotierte Bibliographie zum Schülerwettbewerb Deutsche Geschichte um den Preis des Bundespräsidenten, Hamburg 1997, S. 6–25, hier 9. 9 Sven Lindqvist, Grabe, wo du stehst. Handbuch zur Erforschung der eigenen Geschichte, Bonn 1989, 1978 im Original erschienen. 10 O. V., Ein kräftiger Schub für die Vergangenheit. Spiegel-Report über die neue Geschichtsbewegung in der Bundesrepublik. In: DER SPIEGEL vom 6.6.1983, S. 36–42. Zur Neuen Geschichtsbewegung vgl. Jenny Wüstenberg, Civil Society and Memory in Postwar Germany, Cambridge 2017; Fabian Schwanzar, Erinnerung als Selbstermächtigung? Die Institutionalisierung der Alten Synagoge Essen zwischen Gedenkstättenbewegung und Holocaust-Rezeption. In: MEDAON, 13 (2013) (http://www.medaon.de/pdf/MEDAON_13_Schwanzar.pdf; 15.5.2020), S. 8; Michael Wildt, Die Epochenzäsur 1989/90 und die NS-Historiographie. In: Zeithistorische Forschungen, 5 (2008) 3, S. 349–371; Detlef Siegfried, Die Rückkehr des Subjekts. Gesellschaftlicher Wandel und neue Geschichtsbewegung um 1980. In: Olaf Hartung/Katja Köhr (Hg.), Geschichte und Geschichtsvermittlung. Festschrift für Karl Heinrich Pohl, Bielefeld 2008, S. 125–146; Alfred Georg Frei, Die Geschichtswerkstätten in der Krise. In: Berliner Geschichtswerkstätten (Hg.), Alltagskultur, Subjektivität und Geschichte. Zur Theorie und Praxis von Alltagsgeschichte, Münster 1994, S. 315–336; Gerhard Paul/Bernhard Schoßig (Hg.), Die andere Geschichte. Geschichte von unten – Spurensicherung – Ökologische Geschichte – Geschichtswerkstätten,
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tik11 von Helmut Kohl, die von einer gezielten nationalen Identitätsstiftung durch die »Rück- und Neubesinnung auf ›positive‹ Traditionsbestände«12 charakterisiert war, die »Wiederbelebung der Regionalgeschichte«, die Auseinandersetzung mit den Spuren der NS-Vergangenheit vor der Haustür sowie ein antielitäres Selbstverständnis entgegen.13 In diesem Klima erreichten Akteure, die sich für die Erhaltung der historischen Orte von NS-Verbrechen einsetzten, eine breite zivilgesellschaftliche Unterstützung. Der Übergang von lose organisierten Gedenkstätteninitiativen hin zu staatlich geförderten Gedenk- und Lernorten war schließlich Folge des politischen Umbruchs 1989/90. Angesichts der Entdeckung von Massengräbern auf den Geländen der ehemaligen Nationalen Mahn- und Gedenkstätten der DDR, Buchenwald und Sachsenhausen, die aus der Zeit der sowjetischen Speziallager stammten, wurde die Frage nach der Singularität der nationalsozialistischen Verbrechen zum Streitpunkt.14 Ebenso sollten vor dem Hintergrund einer zunehmend die bundesrepublikanische Erinnerungskultur problematisierenden Betrachtung in der Auseinandersetzung mit den Verbrechen in der SBZ und DDR die Fehler der »Zweiten Geschichte des Nationalsozialismus«15 nicht wiederholt werden.16 Im Mai 1992 wurde daher die Enquete-Kommission »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland« eingesetzt, die die Frage nach der Zulässigkeit des Systemvergleichs diskutierte und sich dabei auf den »antitotalitären Konsens« einigte.17 Aus den Überlegungen zum Umgang mit den Orten doppelter Vergangenheit ging im Jahr 1999 die
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Köln 1986; Hannes Heer/Volker Ullrich, Die »neue Geschichtsbewegung« in der Bundesrepublik. Antriebskräfte, Selbstverständnis, Perspektiven. In: dies. (Hg.), Geschichte entdecken. Erfahrungen und Projekte der neuen Geschichtsbewegung, Hamburg 1985, S. 9–36. Vgl. Harald Schmid, Vom publizistischen Kampfbegriff zum Forschungskonzept. Zur Historisierung der Kategorie »Geschichtspolitik«. In: ders. (Hg.), Geschichtspolitik und kollektives Gedächtnis, Göttingen 2009, S. 53–76. Kristina Meyer, Die SPD und die NS-Vergangenheit 1945–1990, Göttingen 2015, S. 432. Etta Grotrian, Vorgeschichte, Vorbild oder Sackgasse? Zur Historisierung der »neuen Geschichtsbewegung« der Bundesrepublik der späten 1970er und 1980er Jahre. In: WerkstattGeschichte, (2017) 75, S. 15–24, hier 18; vgl. Krijn Thijs, Drei Geschichten, eine Stadt. Die Berliner Stadtjubiläen von 1937 und 1987, Köln 2008, S. 113–116. Vgl. David Marquard, Die »Wende« in der Gedenkstättenpolitik. Die Entwicklung der Gedenkstättenkonzeption des Bundes und ihre Auswirkungen auf KZ-Gedenkstätten. In: Werner Nickolai/Wilhelm Schwendemann (Hg.), Gedenkstättenpädagogik und Soziale Arbeit, Berlin 2012, S. 223–281, hier 237–248. Reichel, Vergangenheitsbewältigung, S. 9. Vgl. Bernd Faulenbach, Diktaturerfahrungen und demokratische Erinnerungskultur in Deutschland. In: Anna Kaminsky (Hg.), Orte des Erinnerns. Gedenkzeichen, Gedenkstätten und Museen zur Diktatur in SBZ und DDR, Berlin 2016, S. 9–20, hier 10–14. Vgl. Jürgen Habermas, Die Bedeutung der Aufarbeitung der Geschichte der beiden Diktaturen in Deutschland für den Bestand der Demokratie in Deutschland und Europa. In: Deutscher Bundestag (Hg.), Enquete-Kommission »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland«, Band 9, Frankfurt a. M. 1995, S. 689.
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Spurensuche und -bewahrung
Gedenkstättenkonzeption des Bundes hervor, die Kriterien zur Förderung eines dezentralen Gedenkstättenwesens aus Bundesmitteln festlegte, maßgeblich orientiert am Kriterium der historischen Beispielhaftigkeit und der Authentizität der Orte. Sie sollte den Institutionalisierungs- und Professionalisierungsprozess der bundesdeutschen Gedenkstätten beschleunigen.18 Vor der Folie des hier angerissenen Wandels der Erinnerungs- und Gedenkstättenkultur wird im vorliegenden Kapitel der Weg nachgezeichnet von der Entstehung einer Gedenkstätteninitiative in den 1970er- und 1980er-Jahren über die staatliche Förderung derselben seit den 1990er-Jahren bis hin zur Planung und Eröffnung der vom Landkreis Emsland getragenen Gedenkstätte Esterwegen seit Mitte der 2000er-Jahre. Diese Entwicklungsschritte korrespondieren mit den beschriebenen Makroprozessen: Der Orientierungssuche und Hinwendung zu den historischen Spuren der nationalsozialistischen Verbrechensgeschichte, dem Beginn der Institutionalisierung der Gedenkstätten durch den Fall des Eisernen Vorhangs und der vor allem seit den 2000er-Jahren einsetzenden Professionalisierung der Gedenkstättenarbeit durch eine zunehmende finanzielle Ausstattung.
1.
Gedenkstätteninitiativen und Geschichte von unten
Die westdeutsche Geschichtsbewegung, genauer die Gedenkstätten- und Geschichtswerkstättenbewegung, wird in den letzten zehn Jahren zunehmend historisiert.19 Insbesondere die »Geschichte von unten« rückt dabei als theoretisches Programm in den Fokus. Diesem geschichtswissenschaftlichen Perspektivwechsel sowie seinem Einfluss auf die Gedenkstättenbewegung wird sich im Folgenden im Zusammenhang mit der Demokratisierung des Hochschulwesens gewidmet, da sich sowohl an der Gedenkstätteninitiative Emslandlager als auch anderen Initiativen, die Ende der 1970er-Jahre entstanden, wie z. B. Breitenau, eine Verbindungslinie zu den westdeutschen Reformuniversitäten ziehen lässt. Daher wird die These vertreten, dass es sich in der Entstehungszeit der Gedenkstättenbewegung keineswegs um eine von »Barfußhistorikern«, so die in den 1980er-Jahren geprägte despektierliche Bezeichnung für Laienhistorikerinnen und -historiker, getragene Bewegung handelte, sondern ihre Ursprünge im fortschrittsorientierten universitären Milieu zu suchen sind.20 18
Vgl. Detlef Garbe, Die Gedenkstättenkonzeption des Bundes: Förderinstrument im geschichtspolitischen Spannungsfeld. In: GedenkstättenRundbrief, (2016) 182, S. 3–17, hier 5. 19 Vgl. Grotrian, Vorgeschichte, Vorbild oder Sackgasse. Zu den aktuellen Forschungsprojekten zählt das Dissertationsprojekt von Ulrike Löffler, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Zwischen »Betroffenheit«, »Schuldeinsicht« und »radikaler Überwindung des Faschismus«. Die pädagogische Arbeit bundesdeutscher NS-Gedenkstätten (Arbeitstitel). 20 Vgl. Adelheid von Saldern, Stadtgedächtnis und Geschichtswerkstätten. In: WerkstattGeschichte, (2008) 50, S. 54–68, hier 56.
Gedenkstätteninitiativen und Geschichte
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Die Entstehung der Reformuniversitäten stand im Zusammenhang mit dem steigenden Anteil von Studierenden seit Ende der 1950er-Jahre.21 War auf politischer Ebene noch davon ausgegangen worden, dass die Studierendenzahlen nach Abebben der Babyboomjahrgänge wieder konstant blieben, musste die Bildungspolitik im Laufe der 1960er-Jahre der deutlich werdenden Bildungsexpansion angepasst werden. Reformorientierte Kräfte sahen in der wachsenden Nachfrage nach Studienplätzen und dem erforderlichen Ausbau von Universitäten die Möglichkeit einer Abkehr von der Ordinarienuniversität und einer umfassenden Modernisierung des Hochschulwesens. Während in den 1960er-Jahren die ersten Reformuniversitäten in Bremen (1960), Konstanz (1966) und Bielefeld (1969) entstanden, erforderte der »Übergang zur Massenausbildung« in den 1970er-Jahren weitere Hochschulgründungen wie Kassel (1971) oder Oldenburg (1973).22 Ebenso aus dem Umfeld der Reformuniversitäten wurde eine Modernisierung der deutschen Sozialgeschichte angestrebt, die sich in den 1970er-Jahren als Sozialgeschichte Bielefelder Provenienz etablierte.23 Erstmals gewannen auch regionale Räume an Bedeutung, wie das 1973 unter Leitung von Martin Broszat aufgenommene »Bayern-Projekt« am Institut für Zeitgeschichte, das ländliche Milieus und ihr Verhalten zur nationalsozialistischen Herrschaft untersucht hatte.24 Deutlich politischer, aber ebenso einen regionalen Forschungsausschnitt wählend war die Studie von Detlev Peukert, die sich dem Arbeiterwiderstand im Ruhrgebiet (1976) widmete.25 Ende der 1970er-Jahre wandten sich zudem junge Historikerinnen und Historiker nach Vorbildern wie Edward P. Thompson oder Hobsbawm26
21 Vgl. Moritz Mälzer, Auf der Suche nach der neuen Universität. Die Entstehung der »Reform universitäten« Konstanz und Bielefeld in den 1960er Jahren, Göttingen 2016, S. 9. 22 Vgl. Matthias Middell, Ähnlichkeiten und Unterschiede im Vergleich der deutschen Wissenschaftssysteme nach 1945. In: Michael Grüttner/Rüdiger Hachtmann/Konrad H. Jarausch/Jürgen John/ders. (Hg.), Gebrochene Wissenschaftskulturen. Universität und Politik im 20. Jahrhundert, Göttingen 2010, S. 209–214, hier 212. 23 Vgl. Wildt, Die Epochenzäsur 1989/90, S. 351 f. 24 Vgl. Stefan Brakensiek, Regionalgeschichte und Sozialgeschichte. Studien zur ländlichen Gesellschaft im deutschsprachigen Raum. In: ders./Axel Flügel (Hg.), Regionalgeschichte in Europa. Methoden und Erträge der Forschung zum 16. und 19. Jahrhundert, Paderborn 2000, S. 197– 251, hier 198; Michael Wildt, Das »Bayern-Projekt«, die »Alltagsforschung« und die »Volksgemeinschaft«. In: Norbert Frei (Hg.), Martin Broszat, der »Staat Hitlers« und die Historisierung des Nationalsozialismus, Göttingen 2007, S. 119–129, hier 120 f.; Martin Broszat/Elke Fröhlich (Hg.), Bayern im Nationalsozialismus, 6 Bände, München 1977–1983. 25 Vgl. Peukert, Ruhrarbeiter gegen den Faschismus. Zum Verhältnis Peukerts zur Geschichtsbewegung vgl. Hanno Hochmuth, Theorie und Alltag. Detlev Peukert und die Geschichtswerkstätten. In: Rüdiger Hachtmann/Sven Reichardt (Hg.), Detlev Peukert und die NS-Forschung, Göttingen 2015, S. 159–174. 26 Vgl. Dominik Nagl, Edward P. Thompson. Die Neue Linke und die Krise im britischen Marxismus der 1960er und 1970er Jahre. In: AutorInnenkollektiv Loukanikos (Hg.), History is unwritten. Linke Geschichtspolitik und kritische Wissenschaft. Ein Lesebuch, Münster 2015, S. 85–101.
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zunehmend marginalisierten Gesellschaftsgruppen zu.27 In der Berücksichtigung der kleinen Leute gewannen neue Quellen und Methoden wie Alltagsgegenstände und mündliche Befragungen an Bedeutung.28 Eine ähnliche Stoßrichtung nahm die italienische Mikrogeschichte, zu deren Leitkategorie das der Kriminalistik entlehnte Spurenbild zählte.29 Carlo Ginzburg hatte in seinem Aufsatz »Spurensicherung«30 für eine Rekonstruktion von Vergangenheit aus der kleinteiligen Zusammenführung des Alltäglichen plädiert und damit »Semiotik und Geschichtswissenschaft« zusammengeführt.31 Dieser Zugang findet sich deutlich in der Praxis der Gedenkstättenbewegung: Ihre Akteure legten die materiellen historischen Orte von NS-(Gewalt-)Geschichte frei, machten sie »als offene Wunde« sichtbar und konservierten diese Symbole einer verdrängten Vergangenheit zugleich in Form der Errichtung von Gedenkstätten.32 1.1
»Die Auseinandersetzung begann mit Ossietzky«
Die Reformuniversität Oldenburg steht beispielhaft für die Neuorientierung des bundesrepublikanischen Hochschulwesens seit den 1960er-Jahren. Ein deutliches Zeichen setzte die 1973 gegründete Hochschule mit dem für viel Furore sorgenden Kooperationsvertrag zwischen ihr und dem DGB im Dezember 1974. Erstmals wurde damit eine Brücke zwischen Wissenschaft, Bildung und Arbeitsmarkt geschlagen.33 In diesem reformorientierten Klima schien Anfang der
27 Vgl. Thomas Lindenberger, »Alltagsgeschichte« oder: Als um die zünftigen Grenzen der Geschichtswissenschaft noch gestritten wurde. In: Martin Sabrow/Ralph Jessen/Klaus Große Kracht (Hg.), Zeitgeschichte als Streitgeschichte. Große Kontroversen seit 1945, München 2003, S. 74–93, hier 76. Vgl. Adelheid von Saldern, »Schwere Geburten«. Neue Forschungsrichtungen in der bundesrepublikanischen Geschichtswissenschaft (1960–2000). In: WerkstattGeschichte, (2005) 40, S. 5–30. Zur Diskussion zwischen Sozial- und Alltagsgeschichte vgl. Alf Lüdtke (Hg.), Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen, Frankfurt a. M. 1989. 28 Vgl. Frei, Die Geschichtswerkstätten in der Krise, S. 317; Lutz Niethammer (Hg.), Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet 1930–1960, 3 Bände, Berlin 1983–1985. 29 Vgl. Anke te Heesen, Spurensicherung und das Jahr 1979. Über Kunst und Wissenschaft. In: Michael Wildt (Hg.), Geschichte denken. Perspektiven auf die Geschichtsschreibung heute, Göttingen 2014, S. 244–259, hier 253–259. 30 Der volle Titel lautet: Spurensicherung. Der Jäger entziffert die Fährte, Sherlock Holmes nimmt die Lupe, Freud liest Morelli, Im Original: Spie. Radici di un paradigma indiziario. In: Aldo Gargani (Hg.), Crisi della ragione, Turin 1979, S. 57–106. 31 Te Heesen, Spurensicherung, S. 255. 32 Habbo Knoch, »Ferienlager« und »gefoltertes Leben«. Periphere Räume in ehemaligen Konzentra tionslagern. In: Gabriele Hammermann/Dirk Riedel (Hg.), Sanierung – Rekonstruktion – Neu gestaltung. Zum Umgang mit historischen Bauten in Gedenkstätten, Göttingen 2014, S. 32–49, hier 39. 33 Die niedersächsische CDU intervenierte bereits im Dezember 1974, als ein Kooperationsvertrag zwischen Universitätsgremien, dem Bildungswerk »Arbeit und Leben« sowie dem DGB geschlos-
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1970er-Jahre auch die Widmung der Universität nach dem Linksintellektuellen von Ossietzky möglich, jedoch scheiterte der von der Planungskommission eingebrachte Antrag an der sozialdemokratischen Landesregierung.34 Aus einem sich daraufhin bildenden Protestbündnis ging im Februar 1977 die Initiative für ein Dokumentations- und Informationszentrum (DIZ) Emslandlager hervor.35 »Die Auseinandersetzung begann mit Ossietzky«, konstatiert rückblickend Kurt Buck, Gründungsmitglied und Leiter des DIZ Emslandlager zwischen 1985 und 2019.36 Am 1. März 1971 hatte das niedersächsische Kultusministerium einem ehrenamtlich tätigen Gründungsausschuss die Aufgabe übertragen, die Reformuniversität in Oldenburg zu planen: angefangen von der Studiengangorganisation über hochschulpolitische Strukturen bis hin zu Studien- und Prüfungsordnungen.37 In ihren Anfängen zeigten sich die Folgen des »Zerfalls der 68er-Linken«,38 denn gerade der sich nach der Auflösung des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes bildende Marxistische Studentenbund (MSB) Spartakus (1971) dominierte die Studentenschaft und nahm Einfluss auf die Planungen der Reformuniversität. Die Personalpolitik des Gründungsausschusses war daher von Beginn an dem
sen werden sollte. Es bestünde die Gefahr, so Werner Remmers (CDU), dass zukünftig nur noch DGB-Mitglieder zum Studium zugelassen würden. Letztlich wurde der Vertrag in einer überarbeiteten Fassung am 17.12.1974 unterzeichnet. Vgl. Norddeutscher Rundfunk, Journal 3 für Bildung und Erziehung vom 16.12.1974 (NLA OL, Dep 36, 2011/040 Nr. 417, unpag.). 34 Vgl. Rainer Rheude, Kalter Krieg um Ossietzky. Warum die Universität Oldenburg fast 20 Jahre lang um ihren Namen streiten musste, Bremen 2009. 35 Werner Boldt, Die Emslandlager als Gegenstand historisch-politischer Bildung. In: Elke Suhr/ ders. (Hg.), Lager im Emsland: 1933–1945. Geschichte und Gedenken, Oldenburg 1985, S. 45– 74, hier 46. Einblicke in die Anfänge der Initiative gewähren die Bestände »Verein Oldenburgischer Lehrer und Lehrerinnen« (Erw 152) und »Deutscher Gewerkschaftsbund – Region Oldenburg-Wilhelmshaven« (Dep 36) des niedersächsischen Landesarchivs Oldenburg. Hier sind u. a. Sitzungsprotokolle der Planungskommission der Reformuniversität sowie Korrespondenzen zwischen dem sich für ein DIZ einsetzenden Hochschulpersonal überliefert. 36 Kurt Buck, Leiter des DIZ Emslandlager bis 2019, im Gepräch mit A. Düben, am 22.6.2018. 37 Der Ausschuss setzte sich aus 15 Personen aus dem Hochschulbereich zusammen – das Gremium war dabei drittelparitätisch mit Professorinnen und Professoren, Assistentinnen und Assistenten sowie Studentinnen und Studenten besetzt. Vgl. Protokoll der 26. ordentlichen Sitzung des Gründungsausschusses für die Universität Oldenburg vom 1.–3.11.1972 (NLA OL, Erw 152, Best. 275-3, Nr. 53, Bl. 53). Zur Gründungsgeschichte vgl. Hilke Günther-Arndt, Geschichte der Universität Oldenburg 1974–1999. In: Oldenburger Universitätsreden. Vorträge – Ansprachen – Aufsätze, (2000) 120, S. 27–58, hier 32–34. In dem Gründungsausschuss vertreten waren sechs Angehörige der Pädagogischen Hochschule Niedersachsen, zwei Mitglieder der Fachhochschule Oldenburg sowie sieben weitere externe Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und Studierende, vgl. Rainer Krüger, Die Universitätsgründung – unkonventionell und doch erfolgreich! In: Gerhard Harms/Peter Waskönig (Hg.), Mehr Lust als Last. Der Gründungsrektor und die Präsidenten der Carl von Ossietzky Universität über ihre Herausforderungen und Erfolge 1974– 2010, Oldenburg 2011, S. 11–46, hier 12–14. 38 Vgl. Heer/Ullrich, Die »neue Geschichtsbewegung«, S. 16.
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Vorwurf ausgesetzt, von Linksradikalen gesteuert zu sein.39 In einer Reihe von Artikeln der Oldenburger »Nordwest-Zeitung« (NWZ) wurde vor einer linken Kaderpolitik gewarnt.40 Angesichts dieser Vorwürfe veröffentlichte das Dekanat der Pädagogischen Hochschule Oldenburg, die in der neuen Reformuniversität aufgehen sollte, am 29. Juli 1971 eine Presseerklärung, in der sie »angebliche Tendenzen der einseitigen ›Ideologisierung‹ im Gründungsausschuss« zurückwies.41 Das niedersächsische Kultusministerium schaltete sich dennoch immer häufiger in die Personalentscheidungen des Gründungsausschusses ein und lehnte Berufungen von DKP-Mitgliedern mit Verweis auf den »Radikalenerlass« ab.42 Der am 6. Juni 1972 eingebrachte Vorschlag des Göttinger Jurastudenten Hans-Henning Adler, Mitglied der DKP, des MSB Spartakus und des Gründungsausschusses, die Reformuniversität Oldenburg nach von Ossietzky zu benennen, traf zu einem Zeitpunkt ein, als die Stimmung bereits aufgeladen war.43 Von sozialdemokratischen Mitgliedern des Ausschusses, wie Joist Grolle, wurde der Vorschlag als bündnispolitisch motiviert interpretiert.44 Aufgrund derartiger Einwände wurde die Namensgebung der Universität nach von Ossietzky am 7. Februar 1974 vom niedersächsischen Kultusministerium, das damals noch unter der SPD-Landesregierung stand, abgelehnt. Mit dieser Entscheidung entzündete sich der Streit um die Namensgebung der Universität Oldenburg, der sich darin zuspitzte, dass drei Studierende in der Nacht vom 15. auf den 16. Oktober 1974 den Schriftzug »Carl von Ossietzky Universität« gut sichtbar am Universitätsturm anbrachten.45 Während die Aktion überregional positiv aufgenommen wurde, wuchs der Widerstand seitens der Oldenburger Bevölkerung und es grün-
39 In der »Nordwest-Zeitung« gingen hierzu viele Leserbriefe ein. Vgl. o. V., Versuch einer Klärung. In: Leser-Forum NWZ vom 21.8.1971; Uni-Debatte – und kein Ende. Die Leserbrief-Debatte um die Personalpolitik des Gründungsausschusses geht noch immer unvermindert weiter. In: Leser-Forum NWZ vom 18.8.1971 (NLA OL, Dep. 36, 2011/040 Nr. 420 II, unpag.). 40 Vgl. Michael Zöllner, Die Hochschulen zwischen Leistungsprinzip und Ideologie, Reihe des DGB, o. D. (NLA OL, Dep 36, 2011/040 Nr. 420 I, unpag.). 41 Der Dekan, Pädagogische Hochschule Niedersachsen, Abteilung Oldenburg, Erklärung an die Presse vom 29.7.1971 (NLA OL, Dep. 36, 2011/040 Nr. 420 II, unpag.). 42 Vgl. Presseerklärung/Solidaritätserklärung zum Protest gegen die Nichtberufung von vorgeschlagenen Hochschullehrern (Horst Holzer und Johannes Meyer-Ingwersen) vom 15.8.1972 (NLA OL, Dep 36, 2011/040 Nr. 420 I, unpag.). Die Maßnahme, die von Gegnern als Radikalenerlass bezeichnet wurde, erging im Februar 1972 und wies den Ausschluss rechts- und linksradikaler Personen aus dem öffentlichen Dienst an. Vgl. Axel Schildt, Die Kräfte der Gegenreform sind auf breiter Front angetreten. In: AfS, 44 (2004), S. 449–478, hier 467–472. 43 Vgl. Protokoll der 5. Sitzung der Strukturkommission vom 6.6.1972 (NLA OL, Erw 152 Best. 275–3, Nr. 53, Bl. 53). 44 Vgl. Joist Grolle an AStA der Abt. Oldenburg der Pädagogischen Hochschule vom 16.8.1972 (NLA OL, Dep 36, 2011/040 Nr. 420 I, unpag.). 45 Dieser bestand aus Lettern, die der Pädagogikstudent Aart Pabst zuvor aus Styropor ausgesägt hatte. Vgl. Rheude, Kalter Krieg um Ossietzky, S. 11–13.
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dete sich ein Oldenburger Bürgerverein, der die Abtragung der Lettern verlangte. Auch startete der »Ring Christlich-Demokratischer Studenten« (RCDS) eine Kampagne, in der von Ossietzkys Bemühen um eine Konsolidierung der linken Kräfte gegen Hitler als demokratiefeindliche »Volksfrontpolitik« verleumdetet wurde.46 Die illegale Anbringung des Namens Carl von Ossietzkys war impulsgebend für die Gedenkstätteninitiative im Emsland. Im Sommer 1975 entstand aus dem Allgemeinen Studierendenausschuss (AStA) und einem Großteil des Hochschulpersonals die Idee für ein »Bürgerkomitee Carl-von-Ossietzky-Universität« – ein Bündnis, das für die Namensgebung kämpfte und mit dem sich auch die »Emsland-Lagergemeinschaft« öffentlich solidarisierte. Aus dem Bürgerkomitee ging eine Arbeitsgruppe zu von Ossietzky und den Emslandlagern hervor, die Vorläufer der Gedenkstätteninitiative war. Denn durch die Beschäftigung mit von Ossietzky richteten die Mitglieder der Arbeitsgruppe auch bald ihr Interesse auf den Ort seines Leidens im Emsland, das ehemalige Lager Esterwegen. Die studentischen Mitglieder der Arbeitsgruppe, zu denen Suhr, Buck, Bernd Bischof, Oriana Sieling, Wilfried Krallmann und Aart Pabst zählten, waren mehrheitlich im AStA organisiert. Ein weiteres wichtiges Mitglied der Arbeitsgruppe war der Professor für »Geschichte und ihre Didaktik« Werner Boldt. Bis auf Krallmann, der bereits in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre im »Demokratischen Club Papenburg« (DCP) organisiert war, stammten die Mitglieder der Arbeitsgruppe mehrheitlich nicht aus dem Emsland.47 Studierende und Hochschullehrer vereinte ein antibürgerlicher Impetus und ein starkes Interesse an der Geschichte von unten. Boldt (*1935) gibt dazu 2012 in einem Gespräch mit Thomas Sandkühler an, dass er, angeregt durch eine intensive Marx-Lektüre, als junger Historiker die Betrachtung historischer Prozesse von oben zunehmend infrage gestellt habe.48 Ebenso strebte er eine neue Perspektive auf die Fachwissenschaft sowie die Lehre ihrer Vermittlung an. Boldt trat in der innerfachlichen Diskussion der 1970er-Jahre zum einen dafür ein, die Geschichtsdidaktik als eigenständige wissenschaftliche Disziplin neben der Schulfachdidaktik zu etablieren. Zum anderen plädierte er für eine historisch-politische Ausrichtung der Lernziele.49
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Ring Christlich-Demokratischer Studenten, Hochschulgruppe Oldenburg, Carl von Ossietzky – vorbildlicher Demokrat oder Volksfrontler, o. D. (1975) (VVN-Archiv Niedersachsen, N0033 AugBau0061, unpag.). 47 Vgl. Protokoll: Arbeitsgespräch des Moorkomitees und Freundeskreis, Oldenburg Gewerkschaftshaus vom 25.11.1977 (VVN-Archiv Niedersachsen, N0032 AugBau0058, unpag.). 48 Vgl. Thomas Sandkühler (Hg.), Historisches Lernen. Gespräche mit Geschichtsdidaktikern der Jahrgänge 1928–1947, Göttingen 2014, S. 193–225, hier 197–204. 49 Zur Kontroverse um die innerfachliche Diskussion, welches Lernziel die Vermittlung von Geschichte anstreben sollte und deren Höhepunkt im Rahmen des 31. Historikertags im Jahr 1976 vgl. ebd.
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Der von Boldt angeregte Zugang zur Geschichte der Emslandlager, eine Betrachtung der subjektiven Erfahrungen der Gefangenen, prägte die ersten Projekte der Arbeitsgruppe ebenso wie die weltanschauliche Verortung der studentischen Mitglieder, die sich stark an den ehemaligen Widerstandskämpfern und ihren Angehörigen orientierten. Erstmals trat die Arbeitsgruppe mit einem Zeitzeugengespräch an die Öffentlichkeit, das am 16. Oktober 1975 unter dem Titel »Wer war Carl von Ossietzky?« in Oldenburg stattfand. Auf der von 600 Personen besuchten Veranstaltung sprach sowohl von Ossietzkys Tochter, Rosalinde von Ossietzky-Palm, als auch Max Högg, ein ehemaliger Mithäftling Ossietzkys.50 Der Kontakt zu Ossietzkys Tochter hinterließ einen tiefen Eindruck bei den Mitgliedern der Arbeitsgruppe und motivierte sie, sich noch intensiver mit den Emslandlagern auseinanderzusetzen.51 Im Herbst 1975 wurden unter Federführung von Boldt Forschungsvorhaben entwickelt, die von der pazifistischen Idee über das Verhältnis des »Weltbühne«-Umfeldes zur Arbeiterbewegung bis hin zur Geschichte der Emslandlager reichten.52 Neu waren im Hinblick auf die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Emslandlagern die Zugänge: ein regionalgeschichtlicher Fokus, mündliche Befragungen und die Betrachtung baulicher Überreste als Quellen. Seit Mitte der 1970er-Jahre begaben sich die Studierenden auf Spurensuche vor Ort, besichtigten das ehemalige Lagergelände Esterwegen,53 besuchten den Friedhof Bockhorst-Esterwegen und befragten die Lokalbevölkerung spontan nach ihrem Wissen über die Lager.54 Als traditionell ist hingegen die Themenauswahl zu bewerten, die mit dem Fokus auf »Widerstand und Verfolgung« nur einen Ausschnitt der Emslandlager betrachtete, wodurch andere Gefangenengruppen, aber auch das Thema Täter- und Zuschauerschaft zunächst im Hintergrund blieben.55 50 Suhr, Weg zu Ossietzky, S. 86 f. 51 Auch von Ossietzkys Tochter, Rosalinde von Ossietzky-Palm, beteiligte sich seit Mitte der 1970er-Jahre am Kampf um die Namensgebung und überreichte schließlich im April 1981 der Universität Oldenburg den Nachlass ihres Vaters. Infolge der Übergabe des Nachlasses wurde das Carl von Ossietzky Archiv an der Oldenburger Universität gegründet, in dem der spätere Leiter des DIZ Emslandlager Kurt Buck angestellt war. Vgl. Vera Hilbich, Die Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Gewünscht, gehasst, geliebt? In: Lüthje (Hg.), Universität Oldenburg. Entwicklung und Profil, S. 209–232, hier 218. 52 Vgl. Rektor Universität Oldenburg an DGB Landesbezirk Niedersachsen, Anlage: Forschungsvorhaben, die förderungswürdig erscheinen vom 27.11.1975 (NLA OL, Dep 36, 2011/040 Nr. 426, unpag.). 53 Mit Erlass vom 18.1.1964 des damaligen Bundesverteidigungsministers Kai-Uwe Hassel (CDU) war das historische Lagergelände Esterwegen zur Nutzung als »Bekleidungsaußenlager und Verpflegungszweigstelle in Esterwegen« erworben worden und wurde seitdem als Bundeswehrdepot genutzt. Vgl. Oberfinanzdirektion Hannover an Staatshochbauamt Lingen, Betr.: Bekleidungsaußenlager und Verpflegungszweigstelle in Esterwegen vom 1.4.1964 (NLA OS, Rep 660 Lin, 2000/027 Nr. 128). 54 Vgl. Suhr, Weg zu Ossietzky, S. 89. 55 Vgl. Wirsching, Nationalsozialismus in der Region, S. 31 f.
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Zeitgleich zu den ersten laufenden Forschungsprojekten suchte die Arbeitsgruppe den Kontakt zur »Emsland-Lagergemeinschaft« und arbeitete bald eng mit ihr zusammen. Dabei entwickelte sich insbesondere zu Baumgarte bis zu dessen Tod im Jahr 1980 ein freundschaftliches Verhältnis.56 Ende 1976 bereiteten die Studierenden und Werner Boldt zusammen mit der »Emsland-Lagergemeinschaft« eine Veranstaltungsreihe über die Emslandlager vor, die zwischen Januar und Februar 1977 stattfand und auf die die Idee für ein Dokumentations- und Informationszentrum Emslandlager zurückging.57 Teil der Veranstaltungsreihe waren eine Kunstausstellung, die Bilder von ehemaligen politischen Gefangenen der Emslandlager wie Adolf Bender in der Oldenburger Buchhandlung »tabula« zeigte, ein Vortrag über die Emslandlager in der Aula der Universität Oldenburg, ein Wochenendseminar, das sich an Gewerkschaftsjugendliche, Schülerinnen und Schüler sowie Studierende richtete und eine abschließende Kundgebung auf dem Friedhof Bockhorst-Esterwegen. Auf dieser Kundgebung wurde erstmals vor einem größeren Publikum die Einrichtung eines Dokumentations- und Informationszentrums Emslandlager gefordert, das auf dem Friedhof oder dem historischen Lagergelände Esterwegen entstehen sollte. Boldt erläuterte diesen Plan wenig später in einem Brief an den Senat der Reformuniversität Oldenburg. Angelehnt an das Dokumentenhaus Bergen-Belsen war das DIZ als ein Ort des Sammelns und Bewahrens von Schrift- und Objektquellen vorgesehen sowie als ein Lernort, der sich an die lokale Bevölkerung und die Jugend richtet und »über die Lager, über die Entstehung, über ihre Funktion in der NS-Gewaltherrschaft und vor allem über das Leben der Häftlinge« in Form einer Dauerausstellung aufklärt.58 »Schweigen und Tabus« sollten laut Boldt gebrochen werden und »die Öffentlichkeit, insbesondere die Jugend, über das ›andere‹ Deutschland, das Deutschland der Gegner des Nationalsozialismus« informiert werden.59 Im Jahr 1985 formulierte Boldt diese hier angedeutete Programmatik des pädagogischen Ansatzes weiter aus und erklärte die »Bildung zur Humanität« als zentrales Lernziel, das durch Gegenwartsbezüge – hierzu wurden der »Neofaschismus« und
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O. V., Wir gedenken unseres verstorbenen Kameraden August Baumgarte. In: Der Moorsoldat, o. D. (Mai 1980). 57 Mitbeteiligt an dieser Veranstaltungsreihe waren: der DGB-Kreisverband, das Bürgerkomitee zur Umbenennung der Universität Oldenburg nach Carl von Ossietzky, der Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (BDWi), der allgemeine Studierendenausschuss der Universität Oldenburg (AStA) sowie ein Stadtschülerinnen- und Schülerrat. Vgl. Werner Boldt an Senat der Carl-von-Ossietzky Universität, Betr.: Mitarbeit der Universität an der Errichtung eines Dokumentations- und Informationszentrums für die Emslandlager vom 13.4.1977 (VVN-Archiv Niedersachsen, N0033 AugBau0061, unpag.). 58 Ebd. 59 Ebd.
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der bundesrepublikanische »Antikommunismus« gezählt – sowie einen regionalgeschichtlichen Zugang vermittelt werden sollte.60 Die Aussagen Boldts sind an die Beobachtung Michael Wildts anzuschließen, selbst ehemaliger Akteur der Geschichtsbewegung, der konstatiert, dass der »heroisierende Blick« auf die NS-Verfolgten eine »Tradition des Protestes und des aufrechten Gangs stiftete, die nicht zuletzt den Forscherinnen und Forschern selbst Orientierung geben sollte«.61 Die ideologische Übereinstimmung mit dem Erinnerungsmilieu der »Moorsoldaten« trübte zugleich den Blick für die Vielstimmigkeit der Gedächtnisgeschichte zugunsten einer Identifikation mit dem »besseren Deutschland«, die die eigene komplexe Herkunftsprägung unterbelichtet ließ. In Anbetracht dessen, dass die erste DIZ-Initiative ein zunächst urbanes und universitäres Phänomen war, stellt sich die Frage, wie sie sich im ländlichen Raum verankern konnte. Auch diese Entwicklung ist auf den Namensstreit zurückzuführen, denn die Ablehnung der Widmung der Reformuniversität Oldenburg nach Carl von Ossietzky hatte, charakteristisch für die 1970er-Jahre, unterschiedliche Bewegungsakteure mobilisiert. Dabei war Mitte der 1970er-Jahre eine Konstellation aus im weitesten Sinne linksorientierten Akteuren entstanden – aus dogmatischen wie parteilosen Linken, Gewerkschaftsangehörigen und Jungsozialisten (Jusos) –, die ein sich über die Grenzen Oldenburgs erstreckendes Netzwerk bildeten. Die konkrete lokale Anbindung erfolgte 1979 mit der Gründung des »Arbeitskreises Carl von Ossietzky« während eines von Vinke geleiteten Wochenendseminars in Papenburg.62 An dem Seminar nahmen ehemalige Mitglieder des Demokratischen Clubs Papenburg, Vertreterinnen und Vertreter der Oldenburger DIZ-Initiative sowie Lehrkräfte aus Papenburg und dem benachbarten Landkreis Leer teil. Viele unter den in Ostfriesland lebenden Teilnehmenden gehörten den Jusos an und waren gewerkschaftlich organisiert.63 Aus diesem Arbeitskreis ging im Mai 1981 der Gedenkstättenverein hervor: Das »Aktionskomitee für ein DIZ Emslandlager e. V.«, das sich bald nach seiner Gründung mit anderen Gedenkstätteninitiativen vernetzte und Gründungsmitglied des bundesweiten Gedenkstättenreferats als zentrale Vertretung der westdeutschen Gedenkstätten-
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Vgl. Boldt, Die Emslandlager als Gegenstand historisch-politischer Bildung, S. 57–67. Wildt, Die Epochenzäsur 1989/90, S. 355. Vinke hatte bereits im Anschluss an die Umfrage in der »Ems-Zeitung« im Jahr 1966 eine kritische Auseinandersetzung mit dem »Dritten Reich« in der Region innerhalb von drei Handlungsfeldern gefordert: die wissenschaftliche Aufarbeitung der Geschichte des Emslandes zwischen 1933 und 1945, die Aufnahme des Themenfeldes Nationalsozialismus in die Curricula im Emsland und die Erstellung von Gedenkkonzepten durch den Kreisheimatverein sowie lokale Heimatvereine. Vgl. Hermann Vinke, »Am Ende steht Ratlosigkeit«. In: Ems-Zeitung vom 3.12.1966. Vgl. SPD-Ortsvereine Ostrhauderfehn und Idafehn an niedersächsischen Minister des Innern, Betr.: Emslandlager vom 8.7.1980 (NMfIS, 199 141/14 Band IV, unpag.).
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bewegung der 1980er-Jahre wurde.64 In diesem Zusammenhang veröffentlichte das Aktionskomitee einen Aufsatz in dem von Detlef Garbe im Jahr 1983 herausgegebenen Band »Die vergessenen KZs«.65 Unter den Autorinnen und Autoren waren zentrale Akteure der Gedenkstättenbewegung der 1980er-Jahre vertreten, deren Namen heute überdies nicht mehr aus dem Gedenkstättenwesen wegzudenken sind. Neben Garbe ist hier insbesondere Wulff E. Brebeck (1946–2011) zu erwähnen, der seit 1980 Leiter der Gedenkstätte Wewelsburg war. Diese universitär ausgebildeten Historikerinnen und Historiker teilten den Zugang der Geschichte von unten. Inhaltlich unterschieden sie sich jedoch durchaus. Während der durch die Freiwilligendienste bei der »Aktion Sühnezeichen Friedensdienste« (ASF) geprägte Garbe sich der vergessenen Opfergruppe der Zeugen Jehovas widmete, war der Blick der Forschungs- und Bildungsarbeit des Aktionskomitees auf den antifaschistischen Widerstandskampf der Moorsoldaten fokussiert, denn »Identifikationen, Ansätze zur Traditionsbildung sind nur in Erinnerung an den Kampf und die Opfer bewusster Antifaschisten möglich«, wie es in dem Aufsatz von 1983 heißt.66 Im Rückblick ist zu konstatieren, dass ebenso wie in den 1960er-Jahren auch im folgenden Jahrzehnt von Ossietzky Kern und Ausgangspunkt der Auseinandersetzung mit den Emslandlagern war, wobei hinsichtlich der Gründung einer DIZ-Initiative Anfang des Jahres 1977 drei Faktoren zusammenkamen: Ein kommunistischer Student hatte aufgrund der paritätisch organisierten Hochschulplanung den Vorschlag zur Namensgebung der Universität Oldenburg nach Carl von Ossietzky einbringen können. Im reformorientierten Hochschulmilieu in Oldenburg war überdies ein Protestbündnis gegen die Ablehnung der Widmung entstanden, welches die Aufmerksamkeit bald auf das nur 60 Kilometer von Oldenburg entfernte Esterwegen, von Ossietzkys Leidensort, richtete. Damit entdeckten die Studierenden schließlich einen Forschungsgegenstand, der an ihre Lebenswelt anknüpfte. Die jungen Linken fanden in den Moorsoldaten Vorbilder. Diese starke Bezugnahme auf die ehemaligen politischen Gefangenen, mit denen sie kooperierten, zeichnete die DIZ-Initiative aus und grenzte sie zugleich von anderen Gedenkstätteninitiativen ab. Die DIZ-Aktivistinnen und Aktivisten machten es sich zum Ziel, das Erbe der Moorsoldaten zu bewahren. Aus dieser Perspektive verengte sich ihr Blick notwendig auf den politischen Widerstand, sodass andere Aspekte der Geschichte der Emslandlager, wie weitere Verfolgtengruppen, in den Hintergrund rückten. 64 Vgl. Boldt, Die Emslandlager als Gegenstand historisch-politischer Bildung, S. 69. 65 Werner Boldt/Lioba Meyer/Hella Otten/Heinz-Gerd Rieke/Elke Suhr/Hanne Weißmann, Emslandlager – Zur »Kriegsgräberstätte«, zum Bundeswehrdepot, zur Justizvollzugsanstalt, zum Kartoffelacker ... In: Detlef Garbe (Hg.), Die vergessenen KZs? Gedenkstätten für die Opfer des NS-Terrors in der Bundesrepublik, Bornheim-Merten 1983, S. 69–92. 66 Ebd., S. 82.
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Spurensuche und -bewahrung
Neudeutung und -besetzung der Lagerorte im Spiegel der Friedensbewegung
Mit einer gezielten Lobbyarbeit setzte sich der »Arbeitskreis Ossietzky« seit 1979 für die Einrichtung eines DIZ auf dem ehemaligen Lagergelände Esterwegen ein. Dabei stießen seine Forderungen auf immer breitere Resonanz, eine Entwicklung, die im Zusammenhang mit der Friedensbewegung zu erklären ist. Denn ihre Akteure störten sich an der Nachnutzung des historischen Geländes als Bundeswehrdepot.67 Zwar waren bereits seit den 1950er-Jahren die Emslandlager mit friedenspolitischen Forderungen aufgeladen worden – hier sei an die Stellungnahme der Wehrdienstgegner aus dem Jahr 1956 erinnert und die Wieder entdeckung von Ossietzkys im Zuge der »Spiegel-Affäre« –, doch im Zuge des NATO-Doppelbeschlusses erfuhren diese eine neue Qualität, die sich in der breiten Mobilisierung für ein DIZ zeigte.68 Das pädagogische Programm der Aktivistinnen und Aktivisten für ein DIZ war dabei in den 1980er-Jahren ganz auf die Spurensuche und -sicherung vor Ort ausgerichtet.69 Der Umgang mit den Lagerorten wurde von ihnen als Ausdruck einer unaufgearbeiteten NS-Vergangenheit gelesen, wobei der Ost-West-Konflikt als eine in die Gegenwart reichende Konsequenz derselben sich in der Nachnutzung des Lagers Esterwegen als Bundeswehrdepot symbolisch verdichtete. Während einer vom DGB organisierten Kundgebung zum Antikriegstag am 1. September 1979 stellte der »Arbeitskreis Ossietzky« auf dem Friedhof Bockhorst-Esterwegen eine Informationstafel auf. Sie enthielt einen kurzen Text über die Emslandlager sowie eine Karte, auf der die Standorte der 15 Lager eingezeich-
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Vgl. Elfriede Eilers an AStA der Carl-von-Ossietzky Universität Oldenburg vom 23.1.1980, (Aktionskomitee DIZ Emslandlager e. V., Papenburg, Pressespiegel); Dr. Alfred Emmerlich (MdB) an niedersächsischer Minister des Innern Möcklinghoff vom 23.4.1980 (NMfIS, 199 141/14 Band IV, unpag.); Karl-Heinz Walkhoff (MdB) an niedersächsischen Minister des Innern Möcklinghoff vom 24.4.1980 (NMfIS, 199 141/14 Band IV, unpag.). Der im Jahr 1979 erfolgte NATO-Doppelbeschluss, bei dem die großen westlichen Mächte sich darauf verständigt hatten, Nuklearraketen in Westeuropa zu stationieren, wenn die UdSSR die in Osteuropa stationierten Mittelstreckenraketen nicht abrüsten würde, bedeutete das Ende der Entspannungsphase im Kalten Krieg und zugleich dessen letzter Höhepunkt. Vgl. Regina Wick, Eine Bewegung, über die nicht berichtet wird, findet nicht statt. In: Cordia Baumann/Nicolas Büchse/Sebastian Gehring (Hg.), Linksalternative Milieus und Neue Soziale Bewegungen in den 1970er Jahren, Heidelberg 2011, S. 133–159, hier 133. Ulrich Baumgärtner, Historische Orte. In: Geschichte lernen, (2005) 106, S. 12–18, hier 13; vgl. Michael Sauer, Geschichte unterrichten. Eine Einführung in die Didaktik und Methodik, Seelze 2012, S. 139–141.
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net waren.70 Die Informationstafel kann als Protesthandlung gelesen werden, denn die Bezirksregierung Weser-Ems – ein im Jahr 1977 neugebildeter Regierungsbezirk mit Sitz in Oldenburg – hatte im Voraus die Aufstellung der Tafel untersagt und die Ablehnung damit begründet, dass auf dem Friedhof »nur« 1 317 Strafgefangene beerdigt liegen würden.71 Noch Ende der 1970er- Jahre wurde sich also seitens der Regionalbehörde auf die angebliche Rechtmäßigkeit der Strafgefangenenlager bezogen, obwohl die Gräber 1970 auf Basis des Gräbergesetzes den Opferstatus verliehen bekommen hatten.72 Vor diesem Hintergrund kam der Informationstafel eine doppelte Funktion zu: Sie vermittelte den Leserinnen und Lesern zum einen historische Informationen über die Emslandlager. Zum anderen setzte sie den Friedhof damit erstmals sichtbar in einen Zusammenhang mit den Lagern und den hier verübten Verbrechen. Nachdem der Arbeitskreis das Ablehnungsschreiben der Bezirksregierung überregional skandalisiert hatte, kündigte der niedersächsische Innenminister Egbert Möcklinghoff (CDU) eine »würdige Gestaltung der Gedenkstätte an«.73 Dabei wies er jedoch schon bald die Einrichtung eines DIZ Emslandlager als übertrieben zurück, da Esterwegen das Kriterium der Beispielhaftigkeit fehle und allein die Gedenkstätte Bergen-Belsen laut Möcklinghoff in Niedersachsen eine exponierte Stellung in der Erinnerungskultur an den Nationalsozialismus habe.74 Anstelle eines DIZ wurde im März 1980 vom Innenministerium, dem Landkreis Emsland und der Bezirksregierung Weser-Ems entschieden, eine vom Innenministerium getragene Gedenkhalle auf dem Friedhof Bockhorst-Esterwegen zu errichten sowie die Erforschung der Emslandlager, finanziert durch den Landkreis
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Auf der Tafel war zu lesen: »Lieber Friedhofsbesucher, Sie befinden sich hier auf dem Gelände, auf dem Tausende des ehemaligen Konzentrationslagers Esterwegen und anderer Emsland-Lager beigesetzt wurden. Die genaue Zahl ist nicht bekannt, weil innerhalb und außerhalb des Friedhofsgeländes umgekommene und ermordete Häftlinge einfach verscharrt wurden […].« O. V., »Verbotene« Information. Tafel wurde doch aufgestellt. In: Ems-Zeitung vom 3.9.1979. Vgl. o. V., Land billigt Oldenburger Entscheidung nicht. In: Ems-Zeitung vom 27.9.1979, abgedruckt in: Emslandlager, ein Kapitel unbewältigter Vergangenheit, Pressespiegel und Dokumentation, hg. vom Aktionskomitee DIZ Emslandlager e. V., o. D. (1985). Es ist anzunehmen, dass Vinke, der bundesweit gut vernetzt war, zur Verbreitung in der Presse beitrug. So wurde wenige Tage nach dem Vorfall im »Stern« über das Emsland berichtet. Vgl. Heiko Tornow, Zuwenig Leichen auf dem Friedhof. In: Stern vom 3.9.1979. Ministerium des Innern, Referat MI 5.2. an Arbeitskreis Carl-von-Ossietzky Emsland/Ostfriesland vom 25.1.1980 (NMfIS, 199 141/14 Band IV); vgl. o. V., Neun Steine mahnen auf dem Friedhof in Esterwegen. Innenminister weiht Gedenkstätte für Opfer der Emslandlager ein. In: Hannoversche Allgemeine Zeitung (HAZ) vom 4.12.1981. Vgl. Ministerium des Innern, Möcklinghoff an Mitglied des deutschen Bundestages Dr. Alfred Emmerlich vom 6.6.1980 (NMfIS, 199 141/14 Band IV, unpag.).
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Emsland, in Auftrag zu geben.75 Diese Entscheidung wurde am 11. November 1980 von der niedersächsischen Landesregierung (CDU) bestätigt.76 Bei der »Gedenkstätte« auf dem Friedhof handelte es sich um eine offene Halle, unter deren Dach neun Stelen errichtet wurden, auf denen die Namen der Lager eingemeißelt waren. Außerdem wurde eine kleine Bronzetafel angebracht, auf der die Entwicklung der Emslandlager zwischen 1933 und 1945 nachzulesen war, ohne die Verflechtung zwischen Lagern und Umfeld sowie die Nachgeschichte des Lagerkomplexes zu behandeln. Damit wurde das Bild einer tendenziell abgeschlossenen Vergangenheit vermittelt. Ein Geschichtsbild, das die Gedenkstättenaktivistinnen und -aktivisten empörte. Als die Gedenkhalle am 4. Dezember 1980 im Beisein von Möcklinghoff eröffnet wurde, störten sie die Feierlichkeit. Hannelore Weißmann hielt den Rednern während der gesamten Veranstaltung einen Sarg aus Papier entgegen, auf dem zu lesen war: »den stummen Zeugen«.77 Kurz darauf verkündete die Initiative: »Wir meinen: In Stein gehauene Worte können keine antifaschistische Aufklärung ersetzen.« Im Mai 1981 gründete sich schließlich das »Aktionskomitee für ein DIZ e. V.« als offizieller Gedenkstättenverein. Zu den ersten Mitgliedern des Aktionskomitees zählten der »AK Ossietzky, Gewerkschafter, Hochschulangehörige der Universität Oldenburg, Rosalinde von Ossietzky-Palm, Günther Daus (Sekretär des Moorsoldatenkomitees), Prof. Kuhn (Bonn), Vinke, Michael Scheidt (GEW-Kreisvorsitzender Aschendorf-Hümmling), Wilhelm Schroers (ehemaliger Häftling Brual-Rhede), Präsident der Universität Oldenburg Horst Zilleßen, AStA der Universität Oldenburg«.78 Um einen Gegenentwurf zum staatlich-ritualisierten und zentralisierten Gedenken zu schaffen, entwickelte das Aktionskomitee als erstes ein dezentrales
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Für die Errichtung der Gedenkhalle wurden 180 000 DM aus dem Landeshaushalt ausgereicht. Vgl. Ministerium des Innern, Referat MI 5.2. an Referat 13, Betr.: Friedhof am Küstenkanal in Bockhorst-Esterwegen, o. D. (1980) (NMfIS, 199/141/14 Band IV, unpag.). Die Lehrmaterialien wurden 1986 als »didaktische Bearbeitung der Dokumentation« erstellt – basierend auf Kosthorst/Walter, Konzentrations- und Strafgefangenenlager im Dritten Reich. Vgl. Landkreis Emsland (Hg.), Die Zerstörung von Recht und Menschlichkeit in den Konzentrations- und Strafgefangenenlagern des Emslands 1933–1945. Materialien für den Geschichtsunterricht. Bearbeitet von Walter Czeranka/Bernd Kruse/Helmut Schmidt/Heiner Wellenbrock, Sögel 1986. 76 Vgl. Ministerium des Innern, Referat MI 5.2., Betr.: Friedhof am Küstenkanal in BockhorstEsterwegen, Landkreis Emsland: Errichtung einer Ehrenhalle und Erstellung einer Dokumentation über die Geschichte der Emslandlager vom 20.5.1981 (NMfIS, 199/141/14 Band V, unpag.). 77 Aktionskomitee für ein Dokumentations- und Informationszentrum (DIZ) Emslandlager an Innenminister des Landes Niedersachsen E. Möcklinghoff vom 5.12.1981 (NMfIS, 199 141/14 Band VI, unpag.). 78 O. V., Mit einer Gedenkhalle ist es nicht getan, Verein Emslandlager will Dokumentations- und Informationszentrum einrichten. In: die tat vom 8.5.1981.
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Bildungsangebot. Dabei rückte die historische Spurensuche in den Mittelpunkt, die zugleich die regionalhistorische Recherchearbeit für Laien öffnete.79 Unter dem Thema »Nie wieder Faschismus – nie wieder Krieg« fand im Sommer 1981 ein Workcamp im Emsland statt, an dem 170 Haupt- und Realschülerinnen und -schüler sowie Lehrlinge aus Deutschland, Polen, Ungarn, Irland, Italien, Malta, Ghana, Uruguay und den Niederlanden teilnahmen, um »mit alten Skizzen auf Spurensuche« zu gehen, wie der »Weser-Kurier« berichtete.80 Das Workcamp war in Zusammenarbeit mit dem Aktionskomitee, dem Bremer Landesjugendamt und dem Freiwilligendienst Service Civil International (SCI) organisiert worden.81 Laut dem leitenden Sozialpädagogen vom Bremer Jugendamt sollten hierbei die »Ursachen und Auswirkungen des Faschismus in dieser Region« untersucht werden, um »Erkenntnisse und Lehren für die Zukunft zu entwickeln«.82 Dieser antifaschistische Bildungsauftrag wurde in der Praxis durch das Aufsuchen historischer Orte umgesetzt. »Man sieht ja gar nichts mehr« – ein Ausruf, der laut Suhr häufig von den Jugendlichen zu hören war – fasst dessen Konzept zusammen, denn in erster Linie sollte der lokale Umgang mit den nationalsozialistischen Verbrechen kritisch reflektiert werden.83 Während des Workcamps suchten die Jugendlichen und jungen Erwachsenen mithilfe alter Karten die ehemaligen Standorte der Lager und die neun Friedhöfe auf und übertrugen die Orte in aktuelle Straßenkarten. Darüber hinaus wurden die Teilnehmenden dazu angeleitet, Anwohnerinnen und Anwohner aufzusuchen und zu befragen.84 Die Teilnehmenden konnten sich dabei relativ autonom auf historische Spurensuche begeben und übernahmen sonst ausgebildeten
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Vgl. von Saldern, Stadtgedächtnis und Geschichtswerkstätten, S. 57. O. V., Mit alten Skizzen auf Spurensuche. In: Weser-Kurier vom 17.7.1981. Das zweite »internationale antifaschistische Workcamp« fand ein Jahr später im Sommer 1982 statt. Dieses Workcamp wurde vom Aktionskomitee erneut in Zusammenarbeit mit dem Service Civil International (SCI) organisiert. Während das erste Workcamp die Spurensuche und -sicherung fokussierte, stand das zweite Workcamp unter dem Eindruck der Entscheidung des Verteidigungsministeriums. So wurde in Erwartung einer baldigen Errichtung eines DIZ auf dem ehemaligen Lagergelände Esterwegen von den Jugendlichen das Gelände planiert und eine Auffahrt errichtet. Jugend fand Verständnis und Bereitschaft zum Dialog. In: Ems-Zeitung vom 20.7.1981. Suhr schrieb über das Workcamp in »die tat« einen Artikel. Darin heißt es: »Für die einzelnen Lager gibt es kaum Hinweisschilder oder Erläuterungstafeln. Über viele Flächen ist buchstäblich Gras gewachsen. Sie werden heute landwirtschaftlich genutzt. Besonders schockiert sind Besucher darüber, dass Baracken des ehemaligen KZ Versen heute als Justizvollzugsanstalten dienen. Der dänische Widerstandskämpfer Morten Ruge, der 1944 in Versen inhaftiert war: ›So was nennt man im Ausland eine Taktlosigkeit‹.« Elke Suhr, Gottesdienst endet mit Moorsoldatenlied. In: die tat vom 7.8.1981, S. 8. Vgl. ebd.
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istorikerinnen und Historikern vorbehaltene Arbeiten. Dabei stießen die JuH gendlichen auf ihrer Suche nach vergessenen Orten immer wieder auf neue Funde. Auf dem ehemaligen Lagergelände Börgermoor, das im Jahr 1969 fast vollständig abgetragen worden war und nun landwirtschaftlich genutzt wurde, legten die Jugendlichen einen Gedenkstein für Paul von Hindenburg aus dem Jahr 1934 frei, der von den SA-Wachmannschaften des Lagers stammte. Auch konnten sie Überreste eines Fundaments des Lagers ausgraben.85 Zur dauerhaften Markierung des ehemaligen Lagerstandortes Börgermoor setzten sie gut sichtbar einen Findling an die Weggabelung, auf dem die erste Strophe des Moorsoldatenliedes aufgemalt war. Zusammen mit zwei Informationstafeln bildete er eine kleine Freilichtausstellung.86 Ein zentrales Ergebnis des ersten Workcamps war die Dokumentation der Spurensuche in Form einer Broschüre, die erstmals Wegbeschreibungen zu den ehemaligen Lagerstandorten sowie den Friedhöfen lieferte und die wenig später unter dem Titel »Auf der Suche nach den Moorsoldaten« herausgegeben wurde.87 Methodisch ähnlich konzipiert, jedoch mit einer neuen thematischen Schwerpunktsetzung, bot Suhr im Herbst 1981 ein Seminar an der Volkshochschule (VHS) Nordhorn zu den Kriegsgefangenenlagern in der Grafschaft Bentheim an, in dessen Rahmen zum ersten Mal die Gruppe der sowjetischen Kriegsgefangenen in den Fokus rückte. Ein Zufallsfund hatte den Impuls gegeben, sich mit den Kriegsgefangenenlagern im Emsland näher auseinanderzusetzen. Im Kreisarchiv der Grafschaft Bentheim hatte die Historikerin fünf Fotografien gefunden, die aus einem Wehrmachtalbum aus dem Jahr 1943 stammten und die »Russenfriedhöfe« im Emsland zeigten. Ausgehend von diesen Fotografien setzten sich die Teilnehmenden des VHS-Seminars zunächst mit dem Kommissarbefehl vom 8. September 1941 auseinander, der die Einhaltung völkerrechtlicher Normen bei der Behandlung von sowjetischen Kriegsgefangenen aussetzte. Darüber hinaus suchten sie die ehemaligen Standorte der Kriegsgefangenenlager und die Kriegsgräberstätten in der Grafschaft Bentheim auf. Sie befragten Anwohnerinnen und Anwohner der ehemaligen Lager, klingelten an Türen und betraten Gaststätten, um hier mehr über die Lager und ihre Gefangenen zu erfahren.88 Von der Bevöl-
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Vgl. o. V., Mit alten Skizzen auf Spurensuche. In: Weser-Kurier vom 17.7.1981. Abgedruckt in: Pressespiegel und Dokumentation »Emslandlager – damals und heute«, o. D. (1983) (Aktionskomitee DIZ Emslandlager e. V., Papenburg), S. 16. 86 Vgl. o. V., Das Schweigen wird lauter. Internationales Jugend-Workcamp arbeitet Geschichte der Emsland-Lager auf. In: Pressespiegel und Dokumentation »Emslandlager – damals und heute«, o. D. (1983) (Aktionskomitee DIZ Emslandlager e. V., Papenburg), S. 17. 87 Aktionskomitee Emslandlager e. V. (Hg.), Auf der Suche nach den Moorsoldaten, Papenburg 1983. 88 Vgl. Elke Suhr, Die Lagerstraße ist heute eine Dorfstraße. Was aus Kriegsgefangenenlagern im Emsland wurde/Beitrag zum Volkstrauertag. In: die tat vom 20.11.1981, S. 13.
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kerung konnten sie nähere Angaben zu den Opferzahlen in Erfahrung bringen.89 Im Anschluss an das Seminar verfasste Suhr einen Beitrag für die VVN-Zeitschrift »die tat«. Hier heißt es: »Kriegsgefangene aller Nationen wurden zu Tausenden wie Vieh vom weit entfernten Bahnhof zum Lager getrieben und von dort aus auf die Zweiglager verteilt; meistens waren es elende Gestalten, die auch noch Prügel bekamen, wenn sie nicht mehr laufen konnten. Besonders schlecht erging es den ›Russen‹, sie mussten sich jeden Tag zu Fuß zur Arbeit schleppen, und viele, viele sind vor Schwäche umgefallen und gestorben. Die Lager und Friedhöfe waren alle mit Schienen verbunden, und man hat oft gesehen, dass Loren mit toten sowjetischen Soldaten morgens ins Moor fuhren und abends mit Torf beladen zurückkehrten. Ein anderer Mann wirft ein, dass er als kleiner Junge einmal heimlich in eine solche Lore hineingesehen hat. Es lagen zumeist junge Männer darin. ›Woran die gestorben sind? Ja, die haben einfach nichts zu essen gekriegt. Wie die aussahen? Ja, wie Verhungerte eben aussehen.‹«90
Das Thema Kriegsgefangenenlager mag durch die im Jahr 1978 erschienene Dissertation »Keine Kameraden« von Christian Streit angeregt worden sein.91 Geht man mit Halbwachs von der starken Gruppenbezogenheit und Gegenwartsbedingtheit der Vergangenheitsdeutung aus, liefert aber vor allem die politische Verortung der Gedenkstättenbewegung im Emsland sowie die herausgehobene Konfliktsituation des Kalten Krieges eine Erklärung für die Wiederentdeckung vergessener Opfergruppen der Emslandlager. Denn neben den sowjetischen Kriegsgefangenen beschäftigte sich die Gedenkstättenbewegung seit Anfang der 1980er-Jahre auch zunehmend mit der Gruppe der westeuropäischen Zwangsrekrutierten sowie den deutschen Militärstrafgefangenen. Alle drei Gruppen wurden unter dem universalen Typus des Kriegsgegners verhandelt.92 Vor diesem Hintergrund ist auch zu erklären, dass der Friedhof Bockhorst-Esterwegen in den 1980er-Jahren zu einem wichtigen Erinnerungsort der Friedensbewegung avancierte. So nahmen an der zweiten Antikriegskundgebung im September 1980 ca. 1 200 Menschen teil, die ihre Stimme erhoben »für Entspannung, Abrüstung und 89 Befragte ältere Dorfbewohnerinnen und -bewohner gaben beispielsweise an, dass auf dem Friedhof Dalum an die 30 000 sowjetische Kriegsgefangene ruhten. Vgl. ebd. 90 Vgl. ebd. 91 Vgl. Christian Streit, Keine Kameraden. Die Wehrmacht und die sowjetischen Kriegsgefangenen 1941–1945, Stuttgart 1978. Mit der Dissertationsschrift Streits setzte jedoch keineswegs ein unmittelbarer Rezeptionswandel hin zur kritischen Reflexion des Mythos von der sauberen Wehrmacht ein, sondern ihm wurde selbst in der Wissenschaftslandschaft mit viel Abwehr begegnet. Erst durch die Wehrmachtausstellung setzte in den 1990er-Jahren eine breitere Thematisierung der Verbrechen gegen die Rote Armee ein. Vgl. Christian Hartmann/Johannes Hürter/ Ulrike Jureit (Hg), Verbrechen der Wehrmacht. Bilanz einer Debatte, München 2005. 92 Im Zusammenhang mit der globalen Friedensbewegung stehen auch Denkmalstiftungen in den 1980er-Jahren. Zum Beispiel ließ die »Fédération des Victimes du Nazisme, Enrôlées de force Luxembourg«, die Vereinigung der Zwangsrekrutierten, im Jahr 1985 zwei Findlinge auf den Friedhöfen Aschendorfermoor und Bockhorst-Esterwegen errichten. Vgl. o. V., Die Erinnerung zwingt uns, die Vergangenheit nicht zu vergessen. In: Ems-Zeitung vom 2.9.1989.
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Frieden« und die Errichtung einer Gedenkstätte auf dem Bundeswehrgelände in Esterwegen forderten.93 Acht Jahre später sprach hier der ehemalige Bundeskanzler Willy Brandt auf einer Gedenkveranstaltung der »Initiative 8. Mai«94 vor 3 500 Zuhörenden, unter ihnen Rosalinde von Ossietzky-Palm und Erich Fried, und forderte ein Ende des Wettrüstens.95 Diese erneut an der Teilnehmendenzahl und den bekannten Rednerinnen und Rednern zu beobachtende Bedeutung des Friedhofs als zentraler Erinnerungsort der Emslandlager macht die Mobilisierungskraft friedenspolitischer Forderungen deutlich, die mit der Nachnutzung des historischen Lagergeländes Esterwegen als Bundeswehrdepot einen konkreten Bezugspunkt hatte. Während Bundesverteidigungsminister Hans Apel (SPD) noch im Jahr 1981 die Nutzung des ehemaligen Lagers Esterwegen als Gedenkstätte zugesichert hatte,96 wurde die Zusage nach dem schwarz-gelben Regierungswechsel vom neuen Bundesverteidigungsminister Manfred Wörner (CDU) im Jahr 1982 zurückgenommen.97 Trotz breiter Interventionen gegen die Entscheidung – im Jahr 1983 fand sogar eine Bundestagsdebatte zur Nutzung des Lagergeländes statt – konnte die Freigabe des Bundeswehrgeländes nicht erwirkt werden. Das Aktionskomitee eröffnete daher im Jahr 1985 auf Basis von Mitgliedsbeiträgen und Spenden ein ausdrücklich als provisorisch verstanden werden wollendes, selbstverwaltetes DIZ in Papenburg (Haus Wiek rechts 22 am Untenende) mit einer kleinen Ausstellung und einem Seminarraum.98 In der letzten Eskalationsphase des Kalten Krieges seit Ende der 1970er-Jahre war die Friedensbewegung das wohl stärkste Bindeglied zwischen unterschiedlich organisierten und politisch als divers aufzufassenden Bewegungsspektren.99
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Vgl. o. V., Über tausend kamen. Kundgebung zum »Antikriegstag«. In: General-Anzeiger West rhauderfehn vom 2.9.1980. 94 Vgl. Aufruf Aktionskomitee für ein DIZ e. V. (Angelika Kaus) an den Landesvorstand der VVNBund der Antifaschisten zur Teilnahme an Kundgebung der Initiative 8. Mai auf dem Friedhof Bockhorst-Esterwegen vom 1.4.1986 (VVN-Archiv Niedersachsen, S006/0013, unpag.). 95 Vgl. o. V., Rückblick auf den 8. Mai. In: DIZ-Nachrichten, (1988) 8, S. 18. 96 Vgl. Oberfinanzdirektion Hannover an Staatshochbauamt Lingen, Betr.: Bekleidungsaußen lager und Verpflegungszweigstelle in Esterwegen vom 1.4.1964 (NLA OS, Rep 660 Lin, 2000/027 Nr. 128, unpag.). 97 Vgl. Bundesvermögensamt Osnabrück Jahn an Staatshochbauamt Lingen, Betr.: Bundeseigenes Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Esterwegen vom 24.5.1983 (NLA OS, Rep 660 Lin, 2000/027 Nr. 127, unpag.). 98 Vgl. MdB Tietjen, Errichtung eines Dokumentations- und Informationszentrums auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Esterwegen vom 2.12.1983 (BT-Drucksache 10/579), S. 2845 (B); vgl. MdB Jannsen Errichtung eines Dokumentations- und Informations zentrums auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Esterwegen vom 2.12.1983 (BT-Drucksache 10/579) S. 2849 (D). 99 Cordia Baumann/Nicolas Büchse/Sebastian Gehring, Einleitung: Protest und gesellschaftlicher Wandel in den 1970er Jahren. In: dies. (Hg.), Linksalternative Milieus und Neue Soziale Bewegungen, S. 11–32, hier 16. Zum Begriff der Neuen sozialen Bewegung vgl. Dieter Rucht, Neue
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Die breite Mobilisierung für ein DIZ ist aus diesem besonderen Klima zu erklären und prägte sowohl die Bildungsarbeit der Gedenkstättenbewegung als auch ihre Gedenkpraxis. Ganz im Sinne der Gegenwartsbedingtheit sozialen Erinnerns wurden seit Ende der 1970er-Jahre friedenspolitische Inhalte zentral. Damit wurden zugleich Gefangenengruppen der Emslandlager vergegenwärtigt – sowjetische Kriegsgefangene, Zwangsrekrutierte und Militärstrafgefangene –, die bislang zu den vergessenen Opfern gezählt hatten. 1.3
Strukturen versus Spuren: Forschungsperspektiven
Seit Ende der 1970er-Jahre wurden die Stätten der Emslandlager nicht nur freigelegt und als Lernorte erschlossen, aus den Reihen der Gedenkstätteninitiative entstand auch mit Suhrs Promotionsprojekt ein erstes großes Forschungsprojekt zu den Emslandlagern. Ihre Dissertation wurde 1985 veröffentlicht. Im selben Jahr erarbeitete der Kunsthistoriker Detlef Hoffmann, der ebenso Mitglied des Aktionskomitees war und außerdem die Professur für Kunstgeschichte an der Reformuniversität Oldenburg bekleidete, ein Konzept für eine Gedenkstätte Esterwegen. Sowohl Suhrs Arbeit als auch Hoffmanns Konzept betrachteten die Emslandlager von unten: Die Verfolgten und das lokale Umfeld der Lager standen im Mittelpunkt. Aus einer Makroperspektive hingegen deutete Kosthorst, Lehrstuhl für Didaktik der Geschichte an der Universität Münster, die Emslandlager als »exemplarisches Stück« der nationalsozialistischen Justizgeschichte.100 Er erarbeitete in der ersten Hälfte der 1980er-Jahre im Auftrag des Landkreises Emsland eine dreibändige kommentierte Quellensammlung, die bis heute die umfangreichste und detailreichste Studie zur Geschichte der Emslandlager ist.101 Der traditionsbewussten Westfälischen Wilhelms-Universität im katholischen Münster den Auftrag zur Erforschung der Emslandlager zu erteilen, war eine politische Entscheidung gewesen. Darauf weist die Aussage des Oberkreisdirektors
soziale Bewegungen. In: Uwe Andersen/Wichard Woyke (Hg.), Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1993, S. 363–367, hier 363. 100 Kosthorst/Walter, Konzentrations- und Strafgefangenenlager im Dritten Reich, Band 1, Vorwort, S. 4. 101 Der Kreisausschuss beschloss in der Sitzung vom 14.2.1980, eine Dokumentation über die Emslandlager in Auftrag zu geben. Vgl. Landkreis Emsland, Oberkreisdirektor, an niedersächsischen Minister des Innern, Betr.: Wissenschaftliche Dokumentation über das Lagergeschehen im Emsland, hier: Mitfinanzierung durch das Land Niedersachsen vom 25.3.1980 (NMfIS, 199 141/14 Band V, unpag.). Kosthorst und seinem Mitarbeiter Walter waren rund 120 000 DM zur Erarbeitung ihrer Sammlung zur Verfügung gestellt worden. Vgl. Landkreis Emsland an niedersächsischen Minister des Innern Referat 52, zur Mitfinanzierung der wissenschaftlichen Dokumentation über das Lagergeschehen im Emsland durch das Land Niedersachsen vom 24.6.1983 (NMfIS, 199 141/14 Band VI, unpag.).
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Karl-Heinz Brümmer hin, der in einem Interview mit der »Ems-Zeitung« betonte, dass Kosthorsts kommentierte Quellensammlung einen »erheblichen Informationswert« haben werde, der »auch für Schulen geschichtlich objektive und lesbare Abhandlungen« bieten werde. Der im unweit entfernten Oldenburg entstehenden Dissertation von Suhr, die keinen Hehl aus ihrer Solidarität für die kommunistischen Verfolgten machte, wurde diese Objektivität indirekt abgesprochen.102 Ebenfalls von politischen Konflikten begleitet, war die Diskussion um die Von-Velen-Anlage in Papenburg Anfang der 1980er-Jahre. Auf dem Gelände sollte ein Freilichtmuseum für Regionalgeschichte entstehen. Hierzu reichten sowohl Kosthorst als auch Hoffmann Konzepte ein. Während sich Hoffmann für ein DIZ einsetzte, wollte Kosthorst am Beispiel Emsland Nationalgeschichte ausstellen.103 Letztlich sollten beide Entwürfe nicht realisiert werden, und es entstand ein Freilichtmuseum, das die Kolonisierung der Moorgebiete seit dem 17. Jahrhundert und die Gründungsgeschichte der Stadt Papenburg thematisiert.104 Die unterschiedlichen Ansätze der drei Arbeiten werden im Folgenden biografisch vertieft, um die erinnerungspolitische Dimension der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den Emslandlagern Mitte der 1980er-Jahre deutlich zu machen und damit an die These anzuschließen, wonach die Wissenschaft keineswegs frei von generationell und sozial bedingten Deutungen der Vergangenheit ist.105 1.3.1 Elke Suhr
Die in Oldenburg aufgewachsene Elke Suhr, Jahrgang 1954, war bereits in ihrer Schulzeit politisch aktiv und arbeitete später als Studentin im Kulturreferat des AStA mit. Sie war maßgeblich am Protest gegen die Ablehnung der Widmung der Universität Oldenburg nach Carl von Ossietzky beteiligt. Durch ihr Lehramtsstudium der Geschichte stand sie im engen Kontakt zu Boldt und gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Initiative für ein DIZ Emslandlager.106 Gemeinsam mit Sieling schrieb sie ihre Examensarbeit über die emsländischen Konzentra-
102 Vgl. o. V., »Errichtung des DIZ bedarf weiterer Gespräche«. EZ-Gespräch mit OKD Brümmer zum Workcamp in Esterwegen. In: Ems-Zeitung vom 12.7.1982. 103 Vgl. Konzept Detlef Hoffmann, DIZ und Von-Velen-Anlage. Überlegungen zu einer Gedenkstätte Emslandlager innerhalb der »Historisch-ökologischen Schulungsstätte Emsland in Papenburg«, o. D. (September 1985) (Aktionskomitee DIZ Emslandlager e. V., Papenburg, unpag.). 104 Landkreis Emsland an Bezirksregierung Weser-Ems, Betr.: Gedenkstätte Bockhorst-Esterwegen vom 29.10.1986 (NMfIS, 199 141/53 Band I, unpag.). 105 Vgl. Reichel, Vergangenheitsbewältigung, S. 9. 106 Zur Ausdifferenzierung der Sozialgeschichte infolge der neuen sozialen Bewegungen vgl. Lutz Raphael, Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme. Theorien, Methoden, Tendenzen von 1900 bis zur Gegenwart, München 2003, S. 191.
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tions- und Strafgefangenenlager und schloss an die hierbei gewonnenen ersten Forschungsergebnisse ihr im Jahr 1979 aufgenommenes Promotionsprojekt an. Hervorzuheben ist an dieser Stelle der Genderaspekt, denn mit Suhr und ihren Kolleginnen traten ab der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre zunehmend Frauen als Akteure in Erscheinung.107 Suhrs Dissertation »Die Emslandlager. Die politische und wirtschaftliche Bedeutung der emsländischen Konzentrations- und Strafgefangenenlager 1933– 1945« erschien 1985108 im Bremer Verlag Donat & Temmen und war von einer bewusst antielitären Haltung und einer die subjektiven Erfahrungen der ehemaligen politischen Gefangenen und das geografische Umfeld der Emslandlager in den Fokus rückenden Perspektive geprägt. Ein Jahr nachdem Suhr ihre Doktorarbeit eingereicht hatte, ließ sie in einem Artikel das Interesse an von Ossietzky und den Emslandlagern Revue passieren und beschrieb darin ihren eigenen Zugang zur Geschichte der Emslandlager. Dabei legte sie ihre Standpunktgebundenheit offen und erläuterte, dass sie die Geschichte der Emslandlager »nicht im Elfenbeinturm einer sich selbst genügenden Historie« schreiben, sondern den politischen Gefangenen eine Stimme geben und zu einer »Enttabuisierung« der Lagergeschichte beitragen wollte.109 Aus der Perspektive einer Geschichte von unten beschrieb Suhr in ihrer Arbeit alle Gefangenengruppen, die sie als »Außenseiter der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft« bezeichnete. Der Fokus ihrer Arbeit lag jedoch auf den politischen Gefangenen, was nicht zuletzt durch das Vorwort zur Buchpublikation deutlich wurde, das vom kommunistischen Widerstandskämpfer Hermann Langbein verfasst war.110 Grundlage ihrer Arbeit waren historische Schriftquellen sowie narrative Interviews, die sie mit ehemaligen politischen Gefangenen der Konzentrations- und Strafgefangenenlager geführt hatte. Der Schwerpunkt lag auf dem Lageralltag und, in der Tradition des kommunistischen Erinnerungsmilieus, dem Thema Selbstbehauptung und Widerstand.111 Ein großer Teil der Arbeit widmete sich darüber hinaus den wirtschaftlichen Interessenverflechtungen auf lokaler und regionaler Ebene. Suhrs Untersuchung fokussierte sich auf Handwerker und Bauunternehmer, die im Zuge des Aufbaus der Emslandlager
107 Vgl. Suhr, Weg zu Ossietzky, S. 81–92. 108 Suhr reichte bereits im Jahr 1983 ihre Arbeit an der Universität Oldenburg ein, allerdings erschien diese erst zwei Jahre später, sodass der Landkreis Emsland dank erheblicher finanzieller Mittel seine Dokumentation früher veröffentlichen konnte. Vgl. Der Oberkreisdirektor Landkreis Emsland an niedersächsischer Minister des Innern, Referat 52, Mitteilung über das geplante Erscheinen der Dokumentation für September 1983 (Droste Verlag) vom 24.6.1983 (NMfIS, 199 141/14 Band VI, unpag.). 109 Suhr, Weg zu Ossietzky, S. 80. 110 Vgl. Hermann Langbein, Vorwort. In: Suhr, Die Emslandlager, S. 9–12. 111 Vgl. Suhr, Die Emslandlager, S. 144–168 (Kapitel: Verhalten der Häftlinge).
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von der neuen Auftragslage profitiert hatten, sowie auf die regionale Verwaltung, die den Einsatz der Gefangenen in der Moorkultivierung forcierte. Damit konnte sie quellenbasiert tradierte Entlastungsnarrative widerlegen.112 1.3.2 Erich Kosthorst
Auch dank der kommunalen finanziellen Unterstützung konnte die von Kosthorst und Walter erarbeitete Quellensammlung zu den Emslandlagern zwei Jahre vor Suhrs Arbeit im Jahr 1983 veröffentlicht werden.113 Dabei hätten Kosthorst und Suhr nicht unterschiedlicher sein können. Während die Ende der 1960er-Jahre politisierte Suhr die Konzentrations- und Strafgefangenenlager vor allem aus der Perspektive der kommunistischen Gefangenen als eigenständige Geschichte schrieb, mit dem Finger auf die regionalen Akteure aus Verwaltung und Wirtschaft zeigte und damit der Programmatik der Geschichte von unten, der marginalisierten und nunmehr sichtbar gemachten Geschichte folgte, hatte der 1920 geborene Kosthorst einen gänzlich anderen Erfahrungshintergrund, der auch seine Forschung beeinflusste. Bis zu seinem Einzug zum Wehrdienst war er illegal in der katholischen bündischen Jugend engagiert gewesen. Als Wehrmachtsoldat geriet er im Zweiten Weltkrieg in sowjetische Kriegsgefangenschaft, aus der er im Jahr 1949 entlassen wurde.114 Sein Interesse an der Zeitgeschichte erklärte er in einem Aufsatz aus dem Jahr 1997 damit, dass ihn die Kriegserfahrungen stark geprägt hatten und er die »Ursachen der Katastrophe, die Bedingungen der Möglichkeiten des Nationalsozialismus« ergründen wollte115 – ein Erfahrungshorizont, den er mit anderen Historikern, wie Koselleck, teilte.116 Kosthorst promovierte bei Hans Rothfels und arbeitete später mit Werner Conze zusammen. In den 1970er-Jahren war Kosthorst an der Seite von KarlErnst Jeismann maßgeblich an den Diskussionen um eine Neuorientierung der Geschichtsdidaktik beteiligt und kritisierte die Ideen jüngerer Kolleginnen und Kollegen, die von der Kritischen Theorie beeinflusst die Selbst- und Mitbestimmung als Lernziel forderten.117 112 Vgl. ebd., S. 186–226 (Kapitel: Wirtschaftliche Bedeutung der Lager). 113 Vgl. o. V., Geschichte – nie abstellbarer Gegenstand. Übergabe einer Dokumentation über die Emslandlager/Dreitausend Seiten. In: Ems-Zeitung vom 2.2.1983. 114 Vgl. Erich Kosthorst, Mein Weg durch die Zeitgeschichte. In: Hartmut Lehmann/Otto Gerhard Oexle (Hg.), Erinnerungsstücke. Wege in die Vergangenheit. Rudolf Vierhaus zum 75. Geburtstag gewidmet, Wien 1997, S. 137–152, hier 137–139. 115 Ebd., S. 139. 116 Vgl. Klaus Latzel, Geschichten der Novemberrevolution. Historiographie und Sinnbildung im geteilten Deutschland. In: Franka Maubauch/Christina Morina (Hg.), Das 20. Jahrhundert erzählen. Zeiterfahrung und Zeiterforschung im geteilten Deutschland, Göttingen 2016, S. 86–140, hier 92. 117 Vgl. Sandkühler, Einleitung, S. 18. In: ders. (Hg.), Historisches Lernen. Gespräche mit Geschichtsdidaktikern der Jahrgänge 1928–1947, Göttingen 2014, S. 7–34, hier 18; ders., Geschichtsdidaktik
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Während Suhrs Arbeit von einer kleinräumigen, subjektiven und den Lageralltag fokussierenden Perspektivierung gekennzeichnet war, stellte Kosthorst zusammen mit Walter ein »exemplarisches Stück der Geschichte der Justiz, genauer: des Strafvollzugs im ›Dritten Reich‹« dar,118 die er am Konzept des Doppelstaats von Fraenkel orientierte.119 Zweieinhalb Jahre hatten Kosthorst und Walter versucht, den gesamten Aktenbestand eines Lagerkomplexes zu erfassen und zu untersuchen.120 Darüber hinaus erhoben sie Nachkriegsermittlungs- und Verfahrensakten. Interviews mit Zeitzeugen wurden hingegen mit der Begründung abgelehnt, dass während der Nachkriegsermittlungen Befragungen von »erfahrenen Richtern« durchgeführt worden waren, die »weitere Befragungen von noch Überlebenden durch die Verfasser der Dokumentation überflüssig« machten.121 Mit dem Fokus auf den Strafvollzug als Teilbereich des NS-Staates widmeten sich Kosthorst und Walter einem Desiderat der Forschung.122 Dabei blendeten sie die Kooperation der Lokal- und Regionalverwaltung und die Wirtschaftsverflechtungen nicht aus. Ihrem Auftraggeber kamen sie jedoch im Vorwort der Quellensammlung ein Stück weit entgegen, wenn betont wird, dass das Thema der Arbeit nicht »die spezifische Vergangenheit der Region« sei, »die hier aufgeklärt« werde, »sondern dass es sich bei der Geschichte der Emslandlager um einen bisher wenig bekannten Teil der Geschichte des NS-Regimes handelt, die von außen in die abgelegene Moorlandschaft eingepflanzt und verwirklicht wurde«.123 Ebenfalls an den Ansatz des Exemplarischen angelehnt, der die Verantwortung regionaler und lokaler Akteure am Auf- und Ausbau der Lager in den Hintergrund rücken ließ, erarbeitete Kosthorst zusammen mit dem Historiker Wilhelm
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als gesellschaftliche Repräsentation. Diskurse der Disziplin im zeitgeschichtlichen Kontext um 1970. In: Charlotte Bühl-Gramer/Marko Demantowsky/Anke John/Alfons Kenkmann/Michael Sauer, Geschichtslernen in biographischer Perspektive. Nachhaltigkeit – Entwicklung – Generationendifferenz, Göttingen 2014, S. 313–332, hier 329–331. Kosthorst/Walter, Konzentrations- und Strafgefangenenlager im Dritten Reich, Band 1, S. 4. Weiter heißt es im Vorwort: »Es ist die Geschichte des Doppel-Staates, des ›Dual-State‹, wie E. Fraenkel das NS-System gekennzeichnet hat: zunächst der Polarität von Staat (hier: Justiz) und Partei, der Spannung zwischen rechtsstaatlichen Traditionen und ›revolutionären‹ Kräften – dann der Auszehrung liberal-humaner Tendenzen im Sog der nationalsozialistischen Mentalität, der Brutalisierung von Menschen und Institutionen – es ist nicht zuletzt die Geschichte des Scheiterns des Reichsjustizministeriums, bis dieses seit dem Herbst 1942 unter dem neuen Minister Thierack kaum noch etwas anderes war als eine nationalsozialistische Filiale.« Ebd. In folgenden Archiven recherchierten Kosthorst und Walter: Niedersächsisches Staatsarchiv Osnabrück, Bundesarchiv Koblenz, Zentrale der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg, International Tracing Service, Institut für Zeitgeschichte München, Justizvollzugsanstalt Lingen, Geheimes Staatsarchiv/Preußischer Kulturbesitz in Berlin, Dokumentationsabteilung der Kriegsopferverwaltung des Ministère de la Publique et de la Famille in Brüssel, Archiv des Foreign Office London. Vgl. ebd. Ebd., S. 5. Vgl. die Rezension von Diemut Majer. In: Historische Zeitschrift, (1984) 239, S. 465–467. Kosthorst/Walter, Konzentrations- und Strafgefangenenlager im Dritten Reich, Band 1, S. 4.
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Spurensuche und -bewahrung
Kohl (Universität Münster) im Auftrag des Landkreises Emsland im Jahr 1985 ein Konzept für die Von-Velen-Anlage, ein zukünftiges Freilichtmuseum zur Regionalgeschichte in Papenburg. Der Titel seines Antrages lautete: »Die Geschichte des Emslandes und die deutsche Geschichte im Emsland.« Laut Kosthorst und Kohl sollte die Regionalgeschichte im Kontext deutscher Geschichte von der Siedlungs- bis zur Zeitgeschichte in einem Museumskomplex präsentiert werden. Der zeithistorische Bereich, zu dem »Weimarer Republik, Nationalsozialismus, Besatzungszeit und Bundesrepublik« zählten, sollte in einer ehemaligen Baracke der Emslandlager ausgestellt werden.124 1.3.3 Detlef Hoffmann
Auch der Kunsthistoriker Detlef Hoffmann reichte im Jahr 1985 im Namen des Aktionskomitees ein Konzept für die Gestaltung der Von-Velen-Anlage ein, das die Einrichtung eines autonomen Dokumentations- und Informationszentrums auf dem Gelände vorsah und damit einen bewussten Gegenentwurf zu Kosthorsts Idee schuf.125 Der in Hamburg geborene Hoffmann (1940–2013) lehrte als Professor von 1982 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2006 an der Universität Oldenburg. Über ihn kam sein damaliger Student Knigge, der spätere Stiftungsdirektor der Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, mit der Gedenkstättenarbeit in Berührung.126 Hoffmann steht ebenso wie die in Kapitel V beleuchteten Journalisten Vinke und Kromschröder beispielhaft für Angehörige der ersten Nachkriegsgeneration, die sich bereits im Jugendalter angesichts der einsetzenden Thematisierung der Verbrechen der Nationalsozialisten mit diesen auseinandersetzten und deren Lebens- und Karrierewege entscheidend dadurch gekennzeichnet waren, Schweigegebote brechen zu wollen.127 Während seiner Studienzeit in den 1960er-Jahren antiautoritär sozialisiert, setzte Hoffmann sich im Museumsbereich für eine Demokratisierung, eine Öffnung für das Publikum sowie ein Mehr an Teilhabe ein: Zwischen 1971 und 1980 war er an der umstrittenen Neukonzeption des Historischen Museums Frankfurt hin zu einem Museum »für
124 Vgl. Wilhelm Kohl/Erich Kosthorst, Die Geschichte des Emslandes und die deutsche Geschichte im Emsland. Arbeitspapier (Aktionskomitee DIZ Emslandlager e. V., Papenburg), S. 13. 125 Vgl. Konzept Detlef Hoffmann, DIZ und Von-Velen-Anlage. Überlegungen zu einer Gedenkstätte Emslandlager innerhalb der »Historisch-ökologischen Schulungsstätte Emsland in Papenburg«, o. D. (September 1985) (Aktionskomitee DIZ Emslandlager e. V., Papenburg). 126 Vgl. Sandkühler (Hg.), Historisches Lernen, S. 219. 127 Marcuse stellt in seiner Arbeit »Legacies of Dachau« den Kunsthistoriker Detlef Hoffmann als idealtypischen Vertreter einer seit Ende der 1980er-Jahre sich durchsetzenden kritischen Erinnerungskultur vor. Hoffmann habe als Jugendlicher den Film »Nacht und Nebel« unerlaubt im Kino gesehen und seitdem ein starkes Interesse für die Vergangenheit entwickelt, aus dem sich nachhaltig seine politische Haltung speiste. Vgl. Marcuse, Legacies of Dachau, S. 296–298.
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die demokratische Gesellschaft« beteiligt.128 In diesem Zusammenhang nahm er die Perspektive einer »Geschichte von unten« und »für unten« ein.129 Seit Mitte der 1980er-Jahre widmete sich Hoffmann verstärkt der Geschichte und Nachgeschichte des Nationalsozialismus und richtete im Zeichen des cultural turns den Blick auf den Umgang mit den Überresten nationalsozialistischer Lager, die er als Bedeutungsträger interpretierte.130 Dabei übertrug er den Aurabegriff Walter Benjamins auf die baulichen Überreste von NS-Lagern und plädierte anstelle der Rekonstruktion, die er als Inszenierung wahrnahm, für eine Dekonstruktion. Im Sinne der Authentizität – einem Schlagwort der 1980er- und 1990er-Jahre – sollte das Prinzip der Spurensicherung und -sichtbarmachung zum Tragen kommen.131 Kosthorsts und Kohls Vorschlag, die Geschichte des 20. Jahrhunderts in einem Bereich und noch dazu in einer wiederaufgebauten Lagerbaracke am nichtauthentischen Ort auszustellen, war aus dieser Perspektive daher abzulehnen. Hoffmann sah in diesem Konzept zum einen die Gefahr, »alle drei genannten Zeitabschnitte gleichwertig zu behandeln, zum anderen die Gefahr, die Verdrängung erneut zu stabilisieren«.132 Er forderte hingegen, die Vergangenheit »im Stil unserer Zeit« und in einer Mischung aus »Geschichte von unten und sozialer Arbeit« zu vermitteln.133 Im Sinne der Sichtbarmachung von Vergangenheits spuren sollten demnach nur Fragmente der Lagerüberreste ausgestellt werden, die dabei aber nicht restauriert und in einen Vorkriegszustand gebracht würden, sondern Spuren der Nachkriegsnutzung offen zeigten. Das partizipative Moment griff Hoffmann insofern auf, als seinem Entwurf zufolge die Anwohnerinnen und Anwohner der ehemaligen Emslandlager aufgerufen werden sollten, Formen zu erarbeiten, »in und an denen Erinnerung sich substantialisiert«. Hoffmann strebte also eine auf Teilhabe angelegte Neuorientierung gängiger Ausstellungspraxis an, die er bereits als Mitarbeiter des Historischen Museums Frankfurt erprobt hatte. Es sollte ein zweigliedriger Komplex aus einerseits Ausstellung und ande128 Vgl. Detlef Hoffmann/Almut Junker/Peter Schirmbeck (Hg.), Geschichte als öffentliches Ärgernis oder ein Museum für die demokratische Gesellschaft. Das historische Museum in Frankfurt am Main und der Streit um seine Konzeption, Fernwald-Steinbach 1974. 129 Vgl. Mario Schulze, Wie die Dinge sprechen lernten. Eine Geschichte des Museumsobjektes 1968–2000, Bielefeld 2017, S. 104. 130 Vgl. Detlef Hoffmann, Orte der Erinnerung oder: Wie ist heute sichtbar, was einmal war? Dokumentation einer Tagung der Evangelischen Akademie Loccum vom 3. bis 5. Juni 1994, Rehburg-Loccum 1996. 131 Vgl. Detlef Hoffmann, Das Gedächtnis der Dinge: Einleitung. In: ders. (Hg.), Das Gedächtnis der Dinge: KZ-Relikte und KZ-Denkmäler 1945–1995, Frankfurt a. M. 1998, S. 6–9. 132 Konzept Detlef Hoffmann, DIZ und Von-Velen-Anlage. Überlegungen zu einer Gedenkstätte Emslandlager innerhalb der »Historisch-ökologischen Schulungsstätte Emsland in Papenburg«, o. D. (September 1985) (Aktionskomitee DIZ Emslandlager e. V., Papenburg), S. 23. 133 »Das Gebäude, das autonom innerhalb der Anlage sein sollte, muss im Stil unserer Zeit die Vergangenheit thematisieren. Damit spreche ich gegen die Rekonstruktion einer Führungsbaracke, die in Groß Hesepe erhalten ist, auf dem Papenburger Gelände.« (ebd., S. 8).
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rerseits offenem Archiv entstehen. In diesen sollten die Besucherinnen und Besucher Quellen einbringen, einsehen und untersuchen können.134 Hoffmanns Konzept ist gekennzeichnet von der Vorstellung der Spur als »gegenwärtige Wirkung und als Zeichen ihrer abwesenden Ursache«,135 wie Paul Ricœur diese Denkfigur später beschreibt. Dabei stellt sein Konzept eine Quelle früher gestalterischer Prinzipien dar, die im Zuge der Institutionalisierung des Gedenkstättenwesens mittlerweile kanonisiert wurden. Im Mittelpunkt steht die Überlegung, das Auratische der materiellen Überreste nicht durch Nachahmung oder Rekonstruktion zu überformen bzw. das Grauen zu inszenieren, sondern gerade das Bruchstückhafte zu betonen und damit zur Reflexion historischer Prozesse und Deutungsverschiebungen anzuregen: Ein dekonstruktivistischer Ansatz, der eine überwältigende Formensprache oder überfrachtende Faktenvermittlung ablehnt.136 Die in der ersten Hälfte der 1980er-Jahre entstehenden wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit den Emslandlagern, ob in Form von Studien oder Gedenkstätten- bzw. Ausstellungskonzepten, hatten ihre Entsprechung in aktuellen gesellschaftlichen und politischen Diskursen.137 Während Kosthorst aufgrund seiner generationellen Prägung für eine Geschichtswissenschaft stand, die sich der Objektivität verschreiben wollte und den Ansätzen einer Geschichte von unten mit Skepsis begegnete, stellte die Zeitzeugenbefragung in Suhrs Arbeit eine wichtige Erhebungsmethode dar. Suhr wählte dabei zwar einen alltagsgeschichtlichen Zugang, fokussierte jedoch die kommunistischen Gefangenen, subjektive Sichtweisen anderer Gefangenengruppen berücksichtigte sie nicht. Aus der Perspektive der ehemaligen politischen Gefangenen, die Jahrzehnte marginalisiert worden waren, erhob sie eine Anklage, indem sie die engen Wirtschaftsverflechtungen zwischen den Lagern und der Region nachwies. Eine moderatere Haltung nahm Hoffmann ein, dessen Konzept die Lokalbevölkerung integrierte und im Sinne einer demokratisierten Wissenskultur zum Spurenlesen einlud. Ein Wechsel und eine Weiterentwicklung, die den Gedenkstättendiskurs prägen sollte, war die von Hoffmann geforderte kritische Reflexion der Authentizität historischer Orte und sein Plädoyer gegen eine Reinszenierung der Vergangenheit durch bauliche Rekonstruktionen. Diese Sichtweise sollte das Gedenkstättenwesen über Jahrzehnte prägen und wird erst seit wenigen Jahren angesichts der zeitlichen Distanz zur NS-Vergangenheit und der zunehmenden Bedeutung digitaler Angebote überdacht. 134 Ebd. S. 7. 135 Paul Ricœur, Gedächtnis – Geschichte – Vergessen, Paderborn 2004, S. 650. 136 Vgl. Jörg Skriebeleit, Relikte, Sinnstiftungen und memoriale Blueprints. In: Daniela Allmeier/ Inge Manka/Peter Mörtenböck/Rudolf Scheuvens (Hg.), Erinnerungsorte in Bewegung. Zur Neugestaltung des Gedenkens an Orten nationalsozialistischer Verbrechen, Bielefeld 2016, S. 101–125, hier 102. 137 Vgl. Berg, Der Holocaust und die westdeutschen Historiker, S. 42.
Institutionalisierung
2.
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Institutionalisierung: staatliche Förderung und kommunale Aneignung
Im Jahr 2011 eröffnete die in ihrer Trägerstruktur eng an den Landkreis Emsland gebundene Gedenkstätte Esterwegen. Das bis dahin von einem Verein getragene, selbstverwaltete DIZ in Papenburg wurde geschlossen und zog mit seinem Personal, seiner archivalischen Sammlung und seiner Bibliothek in die neugeschaffene Gedenkstätte ein. Die Gründung der Stiftung Gedenkstätte Esterwegen als Trägerin und die Eröffnung der gleichnamigen Gedenkstätte korrespondiert mit der Institutionalisierung des bundesdeutschen Gedenkstättenwesens. Eine Entwicklung, die durch den Fall des Eisernen Vorhangs und eine hierdurch angestoßene Debatte um die Frage des zukünftigen Umgangs mit den Orten sogenannter doppelter Vergangenheit beschleunigt wurde. Dieser bundesgedenkstättenpolitische Rahmen schlug sich im Emsland auch in den Akteuren nieder, die an dem Neugestaltungsprozess beteiligt waren. Hier ist an erster Stelle Bernd Faulenbach zu nennen, der zwischen 1992 und 1994 Mitglied der Enquete-Kommission »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland« gewesen war und an der Formulierung des antitotalitären Konsenses maßgeblich mitwirkte. Er begleitete den Aufbau der Gedenkstätte Esterwegen wissenschaftlich und ist seit 2008 Vorsitzender des dortigen Stiftungsrates. Mit der Gründung der Stiftung Gedenkstätte Esterwegen kann der Institutionalisierungsprozess als vorerst abgeschlossen gelten. In Niedersachsen setzte diese Entwicklung auf Landesebene jedoch schon Anfang der 1990er-Jahre ein. In dieser Zeit war die Frage nach dem zukünftigen Umgang mit den Orten »doppelter Vergangenheit« durch ein steigendes Bewusstsein für die Schattenseiten des verordneten Antifaschismus der DDR in Anbetracht von Ausschreitungen gegen Menschen mit Migrationsgeschichte und einer sich konsolidierenden neonazistischen Szene in den neuen Bundesländern brisant geworden.138 Noch bevor auf Bundesebene Richtlinien zur zukünftigen Gedenkstättenarbeit entwickelt worden waren, wurde vom niedersächsischen Landtag einstimmig über die »Politische Unterstützung für die Arbeit und Finanzierung der Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus« entschieden. Niedersachsen, das seit 1990 unter rot-grüner Regierung stand, war mit dieser Landtagsentscheidung das erste Bundesland, das die regionale Gedenkstättenarbeit staatlich förderte. Explizit wurde dabei Bezug genommen auf die Negativfolgen des DDR-Antifaschismus und damit von einer bislang allein Bergen-Belsen fördernden Gedenkstättenpolitik abgerückt, wie sie die CDU 138 Vgl. Niedersächsischer Landtag zur 102. Sitzung der 11. Wahlperiode vom 17. Januar 1990, hier: Politische Unterstützung für die Arbeit und Finanzierung der Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus, S. 9476–9480 (im Folgenden zit. LT-Plenarprotokoll 11/102, https://www. landtag-niedersachsen.de/parlamentsdokumente/steno/11_WP/endber102.pdf; 2.12.2021).
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Spurensuche und -bewahrung
forderte und unterstützte.139 Von der neuen, eine dezentrale Erinnerungskultur stärkenden Förderpolitik profitierten das DIZ Emslandlager und viele kleinere Gedenkstättenvereine in Niedersachsen. Die einleitend dargestellte Gedenkstättenkonzeption des Bundes von 1999 war dann ein weiterer Schritt hin zur Institionalisierung der Gedenkstätten in Deutschland.140 Infolge der finanziellen Absicherung der Gedenkstättenarbeit durch Bundesgelder sowie des durch den Fall des Eisernen Vorhangs erheblich erweiterten Wissenstransfers seit den 1990er-Jahren, der durch die Öffnung der Archive sowie den Austausch zwischen Fachwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern möglich wurde, erweiterte sich der Kenntnisstand über das nationalsozialistische Lagersystem enorm und insbesondere die großen KZ-Gedenkstätten erfuhren einen Professionalisierungsschub. Eine Folge der bundesstaatlichen Förderung war aber zugleich eine zunehmend an Effizienzkriterien orientierte und ihre Unabhängigkeit einbüßende Gedenkstättenarbeit.141 Wie genau die hier im Schnelldurchlauf skizzierte Gedenkstättenförderung für den Aufbau einer zentralen Gedenkstätte im Emsland eine Rolle spielte, wie sich die Erinnerungskulturen überhaupt erst vor Ort wandelten und welche überregionalen Entwicklungen stattfinden mussten, um die Voraussetzung für eine Gedenkstätte auf dem historischen Lagergelände Esterwegen zu schaffen, wird im Folgenden dargestellt. Dabei werden im Zwischenfazit als eine Art Ausblick die regionalen erinnerungskulturellen Muster reflektiert, die im Verlauf der vorliegenden Arbeit herausgearbeitet wurden, und danach gefragt, inwiefern mit der Eröffnung der zentralen Gedenkstätte Esterwegen von einer Lösung der Spannungen zwischen den Akteuren der Geschichtsbewegung im Emsland und dem Landkreis die Rede sein kann.142 2.1
Neubewertung der Lager in den 1980er-Jahren
Im Mai 1982 reichte das Aktionskomitee, das zu dieser Zeit 160 Vereinsmitglieder zählte, einen Antrag ein, der die Eröffnung eines provisorischen DIZ in der obersten Etage des Gemeindehauses Esterwegen vorsah. Die Gemeinde Esterwegen lehnte den Antrag ab, da sie sich nicht in der Pflicht sah, an die von 139 Andreas Ehresmann, Die Entwicklung der Gedenk- und Geschichtsinitiativen in Niedersachsen. In: GedenkstättenRundbrief, (2012) 164, S. 25–30, hier 25. 140 Vgl. Detlef Garbe, Die Gedenkstättenkonzeption des Bundes: Förderinstrument im geschichtspolitischen Spannungsfeld. In: GedenkstättenRundbrief, (2016) 182, S. 3–17, hier 5. 141 Vgl. Wildt, Die Epochenzäsur 1989/90, S. 356 f. Zur zunehmend transnationalen erinnerungskulturellen Verflechtung vgl. Bauerkämper, Das umstrittene Gedächtnis, S. 384. 142 Da die Quellengrundlage mit abnehmender zeitlicher Distanz zur Gegenwart dünner wird, wird neben Zeitungsartikeln und Niederschriften von Sitzungen politischer Gremien ein Gesprächsprotokoll mit Hermann Bröring, dem ehemaligen Landrat des Kreises Emsland, der die Entscheidung zum Aufbau einer Gedenkstätte Esterwegen im Jahr 2000 auf politischer Ebene getragen hatte, die Quellengrundlage der folgenden Unterkapitel ergänzen.
Institutionalisierung
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»Fremden« ins Emsland getragenen Lager zu erinnern.143 Diese Haltung verhärtete die Fronten zwischen der Gedenkstätteninitiative und konservativen Kräften im Emsland noch mehr. Der christdemokratisch regierte Landkreis Emsland, in dem sich dreizehn der Emslandlager sowie die zentrale Kommandantur in Papenburg befunden hatten, bot dabei aus Sicht des Aktionskomitees eine breite Angriffsfläche. Gerade hier im ländlichen, von traditionellen Obrigkeitsvorstellungen geprägten Milieu wollten sie aufrütteln und einen Wandel anstoßen.144 Der Landkreis Grafschaft Bentheim hingegen, der politisch und konfessionell heterogener ist und in dem bis zum Jahr 1945 nur drei Strafgefangenen- bzw. Kriegsgefangenenlager existiert hatten, rückte in der Kritik in den Hintergrund. Angesichts des anhaltenden Protests vonseiten der breiten zivilgesellschaftlichen Gedenkstätteninitiative geriet der Landkreis Emsland zunehmend unter Handlungsdruck. Bereits im Jahr 1980 hatte er daher entschieden, Kosthorst mit der Erforschung der Emslandlager zu beauftragen, woraus eine dreibändige kommentierte Quellensammlung hervorging.145 An diese Quellendokumentation anschließend entstanden weitere von staatlichen und kommunalen Akteuren angestoßene Vermittlungsangebote. Im Jahr 1986 gab der Landkreis Emsland Lehrmaterialien heraus, die an emsländische Schulen verteilt wurden.146 Darüber hinaus entschied die Bezirksregierung Weser-Ems, an den neun Friedhöfen der Emslandlager Informationstafeln aufzustellen.147 Auf diesen an den Eingängen aufgestellten Tafeln wurden die Besucherinnen und Besucher zum Erhalt weiterer Informationen an die umliegenden Gemeinden verwiesen.148 Auf einer im Jahr 1986 am Eingang zum Friedhof Bockhorst-Esterwegen angebrachten Bronzetafel wurde der Landkreis Emsland als Ansprechpartner genannt, obwohl die
143 Aktionskomitee für ein Dokumentations- und Informationszentrum Emslandlager e. V. Mitteilung zur geplanten Eröffnung eines DIZ am 8. Mai 1982 im katholischen Gemeindehaus Esterwegen (Aktionskomitee DIZ Emslandlager e. V., Papenburg), S. 1; vgl. Boldt/Meyer/Otten/ Rieke/Suhr/Weißmann, Emslandlager, S. 82. 144 Vgl. Paulus (Hg.), Bewegte Dörfer. 145 Vgl. Landkreis Emsland, Oberkreisdirektor an niedersächsischen Minister des Innern, Betr.: Wissenschaftliche Dokumentation über das Lagergeschehen im Emsland, hier: Mitfinanzierung durch das Land Niedersachsen vom 25.3.1980 (NMfIS, 199 141/14 Band V). 146 Vgl. Landkreis Emsland (Hg.), Die Zerstörung von Recht und Menschlichkeit. 147 Die Bronzeschrifttafeln haben eine Größe von 40 × 60 cm, vgl. Bezirksregierung Weser-Ems, Vorgang 308-113 zu den Schrifttafeln vom 9.2.1984 (NMfIS, 199 141/53 Band I, unpag.). 148 Beispielhaft kann hier die Informationstafel am Friedhof Oberlangen genannt werden. Der Text lautet: »Friedhof Oberlangen. Hier ruhen sowjetrussische Kriegsgefangene. Die Namen von 62 Toten in Einzelgräbern sind bekannt. Die Namen von 2 000 bis 4 000 Toten in Massengräbern und von 2 Toten in Einzelgräbern sind unbekannt. Die Gefangenen starben zum größten Teil an Unterernährung und Epidemien. Nähere Auskünfte erteilt die Samtgemeinde Lathen«, Entwurf des Textes für die auf dem Friedhof Oberlangen aufzustellende Schrifttafel, o. J. (NMfIS, 199 141/53 Band I, unpag.).
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Spurensuche und -bewahrung
Kreisregierung im 50 Kilometer entfernten Meppen ansässig ist, während das DIZ sich im nur 15 Kilometer entfernten Papenburg befand.149 Darüber hinaus bot der stellvertretende Esterwegener Gemeindedirektor Bernhard Baalmann seit Anfang der 1980er-Jahre Führungen über den Friedhof Bockhorst-Esterwegen an. Nach der Pensionierung Baalmanns zog es der Landkreis Emsland nicht in Erwägung, das Vermittlungsangebot dem DIZ zu übertragen.150 Vielmehr sollte beim Regierungsbezirk Geld eingeworben werden, damit die Führungen weiterhin in der Hand der Gemeinde blieben.151 Während die historischen Vermittlungsangebote des Landkreises Emsland in den 1980er-Jahren noch in Konkurrenz zur Arbeit des Aktionskomitees bzw. des DIZ standen, stehen sie dennoch für einen langsam einsetzenden erinnerungskulturellen Wandel in der Region. Ende der 1970er-Jahre waren die Studierenden der Universität Oldenburg, die die Lokalbevölkerung unvermittelt in Gaststätten und Privathäusern aufsuchten, um sie mit ihrem Wissen über die Emslandlager zu konfrontieren, noch auf viel Abwehr gestoßen. Nur wenige Jahre später kam es während der ersten Workcamps der Jahre 1980 und 1981 zu Annäherungen: Landwirte stellten ihre Bagger für Abräumarbeiten auf den ehemaligen Lagergeländen zur Verfügung, und Jugendliche aus der Region nahmen spontan an Diskussionsrunden teil.152 Eine Quelle, die zeigt, dass sich in den 1980er-Jahren auch im ländlichen Raum der Vergangenheitsdiskurs veränderte, ist ein Bericht in der »Ems-Zeitung« über eine Tagung zum Thema »Kriegsende«, die im Mai 1985 in Lingen stattfand. Auf der vom Landkreis Emsland ins Leben gerufenen Veranstaltung sprachen Zeitgenossinnen und Zeitgenossen erstmals öffentlich über ihre Erinnerungen an die Emslandlager.153 Die Tagung wurde von Alwin Hanschmidt geleitet, Professor für Geschichte und ihre Didaktik an der Universität Vechta. Neben Hanschmidt war Kosthorst geladen, der die Diskussion eröffnete, indem er von seiner Kriegsgefangenschaft erzählte. Er habe erst im sowjetischen Kriegsgefangenenlager von den Vernichtungslagern der Nationalsozialisten er-
149 Vgl. Innenministerium zur kleinen Anfrage der Abgeordneten Inge Lemmermann, Betr.: Regionale Gedenkstättenarbeit über die Emslandlager vom 27.11.1986 (LT-Drucksache 11/430, S. 1–3). 150 Lindenberger, »Alltagsgeschichte«, S. 83. 151 Vgl. Oberkreisdirektor Landkreis Emsland (Karl-Heinz Brümmer) an Bezirksregierung Weser-Ems, Dezernat 301, Betr.: Führung von Besuchergruppen auf dem Friedhof am Küstenkanal in Bockhorst-Esterwegen vom 17.1.1985 (NMfIS, 199 141/14 Band VI, unpag.). 152 O. V., Das Schweigen wird lauter. Internationales Jugend-Workcamp arbeitet Geschichte der Emsland-Lager auf. In: Pressespiegel DIZ 1981 (Aktionskomitee DIZ Emslandlager e. V., Papenburg), S. 17. 153 O. V., »Emsländer haben von Lager gewußt – aber nur wenig, was dort geschah.« Akademietagung im Ludwig-Windthorst-Haus zum Thema »Kriegsende«. In: Ems-Zeitung vom 8.5.1985.
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fahren. Damit leitete Kosthorst über zur emsländischen Bevölkerung, die nur in Ausnahmefällen von den tatsächlichen Zuständen in den Lagern gewusst oder aber aus Angst vor eigener Verfolgung geschwiegen habe.154 Kosthorsts lebensgeschichtlicher Zugang, mit dessen Hilfe er die eigene Kriegsgefangenschaft und das Wissen von den Vernichtungslagern als Kontingenzerfahrung schilderte, baute der Lokalbevölkerung eine Brücke. Ein Handwerker meldete sich zu Wort und erzählte, dass er im Jahr 1934 im Lager Esterwegen Tischlerarbeiten ausgeführt habe. Seiner Erinnerung nach waren zum damaligen Zeitpunkt rund 5 000 Männer dort in Gefangenschaft gewesen. Nach Abschluss der Arbeiten hätten er und seine Kollegen ein Schweigegebot auferlegt bekommen, an das sich allerdings einer der Handwerker nicht gehalten habe, woraufhin dieser festgenommen und inhaftiert worden sei. »Ich bekenne, dass ich zu feige war, dagegen anzugehen«, gab der Mann abschließend an.155 Die offen geteilte Erinnerung weist auf einen tiefergreifenden erinnerungskulturellen Wandel hin. Die zeitliche Distanz zu den historischen Ereignissen war gewachsen und gerade das 40. Jubiläum des Kriegsendes 1985 hatte einen regelrechten Erinnerungsboom ausgelöst. Die medial verstärkte Erinnerung an die NS-Vergangenheit dürfte der Mann wahrgenommen haben: der breit diskutierte Besuch von Helmut Kohl und Ronald Reagan des Soldatenfriedhofs in Bitburg sowie die Bundestagsrede Richard von Weizsäckers zum 8. Mai. Darüber hinaus ist anzunehmen, dass aufgrund der Erforschung der Emslandlager durch einen renommierten Historiker aus Münster die individuelle Erinnerung einen neuen Geltungsanspruch erhielt. Sie war nun gerahmt in eine zeitlich geordnete Geschichte und machte sie damit gleichsam als deren Teil bedeutsam und öffnete sie für eine Neubewertung.156
154 Kosthorst wiedergebend hieß es in der Berichterstattung der »Ems-Zeitung« wenige Tage später: »Den Emsländern sei in der offiziellen Propaganda durch Zeitungsberichte suggeriert worden, dass in den hiesigen Lagern Leute untergebracht seien, die sich ›gegen die Volksgemeinschaft vergangen‹ hätten und ›umerzogen‹ werden müssten. Wer über die wirklichen Vorgänge in den Lagern informiert gewesen sei, habe sicher große Angst gehabt, darüber zu sprechen. Ob die Emsländer nicht mehr darüber hätten wissen können, sei wohl eine differenzierte, auch psychologische Frage.« Ebd. 155 Ebd. 156 Vgl. Gerd Sebald, Erinnerung, Erzählung und Authentizität. In: ders./Lehmann/Malinowska/ Öchsner/Brunnert/Frohnhöfer (Hg.), Soziale Gedächtnisse, S. 183–205. Dieser hier entlang sich verändernder Rahmenbedingungen beschriebene Erinnerungs- und zugleich Lernprozess lässt sich an das Konzept des Geschichtsbewusstseins anknüpfen, das jedoch in vorliegender Arbeit nicht weiter ausgeführt wird. Zur Diskussion der Kategorie Geschichtsbewusstsein in der Geschichtsdidaktik vgl. Bodo von Borries, Geschichtsbewusstsein als System von Gleichgewichten und Transformationen. In: Jörn Rüsen (Hg.), Geschichtsbewußtsein. Psychologische Grundlagen, Entwicklungskonzepte, empirische Befunde, Köln 2001, S. 239–280.
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Verstetigung des DIZ und Generationswechsel in der Kommunalpolitik
Hermann Bröring (CDU), Oberkreisdirektor des Landkreises Emsland, hielt 1997 beim internationalen Moorsoldatentreffen auf dem Friedhof BockhorstEsterwegen eine Rede, die als programmatisch für den erinnerungskulturellen Wandel auf regionaler Ebene gelten kann. Er nahm darin all diejenigen in die Verantwortung, die sich nicht »gegen die Einrichtung von Konzentrationslagern in der Region« stellten und zuließen, »dass SS-Wachmannschaften unvorstellbaren Terror ausgeübt haben«. Das Emsland wolle daher »dieser Verantwortung gerecht werden, weil wir die Geschichte der Emslandlager inzwischen auch als unsere eigene Geschichte begreifen«.157 Abschließend dankte Bröring dem DIZ dafür, »dass es beharrlich daran festhält, den grauenvollen Teil der deutschen und schließlich emsländischen Geschichte wachzuhalten«.158 Wie ist dieser sich in der Rede zeigende Einstellungswandel zu erklären, in der Bröring historische Handlungsspielräume aufzeigte, explizit die regionale Mitverantwortung benannte, die Emslandlager als Teil der Regionalgeschichte bezeichnete und dem DIZ für seine Arbeit dankte? Die Arbeit des selbstverwalteten, von einem Verein getragenen DIZ, das im Jahr 1985 einen festen Ort für seine Bildungs- und Forschungsarbeit in Papenburg erhalten hatte, verstetigte sich seit der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre.159 In dieser Zeit veränderte sich auch die personelle Zusammensetzung. Suhr verließ das Emsland, der studierte Geschichtslehrer Buck wurde Leiter des DIZ, und mit Knoch (*1969) trat im Jahr 1986 dem Aktionskomitee ein Mitglied bei, das die wissenschaftliche Ausrichtung des DIZ in den folgenden Jahrzehnten sehr stark prägen sollte. Seit dem Jahr 1989 gab das DIZ eine eigene Schriftenreihe im Bremer Verlag »Edition Temmen« heraus. Darin wurden neue Themen wie Desertion und Täterschaft behandelt, die den erweiterten Kenntnisstand zu den Emslandlagern wiedergaben.160 Wenngleich die Beschäftigungsverhältnisse prekär waren und ausschließlich auf durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen geschaffenen Stellen basierten, konnte das DIZ sich in den 1980er-Jahren als Ansprechpartner für Schulen in Nie157 Oberkreisdirektor des Landkreises Emsland Hermann Bröring auf dem internationalen Häftlingstreffen 1997 vom 8.5.1997 (NLA OL, Erw 84, 2008/011 Nr. 103, unpag.). 158 Ebd. 159 Wie das DIZ organisiert war, zeigt beispielhaft ein Symposium, das im Mai 1985 stattfand und auf dem verschiedene Gruppen – Aktivisten, Historikerinnen und Historiker sowie ehemalige Gefangene – zusammentrafen, um über die Gestaltung der Bildungsarbeit an einem Ort zu diskutieren, dessen Historizität in keinem direkten Zusammenhang mit der Lagergeschichte steht. Vgl. Dokumentations- u. Informationszentrum Emslandlager e. V. (Hg.), Die Emslandlager in Vergangenheit und Gegenwart: Ergebnisse und Materialien des internationalen Symposiums, Papenburg 1986. 160 Dokumentations- und Informationszentrum Emslandlager (Hg.), DIZ-Schriften, Bremen 1989–2005 (insgesamt 11 Publikationen).
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dersachsen und Nordrhein-Westfalen etablieren.161 Darüber hinaus wirkte sich für das DIZ die auf Landesebene unter rot-grüner Regierung beschlossene finanzielle Förderung einer dezentralen Gedenkstättenkultur positiv aus, denn der niedersächsische Landtag hatte damit einstimmig über die Förderung des DIZ entschieden.162 Im Jahr 1991 wurde dem DIZ ein neues Gebäude in Aussicht gestellt, zwei Jahre später erfolgte der aus Mitteln des Landes, des Landkreises und der Stadt Papenburg finanzierte Bezug des Neubaus. Der laufende Betrieb des DIZ wurde seit dem Jahr 1994 durch eine Mischfinanzierung aus Landes- und Landkreismitteln abgesichert. Die mit Buck besetzte Leitungsstelle des DIZ wurde aus Landesmitteln finanziert, der Landkreis Emsland übernahm die Finanzierung der Sekretariatsstelle.163 Neben den veränderten politischen Rahmenbedingungen trug zur stärkeren Unterstützung der Arbeit des DIZ in den 1990er-Jahren ebenso der Generationswechsel auf kommunaler Ebene bei. Der im Jahr 1945 geborene Bröring war seit 1991 Oberkreisdirektor und wurde zehn Jahre später zum hauptamtlichen Landrat gewählt. Bröring war in der Gemeinde Rhede aufgewachsen, also unweit des Ortsteils Brual, in dem sich zwischen 1934 und 1945 ein Strafgefangenenlager befunden hatte. Nachfragen zum Lager Brual-Rhede wurden Bröring zufolge innerfamiliär damit abgewehrt, dass hier Kriminelle inhaftiert gewesen seien. Erst ein Geschichtslehrer sprach mit ihm und seinen Mitschülern in den 1960er-Jahren über die Emslandlager und klärte über deren vielfältige Funktionen auf. Auch der CDU-Politiker Bröring hatte das Aufbrechen kollektiver Schweigegebote in den 1960er-Jahren als einschneidend erlebt, nur verarbeitete er diese Erfahrung, anders als andere Angehörige seiner Alterskohorte, nicht durch Rebellion. Früh trat er der CDU bei, studierte Theologie und Volkswirtschaftslehre und kehrte nach einer Anstellung als persönlicher Referent beim Kulturminister Werner Remmers im Jahr 1979 ins Emsland zurück und machte Karriere in der Kommunalpolitik.164 In seiner Funktion als Oberkreisdirektor und später als Landrat strebte Bröring eine umfassende Modernisierung des Landkreises an. Dazu zählte vor allem die Verbesserung der Infrastruktur, insbesondere durch den Ausbau der Auto-
161 Dazu gibt es einen ausführlichen Bericht zweier Lehrer über eine Projektwoche im Emsland. Dieses Projekt wurde mit Schülern der »Elsa-Brandström-Realschule« in Rheine im Jahr 1989 durchgeführt. Vgl. Dieter Dankerl/Alfred Weese, Auf der Suche nach den Spuren der Moorsoldaten. In: Annegret Ehmann/Wolf Kaiser/Thomas Lutz/Hanns-Fred Rathenow/Cornelia von Stein/Norbert H. Weber (Hg.), Praxis der Gedenkstättenpädagogik. Erfahrungen und Perspektiven, Opladen 1995, S. 124–132. 162 Ehresmann, Die Entwicklung der Gedenk- und Geschichtsinitiativen, S. 25. 163 Aktionskomitee für ein DIZ e. V., Das Dokumentations- und Informationszentrum Emsland lager, Papenburg 1993. 164 Hermann Bröring im Gespräch mit A. Düben, am 16.10.2017.
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bahn (A 31).165 Ebenso nahm Bröring den Wandel des Gedenkstättenwesens in Niedersachsen wahr und erkannte, dass im Rahmen einer dezentral ausgerichteten Erinnerungskultur das DIZ stetig an Bedeutung gewonnen hatte und im Laufe seines Bestehens zu einem festen Ansprechpartner für Schulen in Nordwestdeutschland geworden war. Das DIZ hatte in Niedersachsen eine Vorreiterrolle eingenommen und war für sein Engagement im Bereich der regionalen Gedenkstättenarbeit mehrfach ausgezeichnet worden.166 Bröring erkannte in der regionalen Gedenkstättenarbeit ihr innovatives Potenzial, das der Region ein besonderes kulturelles Profil geben konnte. Hatten der Landkreis Emsland und das DIZ in den 1980er-Jahren noch vorwiegend nebeneinander und im Widerstreit zueinander gearbeitet, näherte sich der Landkreis Emsland im Laufe der 1990er-Jahre dagegen dem Aktionskomitee an, indem er das DIZ finanziell unterstützte und Vertreter des Landkreises an Gedenkveranstaltungen teilnahmen. Diese Annäherung, die vonseiten des Landkreises vor allem von Bröring als Vertreter einer neuen Generation unterstützt wurde, schuf eine Voraussetzung für die Anfang der 2000er-Jahre aufgenommene Planung einer Gedenkstätte Esterwegen. 2.3
Exkurs: Das Land-Art-Projekt »kunstwegen« in der Grafschaft Bentheim
Während der Landkreis Emsland sich aufgrund des Drucks einer kritischen Öffentlichkeit zunehmend zum Erbe der Emslandlager bekannte, tritt der Landkreis Grafschaft Bentheim als erinnerungskultureller Akteur kaum in Erscheinung. Ein größeres von ihm getragenes Projekt sei aber an dieser Stelle in einem Exkurs vorgestellt, um zu zeigen, dass auch in der Grafschaft ein erinnerungskultureller Wandel zu beobachten ist. Im Rahmen des Ende der 1990er-Jahre ins Leben gerufenen, grenzübergreifenden Land-Art-Projekts »kunstwegen« wurden die ehemaligen Lagerstandorte Bathorn und Alexisdorf künstlerisch ausgestaltet und markiert, wobei sich die Klanginstallation »Koordinaten« von Franka Hörnschemeyer aus dem Jahr 2011 in unmittelbarer Nähe der Kriegsgräberstätte Großringe/Neugnadenfeld (Lager Alexisdorf) befindet.167 Die Arbeiten sind Teil eines deutsch-niederländischen Projektes, das sich als »offenes Museum« durch das Vechtetal versteht und von Bund, Land und Land-
165 Webseite von Hermann Bröring, Selbstauskunft/Vita (http://www.hermann-broering.de/vita; 15.5.2020). 166 So wurde dem DIZ 1994 der Kulturpreis der »Kulturpolitischen Gesellschaft« verliehen. Vgl. Andrea Kaltofen/Kurt Buck, Die Gedenkstätte Esterwegen. In: GedenkstättenRundbrief, (2013) 172, S. 29–41, hier 31. 167 Vgl. o. V., Neugnadenfeld. In: Martin Köttering/Roland Nachtigäller/Dirck Möllmann (Hg.), kunstwegen. Raumsichten: Kunst und Planung im deutsch-niederländischen Vechtetal, Nordhorn 2012, S. 188–195.
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kreis Grafschaft Bentheim finanziert wurde. Das Projekt »kunstwegen« wurde im Jahr 2000 eröffnet und in den folgenden Jahren erweitert. Im Jahr 2012 zählten über 72 Installationen hierzu, die sowohl mit dem Fahrrad als auch zu Fuß zu erschließen sind.168 Das Projekt kann insofern als transnational begriffen werden, als sich hier Positionen entlang eines Kunstpfades zwischen Nordhorn und Zwolle erstrecken, also über die deutsch-niederländische Grenzregion hinweg. Diese Kunst im öffentlichen Raum soll dabei laut den Landräten der beiden Kreise bzw. Provinzen, dem Landkreis Grafschaft Bentheim und der Provinz Overijssel, die enge historische Verbundenheit der Kulturlandschaft verdeutlichen und Grenzen überwinden.169 Peter Fischli und David Weiss, ein Schweizer Künstlerduo, das bis zu Weiss’ Tod im Jahr 2012 aktiv war, haben im Jahr 1999 einen Rundweg (»Ein Weg durch das Moor«) realisiert.170 Dabei wurde ein »schmaler, einfacher Holzbohlenweg knapp über dem federnden Torfboden auf Pfählen verlegt«.171 Dieser in historischer Bauweise eines Moorstegs errichtete Holzbohlenweg beginnt im nur unweit vom ehemaligen Straf- und Kriegsgefangenenlager Bathorn gelegenen alten Moorgebiet und schlängelt sich über 1,2 Kilometer sowohl durch die renaturierte Kulturlandschaft, die in der Vergangenheit von Strafgefangenen und Kriegsgefangenen erschlossen worden war, als auch durch die noch aktuell industriell genutzte Torfabbaufläche. Der Pfad bewegt sich damit im Spannungsfeld zwischen »Geschichte und Gegenwart« und soll das »Moor zum stillen Begegnungsort der eigenen widersprüchlichen Emotionen« machen, so die offizielle Beschreibung der Installation.172 Hörnschemeyers »Koordinaten« von 2011 ist ein Gitterwerk, das aus Schal elementen besteht und mit neun »akustischen Einbauten« versehen ist.173 Beim Betreten der Installation, die unweit des Friedhofs Alexisdorf im Wald liegt, werden Stimmen von Bewohnerinnen und Bewohnern verschiedenen Alters des Dorfes Neugnadenfeld hörbar, die über ihre Erinnerungen und ihr Verhältnis zu diesem Ort berichten. Die Installation verbindet damit verschiedene Zeitschichten: Durch die geografische Nähe zum Friedhof verweist sie auf das Kriegsgefangenenlager Alexisdorf, das seit 1941 als Sterbelager für stark geschwächte oder verwundete sowjetische Kriegsgefangene diente. Die Stimmen der Anwohnerinnen 168 Vgl. Martin Köttering/Roland Nachtigäller/Dirck Möllmann, Zur Einführung. In: ebd., S. 4–6, hier 4. 169 Vgl. Friedrich Kethorn/Jan Kristen, Vorwort. In: Roland Nachtigäller (Hg.), Kunstwegen. Der Vechte folgen, Nordhorn 2005, S. 3 f. 170 Fischli und Weiss wurden mit ihrem Film »Der Lauf der Dinge«, mit dem sie auf der documenta 8 im Jahr 1987 vertreten waren, bekannt, Vgl. o. V., Bathorn. In: Köttering/Nachtigäller/Möllmann (Hg.), kunstwegen, S. 159. 171 Ebd., S. 154. 172 Ebd., S. 158. 173 O. V., Neugnadenfeld. In: ebd., S. 188.
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und Anwohner knüpfen wiederum an die Nachnutzung des Barackenlagers an. So siedelten sich hier nach Kriegsende Mitglieder der Herrnhuter Brüdergemeinde an, die seit 1944 aus Mittel- und Osteuropa vertrieben worden waren.174 Sowohl das Projekt von Fischli und Weiss als auch das von Hörnschemeyer zeichnen sich durch einen subjektiven Zugang zur Geschichte der Lager sowie einen partizipativen Ansatz aus. Aufgrund der künstlerischen Zugangsweise wird hier keine dezidierte Lesart vorgegeben, sondern es soll zur Reflexion der durch Zwangsarbeit kultivierten Landschaft sowie des mehrschichtigen und komplexen sozialen Raums angeregt werden. Einem ähnlichen Ansatz folgt die Gedenkstätte Esterwegen, die nicht nur eine Dauerausstellung umfasst, sondern auch das historische Lagerareal mittels eines Stegs, der ins Moor reicht, mit der sie umgebenden und durch Zwangsarbeit kultivierten Landschaft sichtbar verflechtet. 2.4
Gedenkstätte Esterwegen
Am 31. Oktober 2011 wurde nach über zehnjähriger Planung auf dem ehemaligen Lagergelände Esterwegen eine maßgeblich vom Landkreis Emsland getragene Gedenkstätte eröffnet. Sie institutionalisierte das in Brörings Rede aus dem Jahr 1997 formulierte Bekenntnis zur historischen Verantwortung der Region. Dieser »europäische Gedenkort, der an alle 15 Emslandlager und ihre Opfer erinnert«, setzt laut offiziellem Selbstverständnis »ein Zeichen gegen Diktatur, Gewaltpolitik und Terror, gegen Nationalismus und Rassismus« und »fordert auf zum Engagement für Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie«.175 Kromschröder kommentierte die 5,64 Millionen Euro teure Gedenkstätte Esterwegen in der »taz« mit den Worten: »Da sind ja Millionen reingeflossen nach dem Motto: Wir haben jetzt auch Erinnerungskultur – auf Weltniveau!« Er brachte damit seine Kritik am Landkreis zum Ausdruck, der noch in den 1980er-Jahren eine arbeitende, mit Personal ausgestattete Gedenkstätte, wie vom Aktionskomitee gefordert, abgelehnt hatte.176 Das Ende des Kalten Krieges, infolgedessen sich die Erinnerungskultur und insbesondere die Gedenkstättenlandschaft bundesweit wandelte, schuf im Emsland erst die Voraussetzung zum Aufbau einer Gedenkstätte am historischen Ort. Da die Bundeswehr seit den 1990er-Jahren sukzessive Teile ihrer Liegenschaften abtrat, stellte sie im Juni 2000 den südlichen Teil des histori-
174 Vgl. ebd., S. 188–195. 175 Selbstverständnis der Stiftung Gedenkstätte Esterwegen (http://www.gedenkstaette-esterwegen. de/gedenkstaette/; 15.5.2020). 176 Zit. nach Frank Keil, »Neue NS-Gedenkstätte im Emsland. Später Sinneswandel«. In: taz vom 30.10.2011.
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schen Lagergeländes Esterwegen zur Disposition.177 Vonseiten der Samtgemeinde Nordhümmling178 bestand zunächst die Überlegung, das Gelände als Gewerbegebiet zu nutzen. Bröring, seit 2001 Landrat des Landkreises Emsland, sprach sich jedoch gegen einen gewerblichen Nutzungsplan und für den Aufbau einer Gedenkstätte aus.179 Mit seinen vom Kreistag bald unterstützten Plänen wurde symbolisch die Nachkriegsgeschichte von Esterwegen geschlossen. Waren hier ab Sommer 1945 »mutmaßliche Kriegsverbrecher« und Spruchkammerverurteilte interniert, diente das Lager zwischen 1953 und 1959 als Unterkunft für Flüchtlinge aus der DDR. Im Jahr 1964 schließlich hatte die Bundeswehr das Gelände übernommen und hier ein Depot eingerichtet. In einer letzten Eskalationsphase des Kalten Krieges wurde das Areal infolge des Regierungswechsels auf Bundesebene nicht, wie zunächst dem Aktionskomitee seitens des sozialdemokratischen Verteidigungsministers Apel zugesichert, als Gedenkstättengelände freigegeben, sondern die Zusage durch den neuen Verteidigungsminister Wörner zurückgenommen. Erst die Abrüstung infolge des Endes des Kalten Krieges, bei der das Bundeswehrdepot auf dem historischen Lagerareal in Esterwegen aufgelöst wurde, eröffnete den Raum zur konkreten Planung einer Gedenkstätte. Als also bekannt wurde, dass die Bundeswehr das Gelände verkaufen wird, meldete die Kreisverwaltung ihr Interesse an.180 Unter der Bedingung, eine Gedenkstätte aufzubauen, übertrug das Bundesverteidigungsministerium dem Landkreis Emsland im November 2001 das Gelände für eine symbolische D-Mark.181 Mit der Übertragung des Geländes in kommunalen Besitz begann die Planung der Finanzierung und Trägerschaft einer Gedenkstätte. Knoch, seit Mai 2001 erster Vorsitzender des Aktionskomitees für ein DIZ e. V. trat dafür ein, den Verein als Träger der zukünftigen Gedenkstätte einzusetzen.182 Diese Forderung versuchte er vor dem Hintergrund des jahrzehntelangen Kampfes für eine Gedenkstätte am historischen Ort geltend zu machen.183 Bröring hingegen trat für eine
177 Vgl. Andrea Kaltofen/Hermann Bröring, Die Gedenkstätte Esterwegen. In: Emsland-Jahrbuch, 59 (2013), S. 31–48, hier 34 f. 178 Der Verwaltungssitz der Samtgemeinde ist in Esterwegen. 179 Hermann Bröring im Gespräch mit A. Düben am 16.10.2017. 180 Wenngleich noch keine konkreten Pläne hinsichtlich der zukünftigen Finanzierung und Gestaltung der Gedenkstätte bestanden, signalisierte der Kreisausschuss während einer Sitzung im August 2000 seine Zustimmung. Vgl. Landkreis Emsland, Sitzungsvorlage für den Kreisausschuss Meppen, o. D. (August 2000) (Landkreis Emsland, Sitzungsvorlagen), S. 1–3. 181 Vgl. Kaltofen/Bröring, Die Gedenkstätte Esterwegen, S. 35 f.; o. V., Pläne für KZ-Gedenkstätte Esterwegen stehen bereits. Bröring: Nicht Beratungen in Kreisgremien vorgreifen. In: Meppener Tageszeitung vom 8.11.2000; Landrat Landkreis Emsland, 1. Sitzungsvorlage für den Ausschuss für Kultur und Tourismus, o. D. (Februar 2002) (Landkreis Emsland, Sitzungsvorlagen), S. 1. 182 Hermann Bröring im Gespräch mit A. Düben, am 16.10.2017. 183 Angesichts steigender Mitgliederzahlen des Aktionskomitees wurde seit Ende der 1990er-Jahre im Rahmen des bundesweiten Institutionalisierungsprozesses des Gedenkstättenwesens v erstärkt
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eng an den Landkreis gebundene Gedenkstätte ein. Seit Mitte der 2000er-Jahre erörterte er mit den Fachwissenschaftlern Faulenbach, Peter Fischer und Wilfried Wiedemann die Einrichtung einer Stiftung Gedenkstätte Esterwegen. Außerdem rief der Landrat eine Arbeitsgruppe zur Planung erster Konzeptentwürfe ins Leben, der neben Vertretern der Kreisverwaltung und der Bezirksregierung Weser-Ems, des niedersächsischen Landesarchivs, des Bundesvermögensamtes und der Gemeinde Esterwegen auch das DIZ angehörte.184 Da dem Landkreis das Gelände vom Bundesverteidigungsministerium übertragen worden war, ist anzunehmen, dass allen an der Planung Beteiligten früh klar war, dass der Landkreis eine maßgebliche Rolle bei der Errichtung der Gedenkstätte einnehmen wird. Es galt daher seitens des DIZ auszuhandeln, welche Rolle es in der zukünftigen Gedenkstättenarbeit einnehmen wolle. Vonseiten des Landkreises bzw. des zuständigen Ausschusses für Kultur und Tourismus wurde im März 2004 die »Aufnahme ergebnisoffener Gespräche mit dem DIZ über Kooperationsmöglichkeiten« beschlossen.185 Nach langwierigen Gesprächen – sowohl im Kreistag also auch innerhalb des DIZ – stimmte der Kreistag im September 2007 schließlich über einen Nutzungs- und Kooperationsvertrag mit dem DIZ ab, der den Einzug des DIZ samt seinem Archiv, seiner Bibliothek sowie seinem Personal in die neue Gedenkstätte vorsah und ihm die künftige Bildungsarbeit übertrug.186 Mit dieser Entscheidung wurde 2011 der Sitz des DIZ in Papenburg geschlossen, die Vereins- sowie die Personalstruktur blieben jedoch erhalten: Buck fungierte weiterhin als Leiter und Geschäftsführer, Sabine Mithöfer und Fietje Ausländer wurden als pädagogisch-wissenschaftliche Mitarbeiterin bzw. Mitarbeiter eingestellt. Diese drei Stellen werden über Landesmittel finanziert, während der Landkreis die Stelle für die Besucherbetreuung, eine Verwaltungsstelle und die Stelle eines wissenschaftlichen Mitarbeiters trägt.
über die Zukunft des DIZ diskutiert. So fand aus Anlass des 20-jährigen Bestehens des Aktionskomitees am 6.5.2001 im Rathaus Papenburg eine Festveranstaltung statt, auf der u. a. Wolfgang Benz über »Gedenkstätten an historischen Orten und die Zukunft der Erinnerung« referierte. Vgl. Vorstand des Aktionskomitees für ein DIZ e.V. Werner Boldt (1. Vorsitzender) und Habbo Knoch (2. Vorsitzender), Einladung zur Festveranstaltung zum 20jährigen Bestehen des Aktionskomitees am 6.5.2001 (VVN-Archiv Niedersachsen, S006/0013, unpag.). 184 Vgl. Landrat Landkreis Emsland, 1. Sitzungsvorlage für den Ausschuss für Kultur und Tourismus, o. D. (Februar 2002) (Landkreis Emsland, Sitzungsvorlagen), S. 2. 185 Landrat Landkreis Emsland, Sitzungsvorlage für den Ausschuss für Kultur und Tourismus vom 2.5.2005 (Landkreis Emsland, Sitzungsvorlagen), S. 1. 186 Vgl. Landrat Landkreis Emsland, Auszug aus der Niederschrift der Sitzung des Kreistages vom 24.9.2007 (Landkreis Emsland, Sitzungsprotokolle), S. 4. Als Mitglieder des Stiftungsvorstandes wurden ernannt: Heinrich Thomes (CDU), Heiner Reinert (CDU), Heinz Schwarte (SPD), Vorstandsvorsitzender ist der Landrat des Kreises Emsland. Als Mitglieder des ersten Stiftungsrates wurden bestimmt: Margret Berentzen (CDU), Wilhelm Brundiers (CDU), Dorothea Schmidt (SPD).
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Für die zu errichtende Stiftung Gedenkstätte Esterwegen, deren Stiftungszweck »Aufbau, Fortentwicklung und Betrieb der Gedenkstätte in wissenschaftlicher, pädagogischer und kulturtouristischer Hinsicht ist«, brachte der Landkreis Emsland als Stiftungskapital die Grundstücke ein, auf denen die Gedenkstätte errichtet werden sollte.187 Darüber hinaus verpflichtete er sich, die notwendigen Betriebskosten, das heißt Personal- und Sachkosten, »dauerhaft zu gewährleisten«.188 Laut Bröring sollte diese Struktur einen schlanken und Personalkosten senkenden Verwaltungsapparat schaffen, der ihm zufolge nur mit der personellen und strukturellen Anbindung an den Landkreis gewährleistet werden konnte.189 Außerdem wurde mit der Verpflichtung des Landkreises zur dauerhaften Finanzierung der Gedenkstätte die wohl wichtigste Voraussetzung für die einmalige Beantragung für Bundesgelder zum Gedenkstättenaufbau erfüllt. Diese Struktur wurde mit einem Kreistagsbeschluss vom 24. September 2007 einstimmig bestätigt.190 Bereits einen Monat später reichte die Stiftung Gedenkstätte Esterwegen einen Antrag zur Förderung der Gedenkstättenerrichtung bei der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten und beim Bundesbeauftragten für Kultur und Medien ein. Die Finanzierung der Gesamtkosten des Gedenkstättenaufbaus in Höhe von 5,64 Millionen Euro wurde durch die Bundesförderung in Höhe von 2,549 Millionen Euro und die Landesförderung in Höhe von einer Million Euro sowie weiterer Stiftungen möglich.191 Die staatliche Anerkennung der kommunal angebundenen Stiftung, deren Gremien sich aus einem ehrenamtlich arbeitenden Stiftungsvorstand und einem Stiftungsrat zusammensetzen, erfolgte am 15. Juli 2008 durch das niedersächsische Ministerium für Inneres, Sport und Integration.192 Organisiert ist die Stiftung seitdem durch einen vierköpfigen Vorstand, der aus Kreistagsmitgliedern besteht und dessen Vorsitzender der aktuelle Landrat des Landkreises Emsland ist.193 Der Stiftungsvorstand wird von einem Stiftungsrat, der sich aus 15 Personen zusammensetzt, beratend unterstützt. Zu den Stiftungsratsmitgliedern zählen laut Satzung: der Geschäftsführer der Stiftung nie-
187 Landrat Landkreis Emsland, Auszug aus der Niederschrift der Sitzung des Kreistages vom 24.9.2007 (Landkreis Emsland, Sitzungsprotokolle), S. 2. 188 Ebd. 189 Hermann Bröring im Gespräch mit A. Düben, am 16.10.2017. 190 Landrat Landkreis Emsland, Auszug aus der Niederschrift der Sitzung des Kreistages vom 24.9.2007 (Landkreis Emsland, Sitzungsprotokolle), S. 4. 191 Vgl. Niederschrift der konstituierenden Sitzung des Stiftungsrates der Stiftung Gedenkstätte Esterwegen vom 16.12.2008 (Stiftung Gedenkstätte Esterwegen, Stiftungsrat), S. 4. 192 Vgl. Stiftungsurkunde zur Stiftung Gedenkstätte Esterwegen vom 24.9.2007. In: Pressemappe der Gedenkstätte Esterwegen zur Eröffnung am 31.10.2011 (Stiftung Gedenkstätte Esterwegen, unpag.). 193 Zum Zeitpunkt der Gründung bestand der Vorstand aus: Hermann Bröring, Vorsitzender und Landrat; Heiner Reinert, stellvertretender Vorsitzender und Kreistagsabgeordneter; Heinz Thomes, Kreistagsabgeordneter und Heinz Schwarte, SPD-Delegierter.
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dersächsische Gedenkstätten, ein Vertreter des DIZ Emslandlager e. V. sowie des Niedersächsischen Kultusministeriums, des Zentralrats der Juden in Deutschland, der katholischen und der evangelischen Kirche. Darüber hinaus sind drei Mitglieder des emsländischen Kreistages sowie drei Mitglieder aus dem Hochschul- und Gedenkstättenbereich vertreten. Auf der konstituierenden Sitzung des Stiftungsvorstands am 27. August 2008 wurde außerdem die Archäologin und Kulturamtsleiterin im Landkreis Andrea Kaltofen zur Geschäftsführerin der Stiftung Esterwegen ernannt.194 Im Hinblick auf die Organisation der Gedenkstätte ist festzuhalten, dass sie zwar formal von der Stiftung Gedenkstätte Esterwegen getragen wird, diese jedoch eng mit dem Landkreis verflochten ist, denn sowohl der Stiftungsvorstand als auch die Geschäftsführung werden vom Landkreis besetzt. Die personelle Zusammensetzung orientierte sich dadurch notwendig an politischen Mehrheitsverhältnissen. Die heutige Gedenkstätte besteht sowohl aus einem Besucherzentrum, das in den ehemaligen Lagerhallen des Bundeswehrdepots untergebracht ist, als auch aus einem Außengelände, das sich über das 84 300 Quadratmeter große ehemalige Lagerareal erstreckt. Dessen Topografie ist durch Schotter, abstrahierte Stahl elemente sowie partielle Bepflanzung sichtbar gemacht. Ähnlich wie es Detlef Hoffmann in seinem Planungsentwurf für ein DIZ im Jahr 1985 skizziert hatte, wurde im neuen Gedenkstättenentwurf das Prinzip der Spur konsequent umgesetzt. Dieser Gestaltungsansatz blieb jedoch zu Anfang nicht unwidersprochen. Als im Jahr 2000 die Bundeswehr den südlichen Teil des historischen Lagergeländes zur Errichtung einer Gedenkstätte freigab – sechs Jahre später wurde auch der nördliche Teil geräumt –, waren Stimmen aus der Lokalbevölkerung sowie dem Kreistag laut geworden, die eine auf Rekonstruktion basierende Gedenkstättengestaltung forderten. Gegen den Wiederaufbau bzw. die Nachbildung von Baracken intervenierte Knoch, der seit März 2004 in dem den Gedenkstättenaufbau begleitenden Beirat vertreten war, nach langen Diskussionen letztlich erfolgreich.195 Als ein Entgegenkommen an die mehrheitlich katholische Bevölkerung des Emslandes zu interpretieren ist die Errichtung eines Klosters auf dem ehemaligen Lagergelände. Seit dem Jahr 2007 sind hier drei Schwestern des Konventes der Mauritzer Franziskanerinnen für die Seelsorge der Gedenkstättenbesucherinnen und -besucher zuständig.196 194 O. V., Stiftung Gedenkstätte Esterwegen – Organisation und Finanzierung. In: Pressemappe der Gedenkstätte Esterwegen zur Eröffnung am 31.10.2011 (Stiftung Gedenkstätte Esterwegen, unpag.). 195 Vgl. Aktionskomitee für ein DIZ e. V., Kassenbericht 2001 (VVN-Archiv Niedersachsen, S006/0013, unpag.); Kurt Buck, Die Bedeutung des »Authentischen« in der Bildungsarbeit des DIZ Emslandlager. In: GedenkstättenRundbrief, (2001) 100, S. 19–24. 196 Webseite des Klosters Esterwegen, das sein Mutterhaus in Münster hat (http://www.klosteresterwegen.de; 15.5.2020).
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Tabelle 4: Mitglieder des Stiftungsrates bei der konstituierenden Sitzung am 16.12.2008 Stiftungsrat der Stiftung Gedenkstätte Esterwegen (Stand Dezember 2008) Bernd Faulenbach
Ruhr-Universität Bochum
Bernd Walter
Westf. Wilhelms-Universität Münster
Peter Fischer
Zentralrat der Juden Deutschlands
Habbo Knoch
Stiftung niedersächsische Gedenkstätten
Sabine Mithöfer
DIZ Papenburg
Albrecht Pohle
Ministerialrat a. D. nieders. Kultusministerium
Wilhelm Brundiers
Kreistag Landkreis Emsland (CDU)
Dorothea Schmidt
Kreistag Landkreis Emsland (SPD)
Margret Berentzen
Kreistag Landkreis Emsland (CDU)
Theo Paul
Bistum Osnabrück
Detlef Klahr
Ev.-luther. Sprengel Ostfriesland-Ems
Michael Schneider
Friedrich-Ebert-Stiftung
Dietmar von Reeken
Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg
Hermann Bröring
Landrat Landkreis Emsland (CDU)
Heiner Reinert
Kreistag Landkreis Emsland (CDU)
Heinrich Thome
Kreistag Landkreis Emsland (CDU)
Heinz Schwarte
Kreistag Landkreis Emsland (SPD)
Andrea Kaltofen
Geschäftsführerin Stiftung Gedenkstätte Esterwegen
Reinhart Winter
Landkreis Emsland Erster Kreisrat (CDU)
Über ein erstes Gestaltungskonzept, das die Anfang der 2000er-Jahre unter Leitung der Archäologin Kaltofen »freigelegten historischen Relikte festschrieb«, entschieden die Kreisgremien im Mai 2005.197 Für die Gestaltung erhielt das international arbeitende Landschaftsarchitekturbüro WES & Partner den Zuschlag, dessen Planung im Jahr 2009 realisiert wurde. Orientiert ist das Konzept am ar197 Kaltofen/Buck, Die Gedenkstätte Esterwegen, S. 32. Auf Basis dieses Konzeptes fand im Sommer 2005 ein internationaler Workshop von Forschenden der Landschaftsarchitektur der Universitäten Hannover, Haifa und Clemson unter Federführung von Joachim Wolschke-Bulmahn und Andrea Kaltofen statt.
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Spurensuche und -bewahrung
chäologischen Vorgehen der Freilegung von materiellen Spuren, die als Gedächtnisspuren gedeutet werden. So steht die »Übersetzung der wichtigsten Elemente der Lagertopografie, die Inbegriff von Gewalt und Terror sind, der Mauer, der Wachtürme, der Tore, in zweidimensionale gefaltete Stahlwände« im Mittelpunkt. Insgesamt acht Stahlelemente wurden verwendet, um die Außenmauer und Wachtürme sowie das Innentor als Zugang zum Gefangenenbereich zu markieren. Darüber hinaus ist laut Konzept das »Prinzip Abdruck« ein Leitmotiv der Gestaltung, indem die Grundrisse des Häftlingslagergeländes unberührt blieben, während die nach 1945 durch Nachnutzung entstandenen Veränderungen des Geländes mit Schotter überdeckt wurden.198 Parallel zur Planung des Gedenkstättenaußengeländes wurde eine Fachkommission zur Planung der Dauerausstellung eingesetzt, der Bernd Faulenbach, Peter Fischer, Alfons Kenkmann, Bernd Walter, Inge Marszolek, Günter Morsch und Wilfried Wiedemann angehörten.199 Ebenso war an der Ausstellungsplanung das DIZ beiteiligt, das Objekte, Fotos und Zeitdokumente aus seiner Sammlung einbrachte. Die Ausstellungskonzeption, die an dieser Stelle nur überblicksartig erwähnt werden soll, kann als Zusammenführung der Zugänge von Kosthorst, Suhr und Hoffmann verstanden werden, denn sie sah vor, »die Geschichte der Emslandlager – soweit nötig – in die Gesamtgeschichte, insbesondere in die des nationalsozialistischen Verfolgungssystems«, einzuordnen und dabei regionale Bezüge herzustellen. Schwerpunktsetzend war laut Konzept »die Ausdifferenzierung der Lager bzw. die Adaptionsfähigkeit des Lagersystems, die damit verbundene Ausweitung der Häftlingsgruppen sowie die Bedeutung der Zwangsarbeit in der besonderen Ausprägung der Moorkultivierung und die Zuständigkeiten und Gewaltpraktiken der Täter«.200 Die chronologische Präsentation der Geschichte der Emslandlager zwischen 1933 und 1945 integriert demnach die Makro-, Mesound Mikroebene. Darüber hinaus ist in einem Nebenraum eine kleine Ausstellung über die Nachgeschichte der Emslandlager zu sehen, für die sich, gegen die Bedenken des Landkreises, die Fachkommission eingesetzt hatte.201 Am 31. Oktober 2011 fand die feierliche Eröffnung der Gedenkstätte Esterwegen statt. An ihr nahmen 650 Gäste teil, unter ihnen der niedersächsische Ministerpräsident David McAllister (CDU). In seiner Rede nahm er zwar Bezug auf die
198 O. V., Die Gedenkstätte Esterwegen – das Gestaltungskonzept. In: Pressemappe der Gedenkstätte Esterwegen zur Eröffnung am 31.10.2011 (Stiftung Gedenkstätte Esterwegen, unpag.). 199 Weitere Mitglieder waren: Hermann Bröring, Albrecht Pohle, Heiner Reinert, Heinz Schwarte, Heinz Thomes. Vgl. Mitglieder der Ausstellungsfachkommission der Stiftung Gedenkstätte Esterwegen, Konzept der Stiftung Gedenkstätte Esterwegen. In: Pressemappe der Gedenkstätte Esterwegen zur Eröffnung am 31.10.2011 (Stiftung Gedenkstätte Esterwegen, unpag.). 200 Konzept der Stiftung Gedenkstätte Esterwegen. In: ebd. 201 Hermann Bröring im Gespräch mit A. Düben, am 16.10.2017.
Institutionalisierung
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Abb. 5: Außengelände Gedenkstätte Esterwegen, Spur des Innentors des Strafgefangenenlagers (1937–1945); Quelle: Ann Katrin Düben, 2014.
seit über 20 Jahren im Emsland geleistete Erinnerungsarbeit, dankte namentlich jedoch nur Landrat Bröring, der die Stiftung Gedenkstätte Esterwegen in den 2000er-Jahren auf den Weg gebracht hatte.202 Seit den 1950er-Jahren hatten die ehemaligen politischen Gefangenen der Emslandlager für einen zentralen Gedenk- und Versammlungsort gekämpft; in den 1960er-Jahren brachen die jungen Journalisten Kromschröder und Vinke Schweigegebote und begannen, die Geschichte der Emslandlager einer breiteren Öffentlichkeit zu vermitteln; die Gedenkstättenbewegung schließlich hatte seit den 1970er-Jahren die wenigen baulichen Überreste der Lager gesichert und sichtbar gemacht. Diese Entwicklungsschritte in der Gedenkstättengeschichte blieben in den Reden bei der Einweihungsfeierlichkeit nahezu unbeachtet und gerade das Ausklammern der langjährigen Aushandlungsprozesse deutet darauf hin, dass die Erinnerungskultur ein weiterhin umkämpftes Feld ist. In einer Phase der Erinnerungskultur, deren Geschichte nunmehr selbst historischer Gegenstand ist, sind KZ-Gedenkstätten »Bühnen für die anerkannte, offizielle gesellschaftliche Erinnerungspraxis«.203
202 Vgl. Gedenkstätte Esterwegen. Eröffnung am 31. Oktober 2011 – Rückblick und Presseresonanz (Stiftung Gedenkstätte Esterwegen, unpag.), S. 9. 203 Matthias Pfüller, »Leuchttürme, leere Orte und Netze«. Neue Möglichkeiten der Erinnerung im Übergang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis der Gesellschaft. In: Birgit Dorner/Kerstin Engelhardt (Hg.), Arbeit an Bildern der Erinnerung. Ästhetische Praxis, außerschulische Jugendbildung und Gedenkstättenpädagogik, Stuttgart 2006, S. 27–52, hier 31.
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Spurensuche und -bewahrung
Die Bedeutung der Erhaltung der Tatorte zur Erinnerung an die NS-Gewaltgeschichte wird von den demokratischen Parteien nicht länger angezweifelt. Die finanzielle Ausstattung, insbesondere der großen bundesdeutschen Gedenkstätten durch Bundes- und Landesförderung, durch die das Gedenkstättenwesen einen Professionalisierungsschub erfahren hat, steigerte vielmehr auch auf kommunaler Ebene die Akzeptanz dieser im lokalen Gedächtnis lange Zeit aktiv abgewehrten Orte und ihrer Geschichten. Oder wie es Skriebeleit in Bezug auf Flossenbürg in der Alliteration »vom Stigma zum Standortfaktor« zuspitzt und damit das wirtschaftliche und touristische Potenzial von Gedenkstätten zum Ausdruck bringt, infolgedessen diese Orte einen Bedeutungs- und Wahrnehmungswandel erfahren.204 Diese Entwicklung der Gedenkstätten in Westdeutschland weg von Orten, die seitens der Gedenkstättenbewegung ihr politisches, radikaldemokratisches Selbstverständnis zum Ausdruck brachten, das gerade im ländlichen Raum zunächst auf Unverständnis stieß, hin zu Orten »regionalpolitischer Interessen« ist ebenso beim Aufbau der Gedenkstätte Esterwegen zu beobachten.205 In einer bis in die 1960er-Jahre strukturschwachen Region bedeutete die Errichtung der Gedenkstätte Esterwegen auch eine touristische Aufwertung. Durch Landes- und Bundesmittel unterstützt, konnte schließlich eine Gedenkstätte errichtet werden, die aufgrund der Flächengröße des Geländes, des modernen Museumsbaus und einer im Vergleich zu anderen Orten stabiler ausgestatteten Personaldecke heute zu den größeren Gedenkstätten im Bundesgebiet zählt. Öffentlich wirksam wird hier in der Ausstellung und in der Gesamtgestaltung eine mittlerweile im Gedenkstättendiskurs kanonisierte Deutung, die subjektive Erfahrungen und regionale Besonderheiten berücksichtigt und zugleich in die größeren historischen Zusammenhänge einordnet. Sie macht den Ort als Symbol, als vielfach überformten Erinnerungsort sichtbar, anstatt durch Rekonstruktion einen vermeintlich authentischen Zustand zu inszenieren. Während der Landkreis Emsland die Bedeutung der Emslandlager als Teil seiner Regionalgeschichte und die Gedenkstätte auch für sich touristisch nutzbar macht, bleibt jedoch die Deutung der Erinnerungsgeschichte insofern konflikthaft, als heute stets auch die Frage verhandelt wird, wer ihre Akteure waren.
204 Skriebeleit, Erinnerungsort Flossenbürg, S. 291. 205 Insa Eschebach, Einführung. Aufgaben von KZ-Gedenkstätten: Von Orten des Gedenkens und der Trauer über zeithistorische Museen zu Orten des Massentourismus. In: Enrico Heitzer/ Günter Morsch/Katarzyna Woniak/Robert Traba (Hg.), Von Mahnstätten über zeithistorische Museen zu Orten des Massentourismus? Gedenkstätten an Orten von NS-Verbrechen in Polen und Deutschland, Berlin 2016, S. 25–27, hier 27.
Zwischenfazit
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3. Zwischenfazit Zum Ende des Kapitels soll nochmals ein Blick zurückgeworfen werden auf die Gesamtgeschichte der Gedenkstätten im Emsland, weil dabei erinnerungskulturelle Wandlungsprozesse zu beobachten sind, die unterschiedlichen Geschwindigkeiten folgten. Bereits im Jahr 1957 forderte die »Emsland-Lagergemeinschaft« von der Bundesregierung eine Gedenkstätte auf dem ehemaligen Lager Esterwegen. Diese Idee wurde in den 1960er-Jahren von den beiden Journalisten Kromschröder und Vinke aufgegriffen, die mit ihren Recherchen und Berichten erstmals einen breiteren Diskurs über die Emslandlager und den Umgang mit dieser schwierigen Vergangenheit in der Region anregten. Vor dem Hintergrund des Streits um die Namensgebung der Universität Oldenburg nach Carl von Ossietzky wurden Studierende und Lehrende aus Oldenburg und bald auch Linke aus dem nördlichen Emsland und südlichen Ostfriesland Mitte der 1970er-Jahre aktiv. Sie gründeten 1981 einen Gedenkstättenverein, suchten die historischen Lagerorte auf, sicherten die wenigen baulichen Relikte und verorteten sie auch erstmals kartografisch. Im Kontext einer gesamtgesellschaftlichen Hinwendung zur Vergangenheit brachen auch im Emsland in den 1980er-Jahren Schweigegebote auf, wie beispielhaft an einer im Mai 1985 in Lingen stattfindenden Tagung zum Thema Kriegsende gezeigt wurde, auf der sich Zeitzeugen öffentlich zu ihren Erinnerungen bekannten. In den 1990er-Jahren näherten sich schließlich das DIZ und der Landkreis Emsland zunehmend an, und so geht die dauerhafte Finanzierung einer Sekretariatsstelle des DIZ durch den Landkreis auf diese Zeit zurück. Außerdem wurde das DIZ im Rahmen der in Niedersachsen unter rot-grüner Landesregierung geförderten dezentralen Gedenkstättenlandschaft seit 1990 finanziell aus Landesmitteln unterstützt. Bereits in den 1990er-Jahren ist daher der Beginn der Institutionalisierung der Gedenkstättenkultur zu beobachten. Die Entscheidung, auf dem ehemaligen Lagergelände Esterwegen eine Gedenkstätte zu errichten, wurde jedoch nur durch die Abrüstung als Folge des Endes des Kalten Krieges möglich. Erst durch die Auflösung des Bundeswehrdepots auf dem historischen Lagergelände Esterwegen und die Abtretung staatlichen Grundes, der an die Gemeinde überging, war überhaupt die materielle Voraussetzung für das Stiftungskapital geschaffen worden. Am Standort Esterwegen kondensiert sich die Erinnerungsgeschichte der Emslandlager, die immer begleitet und geprägt war vom Kalten Krieg. Nur in diesem weltpolitischen Kontext konnte sich der Landkreis Emsland mit dem von ihm politisch und finanziell angestoßenen Gedenkstättenprojekt zu seiner historischen Mitverantwortung bekennen und eine kostenaufwendige Gedenkstätte ins Leben rufen, zu deren Erhalt und Betrieb er sich dauerhaft verpflichtete. Mit dem Aufbau der Stiftung Gedenkstätte Esterwegen ist dabei die Gedenkstättenarbeit insofern professionalisiert worden, als das DIZ in einen modernen Gedenkstättenbau einziehen konnte,
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Spurensuche und -bewahrung
wodurch die pädagogische Arbeit einen Platz am historischen Ort erhielt, und außerdem durch die Schaffung weiterer vom Landkreis getragener wissenschaftlicher Stellen der Forschungsstand zu den Lagern stetig erweitert werden kann. Wenngleich die Vereinsstruktur und freie Trägerschaft des DIZ durch den mit dem Landkreis beschlossenen Nutzungs- und Kooperationsvertrag vorerst erhalten blieb, ist dieser Vertrag doch maßgeblich an die Vereinsmitglieder des DIZ gebunden. Wie deren Gedenkstättenarbeit weitergeführt wird, wenn die erste Generation der Gedenkstättenbewegung in Rente geht, wird sich in der Zukunft zeigen.
VII. Resümee
Zu Beginn der vorliegenden Arbeit stand die Frage, wie die Emslandlager nach 1945 öffentlich erinnert und wie diese Erinnerungen manifest und politisch wirksam wurden. Ausgehend von dieser Frage wurden drei Hypothesen formuliert. So wurde erstens Erinnerungskultur vor allem als Prozess verstanden, den eine Vielzahl von Akteuren beeinflusst und verändert hat, zweitens ist angesichts des elf Jahre bestehenden Strafgefangenenlagerverbundes das Nachwirken der Lagergeschichte in der Erinnerungskultur sowie drittens ein im Emsland verdichtet vorliegendes Spannungsverhältnis zwischen regionalen Akteuren und anderen erinnerungskulturellen Akteuren akzentuiert worden, das eine starke Gegen-Erinnerungskultur hervorbrachte. Die erinnerungskulturellen Wandlungsprozesse, die in vier Kapiteln beschrieben wurden, seien folgend zusammengefasst, um abschließend die Herausbildung der Erinnerungskultur mit Bezug auf die Emslandlager als dynamische Streitgeschichte zu beschreiben. Dabei sind die einleitend gestellten Fragen nach den vielfältigen Gedächtnis- und Vergessensgemeinschaften und ihren Akteuren, den gegenwartsbedingten und zeittypischen Strategien und dem politischen Gebrauch der Vergangenheit sowie nach den erinnerungskulturellen Konjunkturen zu beantworten. Mit der Besetzung des Emslandes und der Befreiung der Emslandlager begannen die erinnerungskulturellen Aushandlungsprozesse um die Sinnbildung der Lager und des Todes der Gefangenen. Kapitel III hat die alliierten Aufklärungsbemühungen und Sinngebungen detailliert dargestellt. Die von den Alliierten eingeführte Erinnerungskultur, die sich der Vergangenheit näherte und diese deutete, wurde in Anlehnung an Maciejewski als Interregnum aufgefasst. Denn zum einen bildeten die Alliierten, vor allem die britische Besatzungsmacht, eine Erinnerungskultur heraus, die den Versuch darstellte, die Verbrechen greifbar und verstehbar zu machen. Zum anderen wurde jedoch vom mehrheitlichen Teil der deutschen Bevölkerung diese auf die NS-Verfolgten gerichtete Erinnerungskultur nicht mitgetragen. Zwischen 1946 und 1948 wurden die ersten Verantwortlichen für die in den Lagern verübten Verbrechen und Wachleute
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Resümee
der Emslandlager angeklagt. Sie saßen nun auf der Anklagebank, während die ehemaligen Gefangenen als Zeugen auftraten. Deren Aussagen wurden über die Zeitungspresse an die regionale Öffentlichkeit getragen. Zeitgleich wurden im Emsland die Gräber verstorbener UN-Angehöriger instandgesetzt und die Toten identifiziert. Die ehemaligen Lagerfriedhöfe, auf denen mehrheitlich sowjetische Kriegsgefangene in Massengräbern beerdigt worden waren, wurden nun sichtbar durch große sowjetische Denkmäler als Ehrenfriedhöfe markiert. Im Rahmen einer Mischung aus Sühnebegräbnis und strafrechtlicher Ermittlung wurden überdies die Opfer des Endphaseverbrechens im Lager Aschendorfermoor exhumiert. Anwesende Personen aus der Lokalbevölkerung, die als politisch belastet galten, wurden mit den Leichen konfrontiert, sie mussten stundenlang um die Ausbettungsgrube laufen und wurden dabei von der britischen Ermittlungseinheit fotografiert.1 Wie beschrieben wurde, begegneten regionale Akteure – Verwaltungsstellen, Bürgermeister und Journalisten – diesen alliierten Maßnahmen mit gegenseitigen Schutzbehauptungen und gezielten Distanzierungsstrategien. So stellten sie den Opferstatus der Gefangenen der Emslandlager grundsätzlich infrage und versuchten, den brutalen Strafvollzug zu bagatellisieren. Ihren Deutungsmustern entsprach die Fortführung der Gefangenenarbeit im Moor in den Nachkriegsjustizstrafanstalten, in denen dort weitergemacht werden sollte, wo man im Frühjahr 1945 aufgehört hatte. Diese Arbeit sollte weiterhin der Strafe und Disziplinierung dienen, für eine Gefangenenfürsorge wurde kaum gesorgt. Eine weitere Abwehrstrategie zeigte sich in den Antworten der Gemeinden auf die Suchaktion der Alliierten nach Vermissten, die sich nicht an die zwölf Jahre in der Region existierenden Lager erinnern wollten und – trotz des Massentodes der sowjetischen Kriegsgefangenen, dokumentiert in den Sterberegistern – von keinen »besonderen Vorkommnissen« zu berichten wussten.2 Kapitel IV setzte am Übergang von den Besatzungs- zu den deutschen Verwaltungsstrukturen ein, in dem sich ein selbstviktimisierender Deutungsrahmen verfestigte, wobei eine von den Alliierten angelegte plurale Erinnerungskultur in der sich konsolidierenden Bundesrepublik sukzessive überformt wurde. Mentale und personelle Kontinuitäten wirkten in diesen Prozess ein und eine bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit in der Region nachweisbare Abwehr drückte sich nun im Umgang mit den Gräbern der Gefangenen der Emslandlager und den sie begleitenden Diskursen konkret aus. So wurden in dieser Zeit entlang der Bestimmungen des Kriegsgräbergesetzes die Toten
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Bräunlein, Zur Aktualität von Victor Turner, S. 38 f. Gemeinde Wietmarschen an Kreisverwaltung Nordhorn Grafschaft Bentheim vom 1.11.1949 (ITS Digital Archive, Bad Arolsen, 2.2.0.1/82394671/, Bl. 524).
Resümee
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kategorisiert: Während die Kriegsgefangenengräber laut Richtlinien dauerhaft zu erhalten waren, setzte sich der Leiter der Strafanstalten Lingen stellvertretend für die regionalen Eliten dafür ein, dass die Mehrheit der Strafgefangenen und selbst die Opfer des Endphaseverbrechens im Lager Aschendorfermoor keine offiziellen Opfer des Nationalsozialismus gewesen seien. Mit dieser Haltung konnte er sich zum Teil durchsetzen. Die Gräber auf dem Friedhof Bockhorst-Esterwegen galten nun offiziell als Strafgefangenengräber – also als Gräber von sogenannten Kriminellen – und fielen unter keinen besonderen Schutz. Über die Gräber und ihre Geschichte sollte Gras wachsen. Gerade diese Entscheidung mobilisierte jedoch ehemalige politische Gefangene der Emslandlager. Wenige Wochen nach dem Verbot der KPD gründete sich im September 1956 ein politischer Interessenverband ehemaliger kommunistischer Gefangener. Aus den Reihen der Lagergemeinschaft wurde erstmals im Jahr 1957 die Errichtung einer Gedenkstätte am historischen Lagerort Esterwegen gefordert. Eine Forderung, die das niedersächsische Innenministerium mit Verweis auf die kommunistische Gesinnung der Mitglieder ablehnte. Eine starke Gegenwartsbezogenheit der Erinnerungskulturen zeigte sich ebenso in Kapitel V, denn verhandelt wurden mit Bezug auf die Emslandlager in den 1960er-Jahren gesamtgesellschaftlich brisante und aktuelle Themen wie die Gefährdung der Grundrechte (»Spiegel-Affäre« und Notstandsgesetzgebung) und ein »Wiederaufkommen des Faschismus« (Gründung der NPD). An die Konzentrations- und Strafgefangenenlager im Emsland erinnerten in den 1950er-Jahren öffentlich zunächst nur Mitglieder der VVN, seit Mitte der 1950er-Jahre dann die sich aus ihr gründende Lagergemeinschaft sowie einige wenige Akteure der Friedensbewegung. Die »Spiegel-Affäre« (1962) markierte den entscheidenden erinnerungskulturellen Um- und Aufbruch, denn die Strafverfolgung von Pressevertretern vergegenwärtigte das Schicksal des »Weltbühne«-Herausgebers und Friedensnobelpreisträgers von Ossietzky. Wurden seine Schriften bereits in der Nachkriegszeit in intellektuellen Kreisen geschätzt, richtete sich seit Anfang der 1960er-Jahre das Interesse einer sich herausbildenden kritischen Öffentlichkeit nun auf den Ort von Ossietzkys KZ-Haft. Das Konzentrationslager Esterwegen und noch vielmehr der wenige Kilometer entfernte Friedhof Bockhorst-Esterwegen wurden schließlich zu den zentralen Orten des Gedenkens und des Protests gegen die Tabuisierung der NS-Vergangenheit. Die als Skandalisierung und als Aufbruch des Schweigens gekennzeichnete Phase begann im Emsland im Jahr 1963. In diesem Jahr stiftete eine Jugendgewerkschaftsgruppe auf dem Friedhof Bockhorst-Esterwegen ein Denkmal für von Ossietzky. Zeitgleich kratzten die jungen Lokaljournalisten Gerhard Kromschröder und Hermann Vinke in einer Reihe von Artikeln am »Mythos von den kriminellen Strafgefangenen«. Getragen von einer neuen und vor allem kritischen generationellen Gedächtnisgemeinschaft bildeten sich Ende der 1960er-Jahre bereits typische Deutungs- und
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Resümee
Handlungsmuster einer Gegen-Erinnerungskultur aus, die Vinke in den Worten zusammenfasst: »Und hier vor der Haustür wollen wir es ganz genau wissen.«3 Teils von denselben Personen, die sich als Schüler in Papenburg politisiert hatten, aber auch von neuen und das erste Mal weiblichen Akteuren wurde in den 1970er-Jahren die Kritik an der lokalen Bevölkerung und ihrem Umgang mit der Geschichte der Emslandlager und den Lagerstandorten adressiert und zu einem gedenkstättenpädagogischen Programm ausformuliert. Kapitel VI zeigte, wie sich aus einem Protestbündnis im Jahr 1975, das sich im Namensstreit um die Reformuniversität Oldenburg gebildet hatte, eine Gedenkstätteninitiative bildete, und rekonstruierte damit die bislang kaum beleuchteten Anfänge der Gedenkstättenbewegung. Die Gedenkstätteninitiative entwickelte sich von einer zunächst in universitären Projekten erfolgenden Auseinandersetzung mit den Emslandlagern über die erste Spurensuche vor Ort hin zu einem im Jahr 1981 eingetragenen Gedenkstättenverein, dem »Aktionskomitee für ein Dokumentations- und Informationszentrum Emslandlager e. V.«, das im Jahr 1985 eine Dauerausstellung in Papenburg über die Emslandlager eröffnete. Kennzeichen der Initiative war die Betrachtung der Emslandlager von unten, eine Deutung von Geschichte aus der Perspektive der marginalisierten kommunistischen Gefangenen. So arbeiteten die Mitglieder eng mit den Moorsoldaten zusammen und traten mit Zeitzeugengesprächen und einer ersten Ausstellung im Jahr 1977 an die Öffentlichkeit. Entlang der Kategorien Subjekt und Alltag entwarfen sie Anfang der 1980er-Jahre mit der Spurensuche und -sicherung ein Handlungskonzept, das Laien mit ehemaligen Gefangenen in Kontakt brachte, den Blick auf den Umgang der Lokalbevölkerung mit den ehemaligen Lagern richtete und erstmals bauliche Überreste sicherte und mit Informationstafeln markierte. In den 1980er-Jahren zeigte sich darüber hinaus die enge inhaltliche und personelle Verbindung zwischen unterschiedlichen Akteuren sozialer Bewegungen. Korrespondierend mit den großen friedenspolitischen Kundgebungen auf dem Friedhof Bockhorst-Esterwegen, der spätestens jetzt zum zentralen Schauplatz einer Gegen-Erinnerungskultur geworden war, rückten vergessene Verfolgtengruppen wie Kriegsgefangene, Militärstrafgefangene und Zwangsrekrutierte ins Gedächtnis. Darin ist deutlich erkennbar, und dies hat diese Arbeit nachgezeichnet, dass die Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus mit gesellschaftlichen Veränderungen und Konjunkturen korrespondiert. Der Institutionalisierungsprozess des DIZ wurde schließlich durch eine von der seit 1990 unter rot-grüner Landesregierung stehenden niedersächsischen Gedenkstättenpolitik eingeleitet, die eine dezentrale Gedenkstättenlandschaft förderte. Vor dem Hintergrund
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Hermann Vinke im Gespräch mit A. Düben am 5.6.2014.
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eines Institutionalisierungsschubs des bundesdeutschen Gedenkstättenwesens infolge der deutschen Einheit und einer 1999 beschlossenen bundesdeutschen Gedenkstättenförderung griff der Landkreis Emsland die bereits im Jahr 1957 von den Moorsoldaten formulierte Forderung nach einer Gedenkstätte Esterwegen auf und setzte sie in Form einer Stiftung um. Diese kommunal angebundene Stiftung trägt die seit 2011 für das Publikum geöffnete Gedenkstätte Esterwegen. Die Frage nach den Akteuren, der Nachwirkung und Deutung der Emslandlager sowie der Regionalspezifik führt die Prozesshaftigkeit und Pluralität von Erinnerungskulturen vor Augen. In den beschriebenen Phasen traten jeweils deutungsmächtige Akteure im Emsland auf, die zugleich entsprechende Gegenspieler hatten. Dabei spiegelten diese Akteure politische und gesellschaftliche Prozesse wider, die sich im Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und den Emslandlagern ausdrückten.4 In den ersten fünf Nachkriegsjahren waren es die Alliierten, die eine Erinnerungskultur überhaupt erst etablierten. Ihre Form und Formel war das negative Gedächtnis an die begangenen Verbrechen. Zeitgleich verteidigten regionale Akteure die Rechtmäßigkeit des Strafvollzugs, indem sie die Gefangenen der Emslandlager pauschal als Kriminelle abtaten. Dieselben Akteure sollten sich in den 1950er-Jahren, wenn überhaupt, nur in allgemeinen Kategorien erinnern. Ihren Gegenpart bildeten ehemalige kommunistische Gefangene der Emslandlager, die im Jahr des KPD-Verbotes (1956) eine Lagergemeinschaft gründeten, die über die folgenden Jahrzehnte die Interessen der ehemaligen politischen Gefangenen vertreten sollte. In den 1960er-Jahren sahen sich die regionalen Eliten einer zunehmend breiter werdenden Gegenbewegung ausgesetzt, die die regionalen Entlastungs- und Distanzierungsstrategien nicht länger hinnahm. Im konfliktreichen Aufeinandertreffen dieser Akteure erodierte das regionale Schweigen. Seit Mitte der 1970er-Jahre richtete dann ein zivilgesellschaftliches Bündnis den Blick auf die historischen Lagerstätten, deutete sie als materielle Zeugnisse der Vergangenheit und der verübten Verbrechen und forderte Behörden und Lokalbevölkerung auf, sich zur historischen Verantwortung zu bekennen. Dieser Verantwortung kam der Landkreis Emsland in den 2000er-Jahren schließlich nach und förderte die Einrichtung einer Gedenkstätte Esterwegen. Die beschriebenen Phasen fallen also mit ihren Akteuren und Auseinandersetzungen zusammen. Im Hinblick auf das Nachwirken der Emslandlager ist deutlich geworden, dass die historische Besonderheit in den Strafgefangenenlagern unter der Justizverwaltung liegt. Der erste »Catalogue of Camps and Prisons in Germany and German-Occupied Territories«, den der ITS im Jahr 1949 herausgab und der eine
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Kohlstruck, Erinnerungspolitik, S. 181.
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Resümee
systematische Übersicht der zu dieser Zeit bekannten Konzentrationslager und Haftstätten verzeichnete, hatte neben den Konzentrationslagern auch die Strafgefangenenlager im Emsland aufgenommen und damit ihren KZ-ähnlichen Status anerkannt, obwohl sie nicht dem »Reichsführer-SS, sondern dem Reichsjustizminister unterstanden« hatten.5 Als alliierte Einrichtung berücksichtigte der ITS, dass die Strafgefangenenlager im Emsland aufgrund ihrer KZ-ähnlichen Bauweise, der hier installierten Lagerordnung und einer überwiegend von der SS und SA getragenen Bewachung und verübten Gewalt gegen die Gefangenen keine regulären Strafanstalten waren. Während der ITS die brutalen und inhumanen Haftbedingungen bedachte, wurden in der bundesrepublikanischen Entschädigungsgesetzgebung hingegen bis 1970 die Strafgefangenenlager nicht als Konzentrationslager anerkannt, da sie nicht dem Reichsführer-SS unterstanden. Diese Deutung hatte auf regionaler Ebene eine erinnerungspolitische Funktion: Akteure, allen voran die regional ansässige Justizverwaltung, nutzten Kriminalität als Argument, um die Ausbeutung durch harte Zwangsarbeit, die hier praktizierte Verfolgung von Menschen, die nicht als der Volksgemeinschaft zugehörig galten, und die Morde an Gefangenen zu bagatellisieren und sich somit nicht mit den Emslandlagern auseinandersetzen zu müssen. Der Diskurs um die kriminellen Strafgefangenen umschloss und marginalisierte zugleich andere Personengruppen wie aus politischen Gründen Verfolgte. Unter der sozialdemokratischen Bundesregierung erfolgte schließlich die Anerkennung der Strafgefangenenlager als NS-Haftstätte im Jahr 1970, in deren Folge die Erhaltung aller Gefangenengräber im Emsland beschlossen wurde. Diese Entscheidung hatte zwar eine Aufwertung des Totengedenkens zur Folge, die überlebenden Gefangenen fanden jedoch weiterhin auf Seiten der CDU kaum Gehör. Die Denk- und Deutungsmuster, die als regionalspezifisch gelten können, wurden am stärksten im Leserbriefstreit in der »Ems-Zeitung« im Jahr 1966 greifbar. Denn auffällig an diesem Streit war, dass durch die partizipative journalistische Methode der Straßenbefragung zwar die »kleinen Leute« zu Wort kamen, in anschließenden Leserbriefen jedoch vor allem Angehörige der regionalen Elite. Hier äußerten sich Oberkreisdirektoren, Schulleiter, Pfarrer und Bürgermeister, unter ihnen Funktionsträger sowohl im Nationalsozialismus als auch in der Bundesrepublik. Nicht zuletzt dadurch, dass sie sich und die vermeintlich pauschal angeklagte Region argumentativ verteidigten, kann als Ausdruck eines Regionalbewusstseins gedeutet werden. Zugleich konturierten ihre Beiträge eine
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Der dreibändige Katalog wurde vom ITS zwischen 1949 und 1951 erstellt und umfasste alle bekannten nationalsozialistischen Haftstätten, die zwischen 1933 und 1945 existierten. Vgl. ITS, Verzeichnis der Haftstätten unter dem Reichsführer-SS (1933–1945). Konzentrationslager und deren Außenkommandos sowie andere Haftstätten unter dem Reichsführer-SS, Arolsen, o. D. (Juni 1979), S. V und S. CIII.
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Region, die, vonseiten der Akteure unbeabsichtigt, eng mit den Lagern verflochten war. Das Plädoyer dafür, nicht an die Lager, sondern an die wirtschaftlichen Erfolge der Region zu erinnern, ging de facto nicht auf. Denn der Strukturwandel des Emslandes wurde erst durch die Erschließung der Moorgebiete möglich, und diese wiederum ist nicht von der Gesamtgeschichte der Kultivierung, zu der ebenfalls die Emslandlager gehören, zu trennen. Das Emsland ist also als ein kultureller und sozialer Raum zu verstehen, der durch die für den ländlichen Raum typischen und überdies durch den Katholizismus verstärkten Obrigkeitsvorstellungen und von der Geschichte sowie der Nach- und Erinnerungsgeschichte der Lager geprägt ist. So kann im Sinne einer Grenzziehung von außen und innen davon ausgegangen werden, dass sich in der jahrzehntelangen Abwehr dieses Teils der Vergangenheit eine weitere Facette regionaler Identität ausbildete – das katholische Emsland, das zu Unrecht mit den Lagern, in denen vor allem Kriminelle inhaftiert gewesen seien, assoziiert wird. Die regionalen Eigenheiten können die Entstehung einer Gegen-Erinnerungskultur, die im Kern mit ihrem starken Bezug auf von Ossietzky und die Moorsoldaten bis heute stabil ist, jedoch nicht allein erklären. In dieser Hinsicht sind zwei weitere Faktoren in die Betrachtung einzubeziehen: Kontingenz und übergeordnete Zusammenhänge. Letztere kondensierten sich nicht zuletzt am historischen Lagerort Esterwegen auf eine besondere Art in seiner Nachnutzung: Als Internierungslager in der unmittelbaren Nachkriegszeit, als Lager für Flüchtlinge aus der DDR seit 1952 und als Bundeswehrdepot von 1964 bis zur Auflösung des Standortes im Jahr 2000 – all diese Formen der pragmatischen Nachnutzung stehen im historischen Zusammenhang der Nachkriegsordnung und dem Verlauf des Kalten Krieges. Lokal sichtbar wurde der ideologische Konflikt jedoch nicht nur in der Ankunft von DDR-Flüchtlingen und der Aufrüstung der Bundeswehr, sondern auch im Auftreten der kommunistischen Lagergemeinschaft. Während zunächst nur vereinzelt Mitglieder der VVN in den ersten Nachkriegsjahren die Lagerfriedhöfe im Emsland besuchten, gab das Verbot der KPD den Anlass, eine eigene internationale, de facto vor allem deutsch-deutsche Lagergemeinschaft zu gründen, die mit den Moorsoldatentreffen in Papenburg öffentlich in Erscheinung trat. Während die Illegalisierung der KPD zur Folge hatte, dass auch die Lagergemeinschaft Ende der 1950er-Jahre unter Auflösungserscheinungen litt und keine Treffen im Emsland organisierte, erlebte sie Anfang der 1960er-Jahre einen Aufschwung. Erstmals fand im Jahr 1963 wieder eine große Gedenkfeier auf dem Friedhof Bockhorst-Esterwegen statt. Mag eine Erklärung für die sich rekonsolidierende Lagergemeinschaft der seit Ende der 1950er-Jahre in Bewegung geratene Vergangenheitsdiskurs sein, gibt dieser keine vollständig befriedigende Erklärung für das Aufbrechen des Schweigens im Emsland. Denn die Verschiebung von Sagbarkeitsregeln war hier ganz konkret an die beiden Journalisten Kromschröder und Vinke geknüpft, und somit kontingent. Dass diese
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beiden fast Gleichaltrigen im Emsland aufeinandertrafen, war ein Zufall. Ihre für diese Jahrgänge typische Sozialisation und Erfahrung hingegen nicht. Einer gewissen Regelhaftigkeit der Gegen-Erinnerungskultur entsprach dann die Gedenkstätteninitiative der 1970er-Jahre, denn hier waren junge Menschen aus der Region vertreten, die sich bereits in den 1960er-Jahren an der Seite von Vinke im Demokratischen Club Papenburg politisiert hatten und für eine Enttabuisierung der Vergangenheit eintraten. Sie trafen wenige Jahre später in Oldenburg auf gleichgesinnte Kommilitoninnen und Kommilitonen, entdeckten die Lager mit einem wissenschaftlichen Blick nochmals neu, sahen sich dabei aber insbesondere dem Erbe der Moorsoldaten verpflichtet, was notwendig die Perspektive auf die Emslandlager auf den politischen Widerstandskampf verengte. Die vorliegende Arbeit zeichnete erinnerungskulturelle Phasen nach in einer sowohl durch die historische Lagertopografie als auch verschiedene Strukturbedingungen konturierten Region, die sich im Sinne eines Handlungs- und Deutungsraumes im Verlauf der Arbeit zunehmend auf den Landkreis Emsland verengte. Die Periodisierung orientierte sich an Konfliktsituationen, die entstanden, wenn Akteure auftraten, die mit bislang öffentlich wirksamen Vergangenheitsdeutungen in Konkurrenz traten. Dabei bot der akteurszentrierte Zugriff in einem begrenzten Raum einen Weg, sich der vielschichtigen Geschichte des 15-gliedrigen Lagerverbundes zu nähern, der fast während der gesamten nationalsozialistischen Herrschaft bestand und mehrmalige Verwaltungswechsel durchlief. Da das Totengedenken als der Kern und Ursprung einer Erinnerungskultur an die Verbrechen des Nationalsozialismus begriffen wurde, waren die kollektiven Sinnbildungen des Todes der Gefangenen der Emslandlager Ausgangspunkt der Untersuchung. Mit dem sich wandelnden gesellschaftlichen und politischen Klima differenzierten sich die Bereiche des erinnerungskulturellen Handlungsfeldes weiter aus: von journalistischen Praktiken über generations typische Protestformen und einem dezentralen historisch-politischen Bildungsangebot bis hin zur Musealisierung der Geschichte der Emslandlager im Rahmen einer kommunal getragenen und professionalisierten Gedenkstätte, die in ihrer personellen Zusammensetzung an die politischen Mehrheitsverhältnisse im Emsland gebunden ist. Die Geschichte der Erinnerungskultur der Emslandlager, so das Kurzresümee dieser Arbeit, war und ist im Wesentlichen eine Streitund Konfliktgeschichte – gerade in dieser besonders stark ausgeprägten Form der Aushandlung von und Auseinandersetzung mit der Gewaltgeschichte liegt ihre historische Besonderheit.
VIII. Anhang
1. Abkürzungsverzeichnis ASF Aktion Sühnezeichen Friedensdienste AStA Allgemeiner Studierendenausschuss Christlich Demokratische Union Deutschland CDU DDR Deutsche Demokratische Republik DGB Deutscher Gewerkschaftsbund Deutsche Kommunistische Partei DKP DP Displaced Persons Freiwilliger Arbeitsdienst FAD Freie Deutsche Jugend FDJ Foreign Office FO International Tracing Service ITS Komitee der antifaschistischen Widerstandskämpfer KdAW Kommunistische Partei Deutschlands KPD MfS Ministerium für Staatssicherheit Marxistischer Studentenbund MSB NPD Nationaldemokratische Partei Deutschlands RAD Reichsarbeitsdienst PWDPD Directorate of Prisoners of War and Displaced Persons Sowjetische Besatzungszone SBZ Supreme headquarters allied Expeditionary Force office of assistant chief of staff SHAEF Sozialdemokratische Partei Deutschlands SPD United Nations UN UNRRA United Nations Relief and Rehabilitation Administration Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge VDK VfZ Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes VVN Westdeutsche Allgemeine Zeitung WAZ War Office WO
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Anhang
2. Quellenverzeichnis 2.1 Archivregister Aktionskomitee DIZ Emslandlager e. V., Esterwegen
Presseordner, DIZ-Nachrichten, Mitteilungsblatt »Der Moorsoldat« Aktionskomitee DIZ Emslandlager Sammlung Kromschröder/Vinke
Archiv des Bundesbeauftragen für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU) Bestände: MfS, HA XX, Nr. 6829, Nr. 5493 (Hauptabteilung XX Staatsapparat, Kultur, Kirchen, Untergrund/HA) MfS, HA IX, Nr. 20551, RHE-West 6 (Hauptabteilung IX Untersuchungsorgan)
Archiv VVN BdA, Niedersachsen Bestände: S006 0013 (Sachakten, Zusammenarbeit DIZ) S009 0018 (Sachakten, Zusammenarbeit DIZ) N0007 AugBau0013, AugBau0106 (Nachlass August Baumgarte) N0028 AugBau0051, AugBau0052 (Nachlass August Baumgarte) N0032 AugBau0058, AugBau0057 (Nachlass August Baumgarte) N0033 AugBau0060, AugBau0061 (Nachlass August Baumgarte) N0039 AugBau0073, AugBau0074 (Nachlass August Baumgarte) N0050 AugBau0091 (Nachlass August Baumgarte) N0057 AugBau0105, AugBau0106 (Nachlass August Baumgarte) NR63469 634 (Entschädigungssachen)
Archiv VVN BdA, Nordrhein-Westfalen Bundesarchiv (BArch) Koblenz Bestände: B106 (Bundesministerium des Innern) B116 (Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten) B122 (Bundespräsidialamt Amtszeit Theodor Heuss) B126 (Bundesministerium der Finanzen) B136 (Bundeskanzleramt) B189 (Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit) Z21 (Zentraljustizamt für die britische Zone) Z40 (Zentralamt für Arbeit in der britischen Zone) Z42 I (Generalinspekteur für die Spruchgerichte in der britischen Zone) Berlin Lichterfelde Bestände: DR117 (DEFA Studio für Spielfilme)
Quellenverzeichnis
283
Dokumentationsstelle Stiftung niedersächsische Gedenkstätten, Celle Zentralnachweis zur Geschichte von Widerstand und Verfolgung 1933–1945 auf dem Gebiet des Landes Niedersachsen (ZNW) 3/53490 (Museum der Streitkräfte der Russischen Föderation, Moskau)
ITS Bestände: 1.1.30.2 (Individuelle Unterlagen Neuengamme) 2.2.0.1 (Schriftwechsel und Unterlagen zur Zwangsarbeit) 1.1.34.0 (Allgemeine Informationen Strafgefangenenlager im Emsland) 1.1.34.1 (Listenmaterial Papenburg) 1.1.33.1 (Listenmaterial Oranienburg) 2.1.2.1 (Liste Wehrmachtauskunftstelle) 1.2.2.1 (Listenmaterial Gefängnisse) 5.3.5 (Grabermittlung/Friedhofspläne)
Hessisches Staatsarchiv (HStA) Darmstadt (D) Bestand: G 21 B (Justizministerium – Personalangelegenheiten)
Niedersächsisches Landesarchiv (NLA) Aurich (AU) Bestände: Rep107 (Landgericht Aurich) Hannover (HA) Bestände: Nds100 (Niedersächsisches Innenministerium) Oldenburg (OL) Bestände: Erw84 (Nachlass Helmut Hoffmann) Erw89 (Nachlass Jürgen Ulpts, Polizeigeschichtliche Sammlung) Erw 152 (Verein Oldenburgischer Lehrer und Lehrerinnen) Dep 36 (Organisation des DGB Oldenburg) Osnabrück (OS) Bestände: Rep 430 Dez 101 (Regierung Osnabrück, Organisation, Personal) Rep 430 Dez 207 (Regierung Osnabrück, Hoheitsangelegenheiten) Rep 430 Dez 209 (Regierung Osnabrück, Bau- und Liegenschaftangelegenheiten) Rep 430 Dez 502 (Regierung Osnabrück, Wasserwirtschaft) Rep 565 (Emsland GmbH) Rep 660 Lin (Staatshochbauamt Lingen) Rep 675 Mep (Wasserwirtschaftsamt Meppen) Rep 945 (Staatsanwaltschaft Osnabrück, NSG-Verfahren) Rep 947 Lin I (Strafanstalten Lingen) Rep 947 Lin II (Justizverwaltung Papenburg)
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Anhang
Rep 980 (Entnazifizierungsakte) Dep63b (Stadt Meppen)
Ministerium für Inneres und Sport (NMfIS) Akz.199141/14 Bände I–VI (Friedhof von Opfern der Gewaltherrschaft in Bockhorst-Esterwegen, Landkreis Aschendorf-Hümmling) Akz.199141/14 Beiakte 1–2
The Polish Institute and Sikorski Museum Bestände: N IX 3917-4456 (Aschendorf)
Stadtarchiv Hannover Bestand: XRHA Hillebrecht
The National Archives Kew/London FO 1010, 1014, 1032, 1035, 1049, 1050, 1051, 1052, 1060 (Foreign Office) WO171, WO208, WO309, WO311 (War Office)
2.2 Gedruckte Quellen Hans-Dieter Kreikamp (Hg.), Quellen zur staatlichen Neuordnung Deutschlands 1945–1949, Darmstadt 1994. Rolf Keller/Silke Petry (Hg.), Sowjetische Kriegsgefangene im Arbeitseinsatz 1941–1945. Dokumente zu den Lebens- und Arbeitsbedingungen in Norddeutschland, Göttingen 2013. Helmut Lensing, Quellen von der Novemberrevolution 1918 bis zur Konsolidierung der NS-Diktatur 1933, Teil 2, Sögel 2009.
2.3 Periodika Bröring, Hermann: Nicht Beratungen in Kreisgremien vorgreifen. In: Meppener Tageszeitung vom 8.11.2000. CDU-Kreisverband Aschendorf-Hümmling: Zuschrift/Leserbrief. In: Ems-Zeitung vom 22.11.1966. Dierkes, Theo (Vikar St. Michael Gemeinde Papenburg): Zuschrift/Leserbrief. In: Ems-Zeitung vom 16.11.1966. Junge Redaktion: Es lebe die Provinz. In: Jugendseite, Ems-Zeitung vom 19.2.1966, S. 1. –: Junge Redaktion ist tot! In: Jugendseite, Ems-Zeitung vom 31.12.1966, S. 1. –: Man geht nicht mehr ohne Hut. Jung – der Stil der neuen Hüte. In: Jugendseite, Ems-Zeitung vom 27.2.1965, S. 1. Keil, Frank: Neue NS-Gedenkstätte im Emsland. Später Sinneswandel. In: taz vom 30.10.2011. Klasen, Heinrich: Denk Papenburg. In: Ems-Zeitung vom 22.4.1963. Dr. Knoke (Oberstudienrat/Stellv. Vorsitzender Kreisheimatverein): Zuschrift/Leserbrief. In: Ems-Zeitung vom 16.11.1966. Dr. Kraneburg (Geschäftsführer emsländischer Heimatverein): Zuschrift/Leserbrief. In: Ems-Zeitung vom 16.11.1966.
Quellenverzeichnis
285
Krinke, Reinhold (Pfarrer, Guttenberg LK Kulmbach): Zuschrift/Leserbrief. In: Ems-Zeitung vom 25.11.1966. Kromschröder, Gerhard: Demokratisch. In: Ems-Zeitung vom 17.9.1966. O. V.: 11 Jahre danach! In: Der Moorsoldat vom 8./9.9.1956. –: 83 Tote klagen an. Schwer belastende Aussagen im Emsland-Prozeß. In: Nordwest-Zeitung vom 24.1.1947, S. 3. –: Auf der Suche nach Vorbildern. Gewerkschaftsjugend weihte Mahnmal für Carl von Ossietzky ein. In: Ems-Zeitung vom 7.10.1963. –: Das friedliebende Deutschland ehrte die Opfer des Faschismus/Manifest der Moorsoldaten. In: Neues Deutschland vom 11.9.1956, S. 2. –: Das Urteil im Emslandlager-Prozeß. In: Nordwest Zeitung vom 18.9.1948, S. 3. –: Der erste Emslandlager-Prozeß. In: Nordwest Zeitung vom 31.7.1948, S. 3. –: Der vergessene Kämpfer. Im Emsland: Ein Mahnmal erinnert an Carl von Ossietzky. In: Die Einheit. Organ der Industriegewerkschaft Energie und Bergbau Essen, o. D. (2. Oktoberausgabe 1963), S. 1. –: DGB zum Treffen der Moorsoldaten. In: Ems-Zeitung vom 16.8.1956. –: Die Erinnerung zwingt uns, die Vergangenheit nicht zu vergessen. In: Ems-Zeitung vom 2.9.1989. –: Die Hölle Esterwegen Süd. In: Nordwest-Zeitung vom 17.1.1947, S. 2. –: Die Überlebenden wollen leben! In: Der Moorsoldat vom 15.12.1956. –: Dr. Diederichs besuchte den Waldfriedhof in Esterwegen. In: Ems-Zeitung, Osterausgabe vom 22./23.4.1962. –: Ein kräftiger Schub für die Vergangenheit. Spiegel-Report über die neue Geschichtsbewegung in der Bundesrepublik. In: DER SPIEGEL vom 6.6.1983, S. 36–42. –: Ein Mahnmal wie es nicht sein soll. In: die tat vom 13.8.1949, S. 11. –: Einweihung des Herbrumer Ehrenmals. In: Ems-Zeitung vom 16.11.1953. –: ›Emsländer haben von Lager gewußt – aber nur wenig, was dort geschah.‹ Akademietagung im Ludwig-Windthorst-Haus zum Thema ›Kriegsende‹. In: Ems-Zeitung vom 8.5.1985. –: ›Errichtung des DIZ bedarf weiterer Gespräche.‹ EZ-Gespräch mit OKD Brümmer zum Workcamp in Esterwegen. In: Ems-Zeitung vom 12.7.1982. –: Extrablatt. Rund um Papenburg, o. D. (1969), S. 1. –: Geschichte – nie abstellbarer Gegenstand. Übergabe einer Dokumentation über die Ems landlager/Dreitausend Seiten. In: Ems-Zeitung vom 2.2.1983. –: »Heilmethoden« mit Todesfolge. Die Aussagen der ersten Zeugen im Kriegsverbrecher prozeß. In: Nordwest-Zeitung vom 21.1.1947, S. 2. –: Herold für Massenmorde verantwortlich. Ankläger und Verteidiger kamen zu Wort. In: Osnabrücker Rundschau vom 30.8.1946, S. 4. –: Im Lager Esterwegen leben Menschen zweiter Klasse. Noch immer Spruchgerichte/Recht nach zweierlei Maß?/Der Fall des Bürgers X/Macht endlich Schluß mit der Sondergerichtsbarkeit. In: Ems-Zeitung vom 9.12.1950. –: Internationales Treffen in Papenburg. In: Ems-Zeitung vom 11.9.1956. –: Jugend errichtet Ossietzky-Mahnmal in Nähe des ehemaligen KZ Esterwegen. Bundesjugendring begrüßt Ehrung des Friedensnobelpreisträgers. In: Rhein-Ems-Zeitung vom 3.10.1963. –: Jugend fand Verständnis und Bereitschaft zum Dialog. In: Ems-Zeitung vom 20.7.1981. –: KZ-Methoden in den Emslandlagern. In: Nordwest-Zeitung vom 18.9.1948.
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Anhang
–: Mahnmal für Carl von Ossietzky. In: Einheit. Organ der Industriegewerkschaft Energie und Bergbau Essen vom 1.5.1963. –: Manifest der Moorsoldaten. In: Der Moorsoldat vom 15.11.1956. –: Mit alten Skizzen auf Spurensuche. In: Weser-Kurier vom 17.7.1981. –: Mit einer Gedenkhalle ist es nicht getan, Verein Emslandlager will Dokumentations- und Informationszentrum einrichten. In: die tat vom 8.5.1981. –: Moorsoldaten-Treffen. In: Neues Deutschland vom 8.8.1956, S. 2. –: Neun Steine mahnen auf dem Friedhof in Esterwegen. Innenminister weiht Gedenkstätte für Opfer der Emslandlager ein. In: Hannoversche Allgemeine Zeitung (HAZ) vom 4.12.1981. –: Noch kein Platz für das Mahnmal. In: Neue Ruhrzeitung vom 1.8.1963. –: »Pathologischer Schmierfink«, Leserbriefe. In: Junge-Seite, Ems-Zeitung, o. D. (1965). –: Redaktionelle Erklärung. In: Ems-Zeitung vom 22.8.1956. –: Rede des Kameraden Wolfgang Langhoff auf dem Kameradschaftsabend. In: Der Moorsoldat vom 15.11.1956. –: Robert Scholl zur Teilnahme am Moorsoldatentreffen am 8./9.9.1956. In: Der Moorsoldat vom 15.12.1956. –: Rückblick auf den 8. Mai. In: DIZ-Nachrichten, o. D. (1988), S. 18. –: Über tausend kamen. Kundgebung zum ›Antikriegstag‹. In: General-Anzeiger Westrhauderfehn vom 2.9.1980. –: Verabschiedung eines neuen Kriegsgräbergesetzes. In: Osnabrücker Tageblatt vom 7.4.1965. –: ›Verbotene‹ Information. Tafel wurde doch aufgestellt. In: Ems-Zeitung vom 3.9.1979. –: Vergessene Soldaten? Internationales Treffen der Emsland-Moorsoldaten in Papenburg. In: Deutsche Volkszeitung vom 15.9.1956. –: Wer war Carl von Ossietzky. Eine Dokumentation aus möglicherweise gegebenem Anlaß. In: Die Zeit vom 9.11.1962. –: Wir gedenken unseres verstorbenen Kameraden August Baumgarte. In: Der Moorsoldat, o. D. (Mai 1980). –: Zum ständigen Gedenken Ossietzkys. In: Westdeutsche Allgemeine Zeitung vom 7.10.1963. Schneiders, E.: Zuschrift/Leserbrief. In: Ems-Zeitung vom 25.11.1966. Suhr, Elke: Die Lagerstraße ist heute eine Dorfstraße. Was aus Kriegsgefangenenlagern im Emsland wurde/Beitrag zum Volkstrauertag. In: die tat vom 20.11.1981, S. 13. –: Gottesdienst endet mit Moorsoldatenlied. In: die tat vom 7.8.1981, S. 8. Tiedeken, Hans: Zuschrift/Leserbrief. In: Ems-Zeitung vom 18.11.1966. Tornow, Heiko: Zuwenig Leichen auf dem Friedhof. In: Stern vom 3.9.1979. Vinke, Hermann: Am Ende steht Ratlosigkeit. In: Ems-Zeitung vom 3.12.1966. –: Reimar Allerdt im Interview. In: Ems-Zeitung vom 3.12.1966. –: Über Nacht stand plötzlich ein zweiter Gedenkstein auf dem Lagerfriedhof. In: Ems-Zeitung vom 1.10.1966. Wiggershaus, Ernst: An die Bevölkerung von Papenburg und Umgebung, September 1956. In: Der Moorsoldat vom 15.11.1956.
Quellenverzeichnis
287
2.4 Filmmaterial Allerdt, Reimar: Das KZ im Emsland, Bayrischer Rundfunk report München (1966), Bayerischer Rundfunk, 14.11.1966. Langhoff, Wolfgang: Esterwegen im Emsland-Moor: Treffen der Moorsoldaten, DEFA, Der Augenzeuge, 38/1956, 11 Minuten.
2.5 Interviewverzeichnis Bröring, Hermann: Interview (Dauer: 2:30), im Gespräch mit A. Düben, 16.10.2017, Meppen. Kromschröder, Gerhard: Interview (Dauer: 1:02), im Gespräch mit A. Düben, 6.6.2014, Hamburg. Vinke, Hermann: Interview (Dauer: 1:16), im Gespräch mit A. Düben, 5.6.2014, Bremen.
288
3.
Anhang
Literaturverzeichnis
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Tabellen-, Abbildungs- und Kartenverzeichnis
4.
315
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Zuständigkeiten bei der Gräberfürsorge laut alliierter Bestimmungen. Tabelle 2: Zahlen und Herkunft der Toten auf den neun Friedhöfen laut Nachkriegsangaben. Tabelle 3: Zusammenfassung der Kernaussagen im Rahmen des Leserbriefstreits. Tabelle 4: Mitglieder des Stiftungsrates bei der konstituierenden Sitzung am 16.12.2008.
5.
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: Zuschauende bei der Exhumierung der Opfer des Endphaseverbrechens im Lager II Aschendorfermoor am 1.2.1946 (NLA OS, Slg 50 Nr. 232). Abb. 2: Exhumierungskommando bei der Exhumierung der Opfer des Endphaseverbrechens im Lager II Aschendorfermoor am 1.2.1946 (NLA OS, Slg 50 Nr. 232). Abb. 3: Festzelt auf dem Marktplatz in Papenburg, Moorsoldatentreffen am 8./9.9.1956 (Archiv VVN BdA NRW, 6040). Abb. 4: Ausmeißelung durch den Demokratischen Club Papenburg vom 6. Juli 1969, Quelle: Hermann Vinke, Bremen (Aktionskomitee DIZ Emslandlager e. V., Papenburg, Sammlung Kromschröder/Vinke). Abb. 5: Außengelände Gedenkstätte Esterwegen, Spur des Innentors des Strafgefangenenlagers (1937–1945), Quelle: Ann Katrin Düben, 2014.
6.
Kartenverzeichnis
Karte: Übersicht über die Lage der Emslandlager (Gedenkstätte Esterwegen).
316
Anhang
7. Personenverzeichnis Seitenangaben mit Asteriskus beziehen sich auf Fußnoten. Adenauer, Konrad 129, 151* Adorno, Theodor W. 117, 181, 194 Albrecht, Alexis 80, 140, 142 Albus, Manfred 185, 188 f. Allerdt, Reimer 197 Apel, Hans 242, 261 Assmann, Aleida 20, 24 Assmann, Jan 14, 20, 21*, 71, 166, 170 Augstein, Rudolf 181*, 187 Ausländer, Fietje 262 Baalmann, Bernhard 254 Badry, Wilhelm Maria 108, 117, 120–122, 123*, 137*, 139–142, 186, 189, 190*, 212 Baumgarte, August 35, 158, 197, 213, 233 Beermann, Hermann 189 Behrisch, Arno 176 f. Bender, Adolf 233 Benjamin, Walter 14, 249 Berentzen, Margret 186*, 265 Berger, Peter L. 14 Bischof, Bernd 231 Blauwers, Edmond 96 Bogdal, Hermann 213 f. Boldt, Werner 231–234, 244 Brandt, Willy 219, 223, 242 Brebeck, Wulf E. 235 Bremer, Johannes 54 Brinkmann, Paul 52* Bröring, Hermann 252*, 256–258, 260–263, 265, 266*, 267 Brümmer, Karl-Heinz 243 f. Brundiers, Wilhelm 262*, 265 Buck, Kurt 229, 231, 232*, 256 f., 262 Budde, Jan 69 Buscher, Gerhard 69 Conze, Werner 246 Corterier, Fritz 176 Diederichs, Georg 186, 188, 193 Dragun (Generalmajor) 84
Drechsler, Hans-Alexander 218 f. Dürrbeck, Herta 167 Eggers, Bernhard 44 Eggers, Werner 49*, 162* Engels, Norbert 63 Erhard, Ludwig 206 Erichsen, Fritz 192*, 213, 216*, 218, 219* Erler, Fritz 176 f. Erll, Astrid 17*, 21 Esser, Johann 159 Faulenbach, Bernd 251, 262, 265 f. Fischer, Karsten 132 Fischer, Peter 262, 265 f. Foidure, Abbé 96 Fraenkel, Ernst 53, 247 Fried, Erich 242 Garbe, Detlef 235 Ginzburg, Carlo 228 Globke, Hans 207 Goguel, Rudi 159, 215 Göring, Hermann 43 f., 53, 55 Grolle, Joist 230 Halbwachs, Maurice 17–19, 21, 24 f.*, 241 Hanschmidt, Alwin 254 Hartwich, Ludwig 95 f. Herold, Willi 69 f., 92, 95, 97, 99 f., 141 Herzog, Adolf 49 f., 122 Heuss, Theodor 133 f. Himmler, Heinrich 11*, 53, 79* Hobsbawm, Eric 223, 227 f. Hodenberg, Christina von 183–185 Hoffmann, Detlef 243 f., 248–250, 264, 266 Högg, Max 232 Hollack, Erich 213 Holland, Richard 46*, 47–49, 121 f. Holzkamp, Hans 162 f. Hugle, Richard 46 f. Husemann, Fritz 55, 217*
317
Personenverzeichnis
Ilk, Herta 176 Immer, Theodor 192 Jeismann, Karl-Ernst 146 Kaltofen, Andrea 264 f. Keilhack, Irma 176 f. Kenkmann, Alfons 266 Kerrl, Hanns 45 Klahr, Detlef 265 Klasen, Heinrich 186 Knigge, Volkhard 146 Knoch, Habbo 41, 159*, 256, 261, 264 f. Knoke, Rudolf 206 Koch, Karl Otto 55 Kohl, Helmut 224 f., 255 Kohl, Wilhelm 247–249 Kohlstruck, Michael 24*, 26 Konovalov (Oberbefehlshaber) 86 Kopf, Hinrich Wilhelm 81*, 121 f., 167 f. Kosthorst, Erich 13, 41, 60*, 61, 145*, 243 f., 246–250, 253–255, 266 Krallmann, Wilfried 231 Kraneburg, Hans 204 Krinke, Reinhold 205 Kromschröder, Gerhard 193–202, 204, 218, 248, 260, 267, 269, 273, 277 f. Kruse, Berthold 49, 159, 164 f., 170 f., 172, 174, 197, 213 Kühl, Georg 176 Langerhans, Oswald 80 f., 140, 142, 144 f., 152 f., 210 f. Langhoff, Wolfgang 51 f., 159 f., 170 f. Leber, Julius 55 Lehners, Richard 188, 210 Leo, Annette 27 f. Lindqvist, Sven 224 Loritz, Hans 55 Luckmann, Thomas 14* Maciejewski, Franz 71–74, 100, 271 Majer-Leonhard, Fritz 190*, 208 Marcuse, Harold 27, 99*, 103, 183, 184*, 185, 195*, 248* Marszolek, Inge 266 Marx, Rudolf 42, 45, 49 f.
McAllister, David 266 f. Melnikov (Oberstleutnant) 84 Meyer, Godfried 203 Meyer-Abich, Friedrich Karl Andreas 107 f., 120, 122* Meyer-Sevenich, Maria 219 Middendorf, Friedrich Justus Heinrich 191 Miericke, Helmut-Ernst 140 f. Mithöfer, Sabine 262, 265 Möcklinghoff, Egbert 237 f. Möller, Wilhelm Georg 11 f. Morsch, Günter 266 Nachama, Estrongo 190 Nadler, Karl 95 f. Nora, Pierre 19 f. Nottbeck, Arvid von 186 Oberländer, Theodor 207 Ossietzky, Carl von 55, 158 f., 185, 187– 189, 190*, 193 f., 195*, 222, 228–232, 234–236, 244 f., 269, 273, 277 Ossietzky-Palm, Rosa von 232, 238, 242 Pabst, Aart 230*, 231 Pantcheff, T. X. H. (Theodore Xenophon Henry) 92 f., 97–100 Paul, Theo 265 Perk, Willy 171, 196*, 215 f., 217* Pohle, Albrecht 265, 266* Pöllen, Matthias 62, 214 Reeken, Dietmar von 27*, 265 Reinert, Heiner 262 f.*, 265, 266* Remmert, Heinrich 53 f. Ricoeur, Paul 250 Rothfels, Hans 246 Ruwe, Hans Gerd 210 f., 221 Sagemüller, Wilhelm 47–49, 122, 123* Schabrod, Karl 171, 213 Schäfer, Werner 56, 93 f., 97, 108–110 Scheidt, Michael 238 Schmidt, Dorothea 262*, 265 Schmidt, Helmut 223 Schneider, Michael 265 Scholl, Robert 176 f., 180
318
Anhang
Schröder, Gerhard 173 Schroers, Wilhelm 238 Schütte, Karl 69 Schwarte, Heinz 262 f.*, 265, 266 Schwarz, Hans 213–215 Seebohm, Hans-Christoph 207 Seeger, Wilhelm 64 Sieling, Oriana 231, 244 Skriebeleit, Jörg 27, 73 f., 100*, 102 f., 131, 268 Sonnenschein, Adolf 44 Stertzenbach, Werner 140, 166 f., 172–174 Stienen, Karl 62 Suhr, Elke 41, 231, 239–241, 243–247, 250, 256, 266
Vinke, Hermann 193–202, 204, 206, 218, 234, 237*, 238, 248, 267, 269, 273 f., 277 f.
Thomes, Heinrich 262*, 266* Thompson, Edward P. 227 f. Tiedeken, Hans 186*, 188*, 203 f. Trojan, Anne 27 f. Turner, Victor 73
Zilleßen, Horst 238
Walter, Bernd 13, 41, 61, 243*, 246, 265 f. Wegmann, August 173 Weißmann, Hannelore 238 Wiedemann, Wilfried 262, 266 Wiesemann, Heinrich 53 f. Wiggershaus, Ernst 159, 164, 170 f., 173 f., 213 Winter, Reinhart 265 Wipper, Paul 118 Wolferts, Gertrud 191 Wörner, Manfred 242, 261
319
Ortsverzeichnis
8.
Ortsverzeichnis
Seitenangaben mit Asteriskus beziehen sich auf Fußnoten. Alexisdorf 31*, 37, 58 f., 83 f., 86 f., 104, 112*, 137–139, 152, 258–260 Aschendorfermoor 49, 57*, 62, 65, 68–70, 91*, 92, 94 f., 98 f., 101, 108, 127, 137– 141, 143–145, 147, 153, 176, 210–212, 214, 241*, 272 f. Bathorn 31*, 37, 58, 60, 65*, 83, 112*, 113 f., 124*, 125, 258 f. Bergen-Belsen 28, 74 f., 80 f., 90 f., 233, 237, 251 f. Bielefeld 227 Bockhorst-Esterwegen 131*, 137–142, 166, 168–171, 175, 185 f., 188–190, 200 f., 217 f., 220 f., 232 f., 236 f., 241, 252, 254, 256, 273 f., 277 Börgermoor 12, 37, 39–41, 44, 51 f., 54 f., 57, 59, 61, 63, 67, 91*, 112*, 121, 125 f., 141, 142*, 159, 162, 166, 172 f., 189, 190*, 240 Bremen 66, 190, 227 Brual-Rhede 69*, 91*, 125*, 195, 238, 257 Celle 66 f. Cloppenburg 66 Collinghorst 67–69 Dachau 27, 53, 103, 117 Dalum 37, 58, 60, 66, 83–86, 114 f., 125, 138 f., 141, 145, 152 f., 210–212, 241* Düsseldorf 11, 51, 76, 161 f. Essen 11*, 51, 185, 187 Esterwegen 12, 16, 28, 33, 34*, 37, 40–42, 44 f., 51, 53–55, 59–61, 63, 66 f., 69*, 92–96, 96 f., 103, 113, 115–119, 124*, 125 f., 141 f., 166–170, 173, 185–187, 192, 202*, 205, 217, 222, 226, 231–233, 235–237, 239*, 241–243, 251 f., 254 f., 258, 260–269, 273, 275, 277
Flossenbürg 27, 73*, 103, 117, 131, 268 Frankfurt am Main 125*, 181 f., 194, 195*, 196, 200, 248 f. Fullen 37, 58, 60 112*, 125, 138 f., 152, 154 f. Groß Hesepe 37, 58, 60, 124 *, 125 f., 249* Großringe 112*, 137–139, 258 Hannover 30, 34 f., 75 f., 86 f., 88*, 118, 121, 144, 162, 167, 210*, 265*, Haren (Maczków) 105, 112*, 154 f. Herbrum 139, 143, 148–150, 179 Hilkenbrook 112*, 113–115 Kassel 227 Königsberg 64 Konstanz 227 Leer 67–69, 105, 159, 173, 177, 234 Lingen 30, 43*, 65, 67, 102*, 106, 121, 124*, 126, 139 f., 142, 167*, 168, 172*, 254, 269, 273 Lüneburg 75, 213 Meppen 30, 31*, 43*, 44, 47–49, 60, 104, 112, 114, 122 f., 138, 143, 155, 195, 204, 253 f. Moskau 86 f., 151*, 155, 174 f. Münster 30 f., 58, 76, 243, 254 Neuengamme 11*, 12, 27 f., 37, 50*, 60 f., 66, 117, 144, 213 f. Neusustrum 37, 39 f., 44, 47 f., 51, 54 f., 57*, 61, 125, 141, 166 Neu-Versen 59 Oberlangen 37, 52, 58, 60, 65, 70, 112, 125, 138 f., 253* Ohrdruf 73, 99* Oldenburg 34, 42, 66, 94–96, 105, 108, 120, 122*, 141, 142*, 164*, 227–235, 237 f., 243 f., 248, 254, 269, 274, 278
320 Osnabrück 30, 34, 44–47, 51, 53 f., 86, 102, 106, 108, 121 f., 124, 140, 192, 196, 200, 210, 221, 265 Papenburg 44, 55 f., 61, 67 f., 70, 91*, 99, 105, 107 f., 126, 148, 158 f., 164 f., 168, 171, 186, 195–200, 202–204, 216*, 231, 234, 242, 244, 248, 251, 253 f., 256 f., 262, 265, 274, 277 f. Rhede 125, 195, 257 Rodgau-Dieburg 121 Solingen 51 Surwold 69
Anhang
Vechta 254 Versen 37, 58, 60, 66, 125 f.,138 f. Walchum 11, 57, 64 Werlte 67 Wesuwe 37, 58, 83 f., 87 f., 124, 138 f., 152 f. Wietmarschen 31*, 37, 65*, 83 f., 106, 114 f., 138 f. Wilhelmshaven 70 Wolfenbüttel 95