Sowjetische Verbrechen und russische Erinnerung: Orte – Akteure – Deutungen 9783486857580, 9783486741964

This work adopts an unusual perspective. Rather than looking at a general remembrance of the Second World War, it explic

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German Pages 318 Year 2014

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Table of contents :
Exkulpation und Identitätsstiftung: Der Gulag in der russischen Erinnerungskultur
Räume der Trauer – Stätten, die schweigen: Symbolische Ausgestaltung und rituelle Praktiken des Gedenkens an die Opfer des Stalinistischen Terrors in Levašovo und Sandormoch
Die Russische Orthodoxe Kirche als erinnerungspolitischer Akteur (1995–2009): Der Schießplatz Butovo als Fallbeispiel für die postsowjetische Gedenkkultur
Neuvermessung und Neugestaltung eines Erinnerungsortes: Die Gedenkstätte Perm’-36
Vorkuta: GULag und Kohlebergbau aus Sicht konkurrierender und kooperierender Erinnerungsakteure
Aktivisten des Andenkens: Die Gesellschaft Memorial – Ziele, leitende Thesen und Denkmuster
Heute auf den Solovki – morgen in Russland. Die Spurensuche des Fotografen und Regionalhistorikers Jurij Arkad’evic Brodskij
Verletzliche Weiblichkeit verweigern. Die Bildchronik der Evfrosinija Kersnovskaja als Selbstzeugnis und Erinnerungsort
Die Stalinzeit im russischen Postperestroika-Film: Zwischen nationaler Sinnstiftung, Sowjetnostalgie und melodramatischen Kassenschlagern
Die Geschichte des GULag im Russischen Internet (RuNet): Möglichkeiten und Grenzen virtueller Erinnerungskulturen
Geschichtspolitik und Identität: Eine sozialpsychologische (Re-)Interpretation russischer Erinnerungskulturen am Beispiel zweier post-sowjetischer Erinnerungsorte
Danksagung
Autorenverzeichnis
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Sowjetische Verbrechen und russische Erinnerung: Orte – Akteure – Deutungen
 9783486857580, 9783486741964

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Jörg Ganzenmüller und Raphael Utz (Hrsg.) Sowjetische Verbrechen und russische Erinnerung

Europas Osten im 20. Jahrhundert

| Schriften des Imre Kertész Kollegs Jena Herausgegeben von Włodzimierz Borodziej und Joachim von Puttkamer

Band 4

Sowjetische Verbrechen und russische Erinnerung | Orte – Akteure – Deutungen Herausgegeben von Jörg Ganzenmüller und Raphael Utz

Das Imre Kertész Kolleg Jena „Europas Osten im 20. Jahrhundert. Historische Erfahrungen im Vergleich“ an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, ist ein Institute for Advanced Study zur Geschichte des östlichen Europas im 20. Jahrhundert. Das Kolleg unter der Leitung von Prof. Dr. Włodzimierz Borodziej und Prof. Dr. Joachim von Puttkamer wurde im Oktober 2010 als neuntes Käte Hamburger Kolleg des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) gegründet.

ISBN 978-3-486-74196-4 e-ISBN (PDF) 978-3-486-85758-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-039900-4 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2014 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH Rosenheimer Straße 143, 81671 München, Deutschland Ein Unternehmen von De Gruyter Satz: PTP-Berlin, Protago-TEX-Production GmbH, Berlin Druck und Bindung: CPI buch bücher.de GmbH, Birkach ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt Jörg Ganzenmüller und Raphael Utz Exkulpation und Identitätsstiftung: Der Gulag in der russischen Erinnerungskultur

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Ekaterina Makhotina Räume der Trauer – Stätten, die schweigen: Symbolische Ausgestaltung und rituelle Praktiken des Gedenkens an die Opfer des Stalinistischen Terrors in Levašovo und Sandormoch 31 Margarete Zimmermann Die Russische Orthodoxe Kirche als erinnerungspolitischer Akteur (1995–2009): Der Schießplatz Butovo als Fallbeispiel für die postsowjetische Gedenkkultur 59 Immo Rebitschek Neuvermessung und Neugestaltung eines Erinnerungsortes: Die Gedenkstätte Perm’-36 91 Rosanna Dom, Thomas Milde und Markus Wollny Vorkuta: GULag und Kohlebergbau aus Sicht konkurrierender und kooperierender Erinnerungsakteure 109 Anna Schor-Tschudnowskaja Aktivisten des Andenkens: Die Gesellschaft Memorial – Ziele, leitende Thesen und Denkmuster 137 Katharina Haverkamp Heute auf den Solovki – morgen in Russland. Die Spurensuche des Fotografen und Regionalhistorikers Jurij Arkad’evič Brodskij 161 Aglaia Wespe Verletzliche Weiblichkeit verweigern. Die Bildchronik der Evfrosinija Kersnovskaja als Selbstzeugnis und Erinnerungsort

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VI | Inhalt Liliya Berezhnaya Die Stalinzeit im russischen Postperestroika-Film: Zwischen nationaler Sinnstiftung, Sowjetnostalgie und melodramatischen Kassenschlagern

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Martin Müller-Butz und Christian Werkmeister Die Geschichte des GULag im Russischen Internet (RuNet): Möglichkeiten und Grenzen virtueller Erinnerungskulturen 217 Elke Fein Geschichtspolitik und Identität: Eine sozialpsychologische (Re-)Interpretation russischer Erinnerungskulturen am Beispiel zweier post-sowjetischer Erinnerungsorte 245 307 Danksagung Autorenverzeichnis

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Jörg Ganzenmüller und Raphael Utz

Exkulpation und Identitätsstiftung Der Gulag in der russischen Erinnerungskultur

I Negatives Gedächtnis und russische Geschichtskultur Die heutige Geschichtskultur in Russland ist nach Irina Scherbakowa fragmentiert, atomisiert und zerrissen. Mancherorts wird an die Opfer der stalinistischen Verbrechen erinnert, doch eine Auseinandersetzung mit den Tätern und ihren Taten findet im Grunde nirgendwo statt. Damit fehlt in der Regel auch eine moralische, rechtliche und politische Bewertung der Massenverbrechen unter Stalin.¹ Die Geschichte des Gulag wiederum spielt innerhalb dieser begrenzten gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit der stalinistischen Vergangenheit nur eine marginale Rolle. Während der Gulag im Westen gemeinhin zu den großen Gesellschaftsverbrechen des 20. Jahrhunderts gezählt wird, findet in Russland nur eine rudimentäre Aufarbeitung der Geschichte des sowjetischen Lagersystems statt.² Im postsowjetischen Russland hat sich bis heute kein „negatives Gedächtnis“ an den Gulag herausgebildet. „Negatives Gedächtnis“ kann zunächst zweierlei bedeuten: Nach Reinhart Koselleck bezeichnet der Begriff entweder das Negative im Gedächtnis, also seinen abstoßenden und verachtenswerten Inhalt, oder er beschreibt den Umstand, dass das Gedächtnis sich der Erinnerung sperrt und sich

1 Irina Scherbakowa: Dimensionen und Konflikte russischer Erinnerungskultur, in: Włodzimierz Borodziej/Joachim von Puttkamer (Hrsg.): Europa und sein Osten. Geschichtskulturelle Herausforderungen. München 2012, S. 117–130, hier 129. 2 Vgl. u.a. Nicolas Werth: Ein Staat gegen sein Volk. Gewalt, Unterdrückung und Terror in der Sowjetunion, in: Stéphan Courtois u.a. (Hrsg.): Das Schwarzbuch des Kommunismus. Unterdrückung, Verbrechen und Terror. München 1998; Anne Applebaum: Der Gulag. Berlin 2003; Richard J. Overy: Die Diktatoren. Hitlers Deutschland, Stalins Russland. München 2005; Jörg Baberowski/Anselm Doering-Manteuffel: Ordnung durch Terror. Gewaltexzesse und Vernichtung im nationalsozialistischen und im stalinistischen Imperium. Berlin 2006; Christian Gerlach/Nicolas Werth: State Violence – Violent Societies, in: Michael Geyer/Sheila Fitzpatrick (Hrsg.): Beyond Totalitarianism. Stalinism and Nazism Compared. Cambridge 2009, S. 133–179; Timothy Snyder: Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin. München 2011.

2 | Jörg Ganzenmüller und Raphael Utz weigert, das zu Erinnernde überhaupt zur Kenntnis zu nehmen.³ Beide Definitionen ließen sich auf das russische Gedächtnis an den Gulag anwenden. Volkhard Knigge hat die Kosellecksche Begrifflichkeit weiterentwickelt. Knigge bezeichnet die selbstkritische Auseinandersetzung einer Gesellschaft mit einer Vergangenheit, in der diese Gesellschaft Massenverbrechen an Anderen oder an Teilen der eigenen Bevölkerung verübt hat, als „negative Erinnerung“. Anders als in Opfergemeinschaften wird in diesen „Tätergesellschaften“ nicht nur erlittenes Unrecht, sondern begangenes, nicht allein erfahrenes, sondern auch anderen zugefügtes Leid anerkannt und erinnert. Schuld und Verantwortung werden nicht verleugnet, abgeschoben oder überdeckt, sondern zu Anlässen kritischer gesellschaftlicher Selbstreflexion und Selbstvergewisserung. Die „negative Erinnerung“ zielt Knigge zufolge somit stets auf den Aufbau und die Stabilisierung einer demokratischen Gesellschaftsordnung durch eine Auseinandersetzung mit Verbrechen der Vergangenheit.⁴ Inwieweit ist ein solches Konzept, das explizit entlang der deutschen Auseinandersetzung mit seiner nationalsozialistischen Vergangenheit entwickelt wurde, für die russische Erinnerung an den Gulag fruchtbar zu machen? Man kann die Tatsache, dass das postsowjetische Russland keine „negative Erinnerung“ ausgebildet hat, als Defizit postulieren und Deutschland dem als positives Beispiel gegenüberstellen. Eine solche Vorgehensweise setzt sich nicht zu Unrecht dem Vorwurf aus, eine „deutsche Norm“ der Aufarbeitung von Gesellschaftsverbrechen zu errichten. Zudem bedient ein Postulat, das den deutschen Umgang mit der NS-Vergangenheit zur einzig zeitgemäßen Form der Auseinandersetzung mit Gesellschaftsverbrechen erhebt, den klassischen Rückständigkeitstopos: Die russische Erinnerungskultur habe noch keinen Weg zur „richtigen Erinnerung“ gefunden, was nicht zuletzt durch die allgemeine Unterentwicklung eines demokratischen Rechtsstaates und eine seit jeher mangelhafte Anerkennung der Menschenrechte bedingt sei.⁵ Ein solcher Blick auf die russische Erinnerungs-

3 Reinhart Koselleck: Formen und Traditionen des negativen Gedächtnisses, in: Volkhard Knigge/Norbert Frei (Hrsg.): Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord. Bonn 2005, S. 21–32, hier 21. 4 Volkhard Knigge: Gesellschaftsverbrechen erinnern. Zur Entstehung und Entwicklung des Konzepts seit 1945, in: ders./Ulrich Mählert (Hrsg.): Der Kommunismus im Museum. Formen der Auseinandersetzung in Deutschland und Ostmitteleuropa. Köln/Weimar/Wien 2005, S. 19–30, hier 23. 5 In der westlichen Literatur gibt es mitunter die Tendenz, der russischen Erinnerung an den Stalinismus eine „Unterentwicklung“ zu attestieren, die stark an das klassische Rückständigkeitsmotiv westlicher und insbesondere deutscher Russlandanalysen erinnert, so zum Beispiel bei

Der Gulag in der russischen Erinnerungskultur

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kultur mündet zwangsläufig in der Frage, wann Russland auch den deutschen Weg zur Aufarbeitung seiner stalinistischen Vergangenheit beschreiten werde. Eine derartige Bevormundung kann nicht das Ziel wissenschaftlicher Arbeit sein. Insofern ist die Annahme einer quasi natürlichen Entwicklung historischer Erinnerung von Gesellschaftsverbrechen ebenso wie die Festschreibung der deutschen Form des Umgangs mit dem Nationalsozialismus zur Norm, an der sich andere Gesellschaften zu messen haben, von Grund auf verfehlt.⁶ Andererseits ist das Postulat, das dieser normativen Sicht häufig entgegengehalten wird, nämlich den osteuropäischen Gesellschaften ihre „Defizite“ in der Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit nachzusehen, da diese in ihrer gesellschaftlichen Entwicklung noch nicht so weit seien, letztlich den gleichen Vorstellungen von Fortschritt und Rückständigkeit verhaftet; sie begegnen der konstatierten erinnerungskulturellen Rückständigkeit Russlands oder ganz Osteuropas lediglich mit mehr Nachsicht und Verständnis. Der wie auch immer geartete paternalistische Blick auf das rückständige östliche Europa verrät letztlich mehr über das deutsche Selbstbild als über die russische Erinnerungskultur. Gerade der von Jörn Rüsen so maßgeblich geprägte Begriff der „Geschichtskultur“ kommt im Wesentlichen ohne den Referenzrahmen der Nation aus und repräsentiert damit in gewisser Weise eine ganz besonders deutsche Wissenschaftstradition.⁷ Dieser entnationalisierte akademische Germanozentrismus ist auch im westlichen Ausland keineswegs Konsens. Von einer „deutsche Erinnerungsnorm“ ausgehen zu wollen, hieße zudem zu übersehen, dass die „negative Erinnerung“ an den Nationalsozialismus in Deutschland nicht am 9. Mai 1945 begann, sondern sich langsam herausbildete und dafür bestimmter Voraussetzungen bedurfte, insbesondere den Umstand einer totalen Niederlage und die Bedingungen eines besetzten und zunächst nicht souveränen Staates, in dem die Besatzungsmächte die Bevölkerung zunächst dazu nötigten, sich mit den Verbrechen des vergangenen Krieges auseinanderzusetzen.⁸ Das

Nina A. Frieß: Nichts ist vergessen, niemand ist vergessen? Erinnerungskultur und kollektives Gedächtnis im heutigen Russland. Potsdam 2010, S. 118. 6 Vgl. Klaus-Dietmar Henke: Bitte kein deutsches Urmeter. Herausforderungen im Umgang mit der kommunistischen Vergangenheit in Ostmitteleuropa, in: Volkhard Knigge/Ulrich Mählert (Hrsg.): Der Kommunismus im Museum. Formen der Auseinandersetzung in Deutschland und Ostmitteleuropa. Köln/Weimar/Wien 2005, S. 101–105. 7 Vgl. Jörn Rüsen: Was ist Geschichtskultur? Überlegungen zu einer neuen Art, über Geschichte nachzudenken, in: ders./Theo Grütter/Klaus Füßmann (Hrsg.): Historische Faszination. Geschichtskultur heute. Köln u.a. 1994, S. 3–26. 8 Vgl. u.a. Norbert Frei: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NSVergangenheit. München 1996; Peter Reichel: Vergangenheitsbewältigung in Deutschland. Die Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur von 1945 bis heute. München 2001.

4 | Jörg Ganzenmüller und Raphael Utz deutsche Beispiel lehrt also auch, dass eine demokratische Öffentlichkeit zwar die Voraussetzung für eine selbstkritische Auseinandersetzung mit den Gesellschaftsverbrechen der Vergangenheit ist, doch diese nicht zwangsläufig zu einer geschichtlichen Aufarbeitung führt.⁹ Ist es also – wie Jutta Scherrer schreibt – tatsächlich nicht angebracht, im Namen einer anscheinend gelungenen deutschen „Vergangenheitsbewältigung“ Russland gut gemeinte Ratschläge zu geben?¹⁰ Besteht wirklich – wie Aleida Assmann feststellt – ohne die Zäsur einer militärischen Niederlage und ohne den entsprechenden Außendruck kein Bedürfnis in der russischen Gesellschaft, die eigenen Gesellschaftsverbrechen aufzuarbeiten oder sich ihrer zu erinnern?¹¹ Ist eine Analyse, die Russland ein Demokratiedefizit bescheinigt und den Grad der Aufarbeitung der sowjetischen Vergangenheit geradezu als Gradmesser für die Demokratisierung in Russland sieht, tatsächlich nur dem westlichen Blick geschuldet?¹² Letztere Frage kann man verneinen, denn auch in Russland gibt es Stimmen, die einen direkten Zusammenhang zwischen fehlender Auseinandersetzung mit den stalinistischen Verbrechen und den Überhängen der sowjetischen politischen Kultur im heutigen Russland sehen.¹³ Die fehlende Auseinandersetzung mit den Gesellschaftsverbrechen während des Stalinismus und der Rückbau demokratischer Strukturen unter Putin können also durchaus

9 In Spanien war zum Beispiel der Übergang zur Demokratie gerade nicht mit einer öffentlichen Aufarbeitung der Franco-Diktatur verbunden, vgl. Paloma Aguilar Fernández: Memory and amnesia. The role of the Spanish Civil War in the transition to democracy. New York 2002; Julia Macher: Verdrängung um der Versöhnung willen? Die geschichtspolitische Auseinandersetzung mit Bürgerkrieg und Franco-Diktatur in den ersten Jahren des friedlichen Übergangs von der Diktatur zur Demokratie in Spanien (1975–1978). Bonn-Bad Godesberg 2002; Ignacio Olmos/Nikky KeilholzRühle (Hrsg.): Kultur des Erinnerns. Vergangenheitsbewältigung in Spanien und Deutschland. Frankfurt a. M. 2009. 10 Jutta Scherrer: Erinnern und Vergessen. Russlands Umgang mit (seiner) Geschichte in einer europäischen Perspektive, in: Lars Karl/Igor Polianski (Hrsg.): Geschichtspolitik und Erinnerungskultur im neuen Russland. Göttingen 2009, S. 23–40, hier 38. 11 Aleida Assmann: Auf dem Weg zu einer europäischen Gedächtniskultur? Wien 2012, S. 40. 12 So sieht zum Beispiel Andreas Langenohl die Vergangenheitsdiskurse als Indikator für den Transformationsprozess der politischen Kultur in Russland und Ausweis für den Stand der Modernisierung der russischen Gesellschaft, vgl. Andreas Langenohl: Erinnerung und Modernisierung. Die öffentliche Rekonstruktion politischer Kollektivität am Beispiel des Neuen Russland. Göttingen 2000. 13 Vgl. u.a. Das Jahr 1937 und die Gegenwart. Thesen von MEMORIAL, in: Osteuropa 57, 6 (2007), S. 387–394; Galina Michaleva: Vergangenheitsbewältigung als Voraussetzung für die Modernisierung Russlands, in: Wolfgang Stephan Kissel/Ulrike Liebert (Hrsg.): Perspektiven einer europäischen Erinnerungsgemeinschaft. Nationale Narrative und transnationale Dynamiken seit 1989. Berlin u.a. 2010, S. 47–58.

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in einem Zusammenhang gesehen werden. Ein westlicher Blick auf die russische Erinnerungskultur steht jedoch notgedrungen vor dem Problem, den Besonderheiten dieser Erinnerungskultur gerecht werden zu müssen und gleichzeitig den kulturell verbrämten Schutzbehauptungen einer Gesellschaft, die sich nicht selbstkritisch mit den verbrecherischen Seiten der eigenen Vergangenheit auseinandersetzen möchte, nicht auf den Leim gehen zu dürfen. Es wäre also gewiss verfehlt, den Stand der deutschen Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen zum Maßstab für eine russische Erinnerungskultur zu machen. Eine „negative Erinnerung“, wie sie sich in Deutschland herausgebildet hat, ist im internationalen Vergleich vorbildlos und einzigartig. Sie ist eine permanente Selbstverständigung einer Gesellschaft über ihre moralischen und politischen Grundlagen und trägt zur Verankerung der Demokratie bei.¹⁴ Eine öffentliche Debatte über Menschenwürde und Menschenrechte in historischer Perspektive und als Voraussetzung für eine demokratische Gesellschaft gehört zu den fundamentalen Bedingungen, unter denen sich ein „negatives Gedächtnis“ ausbilden kann. In Russland sind diese Bedingungen gegenwärtig nicht gegeben. Kritische gesellschaftliche Selbstreflexion bedarf einer Öffentlichkeit, und diese ist in den letzten Jahren konsequent beschnitten worden. Dennoch kann ein Band wie dieser sich der Frage nach gesamtgesellschaftlichen Entwicklungspotentialen nicht gänzlich entziehen. So steht am Ende dieses Buches und gleichsam als provokanter Kontrapunkt der Beitrag von Elke Fein, der sich an einer Prognose versucht und dabei bemüht, die kulturelle Prägung des wissenschaftlichen Instrumentariums zu reflektieren und in Teilen neu und neutraler zusammenzusetzen.¹⁵ Denn: Es gibt in Russland zivilgesellschaftliche Kräfte wie Memorial, die sich eine ähnliche Erinnerungskultur wünschen und sich für eine selbstkritische Auseinandersetzung mit dem Stalinismus einsetzen. Der russischen Gesellschaft per se die Fähigkeit zur Herausbildung eines negativen Gedächtnisses abzusprechen hieße, diese engagierten Initiativen geringzuschätzen. Gleichzeitig darf eine gewisse Sympathie für zivilgesellschaftliche Akteure nicht in eine unkritische Betrachtung deren Tätigkeit oder gar in eine hagiographische Verehrung umschlagen. Vielmehr ist zu fragen, welche spezifischen Deutungen des Gulag gesellschaftliche Akteure vertreten und in welcher Weise diese mit der staatlichen

14 Volkhard Knigge: Statt eines Nachworts: Abschied der Erinnerung. Anmerkungen zum notwendigen Wandel der Gedenkkultur in Deutschland, in: ders./Norbert Frei (Hrsg.): Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord. Bonn 2005, S. 443–460, hier 444f. 15 Siehe den Beitrag von Elke Fein.

6 | Jörg Ganzenmüller und Raphael Utz Geschichtspolitik korrespondieren: Sei es, dass sie sich von deren Narrativen abgrenzen, diese in ihre Interpretation integrieren oder noch in der Ablehnung eine ganz ähnliche Grundvorstellung der russischen Gesellschaft erkennbar wird. Ein Beispiel: In den letzten Jahren ist in Russland eine ganze Reihe von Dokumentationsbänden erschienen, die – in verschiedenen Regionen – die sowjetische Geschichte in den Blick nehmen.¹⁶ Eine überraschend große Anzahl dieser Bände trägt den Titel vlast’ i obščestvo. Interlinear übersetzt heißt dies „Macht und Gesellschaft“, obwohl wir – vermutlich – die Übersetzung „Staat und Gesellschaft“ wählen würden. Nur: ist das die richtige Übersetzung? Was wird in Russland unter „Gesellschaft“ verstanden, und in welchem Verhältnis steht sie zu Staat und staatlicher Macht? Es muss wohl eingeräumt werden, dass die Vorstellungen von Gesellschaft in Russland und im Westen unterschiedliche sind. Dies wirft freilich die Frage auf, wie weit westliche Begrifflichkeiten, etwa vom Zusammenhang zwischen Gesellschaft und Öffentlichkeit, die russische Situation überhaupt erschließen können. Mindestens ebenso gravierend ist freilich, dass westliche Konzepte und Begriffe in Russland nicht immer verstanden werden, gerade weil zum großen Teil dieselben Worte Verwendung finden. Diese grundlegenden Schwierigkeiten treffen nicht nur auf die kritische Auseinandersetzung mit dem russischen Staat als geschichtspolitischem Akteur zu, sondern auch auf die Würdigung der beeindruckenden Anstrengungen staatsferner Akteure. Die westlichen Deutungen der russischen Erinnerungskultur zeichnen sich zudem durch eine eingeschränkte Perspektive aus. Gegenstand vieler Untersuchungen ist in der Regel weniger der gesellschaftliche Umgang mit der stalinistischen Vergangenheit, sondern die staatliche Geschichtspolitik.¹⁷ Zweifellos ist der russische Staat der mächtigste geschichtspolitische Akteur, der den Blick auf die russische und sowjetische Geschichte maßgeblich prägt. Und aufgrund der

16 Zum Beispiel: Roman Boldyrev (Hrsg.): Vlast’ i obščestvo v uslovijach diktatury. Istoričeskij opyt SSSR i GDR 1945–1965. Materialy naučno-praktičeskoj konferencii (Archangel’sk, 12–16 sentjabrja 2007 g.), Archangel’sk 2009; Veniamin Alekseev (Hrsg.): Obščestvo i vlast’. Rossijskaja provincija 1917–1985, Dokumenty i materialy, 2 Bde. Ekaterinburg 2008; Vladimir P. Dimitrenko (Hrsg.): Vlast’ i obščestvo v SSSR. Politika repressij 20–40-e gg. Sbornik statej. Moskau 1999; Arkadij Kulakov (Hrsg.): Obščestvo i vlast’. Rossijskaja provincija 1917–1980-e gody po materialam nižegorodskich archivov, 5 Bde., Moskau 2002–2008. 17 Zur Neuorientierung der staatlichen Geschichtspolitik in der Ära Jelzin vgl. Kathleen E. Smith: Mythmaking in the New Russia. Politics and Memory during the Yeltsin Era. Ithaca/London 2002. Zur Entwicklung seit der ersten Präsidentschaft Putins vgl. Rainer Lindner: Putins Geschichtspolitik. Die Inszenierung der Vergangenheit in Russland, in: Internationale Politik 8 (2006), S. 112–120; Zaur Gasimov: Russlands staatlicher Umgang mit der Stalinismus-Zeit, in: Jahrbuch für Politik und Geschichte 1 (2010), S. 87–110; Stefan Creuzberger: Stalinismus und Erinnerungskultur, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 49–50 (2011), S. 42–47.

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starken Elitenkontinuität im postsowjetischen Russland gab es staatlicherseits zu keiner Zeit ein übergeordnetes Interesse, die sowjetische Geschichte selbstkritisch zu beleuchten. Schließlich war die offene Auseinandersetzung mit den stalinistischen Verbrechen zu Zeiten von Glasnost’ und in den frühen 90er Jahren nicht vom Staat ausgegangen, sondern geschah auf Initiative von Journalisten und zivilgesellschaftlichen Akteuren, die die Möglichkeiten der neuen Pressefreiheit nutzten.¹⁸ Unter der Präsidentschaft Putins setzte sich das gegenteilige Konzept einer „negativen Vergangenheit“ durch. Die Jugend solle demnach gerade nicht mit einem negativen Pathos erzogen werden, der letztlich nur die Abwanderung in den Westen fördere, sondern vielmehr zum Stolz auf die russische Heimat, deren Geschichte zwar Fehlschläge und Katastrophen aufweise, sich darin aber nicht von der anderer Länder unterscheide.¹⁹ Geschichtslehrbücher vermitteln denn auch häufig eine positive Erzählung, die sich an die Gefühle der Schüler richtet und eine Identifikation mit der Nation einfordert.²⁰ Diese Beharrlichkeit der Nation als Rahmen auch für die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit und Leitschnur der Geschichtsschreibung äußert sich dabei keineswegs nur in den Setzungen des Staates. Geschichte wird in Russland und in weiten Teilen Osteuropas nach wie vor als Nationalgeschichte verstanden. Über entnationalisierte Geschichtsbilder wird in Russland noch nicht einmal diskutiert – oder sie werden als Angriff „des Westens“ auf Russland interpretiert. Solche signifikanten und grundlegenden Unterschiede in der Art und Weise, wie erinnert wird, müssen bei einer Betrachtung der russischen Erinnerungskultur Beachtung und kritische Würdigung finden, markieren sie schließlich nicht zuletzt die Reichweite deutscher Analyseinstrumente. Zu akzeptieren, dass in Russland nach wie vor Nationalgeschichte geschrieben wird, ist unumgänglich. Was es zu beobachten und zu reflektieren gilt, ist der nichts weniger als bemerkenswerte Versuch, die Erfahrungen der sowjetischen Gesellschaftsverbrechen in eine nationale Meistererzählung

18 Vgl. Elke Fein: Geschichtspolitik in Russland. Chancen und Schwierigkeiten einer demokratischen Aufarbeitung der sowjetischen Vergangenheit am Beispiel der Tätigkeit der Gesellschaft MEMORIAL. Münster/Hamburg/London 2000, S. 98–118; Isabelle de Keghel: Die Rekonstruktion der vorsowjetischen Geschichte. Identitätsdiskurse im neuen Russland. Hamburg 2006, S. 134– 140; Joachim Hösler: Perestroika und Historie. Zur Erosion des sowjetischen Geschichtsbildes, in: Helmut Altrichter (Hrsg.): GegenErinnerung. Geschichte als politisches Argument im Transformationsprozess Ost-, Ostmittel- und Südosteuropas. München 2006, S. 1–25. 19 Irina Ščerbakova: Erinnerung in der Defensive. Schüler in Russland über Gulag und Repressionen, in: Osteuropa 57, 6 (2007), S. 409–420, hier 418f. 20 Galina Zvereva: Die Konstruktion einer Staatsnation: Geschichtslehrbücher für das neue Russland, in: Lars Karl/Igor J. Polianski (Hrsg.): Geschichtspolitik und Erinnerungskultur im neuen Russland. Göttingen 2009, S. 87–118, hier 98.

8 | Jörg Ganzenmüller und Raphael Utz einzubinden. Es liegt auf der Hand, dass genau dieser Umstand die Herausbildung einer nationalen Opfererzählung begünstigt und Fragen nach der sozialen Basis von Gewalt – oder deren ethnisch-imperiale Unwucht – nicht im Vordergrund stehen. Insofern verwundert es eben nicht, dass der russische Staat bis heute keine Verantwortung für die Erinnerung an die Verbrechen der Stalin-Zeit übernommen hat, und auch in der russischen Gesellschaft überwiegt der Reflex der Verdrängung. Der Zusammenhang mit dem gültigen Dogma der heroischen Nationalgeschichte ist nicht zu übersehen: Die Opfer des Gulag und deren Nachkommen sind mit ihrer Erinnerung deshalb in der Regel allein.²¹ Die Fixierung auf die staatliche Geschichtspolitik, die sich aus den gerade beschriebenen Gründen andere Gegenstände als die stalinistischen Massenverbrechen sucht, setzt diese mitunter mit der russischen Erinnerungskultur gleich. Dabei werden allerdings zumeist eben nicht Erinnerungskulturen verglichen, sondern Narrative. Die Gefahr ist groß, dass ein derart staatszentrierter Narrativvergleich zu beinahe ritualisiertem Erschrecken im Westen und zu reflexhaftem und abwehrendem Unverständnis in Russland selbst führt – und damit letztlich keine Ergebnisse außer den erwarteten zeitigt: Die Erinnerung an den „Großen Vaterländischen Krieg“ dominiere das russische Gedächtnis und dieses Heldengedenken lasse keinen Platz für die Erinnerung an die stalinistischen Verbrechen. Entsprechend steht der „Große Vaterländische Krieg“ im Mittelpunkt der meisten Studien zur russischen Erinnerungskultur.²² Zweifellos bildet der Zweite Weltkrieg seit 1995 das Zentrum der staatlichen Geschichtspolitik, doch dominiert er damit auch die russische Erinnerungskultur? Wie übt die Erzählung vom Krieg diese Dominanz aus? Verdrängt sie andere Themen der sowjetischen Vergangenheit oder amalgamiert sie insbesondere mit der Geschichte des Stalinismus zu einem vielfach überzeugenden Narrativ?

21 Aleida Assmann: Auf dem Weg zu einer europäischen Gedächtniskultur? Wien 2012, S. 40. Typische Beispiele für die Verdrängung der eigenen Lagererfahrung durch Opfer und Täter zeigt Orlando Figes: Die Flüsterer. Leben in Stalins Russland. Berlin 2008, S. 880–900. 22 Vgl. u.a. Nina Tumarkin: The Living and the Dead. The Rise and Fall of the Cult of World War II in Russia. New York 1994; Jutta Scherrer: Sowjetunion/Russland – Siegesmythos versus Vergangenheitsaufarbeitung, in: Monika Flacke (Hrsg.): Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen. Berlin 2005, S. 619–670; Irina Scherbakowa: Ein glorifizierter Sieg. Der Zweite Weltkrieg im russischen Gedächtnis, in: dies.: Zerrissene Erinnerung. Der Umgang mit Stalinismus und Zweitem Weltkrieg im heutigen Russland. Göttingen 2010, S. 7–61; Beate Fieseler/Jörg Ganzenmüller (Hrsg.): Kriegsbilder. Mediale Repräsentationen des ,Großen Vaterländischen Krieges‘. Essen 2010.

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Die Geschichtspolitik des Kremls ist zudem nicht identisch mit der Erinnerungskultur Russlands.²³ Die erinnerungskulturelle Landschaft in Russland ist weitaus vielfältiger als es die staatliche Geschichtspolitik Glauben machen möchte. Sie setzt sich aus ganz unterschiedlichen Akteuren zusammen und findet an zahlreichen Orten, nicht nur in den Zentren des Landes oder in den vom Staat kontrollierten Medien, statt. Es hieße, die gesellschaftlichen Kräfte Russlands zu unterschätzen, wenn man diese Orte und Akteure nicht berücksichtigen würde. Dieser Band hat sich deshalb zur Aufgabe gemacht, unterschiedliche Orte der russischen Erinnerungskultur und die dort wirkenden Akteure in den Blick zu nehmen. Drei Leitfragen stehen dabei im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses:

An welchen Orten findet eine Auseinandersetzung mit der Geschichte des Gulag jenseits des Staates statt? Der „Archipel Gulag“ war über das ganze Land verteilt, und bis heute prägt diese Vergangenheit viele Städte und Landschaften. Magadan wäre ohne die Lager an der Kolyma nicht gegründet worden, der Ostsee-Weißmeer-Kanal würde nicht existieren und die Solovecker Inseln wären nur aufgrund ihres alten Klosters bekannt. Gerade an den Orten des Geschehens, jenseits der Metropolen Moskau und St. Petersburg und unter dem Radar einer landesweiten Öffentlichkeit, findet häufig eine rege Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte statt. Nicht zuletzt der Schülerwettbewerb von Memorial zeigt, dass die regionale Vergangenheit die Fragen der jungen Generation prägt: Während in russischen Dörfern die Folgen der Kollektivierung für die Familiengeschichte im Vordergrund stehen, stößt an ehemaligen Lagerstandorten besonders die Geschichte des Gulag auf das Interesse der Jugendlichen.²⁴ Und so ergreifen an vielen Orten gesellschaftliche Organisationen, Künstler sowie Repressionsopfer und deren Angehörige die Initiative und setzen einen Prozess in Gang, der zu ganz unterschiedlichen Formen des Erinnerns an den Gulag führt: Sei es in Form eines großen Denkmals, der Er-

23 Andreas Langenohl konstatiert sogar eine Gespaltenheit zwischen politischer Massen- und Elitenkultur, vgl. Andreas Langenohl: Patrioten, Verräter, genetisches Gedächtnis. Der Große Vaterländische Krieg in der politischen Deutungskultur Russlands, in: Martina Ritter/Barbara Wattendorf (Hrsg.): Sprünge, Brüche, Brücken. Debatten zur politischen Kultur in Russland aus der Perspektive der Geschichtswissenschaft, Kultursoziologie und Politikwissenschaft. Beiträge einer internationalen und interdisziplinären Tagung. Berlin 2002, S. 121–138. 24 Vgl. Irina Scherbakowa: Von Mythen und Tatsachen. Eine neue Generation fragt nach, in: dies. (Hrsg.): Russlands Gedächtnis. Jugendliche entdecken vergessene Lebensgeschichten. 3. Aufl. Hamburg 2004, S. 15–28, hier 22.

10 | Jörg Ganzenmüller und Raphael Utz richtung einer Gedenkstätte oder eines Museums oder nur der Versuch, die noch vorhandenen Spuren und Überreste zu sichern und zu konservieren. An die Beobachtung, dass die gesellschaftliche Aufarbeitung der stalinistischen Vergangenheit häufig durch regionale Akteure initiiert wird, schließt sich die zweite Leitfrage an:

Welche Akteure setzen sich an diesen Orten mit der Geschichte des Gulag auseinander? Oft sind es Einzelkämpfer, die auf dem Gelände ehemaliger Lager oder an anderen Orten stalinistischer Massengewalt die Überreste zu sichern versuchen und das Geschehene nicht dem Vergessen Preis geben wollen. Meist sind sie bei ihrer selbst gewählten Aufgabe auf sich allein gestellt, häufig begegnen ihnen politische Widerstände. Mitunter erhalten sie aber auch finanzielle und organisatorische Unterstützung seitens der lokalen Verwaltung. Staatliches, gesellschaftliches und privates Engagement gehen hier mitunter Hand in Hand.²⁵ Der Blick auf die lokale Ebene lohnt also, da sich hier die häufig postulierte Dichotomie von staatlicher Geschichtspolitik und gesellschaftlicher Erinnerungsinitiativen aufzulösen scheint. Es wäre allerdings naiv, von einer Vielzahl der Orte und Akteure auf eine Zivilgesellschaft zu schließen, in der die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit nach westlichen Vorstellungen verläuft. Die unterschiedlichen Akteure haben vielmehr eigene Interessen und sind Träger ganz unterschiedlicher Geschichtsbilder. Deshalb lautet die dritte Leitfrage:

Welche Deutungen vertreten diese Akteure und wie lassen sich diese spezifischen Sichtweisen erklären? Die Akteure, ihre Vorstellungen von der Vergangenheit und die Formen ihrer aktiven Auseinandersetzung mit dieser Vergangenheit stehen somit im Mittelpunkt des vorliegenden Bandes. Ziel ist es, die russische Erinnerung an den Gulag in ihrer Vielfalt zu zeigen und gleichzeitig auf interpretatorische Einseitigkeiten und inhaltliche Leerstellen aufmerksam zu machen.

25 Vgl. Natal’ja Konradova: Suche nach der Form. Gulag-Denkmäler in Russland, in: Osteuropa 57, 6 (2007), S. 421–430.

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II Orte und Akteure Der erste Gedenkstein zur Erinnerung an den Gulag wurde 1988 in Vorkuta aufgestellt. 1989 kamen weitere Denkmäler hinzu, nicht zuletzt auf den Solovecker Inseln, wo ein naturbelassener Stein an das erste sowjetische Lager erinnert, das dort 1923 als „Besserungslager“ errichtet wurde und als „Schule des Gulag“ gilt. 1990 wurde im Zentrum Moskaus auf dem Lubjanka-Platz vor dem Hauptsitz des sowjetischen Geheimdienstes und anstelle einer Statue Feliks Dzeržinskijs, dem Gründer der Čeka, ein Findling von den Solovki zum Gedenken an die Opfer politischer Repression gesetzt. Heute gibt es insgesamt fünf Solovki-Gedenksteine: jene auf den Inseln selbst, zwei in Moskau und je einen in St. Petersburg und Archangel’sk. Initiiert wurden diese Denkmalssetzungen von gesellschaftlichen Organisationen, insbesondere von Memorial.²⁶ Die 1988 gegründete „Internationale Gesellschaft Memorial“ war in den Jahren von Glasnost‘ sowie den frühen 90er Jahre der wirkungsmächtigste Akteur bei der Aufklärung über die stalinistischen Massenverbrechen und ist bis heute die größte und bekannteste zivilgesellschaftliche Organisation, die sich dem Andenken an die Opfer des Stalinismus widmet.²⁷ Das monumentalste Gulag-Denkmal ist die „Maske der Trauer“, ein Stahlbetonmonument von 15 Metern Höhe, das in Magadan errichtet wurde. Es entstand ˙ auf Initiative des Bildhauers Ernst Neizvestnij, der Anfang der 1990er Jahre ein „Dreieck des Gedenkens“ mit drei Denkmälern in Form riesiger Masken in Vorkuta, Magadan und Ekaterinburg entworfen hatte. Die einzige Maske, die tatsächlich errichtet wurde, steht in Magadan.²⁸ An den meisten anderen Standorten ehemaliger Lager ist die Erinnerung an den Gulag hingegen marginalisiert. Sofern es Ausstellungen gibt, befinden sie sich nicht an den historischen Orten, sondern in den heimatkundlichen Museen der Region. Sie entstanden in der Regel Anfang der 1990er Jahre und wurden mit geringem Budget und einfachsten Mitteln zu-

26 Konradova, Suche nach der Form, S. 421–430. 27 Zu Memorial vgl. Fein, Geschichtspolitik in Rußland; Nanci Adler: Victims of Soviet Terror. The Story of the Memorial Movement. Westport 1993; Kathleen E. Smith: Remembering Stalin’s Victims. Popular Memory and the End of the USSR. Ithaca/London 1996, S. 78–130; Isabelle de Keghel: Strategien des Umgangs mit den stalinistischen Repressionen in Russland seit der Perestrojka: Geschichtspolitik „von unten“, in: Jahrbuch für Politik und Geschichte 1 (2010), S. 63–86, hier 72–81. Zur Arbeit Memorials in der Fläche vgl. Elke Fein: Die Gesellschaft „Memorial“ und die postsowjetische Erinnerungskultur in Russland, in: Lars Karl/Igor Polianski (Hrsg.): Geschichtspolitik und Erinnerungskultur im neuen Russland. Göttingen 2009, S. 165–186, hier 179f. 28 Vgl. Zuzanna Bogumił: Pamięć Gułagu. Krakau 2012, S. 273–304.

12 | Jörg Ganzenmüller und Raphael Utz sammengestellt.²⁹ Eine Ausnahme stellt die Gedenkstätte zur Geschichte der politischen Repressionen „Perm‘-36“ dar. Dort wird in einem Zusammenspiel von zivilgesellschaftlicher Initiative und regionalpolitischer Unterstützung ein Museum betrieben, das die Überreste des ehemaligen Lagers zu retten versucht und eine vielfältige historische Bildungsarbeit betreibt.³⁰ Der historische Ort wird durch die Betreiber der Gedenkstätte allerdings nachhaltig verändert. Sie versuchen dem weitgehenden Verfall der baulichen Einrichtungen zu trotzen und das Lager mit Hilfe von Rekonstruktionen wiederherzustellen. Da in der Gedenkstättenarbeit ehemalige Dissidenten, die in den 1970er Jahren im Lager einsaßen, besonders aktiv sind, ist deren Perspektive nicht nur maßgeblich für die Ausstellung, sondern auch für die Veränderung des historischen Ortes. Ältere oder spätere Schichten werden nun durch Rekonstruktionen überformt oder zerstört. Eine individuelle Trauerarbeit scheint heute weniger an den Orten ehemaliger Lager stattzufinden als an Friedhöfen, auf denen Opfer des Massenterrors der dreißiger Jahre begraben wurden, so etwa in Butovo bei Moskau, in Levašovo bei St. Petersburg und in Sandomorch am Ostsee-Weißmeer-Kanal. Dort markieren Angehörige die Massengräber durch individuelle Symbole, indem sie ein Kreuz aufstellen oder eine Fotographie des dort Verscharrten an jenen Bäume befestigen, die einst gepflanzt worden waren, um die Massengräber zu kaschieren und dem Vergessen anheimfallen zu lassen.³¹ All diese Orte, seien es Vorkuta, Perm‘-36 oder die Gräber der Erschießungsopfer des Großen Terrors, wurden von zivilgesellschaftlichen Initiativen erschlossen, zu Gedenkorten ausgebaut und werden zum überwiegenden Teil auch noch heute von diesen betrieben. Memorial entdeckte nach jahrelanger Suche die Massengräber in Sandomorch und wurde dabei von der lokalen Verwaltung unterstützt. Die Gräber in Levašovo wurde von der Bürgerinitiative Poisk entdeckt und an die städtische Verwaltung übergeben, die dort eine Gedenkstätte einrichtete.³² Der Denkmalkomplex in Vorkuta wird von Memorial notdürftig gepflegt.³³ Auch die Gedenkstätte Perm‘-36 wird von einem zivilgesellschaftlichen Netzwerk

29 Vgl. Ščerbakova, Erinnerung in der Defensive, S. 417. 30 Vgl. Manuela Putz/Ulrike Huhn (Hg.): Der Gulag im russischen Gedächtnis. Forschungsergebnisse einer deutsch-russischen Spurensuche in der Region Perm. Bremen 2010; dies.: Sowjetische Straflager in der russischen Erinnerungskultur. Museen und Gedächtnisorte in der Region Perm, in: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2011, S. 257–263; Bogumił: Pamięć, Gulagu, S. 243–270. Siehe zu folgendem insbesondere den Beitrag von Immo Rebitschek in diesem Band. 31 Siehe hierzu die Beiträge von Ekaterina Makhotina und Margarete Zimmermann. 32 Siehe hierzu den Beitrag von Ekaterina Makhotina. 33 Siehe hierzu den Beitrag von Rosanna Dom, Thomas Milde sowie Markus Wollny.

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gestützt, finanziert jedoch durch die Gebietsverwaltung.³⁴ Auch wenn sich während der Präsidentschaft Putins die staatlichen Rahmenbedingungen für Gedenkstätten, die an die Verbrechen der Stalin-Zeit erinnern, deutlich verschlechtert haben,³⁵ so werden keineswegs überall gesellschaftliche Initiativen von den örtlichen Behörden nur behindert.³⁶ Zivilgesellschaftliche Initiative und staatliches Engagement können auf lokaler Ebene durchaus Hand in Hand gehen. Ekaterina Makhotina trennt in ihrem Beitrag denn auch weniger zwischen gesellschaftlichem und staatlichem Engagement, sondern sieht vor allem lokale Akteure als Initiatoren bei der Aufarbeitung der stalinistischen Massenverbrechen. Jenseits der lokalen Ebene habe allerdings weder der russische Staat, noch die russische Gesellschaft diese Initiativen aufgegriffen und zum Anlass genommen, sich über ein gesamtstaatliches Gedenken an die Verbrechen der Stalin-Zeit Gedanken zu machen.³⁷ Diese Beobachtung verweist darauf, dass eine vermeintliche Dichotomie zwischen staatlicher Geschichtspolitik und gesellschaftlicher Aufarbeitungsinitiativen zu einfach gedacht ist. Selbst Memorial sieht sich trotz staatlicher Drangsalierungen nicht als grundsätzlicher Widerpart des Staates, sondern strebt seit jeher eine Kooperation mit der Staatsmacht sowie einen Dialog mit dem Kreml an.³⁸ Aufgrund der Identifizierung mit den Opfern und deren Perspektive zeichnet Memorial ein ganz anderes Bild vom Stalinismus als die staatliche Geschichtspolitik unter Putin. Dennoch findet sich auch eine inhaltliche Parallele in der Auseinandersetzung mit den stalinistischen Massenverbrechen zwischen dem russischen Staat und Memorial. Während Memorial es sich zur Aufgabe gemacht hat, möglichst viele Opfernamen dem Vergessen zu entreißen, so verfolgt die Organisation nicht das Ziel, eine Diskussion über die Verantwortlichen der stalinistischen Massenverbrechen zu initiieren. Eine Auseinandersetzung mit der Schuld von Einzelnen wird nicht angestrebt, da man die sowjetische Führung als den eigentlich Schuldigen betrachtet.³⁹ Es ist also nicht nur der staatlichen

34 Siehe hierzu den Beitrag von Immo Rebitschek 35 Irina Scherbakowa: Dimensionen und Konflikte russischer Erinnerungskultur, in: Włodzimierz Borodziej/Joachim von Puttkamer (Hrsg.): Europa und sein Osten. Geschichtskulturelle Herausforderungen. München 2012, S. 117–130, hier 123. 36 So Natal’ja Konradova: Suche nach der Form. Gulag-Denkmäler in Russland, in: Osteuropa 57, 6 (2007), S. 421–430, hier 421f. In Vorkuta hingegen sehen sich die Aktivisten von Memorial ihre Arbeit von staatlichen Stellen erschwert, vgl. den Beitrag von Rosanna Dom, Thomas Milde sowie Markus Wollny. 37 Siehe hierzu den Beitrag von Ekaterina Makhotina 38 Siehe hierzu den Beitrag von Anna Schor-Tschudnowskaja 39 Siehe hierzu den Beitrag von Anna Schor-Tschudnowskaja.

14 | Jörg Ganzenmüller und Raphael Utz Geschichtspolitik geschuldet, dass es in Russland so gut wie kein Verständnis der stalinistischen Gewalt als Gesellschaftsverbrechen gibt, das eine selbstkritische Aufarbeitung erfordere. Es sind vielmehr Staat und Gesellschaft, die sich bis heute einer solchen Konfrontation mit den Verbrechen der Vorfahren entziehen. Hinzu kommt, dass insbesondere an jenen Orten, an denen sich einst Lager befanden, noch immer die Ansicht weit verbreitet ist, dass die Repressionen unter Stalin zwar tragisch, doch für die Industrialisierung und Modernisierung des Landes notwendig gewesen seien.⁴⁰ Vielfach ist die regionale Identität mit der Geschichte von Lager und Zwangsarbeit auf das engste verwoben. Eine Stadt wie Magadan, die erst im Zuge des Zwangsarbeitsprojekts Dal’stroj entstanden ist, kommt nicht umhin, sich zur Geschichte der Lager zu verhalten. Bereits in den Jahren der Entstalinisierung strebten die regionalen Parteiorganisationen nach einer Integration der Lagervergangenheit in die Geschichte ihrer Heimat. Die dreißiger Jahre wurden zu einer Zeit verklärt, in der die sowjetischen Menschen unter größter Kraftanstrengung die unwirtliche Natur eroberten und durch große Infrastrukturprojekte erschlossen. Die Lager wurden nicht erwähnt, sondern hinter der Chiffre „Aufbau der Region“ versteckt und zugleich legitimiert.⁴¹ Das Einschreiben in eine heroische Erfolgsgeschichte der forcierten Industrialisierung steht einer kritischen Auseinandersetzung mit den Lagern vielerorts bis heute im Wege.⁴² Die historische Legitimierung der Gewalt verwischt deren verbrecherischen Charakter, reduziert die Opfer zu menschlichen Kosten einer Fortschrittsgeschichte und erklärt Fragen nach Tätern sowie deren Verantwortung für hinfällig.⁴³ Bislang wenig beachtet hat die Forschung zur russischen Erinnerungskultur die orthodoxe Kirche, obwohl diese neben dem Staat zurzeit der einflussreichste geschichtspolitische Akteur ist. An Gedenkstätten wie Levašovo oder Sando-

40 Vgl. Arsenij Roginskij: Fragmentierte Erinnerung. Stalin und der Stalinismus im heutigen Russland, in: Osteuropa 59, 1 (2009), S. 37–44, hier 43; Ekaterina Makhotina: Stolzes Gedenken und traumatisches Erinnern. Gedächtnisorte der Stalinzeit am Weißmeerkanal. Frankfurt a. M. 2013, S. 84–87. 41 Vgl. Mirjam Sprau: Diktaturüberwindung in der Diktatur? Auflösung des sowjetischen GULag in der Entstalinisierung, in: Birgit Hofmann u.a. (Hrsg.): Diktaturüberwindung in Europa. Neue nationale und transnationale Perspektiven. Heidelberg 2010, S. 180–194, hier 190ff. Zur Konstruktion einer regionalen Identität in Magadan seit den 50er Jahren vgl. auch dies.: Entstalinisierung verortet. Die Lagerauflösung an der Kolyma, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 57 (2009), S. 535–562, hier 549–555. 42 Vgl. Makhotina, Stolzes Gedenken und traumatisches Erinnern, S. 124ff. Siehe auch den Beitrag von Rosanna Dom, Thomas Milde sowie Markus Wollny. 43 Vgl. Ekaterina Makhotina: Vom „Heldenepos“ zum „Opferort“ und zurück: Gedächtnisorte des Weißmeerkanals im heutigen Russland. Eine Lokalstudie im Medvež’egorsker Rayon, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 58 (2010), S. 70–99, hier 95f.

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morch gestaltete die Russisch-Orthodoxe Kirche von Beginn die Erinnerung an die Opfer mit, indem sie den Angehörigen eine Symbolsprache jenseits der sowjetischen Heldenverehrung bereitstellte, mit der diese ihrer Trauer um die Ermordeten Ausdruck verleihen konnten.⁴⁴ In Butovo ist die Russisch-Orthodoxe Kirche sogar der dominierende geschichtspolitische Akteur, der die stalinistische Massengewalt in eine russische Heilsgeschichte einbettet und deren Opfer als christliche Märtyrer inszeniert. Interessanterweise wird dabei eine Identität von Christentum und Russland konstruiert. So werden die stalinistischen Verbrechen gleichzeitig als Abwendung von Gott und dessen Strafe gedeutet – und außerhalb der national-religiösen Geschichte Russlands verortet. Vor diesem apokalyptischen Hintergrund erscheinen Fragen nach der gesellschaftlichen Basis der Verbrechen in der Tat irrelevant.⁴⁵ Derartige religiöse Deutungen dürften im heutigen Russland, in dem die orthodoxe Kirche für viele wieder eine moralische Instanz ist, ihre Wirkung nicht verfehlen. Die Herausbildung eines „negativen Gedächtnisses“ steht allerdings nicht auf der Agenda dieses einflussreichen geschichtskulturellen Akteurs. Da die Russisch-Orthodoxe Kirche ihr Gedenken zudem auf die Opfer konzentriert und die Frage nach den konkreten Tätern für nicht notwendig hält,⁴⁶ gibt es zurzeit keine gesellschaftliche Kraft in Russland, die die stalinistische Massengewalt als Gesellschaftsverbrechen versteht und daraus die Notwendigkeit einer kritischen Auseinandersetzung ableitet. Auch die postsowjetischen Schriftsteller haben sich des Themas Gulag bislang nicht angenommen. Dabei gibt es durchaus Vorläufer in der sowjetischen Literatur, die entgegen der staatlichen Geschichtspolitik auch die Frage nach der Verantwortung des Einzelnen verhandelt hat. Aleksandr Solženicyn zeichnete bereits in seinem „Tauwetter“-Roman „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ ein differenziertes Bild von der „Lagergesellschaft“, die er als ein Spiegelbild der sowjetischen Gesellschaft insgesamt entwirft, und er spricht darin seine Akteure selbst unter diesen extremen Bedingungen nicht von der moralischen Verantwortung für ihr Handeln frei.⁴⁷ Auch die Werke von Varlam Šalamov thematisieren die Fragilität der menschlichen Zivilisation und entziehen sich einer klaren TäterOpfer-Dichotomie.⁴⁸ Und – um ein letztes Beispiel zu nennen – Vasilij Grossman

44 Siehe hierzu den Beitrag von Ekaterina Makhotina. 45 Siehe hierzu den Beitrag von Margarete Zimmermann. 46 Siehe hierzu den Beitrag von Margarete Zimmermann. 47 Alexander Solschenizyn: Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch. München 1963. 48 Warlam Schalamow: Erzählungen aus Kolyma, 4 Bde. Berlin 2007–2011. Zu Šalamov siehe insbesondere das Themenheft der Zeitschrift Osteuropa 57, 6 (2007): Das Lager Schreiben. Varlam Šalamov und die Aufarbeitung des Gulag; Franziska Thun-Hohenstein: Überleben und Schreiben.

16 | Jörg Ganzenmüller und Raphael Utz hat in seiner Erzählung „Alles fließt“ eindrucksvoll beschrieben, wie ein Heimkehrer aus dem Lager in der nachstalinistischen Gesellschaft einen starken Rechtfertigungszwang auslöst, da seine Bekannten ihr Leben in Freiheit nicht selten mit Verrat und Opportunismus erkauft hatten. Grossmann schildert die Feindseligkeit, die einem „Opfer“ in der Gesellschaft des „Tauwetters“ entgegenschlagen konnte, da er die lebende Anklage für die Anpassung der Davongekommenen darstellte. Die hier behandelte Frage nach der Schuld des Einzelnen in einer Diktatur ist bis heute schmerzhaft und wird deshalb nur allzu gerne mit einem Verweis auf den allein herrschenden und für alles verantwortlichen Stalin ausgeblendet.⁴⁹ Nicht viel anders verhält es sich mit dem russischen Film. Während spätsowjetische Filmemacher durchaus noch die Frage nach den Tätern stellten und Nikita Michalkov 1994 in seinem Opus „Die Sonne, die uns täuscht“ die TäterOpfer-Dichotomie auflöste sowie die Verantwortung des Einzelnen thematisierte, so dominieren heute Filme, die die Täter als Kriegshelden rehabilitieren oder sogar durch eine Verklärung des NKVD zu gesellschaftlichen Vorbildern machen.⁵⁰ Auch im Internet finden sich keine Hinweise auf eine selbstkritische Auseinandersetzung mit dem Gulag oder eine Diskussion über die stalinistischen Täter. Die schwache Nutzung der einschlägigen Seiten zeugt eher von einem breiten gesellschaftlichen Desinteresse am Thema Gulag überhaupt.⁵¹ Auch diese Befunde weisen darauf hin, dass nicht nur die staatliche Geschichtspolitik die Frage nach den stalinistischen Tätern ausblendet, sondern es einen durchaus breiten gesellschaftlichen Konsens zu geben scheint, sich nicht eingehender mit der Identität der Täter, deren konkreten Verbrechen und ihrem Verbleiben in der poststalinistischen Sowjetunion zu beschäftigen. Dieser Konsens des Schweigens wird jedoch gelegentlich durch das Engagement von Einzelnen aufgebrochen, denen es mit großer Beharrlichkeit und Leidenschaft sogar gelingen kann, Öffentlichkeit herzustellen. Exemplarisch steht hier das Wirken des Photographen Jurij Arkadevič Brodskij auf den Solovki, dessen dokumentarische Arbeit zur Zeit der Perestrojka ihre größte Wirkung entfaltete. Der moralische Imperativ eines Mannes konnte sich also genau während des

Varlam Šalamov, Aleksandr Solženicyn, Jorge Semprún, in: Falko Schmieder (Hrsg.): Überleben. Historische und aktuelle Konstellationen. München 2011, S. 123–145. Zur russischen Lagerliteratur grundsätzlich: Franziska Thun-Hohenstein: Auszug aus der „Lagerzivilisation“. Russische Lagerliteratur im europäischen Kontext, in: Ludger Schwarte (Hrsg.): Auszug aus dem Lager. Zur Überwindung des modernen Raumparadigmas. Berlin, Bielefeld 2007, S. 180–200. 49 Wassili Grossman, Alles fließt. Berlin 2010. Siehe auch Franziska Thun-Hohenstein: Die Bürde der Klarheit (Nachwort), in: ebd., S. 225–244. 50 Siehe hierzu den Beitrag von Liliya Berezhnaja. 51 Siehe hierzu den Beitrag von Martin Müller-Butz und Christian Werkmeister.

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Rückzugs des Staates durchsetzen – und Brodskij erlebt folgerichtig seine eigene Marginalisierung, seitdem die Orthodoxe Kirche mit Unterstützung staatlicher Strukturen ihre Bemühungen um die Deutungshoheit über die Geschichte der Solovki verstärkt hat.⁵² Auch jenseits der Öffentlichkeit finden sich individuelle Akteure, die vielleicht nur das jeweilige Familiengedächtnis prägen, mitunter aber auch eine unfreiwillige öffentliche Resonanz erzielen. Zu den eindrucksvollsten dieser Akteure zählt zweifellos Evrosinija Kersnovskaja. Sie hat mit ihrer illustrierten Bildchronik einen sehr persönlichen Erinnerungsort ganz eigener Art geschaffen, indem sie ein Selbstzeugnis für ihre Mutter angefertigt hat, in dem sie über ihre Erlebnisse in der Gefangenschaft berichtet.⁵³

III Die Sehnsucht nach Exkulpation und ihre Wurzeln Im heutigen Russland herrscht also ein konsensuales Schweigen über die soziale Basis des Stalinismus und über die gesellschaftliche Mitverantwortung für die staatlichen Massenverbrechen. Die staatliche Geschichtspolitik trennt wiederum scharf zwischen dem Verbrecher Stalin und dem Volk als Opfer. So stellte etwa der damalige Präsident Dmitrij Medvedev am 7. Mai 2010 in einem Interview mit der Izvestija klar: „Stalin verübte Massenverbrechen gegen sein Volk.“⁵⁴ Und ein Blick in russische Schulbücher zeigt, dass die Trennung zwischen dem Verbrecher Stalin und dem Volk als Opfer auch im Geschichtsunterricht vollzogen wird. Staatliche Repressionen und Gewalt werden zum einen nur äußerst knapp thematisiert, zum anderen gelten die alten Bolschewiki, die Intelligencija, die Bauern und zunehmend die Kirche als Opfer stalinistischer Herrschaft. Sucht man nach den verantwortlichen Tätern, so findet man in der Regel entweder Stalin oder „die Macht“ (vlast’).⁵⁵ Damit wird ein Geschichtsbild gepflegt, das die Verantwortung allein Stalin zuschreibt, nicht nach der sozialen Basis des Stalinismus und da-

52 Siehe hierzu den Beitrag von Katharina Haverkamp. 53 Siehe hierzu den Beitrag von Aglaia Wespe. 54 Dmitrij Medvedev in einem Interview mit der Izvestija vom 7.5.2010. 55 Vgl. z.B. Andrej A. Levandovskij/Jurij A. Ščetinov: Rossija v XX veke. Učebnik dlja 10–11 klassov obščeobrazovatel’nych učreždenij. 4. Auflage, Moskau 2000, S. 211–215; Aleksandr A. Danilov/Andrej V. Filippov (Hg.): Istorija Rossii 1900–1945, 11 klass. Učebnik dlja obščeobrazovatel’nych učreždenij, Moskau 2009, S. 261–264 und 293–299. Siehe dazu auch Galina Klokowa: Die Darstellung der Diktatur in Geschichtsschulbüchern der postsowjetischen Zeit, in: Hans-

18 | Jörg Ganzenmüller und Raphael Utz mit auch nicht nach der gesellschaftlichen Verantwortung für die stalinistischen Massenverbrechen fragt. Die zivilgesellschaftlichen Akteure vermitteln allerdings häufig ein recht ähnliches Bild. So heißt es zum Beispiel in einem Kommuniqué der Gesellschaft Memorial zum stalinistischen Terror: Die Erinnerung an den Terror ist unseren Völkern gemeinsam. Sie trennt uns nicht, sondern verbindet uns, auch deshalb, weil es nicht nur die Erinnerung an Verbrechen ist, sondern auch die an gemeinsamen Widerstand gegen die Maschinerie der Morde, die Erinnerung an internationale Solidarität und gegenseitige menschliche Hilfe.⁵⁶

Hier wird der gemeinsame Widerstand des Volkes gegen den staatlichen Terror hervorgehoben und die Erinnerung daran als eine einigende Kraft beschworen. Folglich sieht Memorial seine Aufgabe darin, den Opfern zu gedenken und nicht nach den Tätern zu fragen. In einem Entwurf des Rats zur Entwicklung von Zivilgesellschaft und Menschenrechten beim Präsidenten der Russischen Föderation für ein nationales Programm „Zur Bewahrung des Gedenkens an die Opfer des totalitären Regimes und zur nationalen Versöhnung“, das im Jahr 2011 Präsident Medvedev überreicht wurde, heißt es: Wir sollten uns hier nicht primär auf eine Anklage derjenigen unserer Vorfahren konzentrieren, die den Genozid, die Zerstörung von Glauben und Moral verursacht haben, sondern darauf, die Opfer des Regimes zu ehren und die Erinnerung an sie zu bewahren.⁵⁷

Die Frage nach den Tätern scheint nicht zuletzt deshalb hinfällig zu sein, da man diese bereits kennt. Deshalb forderte Memorial nur eine gerichtliche Bestätigung, „dass die Führer der Kommunistischen Partei und der UdSSR Verbrechen gegen das eigene Volk begangen haben“⁵⁸. Selbstverständlich gibt es auch Stimmen, welche die Verantwortung für die staatlichen Massenverbrechen nicht allein Stalin und seiner engsten Umgebung zuschreiben, doch diese sehen sich selbst als Minderheit im eigenen Land. So bezeichnet etwa Arsenij Roginskij, Vorsitzender

Heinrich Nolte (Hrsg.): Auseinandersetzungen mit den Diktaturen. Russische und deutsche Erfahrungen. Zürich 2005, S. 83–110, hier 91ff. 56 Das Jahr 1937 und die Gegenwart. Thesen von MEMORIAL, in: Osteuropa 57, 6 (2007), S. 387– 394. 57 Rat zur Entwicklung von Zivilgesellschaft und Menschenrechte beim Präsidenten der Russischen Föderation, Arbeitsgruppe zur historischen Erinnerung: Vorschläge zu einem nationalen staatlichen und gesellschaftlichen Programm „Zur Bewahrung des Gedenkens an die Opfer des totalitären Regimes und zur nationalen Versöhnung“, in: Der Kampf um die Vergangenheit. Das Russland von heute und die Entstalinisierung. Moskau 2011, S. 20–49, hier 21. 58 Ebd., S. 43.

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der Gesellschaft Memorial, die Erinnerung an den Terror in Russland als einseitig: Stets werde der Opfer gedacht, aber über die Täter kein Wort verloren.⁵⁹ Diese konsensuale Trennung zwischen dem Diktator Stalin auf der einen und dem Volk auf der anderen Seite geht letztlich auf Nikita Chruščëv zurück. Chruščëv war nicht nur der erste, der in seiner Geheimrede auf dem XX. Parteitag am 25. Februar 1956 den stalinistischen Terror innerhalb der Partei öffentlich brandmarkte, er war fortan zugleich einflussreicher Interpret der stalinistischen Gewalt. Zum einen stilisierte er die Partei selbst, und dabei nicht zuletzt ihren stalinistischer Kern, zu dem ja auch Chruščëv selbst gehört hatte, als das erste und eigentliche Opfer des Terrors.⁶⁰ Der Terror – so Chruščëv – habe sich „nicht gegen die Überreste der zerschlagenen Ausbeuterklassen gerichtet, sondern gegen ehrliche Kader der Partei und des Sowjetstaates“.⁶¹ So seien „viele ehrliche, der Sache des Kommunismus ergebene, hervorragende Parteifunktionäre und einfache Parteiarbeiter“ dem „Despotismus Stalins“ zum Opfer gefallen.⁶² Die Verantwortung für diese Eskalation der Gewalt sei allein Stalin und dessen Persönlichkeit zuzuschreiben: Stalin war ein sehr misstrauischer Mensch mit krankhaftem Argwohn, wovon wir, die wir mit ihm arbeiteten, uns überzeugen konnten. (. . . ) Der krankhafte Argwohn rief bei ihm wahlloses Misstrauen hervor, darunter auch im Verhältnis zu hervorragenden Parteifunktionären, die er seit vielen Jahren kannte. Überall, auf Schritt und Tritt, sah er ‚Feinde‘, ‚Doppelzüngler‘ und ‚Spione‘.⁶³

Chruščëv stellte in seiner Geheimrede jedoch nicht nur Stalin und die Partei dichotomisch gegenüber, sondern auch Stalin und „das Volk“. Während Lenin noch eng mit dem Volk verbunden gewesen sei, habe sich Stalin vom Volk abgegrenzt.⁶⁴ Ja, Stalin habe sich über die Partei und über das Volk gestellt, und genau darin liege der Grund für die Massenrepressalien nach dem XVII. Parteitag des Jahres 1934.⁶⁵ Als Chruščëv seine Vorwürfe gegenüber Stalin auf dem XXII. Parteitag 1961

59 Arsenij Roginskij: Pamjat’ o stalinizme, in: Istorija stalinizma. Itogi i problemy izučenija. Materialy meždunarodnoj naučnoj konferencii, Moskva 5–7 dekabrja 2008 g. Moskau 2011, S. 21–27, hier 21. 60 Vgl. Gerd Koenen: Was war der Kommunismus? Göttingen 2010, S. 77. 61 Die Geheimrede Chruschtschows. Über den Personenkult und sein Folgen. Rede des Ersten Sekretärs des ZK der KPdSU, Gen. N. S. Chruschtschow, auf dem XX. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, 25. Februar 1956. Berlin 1990, S. 31. 62 Ebd., S. 14f. 63 Ebd., S. 41. 64 Ebd., S. 75. 65 Ebd., S. 27.

20 | Jörg Ganzenmüller und Raphael Utz wiederholte und nun die in Ungnade gefallenen „Antiparteiengruppe“ um Molotov, Malenkov und Kaganovič in seine Kritik mit einschloss, da warf er Stalin und seinen Helfershelfern erneut vor, sich „vom Volk“ als den wahren Schöpfer der Geschichte losgelöst zu haben.⁶⁶ Indem Chruščëv die Politik Stalins als egoistisch und mit dem Volkswillen unvereinbar brandmarkte, delegitimierte er die Herrschaft Stalins. Dieser habe sich mit seiner Politik gegen das Volk und damit auch außerhalb der Partei gestellt. Die Delegitimation Stalins und die Exkulpation der Partei gingen also Hand in Hand. Indem Chruščëv Stalin jedoch zugleich aus dem sowjetischen Volk herauslöste und ihn zum allein Schuldigen für die staatlichen Massenverbrechen erklärte, entließ er nicht nur die Partei aus der Verantwortung, sondern zugleich die gesamte Bevölkerung. Alle waren nun Opfer, und allein Stalin war der Täter. Diese Deutung des Stalinismus prägte fortan sowohl die staatliche Geschichtspolitik als auch die gesellschaftliche Debatte. Der sowjetische Staat gehörte nach dem Sturz Chruščëvs sicher nicht zu denjenigen, welche die Auseinandersetzung mit der stalinistischen Vergangenheit vorantrieben. Vielmehr ist in dem öffentlichen Schweigen der Ära Brežnev ein Stillhalteabkommen zwischen den Apologeten des Stalinismus und den Befürwortern einer Entstalinisierung zu sehen. Doch gerade weil die Debatte über den Stalinismus eingefroren wurde, blieb sie auf dem Stand der Geheimrede stehen. So knüpfte nicht zuletzt Michail Gorbačëv 1987 wieder bei Chruščëv an, als er anlässlich der Feierlichkeiten zum 70. Jahrestag der Oktoberrevolution eine klare Linie zwischen Stalin auf der einen und der Partei sowie dem Volk auf der anderen Seite zog: Jetzt gibt es viele Diskussionen über die Rolle Stalins in unserer Geschichte. Seine Persönlichkeit ist äußerst widersprüchlich. Wir müssen bei den Positionen der historischen Wahrheit bleiben und sowohl den unbestreitbaren Beitrag Stalins zum Kampf für den Sozialismus und zum Schutz seiner Errungenschaften als auch die groben politischen Fehler und die Willkür sehen, die er und seine Umgebung zugelassen haben, für die unser Volk einen hohen Preis zahlte und die für das Leben unserer Gesellschaft schwerwiegende Folgen nach sich zogen. Manchmal wird behauptet, Stalin habe von den Gesetzlosigkeiten nichts gewusst. Aus den Dokumenten, über die wir verfügen, geht hervor, dass dies nicht so ist. Die Schuld Stalins und seiner nächsten Umgebung gegenüber Partei und Volk für die begangenen Massenrepressalien und die Gesetzlosigkeiten ist gewaltig und unverzeihlich.⁶⁷

66 Aus dem Rechenschaftsbericht des ZK an den XXII. Parteitag der KPdSU. Berichterstatter: N. S. Chruschtschow, Erster Sekretär des ZK, in: Günter Judick/Kurt Steinhaus (Hrsg.): Stalin bewältigen. Sowjetische Dokumente der 50er, 60er und 80er Jahre. Düsseldorf 1989, S. 229–241, hier 231. 67 Michail Gorbatschow: Der Oktober und die Umgestaltung: Die Revolution wird fortgesetzt, in: ders.: Ausgewählte Reden und Aufsätze, 5 Bde. Berlin 1990, Bd. 5, S. 354–409, hier 371.

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Gorbačëv argumentiert hier sowohl gegen die Apologeten Stalins wie auch gegen eine Stalinkritik, die seiner Ansicht nach über das Ziel hinausschoss. Während sich Stalin um den sozialistischen Aufbau des Landes verdient gemacht habe, so habe er sich zugleich gegenüber der Partei und dem Volk schuldig gemacht. Und dies gelte es im Gedächtnis zu behalten, denn es sei „eine Lehre für alle Generationen“.⁶⁸ Chruščëvs Stigmatisierung des Stalinismus als die Herrschaft eines Einzelnen über sein Volk blieb in den sowjetischen Dissidentenkreisen nicht ohne Wirkung. Nach Chruščëvs Entmachtung und dem Abbruch der Entstalinisierungspolitik wurde der ehemalige Erste Sekretär der KPdSU zu einem wichtigen Bezugspunkt der sich formierenden Dissidentenszene. Ihren symbolischen Ausdruck fand die Achtung Chruščëvs in der breiten Anteilnahme bei seinem Begräbnis. Viele der Dissidenten der siebziger und achtziger Jahre waren politisch in der „Tauwetter-Periode“ sozialisiert worden. Chruščëvs Geheimrede und sein Entstalinisierungskurs waren für viele der Auslöser ihres politischen Engagements und ihrer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit gewesen. Der XX. Parteitag stellte für sie deshalb einen wichtigen Bezugspunkt in ihrer Auseinandersetzung mit dem Stalinismus dar. Biographisch kam die „Geheimrede“ häufig einem politischen Erweckungserlebnis gleich. Ihr Inhalt war fortan sowohl eine autorisierte Quelle und zentrales Referenzwerk einer dezidierten Stalinismuskritik als auch eine Interpretation des Stalinismus und der Sowjetunion.⁶⁹ Irina Scherbakowa hat darauf hingewiesen, dass die während des Tauwetters verfassten Erinnerungen von Lagerhäftlingen häufig im Zusammenhang mit ihrem Antrag auf Rehabilitierung verfasst wurden. Die Autoren schrieben „die eigene Lebensgeschichte ganz im Geist des 20. Parteitags“ und wehrten sich gegen den Vorwurf, sie seien keine treuen Kommunisten, sondern Volksfeinde gewesen.⁷⁰ So findet sich die Dichotomie zwischen dem Täter Stalin und dem Volk als Opfer sowohl in Erinnerungen als auch in wissenschaftlichen Untersuchungen von Dissidenten und Regimekritikern als konstituierendes Element der jeweiligen Stalinismusinterpretation. Ein Beispiel von vielen ist Roj Medvedev, der sich im Zuge von Chruščëvs Geheimrede auf dem XX. Parteitag der Geschichtsschreibung zugewandt und

68 Ebd. 69 Zur generationellen Bedeutung der Entstalinisierung vgl. Fein, Geschichtspolitik, S. 33. 70 Vgl. Irina Scherbakowa: Gefängnisse und Lager im sowjetischen Herrschaftssystem, in: Deutscher Bundestag (Hrsg.): Materialien der Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der Deutschen Einheit“. Frankfurt a. M./Baden-Baden 1999, Bd. VI, S. 567–622, hier 574f.

22 | Jörg Ganzenmüller und Raphael Utz nach dem zweiten Entstalinisierungsparteitag von 1961 mit der Arbeit an einer Studie des stalinistischen Terrors begonnen hatte. Seine 1968 fertig gestellte Analyse wurde – unter den politischen Bedingungen der Brežnev-Ära – von sowjetischen Verlagen abgelehnt und erschien daraufhin im Westen, in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Die Wahrheit ist unsere Stärke“. Medvedev schildert den Terror als eine Ausgeburt Stalins, der allein aus persönlichem Ehrgeiz, Angst um seine Macht und Niedertracht gehandelt habe. Parteimitglieder aller Ränge, Werksdirektoren, Spezialisten, Schriftsteller und Gelehrte, kurz: die Elite der sowjetischen Gesellschaft habe die herrschende Gesetzlosigkeit nicht verhindert, sondern sich dem Herrschaftssystems Stalins unterworfen.⁷¹ In dieser Exkulpation der Partei lag Medvedev also ganz auf der Linie Chruščëvs. Doch ähnlich wie Chruščëv stellt er Stalin nicht nur außerhalb der Partei: „In das sowjetische Volk wurden Konformismus und Einförmigkeit des Denkens und Handelns eingepflanzt. Der Dienst am Sozialismus wurde zum Dienst an Stalin; nicht er diente dem Volke, das Volk diente ihm.“⁷² Medvedev zeichnet also ganz in der Tradition Chruščëvs eine tiefe Kluft zwischen Stalin und dem sowjetischen Volk. Stalin habe die Menschen skrupellos für seine machtpolitischen Ambitionen instrumentalisiert. Medvedev argumentiert in seinem Buch explizit gegen jegliche Tendenzen zur Rehabilitierung Stalins. Das heißt: Um Stalin bei der Leserschaft zu diskreditieren, postulierte er die Unvereinbarkeit von Stalins Politik mit den Interessen des Volkes, um so die von der stalinistischen Propaganda lange Jahre inszenierte Verbundenheit Stalins mit dem Volk zu konterkarieren. Die Distanzierung Stalins vom Volk war also ursprünglich ein Argument, das die Entstalinisierung befördern sollte. Dieses antistalinistische Argument hat die Auseinandersetzung um Stalin und den Stalinismus stark geprägt. Die strikte Dichotomie zwischen Stalin und „dem Volk“ wurde sowohl dem Bedürfnis der Opfer nach Rehabilitation und Reintegration in die Gesellschaft als auch dem Bedürfnis der Täter nach Exkulpation gerecht. Nur wenige legten den Finger in die Wunde und beschrieben den Gulag als ein Gesellschaftsverbrechen. Die Bedeutung Aleksandrs Solženicyns besteht nicht zuletzt darin, dass er im „Archipel Gulag“ deutlich machte, dass es eine Vielzahl von Tätern gab und diese aus dem Volk stammte:

71 Vgl. Roy A. Medwedew: Die Wahrheit ist unsere Stärke. Geschichte und Folgen des Stalinismus. Frankfurt a. M. 1973, S. 321–374. 72 Ebd., S. 401.

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Diese Wolfsbrut – woher kommt sie in unserem Volke? Ist sie nicht von unserem Stamm? Nicht von unserem Blut? Doch. Um also die weißen Ornate der Gerechten nicht allzu eifrig zu schrubben, möge jeder sich fragen: Was, wenn mein Leben sich anders gewendet hätte – wäre nicht aus mir ein gleicher Henker geworden? Es ist eine grausige Frage, so man ehrlich darauf antworten will.⁷³

Allerdings findet sich bei Solženicyn eine russophile Deutung des Stalinismus, die das russische Volk letztlich zu einem korrumpierten Opfer der Bolschewiki macht. Nur ein inneres Festhalten an der russischen Kultur habe einen Schutz vor den Verführungen des Regimes geboten: Leicht lässt sich’s nicht umreißen, jenes durch keine Beweisgründe zu belegende Etwas, das uns davon abhielt, in die Schulen der NKWD zu gehn. Die Vorlesungen über historischen Materialismus hätten uns eines gänzlich anderen belehren müssen: Klar ergab sich daraus, dass der Kampf gegen den inneren Fein ein heißer Krieg, eine ehrenvolle Aufgabe sei. Es widersprach auch unserem praktischen Vorteil: Die Provinzuniversität hatte uns zu jener Zeit nicht mehr zu bieten als einen kümmerlich bezahlten Lehrerposten in einem gottverlassenen Landkreis; die NKWD-Schulen lockten mit üppigen Naturalien und doppeltem bis dreifachem Gehalt. Was wir empfanden, hatte keine Worte (. . . ). Irgendwo, nicht im Kopf – in der Brust saß der Widerstand. (. . . ) Das kam von sehr weit her, von Lermontow vermutlich. Von jenen Jahrzehnten des russischen Lebens, als es für einen anständigen Menschen, offen und laut gesagt, keinen schlimmeren Dienst gab als den des Gendarmen. Nein, von noch weiter zurück. Das waren, ohne dass wir es wussten, nur die Kupfermünzen der Kopeken, mit denen wir uns von den angebrochenen vorväterlichen Goldgruben loskauften, von jener Zeit, da die Sittlichkeit noch nicht als etwas Relatives galt und die Unterscheidung zwischen Gut und Böse einfach mit dem Herzen getroffen wurde.⁷⁴

Solženicyns schmerzliche Frage nach der Korrumpierbarkeit des Menschen unter den Verhältnissen einer Diktatur blieb jedoch eine Einzelstimme. Die auf der Hand liegende Frage nach der Funktion einer nationalrussischen Renaissance unter Brežnev als Exkulpationsdiskurs wartet allerdings noch auf eine grundlegende Untersuchung, scheint aber umso drängender. Die nachgeborene Generation hatte in der Brežnev-Ära nicht die Möglichkeiten, eine öffentliche Diskussion über die Rolle der Eltern im Stalinismus anzustoßen. Gleichzeitig erschien die „Tauwetter-Periode“ in den siebziger Jahren vielen als eine Phase der Liberalisierung, und Chruščëv genoss nach seiner Entmachtung unter den Dissidenten ein höheres Ansehen als in der politischen Elite der Brežnev-Ära. Die persönliche Erfahrung mit dem Regime der siebziger und achtziger Jahre sowie die hohe Reputation Chruščëvs machten die Geheimrede

73 Alexander Solschenizyn: Der Archipel Gulag, 3 Bde. Reinbek bei Hamburg 1989, Bd. 1, S. 153. 74 Ebd., S. 154.

24 | Jörg Ganzenmüller und Raphael Utz in Dissidentenkreisen zu einem wichtigen Beitrag in der Auseinandersetzung mit dem Stalinismus. Und diese Generation sowjetischer Dissidenten initiierte auch die Gründung von Memorial und gehört bis heute zu deren aktiven Mitarbeitern. Auf diesem Weg fand die Chruščëv’sche Deutung Eingang in die gesellschaftliche Aufarbeitung des Stalinismus und nimmt dort einen prominenten Platz ein. Auf diese Weise hat sich sowohl in der staatlichen Geschichtspolitik als auch in Teilen der gesellschaftlichen Diskussion ein Verständnis vom Stalinismus als ein Herrschaftssystem etabliert, in dem allein einer Person die Verantwortung für die staatlichen Massenverbrechen zukommt. Die Vorstellung, das gesamte Volk sei ein Opfer Stalins gewesen, befreit die Gesellschaft von der Notwendigkeit, über die eigene Mitverantwortung nachzudenken. Chruščëv war in seiner „Geheimrede“ sogar so weit gegangen, Nikolaj Ežov, der während der Jahre des „Großen Terrors“ das Volkskommissariat für Inneres leitete, von seiner persönlichen Verantwortung weitgehend freizusprechen: Konnte Jeshow über derart wichtige Fragen entscheiden wie das Schicksal hervorragender Parteifunktionäre? Nein, es wäre naiv, dies für das Werk Jeshows allein zu halten. Klar ist, dass über solche Dinge Stalin entschied, dass ohne seine Weisungen, ohne seine Zustimmung Jeshow nichts hätte tun können.⁷⁵

Eine solche Argumentation, die die Verantwortung der Täter relativiert, ist in Russland bis heute weit verbreitet. Aleksandr Drozdov, Direktor des Jelzin-Fonds, ist nur einer von vielen, der auch die Täter der staatlichen Gewalt zu den Opfern, da diese teilweise selbst in das Räderwerk des „Großen Terrors“ geraten waren.⁷⁶ Die Popularität jener Vorstellung, die Stalin vom Rest des Landes ablöst, erklärt sich also auch aus dem Umstand, dass die Nomenklatura der fünfziger und sechziger Jahre von den stalinistischen „Säuberungen“ profitiert hatte. Der im Zuge des Terrors vollzogene Elitenaustausch verhalf in den dreißiger Jahren jener Generation zum Karrieresprung, die nach dem Zweiten Weltkrieg an die Spitze der Staatsführung aufrückte und die Geschicke des Landes bis in die achtziger Jahre hinein lenkte. Diese Generation der Aufsteiger (vydvyžency) hatte kein Interesse daran, nach Tätern oder auch nur den Nutznießern des gewaltsamen Elitenaustauschs zu fragen. Folgt man dem Moskauer Historiker Sergej Sluč, dann hat die Nomenklatura der Nachkriegszeit die Aufarbeitung der stalinistischen Vergan-

75 Geheimrede Chruschtschows, S. 40f. 76 Aleksandr Drozdov: Palači, kotorye tvorili terror, byli odnovremenno žertvami režima, in: Velikaja e˙ pocha, 13.11.2009: http://www.epochtimes.ru/content/view/30408/54/ (letzter Zugriff am 31.1.2014). Ähnlich äußerte sich zum Beispiel auch Sergej Karaganov 2011 gegenüber Präsident Medvedev, vgl. Der Kampf um die Vergangenheit, S. 8.

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genheit sogar gezielt behindert.⁷⁷ Doch auch die nächste Generation fand bisher offenbar nicht die Kraft, die für die russische Gesellschaft schmerzhafte Frage nach der sozialen Basis des Stalinismus zu stellen. Eine Auseinandersetzung mit den stalinistischen Massenverbrechen in Form einer Gesellschaftskritik steht in Russland bis heute noch aus. Nicht nur im heutigen russischen Film ist die Tendenz, die Massenverbrechen des NKVD mit dem Zweiten Weltkrieg zu verbinden und der stalinistischen Gewalt damit nachträglich einen Sinn zu verleihen, unübersehbar.⁷⁸ Auch die geschichtskulturellen Akteure an den historischen Orten des Gulag verweisen immer wieder auf die Bedeutung der Lager für den Sieg gegen die Deutsche Wehrmacht.⁷⁹ Der Sieg im „Großen Vaterländischen Krieg“ wurde in der Ära Brežnev zum zweiten Gründungsmythos der Sowjetunion und die sowjetische Geschichtspolitik prägte die Vorstellungen vom Zweiten Weltkrieg nachhaltig.⁸⁰ Heute nutzt die Putinsche Geschichtspolitik den Sieg im „Großen Vaterländischen Krieg“ als Reservoir für einen russischen Patriotismus und steht inhaltlich sowie performativ ganz in der Tradition der Brežnevschen Geschichtspolitik.⁸¹ Doch wie hängen die Erinnerung an den Krieg und die verbreitete Exkulpation der Gesellschaft von den Massenverbrechen unter Stalin zusammen? Auch wenn heute vielerorts in Russland wieder an die Kriegspropaganda angeknüpft wird, welche die führende Rolle Stalins beim Sieg über das Deutsche

77 Vgl. Sergej Slutsch: Macht und Terror in der Sowjetunion, in: Volkhard Knigge/Norbert Frei (Hrsg.): Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord. Bonn 2005, S. 11–123, hier 120. 78 Vgl. dazu den Beitrag von Liliya Berezhnaja. 79 Zur Schutzfunktion des Weltkriegsgedenken gegenüber den traumatischen Erfahrungen aus der Zeit des stalinistischen Terrors siehe Makhotina, Stolzes Gedenken und traumatisches Erinnern, S. 126ff. 80 Zur sowjetischen Erinnerung an den „Großen Vaterländischen Krieg“ vgl. Scherbakowa, Ein glorifizierter Sieg, S. 7–49; Bernd Bonwetsch: „Ich habe an einem völlig anderen Krieg teilgenommen“. Die Erinnerung an den „Großen Vaterländischen Krieg“ in der Sowjetunion, in: Helmut Berding/Klaus Heller/Winfried Speitkamp (Hrsg.): Krieg und Erinnerung. Fallstudien zum 19. und 20. Jahrhundert. Göttingen 2000, S. 145–168; ders.: Der „Große Vaterländische Krieg“. Vom öffentlichen Schweigen unter Stalin zum Heldenkult unter Breschnew, in: Babette Quinkert (Hrsg.): „Wir sind die Herren dieses Landes“. Ursachen, Verlauf und Folgen des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion. Hamburg 2002, S. 166–187. 81 Vgl. Lev Gudkov: Fesseln des Sieges. Russlands Identität aus der Erinnerung an den Krieg, in: Osteuropa 55, 4/6 (2005), S. 56–72; Boris Dubin: Erinnern als staatliche Veranstaltung. Geschichte und Herrschaft in Russland, in: Osteuropa 58, 6 (2008), S. 57–65; Arsenij Roginskij: Erinnerung und Freiheit. Die Stalinismus-Diskussion in der UdSSR und Russland, in: Osteuropa 61, 4 (2011), S. 55–69; Ludmila Lutz-Auras: „Auf Stalin, Sieg und Vaterland!“ Politisierung der kollektiven Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg in Russland. Wiesbaden 2013.

26 | Jörg Ganzenmüller und Raphael Utz Reich betonte, so existiert nach wie vor jenes wirkungsmächtige Narrativ in der russischen Kriegserinnerung, dass der Krieg nicht wegen, sondern trotz Stalin gewonnen worden sei. Die Vorstellung, Stalin und das Volk bildeten auch im Krieg einen unversöhnlichen Antagonismus, geht ebenfalls auf die Geheimrede Chruščëvs zurück. Chruščëv demontierte den Mythos vom „militärischen Genie“ nachhaltig: „Nicht Stalin, sondern die Partei als Ganzes, die sowjetische Regierung, unsere heldenhafte Armee, ihre talentierten Kommandeure und tapferen Soldaten, das ganze sowjetische Volk – das ist es, was den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg gewährleistete.“⁸² Auch für die Zeit des Zweiten Weltkrieges trennt Chruščëv also deutlich zwischen Stalin und dem Volk, nur geht es diesmal nicht um Schuld und Verbrechen, sondern um die im Krieg vollbrachten Leistungen. Und hier lautete Chruščëvs Lesart: Nicht Stalin, sondern das Volk habe den Krieg gewonnen. Diese Darstellung des „Großen Vaterländischen Krieges“ ist bis heute wirksam und wird sowohl von staatlichen Repräsentanten als auch von Vertretern der Zivilgesellschaft öffentlich vertreten. Besonders deutlich kam dies zuletzt in der Diskussion zum Ausdruck, ob bei den Feierlichkeiten zum 65. Jahrestags des Kriegsendes in Moskau Stalin-Portraits aufgehängt werden sollten. Die Initiative des Moskauer Bürgermeisters Jurij Lužkov wurde von unterschiedlicher Seite kritisiert. So sagte der Präsident der russischen Staatsduma, Boris Gryslov, gegenüber der Nachrichtenagentur „Interfax“: „Zieht man eine Bilanz des Großen Vaterländischen Krieges, so kann man sagen, dass bei uns nicht Stalin, sondern das Volk der Sieger war.“⁸³ Und auch der damalige Präsident Medvedev stellte in einem Interview klar, den „Großen Vaterländischen Krieg“ hätte „unser Volk, und nicht Stalin“ gewonnen.⁸⁴ Ganz ähnliche Aussagen machten Vertreter von Memorial. Arsenij Roginskij sagte gegenüber der BBC: „Den Krieg gewann das sowjetische Volk nicht dank, sondern trotz Stalin.“⁸⁵ Und fast wortgleich ließ die demokratische Oppositionspartei Jabloko in einer offiziellen Verlautbarung verkünden, „dass der Sieg nicht dank Stalin, sondern trotz Stalin und des stalinistischen Systems erreicht wurde“.⁸⁶

82 Chruschtschow, Geheimrede, S. 55. 83 Zit. in: Prava čeloveka v Rossii: Ne pozor’te Moskvu proslavleniem Tirana vom 19.2.2010: http://www.hro.org/node/7485 (letzter Zugriff am 31.1.2014). 84 Izvestija vom 7.5.2010. 85 Zit. in: Prava čeloveka v Rossii: http://www.hro.org/node/7485 (letzter Zugriff am 31.1.2014). 86 Zit. in: ebd.

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Roginskij hatte sich einmal darüber beklagt, dass das Kriegsgedenken die Erinnerung an den stalinistischen Terror an den Rand des gesellschaftlichen Bewusstseins drücke, ja die Erinnerung an den Terror sei sogar durch die Erinnerung an den Sieg ausgetauscht worden.⁸⁷ Doch bei der Erinnerung an die staatliche Massengewalt und an den Krieg handelt es sich vielmehr um zwei sich gegenseitig stützende Wahrnehmungsweisen. In beiden Fällen ist die Erinnerung durch eine Dichotomie von Stalin und „dem Volk“ strukturiert. Der zentrale Unterschied besteht darin, dass im Bild vom Krieg das Volk der Akteur ist, der den Sieg errungen hat, während Stalins Rolle eher passiv ist. In der Deutung der staatlichen Massenverbrechen verhält es sich umgekehrt: Hier ist das Volk passives Opfer, während Stalin als einzigem ein freier Handlungsraum attestiert und damit die gesamte Verantwortung für das Geschehen aufgebürdet wird. Die Erinnerung an den Terror und das Kriegsgedenken sind also aufeinander bezogen. Zwar gibt es keine Verflechtung von Terror und Krieg, etwa in dem Sinne, dass den stalinistischen Repressionen während des Krieges gedacht würde. Doch das Bedürfnis, dem Leiden und Sterben im Krieg einen Sinn zu geben, führt auf anderen Wegen zur scharfen Trennung von Stalin und Volk. So betonte zum Beispiel Ljudmila Alekseeva, Gründungsmitglied der Moskauer Helsinki-Gruppe und grande dame der sowjetischen Dissidenz, in einem Interview mit dem Radiosender Echo Moskvy, dass der Sieg im Zweiten Weltkrieg nicht dank Stalin errungen wurde, sondern dank der Soldaten und Offiziere, die gegen die Faschisten gekämpft hätten: „Mein Vater kehrte aus dem Krieg nicht nach Hause zurück; er diente für den Sieg, und nicht für Stalin, der vor dem Krieg, während des Krieges und nach dem Krieg Millionen [von Opfer] zu verantworten hatte.“⁸⁸ Da sich Stalin nicht dazu eignete, dem Tod des Vaters einen Sinn zu geben, wird er aus der Kriegsgemeinschaft hinausdefiniert. Die Soldaten hätten nicht für Stalin gekämpft, sondern trotz Stalin ihre Heimat verteidigt. So entsteht am Ende ein höchst widersprüchliches Bild stalinistischer Herrschaft. In den Jahren des Terrors erscheint das Volk als passives Opfer, das sich gegen die Willkürherrschaft Stalins nicht zur Wehr setzen konnte. Im Krieg wird dem Volk hingegen eine aktive Rolle zugeschrieben, da es trotz der mangelhaften Kriegführung Stalins die Deutsche Wehrmacht niederrang. Trotz ihrer Widersprüche ist diese Konstruktion so lange stabil, wie der Gegensatz zwischen Stalin und dem Volk aufrechterhalten wird. Wenn man jedoch nach der sozialen Basis stalinistischer Herrschaft, nach der Beteiligung der sowjetischen Gesellschaft an den staatlichen Massenverbrechen und nach der Akzeptanz des Terrors in der Bevöl-

87 Roginskij, Pamjat’ o vojne, S. 33. 88 Zit. in: Prava čeloveka v Rossii: http://www.hro.org/node/7485 (letzter Zugriff am 31.1.2014).

28 | Jörg Ganzenmüller und Raphael Utz kerung fragte, dann würde sich dieser Gegensatz auflösen. Im gleichen Moment würde jedoch deutlich werden, dass es nicht möglich war, im Zweiten Weltkrieg für die Heimat ohne gleichzeitig für Stalin zu kämpfen. Dieser Gedanke ist für eingeschworene Gegner der stalinistischen Herrschaft allzu schmerzhaft. Das Gedenken an die Kriegstoten trägt somit zur Wahrnehmung der Herrschaft Stalins als einer totalen Herrschaft bei.

IV Fazit In Russland existiert jenseits der staatlichen Geschichtspolitik eine vielfältige Erinnerungslandschaft. Unterschiedliche Akteure setzen sich an ganz verschiedenen Orten des Landes mit der stalinistischen Vergangenheit auseinander. Gerade der Blick auf die Erinnerungsorte jenseits der Zentren offenbart nicht nur eine Vielzahl von Akteuren, sondern auch eine große Bandbreite von Deutungen. Trotz dieser geschichtskulturellen Vielfalt hat sich bis heute allerdings kein „negatives Gedächtnis“ an die Gesellschaftsverbrechen der Stalin-Zeit ausgebildet. Vielmehr herrscht in Staat und Gesellschaft ein konsensuales Schweigen über die soziale Basis des Stalinismus und über die gesellschaftliche Mitverantwortung für die staatlichen Massenverbrechen wie nicht zuletzt das sowjetische Lagersystem. Während sich die Beständigkeit der staatlichen Geschichtspolitik als Folge einer Elitenkontinuität im Transformationsprozess sowie einer Renaissance des Patriotismus erklären lässt,⁸⁹ erscheint die einseitige Konzentration zivilgesellschaftlicher Akteure auf die Opfer erklärungsbedürftig. Hier scheinen die Prägungen, welche die sowjetische Dissidenz während der Entstalinisierung erfahren hatte, nach wie vor wirksam zu sein. Bis heute hält man an jener Trennung zwischen dem Verbrecher Stalin und dem Volk als Opfer fest, die Chruščëv in seiner Geheimrede nachdrücklich postuliert hat. Gerade in die unspezifische Kategorie „Volk“ konnten in den folgenden Jahren alle ihre Lebensgeschichte einschreiben: sowohl die unschuldigen Opfer des stalinistischen Terrors, als auch die NKVD-Beamten, die Angehörigen der Miliz, die Lageraufseher, die Denunzianten und die Nutznießer des gewaltsamen Elitenaustauschs. Diese Exkulpationsstragie hat die russische Erinnerung an den Stalinismus nachhaltig geprägt und wirkt bis heute, da sie eine weniger schmerzhafte Form der Erinnerung an die staat-

89 Claus Leggewie: Der Kampf um die europäische Erinnerung. Ein Schlachtfeld wird besichtigt. München 2011, S. 25.

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lichen Massenverbrechen anbietet als es ein „negatives Gedächtnis“ mit seiner dezidiert selbstkritischen Verunsicherung bereit halten kann. Der Rückgriff zivilgesellschaftlicher Akteure auf bereits zu sowjetischen Zeiten etablierte Deutungen ist allerdings auch eine Folge dessen, dass die russische Historiographie seit dem Ende der Sowjetunion keine alternativen Deutungsangebote bereitgestellt hat. Russische Historiker haben zwar mit Spezialstudien und umfangreichen Quellenpublikationen die Grundlage für eine Neuinterpretation des Gulag gelegt, sind selbst jedoch nicht mit neuen Deutungen in eine breitere Öffentlichkeit getreten.⁹⁰ Es gibt zwar einzelne Historiker wie Oleg Chlevnjuk oder Galina Ivanova, die sich den klassischen Narrativen entzogen und den Gulag als „lagerindustriellen Komplex“ sowie die Lager als Orte der schonungslosen ökonomischen Ausbeutung der Häftlinge beschrieben haben.⁹¹ Sie sind in der internationalen Wissenschaft hoch anerkannt, doch in Russland haben ihre Forschungsergebnisse kaum ein Echo – etwa in Schulbüchern – gefunden. Gerade in Lehrbüchern beschränkt man sich bestenfalls auf eine positivistische Ereignisgeschichte ohne moralische Wertungen und entzieht sich damit jeglicher Deutungen des Stalinismus und seiner Verbrechen.⁹² Ohne historiographische Deutungsangebote, die auch eine Orientierung für Akteure an Erinnerungsorten sein können, kann man allerdings auch nicht von einer Geschichtskultur im Sinne Jörn Rüsens sprechen, sondern tatsächlich nur von einer Kultur des Erinnerns. Diese Kultur des Erinnerns ist von drei Grundtendenzen nachhaltig geprägt:

90 Die wichtigste Publikation der letzten Jahre ist zweifellos die siebenbändige Dokumentation Istorija Stalinskogo Gulaga. Konec 1920-ch – pervaja polovina 1950-ch godov. Sobranie dokumentov v semi tomach. Moskau 2004. Siehe außerdem: Aleksandr G. Kozlov: Magadan, 2 Bde. Magadan 2002; Aleksandr I. Kokurin/Nikita V. Petrov (Hrsg.): Gulag (Glavnoe upravlenie lagerej) 1917–1960. Moskau 2000. Zwei Mitarbeiter von Memorial haben zudem ein Nachschlagewerk vorgelegt: Arsenij Roginskij/Nikita Ochotin (Hrsg.): Ispravitel’no-trudovye lageri v SSSR, 1923–1960. Spravočnik. Moskau 1998. 91 Galina M. Ivanova: Istorija Gulaga, 1918–1958. Social’no-˙ekonomičeskij i politiko-pravovoj aspekty. Moskau 2006; dies.: Der Gulag im totalitären System der Sowjetunion. Berlin 2001; Oleg Khlevniuk: The History of the Gulag. From Collectivization to the Great Terror. New Haven 2004. Siehe außerdem die amerikanisch-russische Gemeinschaftsproduktion: Paul Gregory/Lev Borod˙ kin (Hrsg.): Gulag. Ekonomika prinuditel’nogo truda. Moskau 2005. 92 Vgl. Jutta Scherrer: Der Ort des „Sozialismus-Kommunismus“ in den neuen russischen Lehrbüchern der Geschichte und Kulturologie, in: Heiko Haumann/Brigitte Studer (Hrsg.): Stalinistische Subjekte. Individuum und System in der Sowjetunion und der Komintern 1929–1953. Zürich 2006, S. 469–482, hier 470ff.; dies.: Erinnern und Vergessen. Russlands Umgang mit (seiner) Geschichte in einer europäischen Perspektive, in: Lars Karl/Igor Polianski (Hrsg.): Geschichtspolitik und Erinnerungskultur im neuen Russland. Göttingen 2009, S. 23–40, hier 37.

30 | Jörg Ganzenmüller und Raphael Utz Erstens ist ein Bedürfnis erkennbar, die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts in eine angenommene Kontinuität der russischen Geschichte einzuordnen. Die stalinistische Gewaltherrschaft wird wahlweise als Ausdruck von Rückständigkeit oder als notwendiger Schritt zu deren Überwindung gedeutet. Zweitens dominiert eine allgemeine Opfererzählung, die Verantwortung und Schuld auf wenige Einzelne konzentriert. Tätergeschichte oder die Frage nach der gesellschaftlichen Grundlage der Massenverbrechen spielen bislang kaum eine Rolle. Und drittens: Durch die moralische Genealogie der Dissidentenbewegung beglaubigt, wird von staatskritischer Seite die staatlich-politische Instrumentalisierung von Erinnerung in gewisser Weise gespiegelt. Für den wissenschaftlichen Umgang mit der russischen Erinnerungskultur ergeben sich damit folgende Aufgaben: Ohne die These von einem russischen Sonderweg vertreten zu wollen, muss erstens die Spezifik der russischen Entwicklung schärfer konturiert und die Verfasstheit der russischen Öffentlichkeit selbst im Kontext der Erinnerungskultur Thema sein. Zweitens ist der Staat der wohl stärkste erinnerungskulturelle Akteur, aber nicht der alleinige, und auch nicht in allen Teilen des Landes. Das Bild dahingehend zu korrigieren und auch in einer angemessenen Komplexität zu zeichnen, ist dringend geboten. Drittens müssen Nähe und Gegenwärtigkeit der Verbrechen im Leben der Menschen als Strukturelement der Kommunikation über Täter und Opfer, Schuld und Verantwortung in besonderem Maße berücksichtigt werden. Und schließlich viertens gibt es in Russland selbst nur eine gering ausgeprägte Tradition der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Gesellschaftsverbrechen als gesellschaftlicher Aufgabe. Erste Versuche, unter diesen Bedingungen einen neuen Blick auf die russische Erinnerungslandschaft zu werfen, sind in diesem Band versammelt.

Ekaterina Makhotina

Räume der Trauer – Stätten, die schweigen Symbolische Ausgestaltung und rituelle Praktiken des Gedenkens an die Opfer des Stalinistischen Terrors in Levašovo und Sandormoch Levašovo und Sandormoch gehören zu den größten NKVD-Friedhöfen auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion und sind neben Butovo bei Moskau und Mednoe bei Kharkiv mitunter die bekanntesten. Levašovo¹, ein Waldstück im Nordwesten St. Petersburgs, diente als Ort der geheimen Begräbnisse von Opfern politischer Repressionen während der Stalinzeit (1937 bis 1953): Insgesamt liegen hier etwa 20 000 der in Leningrader Gefängnissen Erschossenen, davon wurden allein während des Massenterrors 1937–38 8 000 hierher gebracht.² In Sandormoch, dem geheimen NKVD-Friedhof in der ehemaligen Karelischen ASSR, dem nordwestlichsten Gebiet der Sowjetunion, wurden die Massenerschießungen durchgeführt und die Toten gleich in den Erschießungsgräben „begraben“ oder schlichtweg mit Erde zugeschüttet. Somit sind alle hier ruhende Menschen Opfer des Massenterrors 1937–38, der unter dem historischen Begriff des „Großen Terrors“ in die postsowjetische und westliche Historiografie eingegangen ist.³ Von außen betrachtet, unterscheiden sich die beiden Gedenkstätten durch die Gestaltung der Eingangsbereiche: Während in Levašovo die Grenzen des Geländes mit einem Holzzaun markiert sind und eine knappe Informationsstätte in der Nähe des Eingangs untergebracht ist, so fehlt all dies in Sandormoch. Wenn auch der Petersburger Gedenkfriedhof somit visuell stärker den Eindruck

1 Der größte Geheimfriedhof des NKVD-KGB bei Leningrad (St. Petersburg) wird „LevašovoGedenkfriedhof“ und „Levashovsker NKVD-NKGB-MGB-Gräberfeld“ genannt. Im Folgenden wird die Bezeichnung Gedenkfriedhof Levašovo genutzt. 2 Genauer: 19 450 Menschen. Die Zahlenangabe beruht auf den offiziellen statistischen Daten des UFSB des Leningrader Gebiets, siehe Eintrag „Levashovskaja memorial’naja piustosh’“ im Virtuellen Gulag-Museum unter: http://www.gulagmuseum.org/showObject.do? object=49907&language=1. 3 Oft werden sowohl in der russischen als auch in der westlichen Forschung alle Terrormaßnahmen der Bolschewiki mit dem Begriff „Großer Terror“ bezeichnet, dies geht vor allem auf die Studie „The Great Terror“ von Robert Conquest zurück, erschienen in London 1968. Seine Ausführungen erlangten auch in Russland Ende der 1980er Jahre breite Aufmerksamkeit durch Publikationen in der Zeitschrift Novyj Mir 1989 von Žatva skorbi (Harvest of Sorrow). Einen guten Überblick zur Forschungsdiskussion bietet Hiroaki Kuromiya: Accounting for the Great Terror, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 53,1 (2005), S. 86–101.

32 | Ekaterina Makhotina einer Gedenkstätte erweckt, ähneln sich die beiden Gedenkorte – mehr als 500 km voneinander entfernt – in ihrer inneren Ausgestaltung und Ritualen auf eine bezeichnende Art und Weise. Es sind Waldstücke mit einer auffälligen Baumdichte – die sowjetische Geheimpolizei hatte hier Ende der 1930er Jahre die Bäume als Tarnung angepflanzt. Heute sind die Baumstämme mit Zeichen der individuellen Trauer geschmückt (Blumen, Fotografien aus den Familienalben, handgeschriebene Widmungen an die Opfer). Eine weitere Ähnlichkeit zwischen den beiden Orten besteht in der Präsenz eines „Hauptmahnmals“ für die offiziellen Besuche am 30. Oktober, dem Tag des Gedenkens für Opfer politischer Repressionen, sowie einer zentral aufgestellten religiösen Stätte der Russisch-Orthodoxen Kirche und den Denkmälern für bestimmte ethnische oder konfessionelle Gruppen. Ein Vergleich dieser beider Gedächtnisorte ist jedoch nicht das Ziel des folgenden Beitrags. Es soll vielmehr danach gefragt werden, wer die maßgeblichen Akteure bei der Etablierung und Pflege der Erinnerungsorte Levašovo und Sandormoch sind. Welche Formen der Erinnerung konkurrieren an den beiden Orten miteinander? Und in welchem Maße bieten die Orte neben dem Opfergedenken auch die Möglichkeit, sich mit der Geschichte der stalinistischen Massengewalt auseinanderzusetzen? Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Stalinismus wird sowohl von liberaldemokratischen Kräften in Russland als auch von den westlichen Politikern gefordert, aber auch einige Vertreter der politischen Elite, rufen auf den Seiten der regierungsnahen Presse zum kritischen Nachdenken auf.⁴ Zum siebzigsten Jahrestag des Beginns des Großen Terrors 1937 verneigte sich selbst der russische Präsident Vladimir Putin vor den Opfern der stalinistischen Gewalt und führte eine Gedenkzeremonie in der Gedenkstätte Butovo bei Moskau an.⁵ Gleichwohl sind die beiden Gedenkstätten in ihrer ursprünglichen Form aus den 1990er Jahren erhalten geblieben: Neu sind die Gedenksteine für nationale bzw. konfessionelle Gruppen, die mit der Zeit dazu kamen, doch an der Struktur der Friedhöfe hat sich nichts verändert. Wem gehört also die Erinnerung an die Opfer: den staatlichen Bildungsprogrammen, Historikern, lokalen Verwaltung, oder ausschließlich den Angehörigen der Opfer, die hier am – vermeintlichen – Grab des Angehörigen Trauerarbeit leisten? Können die beiden Stätten auch dann als

4 Siehe z.B. Sergei Karaganov, der einflussreiche Direktor des SOVP (Sovet oboronnoj i vnešnej politiki): Russkaja Katyn’, in: Rossijskaja gazeta, am 22.07.2010, unter: http://www.rg.ru/2010/ 07/22/istoriya.html. Seit neuestem werden auch Projekte für föderale Bildungsprogramme zur Erinnerung an Opfer des Stalinismus diskutiert, allerdings sind bis heute keine Projekte zur Erinnerung an Opfer politischer Repressionen festgesetzt worden. 5 Pominal’naja molitva, in: Rossijskaja gazeta, am 31.10.2007, unter: http://www.rg.ru/2007/10/ 31/putin.html.

Räume der Trauer – Stätten, die schweigen

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Erinnerungsorte im Sinne von Pierre Nora gelten⁶, wenn sie ausschließlich in ihrer Funktion als Friedhöfe genutzt werden und kaum in den städtischen Raum eingebunden sind? Zwei nicht-staatliche Erinnerungsakteure stehen dabei im Mittelpunkt der Auseinandersetzung: die Gesellschaft Memorial – die Organisation, die sich seit 1987 der Bewahrung der Erinnerung an die Opfer Stalins verschrieben hat – und die Russische Orthodoxe Kirche. Die Erinnerungspraktiken dieser beider Akteure in Levašovo und Sandormoch werden im folgenden Beitrag untersucht und anhand dieser die jeweiligen Erinnerungsdiskurse analysiert. Als Quellen dienen die Ergebnisse eigener Feldforschungen vor Ort⁷, die Datensammlungen des Andrei-Sacharov-Zentrums⁸ und der Gesellschaft Memorial.⁹

Historischer Kontext: Der Große Terror in Leningrad und Karelien Sandormoch und Levašovo sind als historische Schauplätze zur gleichen Zeit entstanden – in den Zeiten des Großen Terrors, als die Repressionen des Staates einen Massencharakter annahmen. Die Geschichte der beiden Orte setzt mit der Amtszeit von Nikolaj Ežov ein – am 26. September 1936 wurde er zum NKVDChef ernannt. Nicht von ungefähr ist in der Alltagssprache der Große Terror als ežovscina bekannt – die Massengewalt ist äußerst eng mit dem Namen von Nikolaj Ežov verbunden – die blutige Herrschaft hielt bis zu seinem Fall Mitte 1938, als Lavrentij Berija ihn auf diesem Posten ersetzte. Dass der Terror „von oben“

6 Zum Konzept der Erinnerungsorte: Pierre Nora: Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Die Gedächtnisorte, in: ders., Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Berlin 1990. S. 11–33. 7 Im Rahmen des deutsch-russischen Projektes „Geschichte mit den Augen des Anderen sehen“ 2007–2008, das von der Autorin zusammen mit Irina Flige von der Petersburger Filiale der Memorial-Gesellschaft, geleitet wurde. Dazu zählen auch Erforschungen für die Masterarbeit im Fach Osteuropäische Geschichte an der LMU München (2008), sowie Nachforschungen für die Buchveröffentlichung: Ekaterina Makhotina: Stolzes Gedenken und traumatisches Erinnern. Gedächtnisorte der Stalinzeit am Weißmeerkanal. Frankfurt am Main 2013; und eigene Reisen 2009 und 2013 an diese Orte. 8 Datenbank: Pamjatniki i pamjatnye znaki zhertvam politicheskih repressij na territorii byvshego SSSR, unter: http://www.sakharov-center.ru/asfcd/pam/. 9 Darunter das Virtuelle Gulag-Museum unter: http://www.gulagmuseum.org sowie die Datensammlung „mesta massovych zachoronenij i pamjatniki žertvam političeskich repressij“ der Gesellschaft Memorial unter: http://www.memo.ru/memory/martirol/pomniki.htm; zu Sandormoch: http://www.memorial-nic.org/index.php/projects/sandormokh.html.

34 | Ekaterina Makhotina ausgegangen ist, lässt sich kaum bestreiten – das ZK hatte den Beschluss gegen die „antisowjetischen Elemente“ durchgesetzt. Überall begann die Kategorisierung der „Feinde“. Am 30. Juli 1937 erließ Ežov die Direktive Nr. 00447, welche die Massenrepressionen auslöste: hier wurden die Quoten für Regionen festgesetzt und die Herausbildung der verurteilenden „Troikas“ begann.¹⁰ Sowohl in Leningrad als auch in Karelien fielen dem Massenterror besonders viele Vertreter der national-ethnischen Minderheiten zum Opfer: Finnen, Deutsche, Karelen, Polen und so genannte Charbiner.¹¹Allein im Rahmen der Terroraktion gegen die nationalen Gruppen wurden in Karelien 3 436 Menschen exekutiert – die meisten waren Finnen.¹² Zu der besonders hohen Zahl an Opfern der Massenrepressionen hat die Tatsache beigetragen, dass die Quoten, die so genannten limity, des NKVD Büros in Moskau auf der regionalen Ebene überschritten wurden: Bereits im August 1937 kam die erste Anfrage aus Karelien vom NKVD-Chef Karl Tenisson. So wurden in Karelien die Quoten vom Oktober 1937 bis Mai 1938 sechs Mal erhöht, oft nachträglich, um in der Statistik der Geheimpolizei die vorgegebene Vernichtungsziffern mit den faktischen Opferzahlen in Einklang zu bringen.¹³ Das Ergebnis des operativen Befehls Nr. 00447 in Karelien war die Exekution von etwa 11 000 Menschen, davon 7 221 als „antisowjetische Elemente“ – unter ihnen waren 3 300 Häftlinge des in der Nähe liegenden Arbeitslagers am Weißmeerkanal, Belomorsko-Baltijskij-Lager‘, BelBaltLags – und etwa 4 000 im Rahmen der „nationalen Operationen“.¹⁴ Die Existenz des erwähnten BelBaltLags erklärt auch die topografische Lage des „Spezialobjekts“ (specobjekt), wie es in der NKVD-Sprache hieß, also der Stätte der Massenerschießungen. Gerade hier, zwischen dem Weißen Meer und dem Onega-See entstand das erste Zwangsarbeitslager der Sowjetmacht. Im Rah-

10 Eine Troika bestand aus dem ersten Sekretär der KP, dem NKVD-Chef und dem Staatsanwalt auf der lokalen Ebene. 11 Es waren Massenoperationen gegen „Spione“ und „Diversanten“. Es gab besondere geheime Operationsbefehle des NKVD UdSSR zur Erstellung der Erschießungslisten vor Ort: „Deutscher Befehl“ (00439), Polnischer Befehl (00485) und Charbiner Befehl (00593), vgl. A. Razumov.: Levašovskoe memorial’noe kladbišče. Sankt Petersburg 2012, S. 3; Ivan Čuchin: Karelia – 37. Ideologija i praktika terrora. Petrozavodsk 1999, S. 60. Als „Charbiner“ (Charbincy) galten die Koreaner, die der antisowjetischen Spionage verdächtigt wurden. 12 Tatiana Kossinova: Bol’šoj terror v Sandormoche, in: Polit.Ru, am 7.8.2007, unter: http://polit. ru/article/2007/08/07/terror/. 13 Ursprünglich bestimmte Moskau die Zahl von 300 Personen zur Erschießung in Karelien. Vgl. ebd. 14 Ebd.

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men des ersten Fünfjahresplans sollte hier das erste technologische Großprojekt, der Weißmeerkanal, entstehen. Die OGPU versuchte sich durch Etablierung des Arbeitslagers als Wirtschaftsunternehmen. Die sowjetische Staatsicherheit „beschäftigte“ zum ersten Mal Häftlinge für den Bau des Kanals und richtete dafür das Lager am Weißmeerkanal ein: Faktisch war es die Geburtsstunde der Stadt Medvež’egorsk, die zum Verwaltungszentrum des Lagers wurde.¹⁵ Bis heute streiten sich die Historiker um die Zahl der hier beschäftigten Häftlinge (140 000 bis 500 000) und um die Zahl der Todesopfer der Schwerstarbeit, Sprengungsunfälle, Krankheiten und Kälte: Die Zahlen schwanken zwischen 50 000 und 250 000 Häftlingen insgesamt.¹⁶ Der Weißmeer-Ostsee-Kanal wurde nicht nur in Rekordgeschwindigkeit – innerhalb von zwanzig Monaten! – gebaut, was ihn zum Vorzeigeprojekt der sowjetischen Propaganda machte, sondern auch zum Ort der sozialen „Umschmiede“¹⁷ der so genannten „asozialen Elemente“ und klassenfremden „Splitter des sozialen Aufbaus“¹⁸ zu den vollständigen Mitgliedern der sowjetischen Gesellschaft, erklärt. Die OGPU konnte sich somit nicht nur als Helfer der ausgerufenen Industrialisierung, sondern auch als Instrument des human engineering darstellen.¹⁹ Nach der Fertigstellung des Kanals lebten und arbeiteten viele seiner Erbauer weiter hier: nun am Industriekomplex des BBK (Belomorsko-Baltijskij-Kombinat), welches neben der Strecke des Kanals auch das Soloveckij Lager am Weißen Meer, auf der Halbinsel Kola umfasste. Bis Juni 1941, dem Ausbruch des „Großen Vaterländischen Krieges“ gehörte es der OGPU-NKVD, die sich der Aufgabe verpflichtete, die „rückständige“ und „wilde“ Waldregion Kareliens zu industrialisieren.²⁰ Aus dem Lager am Weißmeerkanal (BBLag) wurde das Lager des BBK (BelBaltKombinats), das mehrere Arbeitersiedlungen umfasste. Auf dem Gelände des Industriekomplexes des BBK wurden 1933 etwa 15 000 Bauern (die so genannten „Kulaken“) angesiedelt. Ihre Zahl stieg danach stetig an. Durch die in die Region umgesiedelten Familien und Angehörige

15 Zur Geschichte des Weißmeerkanals siehe: Makhotina, Stolzes Gedenken, S. 33–89. 16 Nick Baron: Conflict and Complicity. The Expansion of the Carelian Gulag 1922–1933, in: Cahiers du monde russe, 42,2–4 (2001), S. 615–648, hier S. 643. Der Autor selbst nennt die Häftlingszahl 143 000, was die Hälfte aller Häftlinge der Jahre 1931–1933 ausmachte. 17 Perekovka war nicht nur ein Agitationsbegriff der Zeit der Visionen von neuen, sozialistischen Menschen, sondern auch der tatsächliche Name der Lagerzeitung „Perekovka“, dt. Umschmiede, die von Häftlingen geschrieben und von Häftlingen gelesen wurde. 18 Baron, Conflict, S. 634. 19 Ebd., S. 638. 20 Ebd., S. 177. Bereits zwischen 1939 und Juni 1941 wechselte BBK die Leitung. Zum einen handelte es sich dabei um das Kommissariat NarKomLes, zum anderen um die Navigationsverwaltung.

36 | Ekaterina Makhotina anderer Nationalitäten ist die Bevölkerungszahl Kareliens gestiegen und viele der Umgesiedelten fielen dem Großen Terror zum Opfer. Nicht minder opferreich war das Ergebnis des Massenterrors in Leningrad und im Leningrader Gebiet. Am 31. Juli 1937 erhielt der Leiter der NKVD-Verwaltung für Leningrad und das Leningrader Gebiet L. M. Zakovskij aus Moskau die Direktive Nr. 00447. Die gigantische Zahl der Hingerichteten (44 479 Menschen²¹) wurde u.a. aus dem Grund erreicht, da zum Leningrader Gebiet damals das Novgoroder Gebiet, das Pskover Gebiet und Murmansker Gebiet sowie ein Teil des Vologodsker Gebietes gehörten.²² Verhaftet wurde man aufgrund von Denunziation, anhand gefälschter Verhörprotokolle und oft auch völlig willkürlich.²³ Beinhaltete der Fragebogen des NKVD (anketnye dannye) Angaben zur sog. „falschen sozialen Herkunft“, „ethnischer Herkunft“ oder Ähnlichem, musste man mit einem harten Urteil, meistens sogar mit dem höchsten Strafmaß rechnen. Somit wurden auch in Leningrad diese „Quoten“ übererfüllt.²⁴ Die Repressierten wurden in Leningrader Gefängnissen erschossen und in Levašovo sowie anderen Orten beigesetzt.²⁵ Mehrere Monate lang fuhren hier LKWs ein, die Tore öffneten sich und die Leichen wurden in die Massengräber gesenkt und Erde draufgeschüttet. Die Gebeine liegen sodann in mehreren Schichten (die Zahlen für Levašovo können nur ungefähr berechnet werden). Die gängige Angabe von Memorial beträgt um die 19 000 Menschen. Oft wird die Zahl für Levašovo allerdings mit 45 000 angegeben.²⁶ Sandormoch und Levašovo mussten lange Jahre geheim bleiben: in dem Befehl 00447 wurde ausdrücklich gefordert, „die Zeit und den Ort des Hinrichtungsbefehls geheim zu halten“.²⁷ Nachdem alle außergerichtlichen Organe auf Parteibeschluss hin ihre Arbeit eingestellt hatten, erhielten die NKVD-Filialen unionsweit Massen von Anfragen nach dem Verbleib von Familienangehörigen. „Verurteilt zu zehn Jahren Freiheitsentzug ohne Recht auf Briefwechsel“, war der Satz, mit dem die Anfragen standardmäßig beantwortet wurden.²⁸ Auch die

21 Flige, Bol’šoj terror. 22 Razumov, Levašovskoe, S. 3. 23 Ebd. S. 17. 24 Ebd. S. 3. 25 In den Vororten Staroe Kovalevo, Berngardovka, Toksovo und Koirankangas, doch bis heute fehlen sie in der Erinnerungstopografie der Stadt. Vgl. Razumov, Levašovskoe, S. 17. 26 Siehe u.a. den russischen Wikipedia-Eintrag unter: http://ru.wikipedia.org/wiki/Лeвaшoвcкoe_мeмopиaльнoe_клaдбищe. 27 Vgl. Razumov, Levašovskoe, S. 5; vgl. auch Aleksandr Čerkassov: Soveršivshie nevozmožnoe, in: Eženedel’nyj žurnal, vom 14.11.2007, unter: http://www.ej.ru/?a=note&id=7547. 28 Vgl. Čuchin, Karelia; sowie Flige, Bol’šoj terror.

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Todesscheine, die im Zuge der Rehabilitierungskampagne von Chruščev die Angehörigen erreichten, nannten falsche Todesursachen (im Lager an einer Krankheit) und verschwiegen den Ort des Todes bzw. der Bestattung.²⁹

Entdeckung der Gräber und Entwicklung der Erinnerungsstätte Die Kenntnis der materiellen Spuren des Großen Terrors ist bis heute nur lückenhaft vorhanden. Lange Jahre geheim gehalten, bekamen sie lediglich in den frühen 1990er Jahren eine erhöhte Aufmerksamkeit. Im Fall von Levašovo, war dessen Geheimhaltung bis 1989 Sache des lokalen KGB, von dem es auch „gepflegt“ wurde – die sinkenden Erdmulden wurden mit Meeressand bestreut, um sie zu verbergen.³⁰ Die von Boris El’cin eingeleitete Rehabilitierungskampagne ermöglichte breit angelegte Suchaktionen nach den geheimen Friedhöfen des NKVD und des GULag. Es war auch die Zeit, in der die lokalen Zeitungen die so genannten martirology – die Erschießungslisten – abdruckten; in der Menschen Rehabilitierungsscheine für ihre „verschwundenen Angehörigen“ erhielten und zum ersten Mal von deren Lagerschicksal erfuhren. Die Maßnahmen zur Vergangenheitsaufarbeitung wurden auf der höchsten politischen Ebene legislativ durchgesetzt – ein Meilenstein waren das Rehabilitierungsgesetz und die Einführung des 30. Oktober als Tag des Gedenkens an die Opfer politischer Repressionen (beides vom 18. Dezember 1991).³¹

29 Die Totenscheine, die während des Tauwetters ausgestellt wurden, nannten das Datum, eine falsche Ursache und keinen Ort des Todes. Vgl. Čuchin, Karelia, S. 134. 30 In den 1960er Jahren wurde in der Verwaltung der Staatssicherheit ein so genanntes „Schema der Datsche“ fertiggestellt mit den Zeitangaben und der Anzahl der Grabstätten; auch der hölzerne Zaun wurde erneuert. Die Bushaltestelle bei Levašovo hieß lange Jahre „Der Club“. Hier in der Nähe war das Unterhaltungszentrum der Fliegerschule mit Tanzclub, Billard und Kino. Mitte 1960er Jahre brannte der Klub aus und ein Teil des Absperrzauns aus Holz wurde beschädigt, doch er wurde wieder vorsichtig aufgebaut, ohne die Absperrzone zu öffnen. Vgl. Razumov, Levašovskoe, S. 19. 31 Die Tradition dieses Tages, der zusammen mit der Rehabilitierung der Opfer angenommen wurde, geht auf das Jahr 1974 zurück. Am 30. Oktober 1974 erklärten die Häftlinge des Permer Lagers einen Hungerstreik als Zeichen des Protestes gegen politische Repressionen. Seitdem etablierte sich der Tag in der nicht-öffentlichen Subkultur in den Haftanstalten, Lagern und betroffenen Familien. Heute ist der 30. Oktober ein Gedenktag an Opfer politischer Repressionen und wird an den Gedenkstätten für Opfer politischen Terrors begangen.

38 | Ekaterina Makhotina Während die Entdeckung des geheimen NKVD-Friedhofs Levašovo bereits 1989 nach der Öffnung der KGB-Archivakten erfolgte, so dauerte die Suche nach Sandormoch viel länger. Wie bei fast jeder Gedenkstätte an die stalinschen Opfer auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion, ist auch die Entdeckungsgeschichte von Sandormoch mit der Tätigkeit von Memorial verbunden. Die Geschichte begann 1988 mit der Suche seitens der Leningrader Aktivisten der Memorial-Gesellschaft nach den Gräbern der Häftlingsgruppe aus dem Sondergefängnis des Solovecki-Lagers (USLON).³² Die Leningrader MemorialMitarbeiter hielten die Auffindung dieser Häftlingsgruppe für ihre Pflicht, weil diese Häftlinge durch die Leningrader Troika zur Erschießung verurteilt worden waren und der Hinrichtungsbefehl durch das Kommando des Leningrader UNKVD ausgeführt wurde.³³ Erst 1995 konnten die Mitarbeiter feststellen, dass während des Großen Terrors 1 825 Häftlinge des Solovecki-Gefängnisses in drei Etappen hingerichtet wurden – 198 gleich auf der Solovecki-Insel und 509 in Leningrad; das Schicksal der übrigen 1 116 blieb noch unbekannt. Aus einem Vermerk in der Akte eines der Vollstrecker der Hinrichtungen, des Leningrader UNKVD-Hauptmannes M. Matveev, ergab sich der Hinweis, dass diese Gruppe von der Solovecki-Insel in das Gefängnis des BelBaltLags gebracht und zwischen dem 27. Oktober und dem 4. November 1937 in der Nähe von Medvež’egorsk hingerichtet wurde.³⁴ Im Laufe der Suchaktivitäten zusammen mit der Petrozavodsker Filiale von Memorial und mit Unterstützung der lokalen Verwaltung wurden im Sommer 1997 in einem der Kiefernwälder zwischen Medvež’egorsk und Povenec etwa 150 Erdmulden mit menschlichen Überresten gefunden. Mit der Zeit stieg die Zahl der aufgedeckten Gräber. Neben der vermissten Solovecker-Gruppe, sind hier noch an die 8 000 anderer Opfer des Großen Terrors entdeckt worden.³⁵ Ganz ähnlich verliefen die Suche und die Sicherung der Massengräber von Levašovo. Auch hier ging die Initiative von einer zivilgesellschaftlichen Organisation aus, die zudem bald von der lokalen Verwaltung unterstützt wurde. Die Suche nach den Massengräbern begann nach dem Beschluss des Politbüros „Über ergänzende Maßnahmen zur Wiederherstellung der Gerechtigkeit in Bezug auf

32 Die Internationale Memorial-Gesellschaft forschte seit 1988 nach den Schicksalen der Häftlinge des Solovecker-Lagers. 33 Pamjat’ i skorb’ Sandormocha, in: 30 oktjabrja 76 (2007), S. 1. 34 Vgl. Čerkassov, Soveršivšie nevozmožnoe und Ve’jamin Iofe: Propavšij etap, in: Nevskoe vremja, am 18.11.1997. 35 Seit Ende Juni 1997 informierte die lokale Presse die Einwohner der Stadt über den Fund der Massengräber. Z.B: Soloveckij rasstrel, in: Dialog, am 25. Juni 1997; Eto bylo na 16-m kilometre, in: Dialog, 9. Juli 1997. 1997 wurde neben Sandormoch noch eine weitere Erschießungsstätte nahe Petrozavodsk gefunden – Krasnyj Bor.

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die Opfer der Repressionen der 30er, 40er und 50er Jahre“ vom 5. Januar 1989.³⁶ Im Frühjahr 1989 stieß die Bürgerinitiative Poisk (Suche) auf die Hinweise der Existenz vom Massengrab in Levašovo. Am 18. Juli 1989 wurde durch den Beschluss des Exekutivkomitees des Leningrader Stadtrates Nr. 544 das LevašovoMassengrab als Gedenkfriedhof anerkannt und fungierte in den Publikationen alsbald als „Levašovo-Ödnis“ (Levašovskaja pustoš’).³⁷ Die Erdgruben mit den Gebeinen der Opfer wiesen sich durch den abgesunkenen Boden aus. Die Massengräber wurden im Laufe der Zeit durch den Meeressand gestützt, ihre Grenzen durch Fäden und Pfähle markiert. Zu keiner Zeit stand zur Diskussion, die sterblichen Überreste der hier ruhenden Opfer zu exhumieren. Im Mai 1990 wurde der Friedhof Levašovo an die städtische Verwaltung übergeben.³⁸ Sofort begann der Prozess der Verewigung des Gedenkens – zunächst wurde eine Kapelle, dann ein Glockenturm gebaut.³⁹ Der Impuls zur Verewigung des Gedenkens an den Staatsterror ging also von den Gedächtnisaktivisten von Memorial aus, die sich zu Sprechern der Erinnerungsgemeinschaft der Opfer gemacht hatten. Ihre Erfolge waren der Tatsache geschuldet, dass sie von einem entsprechenden politischen Diskurs der frühen 1990er Jahre gestützt wurden. Sowohl in Levašovo als auch in Sandormoch wurde an der Entwicklung des Gedenkens auch „von unten“ gearbeitet. Menschen kamen massenhaft zu den Trauermessen, die von örtlichen Priestern der Russischen Orthodoxen Kirchen abgehalten wurden. Es wurden ein Gedenkstein und ein orthodoxes Kreuz aufgestellt, was den Wunsch der Angehörige nach einer religiösen Kommunikation hier an diesem Ort deutlich machte. In den folgenden Jahren wurden die kleinen Grabstellen an Bäumen und am Boden symbolische Grabmale eingerichtet.

36 Postanovlenie Politbüro CK KPSS „O dopolnitel’nych merachj po vosstanovleniju spravedlivosti v otnoshenii zhertv repressij, imevshich mesto v period 30–40-ch i nachala 50-ch godov“. Vgl. Razumov, Levashovskoe, S. 24. 37 Vgl. ebd. 38 Ebd. 39 Ebd.

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Abb. 1: Eines der ersten Denkmäler in Levašovo: GedenkKreuz (A. Volčenkov, 1992).

Formen und Ikonografie der Denkmäler: Steine vs. Kreuze Die Erinnerung an den GULag dominierte die öffentliche Auseinandersetzung mit der sowjetischen Vergangenheit bis Ende der 1990er Jahre. Es war auch die Zeit, in der die ersten Denkmäler für die Opfer politischer Repressionen entstanden: Der Begriff des „Unschuldigen Opfers“ wurde etabliert – davon zeugen auch die Inschriften auf den ersten Denkmälern. Hier war der häufigste Ausdruck „bezvinno zamučennym“ und „nevinnym žertvam režima“ („den unschuldig zu Tode gequälten“ und „den unschuldigen Opfern des Regimes“). Gegenwärtig beläuft sich die Anzahl der in Russland aufgestellten Denkmäler auf 800.⁴⁰ Als Initiatoren fungieren nicht die föderale Ebene der Macht, sondern die lokalen, regionalen Institutionen. In der Mehrheit der Provinzstädte werden sie nicht auf den

40 Arsenij Roginskij: Pamjat’ o stalinizme, in: 30 oktjabrja, Nr. 91 (2009), S. 4.

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Hauptplätzen ausgestellt, sondern in abgelegenen Vororten – dort, wo sich das Lagergelände oder die Lagergebäude befanden. Die zentralen Plätze und Straßen tragen oft weiterhin die Namen der Täter.⁴¹ Doch ein Drittel der Massenerschießungsstellen des NKVD ist bis heute unbekannt. Lediglich 100 sind als solche eingetragen.⁴² Dass die Erinnerung an die Opfer des Terrors weiterhin vor allem regional gefestigt bleibt, spiegelt sich auch in den Büchern des Gedenkens (Kniga pamjati) wider, welche von Memorial herausgegeben werden. Diese Bücher stellen eine akribische Studie dar: Namen und Daten werden aufgelistet, doch leisten sie keinen Beitrag zur Entwicklung des nationalen Gedächtnisses und Wissens über die Repressionen und den Stalinismus. Auch diese Art der Arbeit zur Erhaltung der Erinnerung an die Opfer erfolgt ohne Teilnahme der föderalen Macht.⁴³ Die Praxis der Verstetigung des Gedenkens an die Opfer staatlicher Repressionen ist 25 Jahre alt: 1988 wurde der erste Gedenkstein in Vorkuta errichtet, ein Jahr später das Denkmal auf der Solovecki-Insel, 1990 der Gedenkstein auf dem Lubjanka-Platz in Moskau. Das gemeinsame war die Form: ein robuster NaturMonolith. Nicht von ungefähr ist die Form des unbehauenen Granitsteins als Denkmal für die Opfer der politischen Repressionen am weitesten verbreitet. Anfang der neunziger Jahre hatte man gerade die Denkmäler dieser Art in den Stadtzentren von Moskau, Petrozavodsk, St. Petersburg und Archangelsk aufgestellt. Zum einen, weil die Diskussionen um eine angemessene Form für Denkmal den Opfern politischer Gewalt noch liefen, und zum anderen, weil der unbearbeitete Stein vor allem seinen Herkunftsort symbolisieren sollte. Die von der Solovecki-Insel – dem Ort des allerersten Lagers des sowjetischen Systems – gebrachten Steine weisen auf die Gegenwärtigkeit des Gulag in der städtischen Landschaft und seine „Allgegenwärtigkeit in den Lebenssphären der Menschen“ hin.⁴⁴ Der langjährige Leiter Memorials Veniamin Iofe beschrieb es folgend: Damals ging Memorial davon aus, dass als Denkmal, das alle vereinen würde, ein gewöhnlicher naturbelassener Stein dienen könnte, der dann später bestimmte Formen und Züge annehmen würde – allerdings, erst, wenn sich ein neues Verständnis entwickelt hat. Im Jahr 1989 spiegelte dieser unförmige Fels recht treffend unsere Verletzlichkeit bei diesem Thema und unseren Wunsch, das Wesen dieser Tragödie irgendwie zu verstehen.⁴⁵

41 Die Hauptstraße in Medvez’egorsk trägt den Namen Dzerzhinski-Str. 42 Roginskij, Pamjat’, S. 4. 43 Ebd. 44 Ven’jamin Iofe, zitiert in Natal’ja Konradova: Suche nach der Form: Gulag-Denkmäler in Russland. In: Osteuropa 57, 6 (2007), S. 412–431, hier S. 413. 45 Ebd.

42 | Ekaterina Makhotina Höchst symbolisch ist nicht nur der Stein selbst, sondern auch der Platz seiner Errichtung – in der unmittelbaren Nähe zu den Orten, an denen der Terror geplant und vollzogen wurde bzw. zu den repräsentativen Bauten der sowjetischen Macht. In Moskau steht der Solovecki-Stein seit 1990 am Platz vor der Lubjanka, der Zentrale der sowjetischen Staatssicherheit; in St. Petersburg gegenüber dem ehemaligen Museum der Revolution und vor dem Haus der ehemaligen politischen Häftlinge (Dom politkatoržan). Die Entscheidung zur Errichtung dieses Denkmals ist bereits 1990 gefallen, doch errichtet wurde es erst 2002, auf dem Troickaja-Platz. Der Solovecki-Stein in Petersburg ist vermutlich das am besten gelungene Projekt von Memorial zur Erinnerung an die Opfer des politischen Terrors. Von den Sprechern der Zivilgesellschaft errichtet, vermittelt es den Hauptgedanken: den Widerstand gegen das repressive System. Davon zeugen auch die Inschriften auf dem Gedenkstein: „Den Häftlingen des GULag/Den Freiheitskämpfern“. Das Petersburger Denkmal ist somit vielleicht eine bemerkenswerte Ausnahme aus der Reihe der sonst üblichen Denkmäler. Es erinnert nicht ausschließlich an die Opfer, sondern beinhaltet auch die Komponente des heroischen Kämpfers, der dem autoritären System Widerstand leistet.⁴⁶ Die Diskussion darüber, ob Russland als der Nachfolgestaat der Sowjetunion das Recht hat, die Denkmäler für die Opfer des politischen Terrors während der Sowjetzeit aufzustellen, oder ob dazu – wie im Falle des Petersburger SoloveckiSteins – ausschließlich die zivilgesellschaftlichen Organisationen wie Memorial berechtigt sind, verlief an einem anderen Ort in Petersburg: in Levašovo. Hier wird durch das Hauptdenkmal „Moloch des Totalitarismus“ das Bild des Menschen als Opfer des Systems vermittelt: Es stellt den Akt der Hinrichtung eines Menschen auf einer Fallbeil-ähnlichen Maschine dar, auf deren einer Seite „GOST“ steht, (i.e. „Industrie-Norm“ im Russischen), was den Massencharakter der repressiven Gewalt und Tötung symbolisiert. Dieses Denkmal wurde 1996 von der Stadtverwaltung Anatoli Sobčaks initiiert und aus dem Stadtbudget finanziert.⁴⁷ Eröffnet wurde „Moloch des Totalitarismus“ am 15. Mai 1996. Das tatsächliche Denkmal ist schließlich kleiner ausgefallen und wurde außerhalb des Friedhofsgeländes aufgestellt. Laut Memorial sollte der Staat keine Denkmäler für die Opfer des Ter-

46 Nach Zuzanna Bogumil, wird diese Heroik durch einen weiteren Aspekt bestätigt. Der Petersburger Solovecki-Stein wurde aus dem Ort Savvat’evo mitgebracht, einem Lagerort, in dem es 1923 einem Aufstand der politischen Häftlinge gegen die Wächter gab. Vgl. Zuzanna Bogumil: Kresty i kamni: Soloveckie simvoly v konstruirovanii pamjati o gulage, in: Neprikosnovennyj zapas 3,71 (2010), S. 11–29, hier S. 19. 47 Vgl. http://russia.bestpravo.ru/piter2008/data062/tex062725.htm.

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Abb. 2: Das Denkmal für Opfer und Widerstandskämpfer gegen den kommunistischen Terror: Der Solovecki-Stein“ in St. Petersburg.

rors, für den er selbst die historische Verantwortung trage, aufstellen.⁴⁸ Gerade die Überlebenden, so der essenzielle Gedanke von Memorial, sollten aus ihrer passiven Rolle als Objekte heraustreten und als Subjekte, als mutige Kämpfer, die ihre Erfahrung in die Denkmalform überführen, handeln.⁴⁹ Dieser Anspruch konnte allerdings nicht umgesetzt werden. Trotz des ursprünglichen Plans, dass die Natursteine von Solovecki-Inseln eine provisorische Rolle spielen sollten, um später den „richtigen“ Mahnmalen Platz zu machen, existieren diese Steine bis heute. Für die Aktivisten der Gesellschaft Memorial haben sie nach wie vor eine große Bedeutung: die SoloveckiSteine werden – v.a. von den liberalen Kräften wie Jabloko und weiteren oppo-

48 So Irina Flige im Gespräch im Rahmen des Projektes „Geschichte mit den Augen des Anderen sehen“, 2007. Vgl. auch Kathleen E. Smith: Conflict over designing a Monument to Stalin’s Victims. Public Art and Political Ideology in Russia 1987–1996, in: James Cracraft/ Daniel Rowland (Hrsg.), Architecture of Russian identity. 1500 to Present. Ithaca/ London 2003, S. 193–203. 49 Ebd., S. 203.

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Abb. 3: Moloch des Totalitarismus am Eingang in die Gedenkstätte Levašovo.

sitionellen Kräften – als Versammlungsorte genutzt, sowohl am Tag der Opfer politischer Repression (30. Oktober) als auch für politische Protestaktionen.⁵⁰ Gleichwohl ist die Gesellschaft Memorial nicht der einzige Erinnerungsakteur in Russland. Die Russisch-Orthodoxe Kirche (ROK) ist ein weiterer und präferiert einen anderen Erinnerungsdiskurs und eine andere ikonografische Form der Denkmäler. In Levašovo wurden am 21. Oktober 1989 und am 14. April 1990 die ersten Trauermessen abgehalten und zugleich an einem Baum ein orthodoxes Kreuz befestigt.⁵¹ Bereits 1992 wurde am Eingang der Gedenkstätte ein „GedenkKreuz“, „pamjatnyj krest-golubec“ (Kreuz mit einem dreieckigen Dach), mit einer Christus-Ikone aufgestellt.⁵² In Sandormoch wurde ein paar Monate nach der

50 Zu den Aktionen des zivilen und politischen Protestes vgl.: http://www.solovki.ca/events/ solovetski_stone_moscow_1/solovetski_stone_moscow_1.php. 51 Razumov, Levašovskoe, S. 24. 52 am 7. Mai 1992 aufgestellt von dem Bewohner des Nachbarortes Novoselki, Aleksandr Volchenkov.

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Auffindung der Gräber eine ROK-Kapelle gebaut.⁵³ Daran wird deutlich, dass sich die ROK früh und entschieden als Erinnerungsakteur und Gestalter der Gedenkfriedhöfe engagierte. Doch die Tatsache, dass ein Orthodoxes Kreuz eine sehr häufig verbreitete Form des Denkmals darstellt, ist nicht nur mit einem starken Engagement der Russisch-Orthodoxen Kirche zu erklären. Oft liegt es auch in der bereits ausgeführten Schwierigkeit, eine Form für die Opfer des Staatsterrors jenseits der sowjetischen Ausdrucksformen zu finden.⁵⁴ Die religiöse Symbolik bot hier einen Ausweg an. An vielen Orten wurden orthodoxe Kreuze aufgestellt wie auch kleine Kapellen: Sie sind nicht nur Ausdruck eines sakralen Totengedenken und traditionelle Markierung einer Grabstätte, sondern können auch als ein anti-sowjetisches Mahnmal verstanden werden, das vorrevolutionäre, russische, visuelle Codes aufgreift und zugleich zurück ins Gedächtnis ruft.⁵⁵ Auch in Sandormoch knüpft die Gestaltung des Hauptdenkmals an die massiven Natursteine des Solovecki-Archipels an, vereint diese aber auch mit der christlichen Symbolik und Botschaft: genannt wurde das Denkmal am Eingang zum Gedenkkomplex „Erschießung mit dem Engel“.⁵⁶ An der Vorderseite des recht großen Steins ist ein Basrelief angebracht, das einen Engel darstellt, der mit gebundenen Händen in ein Grab fällt. Ähnlich wie in Levašovo, wird hier ein mensch-ähnliches Wesen im Moment der Tötung festgehalten. Das Symbol eines unschuldigen engelhaften Opfers kommt hier somit zum Ausdruck – wiederum ein Trauer-Motiv: auch hier wird den Überlebenden weder Hoffnung noch eine Sinnstiftung des Todes vermittelt. Aufgestellt wurde es 1998 auf die Initiative des Petrozavodsker Bürgerrechtlers Jurij Dmitriev hin und finanziert aus den Mitteln der Republik Karelien. Es ist das einzige Denkmal auf dem Gelände von Sandormoch, das dem staatlichen Denkmalschutz unterliegt. Die Holzpfähle und die Kapelle, die ersten Zeichen der Verewigung des Gedenkens, sind lediglich Denkmale von lokaler Bedeutung.⁵⁷ Das Denkmal in Sandormoch trägt zudem die

53 Interview mit V. Magutin, am 15. November 2007. Magutin war 1997 der Direktor des Unternehmens Raduga, das den Auftrag zur Gestaltung von Sandormoch erhielt. 54 Smith, Conflict, S. 195 und 197. 55 Ebd., S. 197. Für die anderen Formen des Gedenkens, die einen Menschen darstellen, gibt es wenige, aber dafür berühmte Ausnahmen – wie die „Maske der Trauer“ (Maska skorbi) von Ernst Neizvestnyj in Magadan und die Sphinx von Mikhail Šemjakin gegenüber dem Gefängnis Kresty in St. Petersburg (aufgestellt 1995). Das Denkmal stellt eine Sphinx-Figur dar, die in zwei Hälften geteilt ist: halb menschlich, halb tierisch. Da in Petersburg die Figuren der Sphinx am Neva-Kai zu den bekanntesten Stadtskulpturen gehören, ist hier dem Künstler auch eine sinnbehaftete Anspielung gut gelungen. 56 Bildhauer Grigorij Saltup. 57 Interview mit Vjaceslav Kaštanov, damals Bürgermeister von Medvez’egorsk, am 8. April 2008.

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Abb. 4: „Erschießung mit dem Engel“ am Eingang in die Gedenkstätte Sandormoch.

Inschrift: „Menschen, tötet einander nicht!“: So wird hier zugleich eine neutestamentarische Botschaft formuliert. Kritisch wäre dabei zu sehen, dass dadurch der Terror gewissermaßen entpolitisiert wird: das Geschehen in Sandormoch wird dargestellt als die willkürliche Gewalt und es wird um die Opfer getrauert, ohne dabei das Ereignis zu deuten.⁵⁸ Wenn in St. Petersburg die Erinnerung an die Opfer staatlicher Repressionen auch im Stadtzentrum präsent ist – durch den Solovecki-Stein – so ist dies in Medvež’egorsk nicht der Fall. Gleichwohl wäre gerade hier, im ehemaligen Zentrum des Lagerkomplexes, ein Denkmal für die Opfer des Stalinismus angebracht. Das einzige Denkmal, das an die Opfer des Kanalbaus erinnert, befindet sich in Povenec. Es ist ein massiver Granitstein mit der Inschrift: „Den unschuldig umgekommenen Bauarbeitern des Weißmeerkanals“. In diesem Fall wird das Motiv der unschuldigen Opfer irritierenderweise durch eine positive Gedenkbotschaft in einer unten stehenden Inschrift ergänzt: „Zu Ehren des 500sten Jubiläums der Stadt Povenec“. Der aktuelle Zustand des Denkmals ist schlecht: Verfallen und

58 Vgl. hierzu auch Alexander Etkind: Vremja sravnivat’ kamni. Postrevoljucionnaja kul’tura političeskoj skorbi v sovremennoj Rossii, in: Ab Imperio 2 (2004), S. 33–76, hier S. 70–72.

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halbzerstört steht es inmitten des Straßenmülls. Das Denkmal wird offensichtlich weder für offizielle noch für individuelle Gedenkpraktiken genutzt. Der ursprüngliche kritische Diskurs zur sowjetischen Vergangenheit der Glasnost’-Jahre wurde weder von der politischen Elite noch von der Gesellschaft mitgetragen. Viele Menschen erlebten die frühen 1990er Jahre als Zeit der wirtschaftlichen Misere und nationalen Demütigung und sehnten sich zunehmend nach einer Orientierung an der positiven, heroischen Vergangenheit des Landes. Der erste Schritt dazu wurde unter El’cin 1995 getan, der die Parade als Form des Kriegsgedenkens wiedereinführte. Die bestehenden Denkmäler für die Opfer wurden lediglich formell weitergeführt, ohne den besonderen Einsatz der lokalen Verwaltung. Das Gedenken an die Opfer wurde also nicht in ein kulturelles Langzeitgedächtnis überführt, wie z.B. die Erinnerung an den „Großen Vaterländischen Krieg“ in Russland, die von der politischen Macht stets auch Aktualisierung und Popularisierung erfährt. Dies könnte auch der Grund sein, warum Levašovo und Sandormoch in ihrer ursprünglichen Gestaltung erhalten geblieben sind.

Personalisierung der Gräber Sandormoch und Levašovo tragen viele Spuren einer nicht-staatlichen, individuellen Erinnerungskultur. Die Baumstämme, Pfähle und Erdstücke sind als persönliche Grabstätten gestaltet. Seit Ende Juni 1997 berichtete die lokale Presse von Medvež’egorsk (Zeitungen „Vpered“, „Dialog“) über den Fund der Massengräber. So vermuteten viele aus der Region den lang vermissten Vater oder Großvater in Sandormoch: ob jemand hier tatsächlich beigesetzt wurde, war nicht bekannt. Weder die genaue Zahl der Gebeine, noch die Namen der Opfer, mit Ausnahme der Häftlingsgruppe von den Solovki, konnte festgestellt werden. Trotzdem war es für viele wichtig, eine symbolische Grabstätte einzurichten.⁵⁹ So begannen die Angehörigen der Opfer ziemlich bald nach der offiziellen Eröffnung der Gedenkstätte Sandormoch am 27. Oktober 1997 mit der Personalisierung der Gräber. Ursprünglich wurden hier an den 236 Erdmulden Holzpfähle aufgestellt, um die Gräber zu markieren. Doch bald wichen die Holzpfähle den Kreuzen einer besonderen Form, dem sog.

59 Nach der Aussage Ludmila Stepanovas, deren Vater dem Großen Terror zu Opfer fiel, hatte sie von der Existenz von Sandormoch 1997 erfahren und ihren Vater gleich dort vermutet. Interview am 8. April 2008.

48 | Ekaterina Makhotina „Krest-Golubec“, also einem „Kreuz“ mit einem dreieckigen Dach an der Spitze.⁶⁰ Diese Form geht zum einen auf die in Nordrussland und Karelien verbreitete Form der Grabkreuze zurück.⁶¹ Zum anderen sollten die Kreuze eine überkonfessionelle Form haben, denn sowohl Orthodoxe als auch Katholiken (Polen, Litauer), Protestanten (Finnen, Esten) sowie Juden und Muslime, Atheisten und Zeugen Jehovas fielen dem Großen Terror zum Opfer.⁶² An den hölzernen Kreuzen wurden bald Grabmäler mit Blumen, Fotoporträts auf Emaille-Schildern, individuelle Widmungen in Prosa und Poesie eingerichtet. Mittlerweile trägt aber jedes Kreuz mehrere Gedenkzeichen – ein und derselbe Pfahl dient als Ort der Trauerarbeit für mehrere Familien zugleich. Neben den Kreuzen finden sich individuelle Zeichen auf den Baumstämmen und auf der Erde (Plastikblumen, Steinstücke mit Fotografien, Daten und den Namen der Erschossenen). Die Gräber sind nicht einheitlich eingerichtet und man erkennt die soziale Herkunft der Angehörigen: mal sind es elegante Schilder mit Gravur, mal einfache Pappkartons mit den handschriftlich geschriebenen Namen, die durch die Zeit verblasst sind. Dass Sandormoch vor allem als Friedhof fungiert, bezeugt auch die Art des Totengedenkens in Form einer zivilen Trauerarbeit: man legt ein Stück Brot oder Pralinen für die Toten zu dem Pfahl. Diese Friedhofähnliche Ausgestaltung wird zudem durch die Attribute der ROK verstärkt, wie der Kapelle des Heiligen Georgijs. Die innere Ausgestaltung ist durchaus bescheiden. Neben den kleineren Ikonen steht hier noch ein Fass mit Sand, in welches die Kerzen eingesteckt werden können. Auch ein Buch des Gedenkens (dem mittlerweile mehrere Seiten fehlen) liegt aus. Den Eingang markiert das Verneigungs-Kreuz, in einer ähnlichen Form wie das Kreuz auf der Sekirnaja Gora auf den Solovki und in Butovo. In Levašovo sind die individuellen Gräber nicht nur mit Drei-Ecks-Kreuzen, sondern mit klassischen Grabkreuzen markiert, zudem gibt es Gedenksymbole unterschiedlichen religiösen Inhalts: ein russisches orthodoxes Kreuz mit JesuIkone, eine Glocken-Kapelle, ein Trauerkreuz unter dem Namen „Beichte“, ein katholisches Kreuz, ein evangelisches Kreuz. Orthodoxe Kreuze dienen zudem als Denkmäler für die regionalen Opfergruppen – so gibt es Kreuze für Bürger aus Pskov, Vologda und Novgorod.

60 So sind es die Kreuze in ihrer besonderen Form (mit einem kleinen dreieckigen Dach), die nicht nur auf dem Friedhof verbreitet ist, sondern auch an den historischen Orten des Verbrechens, wie z.B. auf dem Erschießungsort Sekirnaja Gora auf der Solovecki-Insel. 61 Vgl.: Karelia, in: Živopisnaja Rossija 1 (2006), S. 13. 62 Dieser Wunsch, niemanden auszuschließen, spielte bei einem weiteren Gedenkfriedhof eine Rolle: der Gedenkstätte Krasny Bor bei Petrozavodsk. Interview mit Jurij Dmitriev (Petrozavodsk), am 4. und 5. April 2008.

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Abb. 5: Individuelle Grabmale in Sandormoch.

Vieles, was man an Gestaltungselementen in Levašovo und Sandormoch sieht, ist auch für viele „gewöhnliche“ Friedhöfe typisch. Darauf, dass es jedoch keiner ist, verweist die Einheitlichkeit der Todesdaten (1937/38) auf den Namensschildern wie auch eingerahmte Archivkopien, wie z.B. Rehabilitierungsscheine und Erschießungsbefehle. Gerade diese Elemente – die Sichtbarkeit der menschlichen Hand – geben den beiden Gedenkstätten so eine starke emotionale Kraft.

Rituale des Gedenkens Auch wenn die meisten Rituale des Gedenkens individuellen Charakter haben, gibt es an beiden Orten offiziell-staatliche Rituale des Gedenkens. In Sandormoch finden am 5. August⁶³ jährlich die Internationalen Gedenktage an die Opfer des

63 1998 wurde von der Gesellschaft Memorial beschlossen, die Tage des Gedenkens jährlich am 5. August – dem Tag des Beginns des Großen Terrors – stattfinden zu lassen.

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Abb. 6: Individuelles Grab in Levašovo.

Großen Terrors statt – für die Stadtbewohner von Medvež’egorsk stets die aufsehenerregendste Veranstaltung. Organisiert werden die Gedenktage von der Internationalen Gesellschaft Memorial in Moskau, der Stiftung Dmitri Lichačev, der Regierung der Republik Karelien und der Gebietsverwaltung von Medvež’egorsk. Ungeachtet der Tatsache, dass die Träger des rituellen Andenkens nicht kirchlich sind, beginnt die Gedenkzeremonie traditionell mit einer Prozession am Verneigungskreuz und einem Gottesdienst, angeleitet vom Vorsteher der ROK von Medvež’egorsk, Vater Georgij. Anschließend werden Reden der lokalen Politiker gehalten. In St. Petersburg ist der 30. Oktober der Tag, an dem die städtische Verwaltung eine offizielle Gedenkzeremonie durchführt. Dabei werden Namen der Opfer verlesen und auch hier wird ein Gottesdienst abgehalten. Auch in der rituellen Ausgestaltung der Erinnerungsorte ist die Komponente des kirchlichen Gedenkens äußerst deutlich. Auf die Initiative der Kosaken von Petersburg hin wurde in Levašovo am 16. Juni 2012 zum ersten Mal eine göttliche Liturgie abgehalten, angeleitet von Vladimir Sorokin, dem Vorsitzenden der Kommission für Kanonisierung der Knjaz’-Vladimirski Sobor. Die Liturgie sollte, laut Presse-

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bericht, daran erinnern, dass hier an die 2 500 Geistlichen ruhen: die Gläubigen kämen hierher, um durch das Gebet den „Glaubensmärtyrern“ zu gedenken, so der Oberpriester. Während der Liturgie wurde das Vorhaben erläutert, an diesem Ort demnächst eine Russisch-Orthodoxe-Kirche zu errichten.⁶⁴ Gegenwärtig befürchten Mitarbeiter der Gedenkstätte Levašovo, dass durch die Übergabe des Gedenkstätten-Geländes an die Kirche die größte Fläche zur Errichtung des städtischen Friedhofs freigegeben wird. Umso mehr würde dadurch der Ort Levašovo an seinem Gedenkstätten-Charakter verlieren.⁶⁵ Noch ist Levašovo in der finanziellen Trägerschaft der städtischen Verwaltung, die das Unternehmen „Rituelle Dienste“ mit den Renovierungsarbeiten beauftragt.⁶⁶ Die Übergabe der staatlich geführten Gedenkstätte an die Kirche würde einen weiteren wichtigen Schwenk in der russischen Gedenkstättenpolitik darstellen und noch mehr die Zunahme der Rolle der ROK als Erinnerungsakteur demonstrieren. Kein Wunder, dass das starke Engagement der ROK der Gesellschaft Memorial missfällt. Zwischen den beiden Erinnerungsakteuren besteht – sowohl in Sandormoch als auch in Levašovo – ein andauernder Konflikt.⁶⁷ Laut Memorial löst die starke Vereinnahmung der Gedenkrituale durch die Kirche den Gedenkort von seinem historischen Kontext. Sie überführe ihn in die Sphäre des entpolitisierten, religiös-sakralen Märtyrer-Gedenkens, wobei der Große Terror vor allem ein politischer war.⁶⁸ Die Position der Gesellschaft Memorial ist durchaus nachvollziehbar. Die symbolische und rituelle Dominanz der ROK führt das Thema des Großen Terrors weg von der Dimension der Bildung über das Gewaltsystem und Mechanismen des staatlichen Terrors, hin zu einer affektiv aufgeladenen Sphäre der menschlichen Tragödie. Das Totengebet lässt das Geschehen hier unverstanden und kognitiv unverarbeitet. Dies kann auch den Befund erklären, warum die meisten Einwohner von der Existenz des Ortes Sandormoch wissen und auch oft hingehen, doch die

64 Na Levašovakoj pustyni – na meste massovych zachoronenij rasstreljannych v Leningrade – vpervye sovershena Liturgija, unter: http://www.taday.ru/text/1658726.html. 65 Interview mit der Mitarbeiterin der Gedenkstätte am 5. Januar 2013. 66 Die letzten wurden 2008 gemacht. Vgl. Razumov, Levašovskoe, S. 25. Interview mit der Mitarbeiterin der Gedenkstätte am 5. Januar 2013. 67 Im Interview mit Vater Georgij, dem Vorsteher der ROK von Medvež’egorsk, zeigte sich, dass die Vorsteher der Kirche nicht selten den politischen Terror zudem auf eine nationalistische Geschichte brechen: es seien alles Nicht-Russen gewesen, die die Russen vernichtet hatten. Hier spielt ein antisemitisches Gedankengut mit. Zudem haben Geistliche oft ein positives Bild von der Stalinzeit, verknüpfen den Terror also nicht mit seiner Person. Für Memorial-Gesellschaft sind solche Positionen unhaltbar. 68 Kritik hierzu auch bei Etkind, Vremja. S. 71.

52 | Ekaterina Makhotina historischen Ursachen und somit den Kontext der Massenrepressionen nicht kennen und oft falsche Zeitangaben machen.⁶⁹

Transnationale Erinnerung an den stalinistischen Terror Sandormoch und Levašovo sind nicht nur für Russen, sondern auch für Polen, Ukrainer, Esten, Finnen und Litauer wichtige Orte. Für die Aufstellung der Denkmäler für die nationalen Opfergruppen sind die entsprechenden geschichtspolitischen Institutionen der erwähnten Staaten zuständig, wie z. B. das IPN in Polen und das Zentrum für Genozid- und Widerstandsforschung in Litauen. Die Denkmäler, die von den ethnischen oder konfessionellen Verbänden nach Abklärung mit der lokalen Stadtverwaltung aufgestellt wurden, befinden sich an einem besonderen Abschnitt des Gedenkortes, der so genannten „Wiese des Gedenkens“ (poljana pamjati) in Sandormoch. In Levašovo sind sie ohne Struktur verteilt. Die Steine, Kreuze und Stelen sind unterschiedlich groß und aus verschiedenem Material, stehen dicht beieinander und vermitteln den Eindruck eines bunten Konglomerates an Gedenkinitiativen und Leidensgeschichten. Neben den nationalethnischen Gruppendenkmälern markieren Trauerbänder von verschiedenen Nationen das Feld des Gedenkens in Levašovo. Jede nationale Opfergruppe hat einen eigenen Tag, um den Opfern ihres Volkes zu gedenken. Das Gedenken ist somit in nationale Kategorien unterteilt. Der Blick auf die Gedenksteine auf dem Friedhofsgelände gibt einen Eindruck von den unterschiedlichen nationalen Mahnmalkulturen. Sie geben wieder, wie die Esten, Litauer, Polen, Finnen an „ihre“ Opfer politischer Repressionen erinnern, indem sie die unterschiedlichen Formen und Erinnerungsbotschaften demonstrieren. So sind hier mal Zitate aus der Heiligenschrift, mal säkulare Sätze zu lesen.

69 Viele Stadtbewohner besuchen den Gedenkort Sandormoch nicht nur am offiziellen Gedenktag, dem 5. August, sondern in erster Linie an den individuellen Gedenktagen: „wenn jemand zu Besuch kommt“, oder weil „die Umgebung hier schön“ ist; auch zu familiären Feieranlässen oder zu religiösen Festen wie Ostern oder Pfingsten und paradoxerweise auch am 9. Mai. Interviews im April 2008.

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Abb. 7: Denkmal für die litauischen Opfer des stalinistischen Terrors in Sandormoch.

Leerstellen: (K)ein Ort der historischen Bildung Die historischen Informationen vor Ort beschränken sich auf das Übliche für die russische Friedhofspflege. So lautet die Inschrift auf einer Informationstafel in Sandormoch: „Bürger! Während des Friedhofsbesuchs wird gebeten, die Ordnung und Sauberkeit zu wahren. Auf Wunsch darf man Blumen hinlegen und Kerzen anzünden.“ In Sandormoch gibt es weder eine Informationstafel noch eine historische Ausstellung. Das Friedhofsgelände wird auch nicht bewacht, was u.a. Vandalismus ermöglicht. So wurde 2007 das Basrelief „Erschießung mit dem Engel“ zerschlagen und befand sich lange Jahre in der Reparatur. Weder in Povenec noch in Medvež’egorsk gibt es in der Stadt Hinweise auf diesen Ort oder einen Wegweiser. Lediglich im städtischen Landeskundemuseum in Medvež’egorsk kann man einige Informationen über den Ort finden. In dem hier ausgelegten Flyer „Sandormoch – das schwarze Herz des Gulag“ wird der Leser auf folgende Weise

54 | Ekaterina Makhotina über den Ort informiert: „. . . mehr als sieben Tausend unschuldige Menschen – Arbeiter, Bauern, Angestellte, Geistliche, Militärs, starben durch die Hände von Henkern, die einen gnadenlosen Krieg gegen die eigene Bevölkerung führten.“⁷⁰ Wer genau diese Henker waren und dass die Gewalt ein dem Stalinismus inhärentes Element gewesen ist, wird nicht gesagt. Diese Offenheit des Täterbildes lässt logischerweise einen beachtlichen Raum für Interpretationen. Bis heute sind die in der Sowjetzeit verbreiteten Vertuschungsversionen im Umlauf, dass die Gräber angeblich die Reste der Opfer der Erschießung der sowjetischen Kriegsgefangenen durch finnische Soldaten im sowjetisch-finnischen Krieg 1940 beherbergen. Die hier starke lokale Filiale der KPRF besteht auf dieser Version und bringt diese in den öffentlichen Diskurs ein. Auch der langjährige Chef des Weißmeerkanals, Evgeni Volkov, hält an dieser Version fest.⁷¹ Der politische Terror in Russland zeichnete sich durch einen hohen Grad an Vermischung von Tätern und Opfern aus. Nicht selten wurden jene, die im repressiven System arbeiteten, Befehle zur physischen Vernichtung gaben oder die Urteile auch vollstreckten, selbst Opfer der Vernichtung. Die bekanntesten Beispiele sind die Schicksale der NKVD-Chefs Genrich Jagoda (Erschossen 1938) und Nikolaj Ežov (erschossen 1940). Gleichwohl gab es auch im „Mittelbau“ und auf der lokalen Ebene viele Personen, die Täter und Opfer gleichzeitig waren. Einige historische Figuren, die in Levašovo beigesetzt sind, können zu solchen gerechnet werden. Das herausragende Beispiel ist hier sicherlich Aleksej A. Kuznecov, der Erste Sekretär des Leningrader Parteikomitees 1945–1946. Er hatte zwischen Januar und Juli 1938 Tausende von Erschießungsurteile unterzeichnet und fiel 1949 selbst der so genannten Leningrader Affäre zum Opfer. Im Januar 1950 wurde er verhaftet und zur Erschießung verurteilt – beigesetzt wurde er, wie alle Erschießungsopfer, in den Massengräbern von Levašovo. 1954 rehabilitierte man ihn. Von nun an nahm er in der sowjetischen Historiografie einen heroischen Platz ein, denn ihm wurde das Überleben Leningrads in der Blockade zugeschrieben. Seit 1979 trägt eine Straße in St. Petersburg im Krasnosel’ski Stadtgebiet seinen Namen. Die sowjetische Historiografie verschwieg allerdings sein Opfer- bzw. Täterschicksal. Seine Person bekam erst in der Glasnost’-Zeit wieder Aufmerksamkeit. Die Diskussion entflammte 1995, als die Familienangehörigen den Wunsch nach einem Grabmal für ihn auf dem Gedenkfriedhof Levašovo zum Ausdruck brachten. Dagegen protestierten die Angehörigen der hier beigesetzten Opfer des Terrors, an dem sich Kuznecov ja auch beteiligte. Der damalige Bürgermeister von

70 Sandormoch – černoe serdce Gulaga. Informationsangabe. O. J. 71 V čem smysl akcii Pokajanie?, in: Dialog, am 24. Oktober 1997. S. 2.

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St. Petersburg, Anatoli Sobčak, ging auf die Wünsche der Opfer ein und untersagte die Errichtung des Grabsteins für Kuznecov auf dem Friedhof. Zehn Jahre später begann die Debatte erneut. 2005 (auch im Zusammenhang mit dem Jahrestag des Sieges im „Großen Vaterländischen Krieg“) wurde der Name Kuznecovs wieder im heroischen Lichte betrachtet. Seine Teilnahme an den Erschießungsurteilen wurde außer Acht gelassen. Mit einem Pro-Denkmal-Brief wandten sich einige Vertreter der Kulturelite an den Präsidenten Russlands Vladimir Putin. Darin hieß es, Kuznecov solle ein „angemessenes Denkmal“ bekommen.⁷² Auch hier meldete der Verein der Opfer politischer Repression Protest an, doch von der Stadtverwaltung kam weder eine positive noch eine negative Reaktion. Auf dem Gedenkfriedhof Levašovo selbst findet der Name Kuznecovs keine Erwähnung – weder als Opfer noch als Täter. In dieser Hinsicht ist Levašovo keine Besonderheit. Es gehört zur Paradoxie der russischen Erinnerungskultur, dass Täter und ihre Opfer nebeneinander liegen. Ein weiteres bekanntes Beispiel dafür ist der DonskoeFriedhof in Moskau. Hier, ähnlich wie in Levašovo, wurden die Erschossenen des Großen Terrors beigesetzt. Hier liegen auch die Täter – so u.a. der Hauptmann der Staatssicherheit Vassilij Blochin (gestorben 1955). An seinem Grab, am prominenten Platz vor dem Eingang platziert, steht ein Trauermahl aus schwarzem Granit. Dabei liegen Opfer des Großen Terrors in einem Massengrab, dem so genannten Grab der „unaufgeforderten Gebeine“. Unter ihnen befindet sich auch ein Namensschild für den Marschall Michail Tuchačevskij.⁷³ So bleibt der Aufruf der Gedichtstrophe an einem der individuellen Denkmäler in Levašovo unbeantwortet: „furchterregend sind die Geräusche der Nächte. . . Nennt doch für die Nachfahren die Henker und die Zuträger“.⁷⁴ Dabei gibt es Levašovo sehr wohl ein kleines „Museum“, das im ehemaligen Wachhaus auf dem Friedhofsgelände eingerichtet ist. Der Raum selbst ist vielleicht zwölf Quadratmeter groß. In den Ecken stehen Körbe mit künstlichen Blumen, in der rechten Ecke des Zimmers steht die Ikone der Gottesmutter. Es ist somit vielmehr ein Raum der Andacht. Eingerichtet wurde er offenbar nicht von professionellen Historikern, sondern von den Angehörigen selbst. Die Informationstexte sind handgeschrieben, auf nun schon verblasstem Papier. 1993 wurde hier die Ausstellung „Der Große Terror“ mit einigen Materialien eröffnet.⁷⁵ Der Museumsbesucher wird von einer Tafel empfangen, mit einer Überschrift des Zitats von Anna Achmatova:

72 http://www.ntv.ru/novosti/62460/#ixzz2aGEms3Mm. 73 Vgl. dazu The New Times 7, am 4.3.2013, S. 30–37; S. 31. 74 „Žutki šorochi nočej. . . nazovite dlja potomkov palačej i stukačej“. 75 Vorbereitet wurde die Ausstellung zum Großen Terror von Lucija Bartaševič, heute Vorsteherin des „Vereins der Opfer der unberechtigten Repressionen“. Vgl. Razumov, Levašovskoe, S. 25.

56 | Ekaterina Makhotina „Ich möchte sie alle beim Namen nennen“⁷⁶, weiter folgt die großgeschriebene Inschrift auf einer Informationstafel: „Auf der Levašovo-Ödnis sind 46 771 Menschen beigesetzt.“⁷⁷ Es sind die Zeichnungen der Künstler, die ihrer Angehörigen gedachten, Briefe und sämtliche Scheine des NKVD sowie Stalin-Zitate, die die Anwendung der Foltermethode guthießen. Statt der typischen Schaufenster-Vitrinen stehen hier einfache Schränke. Die Regale sind dicht gefüllt mit Reliquien der Opfer, mit Erinnerungsstücken, die die Angehörigen hierher brachten (unter anderem selbst geschriebene Gedichte, Samizdat-Bücher, handgemachte Memorabilien), darunter auch künstliche Blumen, gestrickte Tücher, Ikonen, Fotoportraits in Holzrahmen, Rehabilitierungsscheine, Zeitungsartikel und vieles mehr. Auch in der Ausstellung sind viele religiöse Zeichen des pietätvollen Andenkens zu sehen: Kreuze, Madonna-Bilder, all die der kirchlichen Ausstattung typischen Attribute. Die Ausstellung ist mit den Jahren organisch gewachsen. Am Eingang erklärt die handgeschriebene Anzeige: „Geehrte Besucher – wir bitten Sie, an der Ergänzung der Museumsausstellung teilzunehmen. Teilen Sie alles, was mit den Jahren des Stalinschen Terrors zu tun hat.“ In den zwanzig Jahren ihrer Existenz wurde die Ausstellung durch die neuen Erinnerungstücke ergänzt, doch konzeptionell ist sie nicht weiter entwickelt worden.

Schlussbemerkung Den Gedenkstätten Levašovo und Sandormoch ist eine starke emotionale Wirkung nicht abzusprechen. Gerade die Ungemachtheit der Gelände und der Gräber, die versunkenen Erdmulden, vermitteln eine historische Aura des hier stattgefundenen Verbrechens. Beide Gedenkstätten sind Orte des traumatischen Gedächtnisses. Anders als bei Denkmälern für Kriegshelden läuft das Gedächtnis traumatischer Orte nicht auf positive Identitätsstiftung hinaus. Den Überlebenden ist es schlichtweg unmöglich, eine Hoffnung oder symbolisches Kapital für die Zukunft zu generieren.⁷⁸ Wie Aleida Assmann dies in Anlehnung an Lawrence

76 „Chotelos’ by vsech poimenno nazvat’“, Gedichtzeile aus dem „Requiem“, von Anna Acmatova, geschrieben wahrscheinlich am 10. März 1940. 77 Diese Wiederholung der alten Zahl der Opfer ist bemerkenswert, denn, wie bereits erwähnt, ergaben die archäologischen Untersuchungen, dass in Levašovo Gebeine von etwa 19 000 Menschen liegen. 78 Vgl. hierzu konzeptuelle Ansätze von Aleida Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München 2006, S. 218ff; dies.: Stabilisatoren der

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Langer feststellte, haftet diesen Stätten ein „unheroisches Gedächtnis“ an, welchem weder positive Werte noch eine zukunftsgerichtete Rhetorik abzuverlangen sind.⁷⁹ Das Gedächtnis, das diesen Orten anhaftet, geht auf Traumatisierungen in der fernen Vergangenheit zurück, die die Opfer damals nicht in die rettenden Symbole überführen konnten. Das Trauma wurde nicht kommuniziert, auch nicht im Kreis der Familie und blieb unverarbeitet. Die beiden Stätten sind also nicht die Orte des kollektiven Gedenkens, also nicht die lieux de memoires im Nora’schen Sinn, sondern Orte der individuellen, privaten Trauerarbeit der Angehörigen der Opfer. Der im Beitrag ausgeführte Stillstand in der Entwicklung der Gedenkstätten entspricht auch dem kollektiven, oder richtiger, politischen Erinnerungsdiskurs im Umgang mit den Orten der Erinnerung an die Opfer des politischen Terrors. Während sich die politische Elite in den 1990er Jahren bei der Errichtung der Gedenkstätten engagierte, hält sich die heutige Elite raus: für sie ergibt sich an diesen Orten keine Möglichkeit einer sozialen oder politischen Bedeutungszuschreibung. Aus diesem Grund fehlt in Levašovo und Sandormoch der Ansatz der historischen Bildung – genau das, was Memorial stark betont sehen möchte. Die Kirche wird dagegen zu einem starken Erinnerungsakteur. Parallel zum Zugewinn an gesellschaftlicher und politischer Bedeutung heute, übernimmt sie auch für die Gedenkstätten für die Opfer politischen Terrors die Deutungshoheit. Der Einwand, dass die Aufstellung des Trauerkreuzes keineswegs die Situation und den Kontext des Todes darstellt, ist berechtigt. Allerdings stellt sich hier auch die Frage, ob nicht gerade diese Form mit dem menschlichen Wunsch nach Trauerarbeit zusammenfällt. Vielleicht sind gerade religiöse Symboliken und Rituale die in der heutigen russischen Gesellschaft akzeptierte Form der Gedenkarbeit, die zugleich den menschlichen Wunsch nach religiöser Kommunikation erfüllt – und die Gedenkorte am Leben hält.

Erinnerung – Affekt, Symbol, Trauma, in: Jörn Rüsen/ Jürgen Staub (Hrsg.), Dunkle Spur der Vergangenheit. Frankfurt 1998, S. 131–152; sowie auch dies.: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des Gedächtnisses. 4. Aufl. München 2009, S. 258–264. 79 Assmann, Stabilisatoren der Erinnerung, S. 147; Lawrence Langer: Holocaust Testimonies. The Ruins of Memory. London/ New Haven 1991, S. 177.

Margarete Zimmermann

Die Russische Orthodoxe Kirche als erinnerungspolitischer Akteur (1995–2009) Der Schießplatz Butovo als Fallbeispiel für die postsowjetische Gedenkkultur

I Der Schießplatz Butovo bis zur Wiederentdeckung¹ Das Südliche Butovo (Južnoe Butovo), heute innerhalb der Stadtgrenze von Moskau gelegen, gehörte zu Beginn des 20. Jahrhunderts einer Moskauer Kaufmannsfamilie.² Wann das Gelände in den Besitz des NKVD gelangte, ist nicht genau bekannt – die Bezeichnung Schießplatz Butovo (Butovskij poligon) tauchte 1935 das erste Mal auf.³ Zu dem Areal, das eine größere Ausdehnung besaß als das heutige Mahnmal, gehörte auch das berüchtigte Gefängnis Suchanovka⁴ auf dem Gelände des ehemaligen Katharinenklosters sowie das NKVD-Spezialobjekt Kommunarka⁵, wo ebenfalls Exekutionen stattfanden. Erschießungslisten belegen, 1 Die Geschichte des Ortes und seiner Erschließung wurde in acht aufeinanderfolgenden Bänden (1997–2004) aufgearbeitet: Vgl. Butovskij poligon. 1937–1938 gg. Kniga pamjati žertv političeskich repressij. Bd. 1–7. Moskau 1997–2003. Band 8 ist unter einem leicht veränderten Namen erschienen. Vgl. Butovskij poligon. V rodnom kraju. Dokumenty, svidetel’stva, sud’by, [Bd. 8]. Moskau 2004. Im Jahr 2007 ist eine Online-Publikation (Booklet) erschienen, die die Zusammenfassung des achten Bandes um die neueren Ereignisse ergänzt. Vgl. Lidija Golovkova/Kirill Kaleda: Butovskij poligon. Russkaja Golgofa. 1937–2007, unter: http://archive.martyr.ru/files/Booklet/Booklet.pdf. 2 Vgl. hier: Butovskij poligon, Bd. 8, S. 18. 3 Ebd., S. 40. 4 Auf dem Gelände des einstigen Klosters befand sich in den Jahren 1931 bis 1935 ein Untersuchungsgefängnis. Ab 1938 wurde es, angeblich auf Betreiben des neuen Volkskommissars für Staatssicherheit Lavrentij Berija, zu einem Gefängnis umfunktioniert. Suchanovka bekam aufgrund der dortigen besonders grausamen Verhörmethoden den Beinamen „Datscha der Folter“. Der Vorgänger Berijas, Nikolaj Ežov mit dessen Namen die „Säuberungen“ des Großen Terrors verbunden werden, war nach seiner Verhaftung 1939 dort interniert. Vgl. Butovskij poligon, Bd. 8, S. 144–145; Anna Kaminsky (Hrsg.): Erinnerungsorte an den Massenterror 1937/38: Russische Föderation. Berlin 2007, S. 57–59; Lidija Golovkova: Suchanovskaja tjur’ma. Spezob’ekt 110. Vozvraščenie. Moskau 2009. 5 Das „Spezialobjekt Kommunarka“, vormals Datscha des 1938 zu Tode verurteilten Volkskommissars Genrich Jagoda, diente vor allem als Hinrichtungs- und Begräbnisort für Parteifunk-

60 | Margarete Zimmermann dass auf dem Schießplatz Butovo zwischen dem 8. August 1937 und dem 19. Oktober 1938, innerhalb von nur 15 Monaten, 20 761 Menschen den Tod fanden.⁶ Zusammen mit Kommunarka und Suchanovka bildete der Schießplatz Butovo in den 1930er Jahren eine Art „Todesstreifen“ im Südwesten von Moskau.⁷ Nach der Verhaftung und Verurteilung aufgrund einer Quote kamen die Gefangenen nach Butovo. Wie die Urteile im Einzelnen vollstreckt wurden, ist nur aus einer einzigen Quelle bekannt – den Aussagen des ehemaligen Kommandanten der Wirtschaftsabteilung des Moskauer NKVD, Aleksandr Sadovskij⁸: Nach der Verkündung des Urteils, welches in Abwesenheit des Angeklagten gefällt worden war, und dem Abgleich der Papiere nahmen die zuständigen NKVD-Offiziere die Opfer mit auf das Gelände. Mit einem Schuss in den Hinterkopf wurden die Gefangenen hingerichtet und an Ort und Stelle in zuvor ausgehobenen Massengräbern verscharrt.⁹ Für die Zeit nach dem 19. Oktober 1938 gibt es keine Dokumente; ob sie vernichtet wurden oder sich in den Archiven befinden, ist unklar. Es ist nicht auszuschließen, dass noch bis zum Anfang, vielleicht sogar bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges Menschen in Butovo erschossen wurden. Für das nahe gelegene Kommunarka sind Erschießungen bis ins Jahr 1941 belegt. Während des Krieges wurde

tionäre und ranghohe Mitglieder der Armee. Vgl. Butovskij poligon, Bd. 8, S. 146–147; Arsenij Roginskij: Posleslovie k spiskam zachoronennych v „Kommunarke“, unter: http://www.memo. ru/memory/communarka/index.htm. 6 Vgl. Butovskij poligon, Bd. 8, S. 396–397. 7 Zu den Massenverhaftungen und -erschießungen kam es aufgrund des Befehls Nr. 00447 vom 30.07.1937, dem die Anordnung des Politbüros vom 02.07.1937, „alle heimgekehrten Kulaken und Kriminelle zu erfassen“, vorausging. Die von den meisten Forschern anerkannte Zahl der Ermordeten liegt bei ca. 700 000. Zu einer Lagerhaft wurden ungefähr doppelt so viele, also 1 500 000 verurteilt. Zu den Zahlen und Einschätzungen des Großen Terrors vgl. Karl Schlögel: Terror und Traum. Moskau 1937. München 2008, S. 639; Jörg Baberowski: Der Rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus. Bonn 2007; John A. Getty/Oleg Naumov (Hrsg.): The Road to Terror. Stalin and the Self-Destruction of the Bolsheviks. 1932–1939. London 1999, hier: S. 589–592. Zur historischen und topographischen Einordnung des Schießplatzes Butovo in den Großen Terror vgl. Wladislaw Hedeler: Die Präsenz staatlicher Gewalt inmitten einer urbanen Umwelt. Das Beispiel Moskau, in: Karl Schlögel (Hrsg.), Mastering Russian Spaces. Raum und Raumbewältigung als Probleme der russischen Geschichte. München 2011, S. 199–252. 8 Vgl. Butovskij poligon, Bd. 8, S. 85–90, nahezu identisch: Schlögel, Terror und Traum, S. 615–618. 9 Recht wenig Beachtung wurde bislang der Tatsache geschenkt, dass offenbar nicht alle in Butovo gefundenen Leichen tatsächlich auf die geschilderte Weise ums Leben kamen. So fehlen bei 56 von 59 der im Zuge der archäologischen Untersuchungen gefundenen Schädel Schussverletzungen. Vgl. Butovskij poligon, Bd. 3, S. 14–15. Es wäre denkbar, dass Butovo wie Kommunarka zusätzlich als Begräbnisort diente. Die archäologische Bestätigung der Erschießungslisten steht jedenfalls bislang aus.

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unweit des ehemaligen Landsitzes ein Lager eingerichtet, das sowohl deutsche als auch sowjetische Soldaten aufnahm, die aus deutscher Gefangenschaft hatten fliehen können – nur um im eigenen Land wieder interniert zu werden. Das Lager bestand von 1941 bis 1943. Wie viele Menschen dort den Tod fanden, ist nicht geklärt. Jedenfalls wurden auch die Opfer der Lagerhaft an Ort und Stelle, also in nächster Nähe des Schießplatzes begraben. Nach dem Krieg wurden viele der alten, noch vorrevolutionären Gebäude abgerissen und neue errichtet. Der Zweck dieser Bauten bleibt im Dunkeln. Man weiß nur, dass in einem von ihnen eine Ausbildungsstätte des Ministeriums für Staatssicherheit (Ministerstvo Gosudarstvennoj Bezopasnosti MGB) betrieben wurde. Anfang der 1950er Jahre umgab man den Kernbereich des Schießplatzes mit einem Holzzaun und verstärkte die Wachmannschaften. Abgesperrt wurde ein ca. 4,8 Hektar großes Gelände, auf dem sich ein Großteil der Massengräber befand. In der unmittelbaren Nachbarschaft entstanden Wohnsiedlungen und Sommerhäuser für MGB-Offiziere und deren Familien, die jedoch ohne Fundamente und Keller gebaut werden mussten – man fürchtete wohl die Funde, die bei Erdarbeiten auftauchen könnten. Der Holzzaun wurde 1973 noch einmal erneuert und das Gelände bis in die frühen 1990er Jahre vom Sicherheitsministerium streng bewacht, zuerst vom MGB, dann dem KGB und schließlich dem FSB (Federal’naja Služba Besopasnosti).¹⁰ Obwohl der ehemalige Schießplatz direkt am Stadtrand lag, blieb seine Existenz lange Zeit unbekannt. Auch nachdem die Rehabilitierungskommissionen ihre Arbeit aufgenommen hatten, war von Butovo keine Rede.¹¹ Erst 1990 tauchten in den Archiven des KGB die oben erwähnten Erschießungslisten auf, allerdings ohne eine Ortsangabe. Auf Betreiben Michail Mindlins¹² ermittelte die Rehabilitierungsgruppe des KGB einen ehemaligen Mitarbeiter des NKVD, der den Schießplatz kannte, nämlich Aleksandr Sadovskij. Als man diesem die Erschießungsbücher vorlegte, nannte er Butovskij poligon als Tatort, bestritt jedoch, jemals dort oder gar an den Erschießungen beteiligt gewesen zu sein.¹³ Woher seine genauen Informationen stammten, bleibt ungewiss.

10 Zu alledem vgl. Butovskij poligon, Bd. 8, S. 141–157. 11 Die Rehabilitierung rechtswidrig nach Artikel 58 Verurteilter wurde vom Kongress der Volksdeputierten im Oktober 1988 und vom Politbüro der KPdSU im Dezember desselben Jahres beschlossen. 12 Michail Mindlin (1909–1998) war ein ehemaliger Kolyma-Häftling und Vorsitzender der „öffentlichen Gruppe zur Verewigung der Erinnerung an die Opfer politischer Verfolgungen“ und wichtiger Protagonist der überkonfessionellen Erinnerung in Butovo. Vgl. die Einleitung zu seinen postum erschienenen Memoiren: Michail Mindlin: Anfas i profil’: 58–10. Moskau 1999. 13 Vgl. Butovskij poligon, Bd. 8, S. 160.

62 | Margarete Zimmermann Nach dieser „Wiederentdeckung“ war der erste Akt des Gedenkens in Butovo weltlicher Natur: Am 7. Juli 1993 öffnete der Schießplatz das erste Mal seine Tore für Angehörige und Mitglieder der „Öffentlichen Gruppe zur Verewigung der Erinnerung an die Opfer politischer Verfolgungen“. Drei Monate später wurde ein Gedenkstein mit folgender Inschrift errichtet: „In diesem Bereich des Schießplatzes Butovo wurden in den Jahren 1937–1953 durch den NKVD-MGB heimlich mehrere tausend Opfer politischer Verfolgung erschossen und begraben. IHNEN EWIGES GEDENKEN.“¹⁴ Jegliche religiöse Symbolik fehlt. Zeitgleich wurde mithilfe der Erschießungslisten eine Datenbank mit Namen und Kurzbiographien der Ermordeten angelegt. Dabei fiel der Bearbeiterin K. Ljubimova die vergleichsweise große Anzahl der Opfer aus dem orthodoxen Klerus auf¹⁵ – eine Information, die umgehend an die Russische Orthodoxe Kirche (ROK) und dann an den Patriarchen Aleksij II. persönlich weitergeleitet wurde.¹⁶

II Institutionalisierung des religiösen Gedenkens Ein knappes Jahr nach der Aufstellung des Steins begann die Institutionalisierung des religiösen Gedenkens. Am 8. März 1994 wurde ein von der orthodoxen theologischen Hochschule des Hl. Tichon (Pravoslavnyj Svjato-Tichonovskij Bogoslovnyj Institut, PSTBI, seit 2004 Universität Pravoslavnyj Svjato-Tichonovskij Gumanitarnyj Universitet, PSTGU) hergestelltes Anbetungskreuz auf dem Gelände aufgestellt und geweiht sowie auf einer Marmorplatte im Fundament ein Zitat des Patriarchen eingraviert: An diesem Orte wird eine Kirche zu Ehren der Neumärtyrer und Bekenner¹⁷ Russlands errichtet werden; im Gedenken an die Hierarchen, Kleriker, Mönche und Laien, die ihr Leben für den Glauben und die Wahrheit gegeben haben und in den Märtyrertod gegangen sind.¹⁸ ˙ zone Butovskogo poligona v 1937–1953 gg. NKVD-MGB byli tajno rasstreljany i zachoro14 „V etoj neny mnogie tysjači žertv političeskich repressij. VEČNAJA IM PAMJAT’“ Butovskij poligon, Bd. 8, S. 163 und Kaminsky, Erinnerungsorte. Russische Föderation, S. 48–49. 15 Die Erschießungslisten bieten ansonsten einen Querschnitt durch die sowjetische Gesellschaft. Es sind sowohl alle Altersstufen als auch Nationalitäten, Religionen und Gesellschaftsschichten vertreten. Vgl. Butovskij poligon, Bd. 8, S. 96–141; Schlögel, Terror und Traum, S. 619–626. 16 Butovskij poligon, Bd. 8, S. 163. Im ersten Band wird die Mitarbeit von Studenten der theologischen Hochschule des Hl. Tichon seit Oktober 1995 erwähnt, ohne dass die Hintergründe näher beleuchtet werden. Vgl. Butovskij poligon, Bd. 1, S. 7–8. 17 Der russische Begriff „ispovednik“ bezeichnet sowohl den Beichtvater als auch den hier gemeinten in Verfolgung standhaft gebliebenen heiligen Bekenner (lat. confessor). 18 Golovkova/Kaleda, Russkaja Golgofa, S. 40.

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Die Weihe des Kreuzes nahm Erzbischof Sergij (Fomin, seit 1999 Metropolit von Voronež) vor. Unter anderem waren der Rektor des PSTBI, Erzpriester Vladmir Vorob’ev, und der Moskauer Bürgermeister Jurij Lužkov anwesend. Die enge Beziehung der Gemeinde von Butovo sowohl zum PSTBI als auch zu einigen weiteren konservativen Vereinigungen der ROK deutet auf eine vergleichbare kirchenpolitische Ausrichtung hin.¹⁹ Bereits im Herbst 1994 gründete sich eine 20-köpfige Kirchengemeinde der „Heiligen Neumärtyrer und Bekenner Russlands“ aus Angehörigen von in Butovo Ermordeten, vor allem Nachfahren der erschossenen Geistlichen, die immer noch in Moskau lebten. Der spätere Pfarrer Kirill Kaleda ist ein Enkel des Neumärtyrers Vladimir Abracumov und Sohn des PSTBI-Mitbegründers Gleb Kaleda. Vor seiner Priesterweihe war Kirill wissenschaftlicher Mitarbeiter des Geologischen Instituts der Russischen Akademie der Wissenschaften. Das Geld für den Bau der ersten Kirche kam aus einer Spendensammlung und dem Budget der neugegründeten Gemeinde.²⁰ Zweieinhalb Jahre nach Aufstellung des Kreuzes, im Oktober 1996, wurde die Kirche feierlich eröffnet – die Bewachung durch den Sicherheitsdienst war aufgehoben und der Zugang zum ehemaligen Schießplatz ermöglicht worden. Zu dieser Veränderung steht im letzten Butovo-Band lediglich: „Im Jahr 1995 gingen einige der Gebäude aus der NKVD-Siedlung (ganz oder teilweise) an die Kirchengemeinde.“²¹ In Wirklichkeit hatte das gesamte Areal den Besitzer gewechselt – angeblich völlig überraschend, wie das Moskauer Patriarchat betont. Man habe lediglich um die Erlaubnis gebeten, eine Kirche zu errichten. „Als Antwort auf das Gesuch hat die Moskauer Administration vorgeschlagen, nicht nur das gesamte [!] Butovo-

19 Ein wichtiger Partner ist z. B. die „Bruderschaft des Barmherzigen Erlösers“, deren Vorstellungen von der richtigen Lebensweise denen des „domostroj“ aus dem 16. Jahrhundert entspricht. Die Bruderschaft hat die erste feierliche Liturgie am 25.06.1995 finanziert; geleitet wurde sie vom Erzpriester Vladimir Vorob’ev, der Mitglied der Bruderschaft ist. Vgl. ebd., S. 41. 20 Näheres zur Finanzierung der Kirche im Spannungsfeld politischer, wirtschaftlicher und privater Interessen vgl. Nikolaj Mitrochin: Russkaja Pravoslavnaja Cerkov’ kak sub’ekt ˙ ˙ ekonomičeskoj dejatel’nosti, in: L. Timofeev (Hrsg.), Ekonomičeskaja dejatel’nost’ Russkoj Pravoslavnoj Cerkvi i ee tenevaja sostavljajuščaja. Moskau 2000. Seit dem Jahr 2006 ist die Kirche fast vollständig von der Steuer befreit; wirtschaftliche Aktivitäten, die nicht unmittelbar religiösen Zwecken dienen, müssen jedoch versteuert werden. Da die ROK ihre Bilanzen aber weder veröffentlichen noch dem Finanzministerium vorlegen muss, können keinerlei verlässliche Zahlen genannt werden. Als illegal kann dieses Verfahren nicht bezeichnet werden, da die Gemeinden ein Anrecht auf wirtschaftliche Aktivitäten haben und der Staat keine Kontrollfunktionen der Abgaben vorsieht. Von Diebstahl oder Steuerhinterziehung kann in diesem Zusammenhang keine Rede sein. Näheres vgl. ebd., S. 55–120 und 151–187. 21 Butovskij poligon, Bd. 8, S. 165.

64 | Margarete Zimmermann Gelände, sondern auch das Gelände von Kommunarka an die Kirche zu übergeben.“²² Der Vorschlag dürfte freilich nicht so überraschend gekommen sein, wie es zwölf Jahre später suggeriert wird. Seit seiner Teilnahme an der Aufstellung des Anbetungskreuzes begleitete Jurij Lužkov die kirchliche Initiative mit offiziellem Wohlwollen. In der Presse kursierten Gerüchte, denen zufolge der Kirche daran gelegen war, das Gelände in Besitz zu nehmen, und dem FSB, es loszuwerden.²³ In ihren Einzelheiten ist die Vorgeschichte der Übergabe nicht mehr zu rekonstruieren, die „Überraschung“ ist indessen kaum haltbar; sie wird vielmehr konstruiert worden sein, um dem Vorwurf einer vorsätzlichen Vereinnahmung des Ortes zu begegnen.²⁴ Die offizielle Anerkennung als „Denkmal der Geschichte mit lokaler Bedeutung“ erlangte Butovo erst im Jahr 2001 – und zwar nicht nur aufgrund der Massengräber, sondern auch wegen der erhaltenswerten Landschaft.²⁵ Um dem Schießplatz tatsächlich den juristischen Status eines „Massenerschießungsortes“ zu verleihen, hätte es einer Anklage durch die Staatsanwaltschaft bedurft, zu der jedoch die archäologischen Ergebnisse nicht ausreichten. Deshalb blieb es letztendlich bei der Bezeichnung „Massenbegräbnisort“, welche die Frage nach Tätern von vornherein ausblendet. Weitere archäologische Arbeiten konnten nicht mehr stattfinden, nachdem beim Jubiläumskonzil des Jahres 2000 bereits erste Heiligsprechungen der Butovo-Opfer erfolgt waren²⁶, und auch die Politik war eher an eindeutigen Entscheidungen als an offenen Fragen interessiert.

22 Vgl. ebd.; Golovkova/Kaleda, Russkaja Golgofa, S. 41. Insgesamt handelt es sich um 4,8 ha Gedenkstätte und 2 km² Umgebung. Im Zuge der Restitution von Kircheneigentum ging auch Suchanovka an die ROK. In Kommunarka entstand eine Filialgründung des Männerklosters der Hl. Katharina, welches seinerseits in das zwischenzeitlich als Gefängnis genutzte Suchanovka zurückkehrte und dieses von da an vor allem für kirchliche Belange umfunktionierte. 23 Michail Sitnikov: Ugolovnogo dela ne vozbuždalos, unter: http://www.portal-credo.ru/site/ index.php?act=news&id=53115&type=view. 24 Dieser Vorwurf wurde unter anderem von Michail Mindlin erhoben, der bis zu seinem Tod bemüht war, Butovo als einen überkonfessionellen Ort zu erhalten. Vgl. Anm. 12. 25 Postanovlenie Pravitel’stva Moskovskoj oblasti ot 09.08.2001 N 259/28, unter: http://mosobl.elcode.ru/doc.asp?ID=1262, S. 13. 26 Auf dem Konzil wurden über 100 in Butovo liegende Geistliche heiliggesprochen, was dazu führte, dass eine Öffnung der Massengräber faktisch nicht mehr möglich war. Für jede Graböffnung hätte es einer Erlaubnis des Bischofskonzils bedurft, die nur einmal, im Jahr 2002, erteilt worden ist; und auch damals nicht für eine Untersuchung, sondern nur für eine Kontrollöffnung am Rande eines Grabes, um die Richtigkeit der angewandten archäologischen Methode zu bestätigen. Näheres zu späteren archäologischen Arbeiten im Bericht des Leiters der Kampagne: Vgl. Michail Frolov: Butovskij poligon: archeologija rasstrelov, unter: http://zhurnal.lib.ru/f/ frolow_m_w/butovo.shtml.

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Der politische Machtwechsel des Jahres 2000 stellt eine Zäsur in der russischen Zeitgeschichte dar, die auch an der ROK nicht spurlos vorbeiging. Im ersten Jahrzehnt nach der Jahrtausendwende schien Butovo (neben der Christus-ErlöserKathedrale in Moskau) zum wichtigsten Ort der Kirchenpolitik zu werden. Die offizielle Anerkennung als „Denkmal der Geschichte“ war nur der erste Schritt. Es folgten Messen mit dem Patriarchen, der Bau einer großen Steinkathedrale, die feierliche Translation des „Großen Anbetungskreuzes“ auf dem Wasserweg von den Solovki zum Schießplatz und der Besuch von Präsident Vladimir Putin zum 70. Jahrestag des Großen Terrors im Jahr 2007 – aufwendige Projekte, über die sogar die überregionale Presse berichtete.

III Die biblische Heilsgeschichte im Dienste der „nationalen Idee“ Es stellt sich die Frage, welche Inhalte durch derartige Inszenierungen vermittelt werden sollen und wie die Kirche ihren Deutungsanspruch durchzusetzen versucht. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts, wie es die Kirche erlebt haben will, lässt sich anhand einer zum Jubiläumskonzil der Bischöfe im Jahr 2000 entstandenen Ikone der Versammelten Neumärtyrer und Bekenner Russlands, die für Christus gelitten haben, ob bekannt oder nicht bekannt rekonstruieren.²⁷ Bezeichnenderweise beziehen sich alle Darstellungen auf die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg. Butovo bildet mit den Erschießungen der Jahre 1937/38 den Schlusspunkt, obwohl die ROK auch danach noch unvermindert regelmäßig und systematisch verfolgt wurde.²⁸

27 Gerade weil Ikonen in gewisser Weise „zu einem Konfessionsmerkmal der orthodoxen Kirchen“ geworden sind und „ein Abbild des göttlich-geistlichen Gehaltes“ einer Person oder eines Phänomens darstellen, welches streng reglementierten graphischen Mustern folgt, können sie als Chiffre unabhängig von ihrer spezifisch religiösen Formel „gelesen“ werden. Vgl. Reinhard Flogaus: Die orthodoxe Ikonentheologie des 20. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 119 (2008), S. 202–231, hier S. 204 u. 228. 28 So stieg beispielsweise die Anzahl der geöffneten Kirchen nach dem Zweiten Weltkrieg leicht, fiel aber seit dem Ende der 1950er Jahre rapide und wurde unter Chruščev bis Mitte der 1960er Jahre auf die Hälfte reduziert. Dasselbe gilt für die Anzahl der Priester, wobei diese nicht einfach ihres Amtes enthoben, sondern häufig in die Verbannung bzw. Lagerhaft geschickt wurden. Zu der Situation unter Stalin und Chruščev vgl. Michail Škarovskij: Russkaja Pravoslavnaja Cerkov’ pri Staline i Chruščeve. Gosudarstvenno-cerkovnye otnošenija v SSSR v 1939–1964 godach. Moskau 1999; Ulrike Huhn: Beten für Stalin? Die Russische Orthodoxe Kirche im Jahr 1953, in: Religion & Gesellschaft in Ost und West 40,6 (2012), S. 18–20.

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Abb. 1: Ikone der Versammelten Neumärtyrer und Bekenner Russlands, die für Christus gelitten haben, ob bekannt oder nicht bekannt, 2000.

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Deesis 1. SoloveckiiInseln (Solovki)

Mittelteil

3. Verurteilung des Metropoliten Veniamin (Kazanskij) von Petrograd und seiner Anhänger Heiligenversammlung 5. Plünderung der Dreifaltigkeits-SergijLavre und Entwendung der Gebeine des Hl. Sergij Radonežskij

3. Reihe 2. Reihe 1. Reihe

7. Patriarch Tichon in der Gefangenschaft

3. Reihe 2. Reihe 1. Reihe

Kirche

2. Ermordung des Metropoliten Petr (Poljanskij) von Kruticy und Kolomna

Kreuz

4. Ermordung der Hl. Märtyrer Andronik und Gergemon

Heiligenversammlung 3. Reihe 2. Reihe 1. Reihe

6. Ermordung der Großfürstin Elizaveta mit Gefolgschaft in Alapaevsk

3. Reihe 2. Reihe 1. Reihe

8. Ermordung der Zarenfamilie in Jekaterinburg

14. Plünderung des SarovKlosters und Entwendung der Gebeine des Hl. Serafim Sarovskij

15. Ermordung des Metropoliten Kirill von Kazan’

Altar

9. Massener- 10. Ermorschießungen dung der in Butovo Prozessionsteilnehmer in Astrachan’

Zarenfamilie

11. Tod des 12. Namen- 13. VerhafMetropoliten lose Heilige tung eines Vladimir mit Kindern Priesters von Kiev während des Gottesdienstes

Abb. 2: Nummerierung der Ikone der Versammelten Neumärtyrer und Bekenner Russlands.

Entstanden ist diese Ikone in den Werkstätten des PSTBI, aus dessen biografischer Datenbank ungefähr 1 000 Fotografien ausgewählt wurden, die die Grundlage für über 100 dargestellte Heiligenfiguren bilden. Auf der Internetseite der Hochschule findet sich die offizielle Deutung der Ikone, die für die Analyse herangezogen wird – sowohl als Hilfestellung bei der Dechiffrierung als auch als

68 | Margarete Zimmermann Quelle für die Intention der Auftraggeber.²⁹ Die Originalikone befindet sich in der Christus-Erlöser-Kathedrale in Moskau. Mehrere Tausend Kopien hängen in anderen russischen Kirchen, unter anderem in Butovo. Sowohl die Schrift als auch die Darstellung orientieren sich weitgehend an den Statuten des 15. Jahrhunderts.³⁰ Ab dem 16. Jahrhundert – so wird üblicherweise angenommen – war die orthodoxe Ikonenmalerei westlichen Einflüssen ausgesetzt, die durch die Reformen des Patriarchen Nikon rückgängig gemacht werden sollten.³¹ Mit dem Rückgriff auf die Zeit vor der vermeintlichen „Verwestlichung“ wird das genuin russische Wesen der Märtyrer konstruiert.³² Im Prinzip ist die Ikone zweigeteilt: In die zentrale Darstellung der Heiligenversammlung (sobor) und 15 Szenen der einzelnen Taten der Märtyrer. Zur besseren Übersichtlichkeit schlage ich die folgende Nummerierung der Darstellungen vor. Die Deesis zeigt neben der üblichen Dreierkonstellation (Jesus, Maria, Johannes der Täufer), den Erzengeln Michael und Gabriel sowie den Aposteln Petrus und Paulus russische Heilige des 10. bis 19. Jahrhunderts, darunter auch die Heiligen Sergij Radonežskij und Serafim Sarovskij.³³ Der Text des aufgeschlagenen Evangeliums in den Händen Jesu lautet „Az esm’ svet miru [. . . ]“ (Joh. 8,12).³⁴ Christus befindet sich in der verlängerten vertikalen Achse des Mittelbildes von der Zarenfamilie über Altar und Kreuz zur Kirchkuppel, was die Grundaussage der Ikone deutlich erkennen lässt: Wesen und Sinn des Martyriums ist es, Christus auf seinem Kreuzweg nachzufolgen.³⁵ Soweit entspricht die Ikone den üblichen Darstellungen. Das Mittelbild mit der Heiligenversammlung erscheint in seiner Anordnung geradezu traditionell, enthält allerdings einige Neuerungen, davon eine mit besonderer Signifikanz. Die Darstellung der Christus-Erlöser-Kathedrale beinhaltet

29 Aleksandr Saltykov: Ikona „Sobor Novomučenikov i Ispovednikov Rossijskich za Christa postradavšich javlennych i nejavlennych“, proslavlennych na Jubilejnom Archierejskom Sobore 13–16 avgusta 2000 (Moskva, Chram Christa Spasitelja), unter: http://www.pstbi.ru/institut/ mric/mr_ic.htm. 30 Vgl. ebd. 31 Vgl. Flogaus, Ikonentheologie, S. 212. 32 Man beruft sich dabei auf die Bestimmungen der Moskauer Synode 1667, die eben diese „Verwestlichung“ anprangerte. 33 Das Schicksal ihrer Gebeine wird in den kleinen Darstellungen am Rand der Ikone thematisiert (5 und 14). 34 „Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, wird nicht in der Finsternis untergehen, sondern wird das Licht der Welt haben.“ (Joh 8,12). 35 Saltykov, Ikona.

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eine besondere Verbindung zur Kirchengeschichte des 20. Jahrhunderts: Der Bau wurde 1931 gesprengt und in den 1990er Jahren wieder errichtet – für die ROK ein Symbol ihrer „Wiederauferstehung“ als Institution.³⁶ Vor der Kathedrale steht ein großes Kreuz, an dessen Fuß ein in Rot gekleideter Altar mit dem geöffneten Evangelium. Die Worte des Evangeliums³⁷, die liturgische Farbe der Blutzeugen und des Osterfestes, das eine Kreuz³⁸, die Bündelung der Einzelmartyrien in dem symbolbeladenen Kirchenbau – unverkennbar ist das Martyrium als heilsgeschichtlicher Vorgang dargestellt, durch den neben den einzelnen Heiligen auch die ROK als Ganzes zur Auferstehung in Christus gelangt. Alle Personen stehen unterhalb des Querbalkens des Kreuzes, zu beiden Seiten der vertikalen Achse. Die oberen drei Reihen sind den Hierarchen vorbehalten; sie stehen farblich abgehoben und mit den Insignien ihrer Macht (z.B. Metropolitenmütze) versehen neben dem letzten Patriarchen Tichon und seinem designierten Nachfolger Petr (Poljanskij). Die unteren Reihen sind für einfache Priester und Laien reserviert. Die an den Seiten dargestellten Personen finden sich auch im Mittelteil: Der bereits erwähnte Patriarch Tichon (erster von rechts, in der ersten oberen linken Reihe), der Metropolit Kirill von Kazan’ (links vom Patriarchen), die Großfürstin Elizaveta Fedorovna (erste von links, in der ersten unteren rechten Reihe) oder der Priester Vladimir Ambarcumov (erster von rechts, in der dritten unteren linken Reihe). Neben der obligatorischen Kopie der großen Moskauer Ikone der Neumärtyrer existiert in Butovo eine eigene, im Aufbau mit dem Mittelbild fast identische und nach dessen Vorbild geschriebene Abbildung der lokalen Heiligen.³⁹ Die große Ähnlichkeit liefert ein Indiz für die Identifikation der örtlichen Verantwortlichen mit der Kirchenleitung und deren Vorstellungen. Die Aufteilung der Märtyrer entspricht der Hauptikone: Die oberen drei Reihen nehmen die Hierarchen ein, die unteren sind den einfachen Priestern und Laien reserviert. Eine lokale Abwandlung stellt die 1995 errichtete Holzkirche anstelle der Christus-Erlöser-Kathedrale dar. Bei dem mittig platzierten Kreuz handelt es sich um das örtliche Anbetungskreuz, wobei die Märtyrer dennoch ihr von den Kanones vorgeschriebenes ein-

36 Ähnlich: Jutta Scherrer: „Sehnsucht nach Geschichte“. Der Umgang mit der Vergangenheit im postsowjetischen Russland, in: Christoph Conrad/Sebastian Conrad (Hrsg.), Die Nation schreiben. Geschichtswissenschaft im internationalen Vergleicht. Göttingen 2002, S. 165–208: Sie sieht in der Rekonstruktion „das eklatanteste Beispiel für die Kontinuität, die mit dem imperialen, orthodoxen Russland gesucht wird“. Ebd., S. 178. 37 „Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten,“ (Mt 10, 28). 38 In der orthodoxen Ikonografie werden Märtyrer stets mit einem einfachen Kreuz in der rechten Hand dargestellt. In diesem Fall steht das übergroße mittlere Kreuz stellvertretend für alle. 39 Golovkova/Kaleda, Russkaja Golgofa, S. 53.

70 | Margarete Zimmermann faches Kreuz in der rechten Hand halten. Die vertikale Achse Kirche – Kreuz – Altar mit aufgeschlagenem Evangelium wird um drei angedeutete Massengräber im Vordergrund ergänzt: Sie sind der Grund für Butovos Existenz als Erinnerungsort. Die Kirche ist „auf dem Blute“ der Märtyrer erbaut und bezieht ihre Legitimation daraus. Die im Hintergrund abgebildeten Apfelbäume wachsen direkt auf den Gräbern der Märtyrer und werden deshalb als „geweiht“ (osvjaščennye) angesehen.⁴⁰ Auch diese Ikone entstammt den Werkstätten der Universität des Hl. Tichon und wurde zur Einweihung der großen Kathedrale in Butovo im Jahr 2007 in Auftrag gegeben. Einen besonderen Ort auf der Hauptikone hat die Zarenfamilie: in der Mitte direkt unter dem Altar. Diese Position ist bemerkenswert, weil sie die zentrale Rolle des Staatsoberhaupts demonstriert und gleichzeitig auf das Legitimitätsbedürfnis der weltlichen durch die kirchliche Macht verweist, da der Zar unter den Hierarchen steht. Die Autoren der Ikone beschreiben es folgendermaßen: Einen anderer Platz für die Darstellung der zarischen Märtyrer lässt sich nicht finden. Sie befinden sich im Zentrum, da sie das von Gott gesegnete Prinzip der obersten Macht und Ordnung verdeutlichen, welches dem Chaos entgegentritt. [. . . ] Die zarischen Märtyrer wurden unter den Hierarchen platziert, da nur durch sie die Macht Gottes Segen erhält und einen gesetzlichen Charakter erlangt.⁴¹

Zwar bezieht sich die Aussage explizit auf die Zarenzeit, bleibt jedoch in ihrer Bedeutung kaum auf jene beschränkt. Ganz grundsätzlich scheint hier vielmehr die Vorstellung der Kirche von einer idealen Weltordnung zum Ausdruck gebracht, wie schon der Gebrauch des Präsens in der Erklärung nahelegt: Oberste Macht und Ordnung als einzig wirksamer Schutz gegen das Chaos werden als gottgewollte und daher allgemeingültige Prinzipien definiert. Allerdings bedarf die weltliche Ordnungsmacht der kirchlichen Legitimation, woraus sich im Idealfall eine Symbiose staatlicher und kirchlicher Gewalt ergibt, die vom Gedanken der symphonia⁴² getragen ist. Die hierbei herrschende Regierungsform muss keineswegs eine Monarchie sein: Der Patriarch erteilte auch Präsident Putin und später Medvedev

40 So die mündliche Auskunft von Anatolij Mordašev, Mitarbeiter der Gedenkstätte „Butovo“, bei einer Exkursion der FSU Jena im März 2009. 41 Saltykov, Ikona. 42 Ihre Nachwirkung bzw. das Bedürfnis nach einer Wiederbelebung ist in kirchlichen Kreisen durchaus vorhanden. Vgl. Pauliina Arola/Risto Saarinen: In Search of Sobornost’ and „New Symphony“. The Social Doctrine of the Russian Orthodox Church, in: The Ecumenical Review 54 (2002), S. 130–141. Gleichzeitig behält sich die Kirche vor, passiven Widerstand zu leisten, falls politische Kräfte ihren Prinzipien zuwider handeln. Vgl. Osnovy social’noj koncepcii Russkoj Pravoslavnoj Cerkvi, unter: http://www.patriarchia.ru/db/print/419128.html.

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seinen Segen.⁴³ Jedenfalls bleibt festzuhalten, dass die Abbildung der Zarenfamilie auf einer offiziellen Ikone der ROK ein Novum darstellte, dessen Grund wohl in den veränderten politischen Rahmenbedingungen zu suchen ist: Angesichts der vom damaligen und jetzigen Präsidenten Putin propagierten Idee des russischen Patriotismus – einer „nationalen Idee“ – ergibt die Kanonisierung des Zaren kurz nach der Amtseinführung des Präsidenten durchaus Sinn, weckt die Heiligsprechung des letzten Monarchen doch Assoziationen an einen starken Staat unter einer starken Führung.⁴⁴ In Butovo greifen kirchenpolitische und politische Ziele ineinander: Die Kanonisierung der Zarenfamilie legte den sinnbildlichen Grundstein für die Verständigung der ROK mit der Russischen Orthodoxen Kirche im Ausland (ROKA) – letztere hatte die Heiligsprechung bereits 1981 vollzogen.⁴⁵ Ein physischer Grundstein wurde vier Jahre später in Butovo gelegt, als Vertreter der ROKA bei ihrem ersten Besuch in Russland an der Liturgie zum Baubeginn der großen Steinkathedrale auf dem Schießplatz teilnahmen.⁴⁶ Abgeschlossen wurde der Prozess mit der

43 Bei der Am0tseinführung Putins im Dezember 1999 erteilte Aleiksij II. seinen Segen in aller Öffentlichkeit – der Staatsakt wurde im Staatsfernsehen übertragen. Diese Zurschaustellung löste nicht nur Beifallsbekundungen aus; zahlreiche Politiker und Angehörige anderer Konfessionen protestierten gegen die Bevorzugung der ROK. Vgl. Gerd Stricker: Märtyrer und Heilige. Kanonisierung Nikolajs II. – ein Lehrstück, in: Osteuropa 6 (2009), S. 217–234, hier: S. 233; Jutta Scherrer: Die Erfindung von Russlands Größe, in: Die Zeit 37 vom 07.09.2000, unter: http://www. zeit.de/2000/37/Die_Erfindung_von_Russlands_Groesse. Daraufhin fand die religiöse Zeremonie am 07.05.2000 unter Ausschluss der Öffentlichkeit in der Mariä-Verkündigung-Kathedrale, der ehemaligen Privatkapelle der Zaren im Kreml, statt; an diesem Ort wurden auch die Monarchen bei ihrer Inthronisation gesalbt. So enthielt der scheinbare Rückzug eine tiefere Implikation: die Herstellung einer Kontinuität der Herrschaftstradition. Vgl. Aleksandr Soldatov: Carskoe mesto, in: Ogon˙ek vom 12.05.2008, unter: http://ogoniok.com/5046/10. Auch bei der „Amtswiedereinführung“ fand die Zeremonie in der Kreml-Kapelle statt. 44 Ähnlich: Jutta Scherrer: Erinnern und Vergessen. Russlands Umgang mit (seiner) Geschichte in einer europäischen Perspektive, in: Lars Karl/Igor Polianski (Hrsg.), Geschichtspolitik und Erinnerungskultur im neuen Russland. Göttingen 2009, S. 23–40, hier S. 33 und Stricker, Lehrstück, S. 233. 45 Vgl. Stricker, Lehrstück, S. 223–225. Bis dahin waren die Beziehungen der beiden Kirchen eher von Feindseligkeiten geprägt. Die ROKA hat die ROK als „Sowjetkirche“ bezeichnet und ihren Hoheitsanspruch nicht anerkannt. Näheres zur Geschichte der ROKA: Gernod Seide: Geschichte der Russischen Orthodoxen Kirche im Ausland von der Gründung bis in die Gegenwart. Wiesbaden 1983; Gerd Stricker: Geschichte der Russischen Orthodoxen Kirche in der Diaspora. Berlin 2009. 46 „Neumärtyrer versöhnen die beiden Kirchen“ lautete eine Überschrift in der Moskauer Zeitung GZT.ru am 17.05.2004. Das Original ist nicht mehr verfügbar, eine Kopie befindet sich auf der Seite des Online-Portals „portal-credo.ru“, vgl. Nadežda Kevorkova: Novomučeniki primirjajut dve Cerkvi, unter: http://www.portal-credo.ru/site/index.php?act=news&id=21836&type=view.

72 | Margarete Zimmermann Unterzeichnung des „Aktes zur kanonischen Zusammenarbeit“ am 17. Mai 2007, die einer faktischen Wiedervereinigung gleichkam – die Messe zur Einweihung der Kathedrale wurde von den beiden ehemals verfeindeten Kirchen gemeinsam zelebriert. Eine gemeinsame Geschichte der beiden Kirchen wird auf der Basis der Erinnerung an die Opfer konstituiert. Die Erwähnung der Täter würde in diesem Kontext zu viele Fragen nach der Zusammenarbeit der ROK mit den Machthabern während der Sowjetzeit, vor allem nach 1943 aufwerfen.⁴⁷ Allein schon um die so wichtige Vereinigung nicht zu gefährden, wird in Butovo wohl vorerst keine differenzierte Auseinandersetzung mit der Geschichte stattfinden. Auch der Politik imponiert diese Art der Erinnerung: Der Verzicht auf die Beschäftigung mit der jüngsten Geschichte enthebt die Machthaber der Notwendigkeit sich mit den Verbrechen der Sowjetzeit auseinanderzusetzen. Stattdessen gedenken Opfer der Opfer – eine Sühneleistung unter veränderten Vorzeichen.⁴⁸ An der Architektur der zweigeschossigen Kathedrale der „Heiligen Neumärtyrer und Bekenner Russlands“ wird die bereits erwähnte Integration der Neumärtyrer in die biblische Heilsgeschichte einmal mehr verdeutlicht: „Wenn die untere Kirche die Karwoche symbolisiert, ist die obere Ostern,“ meinte dazu Kirill Kaleda.⁴⁹ Es drängt sich der Eindruck auf, dass hinter dem biblischen Vergleich eine tagespolitische Vorstellung steht. Die Leiden der Neumärtyrer waren schrecklich und bedürfen der steten Erinnerung, aber – und dies ist wichtig – nun müsse man nach vorne schauen da die Erlösung durch die Märtyrer bereits erfolgt sei. Der Zugang zum unteren Stockwerk ist nur über eine nach unten führende Treppe möglich; dafür wurde das Fundament in einer größeren Tiefe als üblich

47 Im Jahr 1943 wurde Metropolit Sergij zum Patriarchen ernannt, nachdem er Stalin seine Unterstützung bei der Mobilisierung der Gläubigen für den „Großen Vaterländischen Krieg“ versprochen hatte. Dieses Ereignis dient immer noch als Grundlage für kircheninterne Auseinandersetzungen: War es ein beschämender Akt der Unterwerfung oder das einzige Mittel zum Erhalt der Institution Kirche? Wobei die offizielle Stimmung, sofern sie nach außen dringt, in letzter Zeit immer deutlicher der zweiten Version zuneigt. Vgl. Thomas Bremer: Kreuz und Kreml. Kleine Geschichte der orthodoxen Kirche in Russland. Freiburg/Basel/Wien 2007, S. 125–136. 48 Eigentlich kann nur der reuige Täter seine Tat sühnen. Die Sühne durch das „die Tat bereuende Opfer“ macht die Einsicht und die Reue des Täters überflüssig. 49 Golovkova/Kaleda, Russkaja Golgofa, S. 52. Ausgearbeitet wurde Idee für den zweigeschossigen Bau von Michail Kesler, einem Mitarbeiter des Architekturbüros Archchram des Moskauer Patriarchats. Die Finanzierung der Kirche übernahmen, laut den Aussagen der Verantwortlichen, ausschließlich private Spender. Es war nicht möglich herauszufinden, wer diese Spender waren, aber man hat recht oft den Duma-Abgeordneten der nationalen Partei LDPR und stellvertretenden Vorsitzenden des Finanzkomitees der Duma Oleg Skorlukov zusammen mit dem Erzbischof Arsenij (Epifanov) auf der Baustelle gesehen. Vgl. ebd., S. 49–50.

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angelegt und zusätzlich ein künstlicher Hügel aufgeschüttet, um den Anschein einer Krypta zu erwecken. Der Eindruck einer frühchristlichen Grabkirche wird durch eine „Reliquiensammlung“ im Eingangsbereich verstärkt; in einem kleinen Vorraum sind in Schaukästen Kleidungsstücke und Gegenstände ausgestellt, die bei den archäologischen Untersuchungen gefunden wurden. Darüber hängen Fotografien der Toten von Butovo an der Wand. Das Obergeschoss ist wesentlich größer als das untere und hat einen separaten Eingang, der über eine nach oben führende Treppe zu erreichen ist. Das obere Stockwerk dient der Neumärtyrerverehrung: Das mittlere Schiff ist der Auferstehung Christi, das linke Seitenschiff dem Patriarchen Tichon und das rechte den Neumärtyrern Russlands geweiht. An zwei Säulen, rechts und links des Altars, hängen die Ikonen der Neumärtyrer und Beichtväter Russlands und der Neumärtyrer, die in Butovo getötet wurden. Augenfällige architektonische Gemeinsamkeiten verbinden die Kathedrale mit dem staatlichen „Museum des Großen Vaterländischen Krieges“ auf der Poklonnaja Gora in Moskau, dessen Expositionen um zwei Hallen herum angeordnet sind – die „Halle der Trauer“ und die „Halle des Sieges“. Die Steinkathedrale in Butovo ist, wenn man so will, ebenfalls in eine Trauerhalle im unteren und eine Siegeshalle im oberen Geschoss geteilt. Genauso wie im Museum stehen auf dem Schießplatz zunächst die Anstrengungen und Leiden im Vordergrund, welche jedoch einem größeren Zweck dienen, dem Sieg über das Böse. Doch während es im staatlichen Museum einen klar bestimmbaren und greifbaren Feind – die deutschen Nationalsozialisten – gibt, ist das Böse in Butovo transzendenter Natur. Bis auf die Täterbestimmung entsprechen sich beide Erinnerungsformen, was zumindest die Frage nach ihrem Vektor beantwortet. Beide wollen über vermeintliche Heldentaten in der Vergangenheit – hier der Märtyrer-, dort der Soldatentod – die Basis für einen nationalen Zusammenhalt legen, „positive Helden“ für die Gegenwart und die Zukunft erschaffen.

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IV Opfer ohne Täter Wie werden die Täter in der Gedenkstätte Butovo thematisiert? Hierüber geben die kleinen Darstellungen an den seitlichen und unteren Rändern des Mittelteils der Hauptikone Auskunft. Die Verbindungen zwischen den Bildern sind auf mehreren Ebenen sichtbar: inhaltlich, farblich, symbolisch und graphisch-geometrisch. Grundsätzlich werden einzelne Personen rechts und Massenszenen links dargestellt. Nicht alle Szenen zeigen Ermordungen, was mit der Kanonisierungspraxis der ROK zusammenhängt.⁵⁰ Die abgebildeten Personen sind anhand ihrer Kleidung zu unterscheiden. Heilige tragen vorwiegend rote Farbtöne oder helle Halbtöne – ein Symbol der Reinheit, Jenseitigkeit und Ewigkeit.⁵¹ Ihre Gegenspieler, die in jedem Bild präsent sind, auch in jenen ohne Tötungsszenarien, sind in moorig-erdigem (bolotistozemlenistyj) Ton gehalten. Die Figuren sind auf den ersten Blick als Soldaten zu erkennen. Das liegt neben der grünlichen Farbe an der Art, wie ihre Uniform gestaltet ist: Vor allem die Kopfbedeckungen, sogenannte budënovki, verweisen auf den Russischen Bürgerkrieg von 1918 bis 1921. Bereits 1940 aus der offiziellen Uniformierung ausgesondert, stehen sie bis heute stellvertretend für die Rotarmisten der frühen Sowjetunion. Damit sind die Henker eindeutig zuzuordnen, ohne dass man auch nur ein Gesicht erkennen kann. In der dazugehörigen Erklärung steht: Die Kräfte des Bösen werden durch Soldaten versinnbildlicht, die die Pflichten der Henker erfüllen. Die echte Tarnfarbe ihrer Uniform wird als moorig-erdiger Ton wiedergegeben; dieser erlaubt, eine negative farbliche Assoziation mit dunklen dämonischen Kräften zu schaffen. Die Soldatenfiguren sind mit Absicht wenig grafisch ausgearbeitet; damit wird unterstrichen, dass sie blinde Werkzeuge der Teufel sind, die mit der Kirche kämpfen.⁵²

Laut Beschreibung sind sie „blinde Werkzeuge der Teufel, die mit der Kirche kämpfen“. Im Klartext heißt es wohl: Werkzeuge der Machthaber und sogar, weil deren Namen ja auch nicht genannt werden, des Teufels persönlich. Es gibt also keinen wirklichen Verantwortlichen, den man im Diesseits unmittelbar oder mittelbar zur Rechenschaft ziehen kann. Als blinde Werkzeuge können sie zudem

50 Personen können heilig gesprochen werden, auch wenn sie nicht unmittelbar zum Tod verurteilt wurden, sondern wie im Falle des Patriachen Tichon aufgrund der systematischen Verfolgungen gestorben sind. Vgl. recht panegyrisch: Olga Vasil’eva: Proslavlenie novomučenikov i ispovednikov rossijskich XXV.: 10-letie istoričeskogo Dejanija jubilejnogo Archierejskogo Sobora, in: Gosudarstvo, religija, cerkov’ v Rossii i za rubežom 4 (2010), S. 135–137. 51 Saltykov, Ikona. 52 Ebd. Es ist gängige Praxis „dunkle Mächte“ auf Ikonen in dunklen Farbtönen wiederzugeben. Doch der Verweis auf die Tarnfarbe der Uniform markiert hierbei die „Dämonen“ zusätzlich.

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nicht erkennen, was sie tun. Damit werden die Täter als Instrumente einer teuflischen Macht dargestellt, die letztlich keine Verantwortung für ihre Taten tragen. Eine Darstellung verdeutlicht sowohl den Untergang „des Bösen“ als auch den Anteil des orthodoxen Glaubens daran besonders anschaulich: die Ermordung der Prozessionsteilnehmer in Astrachan’ (10. Bild). Der historische Hintergrund ist schnell erzählt: Als Reaktion auf die Schließung der Kirchen fanden überall in Russland verstärkt Prozessionen statt, wohl auch in Astrachan’.⁵³ Interessant erscheint in diesem Zusammenhang die Abbildung des Erzbischofs Mitrofan (Krasnopol’skij). Er wurde nachweislich nicht bei einer Prozession umgebracht, sondern nach seiner Verhaftung am 06. Juli (23. Juni) 1919 erschossen.⁵⁴ Auf dem Bild sieht man eine Prozession mit Bannern und einer Ikone einer Gruppe Soldaten mit Gewehren im Anschlag entgegentreten; die Kontrahenten werden grafisch durch das Kirchenportal voneinander getrennt. Auf der Ebene der Farben herrscht die übliche Verteilung: rote Gewänder bei den Priestern, tarngrün die Soldaten. Der dazugehörige Text besagt, dass es sich um „einen Kampf zweier unnachgiebiger Mächte“ handelt.⁵⁵ Die Darstellung ist einzigartig, da auf keinem anderen Teilbild eine aktive Handlung durch die Märtyrer vollführt wird. Auf den restlichen Bildern sitzen oder stehen sie bzw. sind bereits tot; hier laufen sie den Soldaten entgegen. Das hängt mit dem strukturellen Vorbild zusammen. Die Prozession von Astrachan ist der Ikone Schlacht der Novgoroder mit den Suzdalern aus dem 15. Jahrhundert nachempfunden.⁵⁶ Jenseits grafischer Ähnlichkeiten ist indes ein Blick auf die zugehörige Legende aufschlussreich: Als die Suzdaler im Jahre 1170 Novgorod belagerten, nahm der Erzbischof Ilja (Ioann) die Ikone der Gottesmutter aus der Kirche und stellte sie an der Außenmauer der Stadt auf. Die Suzdaler beschossen daraufhin das Bild, welches sich von ihnen abwandte. In diesem Augenblick wurden die Belagerer von einer Dunkelheit befallen, sodass sie anfingen, sich selbst zu schlagen. Deshalb konnten die Novgoroder siegen. Durch die Übernahme der Bildsprache wird auch die dahinterliegende Bedeutung übernommen. Am Anfang des Jahrhunderts schießen Soldaten auf eine Ikone und an dessen Ende haben sich die „Kräfte des Bösen“ selbst geschlagen; die Sowjetunion ist untergegangen.

53 Ob in Astrachan’ die Ermordung der Teilnehmer am 24.05.1919 tatsächlich stattfand, ist nicht zu klären. Hinweise darauf gibt es, doch der einzige Beleg ist ein Wikipedia-Eintrag zu Sergej Kirov. Belegt ist eine große Prozession im Februar 1918, diese fand jedoch ohne Todesfälle statt. 54 Zur Biographie des Erzbischofs Mitrofan (Krasnopol’skij), vgl. Biografische Datenbank der Theologischen Hochschule des Hl. Tichon (PSTGU): http://www.kuz3.pstbi.ru/bin/code.exe/ frames/m/ind_oem.html/ans. 55 „Protivoborstvo dvuch nepreklonnych sil“, Saltykov, Ikona. 56 Vgl. ebd.

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V Die Verbindung zweier Golgothas Für den Schießplatz Butovo ist auf der Ikone ebenfalls ein Platz reserviert (9. Bild): Es wird thematisch und graphisch mit den Soloveckii-Inseln (kurz Solovki, 1. Bild) verbunden, einem Ort, an dem das Lagersystem seinen Anfang nahm. Auf einer Inselgruppe, die seit dem 15. Jahrhundert Mönche bewohnten, wurde in den frühen 1920er Jahren das „Solovecker Lager zur besonderen Verwendung“ (Soloveckij lager’ osobogo naznačenija/SLON) eingerichtet, wo Tausende Menschen den Tod fanden.⁵⁷ Jetzt befindet sich das Gelände wieder im Besitz der ROK und ähnlich wie in Butovo stellt die Kirche „ihre“ Opfer in den Vordergrund. Auf beiden Bildern erschießen Soldaten namenlose Heilige. Im Prinzip widerspricht eine Abbildung ohne Namen den Kanones – Verehrung gebührt nicht dem Bild, sondern der Person – die dazu identifizierbar sein muss. Diese fragwürdige Darstellung soll nach Aussage der Autoren „den Massencharakter der Hinrichtungen widerspiegeln.“⁵⁸ Die Heiligenscheine über den namenlosen Märtyrern evozieren eine Heiligkeit, die über die persönliche Heldentat hinausgeht: Durch diese Art der Darstellung wird allen Ermordeten attestiert, sie seien für ein höheres Ziel gestorben. Zumindest für die Zeit des Großen Terrors sprechen die Verhaftungen und Erschießungen nach Quoten gegen diese Behauptung. Der Name „russisches Golgotha“ (Russkaja Golgofa) hat sich als Bezeichnung für Butovo etabliert⁵⁹, doch ist die Tradition, Sterbeorte christlicher Märtyrer so zu bezeichnen und so deren Verbindung zu Christus zu betonen, wesentlich älter. Bereits das Bischofskonzil des Jahres 1992 instrumentalisierte den Begriff, als Metropolit Vladimir (Bogojavlenskij) von Kiev und Galizien heiliggesprochen wurde. In der entsprechenden Passage heißt es: „Seinen irdischen Dienst an Gott und Kirche beendete er am 25. Januar 1918 in der Stadt Kiew – Wiege des Christentums in der Rus’. Hier erstieg er sein Golgotha.“⁶⁰ Golgotha ist auch eines der verbindenden Elemente innerhalb der Ikone. Auf einem Berg der Insel Anzer, die zu den Soloveckii-Inseln gehört, wurde im 18. Jahrhundert die Golgotha-Kreuzigungs-Klause erbaut. Die Aufnahme Anzers in die Darstellung der Solovki auf der Hauptikone veränderte die ursprüngliche Ikono-

57 Zur Geschichte der Solovki vgl. Anne Applebaum: Der Gulag. München 2005, S. 59–98. 58 Saltykov, Ikona. 59 Vgl. Inschrift unter dem ersten Anbetungskreuz. Mittlerweile ist Butovo nicht mehr der einzige Ort, der den Beinamen Golgotha trägt. Es gibt u.a. auch das „Golgotha von Tomsk“ oder das „Golgotha von Tver’“. 60 Dejanie o kanonizaii mitropolita Kievskogo i Galickogo Vladimira, unter: http://www.mospat.ru/archive/sobors/1992/0504/531.

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graphie, die nur die Darstellung der Hauptinsel vorsah. Als Begründung für diese Entscheidung wurde die Vorsehung angeführt: Die Klause sei „von Beginn an für das Martyrium bestimmt“ gewesen, und „200 Jahre nach ihrer Errichtung wurde der Berg wahrhaftig zum Golgotha.“⁶¹ Die Verbindung Solovki–Butovo wird durch das Anbetungskreuz (Poklonnyj krest) im Butovo-Bild symbolisiert. Das so genannte „Golgotha-Kreuz“⁶² stellt neben der Holzkirche das Wahrzeichen des Schießplatzes dar. Auf der Ikone findet man es auf einer Erhöhung im Hintergrund. Insgesamt stehen drei Kreuze auf dem Butovskij poligon: das „Golgotha-Kreuz“, das Kreuz am Ort der archäologischen Arbeiten und das „Große Anbetungskreuz“, welches auf einem Kreuzweg von den Solovki nach Butovo kam.⁶³ Das „Große Anbetungskreuz“ wurde in den Werkstätten des Klosters auf den Soloveckii-Inseln hergestellt. Die zwischen dem 24. Juli und dem 8. August erfolgte Translation erhielt einige Aufmerksamkeit in den Massenmedien. Die meisten orthodoxen Seiten schrieben darüber und sogar der überregionale Fernsehsender NTV brachte eine fast vierminütige Reportage, was im Rahmen einer Nachrichtensendung beachtlich ist.⁶⁴ Auf dem Weg von den Inseln nach Moskau – ausschließlich über Wasserkanäle, die von den Häftlingen des GULag ausgehoben worden waren – legte das Schiff an zwölf Orten an. Dort wurden Messen für die Opfer politischer Verfolgung gelesen und ein Kreuzweg gebetet.⁶⁵ Die Verbindung der

61 Saltykov, Ikona. 62 Golovkova/Kaleda, Russkaja Golgofa, S. 40. 63 Die Finanzierung der Überfahrt übernahm die Stiftung „St. Andreas-Fahne“ unter Beteiligung der Moskauer Regierung. Vgl. Doklad ob ispolnenie Zakona Rossijskoj Federacii „O reabilitacii žertv političeskich repressij“ v 2006–2008 godach. Moskau 2009, S. 33. Die im Jahr 1992 gegründete Stiftung hat ein millionenschweres Budget und finanziert Unternehmungen, die von Filmproduktionen bis Wallfahrten reichen. Ihr erklärtes Ziel ist die „Vereinigung des Volkes, der kirchlichen und der weltlichen Macht“ (http://www.anflag.ru). Auf das Betreiben der Stiftung hin wurde im Jahr 2001 das „Zentrum des nationalen Ruhms Russlands“ (Centr National’noj Slavy Rossii) gegründet, welches die „Wiederherstellung der Größe des Landes“ durch „geistige Wiedergeburt“ erreichen will (http://www.cnsr.ru). Beide Organisationen haben den Segen des Patriarchen und nehmen für die ROK an dem vom ehemaligen iranischen Präsidenten Mohammad Khatami initiierten „Dialogue of Civilizations“ teil (http://www.wpfdc.org). Im Februar 2007 unterzeichnete der russische Außenminister einen Vertrag zur Zusammenarbeit mit den beiden Organisationen und machte damit ihre Vorstellungen zur offiziellen Politik (http://www. mospat.ru/archive/35017.htm). 64 Nachrichtensendung des Senders NTV vom 25.07.2007, unter: http://www.ntv.ru/novosti/ 113835/. 65 Mehr zur Symbolik des Anbetungskreuzes vgl. Zuzanna Bogumil: Kresty i kamni: soloveckii simvoly v konstruirovanii pamjati o GULAGe, in: Neprikosnovennyj zapas 3,71 (2010), unter: http://magazines.russ.ru/nz/2010/3/zu3.html. Das Hauptaugenmerk des Artikels liegt auf der

78 | Margarete Zimmermann Translation mit dem Kreuzweg zeugt einmal mehr von dem Versuch, das Leiden und Opfer Jesu mit dem der Neumärtyrer zu verbinden und dadurch die biblische Heilsgeschichte gleichsam auf die Erlösung Russlands zu übertragen. Zudem wurde die Translation von einer Wanderausstellung auf zehn Stellwänden begleitet. Die elfte kam nach deren Abschluss hinzu. Dem Anlass entsprechend wurde auf den ersten sechs Flächen die Geschichte der Solovki und des Schießplatzes erzählt.⁶⁶ Diese Darstellungen sind weitgehend in grau und schwarz-weiß gehalten. Das verbindende Element stellen die Opfer dar. Sie sind sowohl auf den Fotografien als auch in den wenigen Textpassagen präsent. Die Exposition lebt zum Großteil von Bildern. Die Texte dienen lediglich der kurzen Einführung und als Bildunterschriften. Während die ersten fünf Stellwände den einzelnen Orten und Baustellen gewidmet sind, soll die sechste Wand die Opfer von Solovki, Dmitlag (eine der Baustellen und ein Lagerkomplex) und Butovo verbinden.⁶⁷ Dabei erscheint es angesichts des Ziels, ein sinnstiftendes verbindendes Element zu finden, zweitrangig, dass keiner der ehemaligen Häftlinge der Solovki in Butovo erschossen wurde. Die feierliche Translation sollte „zwei russische Golgothas verbinden – Butovo und Solovki“.⁶⁸ Die Liturgie wurde in Butovo am 8. August vom Erzbischof Arsenij (Epifanof) gefeiert. Er gilt als einer der konservativsten Kleriker im Umkreis des Patriarchen Aleksij II.⁶⁹ Im Endeffekt erhoben die Verantwortlichen des Schießplatzes stellvertretend für die Russische Orthodoxe Kirche den Anspruch, die Erinnerungsformen im gesamten geographischen Raum Russlands zu bestimmen, die Peripherie mit dem Zentrum zu verbinden. Gleichzeitig waren die Verantwortlichen offenbar um den Eindruck bemüht, dieses Kreuz wäre die einzige Initiative zum 70. Jahrestag des Großen Terrors gewesen:

vergleichenden Untersuchung der Erklärungsmuster der ROK und der Gesellschaft Memorial. Bogumil kommt zu dem Ergebnis, dass die ROK eine erfolgreichere Deutung propagiert, da diese die passendere Sprache für das Phänomen GULag gefunden hätte. Insoweit deckt sich der Befund mit meinen Ausführungen. 66 Vgl. http://www.butovo37.ru/projects.html. 67 Ebd. Die Überschrift lautet: „Erschossen in Butovo. USLON – Dmitlag OGPU-NKVD.“ USLON – Upravlenie Severnych Lagerej osobogo naznačenija (Leitung der nördlichen Lager zur besonderen Bestimmung). Zu den „nördlichen Lagern“ gehörten in den späteren Jahren auch die Solovki. Mehr dazu: Applebaum, Gulag, S. 99–113. 68 So die NTV-Sendung vom 25.07.2007. 69 Boris Knoppe: Moskovskaja eparchija RPC MP, Teil 1, in: Atlas sovremennoj religioznoj žizni Rossii, Bd. 2. Moskau/Sankt Petersburg 2006, S. 540.

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Wir alle haben gesehen, dass weder von der Seite des Staates noch von der Seite der politischen Parteien oder gesellschaftlichen Organisationen irgendwelche Schritte unternommen und Initiativen ins Leben gerufen wurden. Und nun wurde dem Vakuum der Erinnerungslosigkeit [bespamjatstva] und der Gleichgültigkeit [. . . ] ein leuchtendes und unverkennbares Symbol entgegengestellt. Ein Kreuz.⁷⁰

Vor diesem Hintergrund erscheint es nur konsequent, dass bei den Gedenkveranstaltungen zum 70. Jahrestag des Großen Terrors am 30. Oktober 2007 Butovo zu dem Ort auserkoren wurde, den der Präsident besuchte.⁷¹ Nach einer eigens für diesen Staatsakt vom Patriarchen zelebrierten Messe bemerkte Putin, dass „obwohl das Jahr ’37 einen Höhepunkt der Repressionen darstellt, dieser durch vorhergegangene Jahre der Grausamkeiten vorbereitet wurde.“⁷² Zudem sei es nicht mehr nötig, nach Sibirien oder auf die Solovki zu reisen, wo sich doch eines der Denkmäler für die Opfer in unmittelbarer Nähe zu Moskau befinde.⁷³ Beide Aussagen sind insofern bemerkenswert, als sie Wahrheiten und doch nur Halbwahrheiten enthalten. Während der erste Satz ein Ende oder zumindest den Anfang vom Ende der Verfolgungen im Jahr 1937 impliziert – was für sich allein schon schwer zu begründen ist – fordert der zweite Satz erinnerungswillige Bürger dazu auf, Butovo als vorrangiges Ziel ihrer Reise zu wählen. Butovskij poligon wird zum Ort des sanktionierten Erinnerns, denn die Handlungen des Präsidenten haben auch immer einen Symbolcharakter. Sie repräsentieren die offizielle Sichtweise. Wenn also Präsident Putin nach Butovo fährt, stellt dies die gleichsam „abgesegnete“ Form der Erinnerung dar. Das religiöse Element dieser Gedächtnisform wird nicht nur billigend in Kauf genommen, sondern gefördert und sogar gefordert.⁷⁴

70 Igor Gar’kavyj im Interview mit der Zeitung „Cerkov’“. Vgl. K Poklonnomu Krestu spešili ljudi, opalennye tem strašnym vremenem, in: Cerkov’ 17, 366 vom September 2007, unter: http://www.tserkov.info/numbers/shrines/?ID=2289. Diese Aussage ist schlichtweg falsch. Allein die Gesellschaft Memorial organisierte einige Veranstaltungen. 71 Vgl. Vladimir Kuz’min: Pominal’naja molitva. Vladimir Putin posetil Butovskij poligon, gde pochoroneny žertvy massovych rasstrelov, in: Rossijskaja Gazeta, vom 31.10.2007, unter: http://www.rg.ru/2007/10/31/putin.htm. 72 Ebd. 73 Vgl. ebd. 74 „Zum einen stellt eine Reise aus Moskau nach Butovo eine Wallfahrt dar, zum anderen liegt Butovo in der Nähe von Moskau und ist damit sowohl für Moskauer als auch für Bewohner anderer Regionen des Landes gut zu erreichen.“ Golovkova/Kaleda, Russkaja Golgofa, S. 55.

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VI Die heilige Stadt Als letztes soll noch die Rede von der unteren Reihe der Bilder sein (9.–15. Bild). Diese Darstellungen haben im Gegensatz zu den vertikal angeordneten Bildern keine festen Grenzen. Die Aneinanderreihung der Kirchen und das partielle Ineinandergreifen des Geschehens sollen den „Eindruck einer heiligen Stadt erwecken, in der verschiedene heilige Orte versammelt sind.“⁷⁵ Die Auswahl der Orte ist dabei nicht unwichtig. So beginnt „die Stadt“ in Butovo (Moskau) und endet in Čimkent (Šymkent, Südkasachstan).⁷⁶ Dazwischen liegen Sarov, Astrachan’ und Kiew sowie zwei nicht näher bestimmte Orte. Eine „Stütze des Mittelteils mit seiner riesigen Kathedrale“ soll dieser untere Fries sein.⁷⁷ Abgesehen von der äußerst fragwürdigen Vorstellung von der Ausdehnung des „kanonischen Territoriums“⁷⁸ der ROK erweitert die Aufnahme zweier unbenannter Orte das Martyrium und damit die Heiligkeit auf das ganze Land. Jeder Mensch, ob Mann (9. Bild) oder Frau (12. Bild), jeder Priester (13. Bild) und jede Kirche (13. Bild) waren Zeugen und Teil der Heldentaten, die zur Zerstörung der „höllischen Kräfte“ beigetragen haben.⁷⁹ Die letzte Darstellung verdeutlicht den Sieg: Metropolit Kirill von Kazan’ wendet sich zum Betrachter hin und hält die Hände zum Segen erhoben. Er spendet ihn „der ganzen Welt“, während die auf ihn gerichteten Gewehre „ohnmächtige Wut der Hölle“ ausdrücken sollen.⁸⁰ Die Intention der Märtyrer wird in der Deutung der Ikone mitgeliefert: „Die Hierarchen haben [. . . ] tapfer und selbstlos ihre Herde, faktisch den Großteil des russischen Volkes, verteidigt.“⁸¹ Das bedeutet, dass die Täter theoretisch nur einen winzigen (und irrelevanten) Teil ausmachten und das Gros der Bevölkerung

75 Saltykov, Ikona. 76 Šymkent wurde 1864 von der russischen Armee eingenommen und ins Imperium integriert. Am 16.12.1991 erklärte Kasachstan seine Unabhängigkeit von der UdSSR. 77 Saltykov, Ikona. 78 Laut dem Kirchenstatut des Jahres 2000 gehören zum kanonischen Territorium: Russland, Ukraine, Weißrussland, Moldau, Aserbaidschan, Kasachstan, Kirgistan, Lettland, Litauen, Tadschikistan, Turkmenistan, Usbekistan und Estland. Vgl. Ustav Russkoj Pravoslavnoj Cerkvi, Kapitel 1, Punkt 3, unter: http://www.patriarchia.ru/db/text/133115.html. Die theologische Begründung der geographischen Begrenzung ist nicht unumstritten. Vgl. Johannes Oeldemann: The Concept of Canonical Territory in the Russian Orthodox Church, in: Thomas Bremer (Hrsg.), Religion and the Conceptual Boundary in Central and Eastern Europe. Encounters of Faith. New York 2008, S. 229–236. 79 Saltykov, Ikona. 80 Ebd. 81 Ebd.

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ebenfalls aus Leidtragenden bestand – aber aus orthodoxen Leidtragenden, was ein entscheidender Zusatz ist.⁸² Die Erweiterung des Opferstatus auf die gesamte Gesellschaft erlaubt es, das Gedenken zu pauschalisieren und auf das weitgefasste „kanonische Territorium“ zu übertragen. Die dort lebenden Menschen fallen damit in kirchlichen Zuständigkeitsbereich: „orthodox durch Geburt“ ersetzt das eigentlich kanonische „orthodox durch Taufe“.⁸³ Aus dieser Feststellung leitet sich der Anspruch ab, die Erinnerung zu monopolisieren und in religiöse Bahnen zu lenken. Die Aussage der Ikone lässt sich anhand der bisherigen Ausführungen folgendermaßen zusammenfassen: Die heile Welt der Vergangenheit mit ihren geordneten Strukturen wurde durch die „unbeschreiblichen Mächte des Bösen“ zerstört. Doch durch Gottes Gnade und durch das Bemühen der Orthodoxie haben sich die Widersacher selbst vernichtet. Aus diesem Grund soll man sich an die glorreichen Taten der Märtyrer erinnern und die weltliche, russisch-orthodoxe Macht in ihren Vorhaben (‚nationale Idee‘) unterstützen. Eine Erinnerung an die Täter erübrigt sich, da diese vergangen sind, ohne die heilige Erde Russlands nachhaltig zu beschädigen. Die Märtyrer haben durch ihren Tod auf Golgotha das russische Volk von seinen Sünden erlöst. Dies ist die kirchliche Wahrnehmung des 20. Jahrhunderts, und Butovskij poligon ist der Ort, an dem versucht wird, diese Sicht der Dinge zu vermitteln.

82 Der Versuch einer Isolierung von Einzeltätern und die Ablehnung einer Mittäterschaft ist eine oft beobachtete und quasi normale Reaktion auf die Forderung nach einer Erinnerung an „Gesellschaftsverbrechen“, die desto stärker ausfällt je mehr die Verantwortung für die Verbrechen „in die Gesellschaft hineindiffundiert.“ Zum Begriff der Gesellschaftsverbrechen vgl. Volkhard Knigge: Gesellschaftsverbrechen erinnern. Zur Entstehung und Entwicklung des Konzepts seit 1945, in: ders./Ulrich Mählert (Hrsg.), Kommunismus im Museum. Formen der Auseinandersetzung in Deutschland und Ostmitteleuropa. Köln/Weimar/Wien 2005, S. 19–30. 83 Ohne auf die theologischen Schwierigkeiten einzugehen, kann man festhalten, dass diese Sicht von einem Großteil der Bevölkerung Russlands geteilt wird, wie soziologische Umfragen immer wieder zeigen. Vgl. Dmitrij Furman/Kimmo Kaariajnen: Religioznost’ v Rossii v 90-e gg. XX – načale XXI v., in: dies. (Hrsg.), Novye cerkvi, starye veruščie – starye cerkvi, novye veruščie. Religija v postsovetskoj Rossii. Moskau/Sankt Petersburg 2007, S. 6–87. hier: S. 42, Tab. 23. Leider fehlen solche Untersuchungen für die zentralasiatischen Länder.

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VII Die „Butovo-Bände“ als Dokument einer einseitigen Opfergeschichte Die Geschichte des eigentlichen Schießplatzes ist in acht zwischen 1997 und 2004 publizierten Bänden dargestellt.⁸⁴ Neben Namenslisten mit Lebensdaten der Ermordeten, die den größten Anteil ausmachen (ca. 80 % eines jeden Bandes) und aus Untersuchungsakten erschlossen wurden⁸⁵, erschienen darin teils biografische, teils sozialhistorische Artikel zu einzelnen Opfergruppen. Die Einleitungen zu den einzelnen Bänden dokumentieren den Fortgang der Arbeit an den Akten. Es folgen Untersuchungen zu diversen Fragestellungen, überwiegend von professionellen Historikern verfasst. Im Anschluss finden sich Namenslisten und am Ende sind Dokumente abgedruckt, welche als Materialbasis für die Artikel des jeweiligen Bandes von Bedeutung sind (ca. 10 % des Umfanges).⁸⁶ Wie über den Erscheinungszeitraum die Konstruktion der Martyriumserinnerung voranschritt, zeigt ein Vergleich der Einleitungen zum ersten und zum letzten Band der Folge. Sie scheinen auf den ersten Blick beinahe identisch zu sein. Erst beim näheren Hinsehen stellt sich heraus, dass der erste Band eine differenziertere Sicht bietet. War für den ersten Band noch K. Ljubimova, Mitglied der Guppe um Michail Mindlin, verantwortlich, so übernahm ab dem zweiten Band Lidija Golovkova, Dozentin am PSTBI, die Chefredaktion: Ein Wechsel, mit dem eine deutliche Zunahme religiöser Terminologie einherging. So wurde die Erschließung Butovos zu einer „heiligen Sache“ erklärt und damit weltlichen Maßstäben entzogen.⁸⁷ Während im ersten Band noch die Rede von Gedenkzeichen säkularer und religiöser Natur ist, wird im letzten Teil nur noch die ROK erwähnt.⁸⁸ Die Verengung der Erinnerung auf religiöse (russisch-orthodoxe) Rituale erlaubt keine anderweitige Auseinandersetzung. Auffällig ist auch die Schwerpunktsetzung bei den behandelten Zeiträumen in der Zusammenführung im achten Band. Das einführende Kapitel stellt eine Synthese aller bis dahin erschienenen Beiträge dar. Lidija Golovkova entfaltet

84 Die Finanzierung der Bände übernahm das Komitee für Öffentlichkeitsarbeit der Stadt Moskau. 85 Die Arbeit mit den Akten, sowie die methodische Herangehensweise sind im Band 6 und 8 dokumentiert. Vgl. Aleksandr Vatlin: Sledstvennye dela 1937–1938 gg., in: Butovskij poligon, Bd. 8., S. 183–219; ders: Technologija massovogo terrora, in: Butovskij poligon, Bd. 6., S. 5–23. 86 Zum Beispiel Abschriften aus Verhörprotokollen im sechsten Band. M.I. Lacis: Sud’ba čekista, in: Butovskij poligon, Bd. 6, S. 280–303. 87 Butovskij poligon, Bd. 2, S. 4. 88 Vgl. Butovskij poligon, Bd. 1, S. 8–12; Butovskij poligon, Bd. 8, S. 170–180.

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hier eine gleichsam geglättete Opfergeschichte, in die alle Ermordeten unabhängig von Einzelschicksalen hineinpassen. Von den 170 Seiten zur Geschichte des Ortes behandeln 44 Seiten sehr detailliert die Zeit vor 1934, 87 Seiten die Jahre 1934 bis 1938 und nur 13 Seiten den gesamten Zeitraum bis zum Beginn der 1980er Jahre, wobei dort das Hauptaugenmerk auf den Spezialobjekten Suchanovka und Kommunarka liegt, Butovo dagegen nur fünf Seiten gewidmet werden. Die denkbare Begründung, diese Zeit läge nicht im Fokus der Darstellung, griffe wohl zu kurz; dies müsste ja dann auch auf die Jahre vor 1937 zutreffen. Eher möchte man annehmen, dass ein gewisser Unwille zur Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit zu diesem Ungleichgewicht geführt hat. Die präsentierte Geschichte ist einerseits durch den Rückgriff auf die vorrevolutionäre, „bessere“ Zeit geprägt, welcher der Legitimation orthodoxer Traditionen dienen soll. Gleichzeitig musste der identitätsstiftende Aspekt der späten Sowjetzeit berücksichtigt werden, was dazu führte, dass Ereignisse neueren Datums nur sehr behutsam angesprochen wurden, während die Abrechnung mit einer mittlerweile in sicherer Distanz befindlichen Vergangenheit problemlos möglich schien. Die 1930er Jahre erfüllten dieses Kriterium insofern, als es keine lebenden Zeugen der Ereignisse mehr gab. Eine Verurteilung der Zeit nach 1941, nach dem Eintritt Russlands in den Zweiten Weltkrieg, hätte dagegen an den Grundfesten des Nationalbewusstseins gerüttelt, welches vor allem in den letzten Jahren durch diverse offizielle Kampagnen, auch unter Mitwirkung der ROK, immer wieder gezielt gefördert worden ist.⁸⁹ Die acht Bände der Butovo-Reihe stellen eine Dokumentation der Opfererfahrung dar. Der wissenschaftliche Anspruch beschränkt sich auf eine detaillierte Nacherzählung der Lebenswege einzelner nationaler oder sozialer Gruppen. Eine scheinbare Ausnahme bilden die Artikel zur Entstehung der Untersuchungsakten und zur Dokumentation der archäologischen Arbeiten, doch dienen auch diese vor allem der Herstellung einer klaren Opposition von Gut und Böse. Selbst das Teilkapitel im achten Band, welches den bekannten Mitgliedern der Erschießungskommandos gewidmet ist, erhält eine Sinnzuweisung aufgrund der scheinbar klaren Verhältnisse: Sie waren die Täter, die durch das Schicksal gerichtet wurden, indem sie entweder später selbst erschossen wurden oder infolge anderer Umstände – Alkoholismus, psychische Störungen, Selbstmord – vorzeitig

89 Näheres dazu etwa: Jutta Scherrer: Russlands neue-alte Erinnerungsorte, in: ApuZ 11 (2006) S. 24–28; dies.: Die Rückkehr der orthodoxen Kirche in die russische Öffentlichkeit, in: Kirchliche Zeitgeschichte 1 (2006) S. 187–198.

84 | Margarete Zimmermann aus dem Leben schieden.⁹⁰ Alles in allem erfüllen die Publikationen also eher die Kriterien einer pseudowissenschaftlicher Arbeitsweise, da sie den Anschein einer kritischen Geschichtsforschung erwecken wollen, unter diesem Deckmantel jedoch in Wirklichkeit einseitige, interessengeleitete Opfergeschichte schreiben.⁹¹

VIII Der Schießplatz Butovo als „Versuchslabor“ der russisch-orthodoxen Gedenkstättenarbeit Auf den ersten Blick scheint das im Jahr 2002 gegründete „Zentrum für Gedenkstättenarbeit Butovo“ eine differenziertere Auseinandersetzung mit der Geschichte des Ortes zu ermöglichen. Zu seinen Aufgaben gehört es, „die Bemühungen der staatlichen, religiösen und öffentlichen Organisationen bei der Gestaltung des Gedenkstättenkomplexes auf dem Gelände des ehemaligen Spezialobjektes des NKVD-FSB ,Butovo‘ zu koordinieren.“⁹² Die in den Statuten des Zentrums festgehaltenen Ziele reichen von der „Verewigung der Erinnerung an die politischen Verfolgungen der Sowjetzeit“ und der „Lobpreisung der Neumärtyrer und Bekenner Russlands“ über die „Erziehung der Jugendlichen im Geiste des Respekts ge-

90 Lidija Golovkova hat ebenfalls eine Geschichte Suchanovkas geschrieben. Auch dort wird der Fokus auf die zeitnahe Bestrafung der Täter gelegt: Nikolaj Ežov, der unter anderem das Spezialobjekt Kommunarka ins Leben rief, wurde gerichtet, indem er nach seiner Absetzung 1939 in Suchanovka interniert und später erschossen wurde. Vgl. Golovkova, Suchanovskaja tjur’ma. Der Ansatz ist im Übrigen nicht neu: Schon der christliche Apologet Lactantius thematisierte als Zeitzeuge der diokletianischen Verfolgung nach deren Ende die „Todesarten der Verfolger“ (de mortibus persecutorum). Vgl. E. Heck: Lactantius [1], in: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, Bd. 6. Stuttgart/Weimar 1999, Sp. 1043–1044. 91 Vatlin bemängelt zwar, dass die Täterforschung in Russland zu kurz kommt, hinterfragt diesen Begriff aber gar nicht, und beschäftigt sich mit den Strukturen des NKVD. Vgl. Vatlin, Technologija, Bd. 6, S. 5; ders.: Sledstvennye dela, Bd. 8, S. 183. 92 Davon berichtet die Internetpräsenz des Zentrums, welches den juristischen Status einer „autonomen Non-Profit-Organisation“ (avtonomnaja nekommerčeskaja organizacija ANO) hat. Der Vorstandsvorsitzende ist Kirill Kaleda, und die Leitung des Zentrums hat Igor’ Gar’kavyj, Dozent am RPI (Possijskij Pravoslavnyj Institut), inne (http://butovo37.ru/index.html). Die Internetpräsenz wird von einer Firma erarbeitet, die sowohl Teile der Homepage des Präsidenten als auch der des Patriarchen betreut. (http://www.arefa.net) Die wichtigsten, weil finanzkräftigsten, beteiligten Organisationen sind die „St. Andreas Stiftung“, die Regierungen der Stadt und des Gebietes Moskau und das Moskauer Patriarchat. Weitere Sponsoren, wie die Russische geisteswissenschaftliche Stiftung (Rossijskij gumanitarnyj naučnyj fond RGNF) oder das kirchen˙ wissenschaftliche Zentrum „Pravoslavnaja Encyclopedia“ ergänzen bei einigen Projekten die Liste. Der Umfang privater Spenden kann nicht einmal geschätzt werden.

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genüber den religiösen Traditionen und der Kultur Russlands“ bis zur „Wiederherstellung der historischen Gerechtigkeit durch den größtmöglichen Erhalt der geistig-geistlichen (duchovnych), wissenschaftlichen und ästhetischen Werte“.⁹³ Während der Erhalt der Erinnerung an die Opfer und die Ehrung der Märtyrer Fragen nach den Formen des Gedenkens aufwerfen, gestaltet sich die Deutung der beiden anderen Ziele etwas komplexer. Auf der Aussage, dass jede Kultur ihre Wurzeln in der Religion hätte, gründet die Kirche ihren Anspruch, an der Gestaltung von Kultur mitzuwirken. In der Sozialdoktrin der ROK steht, dass die Religion „eine Quelle der Wahrheit [istina]“ darstelle, welche das „Verständnis der Geschichte, der Ethik und vieler weiterer geisteswissenschaftlicher Disziplinen“ ermögliche.⁹⁴ Bei der Vermittlung der erhaltenswerten Traditionen und Kulturphänomene will sich die Kirche „kultureller Formen, die der Zeit, der Nation und den unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen angemessen sind“, bedienen.⁹⁵ Rückenwind bei dieser absoluten Aussage bekommt sie von der russischen Trendwissenschaft Kul’turologija⁹⁶, deren „neue“ wissenschaftliche Erkenntnisse neben der politischen Bestätigung das Vorgehen der Gedenkstättenbetreiber legitimieren und ebendieser Erinnerungsform zur größeren Wirkung verhelfen sollen. In der Orthodoxie hat die Kulturologie „den Kern der einheitlichen russischen Geschichte, Nationalkultur und Staatlichkeit und damit auch den wichtigsten Faktor für die „Wiedergeburt“ Rußlands entdeckt“⁹⁷, und die „Religion selbst wird zur Folie für die Wertbindungen im Allgemeinen und zu einer Art von Hypermoralität.“⁹⁸ Das Fach und die Russische Orthodoxe Kirche beeinflussen sich gegenseitig: Viele der kulturologischen Ansichten wirken, als wären sie der Sozialdoktrin entnommen, andererseits rezipiert die ROK sichtlich die Entwicklungen der Kulturologie. Der Politik dient die Kultur, wie sie von der Kulturologie vermittelt

93 Ziele und Aufgaben des Zentrums, Abschnitt 2.1. Vgl. Svod vospominanij i svidetel’stv, unter: http://www.swod.ru/about/2/3/UntitledFrameset-5.htm. 94 Abschnitt XIV.1., in: Osnovy social’noj koncepcii Russkoj Pravoslavnoj Cerkvi, in: http://www.patriarchia.ru/db/print/419128.html. 95 Abschnitt XIV.2., in: Ebd. 96 „Daß die orthodoxe Religion (und die Institution der russischen orthodoxen Kirche) zu einem allgemein anerkannten Faktor der politischen Kultur des heutigen Rußland geworden sind, ist in keinem geringen Maße auch dem Einfluß der Kulturologie zu verdanken.“ Jutta Scherrer: Kulturologie. Rußland auf der Suche nach einer zivilisatorischen Identität. Göttingen 2003, S. 80. Scherrer hat auch die Bezeichnung des Fachs eingedeutscht, was ich weitgehend übernehme. 97 Ebd. 98 Ebd. S. 63.

86 | Margarete Zimmermann wird, als eine „Strategie für Sozialisierung, Identifizierung und Identität.“⁹⁹ Dabei werden positiv besetzte Werte der ROK (z.B. sobornost’, celostnost’, duchovnost’, deržavnost’) negativen wie Individualismus, Zynismus, Gleichgültigkeit und Egoismus gegenübergestellt.¹⁰⁰ Letztere, als westlich und unnatürlich empfundene, „Unwerte“ sollen durch eine „einheitliche staatliche Politik der patriotischen Erziehung besiegt“ werden.¹⁰¹ An diesem Punkt sind sich alle (Kulturologie, Kirche, Politik) einig: Das Land braucht „positive Helden“.¹⁰² In den fünf Jahren, seit der Gründung des „Zentrums für Gedenkstättenarbeit Butovo“ wurden auf der Grundlage der formulierten Ziele vier größere Projekte ins Leben gerufen. Zwei davon sind hauptsächlich auf die Sammlung und Verwertung von Informationen ausgerichtet. In Übereinstimmung mit den Vorgaben der Satzung, die Geschichte Butovos bevorzugt zu behandeln, beschäftigt sich ein Projekt mit der Erstellung einer Datenbank mit Informationen zu den Opfern des Schießplatzes.¹⁰³ Das zweite Projekt ist ungleich ambitionierter; ein Archiv mit Erinnerungen an die „Russische Orthodoxie im 20. Jahrhundert“ soll als eine Art „Denkmal für die Märtyrer und Bekenner“ entstehen.¹⁰⁴ Zu diesem Zweck sammelt das Zentrum Erinnerungen an die Getöteten sowie ihre Lehrer und Schüler, „an Menschen, die mit denen Freude und Leid teilten, deren Namen in den Stein der Zeit gemeißelt wurden.“¹⁰⁵ Dafür werden bereits veröffentlichte und unveröffentlichte Memoiren, Artikel zu Personen und zum Zeitgeschehen, wissenschaftliche Arbeiten

99 Ebd. S. 164. 100 „Sobornost’“ (Gemeinschaftlichkeit, Kommunitarismus, Kollektivität), „celostnost’“ (Ganzheit, Ganzheitlichkeit), „duchovnost’“ (Geistigkeit, Spiritualität, Seele), „deržavnost’“ (Machtstaatlichkeit, Nationalstaatlichkeit) Zur Schwierigkeit der Übersetzung dieser Begriffe vgl. ebd. S. 19 und 98–99. 101 Ebd. S. 168. 102 Ebd. 103 Als Grundlage dienen die in den Butovo-Bänden veröffentlichten Namenslisten. Ergänzt werden sie durch weitere damit zusammenhängende Dokumente und Lebensbeschreibungen. Die durch die RGNF finanzierte, digitalisierte Version der Materialien soll künftig im Internet zur Verfügung stehen. Vgl. die Internetpräsenz des Zentrums: Memorial’nyj ˙ Nr. 2., unter: naučno-prosvetitel’skij centr „Butovo“, unter: http://butovo37.ru/, hier: Proekt http://butovo37.ru/projects.html. ˙ Nr. 4., unter: ebd. 104 Proekt 105 Ebd. Das bereits den Butovo-Bänden innewohnende sprachliche Pathos begleitet auch die Arbeit des Zentrums.

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sowie „Aufzeichnungen der ‚Oral History‘ [ustnaja istorija]“¹⁰⁶ zusammengestellt und auf der eigens dafür eingerichteten Homepage veröffentlicht.¹⁰⁷ Die vordergründigen Ziele beider Projekte liegen im Erhalt der Erinnerung an die Opfer und, wie es die Verantwortlichen formulieren, „in der Lobpreisung der Märtyrer“, was sich im ersteren Fall auf die bekannten Toten von Butovo beschränkt. Das geplante Archiv soll dagegen das gesamte „orthodoxe 20. Jahrhundert bis zum Jahr 1991“ umfassen; in Wirklichkeit interessieren die Autoren jedoch lediglich die bis zum Jahr 1943 entstandenen Bewegungen und im Grunde nur die ROK und ROKA, da die „Erneuerer“ (obnovlency) und „alle ‚autokephalen‘ Strömungen“ ausdrücklich ausgeschlossen werden.¹⁰⁸ Mit anderen Worten: Den Initiatoren des Zentrums geht es um die durch nichts getrübte Opfergeschichte der wiedervereinigten Russischen Orthodoxen Kirche, welche einerseits Trauer (skorb’) erlaubt und andererseits „den Menschen ein Gefühl des Osterfestes“ und dem Tod einen Sinn gibt.¹⁰⁹ Die Neumärtyrer sollen den Platz der positiven Hel-

106 Der Ausdruck wurde zitiert, weil die angewendete Methodik der Oral History, welche die Projektverantwortlichen mit der Alltagsgeschichte in direkte Verbindung bringen auf einem Konzept basiert, das nicht dem westlichen entspricht. Das wird vor allem deutlich, wenn die Autoren auf eine russische Entsprechung, die synonym verwendet wird, hinweisen: die Überlieferung („predanie“). Ohne in diesem Rahmen näher darauf einzugehen, sei hier nur noch eine kulturologisch anmutende Definition der daraus resultierenden Geschichtsvermittlung zitiert: „Sie [die Überlieferung] impliziert eine bestimmte Verbindung zwischen dem, der überliefert und dem, der annimmt. Diese Beziehung beruht auf Vertrauen, Verantwortung und gegenseitigem Verständnis. Im anderen Fall wird das Erbe wertlos und seine Erhaltung verliert jeden Sinn. [. . . ] Ihr Inhalt [der Überlieferung] ist eine Erzählung über Vergangenes, aber ihre Form ist mit der Gegenwart verbunden und in die Zukunft gerichtet, weil sie das Ziel hat, ihre Botschaft über eine maximale zeitliche Distanz zu vermitteln.“ Svod, unter: http://www.swod.ru/about/1/UntitledFrameset-5.htm. Die Seite befindet sich im Aufbau und war zum Zeitpunkt des letzten Zugriffs (05.03.2013) offline. 107 Vgl. dazu: http://www.swod.ru. Die Wahl des neuen Mediums für die Präsentation der Projekte erklärt sich aus den hohen Zuwachsraten der Nutzer. So hatten im Jahr 2007 bereits 30,6 Millionen Menschen über 18 Jahren einen Zugang zum Internet (zum Vergleich: 2002 waren es noch ca. 8,7 Mio). In den Großstädten nutzen es vor allem junge Leute (61 % der unter 24-jährigen). Das Spezifikum des russischen Marktes stellt die hohe Nachfrage nach Nachrichten und Informationen dar (74 % im Vergleich zu europäischen 39 %). Da die Ziele der Gedenkstätte unter anderem die Erziehung der jungen Generation im Blick haben, stellen sie sich auf ihre Bedürfnisse und Verhaltensweisen ein. Weitere Informationen zur Internetnutzung in Russland bieten die Veröffentlichungen der Bundesagentur für Druckerzeugnisse und Massenkommunikation (Federal’noe agenstvo po pečati i massovym kommunikatijam), vgl. Internet v Rossii, unter: http://www.fom.ru/projects/23.html. 108 Svod, unter: http://www.swod.ru/about/1/UntitledFrameset-5.htm. 109 Interview des Geschäftsführers Igor’ Gar’kavyj, mit der Zeitung „Tat’janin den’“ der MGU zum Thema „Sieg über das Vergessen“. Daniil Sidorov: „Pobedit’ Zabvenie“, in: Tat’janin den’ vom 15.12.2009, unter: http://www.taday.ru/text/262451.html.

88 | Margarete Zimmermann den einnehmen und durch ihr Vorbild orthodoxe Werte im Sinne der „nationalen Idee“ vermitteln. Ihnen soll – als drittes Projekt – auch ein Museum auf dem Gelände gewidmet werden.¹¹⁰ Einen Vorgeschmack auf das dortige Konzept bietet die bereits besprochene Ausstellung zur Kreuztranslation, welche gleichsam biblisch die Erlösung ganz Russlands von den „dunklen Seiten seiner Geschichte“ durch das Opfer der Neumärtyrer propagiert. Durch das vierte Projekt des Gedenkstättenzentrums sollen die bestehenden Formen der Erinnerungsgestaltung vor Ort bestätigt und weiterentwickelt werden. Runde Tische und Konferenzen dienen der theoretischen Fundierung und erlauben eine Übertragung der Konzepte auf andere Orte und Kontexte.¹¹¹ Bereits drei Mal (2004, 2005 und 2006) beschäftigten sich derartige Veranstaltungen mit den Möglichkeiten und Traditionen der Gestaltung von Massenbegräbnisorten. Alle drei Schlussdokumente sind weitgehend identisch, fassen die Pläne und Intentionen der Gestalter schriftlich zusammen und ergänzen sie durch ein gewisses kulturologisches Pathos.¹¹² An erster Stelle wird auf die „außerordentliche Wichtigkeit der Erforschung der jahrhundertealten Traditionen der Erinnerungsarbeit an Massenbegräbnisorten der Opfer von Kriegen und sozialen Katastrophen“ (2006) hingewiesen. In den beiden früheren Versionen wurde noch das Adjektiv „vaterländisch“ (2004, 2005) vor die Traditionen gesetzt. Während der letzten Konferenz waren außer der russisch-orthodoxen Geistlichkeit noch Vertreter des katholischen und evangelischen Klerus sowie der muslimischen und jüdischen Gemeinden zugegen. Leider findet sich im Schlussdokument kein Hinweis darauf, ob diese etwas zu der Veranstaltung beigetragen haben oder deren Anwesenheit nur dazu diente, den An-

˙ Nr. 1, unter: http://butovo37.ru/projects.html. 110 Proekt ˙ Nr. 3, unter: ebd. 111 Proekt 112 Die Titel der Veranstaltungen lauteten: „Ort der Trauer (skorb’) in den Traditionen der russischen Gedenkstättenkultur“ (13.06.2004), „Organisation des Raumes an Massenbegräbnisorten von Opfern sozialer Katastrophen in Russland des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts“ (14.04.2005) und „Ethnokonfessionelle Traditionen und Praxis der Gedenkstättenarbeit an Massenbegräbnisorten von Opfern sozialer Katastrophen“ (06.-08.07.2006). Im Folgenden wird in Klammern das Jahr hinter das jeweilige Zitat gesetzt, um die Lesbarkeit zu erleichtern. Vgl. Itogovyj dokument kruglogo stola „Mesto skorbi v tradicijach russkoj memorial’noj kul’tury“, prošedšego 13.06.2004 na Butovskom poligone, unter: http://archive.martyr.ru/content/view/50/20/; Itogovyj dokument kruglogo stola „Organizacija prostranstva mest massovych zachoronenij žertv social’nych katastrof v Rossii XVI – načala XX vekov“ (Moskva, 14.04.2005 g.), unter: http://archive.martyr.ru/content/view/52/20/; Itogovyj dokument naučno-praktičeskoj konfe˙ rencii „Etnokonfessional’nye tradicii i praktika memorialisazii mest massovych zachoronenij žertv massovych katastrof“ vom 08.07.2006, unter: http://archive.martyr.ru/content/view/53/20/.

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schein der Multikonfessionalität zu erwecken. Der patriotisch-orthodoxe Duktus blieb von der Erweiterung jedenfalls unberührt. Nach der Feststellung, dass viele Massenbegräbnisorte sich im äußerst schlechten Zustand befinden oder gar verschwunden sind (2004, 2005, 2006), wird die Befürchtung geäußert, dass durch einen solchen Umgang mit „den mindestens 1 000 Jahre alten Traditionen, die grundlegende Werteorientierungen der russischen Kultur widerspiegeln“ (2004), der Gesellschaft „historische Desorientierung und Verlust der nationalen und religiösen Identität“ (2004) drohe. Der Wiederaufbau solcher Gedenkfriedhöfe ist nach Ansicht der Verfasser die „effektivste Methode“ (2005), der jungen Generation die gemeinsame Vergangenheit näherzubringen, und dient zudem als ein „wichtiges Instrument der patriotischen Erziehung“ (2005). Trotz des Verweises auf die „jahrhundertealten Traditionen“ (2006) bestätigt sich auch hier die Beobachtung, dass nur die Erinnerung an die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts Aufmerksamkeit genießt, was in die Annahme mündet, dass lediglich während des Bürgerkrieges und in den 1930er Jahren „im ganzen Land Massenbegräbnisorte der politisch Verfolgten“ (2005, 2006) entstanden seien. Bei der Wiederentdeckung solcher Orte gibt es laut den Schlussdokumenten nur eine Möglichkeit der adäquaten Erinnerung: Unter Berücksichtigung der „jahrhundertealten russischen Traditionen“ (2004, 2005, 2006) müssten sichtbare Grabhügel errichtet, ein Anbetungskreuz aufgestellt, eine Kirche „auf dem Blute“ gebaut¹¹³ und besondere Totenmessen gelesen werden (2004, 2005, 2006). Auf der letzten Konferenz wurde zudem auf die „interessante Erfahrung Butovos im Zusammenhang mit der Adaption antiker Traditionen in zeitgenössischen Umständen“ (2006) hingewiesen. Dort sei „im größtmöglichen Maße die Tradition der Kirchenbauten auf dem Blute berücksichtigt“ und die „traditionelle Symbolik des russischen Massengrabes [bratskaja mogila] in vollem Umfang ausgeschöpft“ (2006) worden. Im Gegensatz dazu stünde der „offensichtliche Voluntarismus an anderen Orten, wo beim Aufbau der Gedenkstätten jahrhunderte-

113 Die Kirche „auf dem Blute“ wird als eine ausgesprochen russische und alte Idee vorgestellt; dabei ist die Tradition noch weit älter, als es die Schlussdokumente behaupten. Versammlungen am Märtyrergrab kennt schon die Christenheit in kleinasiatischen Städten des 2. Jahrhunderts (Martyrium Polycarpi 18; mit deutscher Übersetzung bei Peter Guyot/Richard Klein (Hrsg.): Das frühe Christentum bis zum Ende der Verfolgungen, Bd. I. Darmstadt 1993, S. 62–63); die Anerkennung des Christentums durch den römischen Kaiser Konstantin Anfang des 4. Jahrhunderts führte zu einer sprunghaften Zunahme von Grabeskirchen, allen voran jene am Ort des Martyriums Christi in Jerusalem (vgl. etwa Michel-Yves Perrin: Die neue Form der Missionierung: die Eroberung von Raum und Zeit, in: Charles Piétri/Luce Piétri (Hrsg.), Das Entstehen der einen Christenheit [250–430]. Freiburg i. Br. 1996, S. 679–683).

90 | Margarete Zimmermann alte Traditionen der russischen Kultur unberücksichtigt“ blieben (2004, ähnlich 2005, 2006). Oft zeugten „solche Denkmäler von unbegründetem, geistlosem und krankhaftem Selbstbestätigungsdrang der Autoren oder ihrer Auftraggeber“ (2005, 2006). Diese Formulierungen erinnern stark an die Systemsprache der Sowjetunion, nur dass damals die nicht linientreuen Künstler des Vergehens am Sozialistischen Realismus beschuldigt worden waren. In diesen Schlussdokumenten wird der Anspruch erhoben, die Erinnerung im gesamten geografischen Raum Russlands zu bestimmen. Das Formenrepertoire bei der Gestaltung bleibt indes auf russisch-orthodoxe Symbolik beschränkt. Die Beteiligung anderer Konfessionen existiert, wenn überhaupt, nur auf dem Papier. Deren Vorstellungen spiegeln sich kaum in den Schlussdokumenten und gar nicht in der Gestaltung der Gedenkstätte wider. Säkulare Erinnerungsformen werden, wo vorhanden, als Entartung disqualifiziert (siehe oben) und für die künftige Entwicklung nicht einmal in Betracht gezogen. Selbst bei ungläubigen Autoren von Denkmälern seien vielmehr „unbewusst religiöse Archetypen“ nachzuweisen, weil eben darauf die „Erinnerung des Volkes“ gründe (2006). Die Forderung nach einer einheitlichen (russisch-orthodoxen) Sichtweise lässt für Pluralität keinen Raum. Fassen wir zusammen: Erklärtes Ziel der Gedenkstättenbetreiber und wohl auch der Führungsriege der ROK ist es, Opfergedenken zu ermöglichen, ohne dass eine Erinnerung an die Täter stattfindet. Das wissenschaftliche Zentrum befindet sich unterdessen auf der Suche nach einfach kommunizierbaren und übertragbaren Formen der Erinnerung. Insofern stellt Butovskij poligon ein Experimentierfeld für russisch-orthodoxe Gedenkstättenarbeit dar, weshalb er weit über den lokalen Befund hinaus von Interesse ist. Mittlerweile stellen sich erste Erfolge bei diesem Vorhaben ein. In Tver’ und Ekaterinburg wird es laut der Nachrichtenagentur Interfax Gedenkstätten nach dem Vorbild Butovos geben. Darüber hinaus werden in Kasachstan, am Ort des ehemaligen Akmolinsker Lagers für Ehefrauen der Landesverräter (ALŽIR) und in Dolinka bei Karaganda ebenfalls orthodoxe Kirchen gebaut – den Anspruch auf das „kanonische Territorium“ scheint auch das weitgehend muslimische Kasachstan zu akzeptieren. Geradezu teleologisches Bewusstsein spricht aus den Worten, mit denen der Leiter des wissenschaftlichen Zentrums dessen wichtigstes Ziel umreißt: „den ‚Schießplatz Butovo‘ zu einem Denkmal wie dem auf der Poklonnaja Gora zu machen: einem Denkmal, das dem endgültigen Sieg über das Böse gewidmet ist.“¹¹⁴

114 Daniil Sidorov: Pobedit’ Zabvenie’, in: Tat’janin den’ vom 15.12.09, unter: http://www.taday.ru/text/262451.html.

Immo Rebitschek

Neuvermessung und Neugestaltung eines Erinnerungsortes Die Gedenkstätte Perm’-36

I Einleitung Staatliche und im staatlichen Sinne argumentierende Erinnerungsnarrative sind in Russland sehr prominent. Allerdings sind sie weder allgegenwärtig noch dominieren sie allerorten. In den Grenzen der Russischen Föderation ringen deutlich mehr Akteure um nationales Erinnern, als es bislang den Anschein hatte. Tatsächlich bietet der territorial größte Staat der Welt einen Raum für konkurrierende Erzählungen, die lange nicht so wahrgenommen wurden. Russland bietet eine erinnerungskulturelle Topographie. Und in dieser Topographie erlangt die Region zusätzliche Bedeutung. Einige Forschungsprojekte tragen mittlerweile der geographischen Realität des russischen Erinnerns Rechnung und befragen Untersuchungsregionen der Stalinismusforschung unter dem Blickwinkel regionaler Erinnerungsformen. An historischen Orten wie dem Weißmeerkanal oder der vom Lagersystem geprägten Region Perm’ werden Formen bzw. „Formationen“ des Erinnerns herausgearbeitet, die sich um diese Orte entwickelten.¹ Die Chance eines Blicks in die Region liegt zum einen darin, das Kräfteverhältnis bekannter, nationaler Akteure und Narrative neu zu bewerten. Zum anderen eröffnet eine solche Vorgehensweise die Möglichkeit, die Spezifik lokaler und regionaler Erinnerungsformen, ihrer Akteure und deren Narrative genauer zu untersuchen. So hat Ekaterina Makhotina am Beispiel des Medvež’egorsker Rayons um den Weißmeerkanal überzeugend demonstriert, wie nationale und lokale Deutungsmuster eng miteinander verschränkt werden können.² Zum anderen lassen sich die lokalen Erinnerungsformen mit der Spezifik der historischen Orte in Bezug zu setzen. Wie sehr wird die

1 Ekaterina Makhotina: Vom „Heldenepos“ zum „Opferort“ und zurück. Gedächtnisorte des Weißmeerkanals im heutigen Russland. Eine Lokalstudie im Medvez’egorsker Rayon, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 58, 1 (2010), S. 71; Vgl. außerdem Manuela Putz/Ulrike Huhn (Hrsg.): Der Gulag im russischen Gedächtnis. Forschungsergebnisse einer deutsch-russischen Spurensuche in der Region Perm. Bremen 2010. 2 Vgl. Makhotina, „Heldenepos“, S. 87.

92 | Immo Rebitschek Erinnerung vor Ort an den Ort durch den Ort bedingt? Wie konsistent sind diese Erinnerungsräume und wie durchlässig ihre Grenzen?³ All diese Fragen und Problemstellungen führen letztlich zum Begriff des Erinnerungs-, bzw. Gedächtnisortes.⁴ Jörg Skriebeleit hat die Herausbildung westdeutscher Gedächtniskultur nach 1945 am Erinnerungsort Flossenbürg neu akzentuiert. Sein Beitrag hat gezeigt, dass sowohl die Geschichte des Umgangs als auch der Umgang mit Geschichte selbst vor Ort eigene Dynamiken erhält und diese über die Grenzen dieses Ortes aussendet.⁵ Über den Begriff des Erinnerungsortes lassen sich die Verwerfungen herausarbeiten, die auch die russische Erinnerungslandschaft kennzeichnen, und der historische Ort des lokalen Erinnerns erhält die Bedeutung zurück, die ihm im Zuge der Debatten über nationales Erinnern entzogen wurde. Gleichzeitig bleibt jede Annäherung an den Ort, unter Berufung auf Pierre Nora, eben nicht auf die topographischen Grenzen des Ortes beschränkt. Der Blick auf das Neben- und Miteinander materieller, funktionaler und symbolischer Modi verdeutlicht dessen Hineinwirken in die ihn umgebende Erinnerungslandschaft auf unterschiedlichste Weise.⁶ Nationale gesellschaftliche Rahmenbedingungen können sich hier ebenso widerspiegeln wie die lokalen Konditionen.⁷ Und zugleich offenbaren sich dem Betrachter Sinnbezüge, die den Ort mit anderen Erinnerungsorten in einem großen Deutungsrahmen verbinden.⁸

3 Ähnlichen Fragen nach der Entgrenzung und transnationaler Verankerung regionaler Erinnerungsorte schien man sich auch auf der in Greiz im November 2011 abgehaltenen Tagung zu „Regionalen Erinnerungsorten“ gestellt haben: Tagungsbericht Regionale Erinnerungsorte. 11.11.2011–13.11.2011, Greiz, in: H-Soz-u-Kult, 22.12.2011, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/ tagungsberichte/id=3972. 4 Vgl. Jörg Skriebeleit: Erinnerungsort Flossenbürg. Akteure, Zäsuren, Geschichtsbilder. Göttingen 2009, S. 19. 5 Vgl. ebd.; Cornelia Siebeck hat in Bezug auf das erkenntnistheoretische Potenzial der Erinnerungsorte für die Gedächtnisgeschichte deutliche Worte gefunden: „Ein solcher Blick hinter die Kulissen macht allerart eigensinnige Akteure und deren komplexe Interessenkonflikte sichtbar, die auf verschiedenen gesellschaftlichen und politischen Ebenen gleichzeitig ausgehandelt werden können. Nicht zuletzt wird im Umgang mit den ‚Nach-Orten‘ auch manches Triviale und Pragmatische erkennbar, ebenso wie ortsspezifische Eigendynamiken und Kontingenzen.“ Cornelia Siebeck: Rezension zu: Jörg Skriebeleit: Erinnerungsort Flossenbürg. Akteure, Zäsuren, Geschichtsbilder. Göttingen 2009, in: H-Soz-u-Kult, 05.03.2010, http://hsozkult.geschichte.huberlin.de/rezensionen/2010-1-169. 6 Vgl. Pierre Nora: Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Berlin 1990, S. 26–27. 7 Vgl. Skriebeleit, Erinnerungsort Flossenbürg, S. 22. 8 Vgl. ebd., S. 20–21.

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Bei allem Bemühen darum, „die Vielstimmigkeit und Pluralität der russischen Vergangenheitserzählungen“⁹ sichtbar zu machen, ist deren topographischer Pluralität bislang wenig Beachtung geschenkt worden. Auf den folgenden Seiten soll am Beispiel eines russischen Erinnerungsortes untersucht werden, wie das Gedächtnis an die staatlichen Massenverbrechen im Stalinismus vor Ort und durch den Erinnerungsort vorgeformt wird. Der Gedenkstätten- und Museumskomplex Perm’-36 – etwa 100 Kilometer von der Stadt Perm’ entfernt – gehört zu den wenigen musealisierten historischen Orten sowjetischer politischer Gewalt in Russland. Von seiner Errichtung im Jahre 1946 bis zu seiner endgültigen Schließung 1988 waren Perm’-36 und die übrigen Lagerpunkte 35 und 37 Teil des regionalen Lagerkomplexes im sowjetischen GULag. Innerhalb der letzten zwei Jahrzehnte ist an diesem ehemaligen Lagerpunkt die Gedenkstätte entstanden. Wie gezeigt werden soll, standen und stehen sowohl der Lagerkomplex als auch die hiesigen musealen Einrichtungen in enger Wechselwirkung mit dem lokalen Umfeld. Nationale und lokale Akteure arbeiten hier in einem besonderen politischen und erinnerungskulturellen Spannungsfeld. Dabei werden Deutungsvorschläge der Gedenkstätte national und international rezipiert.¹⁰ Unter der Leitfrage, wie ein Ort Erinnerungsprozesse vorprägen kann und wie andererseits geschichtskulturelle Akteure die Topographie eines Erinnerungsortes prägen bzw. auch Teil dieser sein können, stehen verschiedene erinnerungskulturelle Kristallisationspunkte zur Diskussion. An diesen Punkten existieren Verwicklungen und Verflechtungen zwischen Topographie, Akteur und Erinnerungsformationen, die auf den folgenden Seiten offen gelegt werden sollen. Zu Beginn werden die historischen Schichten des Erinnerungsortes skizziert, um zu beleuchten, mit welchen historischen und topographischen Sachfragen die Akteure zu Beginn ihrer Arbeit konfrontiert wurden. Im zweiten Abschnitt stehen die Formen, in denen die Akteure diese Fragen auf gestalterische Weise beantworteten, im Vordergrund. Es geht also um die Frage, wie ein Erinnerungsort neu vermessen werden kann und damit auch, wie gestaltbar die Topographie eines Erinnerungsortes ist. Anschließend soll verdeutlicht werden, welche erinnerungskulturellen Konsequenzen allein der materielle Zustand des Ortes vor dem

9 Lars Karl/Igor J. Polianski: Einleitung, in: dies. (Hrsg.): Geschichtspolitik und Erinnerungskultur im neuen Russland. Göttingen 2009, S. 15. 10 Vgl. Ulrike Huhn/Manuela Putz: Sowjetische Straflager in der russischen Erinnerungskultur. Museen und Gedächtnisorte in der Region Perm, in: Jahrbuch für historische Kommunismusforschung 18 (2011), S. 257–259. Zum Museums- und Gedenkstättenbegriff vgl. Ulrike Huhn/Manuela Putz.: Einleitung, in: Dies: Der Gulag im russischen Gedächtnis, S. 4.

94 | Immo Rebitschek Hintergrund eines gesellschaftlichen Bedürfnisses nach Authentizität herausfordern kann. Zuletzt steht die überlebende Zeitzeugengeneration im Mittelpunkt der Betrachtung. Als elementarer Bestandteil des Ortes und damit der erinnerungskulturellen Topographie prägen sie nicht nur alle zuvor thematisierten Aushandlungsprozesse des Erinnerns vor Ort. Sie sind zugleich ein exemplarischer Grenzfall für die Verflechtungen zwischen Akteur und Erinnerungsort.

II Historische Schichten eines Lagerpunktes 1946 bis 1988¹¹ Unter dem Kürzel ITK-6 (Ispravitel’no-trudovaja kolonija No. 6) entstand in Kučino 1946 das Hauptlager des Lagerkomplexes für Holzfällerarbeiten im Molotovskij Rayon. ITK-6 entsprach gänzlich dem Typus des spätstalinistischen Lagerpunktes. Schnell und mit geringem Materialaufwand ließen sich diese Arbeitskolonien an jedem beliebigem Ort errichten und ebenso mühelos wieder einreißen. Bis in die 1970er Jahre bestand ITK-6 nahezu völlig aus Holzbaracken, in denen maximal 1 000 Menschen gleichzeitig interniert wurden.¹² Neben der umfassenden Mechanisierung des Komplexes wurde das Lager aus logistischen Gründen auch in das Verkehrsnetz des Rayons integriert. Auf diese Weise entstand einerseits eine infrastrukturelle Verflechtung mit der Region. So rekrutierte die Lagerverwaltung Arbeitskräfte aus dem angrenzenden Dorf Kučino, das wiederum von Ressourcen und Bauunterstützung selbst profitierte. Andererseits wurde eine als mobil konzipierte Arbeitskolonie an einen Standort gebunden. Auf die erinnerungskulturellen Konsequenzen dieser Prozesse wird an anderer Stelle eingegangen werden. Mit dem Tode Stalins und den ersten Anzeichen der Erosion des stalinistischen Lagertyps begann die zweite Existenzphase von ITK-6. Seit 1954 wurden nunmehr auch ehemalige Funktionäre des stalinistischen Regimes kurzzeitig inhaftiert – niedere Dienstränge wie ehemalige Lageraufseher hingegen länger. Um

11 Ein umfassender Überblick über die Lagergeschichte kann auf der Website der Gedenkstätte abgerufen werden: http://www.perm36.ru/de/o-muzee/geschichte-des-lagers.html, am 16.08.2011; Ansonsten sei hier noch auf den Bericht von Ulrike Huhn und Manuela Putz verwiesen: Putz/Huhn: Der Gulag im russischen Gedächtnis; bzw. Putz/Huhn, Sowjetische Straflager. 12 Ursprünglich ließ die Arbeitslager und -kolonieverwaltung des Molotovskij Rayon UITLK das Lager in Seljanka errichten und daraufhin nach Kučino ,umziehen‘. Vgl. http://www.perm36.ru/ de/o-muzee/geschichte-des-lagers.html, am 17.08.2011.

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gerade Letzteren die Flucht zu erschweren, wurden die Sicherheitsvorkehrungen drastisch verschärft. Bis 1972 galt ITK-6, so das Museum heute, als das einzige Lager „für besondere Bestimmungen“.¹³ Wie viele ehemalige Lagermitarbeiter unter den Häftlingen waren, ist nach wie vor ungeklärt. Entscheidend in unserem Zusammenhang ist aber vielmehr die Existenz einer solchen zweiten historischen Schicht, in der einmal mehr eine eindeutige Täter-Opfer-Dichotomie der Komplexität der stalinistischen Massengewalt nicht gerecht wird. Mitte der 1970er Jahre wurde die Kolonie ein weiteres Mal umgestaltet. Die schlagartige und massenhafte Internierung von Menschenrechtsaktivisten und Angehörigen nationaler Minderheiten im Jahr 1972 führte zum Ausbau der örtlichen Strafanstalten. Gleichzeitig wurden die verbliebenen Milizionäre der Stalin-Zeit nach Nižnij Tagil verschickt. Als Speziallager für „besonders gefährliche Staatsverbrecher“ erhielten die ehemaligen Arbeitskolonien ITK im Gebiet Perm’ – neben den höchsten Sicherheitsvorkehrungen – die Bezeichnungen VS389/36 (bzw. VS-389/35 und VS-389/37).¹⁴ Erst an diese Bezeichnungen angelehnt, entstand der umgangssprachliche Name Perm’-36: eine Wortschöpfung der inhaftierten Dissidenten, die die Nähe „ihres“ Lagers zur Stadt Perm’ ausdrücken wollten. Zur gleichen Zeit gehörten jedoch auch einige so genannte Berufskriminelle zur Häftlingspopulation, genauso wie Männer, die für politische Vergehen noch in der Stalin-Zeit verurteilt worden waren. Die Erweiterung des Lagers um eine Hochsicherheitszone im Jahr 1980 ging mit einer umfassenden Modernisierung der gesamten Lagerinfrastruktur einher, wobei anstelle einer Holzbaracke eine steinerne Sicherheitszone errichtet wurde. Zentralheizung und ein eigenes Abwassersystem dienten der kompletten Isolation der Häftlings- von der Außenwelt. Damit war die Transformation vom alten „strengen Regime“ zum neuen „besonderen Regime“ des Lagerkomplexes vollendet.¹⁵ In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre wurde bis 1987 ein großer Teil der Häftlinge von VS-389/36 amnestiert und entlassen, während diejenigen, die nicht unter diese Amnestie fielen, nach VS-389/35 überstellt wurden.¹⁶ Zu Beginn der 1990er Jahre trugen Beteiligte eines neu initiierten Forschungszentrums Material und Informationen zur Geschichte der politischen Gewalt in der Region Perm’ zusammen. Ziel dieses Zentrums war es, alle Lagerpunkte für die Öffentlichkeit

13 http://www.perm36.ru/de/o-muzee/geschichte-des-lagers.html., am 16.08.2011. 14 Manuela Putz: Erinnerung und Gedenken in der Region Perm. Die Musealisierung der „Permer Politlager“, in: Dies./Huhn: Der Gulag im russischen Gedächtnis, S. 10. 15 http://www.perm36.ru/de/o-muzee/geschihte-des-lagers.html, am 18.08.2011. 16 Vgl. Putz, Erinnerung und Gedenken, S. 10–12.

96 | Immo Rebitschek zu erschließen. Allerdings verlagerte sich der Fokus zunehmend auf den Lagerpunkt 36, da hier ein Teil der Einrichtung durch die zwischenzeitliche Nutzung als psychiatrische Klinik noch erhalten war.¹⁷ 1996 starteten die Restaurierungs-, Renovierungs- und Rekonstruktionsarbeiten, während das Lagermuseum noch im selben Jahr für Besucher zugänglich gemacht wurde.¹⁸ 1999 wurden diese Arbeiten dann auf das „strenge Regime“ ausgedehnt.

III Über die Gestaltung der Topographie Erinnerungsorte können nur bedingt als abgeschlossene Räume betrachtet werden. Sicherlich darf man auf die natürlichen und künstlichen Grenzen des materiellen Ortes verweisen, der uns letztlich als Erinnerungsträger dient. Dennoch stellt sich die Frage, wo wir die Grenzen des Trägers selbst ziehen. Wo endet die „Semiotisierung“?¹⁹ Reicht der symbolische Ort vielleicht über die Grenzen des materiellen Ortes hinaus? Und welche erinnerungskulturellen Auswirkungen haben diese Grenzverläufe? Es wurde bereits angesprochen, dass Perm’-36 in seiner Umgebung auch infrastrukturell verwurzelt ist. Ein Beispiel dafür ist das Dorf Kučino. Nicht die Siedlung selbst, doch deren gesamte heutige Infrastruktur geht auf das Lager zurück. Perm’-36 war bekannt als Betrieb zur Holzverarbeitung und zog zahlreiche freie Arbeitskräfte in die Region, die sich noch 1946 an Ort und Stelle niederließen und Seite an Seite mit den Lagerhäftlingen arbeiteten. Zugleich wohnten diese direkt auf der anderen Seite des Lagerzauns. Heute noch wird das ganze Dorf vom Heizraum des ehemaligen Lagers mit Wärme versorgt, während sich die Bewohner gelegentlich zu Filmvorführungen in der Gedenkstätte einfinden. Die historischen Grenzen von Perm’-36 waren in diese Richtung einseitig durchlässig.²⁰ Kučino wurde somit symbolisch und durch seine räumliche Nähe auch materiell ein Teil des Erinnerungsortes. Mittlerweile droht es zu verfallen, denn der Gedenkstätte fehlen für die Sanierung die nötigen Mittel. Aber auch innerhalb der Lagerausstellung finden sich kaum Anknüpfungspunkte an die Geschichte dieser Wechselbeziehung. Kučino ist vom Ausstellungskonzept insoweit ausge-

17 Vgl. Huhn/Putz, Sowjetische Straflager, S. 259. 18 Vgl. http://www.perm36.ru/de/o-muzee/geschichte-des-museums.html, am 17.08.2011. 19 Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1992, S. 60. 20 Vgl. http://www.gedenkmuster.uni-jena.de/index.php?id=1415_permmuseum, am 17.08.2011.

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schlossen, als dass die Brisanz dieser Scheidelinie zwischen zivilem Leben und Lagerdasein nicht thematisiert wird. Der Häftling konnte diese Linie nicht übertreten, während das Lager auch jenseits der Linie wahrnehmbar war und bis heute ist. Ein anderes Beispiel ist der Friedhof eines Nachbardorfes, das wenige Kilometer von Kučino entfernt liegt. Auf den ersten Blick verrät nichts, dass hier auch die zahlreichen Opfer von Perm’-36 begraben sind. Über vierzig Jahre wurden hier tote Lagerhäftlinge zwischen den Verstorbenen aus dem Dorf verscharrt. Erst Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion setzten die wenigen Angehörigen, die den Weg hierher gefunden hatten, kleine Zeichen der Erinnerung.²¹ In diesem Fall haben wir es nicht mit einer durchlässigen Grenze zu tun, sondern mit einem Exponenten des Erinnerungsortes Perm’-36. Anders als in Kučino existiert hier keine materielle räumliche Verbindung. Aber auch hier stößt man auf die brisante Nähe zwischen Lagerexistenz und ziviler Umgebung. Und hier könnte sichtbar werden, wie die Lagererfahrung bis in das private zivile Gedenken vorgedrungen ist. Dennoch findet sich vor Ort außer den individuellen Grabmahlen kein Verweis auf die historische Verbindung zum Lager. Nicht nur in direkter Nachbarschaft, sondern auch innerhalb der Grenzen des ehemaligen Lagerpunktes finden sich Orte, die durch die Gedenkstätte vom Erinnerungsort ausgeschlossen wurden. Wie bereits erwähnt, wurden die Gebäude des so genannten „strengen Regimes“ nach dessen Schließung als psychiatrische Anstalt genutzt. Diese zog dann vor einigen Jahren in eines der Gebäude außerhalb der Gedenkstätte. So präsent die Patienten in der Umgebung nach wie vor sind, so wenig ist über sie und die „Einrichtung“ in Erfahrung zu bringen.²² Dabei drängt sich auch der Verdacht auf, dass die synonyme Verwendung von Psychiatrie und einem „Heim für Geistig Behinderte“ nicht nur sprachliche Ursachen hat.²³ In unserem Zusammenhang geht es allerdings um die erinnerungskulturelle Brisanz dieser Kontinuität. Die Tatsache, dass die Patienten zwischenzeitlich im früheren Strafisolator untergebracht worden sind, sollte auch von einer Gedenkstätte erzählt werden, die sich dem Gedenken der sowjetischen Dissidenz verschrieben hat. Die schlichte Nachnutzung des Lagerpunktes durch eine Psychiatrie ist im Kontext anhaltender Debatten über die Rechte sozial Benachteiligter in Russland und angesichts der Geschichte des Ortes äußerst problematisch. Perm’-36 selbst war kein Ableger der psychiatrischen Gewaltmaschinerie, wie sie

21 Vgl. ebd. 22 Vgl. den Erfahrungsbericht auf: http://www.gedenkmuster.uni-jena.de/index.php?id=1414_ nachnutzung, am 25.08.2011. 23 http://www.perm36.ru/de/o-muzee/geschichte-des-lagers.html, am 18.08.2011.

98 | Immo Rebitschek in zahlreichen anderen Fällen bekannt geworden ist. Dennoch existierten sowohl Spezial-, als auch konventionelle Psychiatrien in der Region Perm’, in die politisch Verfolgte zwangsverschickt wurden.²⁴ Die psychiatrische Klinik in Perm’-36 stellt einen eigenen Erinnerungsort dar, an dem sich die Erinnerungen an die politische Gewalt von Perm’-36 und „die Psychiatrie“ als Chiffre der Dissidenz vermengten. Die Gedenkstätte löst diese Komplexität des Ortes auf, indem sie diese historische Schicht vom Erinnerungsort Perm’-36 ablöst. Die Akteure vor Ort ziehen also neue Grenzen und beziehen gleichzeitig andere Orte narrativ mit ein. Als ein Bestandteil der Gedenkstätte eröffnet das Gedenkmuseum mit einem seiner Ausstellungsräume dem Besucher die Welt des GULag, und zwar weit über Perm’-36 hinaus. Stellvertretend für das ganze sowjetische Lagersystem finden sich hier Exponate aus den verschiedensten Regionen Russlands – mit der Absicht den Besuchern das einzig erhaltene Lager der GULag-Zeit in Russland zugänglich zu machen. Einige Ausstellungsobjekte sind von Häftlingen gefertigte Alltagsgegenstände aus der Kolyma-Region. Hingegen muss eine frisch lackierte Holzbank als Symbol für „das Lagerleben“ herhalten.²⁵ Das Lagermuseum schafft somit nicht nur einen großen Sinnzusammenhang der GULagGeschichte. Es setzt Perm’-36 als eindeutigen und einzigen Fluchtpunkt dieser Geschichte in Szene. Eine Folge dieser Inszenierung ist, dass der symbolische Erinnerungsort Perm’-36 entgrenzt wird. Der Alleinvertretungsanspruch über die Deutung der GULag-Geschichte zielt darauf ab, den Ort auch symbolisch zu universalisieren. Auf diese Weise werden die zahlreichen historischen Dimensionen des GULag miteinander vermischt. An Perm’-36 wird deutlich, dass die Grenzen des Erinnerungsortes einem stetigen Gestaltungswandel unterliegen. Materielle Grenzen werden durch die Konstruktion neuer symbolischer Konturen verändert. Kučino beispielsweise liegt für die Gedenkstätte außerhalb der symbolischen und der materiellen Grenzen dieses Erinnerungsortes. Die Kolyma hingegen wird symbolisch einbezogen. Dass Erinnerungsorte als Träger und Vermittler kultureller Erinnerungsbestände gleichermaßen eine aktive und passive Rolle einnehmen, ist bekannt. Orte können ideologisch-historisch mit Erinnerungsbeständen aufgeladen werden.²⁶ Doch

24 Vgl. Sidney Bloch/Peter Reddaway: Psychiatric Terror. How Soviet Psychiatry Is Used to Suppress Dissent. London 1971. In diesem etwas älteren Werk gibt es mehrere Hinweise auf die Existenz von konventionellen und Spezialkliniken in der Region Perm’. Vgl. ebd., S. 193 und 380. 25 Vgl. http://www.gedenkmuster.uni-jena.de/index.php?id=1415_permmuseum, am 25.08.2011. 26 Vgl. Skriebleit, Erinnerungsort Flossenbürg, S. 20–21.

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zeigt Perm’-36 auch, wie passiv die konkrete Topographie dieser Bestände ist, wie materielle und symbolische Räume neu erschlossen, andere ausgeschlossen werden. Dabei kann auch der materielle Ort durch die Akteure beliebig redefiniert werden.

IV Alternativen zum Authentischen? – Die Herausforderung der Rekonstruktion Es wurde bereits erwähnt, dass die Lagerpunkte ursprünglich als mobile Arbeitskolonien geplant worden waren. Weder sollten noch konnten diese Holzkonstruktionen mehrere Jahrzehnte dem strengen Kontinentalklima in der Region trotzen. Da Perm’-36 dennoch zum stationären Lagerpunkt umgebaut wurde, mussten neben Anbauten aus Stein ständige Nachbesserungen vorgenommen werden. Dies geschah bis 1988 jedoch nur selten und halbherzig. Hinzu kam, dass mit der Schließung des Lagers weite Teile der Holzgebäude und die gesamte Zaunanlage eingerissen wurden. Auch der Bereich um die Baracke des „besonderen Regimes“ wurde durch Einheiten des Innenministeriums 1989 zerstört. Zu Beginn der 1990er Jahre fanden die Freiwilligen einen Ort vor, der im Verfall begriffen war und für alle Beteiligten stellte sich die Frage, wie man mit einem historischen Ort im Verfallsprozess umgehen sollte. Jede Entscheidung sollte fundamentale Auswirkungen auf die Erinnerungsformen und -formationen vor Ort haben. Auch für die Gedenkstättenarbeit sind die starken Temperaturschwankungen zwischen Winter und Sommer eine große Herausforderung. Angesichts dieser Witterungsbedingungen und der finanziellen Mittel entschloss man sich zur Rekonstruktion des Lagerpunktes.²⁷ Die Bewahrung der historischen Überreste schien unter den gegebenen Bedingungen keine Option, denn der jahrzehntelange Verfall der verschiedenen Bausubstanzen machte das Konservieren zu kostspielig. Die Mitarbeiter von Perm’-36 renovierten nicht nur die Inneneinrichtung der Lagerverwaltung zur Nachnutzung durch das künftige Museum. Auch der Bereich um das „besondere Regime“ wurde in Kooperation mit internationalen Baucamps wiederhergestellt.²⁸ Eine Baracke wurde komplett nach älteren Skizzen rekonstruiert. Außerdem errichtete man Zaunanlagen und Wachtürme nach dem ungefähren Vorbild aus wesentlich günstigeren Materialien, und die Entlausungsbaracke wurde an der Stelle der früheren Baracke erst kürzlich neu aufgebaut.

27 Vgl. http://www.perm36.ru/de/o-muzee/geschihte-des-museums.html, 17.08.2011. 28 Vgl. Putz, Erinnerung und Gedenken, S. 13.

100 | Immo Rebitschek Der Lagerpunkt wurde nach den Vorstellungen der Ausstellungsmacher wieder errichtet, „so dass die Museumsbesucher das ehemalige Lager in einem dem Original möglichst ähnlichen Zustand besichtigen können.“²⁹ Der gesamte Umbau fußte auf pragmatischen Überlegungen. Allerdings forderte er auch weitere konzeptionelle Entscheidungen heraus. Denn eine Rekonstruktion wirft an jedem historischen Ort die Frage nach der Authentizität auf: ein Problem, das sich auf zwei Ebenen stellt. Die eine Ebene ist bestimmt durch die Hoffnung vieler Besucher, mit einer „unverfälschten“ historischen Materie in Kontakt zu treten. Dies entspricht sicherlich einem allgemeinkulturellen Bedürfnis gegenüber Gedächtnisorten.³⁰ Die viel beschworene „Aura“ der Echtheit wurde gerade in Bezug auf die Zeit des Nationalsozialismus zur Norm erhoben, wenn es um die Akzeptanz materieller Erinnerungsformationen geht. Zuweilen ist für das gesellschaftliche Erinnern der Eindruck von Authentizität Grundvoraussetzung, sich mit dem historischen Ort überhaupt auseinanderzusetzen bzw. ihn in einen breiteren Diskurs mit einzubeziehen.³¹ „Gedenkstätten an den historischen Orten der Verbrechen erhalten durch diese Etikettierung [des „authentischen Ortes“, I.R.] eine besondere Wertschätzung, die sie in den Debatten um die Erinnerungsorte an den Nationalsozialismus exponieren.“³² Eine Erwartung an das „Echte“ bringen auch russische Besucher mit. In dieser Hinsicht birgt jeder Verlust an Überresten, jeder gestaltende Eingriff am Erinnerungsort auch hier die Gefahr, anstelle von Interesse Skepsis beim Besucher zu wecken, zumal es verhältnismäßig wenige Realien aus der stalinistischen Epoche im heutigen Russland gibt. Der Zugriff auf die Vergangenheit über persönliche „authentische“ Sachzeugnisse ist beschränkt. So brachte es ein russischer Schüler für einen Geschichtswettbewerb auf den Punkt: „Das Leben der Dinge im 20. Jahrhundert war kurz“.³³

29 http://www.perm36.ru/de/o-muzee/geschihte-des-museums.html, am 19.08.2011. 30 „Sie [Orte. I.R.] verkörpern auch eine Kontinuität der Dauer, die die vergleichsweise kurzphasige Erinnerung Individuen, Epochen und auch Kulturen, die in Artefakten konkretisiert ist, übersteigt.“ Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 2003, S. 299. 31 Skriebeleit zitiert insbesondere Karl Markus Michels Beitrag in „Die Zeit.“ Vgl. Karl Markus Michel: Die Magie des Ortes. Über den Wunsch nach authentischen Gedenkstätten und die Liebe zu Ruinen, in: Die Zeit, 11.09.1987. 32 Skriebeleit, Erinnerungsort Flossenbürg, S. 24. 33 Irina Scherbakowa: Zerrissene Erinnerung. Der Umgang mit Stalinismus und Zweitem Weltkrieg im heutigen Russland. Göttingen 2010, S. 109.

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Auf der zweiten Ebene besteht das Problem, dass jede Rekonstruktion Bezug zu einer bestimmten historischen Schicht nimmt und damit die historische Dynamik des Ortes ignoriert. Der Ort wird im schlimmsten Falle auf eine angeblich authentische Existenz reduziert und der Gedächtnisort verliert seine Gestalt. Er wird eindimensional. Der weiße „Originalanstrich“ einer Baracke überdeckt sinnbildlich die historischen Schichten darunter. Hier deuten sich die erinnerungskulturellen Konsequenzen an, die ein Erinnerungsort unter der Zuschreibung des Authentischen einfordert. Die Mitarbeiter der Gedenkstätte in Perm’ sahen sich mit dem Authentizitätsbedürfnis der potenziellen Besucher konfrontiert. Zugleich standen sie unter dem akuten Handlungsdruck zum Sachbeweis in einer Gesellschaft, die sich nicht erinnern will. Diesen Herausforderungen begegnete man mit umso stärkerer Transparenz im Rekonstruktionsprozess. Um der Gefahr einer Marginalisierung von außen zu entgehen, bezog man Jugendliche aus der Region in den Aufbauprozess mit ein. Zeitgleich setzte die Gedenkstättenleitung von an Anfang auf „ihre“ Zeitzeugen. Die Gedenkstättenarbeit fußte nicht nur in hohem Maße auf den Erfahrungen der Überlebenden. Das pädagogische und bauliche Konzept wurde auch auf diese Erfahrungen ausgerichtet. So dient die Rekonstruktion in erster Linie zur Veranschaulichung der vermittelten Häftlingserfahrungen. Als Beleg lassen sich hierfür unter anderem die neu errichteten Sicherheitsbarrieren anführen. Ziel der Baumaßnahmen war die Schaffung der „größtmöglichen Ähnlichkeit“.³⁴ Auf diese Weise kommt die Gedenkstätte tatsächlich dem Bedürfnis nach der „Aura des Echten“ entgegen und bedient kurzzeitig die emotionalen Erwartungen seiner Besucher. Die Zaunanlagen repräsentieren die Schärfe der Sicherheitsbestimmungen in der Zeit von VS-389/36 – der Zeit der Dissidenten. Zu einer vertiefenden kognitiven Auseinandersetzung dienen Zeitzeugen, die als lebende Sachbeweise und als „authentische“ Bestandteile des Erinnerungsortes eingesetzt werden. Den visuellen Verlust der historischen Schichten versuchte man über die Exponate zu kompensieren. Besonders in Perm’-36, mit vier Jahrzehnten gewachsener Lagerstrukturen und jahrelanger Nachnutzung durch die Psychiatrie, wurden ganze Erinnerungsbestände durch einen solchen „Originalanstrich“ eingeebnet. Daher kann sich an prominenter Stelle der Besucher die Entwicklungsgeschichte des Lagers vor Augen führen. Außerdem wurde in der Baracke des Sonderregimes eine Aussparung für die historischen Schichten eingerichtet. Nichtsdestotrotz schien die Vielschichtigkeit des Erinnerungsortes mit jedem Rekonstruktionsschritt zu verblassen.

34 In der russischen Version ist von „maksimal’no blizko“ die Rede. http://www.perm36.ru/ru/ o-muzee/istoriya-muzeya.html, am 18.08.2011.

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V Die Dissidenz im Mittelpunkt Unter Berufung auf Maurice Halbwachs forderte Jörg Skriebeleit ein, „der Frage nach der gesellschaftlichen Rahmung kultureller Erinnerung, die sich in ‚Erinnerungsorten‘ ausdrückt“ nachzugehen.³⁵ Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass Erinnerungsorte von ständigen Wertumbrüchen und Bedeutungsverschiebungen in der betrachtenden Gesellschaft betroffen sind. Allerdings ist auch anzunehmen, dass der Ort selbst zu diesen Verschiebungen mit beitragen und die Erinnerungsformationen seiner Umgebung mitgestalten kann. Eine solche Wechselbeziehung ist für die ehemaligen Konzentrationslager von verschiedenen Seiten bestätigt worden.³⁶ Im Falle von Perm’-36 wird nicht nur angesichts der Entstehungsgeschichte der Gedenkstätte klar, dass die Zeitzeugen einer bestimmten Überlebendengeneration sowohl vor Ort als auch regional an diesen Bedeutungsverschiebungen maßgeblich beteiligt sind. Auf einer ganz profanen Ebene können Überlebende dazu beitragen, das Interesse an der Geschichte politischer Gewalt zu befeuern. Die heutige Direktorin der Gedenkstätte Perm’-36, Tat’jana Kursina, drückte im Interview aus, welche Bedeutung dieser Impuls für sie und ihre Arbeit als Historikerin hatte: Der Anblick und vor allem die Begegnung im Jahre 1992 mit Überlebenden vor Ort haben mich tief verstört. Der Alptraum war Wirklichkeit. Mir ist klar geworden, dass dieser Ort etwas ist, das erhalten werden muss, damit niemand diese Verbrechen leugnen kann und damit ein Beweis, so wie ich ihn gebraucht habe, stets gegenwärtig ist. Es war nicht genug, sich mit der Tatsache der Verbrechen abzufinden, ich musste herausfinden, wie und warum das so passieren konnte.³⁷

Auch über die tragende Rolle von Zeitzeugen im Prozess einer breiteren gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit Massenverbrechen besteht sicherlich kein Zweifel. Gleichsam als Vermittler und als lebender Sachbeweis standen sie bereits 1945 bei der „Untersuchung und öffentlichen Präsentation als Tatort“ nach der Befreiung der NS-Lager im Mittelpunkt.³⁸ Auf einer ganz anderen Ebene stellt sich

35 Skriebeleit, Erinnerungsort Flossenbürg, S. 22. 36 Vgl. ebd., S. 27. „Das intentionale wie das unbewusste Handeln gesellschaftlicher Gruppen wirkte sich zwar direkt auf der Erscheinungsbild der ehemaligen Lagerorte aus. Der Zustand der früheren Lager und der Gedenkstätten beeinflusste aber ebenso nachhaltig die Geschichtsbilder, die sich von den jeweiligen Konzentrationslagern entwickelten.“ Ebd. 37 Interview mit der Direktorin der Gedenkstätte Prof. Tat’jana Kursina: unter: http://www. gedenkmuster.uni-jena.de/index.php?id=1418_kursina, am 17.08.2011. 38 Volkhard Knigge: Gedenkstätten und Museen, in: ders./Norbert Frei (Hrsg.): Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord. Bonn 2005, S. 398.

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die Frage, inwiefern man vor allem ehemalige Lagerinsassen als Teil des Erinnerungsortes betrachten kann, der die Erinnerungsformationen in seinem Umfeld beeinflusst. Insassen und Wärter sind über ihre individuellen Erfahrungen dem Ort schicksalhaft verbunden. Dabei fügen gerade ehemalige Häftlinge dem Ort eine eigene politische, sakrale oder nationale Dimension hinzu.³⁹ Tatsächlich lassen sich Überlebende als Träger und Vermittler kultureller Erinnerungsbestände im Rahmen des materiellen Ortes beschreiben. Es ließe sich sogar behaupten, dass sie im Assmannschen Sinne von ihrer Umgebung mit dem Ort „semiotisiert“ werden.⁴⁰ Die kulturellen Erinnerungsbestände jenes Ortes werden im Wesentlichen durch sie mit getragen und vermittelt. Begreift man die Überlebenden in der Geschichte politischer Massengewalt nun als Bestandteil des Erinnerungsortes, müssen sie in der Topographie mit beschrieben werden. Ein interessantes Beispiel bietet in diesem Zusammenhang die Museumsarbeit im benachbarten Perm’-35. Dort initiierte 1998 ein ehemaliger Aufseher ein Museum zur Geschichte der dortigen Strafvollzugseinrichtung. Nach dem Bericht von Manuela Putz möchte Vladimir Kurguzov vor allem die 130-jährige – aus seiner Sicht – bruchlose Tradition des Strafvollzuges abbilden. Aus dem Blickwinkel der staatlichen Vollzugsorgane verfolge diese Ausstellung ein bemerkenswertes Konzept von Tätergeschichte; sie verfolge das „Ziel, die heutigen jungen Mitarbeiter an die beruflichen Traditionen ihrer Vorgänger heranzuführen.“⁴¹ Die überlebende Häftlingsgeneration in Perm’-36 stammt im Wesentlichen aus der Zeit von VS-389/36. In Kontrast zu abertausenden von Überlebenden des stalinistischen Lagersystems bildete sich unter den Dissidenten noch in der Lagerhaft ein starkes kollektives Bewusstsein heraus. Intellektualität, politisches Engagement und die bewusste Entscheidung zur Opposition waren die Eckdaten ihrer Identität als politische Häftlinge. Hinzu kam die internationale Aufmerksamkeit, die Samizdat-Berichte über das Lagerleben erregten.⁴² Die Lagerhäftlinge der Brežnev-Ära waren als Bestandteil der politischen Opposition im westlichen Bewusstsein präsent. Damit verschob sich das Bild vom anonymen Opfer der staatlichen Massengewalt hin zu einem kleinen, elitären und populären Personenkreis, dessen Leiden mit konkreten Namen verbunden war. Ebenso bedeutend ist die Tatsache, dass einige Vertreter der Dissidentengeneration ihre politische Aufklärungsarbeit auch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion fortsetzten. Beispielsweise Sergeij Kovalev beteiligt sich bis heute an Aufklärungs-

39 Vgl. ebd., S. 400. 40 Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 60. 41 Putz, Erinnerung und Gedenken, S. 14. 42 Vgl. Anne Applebaum: Der Gulag. München 2005, S. 570–573.

104 | Immo Rebitschek und Gesprächsseminaren in der Gedenkstätte. Nach seiner Entlassung aus der Lagerhaft in Perm’-36 setzte er sich privat und in den 1990er Jahren auch in parlamentarischer Funktion für staatliche Transparenz und Menschenrechte in Russland ein.⁴³ Hierin liegt auch der erste wesentliche Aspekt der Verflechtungen zwischen Erinnerungsort und Akteurslandschaft. Die politischen Strukturen und das politische Denken unter den zivilgesellschaftlichen und staatlichen Akteuren in der Region haben in der Dissidentengeneration einen wichtigen Fixpunkt. So lebt das Informationszentrum der Gedenkstätte konzeptionell von den Erfahrungen der Überlebenden. In der Entstehungsphase der Ausstellung boten ehemalige Häftlinge ein Reservoir an Erinnerungen und Erfahrungen, auf das die Ausstellungsmitarbeiter zurückgreifen konnten.⁴⁴ Zudem weckten die Überlebenden von Perm’-36 auch das russlandweite Interesse der Menschenrechtsgruppen. Die Fortsetzung ihrer politischen Aufklärungsarbeit stärkte die Verbindungen der Menschenrechtsgruppierungen und trug auf diese Weise maßgeblich dazu bei, das zivilgesellschaftliche Netzwerk innerhalb der Region auszudehnen und zugleich international anschlussfähig zu machen. Am Entwicklungsprozess der Gedenkstätte sind diese Schritte der Vernetzung deutlich sichtbar. Die Restaurierung wurde bis Mitte der 1990er Jahre zwar von privater Hand, meist von den Dozenten selbst, finanziert. Mit der Gründung der GmbH „Gedenkzentrum der Opfer politischer Repressionen“ im Jahr 1994 waren jedoch bereits die Gebietsverwaltung und die Zweigstelle Perm’ von Memorial involviert.⁴⁵ Zu Beginn des letzten Jahrzehnts war auch das Interesse aus- und inländischer Sponsoren und von Memorial International an Perm’-36 geweckt. Perm’-36 ist nach wie vor stark unterfinanziert, auch wenn die Gedenkstätte im jährlichen Haushalt der Gebietsverwaltung ausgewiesen ist. Das bis heute sehr schmale Budget der Gedenkstätte kann allerdings durchaus als Erfolgsgeschichte gesehen werden. In Perm’ hat sich ein zivilgesellschaftliches Netzwerk herausgebildet, das in einem gewissen Maße mit regionalstaatlichen Strukturen kooperiert. Zudem wurde die Geschichte der politischen Gewalt nunmehr auch touristisch erschlossen.⁴⁶ Einige Zeitzeugen waren eine wichtige Ausgangsbasis für zwei Jahrzehnte erinne-

43 Vgl. Emma Giligan: Defending Human Rights in Russia: Sergei Kovalyov. Dissident and Human Rights Commissioner. 1969–2003. New York 2004. 44 Vgl. Interview, http://www.gedenkmuster.uni-jena.de/index.php?id=1418_kursina, am 18.08.2011. 45 http://www.perm36.ru/de/o-muzee/geschihte-des-museums.html, am 19.08.2011. 46 Bei der Vermarktung der regionalen Geschichte greifen lokale Unternehmer aus Perm’ auch auf die Arbeit der Gedenkstätte zurück: http://www.uraltourism.com/perm36.php, am 17.08.2011.

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rungskulturellen und politischen Engagements. Zeitgleich profitierte die Arbeit am Erinnerungsort von einem außerordentlich liberalen Umfeld, das wiederum auf dieser Basis so aktiv mitgestaltet werden konnte. In dieser Wechselbeziehung muss den Überlebenden als Teil des Erinnerungsortes eine bedeutende Rolle zugedacht werden. Der zweite Aspekt betrifft die unmittelbare inhaltliche Arbeit der Gedenkstätte, bzw. die Frage, wer die Opfergeschichte konstituiert und welche Konsequenzen sich daraus ergeben. Die Häftlinge, so wird es vermittelt, sind stark mit dem Dissidentenmilieu der 1970er Jahre verbunden. Tatsächlich aber muss gefragt werden, ob es nicht eher der Teil der Lagerinsassen ist, der sich über die politischen und zivilgesellschaftlichen Netzwerke – die von ihm mit herausgebildet wurden – am stärksten Gehör verschaffen konnte. In den vier Jahrzehnten der Lagergeschichte waren tausende von Menschen inhaftiert. Wenige erlangten noch in ihrer Haftzeit internationale Bekanntheit. Ein wesentlicher Teil der Inhaftierten jedoch – im „strengen“ und im „besonderen Regime“ – gehörte nicht der politischen und kulturellen Elite an. In diesem Zusammenhang ist die Ausstellung im Barackengebäude des „besonderen Regimes“ bemerkenswert. Auf mehreren Schautafeln finden sich reihenweise Passfotos der hier unter Isolationshaft gehaltenen Dissidenten. Zugleich sind dort auch bloße Namen verzeichnet, die anstatt eines Fotos nur einem grauen Feld zugeordnet sind. Nach Angaben der Museumsleitung handelt es sich hierbei um Personenfelder für „echte Kriminelle“.⁴⁷ Dass diesen Feldern kein Foto zugeordnet wurde, war keine Frage des verfügbaren Materials, sondern ist auf eine bewusste Entscheidung der Kuratoren zurückführen. Im Verlauf ihrer Recherchen sind sie auf Unterlagen gestoßen, die belegen, dass einzelne, nicht aus politischen Gründen verurteilte Häftlinge zur Spitzelarbeit in die Zellen der politischen Gefangenen verlegt wurden. Dabei wurde auch die Anwendung physischer Gewalt bewusst einkalkuliert. Mitte der 1990er Jahre haben sich die Kuratoren nach langen Beratungen dafür entschieden, diese „kriminellen“ Häftlinge nicht bildlich zu würdigen. Man entschied sich also gegen die Möglichkeit, die Uneindeutigkeit von „Opfergeschichten“ offenzulegen, sondern wählte den Weg, Erinnerungswürdiges von Nicht-Erinnerungswürdigem zu unterscheiden. Es wurde bereits erwähnt, dass die Mehrheit aller überlebenden Insassen des Lagers in den 1970er Jahren inhaftiert war. Daher überrascht es nicht, dass nur zwei ehemalige Häftlingsgruppen ihre Erfahrungen noch vermitteln können: Dissidenten und so genannte Kriminelle. Letztere sind nun durch das klar formulierte moralische Erinnerungsraster gefallen und sind auch sonst in keiner

47 Vgl. http://www.gedenkmuster.uni-jena.de/index.php?id=1417_luecken, am 17.08.2011.

106 | Immo Rebitschek Weise aktiv ins öffentliche Erinnern getreten. Auf der anderen Seite stellt die Dissidentengeneration ihre Erfahrungen der Ausstellung und der Umgebung zur Verfügung. Über die Verbindung einzelner Häftlingserfahrungen an den Erinnerungsort hinaus, musste dieses Gruppengedächtnis (von Seiten der Personen, die sich nach 1988 an diesem Ort engagierten) jede Art von Erinnerungsarbeit vor Ort massiv beeinflussen. „Der Ort hat das Gepräge der Gruppe erhalten und umgekehrt“ – wie es Maurice Halbwachs formulierte.⁴⁸ Diese Verbindung äußerte sich in der Art, dass es die Akteure von Perm’-36 zu Beginn der 1990er Jahre mit einem Pool an Dissidentenerinnerungen zu tun hatten, der für ihre Aufklärungsarbeit in Perm’-36 zur Verfügung stand. Dieses kollektive Gedächtnis war vor allem ein politisches Gedächtnis, über das nicht nur der Lageralltag, sondern auch viele Aspekte der sowjetischen Dissidenz vermittelbar wurden. Außerdem setzte dieses Engagement Impulse frei, die bereits zu Beginn dieses Textes angesprochen wurden. Die zivilgesellschaftlichen Strukturen in Perm’ wurden unweigerlich von Teilen dieser Dissidentengeneration geprägt. Und in diesem Rahmen formten sich die Ambitionen der Ausstellungsmacher nun auch in inhaltlich-kuratorischer Hinsicht. Die Mitarbeiter von Perm’-36 verstehen sich als Kämpfer an vorderster Linie für die Herausbildung einer russischen Zivilgesellschaft. Der Einfluss Memorials in der Region spielt auch eine wichtige Rolle.⁴⁹ Dennoch sehen sie sich – unabhängig von Memorial – in der Tradition politischer Opposition, deren Ursprünge sie selbst in der sowjetischen Dissidenz sehen. In der musealen Praxis wirkt sich dies so aus, dass die Gedenkstätte die „historische Kontinuität“ über die Erinnerungen an die Dissidenten neu zu beleben versucht. In der russischen Erinnerungslandschaft wird damit ein deutliches Zeichen gesetzt: auch an die politische Gewalt nach Stalins Tod muss erinnert werden. Andererseits drohen Häftlinge aus den 1940er und 1950er Jahren ebenso wie „nicht-politische“ Insassen der 1970er und 1980er Jahre aus dem Blick zu geraten. Aus den Verflechtungen zwischen Ort und Akteuren ist ein Abhängigkeitsverhältnis erwachsen und in diesem Verhältnis ist es die überlebende Dissidentengeneration vor Ort, die von den Akteuren ein politisches und inhaltliches Bekenntnis einfordert. Was bleibt, ist ein Erinnerungsort für die Dissidenz in der Sowjetunion und Russland gleichermaßen.

48 Maurice Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis. Frankfurt am Main 1985, S. 130. 49 Vgl. http://www.gedenkmuster.uni-jena.de/index.php?id=118, am 30.08.2011.

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VI Schlussbetrachtung Zwischen Erinnerungsorten, geschichtskulturellen Akteuren und ihren Deutungsangeboten besteht grundsätzlich eine dauerhafte Wechselwirkung. In Perm’-36 ist dieses Wechselverhältnis in einem hohem Maße an den Ort gebunden. Allein der materielle Zustand des ehemaligen Lagers erforderte schnelle und drastische kuratorische Entscheidungen. Gleichzeitig sind Täter- und Opfererfahrungen Teil von sich immer wieder überlagernden historischen Schichten. Dazu kommen die topographischen Verwerfungen, die durch die Veränderungen des Lagerkomplexes ausgebildet wurden. Im Zuge der Entwicklung von einer Holzfällerkolonie zu einer postsowjetischen Psychiatrie häuften sich Erinnerungsorte übereinander auf und verflochten sich miteinander. Die Akteure sind in der Lage, die Eckpunkte „ihrer“ Topographie selbst zu bestimmen und Grenzen zu ziehen. Doch offenbarten die Geschichte der Rekonstruktion und vor allem die Präsenz der überlebenden Zeitzeugengeneration, wie diese Grenzziehung zustande kam. Das Erinnern vor Ort ist durch die Überlebenden deutlich vorgeprägt worden. Die Ausstellungsinhalte wurden zwar von unterschiedlichen Akteuren ausgehandelt, aber auch dieser Aushandlungsprozess geschah auf der symbolischen und materiellen Grundlage des Ortes und seiner Zeitzeugen. Dies betrifft im weiteren Sinne sogar den Versuch, das eigene Ausstellungskonzept auf eine „GULag-Geschichte“ insgesamt auszudehnen. Perm’-36 ist heute primär ein Erinnerungsort für die Dissidenz. Und trotz aller Handlungsspielräume für eine Vielzahl von Akteuren stehen alle konzeptionellen Entscheidungen in Zusammenhang mit den Sachzwängen des materiellen Ortes und den zwischenmenschlichen, politischen und erinnerungskulturellen Imperativen seiner Zeitzeugen. In dieser Hinsicht müssen Erinnerungsprozesse nicht nur topographisch begriffen werden. Es sind solche lokalen Konditionen der Erinnerungsarbeit, die an einer künstlichen Aufschlüsselung der Erinnerungslandschaft in Orte, Akteure und Erzählungen Zweifel laut werden lassen. Die Tatsache, dass der Ort selbst gestaltbar ist und bleibt, muss ernst genommen werden, doch wo liegen die Grenzen dieser Gestaltungsmacht? Wo liegen die Grenzen zwischen Akteuren und Zeitzeugen: gerade dann, wenn eine Topographie der Erinnerung durch Akteure neu definiert wird, deren Selbstverständnis und Arbeitskonzept sich aus dem Erinnerungsort selbst speisen? Für eine russische Erinnerungslandschaft, in der kontinuierlich nach „neuralgischen Punkten“⁵⁰ gefahndet wird, verdeutlicht Perm’-36 einmal mehr, dass

50 Karl/Polianski, Einleitung, S. 15.

108 | Immo Rebitschek diese Punkte an eine lokale Dynamik gebunden sind. Das Kräfteringen so genannter staatlicher und nicht-staatlicher Akteure muss vor dem Hintergrund jedes Ortes nicht nur neu vermessen werden. Aus analytischer Perspektive ist es ist das Primat des Ortes in der Topographie des Erinnerns, dem sich jeder Zugriff auf die russische Erinnerungskultur stellen muss. So ist Perm’-36 ein Erinnerungsort für die Dissidenz, weil er ein Ort der Dissidenz ist.

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Vorkuta: GULag und Kohlebergbau aus Sicht konkurrierender und kooperierender Erinnerungsakteure Einleitung Die Geschichte Vorkutas ist besonders eng mit dem Aufbau des GULag, der Erschließung und wirtschaftlichen Ausbeutung dieser unwirtlichen und menschenfeindlichen Region verflochten. Vorkuta wurde von Gefangenen unter schweren Haftbedingungen und dem Verlust tausender Leben errichtet. Ab 1936 wurde in der Nähe des Flusses Vorkuta mit der industriellen Erschließung der Kohlevorkommen unter fachlicher Leitung von Konstantin Genrichovič Vojnovski-Kriger begonnen. Schätzungen von 1937 zufolge lag das Kohlevorkommen im Vorkutiner Gebiet bei ca. 36,5 Mrd. Tonnen.¹ Mit dem Verlust des Donbass als Rohstoff- und Industriegüterlieferanten als Folge des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion 1941 nahm die wirtschaftliche Bedeutung des Pečora-Beckens und damit auch Vorkutas deutlich zu. Vorkuta wurde 1943 das Stadtrecht verliehen. Erst 1960 lösten das Zentralkomitee und Innenministerium VorkutLag² endgültig auf.³ Um dem drohenden Arbeitskräftemangel entgegenzuwirken, schuf die sowjetische Regierung Anreize für Zuwanderung: Hohe Löhne und Pensionen, eine gute Versorgungslage sowie die Aussicht auf eine begehrte propiska (Meldebescheinigung) in Moskau oder Leningrad sollten die Menschen nach Vorkuta locken.⁴ Mit dem gleichen Ziel schuf man in jener Zeit eine vergleichsweise at-

1 Wladislaw Hedeler/Horst Hennig (Hrsg.): Schwarze Pyramiden, rote Sklaven. Der Streik in Vorkuta im Sommer 1953. Leipzig 2007, S. 26–29. 2 So wurde das an der Vorkuta gelegene Lager seit einer Umstrukturierung des Lagersystems ab 1938 genannt. Auf den Fluss geht auch der spätere Stadtname zurück. 3 Workuta-Itl, unter http://www.gulag.memorial.de/lager.php?lag=5. Auf alle zitierten Internetdokumente wurde am 11.09.2011 zuletzt zugegriffen. 4 Manfred Füllsack: Sozio-ökonomische Probleme im Norden der Russländischen Föderation, in: Stefan Bauer u. a. (Hrsg.): Bruchlinien im Eis. Ethnologie des zirkumpolaren Nordens. Wien 2005, S. 103–115. AutorInneninterview mit Mitgliedern Memorials Vorkutas, geführt am 16.05.2011. Die vollständige Bezeichnung der Organisation Memorial lautet: Vorkutinskaja obščestvennaja istoriko-prosvetitel’skaja, blagotvoritel’naja i pravozaščitnaja organizacija „Memorial“. Zu Memorial siehe Punkt IV.

110 | Rosanna Dom, Thomas Milde und Markus Wollny traktive Wohn- und Kulturinfrastruktur.⁵ Ab Mitte der 1960er Jahre und vor allem in den 1970er Jahren wurde die Stadt im gesamtsowjetischen Vergleich stark subventioniert.⁶ Die Subventionen wurden aber 1989 eingestellt, was folgenreiche soziale, demographische und infrastrukturelle Konsequenzen für die VorkutinerInnen mit sich brachte. Die Notwendigkeit, die Kohleförderung an die Weltmarktpreise anzugleichen, zeigte rasch, dass Vorkuta nicht mehr konkurrenzfähig war. Von einstmals fast 40 Schächten sind heute nur noch sechs in Betrieb. Der Haupternährer der Stadt, Vorkuta-Ugol’ (Vorkuta-Kohle), wurde Anfang der 1990er Jahre umstrukturiert und 1997 in eine Aktiengesellschaft umgewandelt. Im Jahr 2003 übernahm Sever-Stal’ (Nord-Stahl) die Mehrheit der Aktien vom Staat.⁷ Die Privatisierung führte zu Massenentlassungen. Ein Indiz für die dramatische Lage, in der sich die EinwohnerInnen Vorkutas zu Beginn der 1990er Jahre befanden, ist die Auszahlung von Arbeitslosengeldern in Höhe von nur 800 Mio. Rubel bis zum Jahr 1996, im Gegensatz zu 2 Mrd. Rubel, die der Staat offiziell hätte zahlen müssen. Auch die bankrotten Kohleförderer blieben ihre Löhne schuldig.⁸ Wer es sich leisten konnte, verließ die Stadt. Die Einwohnerzahl ist daher in den letzten beiden Dekaden von rund 115 000 auf ca. 70 000 gesunken.⁹ Auch wenn sich die wirtschaftliche Lage im Gegensatz zu den 1990er Jahren in Vorkuta etwas stabilisiert hat, d. h. Löhne und Renten wieder ausgezahlt werden, so ist sie im gesamtrussischen Vergleich weiterhin dramatisch. Folglich kursieren immer wieder Gerüchte, dass die Stadt aufgegeben und in eine Station zur Wartung der nahe gelegenen Gaspipeline umgewandelt werden soll.¹⁰

I Forschungsfrage und Forschungsstand Mit der Auflösung des letzten Lagers für politische Gefangene verschwand der GULag aus dem öffentlichen Leben der Stadt. Die sowjetische Verwaltung in Vorkuta unternahm große Anstrengungen, alle materiellen Hinterlassenschaften des

5 Für die generelle Vorgehensweise in den Nordregionen siehe Füllsack, Sozio-ökonomische Probleme, S. 104. Der Befund für Noril’sk ließ sich vor Ort auch für Vorkuta bestätigen. 6 V. I. Il’in: Vlast’ i ugol’: Šachterskoe dviženie Vorkuty. 1989–1998 gody. Syktyvkar 1998. 7 Vorkutaugol’/O kompanii/Istorija, unter http://www.vorkutaugol.ru/rus/about/history/index. phtml. 8 Il’in: Vlast’ i ugol’, S. 108. ˙ 9 Narodnaja enciklopedija, unter http://www.mojgorod.ru/r_komi/vorkuta/index.html. 10 AutorInneninterview mit Mitgliedern Memorials Vorkuta, geführt am 16.05.2010.

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GULag zu beseitigen. Erst mit der Politik von Glasnost’ Mitte der 1980er Jahre wurde in Vorkuta die politische Basis für ein öffentliches Erinnern geschaffen. Seit Ende der 1980er Jahre wird der GULag in der Polarstadt öffentlich thematisiert und den Opfern der stalinschen Repressionen gedacht. Wer die AkteurInnen sind, die das öffentliche Erinnern gestalten, wie sie erinnern, welche Narrative sie erzählen und in welcher Form sie die Erinnerungen manifestieren, soll in diesem Beitrag untersucht werden. Die Motivation für ihre Erinnerungsarbeit sowie Gründe für ihre jeweilige Gestaltung der Erinnerungskultur werden dabei mit Hilfe eines akteur- und handlungstheoretischen Ansatzes erklärt. Über den GULag durfte bis Mitte der 1980er Jahre nicht öffentlich gesprochen, geschweige denn geforscht werden. So klammerten sowjetische Publikationen, die sich mit der Geschichte Vorkutas befassten, den GULag in Vorkuta völlig aus.¹¹ Dennoch entstand die erste sowjetische Studie über das Lagersystem in Vorkuta 1975 im samizdat.¹² Der Großteil der wissenschaftlichen und literarischen Veröffentlichungen sowie Memoiren ist bestimmten sozioprofessionellen¹³, nationalen¹⁴ oder religiösen¹⁵ Gruppen gewidmet. Auch Einzelschicksale¹⁶ werden aufgegriffen. Auf-

11 N. Ušpik: Vorkuta. Syktyvkar 1964. 12 Pavel Negretov: Počtovyj jaščik ź 233, in: I. Kuznekov (Hrsg.): Pečal’naja pristan’. Syktyvkar 1991, 240–256. Siehe auch ders.: Vse dorogi vedut na Vorkutu. Benson 1985. Ol’ga Zajceva stellte in einem Überblick die wesentliche Literatur zusammen, die es zu VorkutLag auf Russisch gibt, unter www.vorkuta-cbs.ru/kraeved/vorkutlag.html. 13 Venjamin Poleščikov: Repressirovannye literatury. Syktyvkar 2008; E. Markova/A. Rodnyj: Nauka Vorkutlaga kak fenomen totalitarnogo gosudarstva, Biet 3 (1998), 60–77; Hedeler/Hennig (Hrsg.), Schwarze Pyramiden; Klaus-Peter Graffius/Horst Hennig: Zwischen Bautzen und Workuta. Totalitäre Gewaltherrschaft und Haftfolgen. Leipzig 2004. 14 Tomaš Kizny: GULAG. Solovki, Belomorkanal, Vajgač, teatr v Gulage, Kolyma, Vorkuta, mertvaja doroga. 2. Aufl. Moskva 2007; Jan Foitzik/Horst Hennig: Begegnungen in Workuta. Erinnerungen, Zeugnisse, Dokumente. Leipzig 2003; Elke Fein u. a. (Hrsg.): Von Potsdam nach Workuta. Das NKGB/MGB/KGB-Gefängnis Potsdam-Neuer Garten im Spiegel der Erinnerung deutscher und russischer Häftlinge. Potsdam 2002. 15 Venjamin Poleščikov: Ot Vorkuty do Syktyvkara. Sudby evreev v Republike Komi, Bd. 1 u. 2. Syktyvkar 2003/2004. 16 Annelise Fleck: Workuta überlebt. Als Frau in Stalins Straflager. Bechtermünz/Augsburg 2001; Joseph Scholmer: Arzt in Workuta. Bericht aus einem sowjetischen Straflager. München 1963; ders.: Die Toten kehren zurück. Bericht eines Arztes aus Workuta. Köln/Berlin 1954; Horst Schüler: Workuta. Erinnerungen ohne Angst. Herbig/München 1993; Hans-Dieter Scharf : Von Leipzig nach Workuta und zurück. Ein Schicksalsbericht aus den frühen Jahren des ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaates 1950–1954. Dresden 1996; Hergart Wilmanns: Blumen im Beton. Russlandreisen mit und ohne Pass. Nürnberg 2001; Erwin Peter (Hrsg.): Von Workuta bis Astrachan. Kriegsgefangene aus sowjetischen Lagern berichten. Graz/Stuttgart 1998.

112 | Rosanna Dom, Thomas Milde und Markus Wollny grund der hohen Anzahl an deutschen Häftlingen in Vorkuta besteht die deutschsprachige Literatur vor allem aus Memoiren über die Gefangenschaft im GULag. Darüber hinaus sind Schicksale deutscher Häftlinge in Vorkuta Gegenstand historischer Ausstellungen. Zum Beispiel wurde die Ausstellung Von Potsdam nach Workuta von 2000 bis 2006 in der Gedenk- und Begegnungsstätte ehemaliges KGB-Gefängnis Potsdam e.V. gezeigt und 2011 der Öffentlichkeit in virtueller Form abermals zugänglich gemacht.¹⁷ Die Konzentration der Publikationen und Ausstellungen auf deutsche Gefangene führte dazu, dass im Gedächtnis Deutschlands Vorkuta zur Chiffre für deutsches Leid wurde. Über die ErinnerungsakteurInnen vor Ort gibt es bisher keine wissenschaftlichen Untersuchungen. Lediglich journalistische Beiträge setzen sich mit diesem Thema in knapper Form auseinander.¹⁸ Der vorliegende Beitrag versucht diese Lücke zu schließen. Die Literatur über den GULag in Vorkuta ist für die vorliegende Fragestellung kaum weiterführend. Die Untersuchung der ErinnerungsakteurInnen stützt sich daher vor allem auf Material und Daten, die während eines Geschichtsprojektes¹⁹ 2010 gesammelt bzw. erhoben wurden, worauf im jeweiligen Abschnitt kurz eingegangen wird. Nachfolgend wird der theoretische Ansatz dieses Beitrages erläutert.

II Theoretischer Analyserahmen In der erinnerungskulturellen und geschichtspolitischen Forschung spielen akteur- bzw. handlungstheoretische Ansätze kaum eine Rolle²⁰, weshalb die vorliegende Studie auf einen Theorieansatz aus der Soziologie zurückgreift. Dieser

17 Von Potsdam nach Workuta. Eine Ausstellung über deutsche und sowjetische Häftlinge im KGB-Gefängnis Potsdam und die Lagerhaft in Workuta/Sowjetunion, unter www.von-potsdamnach-workuta.de. 18 Daniel Stähle: Workuta: Endstation in der eisigen Tundra, in: Russland-Aktuell 23.01.2006, unter http://www.petersburg.aktuell.ru/petersburg/spz/workuta_endstation_in_der_eisigen_ tundra_43.html. 19 Das Projekt VorkutLag/Vorkuta – Bergbaustadt in der russischen Polarregion: Erinnerung an die Sowjetunion auf zwei unterschiedlichen Pfaden wurde im Rahmen der Geschichtswerkstatt Europa vom 01.03.–31.10.2010 realisiert, unter http://www.geschichtswerkstatt-europa.org/projektdetails/items/workutlag.html. 20 Birgit Schwelling: Politische Erinnerungen. Eine akteurs- und handlungsbezogene Perspektive auf den Zusammenhang von Gedächtnis, Erinnerung und Politik, in: Horst Alfred Heinrich/Michael Kohlstruck (Hrsg.): Geschichtspolitik und sozialwissenschaftliche Theorie. Stuttgart 2008, S. 99–121.

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basiert auf den Akteurmodellen Uwe Schimanks.²¹ Zu diesen zählen der Homo Sociologicus, der Homo Oeconomicus, der Emotional Man und der Identitätsbehaupter. Die beiden zuerst genannten Modelle sind die Hauptkonzepte. Emotional Man und Identitätsbehaupter sind dabei zwar keine ausgearbeiteten Modelle, bieten aber die Möglichkeit, nicht normkonformes und irrationales Handeln zu erklären.²² Als Ursachen für ein emotional motiviertes Handeln macht Schimank kognitive und normative Erwartungsenttäuschungen der Akteure aus. Unter kognitiven Erwartungen versteht Schimank Erwartungen an die Zukunft, die sich nicht einstellen. Normative Erwartungsenttäuschungen definiert er als Erwartungen an ein Gegenüber, die nicht eintreten. Entscheidend für diese Studie ist die Feststellung Schimanks, dass die Identität eines Akteurs auf soziale Bestätigung angewiesen ist. Bleibt diese Bestätigung in Teilen aus, kommt es zu einer Identitätsbedrohung. Nach Schimank motiviert diese Bedrohung den Akteur zu handeln, um ihr entgegenzuwirken.²³ Folgende mögliche Reaktionen auf Identitätsbedrohungen können laut Schimank eintreten: (1) der Akteur wechselt und pluralisiert seine soziale Umgebung, (2) er weist die Nichtbestätigung zurück oder deutet sie um, bzw. (3) er übernimmt eine neue Rolle.²⁴ Der hier vorgestellte Ansatz versucht, die Konzepte vom Emotional Man und Identitätsbehaupter miteinander zu verbinden. Erwartungsenttäuschungen, so die These dieses Beitrags, sind eine Ursache für die Identitätskrise der befragten AkteurInnen. An dieser Stelle sollen die verwendeten Akteursbegriffe knapp definiert werden. Die Akteur- und Handlungstheorie unterscheidet zwischen individuellen und kooperativen Akteuren. Unter individuellen Akteuren werden einzelne AktivistInnen gefasst. Kooperative Akteure beziehen sich auf Organisationsformen, in denen sich einzelne AktivistInnen zusammengeschlossen haben. Auf Vorkuta übertragen sind die einzelnen MemorialaktivistInnen individuelle Akteure. Der kooperative Akteur ist die NGO Memorial Vorkuta. Neben diesen

21 Uwe Schimank: Handeln und Strukturen. Einführung in die akteurtheoretische Soziologie. 3. Aufl. Weinheim/München 2007. 22 Ebd., S. 111. 23 Ebd., S. 128–133. 24 Ebd., S. 139–141.

114 | Rosanna Dom, Thomas Milde und Markus Wollny beiden Akteuren existiert ein weiterer, der staatliche Akteur. Er wird hier durch den Stadtrat Valentin Kazimirovič Kopasov²⁵ repräsentiert. Zunächst soll eine Topographie der Geschichtskultur in Vorkuta skizziert werden, bevor die befragten ErinnerungsakteurInnen zu Wort kommen. Danach werden die manifestierten Erinnerungen Vorkutas untersucht. Somit wird eine induktive Vorgehensweise verfolgt.

III Erinnerung in Vorkuta: Eine topographische Skizze²⁶ Eine Rundfahrt, geleitet vom Memorial Aktivisten Dmitrij Ivanovič Tatarov²⁷, beginnt am Gedenkstein, der den Opfern politischer Repressionen gewidmet ist. Auf einer mit Marmorfliesen verkleideten Stele liegt ein großer Naturstein, der von einem rostigen Stacheldraht umwickelt ist. Das Denkmal wurde von Memorial gestiftet und liegt am Ufer des Flusses Vorkuta. Von hier hat man eine gute Sicht auf die endlose Tundralandschaft, die von zerfallenen Siedlungen und hohen Schornsteinen geprägt ist. Am anderen Ufer der Vorkuta befindet sich einer der wenigen Schächte, die noch in Betrieb sind. Auf einem Gebäude steht šachta vorkutinskaja, es ist der ehemalige Schacht Nr. 40. Das „Eingangstor“ bilden schwere braune Rohre. Gut sichtbar ist die Abraumhalde, die wie eine bedrohliche schwarze Masse jenseits des Werksgeländes lagert. Auf der anderen Straßenseite steht das Denkmal für die polnischen Opfer. Es besteht aus einem leicht abstrahierten großen Betonkreuz, das mit dem polnischen Adler und einer Gedenktafel versehen ist. Anschließend führt die Tour zur ersten Siedlung Vorkutas rudnik (Bergwerk), die 1931 entstanden ist und auf der anderen Seite der Vorkuta gegenüber dem Bergwerkufer liegt. In dieser ehemaligen Grubensiedlung Vorkutas arbeiteten bereits 1932 ca. 1 200 Gefangene bei eisigen Temperaturen, um den Bau des ersten Bergwerks vorzubereiten. Heute sind nur noch Ruinen zu sehen. Auf einer kleinen Anhöhe in unmittelbarer Nachbarschaft befindet sich der umgestürzte Obelisk, der den ersten ErbauerInnen des zukünftigen Vorkutas gewidmet ist. Memorial

25 Valentin Kazimirovič Kopasov, unter http://mayor.vorkuta.ru/sovet-goroda-vorkuta/2011-0414-09-08-58/kopasov-valentin-kazimirovich.html. 26 Die topographische Skizze basiert auf den Aufzeichnungen vom 15.05.2010 aus dem gemeinsam geführten Reisetagebuch der AutorInnen, das während des Geschichtsprojektes entstand. 27 Die Namen aller Interviewten und AktivistInnen Memorials wurden von den AutorInnen anonymisiert.

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kämpfte um dieses stark zerstörte Denkmal, das jahrelang aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit verschwunden war, weil die Stadt es gänzlich abreißen wollte. Letzten Endes gelang es den AktivistInnen, die Stadt von der historischen Bedeutung des Denkmals zu überzeugen und die Demontagepläne wurden fallen gelassen. Die Rundfahrt wird auf der Ringstraße fortgesetzt. An dieser liegt eines von zwei noch erhaltenen Gebäuden des GULag, der Isolator, wo sich die Einzelhaftzellen für den verschärften Arrest befanden. Es ist ein unauffälliges, ebenerdiges, geweißtes Gebäude aus Stein, weshalb es, im Gegensatz zu den Holzbaracken, in denen die Häftlinge untergebracht waren, bis in die Gegenwart erhalten ist. Heute gehört es der Kirche. Memorial würde dort gerne ein Museum einrichten, doch die finanziellen Mittel fehlen. Memorial führt die Besucher daraufhin zu einem kleinen und bescheidenen Friedhof, der den ungarischen Häftlingen gewidmet ist. Im Zentrum steht ein ungarisches Doppelkreuz, dass eine dreieckige, aufrecht gestellte Sockelsteinplatte durchbricht und den ungarischen Militärangehörigen und zivilen Opfern, die in den Lagern umkamen, gewidmet ist. Die mit windschiefen Holzkreuzen versehenen Gräber stehen im Schmelzwasser zwischen grau-gelblichem Gras und kahlen Büschen. Ähnlich wie der ungarische Friedhof ist der deutsche gestaltet. Das Zentrum bildet wieder ein Kreuz, an dessen Fuß eine Marmorgedenktafel mit der Inschrift Den Opfern des Krieges und der Gewaltherrschaft. Berlin – Workuta August 1995 liegt. Um das Kreuz herum stehen lose verteilt windschiefe, aus Holz gezimmerte oder aus Eisenstangen geschweißte, kleine Kreuze. Auf manche sind kleine Namensschildchen genagelt, auf andere ist lediglich die ehemalige Häftlingsnummer eingraviert. Ein paar Meter entfernt vom Friedhof macht Memorial die Besucher auf aus dem Boden ragende Holzpfähle aufmerksam, die zwischen hohem Gras und Gestrüpp versteckt sind und Teil der Lagerbegrenzung waren. Es existieren keine Hinweisschilder oder öffentlich aufgestellte Karten, die auf diese spärlichen materiellen Spuren des GULag verweisen. Wie bereits eingangs erwähnt, wurden in den 1970er Jahren unter Brežnev die letzten vorhandenen baulichen Überreste des GULag in Vorkuta systematisch beseitigt. Der GULag sollte damit aus dem Gedächtnis der Stadt getilgt werden. Schließlich führt die Tour wieder an der Ringstraße entlang, wo sich ebenfalls ein großes, stattliches und gut gepflegtes Denkmal befindet. Es ist den 17 Bergmännern gewidmet, die bei einem Schachtunglück 1998 ums Leben kamen. Eingerahmt von weißem Beton und einem ockerfarbenen Querbalken, den eine steinerne Grubenlampe ziert, stehen die in Stein gravierten Portraits und Namenstafeln der Verunglückten. Die Dimension dieses Denkmals ist überraschend, da es alleine in seiner Größe alle Denkmäler für die Opfer des GULag übertrifft.

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IV Narrative der AkteurInnen Befragt wurden der Stadtrat Valentin Kazimirovič Kopasov sowie die MemorialaktivistInnen Anastasija Grigorevna Sopenko (Lehrerin), Natal’ja Andreevna Orofenko (Archivarin), Svetlana Sergeevna Ruganova (Verkäuferin) und Boris Federovič Udovenko (Jurist), und zwar nach der Entstehung und Entwicklung Vorkutas zum einen, und nach ihren Erinnerungen an die Sowjetunion zum anderen. Alle vier wurden in den 1940er bzw. 1950er Jahren geboren und zogen als Kinder mit ihren Eltern nach Vorkuta. Memorial vereinigt AktivistInnen unterschiedlichen sozioprofessionellen Hintergrunds. Die Befragten engagieren sich im Bereich der Menschenrechte, einem Aufgabenfeld Memorials neben Rehabilitierung, historischer Aufklärung und Erinnerungspflege²⁸. Dmitrij Ivanovič Tatarov beschrieb die Arbeit in Vorkuta folgendermaßen: Memorial ist in unterschiedlichen Bereichen tätig. Ein paar Menschen haben sich zusammengeschlossen, um historisch-aufklärerische Arbeit zu leisten, Denkmäler zu errichten und Menschenrechtsarbeit zu machen. Z. B. den Friedhof [. . . ], den haben Mitglieder Memorials aus eigener Kraft aufgebaut. Ein weiteres Ergebnis der Aufklärungsarbeit ist das Museum der 14. Mittelschule, das auch von Mitgliedern Memorials gegründet worden ist.²⁹

Die AktivistInnen Memorials Vorkuta haben kein nennenswertes Budget für ihre Arbeit, was ihren Handlungsspielraum erheblich eingrenzt. Ihr Büro ist in einem kleinen engen Raum untergebracht, den die Stadt kostenlos zur Verfügung stellt. In Bezug auf den GULag besitzen die individuellen und staatlichen AkteurInnen konträre Grundpositionen. Gemeinsam ist ihnen jedoch, dass sie ihr Narrativ über den GULag jeweils in die Geschichte des Kohlebergbaus einweben.

28 Elke Fein: Geschichtspolitik in Russland. Chancen und Schwierigkeiten einer demokratischen Aufarbeitung der sowjetischen Vergangenheit am Beispiel der Tätigkeit der Gesellschaft MEMORIAL. Hamburg 2000; dies., Die Gesellschaft „Memorial“ und die postsowjetische Erinnerungskultur in Russland, in: Lars Karl/Igor J. Polianski (Hrsg.): Geschichtspolitik und Erinnerungskultur im neuen Russland. Göttingen 2009, S. 165–186; Irina Ščerbakova: Gefängnisse und Lager im sowjetischen Herrschaftssystem, unter http://www.gulag.memorial.de/pdf/ scherbakova_gefaengnisse.pdf. 29 Zitat aus dem AutorInneninterview mit Dmitrij Ivanovič Tatarov, geführt am 16.05.2010.

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Die Erinnerung an den GULag Als staatlicher Akteur ist Kopasov Träger des Masternarrativs, worin der GULag nur am Rande erwähnt wird und in der Öffentlichkeit kaum präsent ist. Die Gründung Vorkutas brachte er mit der Erschließung der Kohlevorkommen in Verbindung, nicht jedoch mit VorkutLag. Auch wenn er einräumte, dass viele Häftlinge unschuldig einsaßen, betonte er, dass wiederum andere zu Recht inhaftiert waren: Unschuldige Menschen waren hier eingesperrt aufgrund von Artikeln, für die man niemanden unter normalen Umständen verhaftet hätte. Aber es gab hier auch Menschen, die im Gefängnis friedliche sowjetische Bürger erschossen haben. Es gab viele von ihnen. Ich lebte in einer Industriesiedlung und über mir lebte Herr Tufanec. Er hatte seine 25jährige Strafe verbüßt und danach sechs, sieben, acht Jahre gearbeitet. Man hatte ihm verboten, in seine Heimat, die Ukraine, zurückzukehren. Doch als er trotzdem dorthin fuhr, wurde er erkannt. Und es stellte sich heraus, dass er ein SS-Offizier im Rang eines Oberstleutnants gewesen war. Er hatte an Massenerschießungen teilgenommen und ein Sonderkommando geleitet. Er wurde vor meinen Augen verhaftet, als er zurückkehrte. Nach der Verurteilung wurde er erschossen. Er hatte 25 Jahre gesessen, weil er bei der deutschen Sicherheitspolizei war. Von solchen gab es viele. Diesen gegenüber verhielt man sich, natürlich, negativ.³⁰

Aus diesem Zitat lässt sich ableiten, dass er den GULag an sich nicht in Frage stellt. Entgegen diesem vorherrschenden Narrativ wies Memorial besonders auf die Unrechtmäßigkeit der Verurteilungen hin und bemühte sich dadurch, eine Gegenerinnerung zu etablieren. So fasste Natal’ja Andreevna Orofenko die Geschichte des GULag folgendermaßen zusammen: Es wurde eine Massenopposition konstruiert, um kostenlose Arbeitskräfte zu erhalten. [. . . ] Beständig nahm die Anzahl der Lager zu. Bei uns gab es vor allem Lager für Politische. Die Stadt und natürliche alle Gruben sowie die Infrastruktur waren in den 1930er, 40er und 50er Jahren durch die kostenlose Arbeitskraft der Häftlinge errichtet worden.³¹

Sowohl die staatlichen als auch zivilgesellschaftlichen AkteurInnen betonten immer wieder, dass Vorkuta von Häftlingen erbaut wurde. Über den Alltag im GULag, die Qualen und menschenverachtenden Zustände sowie die Organisation des Lebens hinter dem Stacheldraht berichteten sie hingegen nichts. Den GULag stellten sie sehr trocken, nüchtern und auf technizistische Art und Weise dar. Und auch den Mythos des großen Nutzens der Zwangsarbeit als Wirtschaftskraft stellten sie nicht in Frage, obgleich eine Rentabilität von der internationalen Forschung nicht

30 Zitat aus dem AutorInneninterview mit Valentin Kazimirovič Kopasov, geführt am 15.05.2010. 31 Zitat aus dem AutorInneninterview mit Natal’ja Andreevna Orofenko, geführt am 16.05.2010.

118 | Rosanna Dom, Thomas Milde und Markus Wollny bestätigt wird.³² Das vorherrschende Narrativ konzentrierte sich vielmehr auf die Gründe für die Gefangenschaft, auf die Zeit nach dem GULag und besonders auf die heutige Situation, die in den Erzählungen einen wesentlich größeren Raum einnahm.

Die Erinnerung an den GULag und die Erinnerung an den Kohlebergbau In allen Interviews überlagerte die Erinnerung an den Kohlebergbau die Erinnerung an den GULag. Kohlebergbau und GULag wurden zu Gunsten der wirtschaftlichen Entwicklung asymmetrisch erinnert. Die Interviewten klammerten den GULag aus und konzentrierten sich auf den relativen Wohlstand der 1970er Jahre sowie auf die gesellschaftliche und soziale Anerkennung ihrer Leistungen, an einem solchen Ort zu leben und zu arbeiten. Der staatliche Akteur Kopasov stellte diese Zeit folgendermaßen dar: Die 1970er Jahre waren die Jahre der Blüte. In der Stadt lebten ungefähr 200 000 Einwohner. Es existierte ein sehr hohes Lebensniveau, es gab eine gute Versorgung, viele Ärzte und Lehrer. Dies ist darauf zurückzuführen, dass der Beruf des Bergmanns in der Sowjetunion hoch angesehen wurde. Die Bergmänner galten als die Garde der Arbeit. Insgesamt ist die Erinnerung [an die Sowjetunion] gut, weil der Wohlstand und das Lebensniveau höher als heute waren.³³

Wie V. I. Il’in in seiner Studie über die Schachtarbeiterbewegung zwischen 1989 und 1998 in Vorkuta zeigt, zogen die Menschen für „das große Geld“, „den langen Rubel“ nach Vorkuta und erlebten bis in die 1970er Jahre hinein einen im sowjetischen Maße hohen Wohlstand.³⁴ Anastasija Grigorevna Sopenko erinnerte sich daran wie folgt: „Mein Blick auf Vorkuta in jener Zeit war sehr optimistisch. Ich fuhr jedes Jahr mit großem Vergnügen aus dem Urlaub nach Vorkuta zurück“.³⁵ In den Erinnerungen Boris Federovič Udovenkos waren besonders der hohe Wohlstand und die Konsumgüter präsent:

32 Anne Applebaum: Der Gulag. München 2005, S. 495–499, 533; Nicolas Werth: Der Gulag im Prisma der Archive. Zugänge, Erkenntnisse, Ergebnisse, in: Osteuropa 57, 6 (2007), S. 9–30, hier S. 22f; Klaus Gestwa: Auf Wasser und Blut gebaut. Der hydrotechnische Archipel Gulag, in: Osteuropa 57, 6 (2007), S. 239–266, hier S. 257, 261, 263; Simon Ertz: Zwangsarbeit in Noril’sk. Ein atypischer, idealtypischer Lagerkomplex, Osteuropa 57, 6 (2007), S. 289–300, hier S. 300. 33 AutorInneninterview mit Kopasov. 34 V. I. Il’in, Vlast’ i ugol’. 35 Zitat aus dem AutorInneninterview mit Anastasija Grigorevna Sopenko, geführt am 16.05.2010.

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Bis in die 1970er Jahre lebten wir sehr gut. Vorkuta zählte zu den wirtschaftlich strategisch wichtigen Städten, weshalb es den Bewohnern so gut ging. Es gab Wurst sowie roten und schwarzen Kaviar in den Läden zu kaufen. Das gab es nirgendwo sonst. Vorkuta hatte den Status einer privilegierten Stadt, deshalb ist die Erinnerung an die sowjetische Zeit so gut.³⁶

Während des Interviews nahm einzig Natal’ja Andreevna Orofenko Bezug auf die ehemaligen Gefangenen und ihre ausstehende Rehabilitierung, und eröffnet damit ein differenzierteres Erinnerungsbild: Die Menschen hatten kein Recht auf eine Meldebescheinigung, konnten nicht wählen, durften die Stadt nicht verlassen.³⁷

Der Verlust des außergewöhnlichen Status der Stadt Vorkuta seit den 1980er Jahren bis in die Gegenwart hinein zog sich als roter Faden durch die Erzählungen der MemorialaktivistInnen hindurch und nahm im Interview den größten Raum ein. Sie beklagten, dass die Pionierleistungen der Menschen heute nicht mehr anerkannt und in Form von Subventionen, Vergünstigungen und hohen Gehältern honoriert werden. Sie fühlten sich betrogen und im Stich gelassen und brachten immer wieder ihre Ängste vor einer ungewissen Zukunft zum Ausdruck. Sie befürchteten den weiteren Verfall Vorkutas und hatten das Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden und in einer Falle zu sitzen. An dieser Stelle wird deutlich, wie wichtig für ihre persönliche Existenz und Identität die Geschichte des Kohlebergbaus ist. Die Geschichte des GULag hingegen spielt für ihr Überleben und ihre Identität keine Rolle und geriet beim Erzählen in den Hintergrund. Nicht mehr Teil einer privilegierten Gemeinschaft, sondern vielmehr Teil einer dem Niedergang geweihten Stadt zu sein, ist ein schwerer Einschnitt in das über Jahrzehnte aufgebaute Selbstbild und heute negativer Bestandteil der Identität. In jenen „glorreichen“ Jahren etablierten sie sowohl kognitive als auch normative Zukunftserwartungen, die enttäuscht wurden.

Narrative vor dem Hintergrund einer Identitätsbedrohung Der Niedergang Vorkutas kann als Identitätsbedrohung aller interviewten ErinnerungsakteurInnen verstanden werden. Kopasov versuchte daher, die bedrückenden wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen Vorkutas umzudeuten:

36 Zitat aus dem AutorInneninterview mit Boris Federovič Udovenko, geführt am 16.05.2010. 37 AutorInneninterview mit Orofenko.

120 | Rosanna Dom, Thomas Milde und Markus Wollny Der Norden wird erschlossen. Vorkuta wird gebraucht, weil die Kohle immer gebraucht wird. Das Öl ist eine Sache von temporärer Natur. Während des Großen Vaterländischen Krieges haben die Deutschen aus Kohle Benzin gemacht. Deshalb ist es durchaus vorstellbar, dass uns so etwas auch erwartet. Aus Kohle kann man viel mehr machen als aus Öl. Die Verarbeitungstechnologie wird sich immer weiter entwickeln. Ich glaube, dass Vorkuta eine Quelle der Kohle und daher ein Industriezentrum zur Erschließung des Nordens ist. Deshalb gibt es eine Zukunft für Vorkuta.³⁸

Diese Umdeutung der Realität kann dadurch erklärt werden, dass einhergehend mit dem Auslaufen der jahrzehntelangen Subventionierungen eine Identitätsbestätigung ausblieb. Die Hoffnung auf eine Wiederherstellung der vergangenen positiven Identität der Stadt ist Kopasovs Praxis der Identitätsbehauptung. Auffällig in den Erzählungen der interviewten AktivistInnen Memorials ist die Verwendung einer GULag-Metaphorik im Zusammenhang mit der Beschreibung ihrer gegenwärtigen Situation. Dabei wird der GULag als Maß zur Beschreibung der heutigen Situation verwendet. Es kommt zu einer engen Verquickung der Erinnerung an den GULag und den Kohlebergbau. Natal’ja Andreevna Orofenko beschrieb die heutige Situation in Vorkuta auf folgende Weise: Die Menschen, die sich mit der Geschichte der Stadt auskennen, haben angefangen, unsere Stadt als Wirtschafts-GULag zu bezeichnen. Es gab den politischen GULag, als man hierher Häftlinge schickte und es Stacheldraht, Wachmannschaften und Zwangsarbeit gab. Heute gibt es keine Wachmannschaften und keine Wachtürme mehr, aber wir sind aufgrund des Mangels an finanziellen Mitteln gezwungen, hier weiter zu leben, wartend auf die Almosen des Staates in Form des Zertifikats zur Ausreise³⁹. Es gibt keinen Stacheldraht, aber der Mensch muss sich trotzdem die Freiheit der Wahl und die Freiheit der Ausreise verkneifen. Auf der Warteliste harren vor allem diejenigen aus, deren Ersparnisse eines langen Arbeitslebens [nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion] nichts mehr wert waren.⁴⁰

Die damaligen Häftlinge befanden sich demzufolge in einer ähnlichen Situation wie die heutigen BewohnerInnen Vorkutas, nur dass sich die politischen Rahmenbedingungen aus ihrer Sicht in sozioökonomische verwandelt haben. Die befragten AktivistInnen Memorials nehmen eine Opferrolle an, ähnlich ihrer Betrachtung der Lagerhäftlinge ausschließlich als Opfer. Auch Anastasija Grigorevna Sopenko kann sich im Gegensatz zu den 1970er Jahren, als sie gerne aus dem Urlaub nach Vorkuta zurückgekehrt war, heute nicht mehr mit Vorkuta identifizieren:

38 AutorInneninterview mit Kopasov. 39 Damit ist die Wohnungszuteilung außerhalb Vorkutas gemeint, die ihnen laut russischem Gesetz auch weiterhin zusteht. 40 AutorInneninterview mit Orofenko.

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Das Management unterschiedlicher Ebenen führt sich bis heute in unserer Stadt wie Gutsherren auf. Deshalb änderte sich meine Beziehung zum heutigen Vorkuta. Nicht aufgrund der Tatsache, dass ich mich von dieser Stadt entliebt habe, sondern weil heute die Elite die Stadt wie ein Objekt zur eigenen Bereicherung betrachtet.⁴¹

Auch in Bezug auf ihre historisch-aufklärerische Arbeit fühlten sie sich von der staatlichen Verwaltung behindert, drangsaliert und gedemütigt. Hier betrachteten sie sich als Opfer staatlicher Repressionen. Sie warfen der politischen Lokalelite und der Gebiets- und Stadtadministration vor, die Geschichte umzuschreiben, Dokumente zu vernichten und ihnen nur sehr eingeschränkten Zugang zu den Archiven zu gewähren. Anastasija Grigorevna Sopenko drückte ihre tiefe Enttäuschung über die heutigen Zustände in Vorkuta sehr anschaulich am Beispiel des Heimatkundemuseums aus. Ein Abgeordneter habe das Gebäude kaufen dürfen, in dem sich das Museum befinde. Daraufhin habe er eine Sauna und ein Solarium darin errichtet, worauf das Museum innerhalb des Gebäudes umziehen musste. Ihr Urteil dazu lautete: Sie haben das Museum noch mehr zusammengequetscht, das heißt, bei uns in Vorkuta wird die Geschichte von Kapitalisten und Oligarchen zerquetscht.⁴²

Die dargestellte Übernahme der Opferrolle durch die AktivistInnen kann ebenfalls als Praxis der Identitätsbehauptung erklärt werden. Zusammenfassend kann konstatiert werden, dass sich die Narrative der zivilgesellschaftlichen AkteurInnen und des staatlichen Akteurs in der Bewertung der Legitimität des Lagersystems diametral gegenüberstehen, aber die Erzählung über das Unrechtssystem auf beiden Seiten zu Gunsten der Erfolgsgeschichte des Bergbaus zurück tritt. Dennoch werfen die interviewten AktivistInnen dem Staat vor, die Erinnerung an den GULag zu verdecken, obwohl sie selbst die Geschichte des Kohlebergbaus protegieren. Auf beiden Seiten liegen die Gründe dafür im Identitätsverlust. Dieser ist auf die Enttäuschung ihrer normativen und kognitiven Erwartungen an die Zukunft zurückzuführen, die sie in den 1970er Jahren generiert hatten. Daraus abgeleitetes identitätsbehauptendes Handeln führt bei den AkteurInnen zu konkreten Reaktionen der Bewältigung und Abwehr von Identitätsbedrohungen. Diese Strategien haben großen Einfluss auf ihr Erinnern und vor allem auf die Gewichtung der historischen Ereignisse in Vorkuta. An dieser Stelle muss darauf hingewiesen werden, dass die AkteurInnen keine eigenen

41 AutorInneninterview mit Sopenko. 42 Ebd.

122 | Rosanna Dom, Thomas Milde und Markus Wollny Erinnerungen an den GULag haben. Die 1970er Jahre hingegen erlebten sie als junge Erwachsene selbst mit. Der folgende Abschnitt beschäftigt sich mit den manifestierten Erinnerungen in Vorkuta. Es soll herausgearbeitet werden, wie die AkteurInnen welche Narrative visualisieren, in welchem Verhältnis diese zueinander stehen und welche Schwerpunkte sie setzen.

V Museen und Stadtlandschaft Vorkutas Manifestierte Erinnerungen existieren in Vorkuta in Form von Museen, Denkmälern und Friedhöfen. Zunächst werden die drei bekanntesten Museen Vorkutas näher vorgestellt.⁴³ Im Vorkutiner Überregionalen Heimatkundemuseum werden unter dem Titel Polar-Vorkuta. Geschichte der Stadt die Stadtentwicklung sowie die regionale Kohleförderung und der GULag dargestellt.⁴⁴ Das Betriebsmuseum Vorkuta-Ugol’s befindet sich im siebten und obersten Stockwerk des Verwaltungsgebäudes.⁴⁵ Es zeigt eine Dauerausstellung über die Vorkutiner Kohleförderung sowie über das frühere Kombinat und das heutige Unternehmen. Die 14. Mittelschule⁴⁶ im Stadtteil Vorgašor besitzt ein zwei Räume umfassendes Museum, das neben einer Darstellung des spezifischen Alltags im Norden Russlands, des „Großen Vaterländischen Krieges“ sowie der sowjetischen Heldenstädte auch über VorkutLag informiert. Das Heimatkundemuseum befindet sich in einem sanierungsbedürftigen Zustand. Die Ausstellungen wurden in der postsowjetischen Zeit nicht überarbeitet, was Rückschlüsse auf die sehr geringen finanziellen Ressourcen erlaubt. Der Ausstellungsraum zur Stadtgeschichte Vorkutas befindet sich in einem anderen Gebäudetrakt als die Räume über die Heimatkunde sowie die Flora und Fauna der Polarregion. Dies liegt daran, dass das Museum um diesen Raum erst 1989 erweitert wurde. Die Initiative dafür kam von Memorial. Die Ausstellung vermittelt das Bild einer Stadt, die sich aus dem Kohlebergbau entwickelte, wobei der GULag mit seinen unzähligen Arbeitskräften für den Bau von Infrastruktur, Kohlegruben

43 Die Analyse der Museen orientierte sich an Joachim Baur (Hrsg.): Museumsanalyse. Methoden und Konturen eines neuen Forschungsfeldes. Bielefeld 2010. Zusätzlich wurden MitarbeiterInnen der Museen bzw. LehrerInnen und SchülerInnen befragt. 44 Virtuelles Museum des GULag, unter http://www.gulagmuseum.org/showObject.do?object= 10598. 45 Vorkuta-Ugol’, unter http://www.vorkutaugol.ru. 46 14. Mittelschule, unter http://14ya.ru.

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sowie die Kohleförderung eine entscheidende Rolle spielte. Die Geschichte der Stadt wird als die Geschichte der Kohle und als die Geschichte des GULag zugleich dargestellt. Zu diesem Zweck trugen die AktivistInnen Memorials in Zusammenarbeit mit den MitarbeiterInnen des Museums viele Gegenstände, Dokumente und Bilder zusammen. Durch teils aufwendige Installationen versuchten sie, authentische Situationen wiederzugeben, etwa durch den Nachbau eines Kohleschachtes und einer Lagertheaterbühne. Die AusstellungsmacherInnen stellen der fast unüberschaubaren Anzahl von Bildern, Dokumenten und Exponaten nur wenige AutorInnentexte gegenüber. Es existieren keine Überblicksdarstellungen über das Repressionssystem GULag, über politische Rahmenbedingungen oder Wandlungsprozesse oder eine Verortung Vorkutas im System GULag. Die BesucherInnen müssen sich die Ausstellung ohne Überschriften, thematische Fassungen, Leitgedanken oder Quellenangaben zu den einzelnen Exponaten erschließen. So gibt es zum Beispiel ein Plakat aus den späten 1980er Jahren, das Stalin als Verantwortlichen für die Opfer des GULag ausmacht. Gleichzeitig werden propagandistische Zeitungsartikel aus den 1950er Jahren gezeigt, die Stalin glorifizieren. Ohne Erläuterungen werden die BesucherInnen mit dieser anachronistischen Ambivalenz allein gelassen. In der Ausstellung errichtete Memorial auch eine Gedenkwand, die ein würdiges Opfergedenken zu ermöglichen sucht. Hier spiegelt sich die Zielsetzung Memorials, bei allen BesucherInnen respektvolles Mitgefühl mit den Opfern hervorzurufen. Der GULag wird insgesamt zwar als Teil des Kohlebergbaus und der Entwicklung der Stadt thematisiert, jedoch nicht in dem Maße, dass TäterInnen und UnterstützerInnen benannt oder die Frage nach der gesellschaftlichen Basis der Gewalt gestellt würde. Genauso werden Haftbedingungen sowie Gewalterfahrungen und -dimensionen aus der Darstellung und somit aus dem dominierenden Geschichtsnarrativ ausgeklammert. Der Lageralltag wird ausschließlich in Form von kulturellen Einrichtungen abgebildet, das Lagertheater wird als positiver Bezugspunkt sehr gründlich und ausführlich behandelt.⁴⁷ Dadurch kann der fälschliche Eindruck entstehen, dass ein Überleben in Vorkuta trotz der Gefangenschaft im Lager generell möglich war. Die Gründung eines Betriebsmuseums des Unternehmens Vorkuta-Ugol’ regte der damalige Generaldirektor Aleksandr Kimovič Loginov im Jahr 2004 an. Noch

47 Ein umfangreiches Geschichtsprojekt des Vorkutiner Technikums für Service und Handel in Kooperation mit Memorial behandelte die „positiven“ Seiten des GULag. Als Ergebnis wurde 2003 der Dokumentarfilm „Dušu nel’zja lišit’ svobody“ erstellt, der vom Lagertheater, seinen SchauspielerInnen und den SchriftstellerInnen handelt, die im VorkutLag inhaftiert waren.

124 | Rosanna Dom, Thomas Milde und Markus Wollny im gleichen Jahr entstand eine Ausstellung unter der Federführung des Vorkutiner Architekten, langjährigen Memorial-Vorsitzenden und ehemaligen Häftlings Vitalij Alekseevič Trošin. Diese Ausstellung ist zwar öffentlich zugänglich, unbedarfte BesucherInnen Vorkutas werden jedoch auf diese Ausstellung nicht stoßen. Sie ist nirgends verzeichnet und es gibt keine Hinweisschilder, etwa am Eingang des Gebäudes. Der Träger Vorkuta-Ugol’ möchte mit dieser Ausstellung interessierte EinwohnerInnen und BesucherInnen der Stadt ansprechen, besonders aber GeschäftspartnerInnen sowie SchülerInnen und Jugendliche. In die Gestaltung der Ausstellung bezog Trošin immer wieder SchülerInnen ein. Damit hoffte VorkutaUgol’, zu einer positiven Identifikation mit dem Kohlebergbau und dem Unternehmen unter den Vorkutiner Jugendlichen beizutragen. Das Konzept dieser Ausstellung idealisiert das Unternehmen und die Stadt. Weil die Stadt und der Kohlebergbau untrennbar miteinander verbunden sind, wählte Trošin den topographischen Grundriss der Stadt als Schablone für die Gestaltung der Ausstellung. Sie entspricht der kreisrunden Form der Stadt, ist zudem aber durch grüne Wiesen, Pflanzen und Springbrunnen gestaltet, worauf Vitrinen und Exponate ausgestellt sind. Diese Darstellung wirkt sehr verklärend, geradezu utopisch, denn eine solche Vegetation ist aufgrund des Klimas in den Breiten Vorkutas nicht anzutreffen. Außerdem ist die Topographie in und um Vorkuta von vielen verfallenen Siedlungen und Schachtanlagen geprägt, was in deutlichem Widerspruch zur Ausstellung steht. Über ihr schwebt auf einer Galerie ein ebenso freundlicher Himmel, in dem Fotos verschiedener Kohleschächte und verdienter MitarbeiterInnen aus der obersten Führung des Unternehmens mitsamt ihrer Orden gezeigt werden. Die AusstellungsmacherInnen heben sie dadurch metaphorisch in den Himmel, genauso wie Unternehmen und Stadt in dieser Inszenierung einem linearen Aufstieg nach oben folgen. Sie zeichnen nicht nur das Bild einer sauberen und schönen Stadt mit vielen Grünflächen, sondern sie lassen auch den Eindruck entstehen, dass der Erfolg des Unternehmens die Entwicklung der Stadt positiv beeinflussen konnte und noch immer kann. Bemerkenswert sind auch die trotz des sichtbaren Niedergangs der Stadt in allen größeren Straßen von Vorkuta-Ugol’ angebrachten fünf bis acht Meter großen Werbeplakate, die eine optimistische Zukunft der Stadt propagieren. So sind dort Losungen wie Vorkuta fördert die Zukunft Russlands!, Die Kohle Vorkutas ist unsere Zukunft oder Die starken Schachtarbeiterhände tragen dich, Vorkuta! zu lesen. Diese Plakate sagen dem Verfallsprozess der Stadt zum Trotz eine außerordentlich optimistische Zukunft voraus und weisen Vorkuta eine zentrale Rolle innerhalb Russlands zu. Daher wird in diesem Beitrag nicht nur aufgrund der personellen Verquickung zwischen Staat und Unternehmen Vorkuta-Ugol’ als ein Akteur begriffen, der das staatliche Narrativ trägt.

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Die Ausstellung befasst sich darüber hinaus mit der Erschließung der Kohlevorkommen, der Technik der Kohleförderung, der Entstehungsgeschichte Vorkutas sowie mit der Betriebsgeschichte. Die Entdeckung und Erschließung der Kohlevorkommen wird dabei sehr stark personalisiert und heroisiert, indem die AusstellungsmacherInnen energisch auf die Verdienste Aleksandr Aleksandrovič Černovs⁴⁸ verweisen. Die Darstellung der Geschichte des Kohleabbaus verschweigt den GULag nicht, zeigt ihn aber ohne erklärende Texte oder Exponate. Die Ausstellung stellt den Kohlebergbau ab 1953 als eine Erfolgsgeschichte dar. Dies heißt folglich, dass VorkutLag und Zwangsarbeit den Grundstein gelegt haben, um in der russischen Nordpolarregion erfolgreich Kohle zu fördern. Damit erhält sie den Mythos aufrecht, wonach die Industrialisierung der Sowjetunion nicht ohne die ZwangsarbeiterInnen möglich gewesen wäre. Die Ausstellung selbst rekurriert an dieser Stelle auf ihre eigene Autorität und verstellt den Weg zu alternativen Deutungsmöglichkeiten, indem sie klare Botschaften vermittelt und Mehrdeutigkeiten oder Brüche kaum zulässt. Das Museum in der 14. Mittelschule wurde zwar unter staatlichem Dach errichtet, engagierte LehrerInnen und AktivistInnen Memorials übernahmen jedoch die inhaltliche Ausgestaltung. Es liegt weitab vom Zentrum und ist für BesucherInnen schwer aufzufinden, da auch hier keinerlei Hinweise oder Beschilderungen existieren. Selbst die Internetpräsenz der Schule stellt außer Fotos einzelner Exponate keine weiterführenden Informationen über dieses Museum bereit. Es besteht aus sorgfältig ausgestellten Exponaten unterschiedlicher Kontexte, die den Eindruck eines großen Sammelsuriums vermitteln. Ein Teil der Ausstellung beschäftigt sich mit dem GULag. Als Exponate trugen SchülerInnen und LehrerInnen bauliche Überreste der Lager und ehemalige Habseligkeiten der Häftlinge zusammen, die sie im Zuge von Geschichtsexkursionen in der Tundra gefunden hatten. Das Museum zeigt viele Fotos, Briefe, Karten und Ölbilder, ein Modell eines Lagers sowie Fotos der historischen Exkursionen. Ein weiterer Teil der Ausstellung behandelt den Aufbau der Stadt Vorkuta in den 1960er und 1970er Jahren und die Kohleförderung. In einem dritten Teil stellen die AusstellungsmacherInnen den „Großen Vaterländischen Krieg“ dar. Sie zeigen Porträts von heldenhaften Rotarmisten aus Vorkuta ebenso wie Uniformen und Waffen. Wie in der gesamten Stadt entsteht auch hier der Eindruck eines Flickenteppichs von Geschichte und Erinnerung, in der mit der Heldenverehrung des

48 Aleksandr Aleksandrovič Černov leitete die ersten Arbeiten zur Erschließung des Kohlebeckens an der Pečora und gilt seitdem als einer der bekanntesten sowjetischen Geologen. Er wird im Hinblick auf Vorkuta als Pionier des Kohlebergbaus betrachtet und ist bis heute in jedem Lehrbuch der Geologie und Geschichte zu finden.

126 | Rosanna Dom, Thomas Milde und Markus Wollny Zweiten Weltkriegs und dem Gedenken an den GULag positive und negative Bezugspunkte der Vergangenheit vereint nebeneinander stehen. Diese Erinnerungslandschaft erschließt sich BesucherInnen, ebenso wie die Vorkutiner Museen, nur im Rahmen einer Führung. Neben den Museen ist auch die Topographie⁴⁹ Vorkutas ein Erinnerungsort an sich. Denkmäler, Friedhöfe und Überreste stellen sowohl konstruierte als auch authentische Erinnerungselemente dar, die von staatlichen und zivilgesellschaftlichen ErinnerungsakteurInnen errichtet wurden oder während einer Führung durch das Gelände narrativ aufgegriffen werden. Die Geschichte des Kohlebergbaus in Vorkuta wird in der Öffentlichkeit besonders durch Denkmäler sichtbar, die vom Staat errichtet wurden. So erinnert etwa ein Denkmal Černovs an den berühmten Pionier des Bergbaus und an die Erschließung des Vorkutiner Kohlebeckens. An den GULag und das damit verbundene Unrechtssystem wird von staatlicher Seite jedoch nicht öffentlich erinnert. Diese Leerstelle versuchte Memorial bereits 1988 durch die Errichtung eines allen Opfern der Repressionen gewidmeten Gedenksteines zu schließen, womit das erste GULag-Denkmal in der Sowjetunion überhaupt entstand.⁵⁰ Daran war ebenfalls Vitalij Alekseevič Trošin als Initiator und Architekt maßgeblich beteiligt. Zusätzlich existieren Friedhöfe in Form von Grabsteinen und -platten sowie Kreuze am ehemaligen Schacht Nr. 29 (heutiger Schacht Jušor), wo im Jahr 1953 nach Streiks und Aufständen Häftlinge massenhaft erschossen wurden. Unter den Opfern waren auch viele nicht-sowjetische Gefangene. Neben einem russisch-orthodoxen Friedhof legten unterschiedliche nationale Opferverbände in Kooperation mit Memorial an diesem Ort kleinere Gedenkorte an: 1990 errichteten ehemalige Gefangene aus der Ukraine einen Friedhof, 1992 legten Häftlinge VorkutLags aus Litauen, Lettland und Estland ebenfalls einen Friedhof an, 1994 stellte ein litauischer Opferverband zusätzlich einen Glockenturm auf, 1995 legte der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. einen Friedhof mit einer Gedenkplatte an und 1997 wurde ein monumentales Betonkreuz auf Initiative des polnischen Verbandes der Sibiriaken aufgestellt.⁵¹ Wie in der topographischen Skizze bereits geschildert, bedienten sich die jeweiligen Initiatoren an allen Friedhöfen und Gedenkorten ausschließlich orthodoxer, römischer oder ungarischer Kreuze, ent-

49 Die Analyse der Topographie vereinte Impressionen, Beschreibungen vorgefundener Objekte und Orte, künstlerische Beschaffenheiten von Denkmälern und Friedhöfen sowie die Wirkung auf Betrachter. U. a. wurden aktuelle und historische Stadt- und Umgebungskarten ebenso wie Luftbildaufnahmen und Fotografien von Lagerpunkten und Bergbauschächten herangezogen. 50 Natal’ja Konradova: Suche nach der Form. Gulag-Denkmäler in Rußland, Osteuropa 57, 6 (2007), S. 421–430, hier S. 421. 51 Tomaš Kizny: GULAG. Moskau 2007, S. 389.

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sprechend der jeweiligen Konfessionen. Obwohl die Friedhöfe und Denkmäler in unmittelbarer Nähe zum historischen Ort der gewaltsamen Niederschlagung des Aufstands errichtet wurden, greift darüber hinaus kein Akteur die Geschichte der Aufstände in den Lagern auf oder thematisiert sie. Es lässt sich nicht von der Hand weisen, dass vor allem in nationalen und konfessionellen Kategorien erinnert wird, was zu einer Aufsplitterung der Erinnerung führt. Die Denkmäler der ausländischen Akteure selektieren die Opfer nach Herkunft. Im Vergleich zu den vielen Denkmälern der ausländischen Akteure nehmen sich der unbearbeitete Stein und der russisch-orthodoxe Friedhof relativ bescheiden aus. Nach der politischen Vergangenheit der Toten, oder woher sie kamen, fragt Memorial nicht. Die NGO gedenkt allen Opfern gleich und unternimmt keine Hierarchisierung, für sie sind alle ausnahmslos Opfer des repressiven stalinschen Regimes. Wie an den Denkmälern, aber auch der Gedenkwand im Heimatkundemuseum deutlich wird, gestaltet sich die Erinnerungspolitik ohne aufklärerischen oder politischen Anspruch, sondern hauptsächlich als ein Gedenken an die Opfer des GULag. Davon zeugten sowohl die Formensprache der oben beschriebenen Denkmäler als auch die nicht vorhandenen Informationstexte, Hinweistafeln sowie die nichtvorhandenen Darstellungen der Grausamkeiten des GULag. Aleksandr ˙ Etkind erklärt dies in seiner Studie über die Erinnerungsorte des GULag, wobei Vorkuta nicht Teil seiner Untersuchung ist, damit, dass Informationsstellwände und historische Erklärungen zu offenbarend und zu provokativ sowohl für staatliche als auch nichtstaatliche Erinnerungsakteure erscheinen.⁵² Auf die ukrainischen, deutschen, polnischen, baltischen und ungarischen Akteure trifft diese Einschätzung ebenso zu. Durch die Verwendung von christlicher Symbo˙ lik und minimalistischer Formensprache an den meisten Lagerorten, so Etkind, gehen alle Akteure einer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit aus dem ˙ Weg. Etkind kritisiert, dass Kreuze für die Opfer des stalinschen Regimes nicht angemessen sind. In der Verwendung einer allgemeinen christlichen Symbolik ˙ drückten die Denkmäler, wie Etkind einräumt, zwar Trauer über die Umgekommenen aus, sie würden aber weder den spezifischen Umständen ihres Lebensendes noch den nicht-christlichen oder -religiösen Opfern gerecht. Die allgemein gehaltenen Denkmäler vermittelten keine Vorstellung über den Kampf der Inhaftierten, über Aufstände in den Lagern, über Folter und Exekution, über Gewalt und Widerstand, über Brutalität und Ideologie, die das Leben im GULag bestimmten. Die ˙ Gründe hierfür sieht Etkind nicht nur in der immer mehr an Macht gewinnenden

˙ 52 Aleksandr Etkind: Vremja sravnivat’ kamni. Postrevoljucionnaja kul’tura političeskoj skorbi i sovremennoj Rossii, in: Ab Imperio 2 (2004), S. 33–76, hier S. 69.

128 | Rosanna Dom, Thomas Milde und Markus Wollny Russisch-Orthodoxen Kirche, sondern auch in der Schwierigkeit, das Erinnern und Gedenken an den Massenterror kulturell zu repräsentieren. Ferner liegen ˙ für Etkind die Ursachen für eine Vermeidung der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in der Überforderung der Gegenwartskunst, eine angemessene künstlerische Formensprache zu finden und schließlich in dem Fehlen eines politischen Konsenses über den Stalinismus und den Massenterror, das wiederum die Bereitstellung von Informationen an den Denkmälern erschwere.⁵³ Auch innerhalb der Stadt Vorkuta ist die positive Erinnerung an den Bergbau viel präsenter als die an den GULag. Trotz des Verfalls der Stadt lässt sich anhand einiger prunkvoller Bauten wie des Kulturpalastes der Grubenarbeiter, des Technikums für Bergbauwesen oder des Theaters noch immer der ehemalige Wohlstand der Stadt erahnen. Diese Repräsentativbauten stellen nach wie vor ein „Denkmal“ einer Zeit dar, in der Vorkuta zu den Musterstädten der Sowjetunion zählte. Sie sind Transmissionsriemen der positiven Erinnerung an vergangene Zeiten. Doch neben den staatlichen Denkmälern und erhaltenen Gebäuden trifft man in Vorkuta auch Erinnerungsfragmente an, die keinen Platz im öffentlichen Masternarrativ bekommen haben. Es handelt sich um Grundpfeiler von ehemaligen Gefangenenbaracken, die dem Vergessen übergeben wurden. Aufgrund der Witterung und des Permafrostbodens wurden die Pfeiler nach dem Abriss der Baracken nicht aus der Erde entfernt. Außerhalb der Stadt existieren an ehemaligen Lagerpunkten Überreste der Grundmauern von Baracken für Gefangene, Wachpersonal und Verwaltungseinheiten, eine Holzhütte, die als Kontrollpunkt diente, ebenso wie das Gebäude ehemaliger Isolierzellen. All diese Überreste sind in ihrem ursprünglichen Zustand belassen. Es existieren keinerlei Hinweise, mit deren Hilfe man auf diese Überreste der belasteten Vergangenheit aufmerksam gemacht wird oder aus denen man ergänzende Informationen entnehmen könnte. Sie sind nicht als Gedenkort für die Öffentlichkeit aufbereitet und BewohnerInnen und BesucherInnen der Stadt gehen tagtäglich vorüber. Einzig die AktivistInnen Memorials verstehen ihre Arbeit darin, Interessierte an diese historischen Orte zu führen, über die Überreste aufzuklären und zusätzliches Material in Form von Karten und Aufnahmen zur Verfügung zu stellen. Vorkuta ist daher ein Erinnerungsort, an dem das Lagergelände imaginiert werden muss, da es kaum Überreste des GULag gibt, die besichtigt werden können. Auch die Denkmäler schweigen zu den Ereignissen des GULag. BesucherInnen bliebe die Topographie Vorkutas als ehemaliges Lagergelände ohne das narrative Inszenieren der ErinnerungsakteurInnen Memorials verschlossen. Sie

53 Ebd., S. 68.

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tragen die Erinnerung in die ehemalige Topographie des GULag hinein und schaffen an den Orten des Geschehens selbst materielle Formen des Gedenkens. Das erzählte Narrativ der zivilgesellschaftlichen AkteurInnen deckt sich mit dem visualisierten, d. h. der GULag wird sehr allgemein, nüchtern, apolitisch und nur unzureichend informativ dargestellt. Eine historische Kontextualisierung bleibt aus. Von besonderem Interesse sind die GeschichtslehrerInnen der 14. Mittelschule wie auch anderer Schulen. Sie sind einerseits angehalten, ihren SchülerInnen das staatliche Geschichtsnarrativ zu vermitteln und andererseits agieren sie im Umkreis der Organisation Memorial. Gerade in den Schulen kommt es daher zu einem Austausch des staatlichen und zivilgesellschaftlichen Erinnerungsnarrativs. Für eine weitere Bündelung beider Narrative in einer Person steht Vitalij Alekseevič Trošin, der als ehemaliger Häftling einerseits für eine öffentlich sichtbare Erinnerung an den GULag kämpfte und die Errichtung eines Gedenksteines bewirken konnte. Andererseits trägt er als verantwortlicher Architekt des Betriebsmuseums aber auch das Masternarrativ Vorkutas mit. Damit schreibt er – gewollt oder ungewollt – die sinnstiftende Erzählung einer Notwendigkeit des GULag für den wirtschaftlichen Aufschwung des Kohlebergbaus und der positiven Entwicklung der Stadt Vorkuta fort.

VI Zusammenschau: Erinnerungslandschaft Vorkuta Zieht man den akteur- und handlungstheoretischen Ansatz heran, kann eine grundlegende Aussage über Memorial Vorkuta festgehalten werden. Obwohl es sich um eine zivilgesellschaftliche Organisation handelt, ist sie von einer klaren Hierarchie und Funktionszuordnung gekennzeichnet, die auch in vielen anderen russischen Institutionen anzutreffen ist. Das Deutungsmonopol Memorials liegt in den Händen eines kleinen Personenkreises.⁵⁴ Dies bedeutet, dass die einzelnen Meinungen der individuellen AkteurInnen kaum an die Öffentlichkeit dringen, sondern lediglich die Standpunkte der Führungsspitze artikuliert werden. Auch der rege Austausch der Mitglieder untereinander kann über diese hierarchische Struktur nicht hinwegtäuschen. Die Positionen des kooperativen

54 Während des Gruppeninterviews forderten die Interviewten Dmitrij Ivanovič Tatarov immer wieder auf, er möge auf die Fragen an sie antworten. Diese Erwartung begründeten sie damit, dass er sich doch am besten auskenne.

130 | Rosanna Dom, Thomas Milde und Markus Wollny Akteurs Memorial werden also stark von den individuellen AkteurInnen an der Spitze der Hierarchie bestimmt. Im Folgenden soll die manifestierte Erinnerungslandschaft aus der Perspektive der AkteurInnen erläutert werden. Sie erinnern den GULag auf unterschiedliche Weise. Der Staat beschränkt sich vor allem auf die museale Form der Erinnerung. Er transferiert die Erinnerung von den historischen Orten in einen künstlich geschaffenen Raum – in Museen. Damit wird die Öffentlichkeit im Alltag mit der Vergangenheit nicht konfrontiert, sondern nur der interessierte Bürger, der sich dazu entscheidet, die oben vorgestellten Ausstellungen über den GUlag zu besuchen. Bezüglich der Erfolgsgeschichte Vorkutas als Bergbaustadt bemüht sich der staatliche Akteur über die museale Darstellung hinaus um eine topographisch wirksame Variante des manifestierten Erinnerns. Beispiele dafür sind das Černov-Denkmal und das vergleichsweise imposante Denkmal für die Opfer des Grubenunglücks von 1998. Der GULag wird sowohl im Betriebsmuseum als auch in der 14. Mittelschule nur als ein kleiner Teil der Geschichte des Kohlebergbaus dargestellt. Im Betriebsmuseum erhalten die BesucherInnen sogar den Eindruck, dass es sich beim GULag um ein notwendiges Übel handelte, um ein Opfer, das gebracht werden musste, um die Erschließung des Nordens und die Kohleförderung voranzubringen. Wie schwer der staatliche Erinnerungsakteur mit einem differenzierten Erinnern zurechtkommt, zeigt die fehlende Thematisierung des Lageralltags. Der Behandlung des Außergewöhnlichen, wie dem Lagertheater oder den literarischen Erzeugnissen, wird hingegen viel Raum gegeben. Dabei sind die Gründe für die mangelnde Unterstützung des Staates, den GULag in der Öffentlichkeit zu erinnern, nicht im mangelnden Interesse am Erinnern an sich zu suchen. Ganz im Gegenteil! Das Erinnern an den Sieg im „Großen Vaterländischen Krieg“ ist ein fester Bestandteil des Gedächtnisses Vorkutas.⁵⁵ Die Ursachen für das Desinteresse sind zum einen auf die monopolisierte und in Bezug auf den GULag restriktive Geschichts- und Erinnerungspolitik zurückzuführen, die unter der Putin-Administration etabliert wurde. Zum anderen hat auch die städtische Administration ein großes Interesse an einer positiven Darstellung Vorkutas in der Vergangenheit. Der staatliche Akteur will sich selbst nicht der belasteten Vergangenheit der Stadt stellen und die bereits stark erodierte Identifikation der Vorkutiner mit ihrem Ort weiter aushöhlen.

55 Dies zeigen u. a. die vielen Siegesposter, die anlässlich des 9. Mai in der gesamten Stadt angebracht wurden, die Siegesdenkmäler in Vorkuta und die Ausstellung, die ebenfalls anlässlich des 9. Mai im Museum der 14. Mittelschule konzipiert wurde.

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Der staatliche Akteur besitzt allerdings die größten Möglichkeiten, sein Narrativ zum Beispiel in Form von Denkmälern zu visualisieren und an Ereignisse aus der Vergangenheit zu erinnern, und andere zu vergessen. Memorial hingegen kann nicht frei handeln. Die Ursachen dafür sind vor allem auf die kaum vorhandenen ökonomischen Ressourcen und die Notwendigkeit zurückzuführen, für jedwedes manifestierendes Handeln eine Genehmigung einholen zu müssen. Memorial ist unter den gegenwärtigen Umständen auf eine Kooperation mit dem staatlichen Akteur angewiesen. Daher können beide nicht als erinnerungspolitische Antagonisten in Vorkuta gelten. Wie an dem Betriebsmuseum, dem Heimatkundemuseum und dem Museum der 14. Mittelschule gezeigt wurde, kooperieren beide Akteure durchaus miteinander. Auch hätte Memorial ohne die Genehmigung der Stadtverwaltung die Denkmäler und Friedhöfe niemals anlegen können. Ein Vorgehen, das auch an anderen ehemaligen Lagerorten von Memorial-Gesellschaften praktiziert wurde.⁵⁶ Diese Kooperation geht auf politische Handlungszwänge zurück. Es ist ein Weg, den die MemorialaktivistInnen für sich gewählt haben, obwohl das staatliche Narrativ ihrer Grundposition von der Illegitimität des GULag widerspricht. Im Sinne des Konzepts des Homo Oeconomicus ist ihr Handeln hier von Zweckrationalität gekennzeichnet, anstatt des sonst dominierenden identitätsstiftenden Handelns. Allerdings beschränkt sich das Zusammenspiel zwischen dem staatlichen Akteur und Memorial nicht nur auf Museen und Denkmäler, sondern erstreckt sich auch auf die Konstruktion des Narrativs über die erfolgreiche Geschichte des Kohlebergbaus in Vorkuta. Wie die Interviewzitate zeigen, ist auch die Zeit der „goldenen Jahre“ im kommunikativen Gedächtnis der MemorialaktivistInnen sehr präsent. Auf dieses Vorkuta sind alle ErinnerungsakteurInnen stolz und betrachten es häufig losgelöst von der grausamen Entstehungsgeschichte, die direkt vor den „goldenen Jahren“ lag. Auf den ersten Blick mutet die Euphorie der MemorialmitarbeiterInnen für diese Periode etwas merkwürdig an, da sie sich doch das Erinnern an die Opfer des GULag und die historische Aufklärung über den Stalinismus und seine Repressionsapparate auf die Fahnen geschrieben haben. Der akteur- und handlungszentrierte Ansatz, den der vorliegende Beitrag verfolgt, hält dafür folgenden Erklärungsversuch bereit: Als mit dem Auflösungsprozess der Sowjetunion auch der wirtschaftliche Niedergang Vorkutas einsetzte, kam es zu Erwartungsenttäuschungen der befragten

56 Elke Fein: Die Gesellschaft „Memorial“, S. 149; Olga Kurilo: Wandel der Erinnerungslandschaften im heutigen Russland: Zwischen sowjetischem und postsowjetischem Denken, in: Lars Karl/ Igor J. Polianski (Hrsg): Geschichtspolitik und Erinnerungskultur im neuen Russland. Göttingen 2009, S. 141–162, hier S. 149; Natal’ja Konradova: Suche nach der Form, S. 422.

132 | Rosanna Dom, Thomas Milde und Markus Wollny AkteurInnen. Dies sind Erwartungen, die in kognitiver Hinsicht enttäuscht wurden, weil die positiv gedachte Zukunft Vorkutas und damit des persönlichen Lebens nicht eintrat. Auf normativer Ebene wurden sie enttäuscht, weil der Staat die Vergünstigungen und Subventionen gestrichen hat und deswegen aus Sicht der Befragten seinen Pflichten nicht nachgekommen ist. Für ihre soziale und wirtschaftliche Marginalisierung machen sie den Staat verantwortlich. Diese an den Staat herangetragenen normativen Erwartungen können auf das paternalistische Staatsverständnis zurückgeführt werden, mit dem die befragten MemorialaktivistInnen sozialisiert wurden.⁵⁷ Diese Erwartungsenttäuschungen stellen ein Motiv für das Engagement der befragten AkteurInnen für Memorial dar. Gleichsam speisen die Enttäuschungserfahrungen eine greifbare Identitätskrise der individuellen AkteurInnen. Eine positive Erinnerung der „goldenen Jahre“ kann daher als eine soziale Bestätigung gedeutet werden, die in der Sowjetunion wirksam war und in die Erinnerung transportiert wird. Sie ist somit Teil des Versuchs, der Identitätsbedrohung entgegenzutreten. Der GULag wurde von den Interviewten im Gegensatz zu den vermeintlich positiven Seiten der Geschichte kaum thematisiert, was ein Zeichen dafür ist, dass die Identität der AktivistInnen durch die gegenwärtige schwierige Lage in doppelter Hinsicht in Frage gestellt wird. Zum einen müssen sie mit ihrer persönlichen Situation täglich kämpfen, zum anderen würde eine differenzierte Erinnerung an den GULag ihre positiven Identifikationsmomente, die sich vor allem auf das poststalinsche Vorkuta und seinen scheinbar prosperierenden Kohlebergbau beziehen, in Frage stellen und die Identitätskrise weiter verschärfen. Dass Memorial als kooperativer Akteur am gleichen Narrativ strickt wie der staatliche Akteur, obwohl dies streng genommen ihrer Intention widerspricht, hängt mit der oben beschriebenen Identitätsbedrohung der individuellen AkteurInnen zusammen. Diese gemeinsame Narration erleichtert dem staatlichen und dem zivilgesellschaftlichen Akteur die Kooperation. Hierbei handelt es sich auch weniger um ein spezifisches Phänomen der Vorkutiner AkteurInnen, sondern dies ist vielmehr für die Generation typisch, die noch in der Sowjetunion sozialisiert wurde.⁵⁸

57 Katherine Verdery: Transnationalism, Nationalism, Citizenship and Property: East Europe since 1989, in: American Ethnologist 25 2 (1998), S. 291–306, hier S. 232. 58 Siehe hierzu auch den Aufsatz von Robert Latypov: Ambivalente Erinnerungen: Herausforderungen meiner Generation, in: Manuela Putz/Ulrike Huhn (Hrsg.): Der Gulag im russischen Gedächtnis. Forschungsergebnisse einer deutsch-russischen Spurensuche in der Region Perm. Bremen 2010, S. 41–42.

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Darüber hinaus kompensieren die MemorialaktivistInnen ihren Identitätsverlust durch den Rollenwechsel von anerkannten SowjetbürgerInnen in einem der Wirtschaftszentren der Sowjetunion zu Opfern der Transformation. Diese Opferidentität wird durch die Verwendung von sprachlichen Rückgriffen auf den GULag deutlich. Die Opferrolle ist für die hier befragten AkteurInnen ein zentrales Zusammengehörigkeitsmoment. Der kooperative Akteur, der auch in der Öffentlichkeit auftritt, bestätigt sozial das Rollenverständnis der individuellen AkteurInnen. Dabei ist die Frontstellung gegen die postsowjetischen Regierungen, die für ihre soziale Marginalisierung verantwortlich gemacht werden, ein konstitutives Moment der Motivation gemeinsamer Erinnerungsarbeit. Der nach außen hin auftretende kooperative Akteur mit seinen offiziellen Positionen ist demnach von individuellen AkteurInnen differenziert zu betrachten.⁵⁹ Die Ambivalenz, die sich in der Erinnerungspolitik sowohl der staatlichen als auch zivilgesellschaftlichen Erinnerungsakteure finden lässt, zeigt die Diskussion um den Obelisken noch einmal deutlich. Wie unter Punkt III ausgeführt ist der Obelisk das erste und älteste Denkmal der Stadt, das noch während der Zeit des GULag in Vorkuta errichtet wurde und an die erste Kohleförderung erinnern soll. Heute ist es ein stark verfallenes Denkmal. Als die Stadt es demontieren wollte, setzte sich Memorial mit Erfolg für dessen Erhalt ein. Dies ist insofern auffallend, da das Denkmal ein Teil des positiven Kohlebergbaunarrativs ist und den GULag gänzlich verschweigt. Auf den ersten Blick scheint dies im Widerspruch zu den historisch-aufklärerischen Grundsätzen Memorials zu stehen. Genauso bemerkenswert ist die Tatsache, dass die Stadtverwaltung das schadhafte Denkmal entfernen wollte, anstatt es zu sanieren. Dies mutet ebenfalls widersprüchlich an, da der Staat als Erinnerungsakteur besonders an der Erhaltung des Narrativs vom erfolgreichen Kohlebergbau und der Verschleierung des GULag interessiert ist, der Obelisk also ein willkommenes Symbol dieser Erzählung sein könnte. Betrachtet man das offizielle Internetportal der Stadt, wird der Obelisk als eines der zentralen Denkmäler der Stadt aufgeführt.⁶⁰ Auch im Museum der 14. Mittelschule ist er en miniature als makelloses und zentrales Denkmal der Stadt aufgebaut. Mit Blick auf Memorial ist zu vermuten, dass der Kampf um den Erhalt des Obelisken durch identitätsbehauptendes erinnerungskulturelles Handeln motiviert war. Er ist Symbol für eine prosperierende Stadt. Unterstrichen wird diese Vermutung

59 Unterstrichen wird diese These durch die Begegnung mit einem ebenfalls bei Memorial tätigen Geschichtslehrer, der mit pseudogeschichtlichen Argumenten in Russen und Deutschen die Herrenrasse der Welt sieht. Mit seinem Geschichts- und Menschenbild vertritt er nicht die Grundsätze Memorials. 60 Pamjatniki Vorkuty, unter http://www.vorcuta.ru/mounuments.htm.

134 | Rosanna Dom, Thomas Milde und Markus Wollny durch die herausgearbeitete Überlagerung der positiv konnotierten Erinnerung an den Kohlebergbau über der Erinnerung an den GULag. Als Motiv des staatlichen Akteurs ist denkbar, dass er das Denkmal nicht im Zusammenhang mit dem stark zerstörten Stadtteil Rudnik sehen möchte.

Schlussbemerkung ˙ Vorkutas Erinnerungsorte sind kein russischer Sonderfall. Wie Etkinds Studie zeigt, reihen sie sich in die Formensprache anderer russischer Erinnerungsorte ein.⁶¹ Auch die analysierte Ambivalenz in der Erinnerung sowohl staatlicher als auch zivilgesellschaftlicher Akteure, die sich in der immer wieder stattfinden Kooperation spiegelt, ist typisch für andere Erinnerungsorte.⁶² Ebenso findet sich die Ambivalenz der MemorialaktivistInnen in der Erinnerung an die Sowjetunion bei anderen lokalen Organisationen Memorials wieder.⁶³ Spezifisch ist allerdings die Situation, in der die ErinnerungsakteurInnen agieren. Die Gerüchte über eine Aufgabe der Stadt Vorkuta sind im Alltag gegenwärtig und der Grund für die oben beschriebene Identitätsbedrohung. Diese führte dazu, dass sich Menschen mit sehr unterschiedlichen Welt- und Geschichtsbildern unter dem Dach Memorials vereinigten und bereit sind, sich trotz hohen persönlichen Risikos für die Aufarbeitung des GULag in Vorkuta einzusetzen. Dennoch bedeutet die Aufarbeitung der stalinschen Repressionen nicht, dass sich dahinter ein wissenschaftlich fundiertes Geschichtsbild verbirgt. Auch wenn der kooperative Akteur Memorial Vorkuta auf unterschiedlichen Ebenen mit dem staatlichen Akteur zusammenarbeitet, hat er die Auffassung, als einziger die „Wahrheit“ über VorkutLag zu kennen. Im Gegensatz zur internationalen Forschungsgemeinschaft argumentieren die Memorialmitglieder, dass sie permanent vor Ort sind und, anders als der staatliche Akteur, in den lokalen Archiven recherchieren. Die strukturelle (Selbst-)Isolation Memorials Vorkuta von der Gesamtorganisation Memorial verstärkt dieses Gefühl zusätzlich. In An-

˙ 61 Etkind: Vremja sravnivat’ kamni, S. 68f. 62 Stephen Fortescue/Vesa Rautio: Vom Arbeitslager zum Weltmarktführer. Ein Firmenporträt der Buntmetallhütte Noril’sk Nikel’, in: Osteuropa 57, 6 (2007), S. 395–408, hier S. 407f. 63 Manuela Putz/Ulrike Huhn (Hrsg.): Der Gulag im russischen Gedächtnis. Forschungsergebnisse einer deutsch-russischen Spurensuche in der Region Perm. Bremen 2010.

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lehnung an Jörn Rüsens dimensionale Erfassung von Geschichtskultur⁶⁴ lässt sich übertragend auf die Erinnerungskultur in Vorkuta konstatieren, dass es sich hauptsächlich um eine politische und ästhetische Erinnerungskultur handelt. Kognitive Elemente im Sinne einer wissenschaftlich fundierten Aufarbeitung von Vergangenheit lassen sich für beide Akteure nur in Ansätzen finden.

64 Jörn Rüsen: Geschichtskultur, in: Klaus Bergmann u. a. (Hrsg.): Handbuch der Geschichtsdidaktik. 2. Aufl. Seelze-Velber 1997, S. 38–41.

Anna Schor-Tschudnowskaja

Aktivisten des Andenkens: Die Gesellschaft Memorial Ziele, leitende Thesen und Denkmuster „Denn gewöhnliche Menschen können oft gar nicht begreifen, was geschehen ist, können über eine Epoche nicht urteilen. Sie haben dafür keine Instrumente, weder philosophischer, noch historischer, noch künstlerischer Art. Sie haben nur ihre eigene rohe Erfahrung, die sie kaum irgendwo einordnen können.“ Irina Scherbakowa, „Memorial“¹

Kein anderer Vertreter der russländischen Zivilgesellschaft ist im Ausland so bekannt wie die Gesellschaft Memorial. In Russland selbst hält sich ihre Bekanntheit allerdings in Grenzen, von Anerkennung oder gar Beliebtheit ganz zu schweigen. Im eigenen Land ist Memorial nicht nur mit verschiedenen politisch gewollten Hindernissen konfrontiert, sondern sieht sich auch Gleichgültigkeit und bisweilen Feindseligkeit in der Bevölkerung gegenüber. Dennoch hat Memorial landesweit Dutzende Adressen, und viele unterschiedliche Menschen arbeiten (meistens ehrenamtlich) für die Gesellschaft oder mit ihr zusammen. Die Dachorganisation nennt sich „Internationale Gesellschaft ‚Memorial“‘² und hat nicht nur in Russland, sondern auch in der Ukraine, in Belarus³, Lettland, Kasachstan, Italien, Deutschland und Frankreich Zweigstellen oder Tochterverbände. Als eine der größten in Russland gegründeten zivilgesellschaftlichen Bewegungen widmet sie sich dem Andenken der Opfer politischer Repressionen: Es gibt im postsowjetischen Russland keine andere vergleichbare Vereinigung von Menschen, die etwas gegen das Verblassen und Verschwinden der Erinnerung an die Opfer des Sowjetregimes tun wollen. Man kann mit Gewissheit sagen, dass es vor

1 Interview mit Irina Ščerbakova, „Žizn’ v terrore. 30 oktjabrja – Den’ pamjati političeskich repressij“ [Das Leben im Terror. Der 30. Oktober – Gedenktag an die Opfer der politischen Repressionen], in: Rossijskaja gazeta vom 30.10.2012, unter: http://www.rg.ru/2012/10/30/monastir. html (Übersetzung aus dem Russischen von der Autorin). 2 S. www.memo.ru. In folgenden Text wird mit „Memorial“ die Internationale historischaufklärerische, Wohltätigkeits- und Menschenrechtsgesellschaft „Memorial“ (so der volle Name) bezeichnet. Wenn nur vom Moskauer „Memorial“ oder anderen regionalen „Memorial“-Gruppen die Rede ist, wird es zusätzlich angegeben. 3 In Belarus ist Memorial die offizielle Registrierung verweigert worden.

138 | Anna Schor-Tschudnowskaja allem Memorial zu verdanken ist, dass es überhaupt ein bescheidenes Andenken an diese Opfer gibt. Das Wort Memorial bedeutet im Russischen „Denkmal“ oder „Gedenkort“ – das Gedenken als wichtigstes Ziel der Organisation findet sich also gleich in ihrem Namen. Und so hat es sich Memorial „zu einer ihrer Hauptaufgaben gemacht, das zu sammeln und aufzubewahren, was das Schicksal der Opfer der politischen Repressionen in der UdSSR dokumentiert. Die Hauptrichtungen dieser Tätigkeit sind: die Feststellung und Veröffentlichung der Namen aller Opfer, das Auffinden früherer Exekutionsorte und Massengräber, das Errichten von Gedenktafeln.“⁴ Sammeln, bearbeiten und veröffentlichen gehören zu den genuinen Tätigkeiten von Memorial, wovon auch ihre einzigartigen Archivbestände, Museen und Bibliotheken zeugen. Allerdings bezeichnet sich die Gesellschaft Memorial als „historisch-aufklärerisch“ und unterscheidet vier Arbeitsbereiche: historische Arbeit, aufklärerische Arbeit, Wohltätigkeit und Menschenrechtsarbeit. Sie gibt an, einen öffentlichen Diskussionsraum schaffen zu wollen, um auf das gesellschaftliche Bewusstsein einzuwirken. Zur Mission ihrer aufklärerischen Arbeit gehöre es, „breite öffentliche Diskussionen zu den Schlüsselfragen der Gegenwart und der Vergangenheit zu initiieren, die Aufmerksamkeit der Gesellschaft, und vor allem der jungen Menschen, auf das Problem der Wechselbeziehungen zwischen dem Staat, der Gesellschaft und dem Individuum in der Vergangenheit und Gegenwart zu lenken“⁵, wobei hier „das Problem der Wechselbeziehungen“ als problematische Wechselbeziehung zwischen Staat, Gesellschaft und Individuum in Russland heute wie auch zu sowjetischer Zeit zu verstehen ist. Das Gedenken an die Opfer der politischen Repressionen fällt ohne Zweifel in den Bereich dieser problematischen Wechselbeziehungen. Diese Tätigkeit erschöpft sich nicht im Privaten, sondern ist auch öffentlich und politisch. Dass das Andenken an die Opfer politischer Repressionen und die eigene Rolle eines „Gedenkortes“ (eben eines Memorials) weitreichende öffentliche und politische Auswirkungen hat, ist den Mitarbeitern von Memorial bewusst. Irina Scherbakowa, Mitarbeiterin des Moskauer Büros und langjährige Projektleiterin bei Memorial, sieht die Rolle ihrer Organisation gerade deswegen in der Förderung der geistigen Gesundung der russländischen Bevölkerung nach den traumatischen Erfahrungen der Sowjetgeschichte: „Die Erfahrung des Terrors ist eine

4 Irina Scherbakowa: „Das Jahr 1937 und die Gegenwart. Zu den Thesen von ‚Memorial“‘, in: Russlandanalysen, Nr. 133 vom 4.05.2007, S. 5–6, unter: http://www.laender-analysen.de/ russland/pdf/Russlandanalysen133.pdf. 5 „‚Memorial‘ segodnja. Missija i celi“ [„Memorial“ heute. Mission und Ziele], http://www.memo.ru/d/25.html (Übersetzung der Autorin).

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traumatische Erfahrung, dieses Trauma kann auch an die nächste und übernächste Generation weitergegeben werden. Um dieses Trauma zu überwinden, muss man es memorialisieren, d.h. das Geschehene beschreiben und an die mentale Karte der Erinnerung zur Verdeutlichung Pfeile und Zeichen anbringen“.⁶ Die Arbeit der Memorialisierung soll somit erst helfen, das vom sowjetischen Staatsterror hinterlassene Erbe zu bewältigen. Die Frage, ob Gedenken hierfür als einzige Strategie ausreichend ist, stellt sich im Zusammenhang mit der Tätigkeit von Memorial immer wieder und wird weiter unten daher noch einmal aufgegriffen. Die knapp 70 existierenden Memorial-Zweigstellen unterscheiden sich recht deutlich voneinander, was Schwerpunkte, Intensität ihrer Arbeit sowie materielle und personelle Ressourcen betrifft. Der international besetzte Vorstand, der sich regelmäßig in Moskau trifft, bildet eine Art Koordinierungszentrum, doch unterscheiden sich die einzelnen Memorial-Verbände voneinander auch hinsichtlich ihrer Anlehnung an und Kooperationsenge mit den zentralen Organen von Memorial: Einige arbeiten sehr eng zusammen und stehen in einem ständigen Austausch, andere führen ein mehr oder weniger unabhängiges Dasein und vertreten zum Teil auch von Moskau divergierende Positionen oder Ziele. Wenn nun im Folgenden Ziele, leitende Thesen und Denkmuster, die dem Selbstverständnis von Memorial als Akteur der Erinnerung in der öffentlichen und zivilgesellschaftlichen Landschaft des postsowjetischen Russlands zu Grunde liegen, ausführlicher analysiert werden, wird hauptsächlich auf Veröffentlichungen und Verlautbarungen entweder der Vorstandsmitglieder oder der Mitarbeiter von Memorial-Büros in Moskau und St. Petersburg Bezug genommen. Wichtig dabei sind nicht nur explizite Thesen, sondern auch implizite, stillschweigende Annahmen und Denkmuster, die sich aus den programmatischen Texten, Interviews und Aktionen herauslesen lassen. Zum Schluss wird noch kurz diskutiert, inwiefern die Denkmuster der zivilgesellschaftlichen Vereinigung Memorial mit dem allgemeinen Zustand der gesellschaftlichen Erinnerung an die Sowjetzeit in Russland korrespondieren.

Entstehungsgeschichte Memorial ist ein wichtiger Teil der späten sowjetischen Geschichte. Als eine spontane Bewegung, eine informelle Vereinigung von Gleichgesinnten, die die neuen Freiheiten aufgreifen und sich engagieren, formierte sich Memorial ab 1987 im

6 Ščerbakova, „Žizn’ v terrore“.

140 | Anna Schor-Tschudnowskaja Zuge der Perestrojka. Den offiziellen Namen „Gesellschaft ‚Memorial“‘ gibt es seit 1989; er bezeichnete von Anfang an eine ganze Familie an „Memorialen“ in vielen Städten und Orten der Sowjetunion, eine „Union von regionalen Organisationen“.⁷ Der erste Vorsitzende der Gesellschaft „Memorial“ war der Atomphysiker und Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow.⁸ Die von der sowjetischen Führung unter Michail Gorbatschow ausgerufenen Prinzipien des „neuen Denkens“⁹ – Perestrojka und Glasnost’ – äußerten sich auch in einer bis dahin in der Sowjetgeschichte einmaligen Absage an staatliche Gewalt.¹⁰ Das bedeutete unter anderem, dass öffentliche kritische Äußerungen keine (strafrechtlichen) Sanktionen mehr nach sich ziehen würden. Mit anderen Worten: Es war nicht mehr gefährlich, sich kritisch mit der sowjetischen Realität auseinanderzusetzen, wobei die damalige Kritik zunächst nicht auf eine Demontage, sondern auf eine Verbesserung des Systems abzielte. Die Kritik war als Instrument einer Erneuerung der sozialistischen Gesellschaft gedacht – auch die Kritik in Bezug auf die bis dahin weitgehend totgeschwiegenen staatlichen Verbrechen an der eigenen Bevölkerung, insbesondere unter Josef Stalin. 1987 fiel die Perestrojka mit einem weiteren Ereignis zusammen: Zum 50. Mal jährte sich der „Große Terror“ von 1937. Ab 1987 wurden erstmals und gleich in

7 „Iz istorii ‚Memoriala‘“ [Aus der Geschichte von „Memorial“], online-Adresse: www.memo.ru/d/24.html. 8 Es ist alles andere als zufällig, dass gerade der bekannte Dissident Sacharow den ersten Vorsitz von „Memorial“ übernahm. „Memorial“ ist im gewissen Sinne ein gemeinsames Kind der sowjetischen Dissidentenbewegung und der Perestrojka. Die sowjetische Tradition des Widerstandes ist auch jene, die viele Gründungsmitglieder von „Memorial“ biografisch oder mental stark geprägt haben, so dass ihre Methoden und Ziele von „Memorial“ zum großen Teil weiter tradiert werden. Die sich in den 1960er Jahre formierende sowjetische Dissidentenbewegung war durch folgende Prinzipien gekennzeichnet: sie trachtete nach einer Verschiebung der relevanten Belange in die Öffentlichkeit, also einer Ver-Öffentlichung der politischen bzw. politiknahen sowie auch moralischen Fragen und Entscheidungen. Sie teilte das zivilgesellschaftliche Prinzip der Nichtanwendung von Gewalt in der eigenen Tätigkeit (also Beschränkung auf die Methoden der bürgerlichen Öffentlichkeit), war primär der Idee der Menschenrechte verpflichtet und verfolgte das normativen Ideal, dass die Rechte und Freiheiten des Individuums strikt eingehalten werden sollen. Der sowjetischen Dissidentenbewegung ist zudem grundsätzlich eine Affinität zu moralischen Fragen sowie ein hoher Stellenwert der Solidarität zu attestieren. Diese vier Kernelemente – Öffentlichkeit, Nichtanwendung von Gewalt, Menschenrechte und Solidarität – bildeten auch das ideelle Fundament von „Memorial“. 9 Hier wird Bezug auf das 1988 in Moskau erschienene Buch von Michail Gorbatschow „Perestrojka i novoe myšlenie dlja našej strany i dlja vsego mira“ [Perestrojka und neues Denken für unser Land und für die ganze Welt] genommen. 10 Zur Perestrojka und dem Ende der UdSSR s. Martin Malek/Anna Schor-Tschudnowskaja: Der Zerfall der Sowjetunion. Ursachen, Begleiterscheinungen, Hintergründe. Nomos 2013.

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großen Auflagen zahlreiche Texte von Zeitzeugen und Opfern des staatlichen Terrors unter Stalin veröffentlicht. Das Leiden der Opfer wurde zu einem erlaubten und viel beachteten öffentlichen Thema.¹¹ Weniamin Joffe, von 1992 bis 2002 Direktor des Peterburger Memorial „NIZ“¹², erinnerte sich: Als die kommunistische Ideologie in der UdSSR zu wanken und auseinanderzufallen begann, entstand bei sehr unterschiedlichen Menschen gleichzeitig die Idee, in Moskau wie auch überall im Land den Opfern von politischen Repressionen unter dem kommunistischen Regime Denkmäler zu errichten − als Zeichen der Veränderung des Bewusstseins des Volkes und auch als Garantie für die Unumkehrbarkeit der Wende in der Gesellschaft und im Staat.¹³

Geleitet von dieser Idee greifen einige Aktivisten einen Beschluss des XXII. Parteitages der KPdSU vom Oktober 1961 wieder auf: Darin wurde (also unter KPdSUGeneralsekretär Nikita Chruschtschow) festgehalten, dass es in Moskau ein Denkmal zur Erinnerung an die Opfer der Repressionen unter Stalin geben soll. Die Verwirklichung dieses alten Beschlusses wurde zum Ziel einer kleinen Gruppe von Perestrojka-Aktivisten, die sich Memorial nannte und als unmittelbarer Vorgänger der späteren Gesellschaft Memorial zu betrachten ist. Sie war weder eine politische noch eine oppositionelle Bewegung. Sie formierte sich eher als eine klassische zivilgesellschaftliche Initiative, die keine Machtforderungen stellte, sondern eigene Interessen öffentlich kommunizierte und mit friedlichen politischen Mitteln durchzusetzen versuchte. Entsprechend dem Geist der Perestrojkajahre versuchten die Memorial-Aktivisten, die Ent-

11 Assen Ignatow beschrieb die intensiven und kontroversiellen Diskussionen historischer Fragen in den sowjetischen Medien der Perestrojka-Zeit wie folgt: „Die Vergangenheitsbewältigung steht – neben aktuellen Fragen – im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der russischen Öffentlichkeit und bleibt ein sehr wichtiges Thema für alle Medien. Alle großen Zeitungen publizieren [. . . ] Materialien über Ereignisse, Bewegungen und Persönlichkeiten der Vergangenheit. Eine sehr große Rolle spielen Informationen über solche Männer und Frauen, die das kommunistische Regime totschwieg oder verunglimpfte: die alten russischen Politiker, Minister, Abgeordnete, Vertreter anderer revolutionärer Bewegungen, in denen die Kommunisten Rivalen erblickten, die Schriftsteller, Philosophen und Historiker, die großes Ansehen genossen, aber nicht in die kommunistische Dogmatik paßten“. S. Assen Ignatow: Vergangenheitsaufarbeitung in der Russischen Föderation, Berichte des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien, 42. Köln 1997, S. 19. 12 Nauchno-informazionnyj zentr „Memorial“ (NIZ) [Wissenschaftliches Informationszentrum „Memorial“]. 13 Weniamin Joffe: „Glazami „Memoriala“ [Mit den Augen von „Memorial“], in: Westnik „Memoriala“ [Schriftenreihe von „Memorial“], 4/5 (2010/11), Sankt-Petersburg, 1995, S. 17–18.

142 | Anna Schor-Tschudnowskaja scheidung über das Denkmal auf einer demokratischen Basis zu treffen, und sie begannen eine breite öffentliche Kampagne und Unterschriftensammlungen. Innerhalb weniger Monate unterschrieben landesweit etwa 50 000 Menschen. Diese Liste wurde bei der XIX. Parteikonferenz der KPdSU (1988) eingereicht, und diese verabschiedete in der Tat eine Resolution über die Errichtung eines Denkmals für die Opfer der stalinistischen Repressionen.¹⁴ In seinen Erinnerungen erwähnte Sacharow, dass die Memorial-Initiative von Anfang an mehrere Ziele verfolgte und nicht ausschließlich dem Denkmal (wenngleich einem wichtigen und symbolisch bedeutsamen Ziel) gewidmet war. Zu den selbst formulierten Aufgaben gehörte z.B. auch, „den noch lebenden Repressionsopfern juristische und moralische Hilfe zu leisten“.¹⁵ Bemerkenswert ist aber eine bestimmte Entwicklung im Selbstbewusstsein und bei den Zielen der Aktivisten der damals jungen Bewegung: Ging es ihnen zunächst um die Durchsetzung bzw. Vollendung einer staatlichen Initiative zum Andenken an die Opfer des Staatsterrors unter Stalin, artikulierten sich 1988 und 1989 zunehmend Zweifel an der Richtigkeit des so eng aufgefassten Zieles. Diese Zweifel gingen mit grundsätzlichen machtkritischen Fragen einher: „Ist es überhaupt die Sache der Staatsmacht, jenen ein Denkmal zu errichten, die sie selbst ja umgebracht hat? Und ist diese Staatsmacht tatsächlich soweit anders geworden, dass dieses Denkmal keine Verhöhnung des Gedenkens an die Opfer wird?“¹⁶ Es etablierte sich zunehmend die Vorstellung, dass die Vergangenheit und das private wie öffentliche Erinnern keineswegs jenem Staat anzuvertrauen sind, der die Geschichte, ihre Namen und Fakten, über Jahrzehnte hinweg systematisch zu manipulieren oder zu leugnen wusste. Es setzte sich somit ein Bewusstsein für die eigene – (zivil)gesellschaftliche – Verantwortung für die Geschichte durch: Als wir die Unterschriften [für das Denkmal] sammelten, wurde uns klar, dass unser Land und seine Geschichte nicht der Regierung gehören, sondern uns, den Bürgern, somit sind wir diejenigen, die eine Verantwortung für die Geschichte und das Land zu tragen haben. [. . . ] Die Hauptaufgabe von der zukünftigen Gesellschaft „Memorial“ soll nicht das Denkmal, sondern das Erinnern an sich werden.¹⁷

Gleichzeitig mit diesem neuen Selbstverständnis von Memorial kam es auch zur Konstituierung als Institution, und die anfängliche spontane Bürgerbewegung nahm organisatorische Gestalt an.

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„Aus der Geschichte von ‚Memorial“‘. Andrej Sacharow: Mein Leben. München/Zürich 1991, S. 793. „Aus der Geschichte von ‚Memorial‘“. Ebd.

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Die historische Wahrheit und das Andenken an die Opfer Memorial ist ein Produkt des letzten machtkritischen Diskurses in der Sowjetunion, dessen Leitmotiv es war, die kommunistische „Diktatur der Lüge“ zu entlarven und die historische Wahrheit wie auch die – wie es damals hieß – „historische Gerechtigkeit“ wiederherzustellen. Das Denkmal für die Opfer der politischen Repressionen sollte lediglich eine symbolische Vollendung dieses grundlegenden politischen Umgestaltungsprozesses werden. Diese korrigierten Zielvorstellungen der ersten Memorial-Aktivisten korrespondierten durchaus mit der geistigen Atmosphäre von Glasnost: Die Geschichte der KPdSU, ihr Machtanspruch und ihre Legitimationsbasis gerieten zunehmend ins Visier der öffentlichen Kritik – auch und gerade wegen des systematischen Missachtens und Verschweigens der Wahrheit vor der eigenen Bevölkerung. Entscheidend für die Arbeit von Memorial wurde nun die Überzeugung, dass das Gedenken an die Opfer nicht möglich ist, solange die historische Wahrheit unbekannt bleibt. In den 1980er Jahren wussten die Sowjetbürger nur wenig über die wahre Geschichte ihres eigenen Landes. Nicht einmal die ungefähre Zahl der Opfer des Staatsterrors – geschweige denn alle ihre Namen und genauen Angaben zum erlittenen Schicksal im Gulag (so wenigstens zu Datum und Ort des Todes) – waren auch nur den Angehörigen bekannt. Mit dem Ziel, der Opfer gedenken zu können, entschied sich Memorial für eine umfassende und akribisch genaue historische Forschung. Heute lässt sich sagen, dass gerade diese unermüdliche Arbeit in Archiven und mit Zeitzeugen, das Ausfindigmachen von Quellen und Spuren, d.h. der Arbeitsalltag von Memorial, im abgelaufenen Vierteljahrhundert viel mehr für das Gedenken an die Opfer bedeutete als die wenigen, der Bevölkerung kaum bekannten und für sie auch kaum relevanten Denkmäler, die in dieser Zeit tatsächlich errichtet worden sind. Darüber hinaus blieb Memorial bis heute die einzige Institution in Russland, in der umfassend und systematisch mit Methoden der historischen Wissenschaft sowie der Sozialwissenschaften die Geschichte der politischen Repressionen in der Sowjetunion erforscht wird. Aus einer spontanen Bewegung engagierter Aktivisten ist längst eine solide und einzigartige Experteninstitution geworden, die ihr Wissen jedem Interessenten gern zur Verfügung stellt. Bei den in der Satzung von Memorial genannten Zielen und Aufgaben ist auch die „Teilnahme an der Wiederherstellung der historischen Wahrheit und die Verewigung des Andenkens an die Opfer der politischen Repressionen in den tota-

144 | Anna Schor-Tschudnowskaja litären Regimen“ explizit angegeben.¹⁸ Das übergeordnete Ziel, ein Denkmal zu errichten bzw. ein Gedenkort zu werden, veranlasste Memorial zunächst, alle Opfer, denen Andenken gebührt, aus der Vergessenheit zu holen. Und so verfolgt die Organisation seit ihrer Gründung das ambitionierte Ziel, jedes Opfer namentlich zu kennen, jedes ausfindig gemachte Datum und jedes Faktum biografisch zuordnen zu können, also die Geschichte des Gulag und seiner Opfer so detailliert wie nur möglich – namentlich – zu rekonstruieren. Zu den Ergebnissen dieser Tätigkeit zählt unter anderem die Datenbank „Opfer des politischen Terrors in der UdSSR“, an der seit vielen Jahren gearbeitet und die kontinuierlich mit neuen Namen und Daten ergänzt wird (heute enthält sie Angaben zu ca. 2,7 Mio. Opfern, verschiedenen Schätzungen zufolge sind das zwischen 5 und 30 Prozent aller Opfer der politischen Repressionen unter Stalin).¹⁹ Auf einer 2004 veröffentlichten CD-ROM enthält die Datenbank neben einem Suchprogramm, mit dessen Hilfe man zumindest einige Eckdaten der GulagSchicksale rekonstruieren kann, weitere Materialien zur Geschichte des „Großen Terrors“, so zur Geschichte von Gefängnissen und Lagern, zu Zwangsdeportationen in der UdSSR, zur Geschichte der sowjetischen Staatssicherheitsorgane, zur Repressionen bestimmter ethnischer und sozialer Gruppen (z.B. von Deutschen oder Gläubigen), zur Geschichte der so genannten Andersdenkenden (bzw. der Dissidenten) in der UdSSR (1956–1985) und Memoiren einiger Zeitzeugen. Seit 2007 führt Memorial jedes Jahr am 29. Oktober, also einen Tag vor dem offiziellen Tag der Erinnerung an die Opfer politischer Verfolgung, die Aktion „Rückkehr der Namen“ durch. Sie findet jedes Jahr am selben Ort statt, und zwar am Mahnmal am Platz vor dem berüchtigten Lubjanka-Gefängnis im Zentrum Moskaus. Als Mahnmal dient dort ein Felsbrocken, der von den Solowetzker Inseln, wo seit Anfang der 1920er Jahre das erste Lager des späteren Gulag-Systems bestanden hatte, nach Moskau gebracht wurde. An der Aktion nehmen jährlich einige Dutzend Menschen teil. Sie treten der Reihe nach an das Mikrofon neben dem Solowetzker Felsbrocken und lesen einige Namen (sowie Alter und Beruf) aus einer Liste von Menschen vor, die in Moskau 1937–1938 politischen Verfolgungen zum Opfer fielen. Die Aktion dauert den ganzen Tag an. Über 3 000 Namen können in dieser Zeit vorgelesen werden − und das sind lange nicht alle Opfer in Moskau.

18 „Ustav meždunarodnoj obščestvennoj organizacii ‚Meždunarodnoe, istoriko-prosvetitel’skoe, blagotvoritel’noe’ i pravozaščitnoe obščestvo ‚Memorial‘ “ [Satzung der internationalen öffentlichen Organisation „Internationale, historisch-aufklärerische, wohltätige Menschenrechtsorganisation „Memorial“], unter: http://www.memo.ru/uploads/files/629.pdf. Übersetzung aus dem Russischen von der Autorin. 19 http://lists.memo.ru/.

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Fragen nach den Tätern ausweichen? Liest man weiter in der Satzung von Memorial, erfährt man, dass sie sich „an der Wiederherstellung der historischen Wahrheit über die Verbrechen totalitärer Regime gegen die Menschlichkeit“ beteiligt.²⁰ Diese Tätigkeit scheint allerdings anders konzipiert zu werden als das Gedenken an die Opfer. Sind im ersten Fall gerade die Namen so wichtig und wird angestrebt, möglichst viele Opfernamen zu identifizieren und zu veröffentlichen, wird bei der Täterforschung mit den Namen sehr vorsichtig und sparsam umgegangen. Die Wahrheit über die staatlichen Verbrechen auf der Täterseite erweist sich als viel komplexer und schwerer zugänglich als das Auffinden von Opfern und ihrer Schicksale. Bei der Wiederherstellung dieser Wahrheit hält sich Memorial gerade mit der Bekanntgabe bzw. Veröffentlichung von Namen sehr zurück. So heißt die erwähnte CD-ROM zwar „Opfer des politischen Terrors“ (Hervorhebung A. S.-T.) und ist in erster Linie für die Angehörigen gedacht, die endlich einige Fakten zum Schicksal ihrer Familienmitglieder wissen wollen; sie enthält jedoch zugleich zahlreiche Namen von und Angaben zu Personen, die am Funktionieren des Gulag beteiligt waren − angefangen bei den hochrangigen Funktionären der sowjetischen Führung, die eigenhändig ganze Namenslisten mit ihrer Unterschrift zur Erschießung verurteilten, bis zu Lagerkommandanten und einfachen Lagermitarbeitern. Doch weder im Titel der Datenbank noch in der Anleitung wird auf diese Daten explizit hingewiesen; sie werden von der Suchfunktion der CD-ROM nicht erfasst und sind eher zufällig, durch das aufmerksame Studium der Dokumente der Datenbank zu finden. Mit anderen Worten: diese namentlichen Angaben zum Gulag werden zwar veröffentlicht, doch stellt man sie zum einen bewusst nicht in den Fokus der Betrachtung, und zum anderen werden sie nicht dazu benutzt, einen öffentlichen Diskurs über die Gulag-Täter und -Verantwortlichen zu initiieren. Gleichwohl steht in der Satzung der internationalen Gesellschaft „Memorial“ auch, dass sie „die Information über die Verbrechen und massenhaften Menschenrechtsverletzungen, die von den totalitären Regimen in der Vergangenheit begangen worden sind und direkte oder indirekte Folgen für die Gegenwart haben, herausfindet, veröffentlich und kritisch überdenkt“.²¹

20 „Ustav meždunarodnoj obščestvennoj organizacii“. Übersetzung aus dem Russischen von der Autorin. 21 Ebd.

146 | Anna Schor-Tschudnowskaja Der Umgang mit der Täter-Seite der Gulag-Geschichte fußt zwar auf einer in einem langen Prozess erarbeiteten Position, ist aber von ambivalentem Charakter. Offensichtlich fiel es Memorial nicht leicht, in dieser Frage überhaupt eine Position zu beziehen. Man gewinnt allerdings den Eindruck, dass die hauptsächliche Fokussierung auf die Opfer nicht zufällig ist und mit einer spezifischen Deutung der Schuldfrage einhergeht. In manchen offiziellen Stellungnahmen Memorials wird diese Deutung mehr oder weniger klar zum Ausdruck gebracht. So heißt es in dem programmatischen Aufruf „Über die ‚nationalen Vergangenheitsbilder‘ (Das 20. Jahrhundert und der ‚Krieg der Erinnerungen‘)“ im März 2008: Wir sind überzeugt: für eine ernsthafte Aufarbeitung der Vergangenheit, für die Suche nach einem Ausweg aus den Sackgassen der historischen Widersprüche ist eben nicht die Suche nach Schuldigen zentral, sondern eine bürgerliche Verantwortung, die jeder freiwillig auf sich nimmt, der sich als Mitglied einer historisch entstandenen Gemeinschaft für die Taten, die im Namen dieser Gemeinschaft begannen wurden, verantwortlich fühlt.²²

Es sei hier nur kurz angemerkt, dass in diesem Zusammenhang das Konzept der „bürgerlichen Verantwortung“ in den Texten von Memorial häufig Verwendung findet. Allerdings wird nicht wirklich konkret erläutert, was darunter im Falle der Aufarbeitung der totalitären Vergangenheit zu verstehen ist. So beantwortet Arsenij Roginskij, Vorsitzender des Vorstandes der internationalen Gesellschaft Memorial, in einem Interview für die Neue Zürcher Zeitung die Frage „Soll sich Russland für das Verbrechen von Katyn bei den Polen entschuldigen?“ wie folgt: Das Wort „sich entschuldigen“ enthält die Wurzel „Schuld“. Ich denke nicht, dass das deutsche Konzept der Kollektivschuld richtig ist. Auch individuelle Reue ist ein religiöser Akt und gehört nicht hierher. Wir sollten nicht Schuldgefühle empfinden, sondern unsere staatsbürgerliche Verantwortung wahrnehmen – jeder einzeln und alle gemeinsam.²³

Diese Antwort wie auch viele weitere ähnliche Passagen aus Memorial-Stellungnahmen zeugen von einem spezifischen Verständnis der Mechanismen der Vergangenheitsbewältigung und den notwendigen Voraussetzungen dafür, die Memorial im Kontext des postsowjetischen Russlands für angebracht sieht: Für

22 „O ‚nacional’nych obrazach prošlogo‘. (XX vek i ‚vojna pamjatej‘)“ [Über die ‚nationalen Vergangenheitsbilder‘ (Das 20. Jahrhundert und der ‚Krieg der Erinnerungen‘)], in: „Novaja gazeta“, 21, vom 27. März 2008, unter: http://old.novayagazeta.ru/data/2008/21/18.html. Übersetzung aus dem Russischen von der Autorin. 23 „Die Russen müssen das Böse reflektieren“, in: Neue Zürcher Zeitung vom 22.04.2010, unter: http://www.nzz.ch/aktuell/feuilleton/uebersicht/die-russen-muessen-das-boese-reflektieren1.5506188.

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die produktive Aufarbeitung der Vergangenheit, so die These, sei gerade nicht die genaue Kenntnis der Täter notwendig bzw. diese sei sogar in gewissem Sinne hinderlich. Es gehe vorrangig um die pauschale Schuld des Staates bzw. der Staatsführung, und das Bekenntnis dieser Schuld wird auch mehr oder weniger konsequent von Memorial eingefordert. In Bezug auf die einfachen Bürger der Sowjetunion wird die Schuldfrage kaum oder gar nicht erhoben, und auch die Haltung der Reue wird nicht wirklich thematisiert. So wie der „sowjetische Staat“ pauschal für schuldig an Terror und Repressionen erklärt wird, so werden die Bürger dieses Staates pauschal als Opfer des totalitären Regimes betrachtet. Dieses Wahrnehmungsmuster bestätigt den zentralen Stellenwert, den das Andenken an die Opfer bei Memorial hat, fördert allerdings die ohnehin in Russland sehr verbreitete Polarisierung „Staat vs. Volk“. In einem 2003 geführten Interview – „Alle namentlich? Lieber nicht“²⁴ – erklärt Roginskij ausführlich die Position von Memorial in der Frage der Täter bzw. der Schuldigen (in diesem Interview geht es vor allem um die Denunziationen und KGB-Informanten) und warum sie besser gerade nicht namentlich veröffentlicht werden sollten. In seiner Begründung bezog sich Roginskij vor allem auf eine sehr unübersichtliche und unsichere Lage bei den Dokumenten und Datenquellen, die es in den meisten Fällen verhindere, genau über die als Täter verdächtigen Personen zu urteilen. Und „ohne eine normale, konsequente und systematische Analyse der Dokumente kann von einer Veröffentlichung keine Rede sein.“²⁵ Zudem sei das, so Roginskij, gar keine Sache von Historikern und Journalisten: „Den Beschluss zu einer jeden solchen Person kann weder ein Historiker noch z.B. ein Journalist fassen. Das kann nur ein Gericht oder eine spezielle bevollmächtigte Staatskommission, aber noch besser ist ein Gericht. Nur Gott weiß, wie es damals war [. . . ] Das war eine Tragödie [. . . ] Man muss sich mit jedem Fall gesondert befassen.“²⁶ Hier wird gut erkennbar, dass Memorial auch eine Menschenrechtsorganisation ist, denn ihr Denken gründet sich gerade in der Frage des Umgangs mit den Tätern auf das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit.²⁷ In ihrem Selbstverständnis

24 „Vsech poimenno? Ne stoit“ [Alle namentlich? Lieber nicht], Interview mit Arsenij Roginskij, 08.03.2003,unter: http://polit.ru/article/2003/03/08/609910/. Übersetzung aus dem Russischen von der Autorin. 25 Ebd. 26 Ebd. 27 „Memorial“ nennt sich zunächst „historisch-aufklärerische Gesellschaft“, doch bereits 1992 kam der Zusatz „Menschenrechts-“ hinzu. Die Erkenntnis, dass Menschenrechtsarbeit notwendig, ja unumgänglich ist, geht nicht nur auf viele während und nach der Perestrojka bzw. im Zusammenhang mit dem Zerfall der Sowjetunion entstandenen ethno-politischer Konflikte, bei

148 | Anna Schor-Tschudnowskaja sind historische und Rechtsfragen untrennbar; zudem versucht Memorial, das öffentliche Bewusstsein Russlands für die Achtung der Menschenrechte zu sensibilisieren.

Die Wahrnehmung der Vergangenheit als Tragödie Es gibt noch einen weiteren Grund, warum die Täterfrage nach Möglichkeit nicht explizit angegangen bzw. sogar bewusst zurückgestellt wird: Die Überwindung des totalitären Traumas und ein neues produktives „Wir-Gefühl“, so Memorial, sei an der gesellschaftlichen Versöhnung und Konsolidierung zu messen, und für die Letzteren sei wiederum das kollektive Mitleid mit den Opfern viel wichtiger als die Frage, wer die (Mit-) Täter waren. Daher verstehen die Memorial-Aktivisten ihre Arbeit auch als Kampf gegen die gesellschaftliche Gleichgültigkeit. In der Tat zeichnet sich die allgemeine Stimmung in der Bevölkerung des gegenwärtigen Russlands durch eine bemerkenswerte Gleichgültigkeit gegenüber dem Thema „sowjetischer Staatsterror“ bzw. „1937“ aus. Weder die inzwischen bekannten Zahlen – die zwar immer ungenau sind, aber zumindest vom Ausmaß der damaligen Repressionen zeugen – noch die vielen inzwischen entstandenen Verfilmungen der Werke bekannter Schriftsteller und Gulag-Insassen wie Warlam Schalamow oder Alexander Solschenizyn noch Dokumentarfilme zum Gulag im Fernsehen oder Aufführungen einschlägiger Theaterstücke hatten zur Folge, dass sich die Stimmungslage in Bezug auf die millionenfachen Opfer staatlicher Willkür in der Sowjetunion änderte. Dieser gesellschaftliche Hintergrund spielt bei der Position von Memorial hinsichtlich der Täterfrage eine wichtige Rolle und dementsprechend rückt die Letztere in den Hintergrund. Memorial lässt seine Aktivisten primär über das kollektive Mitleid mit den Opfern bzw. das Andenken an sie arbeiten. Interessant ist jedoch, wie die Memorial-Mitarbeiter die gesellschaftliche Stimmungslage erklären. Eine der wichtigsten Thesen dabei ist die Vorstellung, dass man in der sowjetischen Geschichte keine klare Grenze ziehen, d.h. zwischen Opfern und Tätern nicht wirklich unterscheiden könne. Das sei, so Memorial, ein Spezifikum der Erinnerungs- und Gedenksituation im postsowjetischen Russland. Roginskij legt die Situation folgendermaßen dar: „Im Unterschied zu den

denen „Memorial“-Mitglieder oft als Menschenrechtler aktiv waren, zurück, sondern auch auf die Erbschaft aus der sowjetischen Dissidentenbewegung, für welche die Menschenrechte und das bürgerliche Rechtsbewusstsein eine zentrale Rolle spielten.

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Nazis, die hauptsächlich ‚Fremde‘ umbrachten – Juden, Polen, Russen –, hat der sowjetische Terror vor allem die ‚eigene‘ Bevölkerung dezimiert.“²⁸ Das sei so schrecklich, dass sich dieser Umstand dem menschlichen Begreifen völlig entziehe. Daraus, so Roginskij, resultiere eine Unfähigkeit, „die Hauptrollen in der Erinnerung an den Terror eindeutig zu verteilen, die Pronomina ‚wir‘ und ‚sie‘ zu verorten und sich vom Bösen abzugrenzen“, was den traumatischen Charakter der nationalen Erinnerung nur verstärke.²⁹ Folglich habe es auch kein „Urteil der Geschichte“ geben können, weil „die Kläger nicht sicher waren, wer eigentlich der Angeklagte war“.³⁰ Hier sind gleich zwei Denkmuster zu unterscheiden. Erstens wird behauptet, dass die Opfer und Täter in der sowjetischen Geschichte „vermengt“ sind (also Täter oftmals später selbst Opfer wurden), so dass das Mitleid mit den Opfern verstumme und die Täterfrage nicht einmal erhoben werden könne. Die Zustände unter Stalin, als man sich gegenseitig denunzierte und an den – gegen wen auch immer („Spione“, „Konterrevolutionäre“, „Kosmopoliten“ etc.) gerichteten – offiziellen Hetzkampagnen beteiligte, traumatisierten die Bevölkerung so stark, so die These von Memorial, dass weder Schrecken vor dem Geschehenen noch Mitleid mit den Opfern zu empfinden seien. Zweitens wird davon ausgegangen, dass für eine produktive Erinnerung und Aufarbeitung der Geschichte eine klare Unterscheidung zwischen „wir“ (gut) und „sie“ (schlecht) absolut notwendig sei. Da das aber in Bezug auf den Gulag nicht möglich sei, findet letzten Endes auch keine Aufarbeitung dieser Geschichte statt. Stattdessen wird in Bezug auf den Gulag häufig von einer Tragödie gesprochen. So gilt auch Memorial als „historisch-aufklärerische Gesellschaft, die [. . . ] die Tragödien der Vergangenheit vor allem als Verletzung der Menschenrechte deutet.“³¹ In der Tat ist die Tragödie per definitionem ein Genre, in dem keine klare Trennung zwischen Bösen und Guten möglich ist, da sozusagen höhere Mächte am Werk sind. Unter solchen Umständen steht die Frage nach der Möglichkeit einer Aufarbeitung einer solchen Geschichte in einem ganz anderen Licht: Wie sollen Menschen kraft ihrer Vernunft geschehene Verbrechen aufarbeiten, wenn sie auf das Walten höherer Mächte zurückgehen? Wie sollen sie die Schuldfrage

28 Arsenij Roginskij: Erinnerung und Freiheit. Der Stalinismus-Diskussion in der UdSSR und Russland, in: Osteuropa, 61 (2011), S. 55–69, hier S. 60. 29 Ebd. 30 Ebd. 31 „20 let obščestvu ‚Memorial‘“ [Die Gesellschaft „Memorial“ wird 20 Jahre alt], unter: http://www.hro.org/node/4370. Übersetzung aus dem Russischen von der Autorin.

150 | Anna Schor-Tschudnowskaja mit rechtlichen und politischen Instrumenten angehen, wenn es unter den Menschen keine wahren Schuldigen gibt? Dazu wieder Roginskij: Im Rahmen der [sowjetischen] Geschichte haben sich keine Kräfte gefunden, die die Funktion des absolut Guten oder absolut Bösen hätten übernehmen können. Das Massenbewusstsein braucht dies jedoch. Um eine historische Tragödie aufzuarbeiten, müssen sich die Menschen mit einer dieser beiden Rollen identifizieren können – am besten natürlich mit dem Guten, aber im schlimmsten Fall, wie es in Deutschland passiert ist, mit dem Bösen – um sich davon zu distanzieren. Die verwischte Grenze zwischen den „Opfern“ und „Tätern“, die für viele Episoden des Sowjetterrors charakteristisch ist, hat nun fatale Folgen. Die Menschen konnten für sich keinen Bezugspunkt finden und kein moralisches Bezugssystem aufbauen, mit dessen Hilfe sie über die Vergangenheit hätten urteilen können.³²

Es sei an dieser Stelle nur kurz angemerkt, dass dieses überaus interessante Erklärungsmuster empirisch noch nicht genügend erforscht bzw. nicht belegt worden ist. Die wenigen existierenden soziologischen Forschungen zum gesellschaftlichen Erinnern im postsowjetischen Russland konnten dieses Deutungsmuster indirekt zunächst nicht bestätigen, waren aber auch nicht darauf ausgerichtet, es zu überprüfen; sie sind von ganz anderen Annahmen und Fragestellungen ausgegangen.³³ Bestätigt wurde allerdings, wie sehr sich das gesellschaftliche Bewusstsein Russlands einer rationalen Betrachtung der sowjetischen Terrorgeschichte entzieht. Zu erwähnen in diesem Zusammenhang ist zumindest noch die These von Olga Sedakowa über ein spezifisch russisches Verhältnis zum Bösen an sich, und zwar die irrationale Neigung, es immer zu verzeihen bzw. vom Guten nicht differenzieren zu wollen und daher Fragen nach Schuld oder Verantwortung zu verwischen.³⁴ Es wurden darüber hinaus einige Hypothesen zum historischen Bewusstsein der russischen Kultur postuliert, wonach die russische Kultur eine sakrale, metaphysische Wahrnehmung der Geschichte vornehme: Die Geschichte sei demnach nicht das Resultat menschlichen Handelns, sondern das Werk höherer Mächte; und „eine Wiederholung der Tragödien der Vergangenheit“ sei somit

32 Arsenij Roginskij: Pamjat’ i svoboda ili kak mnogo prošlogo suščestvuet w Rossii [Erinnern und Freiheit oder wie viel Vergangenheit gibt es in Russland], unter: http://www.1917-1991.org/ m/veroffentlichungen/erinnerung-und-freiheit/?lang=u. Übersetzung aus dem Russischen von der Autorin. 33 Vgl. z.B. Lev Gudkov: Derealizacija prošlogo: funkcii stalinskogo mifa [Derealisierung der Vergangenheit: Funktionen des Mythos über Stalin], in: Pro et Contra Nov-Dez (2012), S. 108–135.; Boris Dubin: Simvoly vozvrata vmesto simvolov peremen [Symbole der Rückkehr statt Symbole der Veränderungen], in: Pro et Contra Sep-Okt (2011), S. 6–21. 34 S. Ol’ga Sedakova: Net chuda bez dobra [Es gibt keine Böse oder das Gute], in: Znamja 7 (2009),unter: http://magazines.russ.ru/znamja/2009/7/se17-pr.html.

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vorbestimmt.³⁵ In einer derart imaginierten Geschichte kann es folglich nur Opfer und keine Täter geben, was die produktive Aufarbeitung der Verbrechen in der Vergangenheit so gut wie unmöglich macht. Die angesprochenen Deutungsmuster sind empirisch noch schlecht erforscht, aber für den Umgang mit der Geschichte in Russland offensichtlich von maßgebender Bedeutung. Auch in diesem Fall leisten die Memorial-Mitarbeiter Pionierarbeit, indem sie Thesen entwickeln, die der empirischen Sozialforschung zum gesellschaftlichen Erinnern in Russland wertvolle Dienste erweisen.

Der versuchte Zugang zur Geschichte über die konkrete Erfahrung Eine Tragödie ist der rationalen Bewältigung nicht zugänglich – im Unterschied zu konkreten Erfahrungen konkreter Menschen. Und so versucht Memorial, der mythischen und metaphysischen Wahrnehmung der Geschichte dadurch entgegenzuwirken, dass sie der individuellen menschlichen Erfahrung einen hohen, wenn nicht zentralen Stellenwert zuweist. Exemplarisch für diesen Versuch der Annäherung an die konkrete Erfahrung der Gulag-Opfer sollen hier das Projekt Virtuelles Gulagmuseum und der Schülergeschichtswettbewerb kurz vorgestellt werden. Das Internetprojekt Virtuelles Gulag-Museum³⁶ wurde 2003 vom St. Petersburger Memorial (NIZ) ins Leben gerufen. Die Datensammlung umfasst materielle Zeugnisse der Gulag-Epoche, die im ganzen Land in unterschiedlichen privaten und öffentlichen Museen, aber auch an historischen Orten noch vorhanden, oft aber gar nicht erfasst sind. Das Projekt setzt sich das Ziel der (virtuellen) Dokumentation der langsam verschwindenden materiellen Spuren und Zeugnisse des sowjetischen Staatsterrors; manche der dokumentierten Gegenstände sind erst in den letzten Jahren (durch Unfälle wie Wasserrohrbrüche oder bewusste Zerstörungen) in den Beständen der erfassten Museen verloren gegangen. Sie bleiben aber dank der zuvor geleisteten Arbeit von Memorial wenigstens als digitale Dar-

35 Dmitrij Gorin: Po tu storonu „principa istorii“. Ob odnoj osobennosti istoričeskogo samosoznanija. [Jenseits des „Geschichtsprinzips“. Über eine Besonderheit des historischen Bewusstseins“], in: Neprikosnovennyj zapas 6/68 (2009), S. 123–132, hier S. 132. 36 www.gulagmuseum.org. Mehr zum Projekt s.: Anna Schor-Tschudnowskaja: Das virtuelle Gulag-Museum. Ein Projekt des wissenschaftlichen Informationszentrums ‚Memorial‘ (St.-Petersburg), in: Renato Cristin (Hrsg.), Memento Gulag. Zum Gedenken an die Opfer totalitärer Regime. Berlin 2006, S. 77–90.

152 | Anna Schor-Tschudnowskaja stellungen erhalten. Insgesamt wurden bereits mehr als 300 Museen und Orte und mehr als 10 000 Objekte erfasst, und es werden ständig neue hinzugefügt. Im Fokus der Darstellung stehen dabei nicht Worte (Erinnerungen, Tagebücher oder Briefe), sondern Bilder, denn die Autoren des Projekts gehen davon aus, dass das Nachempfinden der Erfahrung staatlicher Gewalt besser durch Bilder denn durch Text geschieht. Worte, so die dahinter stehende These, können die Erfahrung des unfassbaren Bösen nur unzureichend vermitteln. Der Schrecken der Vernichtung des menschlichen Lebens bzw. der massiven Verletzung der menschlichen Würde sei durch Bilder von einfachen Alltagsgegenständen der Häftlinge, von Pritschen, verbeultem Aluminiumgeschirr und zerrissener, jahrelang ohne Unterbrechung getragener Kleidung, den Lagerzeitungen oder aus getrocknetem Brot selbst gekneteten Schachfiguren wenigstens ansatzweise vermittelbar. Die gesammelten Gegenstände bringen aber auch – und dies sei nicht minder wichtig − die Erfahrung des Widerstandes und der Ungebrochenheit des Menschen zum Ausdruck. Dies trifft vor allem auf zahlreiche künstlerische Arbeiten aus den Lagern (Malerei, Zeichnungen, Strickereien, Gravuren etc.) zu. Eine der selbstgestellten Aufgaben der Autoren des Projekts ist aber, diesen Gegenständen doch noch ‚das Sprechen beizubringen‘ bzw. adäquate Worte für sie zu finden. Der Schülerwettbewerb Der Mensch in der Geschichte. Russland im 20. Jahrhundert findet seit 1999 statt und richtet sich nicht nur an Schüler, sondern auch an Lehrer, da diese die Wettbewerbsarbeiten betreuen sollen.³⁷ Die Schüler werden eingeladen, sich mit Regional- und Familiengeschichte näher zu befassen, Biographien zu rekonstruieren, unbekannten historischen Ereignissen und Fakten nachzugehen und vor allem die historische Erfahrung konkreter Menschen nachzuempfinden. Das Ziel des Wettbewerbs ist es also unter anderem, das private historische (Familien-) Gedächtnis sowie den Dialog zwischen den Generationen zu fördern. In der Jury des Wettbewerbs sitzen bekannte russländische Schriftsteller und Wissenschaftler. Entstanden sind inzwischen über 30 000 Arbeiten; die besten von ihnen wurden in mehreren Sammelbänden des Wettbewerbs veröffentlicht.

37 Online-Adresse des Wettbewerbs: http://www.memo.ru/d/18.html.

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„Eine Strategie der kritischen Kooperation mit der Staatsmacht“?³⁸ Wie bereits erwähnt, unterscheidet Memorial zwischen konkreten Aufgaben, Zielen und einer Mission. Letztere ist der Versuch einer „Aufarbeitung der historischen Erfahrung des 20. Jahrhunderts, der Etablierung im gesellschaftlichen Bewusstsein wie auch im Handeln der Staatsführung von bestimmten Werten wie des menschlichen Lebens, der Freiheit, der Demokratie und des Rechts sowie das Anstoßen ziviler Aktivitäten der Bevölkerung [. . . ]“.³⁹ Diese anspruchsvolle Mission, bedenkt man die gegenwärtige Situation in Russland, zielt mindestens auf eine kleine Revolution ab. Memorial ist sich dieses gewaltigen Gegensatzes zwischen dem Ist- und dem Soll-Zustand bewusst: Allerdings erlitt „Memorial“ ungeachtet sichtbarer Erfolge und Leistungen zusammen mit der gesamten russländischen Gesellschaft im wichtigsten Punkt eine Niederlage – denn Russland ist in den letzten Jahren den Idealen der Demokratie, des Rechts, der Freiheit nicht nur nicht näher gerückt, sondern es begann eine offensichtliche Bewegung zurück – sogar bis auf ein Niveau, wo es zu Beginn der 1990er Jahre schon war.⁴⁰

Bei der zitierten Mission fällt allerdings auf, dass die aufklärerische Arbeit von Memorial bei weitem nicht nur die Bevölkerung, sondern auch die Staatsführung bzw. die (höheren) Staatsbeamten als Adressaten hat. Dies ist umso bemerkenswerter, wenn man bedenkt, dass die durchaus unsicheren rechtlichen wie politischen Bedingungen, unter denen Memorial arbeitet, den Spielraum erheblich einengen. Und dennoch arbeitet Memorial immer wieder mit der politischen Führung des Landes zusammen – und versucht, auf sie einzuwirken. So ist dabei nicht nur an die erwähnte Petition an die XIX. Parteikonferenz 1988 zu denken, sondern auch an die viele Jahre dauernde Arbeit an der Datenbank „Opfer des politischen Terrors in der UdSSR“. 2002 konnte die zweite Auflage dieser Datenbank (damals noch mit lediglich 640 000 Namen) nur dank einer engen Zusammenarbeit mit der so genannten Rehabilitierungskommission beim Präsidenten Russlands (also Wladimir Putin) durchgeführt werden. Die selbst gestellten Aufgaben erlauben es somit nicht, in einer Fundamentalopposition zum jetzigen autoritären Regime zu verharren. Memorial geht es dabei

38 Susanne Lang/Alexandra Härtel/Michael Bürsch: Zivilgesellschaft und bürgerschaftliches Engagement in Russland. Eine Studie der Friedrich Ebert Stiftung. Berlin 2010, S. 21. 39 „‚Memorial‘ segodnja. Missija i celi“. 40 Ebd.

154 | Anna Schor-Tschudnowskaja wie vielen anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen auch, die „unter Bedingungen einer schwachen Legislative und eines schwierigen Rechtssystems in eine Situation struktureller Selbstüberforderung“ geraten.⁴¹ Auch die eigene moralische Überlegenheit gegenüber dem politischen System schließlich hilft zwar gelegentlich bei Kampagnen, sagt aber wenig aus über die eigene Leistungsfähigkeit bei der Lösung gesellschaftlicher Aufgaben. [. . . ] Nicht zuletzt bietet eine „Oppositionsstrategie“ nur geringe Chancen, die eigenen Vorstellungen gegen Parlament und Regierung durchzusetzen, zumal im Rahmen mangelnder öffentlicher Unterstützung. Dazu bedarf es des Zugangs zu staatlichen Entscheidungsträgern. In diesem Sinne ist während der letzten Jahre kontinuierlich die Einsicht gewachsen, dass eine Strategie der kritischen Kooperation mit der Staatsmacht möglicherweise weiter führt als eine radikale Oppositionsstrategie.⁴²

Diese Position „dazwischen“, in der man einerseits das Selbstbewusstsein einer autonomen Zivilgesellschaft haben möchte, sich aber andererseits nur die Strategie einer „sanften Kritik“ erlauben kann (weil sonst die eigene Arbeit bzw. die eigene Existenz gefährdet wäre), stellt eine ernstzunehmende Herausforderung dar und ist immer wieder Gegenstand interner Debatten bei Memorial. Gerade in dieser Frage divergieren die Positionen von unterschiedlichen Memorial-Büros bzw. einzelner Mitarbeiter sehr stark. So schrieb im Juli 2011 Sergej Kowaljow, bekannter sowjetischer Dissident und Vorsitzender von Memorial Russland, zur Position der „sanften Kritik“: „Es kann nur von einer Absage an das gegenwärtige Regime die Rede sein. Die Zivilgesellschaft muss endlich begreifen, dass sie sich notwendigerweise in einem scharfen Konflikt mit den Machthabern befinden muss.“⁴³ Seit seiner Gründung oszilliert Memorial zwischen einerseits völligem Misstrauen den Machthabern gegenüber und andererseits Versuchen, mit ihnen z.B. bei historischen Recherchen und einigen öffentlichen Kampagnen zu kooperieren und sie von der Wichtigkeit der eigenen Arbeit zu überzeugen. In diesem Sinne hat Memorial schon immer eine politische Rolle gespielt, denn diese Organisation befindet sich in einem ständigen – wenn auch oft konfliktreichen, erniedrigenden und hoffnungslosen – Dialog mit dem Kreml. Das Paradoxe an der Situation von Memorial ist allerdings, dass diese zivilgesellschaftliche Initiative nicht das Ziel hat, die staatliche Macht in Russland herauszufordern. Memorial positioniert sich klar und deutlich als eine nichtpolitische Organisation. Dabei ist eine der wichtigsten Voraussetzungen einer wahren

41 Lang et al., Zivilgesellschaft und bürgerschaftliches Engagement, S. 21. 42 Ebd. 43 Sergej Kovalev: Vybor meždu šilom i mylom“ [Die Wahl zwischen Pest und Cholera], grani.ru vom 19.07.2011, unter: http://grani.ru/blogs/free/entries/190067.html.

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Vergangenheitsbewältigung überhaupt der grundlegende Wechsel der Machtverhältnisse. Und so versucht Memorial die Ideen und Prinzipien der Vergangenheitsbewältigung einer Machtelite anzubieten, deren Denken und Überzeugungen vieles mit der sowjetischen Nomenklatura gemein haben und die sich auf eine Reflexion über sowjetische wie auch gegenwärtige Machtverhältnisse nicht einlassen will. Die Überzeugungsarbeit, die Memorial in seiner von den Verhältnissen erzwungenen Kooperation mit der staatlichen Führung leistet, ist der Versuch, eine machtkritische Reflexion zumindest ansatzweise und indirekt zu bewirken. Dieses (nirgendwo offen formulierte) Ziel ist mehr als ambitioniert und so gut wie zum Scheitern verurteilt. Zumal, so NIZ-Direktorin Irina Flige (St. Petersburg), „das Erinnern an den sowjetischen Staatsterror kaum eigentlich als Erinnern zu bezeichnen [sei], denn der Staatsterror als Phänomen wurde in Russland keine Angelegenheit der Vergangenheit, er stellt unsere aktuelle Gegenwart dar“.⁴⁴ Auch deswegen ist es angebracht, von einer strukturellen Überforderung von Memorial zu sprechen.

Ausblick Memorial trifft auf doppelten Widerstand – sowohl die offizielle politische Führung als auch ein großer Teil der Bevölkerung Russlands heißen ihre Arbeit nicht wirklich willkommen. Immer wieder wird der Organisation vorgeworfen, nicht nur regimefeindlich, sondern auch „russlandfeindlich“ zu sein; sie vertrete „fremde“ („westliche“) Werte und Ansichten. In diesem Deutungsrahmen wird auch die historische Arbeit von Memorial wahrgenommen: sie schade durch das Rekonstruieren zahlreicher staatlicher Verbrechen dem Image Russlands. Dieser seit Jahren immer wieder erhobene Vorwurf mündete 2013 in die direkte und offizielle Beschuldigung des Menschenrechtsbüros des Moskauer Memorials, ein „ausländischer Agent“ zu sein, der gar nicht Russlands Interessen, sondern die „ausländischer Sponsoren“ vertritt. Vor diesem Hintergrund bewertet Memorial nüchtern den Erfolg der eigenen Tätigkeit. Es ist eindeutig, dass „wir in einer

44 Äußerung in dem Dokumentarfilm von Anna Jermolaewa: „Methods of Social Resistance on Russian Examples“, 2012, unter: www.jermolaewa.com/works/video/methoden.html. Vgl. dazu auch Irina Flige: „Posle zakona o reabilitacii: transformacija obščestvennogo soznanija“ [Nach dem Rehabilitierungsgesetz: Zur Transformation des gesellschaftlichen Bewusstseins], in: Mir posle Gulaga: reabilitacija i kul’tura pamjati [Die Welt nach dem Gulag: Die Rehabilitierung und die Erinnerungskultur]. St. Petersburg 2004, S. 55–61.

156 | Anna Schor-Tschudnowskaja Welt der nicht gezogenen Schlussfolgerungen [leben], nicht nur in Bezug auf den Terror, sondern auf die sowjetische Vergangenheit insgesamt“.⁴⁵ Über die Erinnerung an den Stalinismus lässt sich sagen, dass sie ein bestimmtes Terrain im öffentlichen Raum bewahrt [hat]. Welcher Art ist dieses Terrain? Es ist die Peripherie. Zum einen die thematische Peripherie. . . [. . . ] Daneben geht es aber auch um die geographische Peripherie: Die Erinnerung an den Terror ist in der Provinz sehr viel tiefer verwurzelt als in den Hauptstädten. (Dies gilt natürlich in erster Linie für jene Gegenden, wo es viele Lager gab und die Verbannten lebten. . . ) Und schließlich geht es um die Peripherie der Öffentlichkeit: Zwar stehen in vielen Städten des Landes Denkmäler für die Opfer des Terrors, doch fast überall nicht im Zentrum, sondern am Stadtrand, meist auf Friedhöfen.⁴⁶

Angesichts dieser bescheidenen Bilanz wird überlegt, so Elena Zhemkowa, Vorstandsmitglied der internationalen Gesellschaft Memorial: „Vielleicht haben wir nicht gut genug gearbeitet, um die Mehrheit zu überzeugen. Vielleicht hatten wir auch zu wenig Zeit.“⁴⁷ Die bescheidene Bilanz der eigenen – zweifelsohne großartigen – Arbeit legt aber nahe, sich zunehmend mit den politischen Voraussetzungen der gesetzten Ziele auseinanderzusetzen. 2007, als sich der „große Terror“ zum 70. Mal jährte, veröffentlichte Memorial die programmatischen Thesen „Das Jahr 1937 und die Gegenwart“.⁴⁸ Sie stellen einen bemerkenswerten Versuch dar, politischen Kontinuitäten zwischen 1937 und 2007 aufzuzeigen; schon die Fragestellung an sich war politisch hoch brisant und ein gewagter analytischer Schritt. Laut Scherbakowa wurde dieser Text „in tiefer Besorgnis um die gesellschaftliche Entwicklung in Russland“ verfasst.⁴⁹ In diesem Dokument unternahm „Memorial“ den Versuch, nicht nur an die verschiedensten Opfer der Stalinzeit zu erinnern, sondern auch über die damalige politische Kultur, das Wesen der Machtverhältnisse selbst und die Willkür der staatlichen Gewalt zu reflektieren. Darüber hinaus wurde sehr vorsichtig – jedes Wort scheint auf einer Goldwaage abgewogen worden zu sein – über die Bedeutung der damaligen exzessiven staatlichen Gewalt für die heutige Situation in Russland nachgedacht. Die Autoren sprachen vom Erbe der Stalinschen Repressionen, das die heutige Bevölkerung Russlands betreffe. So wurden unter den 45 Arsenij Roginskij, Erinnerung und Freiheit, S. 66. 46 Ebd. 47 Žemkowa bei einem öffentlichen Auftritt in Berlin, Beobachtung der Autorin. 48 Das russische Original ist unter http://www.memo.ru/history/y1937/y1937.htm zu finden. Die deutsche Übersetzung wurde im gleichen Jahr in Russlandanalysen 133/07 veröffentlicht. 49 Irina Scherbakowa: Das Jahr 1937 und die Gegenwart. Zu den Thesen von „Memorial“, in: Russlandanalysen 133/07 (2007), S. 5–6, hier S. 6, unter: http://www.laender-analysen.de/russland/pdf/Russlandanalysen133.pdf.

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langfristigen Folgen des staatlichen Terrors „die endgültige Entwertung des Wertes des menschlichen Lebens und der Freiheit“⁵⁰ genannt. Allerdings wurde nicht weiter ausgeführt, welche Relevanz diese Endgültigkeit heute haben könnte. An der folgenden Stelle wird am deutlichsten Bezug auf die heutige politische Situation in Russland genommen: Natürlich wirkt sich das Erbe des Großen Terrors heute nicht in Massenverhaftungen aus und wird dies auch schwerlich tun – wir leben in einer ganz anderen Epoche. Aber dieses Erbe, dessen sich die Gesellschaft nicht bewusst wird und das sie somit auch nicht überwindet, kann leicht eine „Leiche im Keller“ werden, zum Fluch heutiger und künftiger Generationen, der mitunter in staatlichem Größenwahn, dann wiederum in Anfällen von Spionomanie sowie in Rückfällen in repressive Politik zum Ausbruch kommt.⁵¹

Putins Russland lebt also in einer ganz anderen Epoche, und eine Wiederholung des staatlichen Terrors stalinistischen Ausmaßes sei nicht mehr möglich. Die systematischen Ähnlichkeiten bzw. eine gewisse Kontinuität in den Deutungsmustern der Macht und dem Stellenwert der staatlichen Gewalt damals und heute werden in dem Dokument kaum in Erwägung gezogen. Es fehlt auch eine Erkenntnis der zentralen Bedeutung der präventiven Logik, die einer jeden Vergangenheitsbewältigung notwendigerweise zu Grunde liegt. Präventive Logik bedeutet, dass selbst die leisesten Anzeichen der Machtverhältnisse und der gesellschaftlichen Deutungsmuster der Macht bzw. der politischen Kultur, die die totalitäre Katastrophe in der Vergangenheit einmal möglich machten, in der Gegenwart sensibel zu erkennen bzw. systematisch präventiv zu vermeiden sind. Auch deswegen ist die historische Aufklärung eine politische Arbeit, denn sie bedeutet immer auch Aufklärung über das Wesen der Machtverhältnisse – in der Vergangenheit wie in der Gegenwart. Selbst wenn die präventive Logik als Voraussetzung der Vergangenheitsbewältigung 2007 Memorial bewusst war, wird der Zusammenhang zwischen damals und heute nur sehr vorsichtig hergestellt. Im Juli 2013 meinte Sergej Kriwenko, Vorstandsmitglied von Memorial, in einem Interview mit aller Deutlichkeit: „Die ursprünglichen Methoden der Stalinschen Repressionen sind nicht verschwunden“.⁵² Er ging mehrmals auf die Notwendigkeit präventiver Maßnahmen ein. Die primäre Bedingung dafür sah er in der „politisch-rechtlichen

50 „Das Jahr 1937 und die Gegenwart. Thesen von ‚Memorial“‘, in: Russlandanalysen 133/07 (2007), S. 6–11, hier S. 7, unter: http://www.laender-analysen.de/russland/pdf/Russlandanalysen133.pdf. 51 Ebd., S. 8. 52 „Ischodnye metody stalinskich repressij nikuda ne delis’“ [Die ursprünglichen Methoden der Stalinschen Repressionen sind nicht weg], Interview mit Sergej Kriwenko am 28.06.2013 dem

158 | Anna Schor-Tschudnowskaja Bewertung“ der sowjetischen Verbrechen unter Stalin. Auf die Nachfrage, wie eine solche Bewertung aussehen könnte, antwortete Kriwenko: Nun, es wäre wünschenswert, eine solche Bewertung formulieren zu können. [. . . ] Ich denke, es könnte im Rahmen irgendwelcher Gerichtsverfahren passieren, aber nicht gegen konkrete Menschen, wie gesagt, das ist unmöglich. [. . . ] Es wäre eine Bewertung der Verbrechen, die von diesen oder jenen sowjetischen Staatsorganen begangen worden sind, sie ist durchaus im Rahmen von Gerichtsverfahren möglich.⁵³

Doch zunächst müsse man, so Kriwenko, die historische Wahrheit herausfinden, um auf der Basis dieser Wahrheit zu verstehen, warum der Terror damals geschah. Ein Vierteljahrhundert später formuliert also nun Memorial sein Ziel etwas anders: es gehe primär darum zu verstehen, warum die Verbrechen der Sowjetzeit (insbesondere unter Stalin) überhaupt möglich wurden. „Finden Sie aber nicht, dass dies ein utopisches Ziel ist?“ – wurde Kriwenko an dieser Stelle im Interview gefragt. Er gab folgende Antwort: Ja, in gewissem Sinne schon, wenn die Machthaber politische Methoden demonstrieren, die jenen unter Stalin ähnlich sind. Wir sehen, wie die Gesellschaft innerhalb des letzten Jahres [2012] immer näher jenem Zustand entgegenkam, den es in den 1930er Jahren gab. In der Tat ist es utopisch, einerseits. Aber andererseits ist es vielleicht gerade der Versuch, die Ähnlichkeit [zwischen damals und heute – Anmerkung der Autorin] zu zeigen und vielleicht wird gerade daraus eine Art Schutzwand entstehen, die eine Wiederholung nicht zulässt.⁵⁴

Kein einziger Täter wurde als solcher rechtlich bzw. politisch qualifiziert. Dies, so Kriwenko, sei jedoch unerlässlich, damit die Prävention gegen totalitäre Verhältnisse und Willkür der staatlichen Gewalt eingeleitet werden und funktionieren kann. Wie genau die Benennung der Täter und deren juristische Einstufung aussehen könnten und ob sie heute in Russland überhaupt möglich sind, kann Kriwenko nicht sagen. Ihm ist allerdings klar, dass das Andenken an die Opfer allein die präventive Funktion nicht ausüben kann. Befasst man sich mit der Geschichte der politischen Repressionen, kann man eigentlich nicht unpolitisch blieben. Die historische Arbeit von Memorial erwies sich gerade deswegen als wenig anschlussfähig an die politische Kultur des gegenwärtigen Russlands, weil der Prozess der Aufarbeitung der Vergangenheit kein Selbstzweck an sich sein kann. Die Bezüge zur Geschichte und zu vergangener Erfahrung können lediglich eine der Etappen in dem komplexen Geschehen so-

Radiosender „Echo Moskvy“, unter: http://istpamyat.ru/diskussii-ocenka-novosti/aktualno/ iskhodnye-metody-stalinskikh-repressij-nikuda-ne-delis/. 53 Ebd. 54 Ebd.

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zialen Wandels sein, der seinerseits neuer politischer Ideen und moralischer Leitbilder bedarf. Und so lässt man sich auf die Aufarbeitung der Vergangenheit – was mit einer erheblichen kognitiven und seelischen Anstrengung verbunden ist – nur ein, wenn sie verspricht, zur Erreichung eines sinnhaften und bedeutsamen Ziels beizutragen. Ohne den Zusammenhang mit einem übergeordneten gesellschaftlichen bzw. politischen Ziel erscheint diese Arbeit als nicht notwendig, und so verzichtet man lieber darauf. Der fehlende offen deklarierte Bruch der offiziellen Führung des Landes mit den repressiven Methoden der staatlichen Politik sowie das Tradieren der repressiven politischen Kultur stellen somit die schwierigsten Hindernisse für die Arbeit von Memorial dar. Nur jene gesellschaftlichen Schichten und Individuen können die Frage nach der Aufarbeitung der sowjetischen Vergangenheit aufwerfen, die für sich bestimmte neue politische Ziele formuliert haben und die auch entsprechende moralische Grundprinzipien miteinander teilen. Mit anderen Worten: Fehlende kritische bzw. reflexive Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zu bedauern heißt, die Abwesenheit von öffentlichen aktiven gesellschaftlichen Schichten zu bedauern, die durch gemeinsame neue Ziel- und Wertvorstellungen integriert sind. Sind die kollektiven Mechanismen der Zielsetzung nicht intakt, ist eine Aufarbeitung der Vergangenheit in der Gesellschaft schlechthin nicht möglich. Die Frage nach den Subjekten, die Veränderungen herbeiführen und gesellschaftlich bedeutsame neue Zielvorstellungen erarbeiten könnten, ist die wichtigste Frage, die sich im gegenwärtigen Russland stellt. Die dominierenden Gefühle gegenüber der sowjetischen Terrorgeschichte sind nach wie vor Gleichgültigkeit und Desinteresse. So sehr diese Geschichte traumatische Wirkung haben konnte, so wenig scheint plausibel, dass die Gleichgültigkeit auf die Vermengung von Tätern und Opfern zurückgeht. Denn selbst wenn diese Vermengung eine historische Tatsache ist, sollte sie doch Reaktionen des Erschreckens oder zumindest der Neugier angesichts der puren Möglichkeit massenhafter Grausamkeiten auslösen. Schrecken verdienen also nicht allein die Figur Stalin und die Verbrechen der Staatsführung, sondern die alltägliche gesellschaftliche Situation eines totalitären Regimes an sich. Alexander Daniel, Vorstandmitglied von Memorial, hat zu Recht angemerkt: „Der wahre Patriotismus ist das Gefühl der Verantwortung für die Gegenwart und die Zukunft des eigenen Landes, und es beginnt mit Schmerz und tiefem Kummer wegen seiner Vergangenheit“.⁵⁵ Und da es immer noch nicht so weit ist, steht die Vergangenheitsbewältigung im postsowjetischen Russland der Gesellschaft noch weitgehend bevor. 55 Aleksander Daniel’: Istoričeskaja pamjat’ i graždanskaja otvetstvennost’ [Historisches Erinnern und die bürgerliche Verantwortung], 2009, unter: http://urokiistorii.ru/node/234.

Katharina Haverkamp

Heute auf den Solovki – morgen in Russland Die Spurensuche des Fotografen und Regionalhistorikers Jurij Arkad’evič Brodskij Die Solovki – Heimat des berühmten Solovecker Klosters und des ersten sowjetischen Zwangsarbeitslagers – sind für das heutige Russland einer der wichtigsten Orte auf seiner nationalen Landkarte. Laut Meinung des polnischen Publizisten und langjährigen Bewohners der Solovki, Mariusz Wilk, sind die Solovecker Inseln „Essenz und zugleich Antizipation Rußlands“ und bilden „seit Jahrhunderten einen Mittelpunkt der Rechtgläubigkeit und ein machtvolles Zentrum der russischen Staatlichkeit im Norden“.¹ So ist auf der abgelegenen Inselgruppe im Weißen Meer in einmaliger Weise sowohl die Tradition zarischer und sowjetischer Verbannung und Repression politischer Gegner als auch die Geschichte und Bedeutung der Russischen Orthodoxie abzulesen. Der Solovecker Archipel ist heute – vor allem durch seine einmalige Verbindung von Religion und Natur – einer der heiligen Orte der Russischen Orthodoxen Kirche. Im westlichen Erinnerungsdiskurs über die Solovki ist vor allem deren Rolle als Ort des ersten Zwangsarbeitslagers der Sowjetunion und „Laboratorium des GULag“ präsent. So beschreibt der Autor Walter Mayr im Spiegel-Artikel Stille Tage am Polarkreis vom Oktober 2003 die Solovki als „archetypischen Ort russischen Schicksals“ und den im Artikel portraitierten Fotografen und Regionalhistoriker Jurij Brodskij als „Chronisten des Todes“.² Juri Arkad’evič Brodskij, der sich seit über 40 Jahren mit der Geschichte des Solovecker Lagers beschäftigt und als einer der wenigen Akteure im Erinnerungsdiskurs an sowjetische Massenverbrechen nicht das staatliche und damit das russisch-orthodoxe Opfernarrativ bemüht, ist mehr als ein Geschichtsschreiber des Solovecker Lagers. Neben seinem Verdienst, vielen längst vergessenen Solovecker Opfern von Terror und Lagerhaft durch seine Arbeit eine Stimme verliehen zu haben, dokumentiert seine Lebensgeschichte in besonderer Weise die unterschiedlichen Phasen staatlicher und gesellschaftlicher Auseinandersetzung mit der schmerzhaften stalinistischen Vergangenheit. Dieser Aufsatz zeichnet eben dieses Kapitel des Umgangs mit der Lagervergangenheit der Solovki anhand

1 Mariusz Wilk: Schwarzes Eis. Mein Russland. Wien/ München 2003, S. 15. 2 Walter Mayr: Stille Tage am Polarkreis, in: Spiegel Special 3 (2003). Abgerufen unter: http://www.spiegel.de/spiegel/spiegelspecial/d-28731592.html. Zugriff am 25.08.2013.

162 | Katharina Haverkamp der Biografie Brodskijs und der Geschichte des Solovecker Museums zu Sowjetzeiten nach. Dabei soll gezeigt werden, unter welchen Voraussetzungen und mit welchem Vorlauf es in den Jahren der Perestroika zu einer offenen Auseinandersetzung mit der Lagervergangenheit kommen konnte. Welche Freiräume und „Sphären von Öffentlichkeit“³ konnten sich in den Jahren der sogenannten Stagnation im sowjetischen Kultursektor und speziell auf der Inselgruppe eröffnen, die eine Diskussion und Verhandlung der Lagergeschichte, wenn auch inoffiziell, möglich machten?

Jurij Brodskij als junger Fotograf Jurij Brodskij bringt ein spontaner Besuch im Sommer 1970 das erste Mal auf den Solovecker Archipel, einer Inselgruppe ca. 100 km südlich vom Nordpolarkreis. Dort angekommen habe er sofort das Gefühl gehabt, dort geboren worden zu sein,⁴ erzählt Brodskij. Sein Anflug über die gewaltigen Wälder der Solovecker Hauptinsel, die einzigartige Natur der Solovki und seine Architekturdenkmäler begeisterten ihn nachhaltig und veranlassten ihn noch im selben Jahr zwei weitere Male auf den abgelegenen Archipel zu fliegen. Mit seiner Kamera im Gepäck entstanden in diesem Sommer die ersten Aufnahmen der Inseln. In den kommenden Jahrzehnten sollten die Solovki nicht nur zu seinem fotografischen Lieblingsobjekt, sondern zu seinem Lebensthema werden. Jurij Brodskij wurde 1946 als Kind jüdischer Eltern in Kiew geboren. Kurz nach seiner Geburt zogen seine Eltern mit ihm nach Elektrostal’, einer Stadt ca. 50 km östlich von Moskau, in der er auch heute noch lebt. In Elektrostal’ begann er seine berufliche Laufbahn zunächst in einer Fabrik zur Herstellung und Lieferung von Kernbrennstoffen. Schon bald gelang es ihm, sein großes Interesse für die Fotografie auch beruflich auszuleben, indem er Leiter eines Fotodienstes in Elektrostal’ wurde. Durch seine neue Anstellung hatte er immer öfter die Möglichkeit, seine private Faszination für die Solovki mit seinem Beruf als Fotograf zu verknüpfen. Als sommerlicher Dauergast der Solovki erkundete er den Archipel zumeist in Eigenregie. Ihn faszinierten die Schönheit der Solovecker Inseln, ihre Vegetation und die Hauptinsel mit ihren unzähligen Seen. Das berühmte Solovecker

3 Siehe dazu Gábor T. Rittersporn u.a. (Hg.): Sphären von Öffentlichkeit in Gesellschaften sowjetischen Typs. Zwischen partei-staatlicher Selbstinszenierung und kirchlichen Gegenwelten. Frankfurt am Main 2002 (=Komparatistische Bibliothek 11). 4 Interview der Verf. mit Jurij Brodskij in Elektrostal’ am 13.05.2013.

Die Spurensuche des Jurij Arkad’evič Brodskij

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Kloster, das im 15. Jahrhundert gegründet worden war und dessen bauliche Festungsform aus dem 16. und 17. Jahrhundert von seiner Bedeutung als militärisches, wirtschaftliches und kulturelles Zentrum des Russischen Nordens erzählt, wurde zu einem seiner fotografischen Hauptobjekte. Viele der Klostergebäude befanden sich bei seinem ersten Besuch auf den Inseln im Jahre 1970 allerdings in sehr schlechten baulichem Zustand.

1960er Jahre: Die Solovki als nationales Kulturerbe Der Verfall der Solovecker Klosteranlagen, die als „Herzstück“ des Solovecker Lagers und des Solovecker Gefängnisses zwischen 1923 und 1939 intensiv genutzt worden waren, schritt damals unaufhörlich voran. Die „Hausherren“ der Solovki in der Zeit nach der Schließung des Lagers, die sowjetische Nordflotte, hatte lediglich die Nutzbarmachung der Klostergebäude für ihre Zwecke interessiert. Im Zuge des drohenden Winterkrieges gegen Finnland im November 1939 installierte die Nordflotte in den Klostergebäuden eine Ausbildungsabteilung und ab 1942 eine Schule für Kadetten. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges verblieben die Inseln im Besitz der Nordflotte und einige Mitarbeiter der Ausbildungsabteilung ließen sich dauerhaft auf den Solovki nieder. Mit dem Beginn der 1960er Jahre und einer spürbaren gesellschaftlichen Rückbesinnung weiter Teile der sowjetischen Gesellschaft auf die historischen und kulturellen Wurzeln des russischen Volkes und damit auf die vorsowjetische Vergangenheit, begannen vor allem nationalgesinnte Intellektuelle die im Verfall begriffenen Kulturdenkmäler des Landes zu thematisieren. Die Wiederentdeckung des russischen Volkes und seiner altrussischen Kultur war dabei stark mit dem Gedanken des Erhalts von russischem Kulturgut verbunden. Chiffren dieser Jahre wie „Heimat“, „Volk“ und „Natur“ waren laut Pëtr Vejl’ und Aleksandr Genis die Antwort der Bevölkerung auf die liberale und ökonomische Krise der frühen 1960er Jahre.⁵ Seinen institutionellen Ausdruck fand das Interesse am russischen Kulturerbe in der Gründung der Allrussischen Gesellschaft zum Schutz historischer und kultureller Denkmäler (VOOPIiK) 1965,⁶ die sich in den folgenden Jahren zu einer sowjetischen Massenorganisation entwickelte. Die in den sowjetischen Republiken und in den russischen Gebieten

5 Pëtr Vejl’/Aleksandr Genis: 60-e. Mir sovetskogo čeloveka. Moskva 1996, S. 237f. 6 Vserossijskoe obščestvo ochrana pamjatnikov istorii i kul’tury (VOOPIiK). Im Jahr 1974 hatte die VOOPIiK bereits mehr als neun Millionen, und im Jahr 1977 über zwölf Millionen Mitglieder.

164 | Katharina Haverkamp gegründeten Ableger bzw. Abteilungen der Gesellschaft avancierten zu wichtigen Kommunikations- und Verwaltungsorganen innerhalb des regionalen Kultursektors. So gingen von der VOOPIiK und ihren Mitgliedern entscheidende Anreize zum Schutz und zur Restaurierung von vorsowjetischen Bau- und Kulturdenkmälern sowie zur Gründung wichtiger Museen aus. In diesem Zusammenhang gelang es auch dem Rektor der Solovecker Mittelschule, Pavel Vasil’evič Vitkov, der ab 1965 als stellvertretender Vorsitzender der VOOPIiK in Archangel’sk agierte, das „Problem“ Solovki und seiner baufälligen Architekturdenkmäler in das Bewusstsein staatlicher Entscheidungsträger zu rücken.⁷ Vitkovs umfangreiche Publikationen in regionalen sowie landesweiten Zeitungen sowie sein Briefwechsel mit namhaften Vertretern aus Politik, Wissenschaft und Kultur konnten schließlich erwirken, dass die Baudenkmäler des Solovecker Klosters 1960 in die Liste historisch-kultureller Denkmäler aufgenommen und in den folgenden Jahren der Kulturverwaltung in Archangel’sk unterstellt wurden. Trotz oder gerade aufgrund der schwerwiegenden sowjetischen Vorgeschichte des Archipels wurde in Moskau auch den Plänen Vitkovs nach der Errichtung eines Museums entsprochen. 1967 wurde das staatliche, historisch-architektonische Solovecker Museum als Filiale des heimatkundlichen Museums in Archangel’sk gegründet und mit der Pflege der Denkmäler sowie der Erforschung der Geschichte und der Natur der Solovki beauftragt. 1974 konnte das Museum schließlich selbstständig werden.

Das Solovecker Museum als sozialistische Erziehungseinrichtung Durch seine Selbstständigkeit als historisch-architektonisches und landschaftliches Museum und Naturschutzgebiet avancierte das Solovecker Museum 1974 zum einzigen Museum mit einem solchen Profil in der Sowjetunion und gehörte zu den wenigen Museen mit angeschlossenem Naturschutzgebiet. Ab 1974 wurde das Museum in sechs Hauptarbeitsbereiche unterteilt und beschäftigte zusammengenommen um die 70 ständigen und zeitweilig angestellten Mitarbeiter.

7 Dabei bezeichnete Vitkov die fehlenden staatlichen Maßnahmen zur Sanierung der Solovecker Klostergebäude und zum Schutz der Solovecker Natur in seinen zahlreichen Briefen wiederholt als das „Problem Solovki“. Siehe dazu Ličnyj fond P.V. Vitkova. Naučnij archiv Soloveckogo muzeja zapovednika (im Folgenden NASMZ) f. 2, op. 2, d. 162 und 163.

Die Spurensuche des Jurij Arkad’evič Brodskij

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1976 wurde zusätzlich die Filiale des Museums auf der Insel Kij in der Onegabucht in die Strukturen des Solovecker Museums eingegliedert.⁸ Mit der Museumsgründung und der Initiative Vitkovs, welche die Solovki landesweit in die Schlagzeilen gebracht hatten, war die touristische Öffnung des Solovecker Archipels verbunden. Die Normalisierung des öffentlichen Lebens, der zu verzeichnende Anstieg des Lebensniveaus und die Einführung der 5-TageArbeitswoche 1967 ermöglichten es den Sowjetbürgern, sich Gedanken über ihre Freizeitplanung zu machen. Besuche ansässiger Museen und Theater, Ausflüge in die Natur und zu entfernteren Zielen waren nun auch an den Wochenenden möglich. Trotz einiger kritischer Stimmen, die auf die „schwierige Geschichte“ der Solovki hinwiesen und dem zukünftigen möglichen Besuch ausländischer Touristen ängstlich entgegensahen,⁹ kamen aufgrund des Ausbaus der Schifffahrt aus Archangel’sk und Kem’ auf dem karelischen Festland sowie des Flugverkehrs regelmäßig Besucher auf die Inseln. In der Saison des Jahres 1970 besuchten gemeinsam mit Jurij Brodskij über 17 000 Touristen den Solovecker Archipel.¹⁰ Damals konnten sie die erste Ausstellung des Solovecker Museums über die Geschichte des Solovecker Klosters vom 15. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts besuchen oder an Führungen zur vorsowjetischen und biologischen Geschichte des Solovecker Archipels teilnehmen.¹¹ Laut Beschluss des ZK der KPSS vom 12. Mai 1964 gehörte die kommunistische Erziehung der Werktätigen zur Hauptaufgabe sowjetischer Museen.¹² So sollten die Solovecker Architekturdenkmäler vom Museum zur patriotischen, ideologischen und ästhetischen Erziehung der sozialistischen Gesellschaft genutzt wer-

8 Soloveckij gosudarstvennyj istoriko-architekturnyj i prirodnyj muzej-zapovednik: Soloveckij muzej zapovednik: 1967–2012 gg. (k 45-letiju). Buklet, Solovki 2012. 9 So schrieb z.B. Pavel Vasil’evič Vitkov im September 1966 an das Gebietsexekutivkomitee in Archangel’sk: „In den letzten Jahren ist das Interesse der ausländischen Touristen am Russischen Norden gestiegen und einige von ihnen streben auch einen Besuch auf den Solovki an. Wie bereits bekannt, wurden in den letzten Jahren in Westdeutschland und Frankreich Bücher über das Solovecker Kloster herausgegeben, die durch ihren tendenziösen Charakter das Interesse der Ausländer an der schwierigen Geschichte der Solovki angefacht haben [. . . ].“ GARF f. A639, op. 1, d. 22, l. 7–11, hier l. 8. 10 Federal’noe gosudarstvennoe učreždenie kul’tury „Soloveckij gosudarstvennyj istorikoarchitekturnyj i prirodnyj muzej-zapovednik“ (Hrsg.): K 40-letiju sozdanija Soloveckogo gosudarstvenno muzeja-zapovednika. Soloveckij gosudarstvennyj muzej-zapovednik 1967–2007. Materialy k istorii sozdanija i dejatel’nosti muzeja-zapovednika, Solovki 2007, S. 27. 11 K 40-letiju sozdanija Soloveckogo gosudarstvenno muzeja-zapovednika. Soloveckij gosudarstvennyj muzej-zapovednik 1967–2007, S. 51. 12 Postanovlenie Central’nogo Komiteta KPSS „O povyšenii roli muzeev v kommunističeskom vospitanii trudjaščichsja“ vom 12. Mai 1964. In: Sbornik po muzejnomu delu. Moskva 1986, S. 7–8.

166 | Katharina Haverkamp den.¹³ Außerdem hielt der Beschluss von 1964 fest, dass sich Museen mit einem landschaftlichen Profil in ihrer wissenschaftlichen Arbeit ebenfalls auf die Erforschung der Natur, auf die ökonomische, soziale und kulturelle Entwicklung der Region von der vorrevolutionären zur sowjetischen Periode konzentrieren sollten.¹⁴ Im Zusammenhang mit der ideologischen Aufwertung des Zweiten Weltkrieges im Laufe der 1970er Jahre eröffnete das Museum 1973 die erste Ausstellung zur Geschichte der Ausbildungsabteilung der sowjetischen Nordflotte und der auf den Solovki stationierten Kadettenschule, der Škola Jung.¹⁵ Einige Absolventen der Škola Jung hatten als Matrosen im Zweiten Weltkrieg gegen die deutsche Marine gekämpft. Dieser Teil der Solovecker Geschichte eignete sich also sehr gut, um der sozialistischen Erziehungsaufgabe nachzukommen. Grundsätzlich befand sich das Museum in der Ausübung seiner Rolle als Erziehungseinrichtung allerdings in einer schwierigen Lage: Die Geschichte der Solovecker Inseln konnte lediglich in sehr streng vorgegebenen Grenzen aufgearbeitet werden. Die Geschichte des Solovecker Klosters und seine Rolle in der Entwicklung des Russischen Nordens durften nicht zu stark akzentuiert werden. Die Museumsmitarbeiter wurden dagegen dazu angehalten, die Geschichte des Klosters als Haft- und Verbannungsort für Gegner des zarischen Regimes herauszuarbeiten und „Legenden“ über die Rolle des Solovecker Klosters und einiger Solovecker Heiliger zu zerstreuen.¹⁶ Um die Einhaltung der vorgeschriebenen musealen Richtlinien zu überprüfen, kontrollierten Abgesandte des Sowjets für religiöse Angelegenheiten in regelmäßigen Abständen die Arbeit des Museums. Gänzlich verboten war die Thematisierung der Lagervergangenheit des Archipels. In der offiziellen Repräsentation der Solovecker Inseln nach dem Zweiten Weltkrieg spielte die Lagervergangenheit der Solovki keine Rolle. Die Existenz des Solovecker Lagers zur Besonderen Verwendung, kurz S.L.O.N.¹⁷, das sich zwischen 1923 bis 1933 auf dem Archipel und dem karelischen Festland ausbreitete

13 Zakon Rossijskoj Sovetskoj Federativnoj Socialističeskoj Respubliki „Ob ochrane i ispol’zovanii pamjatnikov istorii i kul’tury“ vom 15. Dezember 1978, in: Sbornik dokumentov po muzejnomu delu. Moskva 1986, S. 19. 14 Postanovlenie Central’nogo Komiteta KPSS „O povyšenii roli muzeev v kommunističeskom vospitanii trudjaščichsja“ vom 12. Mai 1964, in: Sbornik dokumentov po muzejnomu delu, S. 7. 15 NASMZ f. 2, op. 1., d. 10. 16 Davon zeugen unter anderem Arbeiten der methodischen Abteilung des Museums mit Titeln wie: Soloveckie svjatye: Legenda i dejstvitel’nost’. Informacionnaja spravka dlja ekskursovodov, Solovki 1983; oder: Kontrrevoljucionnaja dejatel’nost’ Soloveckogo monastyrja 1917-načalo 1920ch godov. Informacionnaja spravka dlja ekskursovodov, Solovki 1983. 17 Russisch: Soloveckij lager’ osobogo naznačenija (SLON), deutsch: Das Solovecker Lager zur Besonderen Verwendung.

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und seiner Nachfolgeorganisation, des Solovecker Gefängnisses, das zwischen 1936 bis 1939 in den Klostermauern beherbergt war, wurde tabuisiert. Tausende von Menschen verschiedener gesellschaftlicher Klassen, unterschiedlicher Nationalität und Religionszugehörigkeit verloren in den Klostermauern und in den Wäldern der Solovki ihr Leben, bis zu einer Million Menschen durchliefen das Solovecker Lager und seine Ausläufer auf dem karelischen Festland. Das Solovecker Lager galt als Prototyp, als Vorläufer des GULag und mündete in seiner weiterentwickelten Form schließlich in das stalinistische Zwangsarbeitslagersystem der dreißiger Jahre.¹⁸ Während der Solovecker Archipel Ende der 1920er Jahre als Paradebeispiel für die gelungene „Umschmiedung“ von Straftätern in sowjetische Bürger propagiert und bis Mitte der 1930er Jahre sogar touristisch beworben wurde¹⁹, änderte der poststalinistische Kurs Nikita Chruščevs die Interpretation und Repräsentation der Geschichte des stalinistischen Zwangsarbeitslagersystems. Durch die Verurteilung des Personenkults auf dem 20. Parteitag der KPdSU und der damit verbundenen „stalinistischen Auswüchse“ verweigerte sich der sowjetische Staat einer ganzheitlichen Auseinandersetzung mit dem Thema. Zudem rührte gerade die Solovecker Lagergeschichte an den noch unangetasteten Punkt der Leninschen Wurzeln des GULag und lief damit konträr zur Rückbesinnung der sowjetischen Führung auf den Partei- und Revolutionsführer und den in den 1970er Jahren tief verwurzelten Leninkult. Die während der Regierungszeit Leonid Brežnievs vollzogene Teilrehabilitierung Stalins, die vor allem in Verbindung mit seinen „Leistungen“ im Zweiten Weltkrieg stand, kann als einer der Gründe des Aufblühens der Dissidentenbewegung der 1960er und 1970er Jahre angesehen werden.²⁰

18 Zur Geschichte des Solovecker Lagers und des Gefängnisses siehe u.a.: Jurij Brodskij: Solovki. Dvatcat’ let osobogo naznačenija. 2. Aufl. Moskau 2008; Nick Baron: Conflict and complicity: The expansion of the Karelian Gulag, 1923–1933, in: Cahiers du Monde Russe. 42 (2001), S. 615– 648; ders.: Production and Terror. The Operation of the Karelian Gulag, 1933–1939, in: Cahiers du Monde Russe 43/1 (2002), S. 139–180; Felicitas Fischer von Weikersthal: Die „inhaftierte“ Presse. Das Pressewesen sowjetischer Zwangsarbeitslager 1923–1937, Wiesbaden 2011 (=Forschungen zur Osteuropäischen Geschichte 77); Katharina Haverkamp: „Dies ist keine sowjetische, sondern eine soloveckische Republik“. Das Solovecker Lager zur Besonderen Verwendung 1923–1929. Magisterarbeit, unveröffentlichtes Transkript, Jena 2011. 19 Baron, Production and Terror, S. 152. 20 V.A. Kozlov: Neizvestnyj SSSR. Protivostojanie naroda i vlasti 1953–1985. Moskva 2006, S. 412 f. und 429.

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Das Solovecker Museum als Treffpunkt Andersdenkender Besonders innerhalb des Kultursektors versuchte der KGB an der Zerschlagung der Dissidentenbewegung zu arbeiten. Aus diesem Grund stieg der Einfluss des Geheimdienstes in der sowjetischen Kulturpolitik in den 1970er Jahren stark an.²¹ Guides, die vom Museum für die Führung von Touristen über den Archipel ausgebildet wurden, bekamen Antwortkataloge zu etwaigen Fragen nach sichtbaren Lagerüberresten und der Lagervergangenheit der Solovki vorgegeben. KGBAgenten aus Archangel’sk überprüften die Arbeit der Museumsmitarbeiter, indem sie regelmäßig „unerkannt“ an Führungen teilnahmen und die Guides mit zielgerichteten Fragen testeten.²² Auch Jurij Brodskij bekam die Anwesenheit des Geheimdienstes auf den Inseln zu spüren. Bei seinen eigenständigen Exkursionen über den Archipel stieß Brodskij immer wieder auf die noch verbliebenen infrastrukturellen Spuren des Solovecker Lagers, die er fotografierte und dokumentierte, ohne zu diesem Zeitpunkt genau zu wissen warum.²³ Die Überreste des Lagerlebens hätten ihn interessiert, erzählt Brodskij, auch wenn er wusste, dass über die sowjetische Lagervergangenheit der Solovki nicht gesprochen werden durfte und er miterleben musste, wie viele seiner dokumentierten Spuren nach seiner Auffindung durch Angehörige der Miliz oder des ansässigen Inselsowjets heimlich zerstört wurden.²⁴ Trotz der Kontrolle des KGB entwickelten sich die Solovki und das Solovecker Museum zu einem Treffpunkt Andersdenkender, welche die Lagervergangenheit des Archipels nicht ausklammern wollten. So unterstreicht Brodskij sein Gespräch mit dem sowjetischen Dissidenten Efim Gregor’evič Etkind, einem Unterstützer Aleksandr Sol’ženicyns, den er nach eigenen Angaben Anfang der 1970er Jahre auf den Inseln traf und dessen Person ihn nachhaltig beeindruckte.²⁵ Unter den Mitarbeitern des Solovecker Museums fanden sich ebenfalls einzelne

21 Dirk Kretzschmar: Die sowjetische Kulturpolitik 1970–1985. Von der verwalteten zur selbstverwalteten Kultur. Analyse und Dokumentation. Bochum 1993, S. 13 (=Dokumente und Analysen zur russischen und sowjetischen Kultur, Band 4). 22 Interview der Verf. mit Jurij Brodskij in Elektrostal’ am 13.05.2013. 23 Ebd. 24 Ebd. Siehe auch „Imenem Stalina: Byt Gulaga“. Radiointerview des Senders Echo Moskvy mit Jurij Brodskij vom 26.09.2009. Abgerufen unter: http://www.echo.msk.ru/programs/staliname/ 622116-echo/, Zugriff am 14.10.2013. 25 Interview der Verf. mit Jurij Brodskij in Elektrostal’ am 13.05.2013.

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Personen, die sich mit der unbequemen Wahrheit der Lagervergangenheit auseinandersetzten. Einer von ihnen war Jurij Aleksandrovič Čebanjuk, ein Journalist aus Archangel’sk. Als Redakteur des Severnyj Komsomolec wurde er 1968 entlassen, nachdem es ihm gelungen war, einige Gedichte von Osip Mandel’štam, Prosa von Franz Kafka und Erinnerungen von Anna Achmatova in der Zeitung unterzubringen.²⁶ Zwischen 1968 und 1970 arbeitete er zeitweilig als Guide des Solovecker Museums. Da er sich wiederholt über das Verbot hinwegsetzte, den Touristen nur festgelegte Informationen über die Lagervergangenheit der Solovki zu geben, wurde ihm eine dauerhafte Anstellung im Museum verweigert.²⁷ Sein Weggefährte in den Anfangsjahren des Museums, Aleksandr Iosifovič Osipovič, der von 1967 bis 1970 als fester Mitarbeiter des Museums arbeitete, war wegen seiner Mitgliedschaft in einer politisch oppositionellen Studentenorganisation kurz vor seinem Abschluss der Historischen Fakultät der Leningrader Universität verwiesen worden und auf die Solovki gekommen. Als Gegner des sowjetischen Einmarsches in die ČSSR 1968 verstetigte er seine Kontakte zur sowjetischen Dissidentenszene in Leningrad und Moskau. Seiner Einladung folgend, versammelten sich einige inakomysljaščie²⁸ (dt. Andersdenkende, Andersgesinnte) im Samowar-Zimmer des Museums und diskutierten über Politik und Literatur.²⁹ Unter dem Druck des sowjetischen Geheimdienstes emigrierte Osipovič 1970 schließlich in die USA. Die besondere Atmosphäre der Solovki beeindruckte auch Jurij Brodskij nachhaltig. Obwohl er ein engagiertes Komsomolmitglied gewesen war, trat er Mitte der 1970er Jahre bewusst nicht in die Kommunistische Partei ein. Stattdessen widmete er sich intensiv der Lagergeschichte des Solovecker Archipels, was ihn in den folgenden Jahren immer häufiger in das Visier des sowjetischen Geheimdienstes brachte. Durch seine Freundschaft mit dem sowjetischen Schriftsteller Fedor Aleksandrovič Abramov, entwickelte sich Anfang der 1980er Jahre erstmals die Idee, ein gemeinsames Buch über die Lagergeschichte der Solovki zu schreiben. Abramov sollte den Text verfassen, die notwendigen Materialien, darunter vor allem Zeitzeugenberichte, sollten von Brodskij gesammelt werden.³⁰ 26 Dmitrij Kozlov: „Chronika“: četyre kopii dlja Archangel’ska. Abgerufen unter: http://polit.ru/ article/2013/09/22/arkhangelsk/, Zugriff am 30.09.2013. 27 Ebd. 28 Bei dem russischen Begriff für Andersdenkende, Andersgesinnter handelt es um die Selbstbezeichnung der sowjetischen Dissidenten. 29 So berichtet die frühere Mitarbeiterin Antonina Sošina beispielsweise vom Besuch des sowjetischen Dissidenten Sergej Kuz’mič Pirogov, der Ende der 1960er Jahre das Museum aufsuchte. Interv’ju s Antoninoj Alekseevnoj Sošinoj, 29.07.2003. Rodnoj Archiv Soloveckogo gosudarstvennogo istoriko-architekturnogo i prirodnogo muzeja-zapovednika. 30 Zu Fedor Abramovs Herkunft und Werk siehe: David Gillespie (Hrsg.): The life and work of Fedor Abramov. Evanston/Illinois 1997.

170 | Katharina Haverkamp Fedor Abramov, Vertreter der literarischen Strömung der derevenščiki (dt. Dorfprosaisten), stammte aus dem Dorf Verkola im Gebiet Archangel’sk und brachte dem Russischen Norden daher eine starke regionale Verbundenheit entgegen. Neben der für die Dorfprosaisten typischen Idealisierung des dörflichen Lebens, thematisierte Abramov vor allem das harte und verlustreiche Leben der dörflichen Bevölkerung des Russischen Nordens während des Zweiten Weltkrieges.³¹ Während sich einige seiner Werke in der „literarischen Grauzone“ befanden und in den 1960er Jahren im Zuge der Rückbesinnung auf die kulturellen Wurzeln des Landes noch positiv rezensiert wurden, fielen spätere Werke der sowjetischen Zensur zum Opfer und konnten zu seinen Lebzeiten nicht veröffentlicht werden. Um für das Buch zu recherchieren, reiste Jurij Brodskij quer durchs Land und besuchte insgesamt etwa 50 ehemalige Gefangene, sammelte ihre persönlichen Erinnerungsstücke und befragte sie über ihre Zeit als Häftlinge der Solovecker Lager.³² Bereits 1980 konnte Brodskij den sowjetischen Schriftsteller, Publizisten und ehemaligen Häftling Oleg Vasil’evič Volkov in seiner Wohnung in Moskau besuchen.³³ Volkov war von Beginn bis Mitte der 1930er Jahre auf den Solovki gefangen gehalten worden und durchlebte insgesamt fast ein Vierteljahrhundert in sowjetischen Straflagern und in der Verbannung. Nach dem plötzlichen Tod Fedor Abramovs im Jahr 1983 fand Brodskij im Schriftsteller Andrej Georgijevič Bitov einen neuen Interessenten für sein Buchprojekt. Bitov verband eine persönliche Erfahrung mit der Geschichte der Solovecker Lager: Der Vater von Bitovs erster Ehefrau war Gefangener der SLON gewesen. Bitov habe es deshalb, so Brodskij, als seine moralische Pflicht angesehen, etwas über die Solovecker Lager zu schreiben und ihn um Unterstützung im Zusammentragen des Materials gebeten.³⁴ Als auch dieses Kooperationsprojekt scheiterte, versuchte Brodskij das Buchprojekt alleine zu stemmen. So sei er aus Zufall zum Buchautoren geworden, betont Brodskij. Weil es niemand habe machen wollen, habe er sich eben selber an die Arbeit gemacht.³⁵ Erst 20 Jahre später sollte sein Hauptwerk zur Solovecker Lagergeschichte erscheinen.

31 Das gilt vor allem für seinen berühmtesten Erzählzyklus Brat’ja i sëstry (dt. Brüder und Schwestern). 32 „Imenem Stalina: Byt Gulaga“. Radiointerview des Senders Echo Moskvy mit Jurij Brodskij vom 26.09.2009. Abgerufen unter: http://www.echo.msk.ru/programs/staliname/622116-echo/, Zugriff am 14.10.2013. 33 Ebd. 34 Interview der Verf. mit Jurij Brodskij in Elektrostal’ am 13.05.2013. 35 „Imenem Stalina: Byt’ Gulaga“.

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Die Solovki – der Ort, an dem die Perestroika begann Durch den politischen Machtwechsel in Moskau 1985 und die einsetzenden Reformen der Perestroika wurde es Brodskij und seinen Mitstreitern schließlich möglich gemacht, sich auf legalem Wege mit dem Lagerkapitel der Inseln zu beschäftigen. Den politischen Wandel im Land habe man auf den Solovki, so Brodskij, augenblicklich gespürt. Für ihn galt und gilt der Solovecker Archipel nicht nur als die Keimzelle des sowjetischen GULag und als wirkungsmächtiges Symbol für Repressionen während der Sowjetzeit allgemein, sondern auch als Ort, an dem die Perestroika begann. Das zu Lagerzeiten geprägte Zitat „Heute auf den Solovki und morgen in Russland“ hätte auf den Solovki über Jahrhunderte hinweg Bedeutung besessen und sei vor allem in der Zeit nach dem Amtsantritt Gorbačevs zum Tragen gekommen.³⁶ Brodskijs Arbeiten zum Solovecker GULag transportieren bis heute den Geist der Umbruchszeit, in der Brodskij mit seinem selbstgewählten Auftrag, die Geschichte der SLON offen zu legen und den Opfern dieser Zeit eine Stimme zu geben, endlich ein Publikum fand. Und tatsächlich können die Solovki der späten 1980er Jahre als frühes Zeugnis von Perestroika und Glasnost’ gewertet werden, einer beginnenden offenen Auseinandersetzung mit dem stalinistischen Erbe. Bereits 1987 bekam die sowjetische Regisseurin Marina Goldovskaja die Drehgenehmigung für einen Film über die Geschichte der Solovecker Lager. Der Film Vlast’ Soloveckaja³⁷ (dt.: Die Macht der Solovki), der zum größten Teil auf dem Archipel gedreht und vom sowjetischen Kulturfonds unterstützt wurde, portraitiert die Solovki als Ort des ersten Zwangsarbeitslagers der Sowjetunion. Jurij Brodskij konnte von der Regisseurin als Sachverständiger gewonnen werden. Durch seine umfangreiche Fotodokumentation zu den Überresten der Lagerinfrastruktur und seine eigenständigen Expeditionen hatte er sich bereits vor Beginn der Perestroika zu einem Experten der SLON-Topographie entwickelt. Als der Film, der offizielle Propagandaaufnahmen des OGPU-Filmes Solovki aus dem Jahre 1927 mit den Berichten ehemaliger Häftlinge und Wärter kontrastiert, 1988 in ausgewählten Städten gezeigt wurde, erregte er großes Aufsehen.

36 Jurij Brodskij: Soloveckie paradoksy, in: Al’manach Soloveckoe more 1 (2002). Abgerufen unter: http://www.solovki.info/?action=rchive&id=2, Zugriff am 10.10.2013. 37 Die Wortverwandtschaft zwischen dem Filmtitel: Vlast’ Soloveckaja (dt. Die Solovecker Macht/Die Macht der Solovki) und dem Begriff Vlast’ Sovetskaja (dt. Die sowjetische Macht) ist dabei gewollt.

172 | Katharina Haverkamp Im Frühjahr 1989 entstand innerhalb weniger Monate die erste Ausstellung zur Geschichte der Solovecker Lager und damit die erste Ausstellung zur Geschichte des GULag in der Sowjetunion überhaupt. Bei ihrer Umsetzung war Jurij Brodskij, neben den Museumsmitarbeiterinnen der Ausstellungsabteilung Antonina Sošina und Antonina Mel’nik sowie dem Leningrader Künstler Aleksandr Baženov, ebenfalls maßgeblich beteiligt. Brodskijs Fotografien bildeten, nicht zuletzt aufgrund fehlender Exposita, den Hintergrund und Rahmen der Ausstellung.³⁸ Im Mittelpunkt standen die Schicksale ehemaliger Häftlinge der Solovecker Lager, denen in ausgewählten Häftlingsbiografien und gesammelten Erinnerungen zum ersten Mal eine Stimme gegeben werden konnte. Die bereits in den vorausgegangenen Jahren entwickelten Kontakte zu Überlebenden des Solovecker Lagers oder deren Angehörigen, die seit Gründung des Museums zum Teil regelmäßig die Inseln besuchten, konnten im Rahmen der Ausstellung offiziell reaktiviert werden. Die Intention der Kuratoren und den damit verbundenen politischen Auftrag beschrieben die Ausstellungsmacher in ihrem Vorwort zum Katalog der Ausstellung wie folgt: Das Thema [unserer Ausstellung] war lange Zeit verboten. Überreste des Lagers wurden sorgfältig zerstört. Jede beliebige Suche nach Materialien wurde als Angriff auf die staatliche Sicherheit gewertet. Die Archive sind bisher nicht zugänglich. Die Mehrheit der Begründer des Lagersystems war schon bald selber Opfer des Systems. Und von den Opfern sind nicht mehr viele übrig geblieben. Zehntausende Leben sind auf den Solovki zerbrochen, Millionen andere in den Lager und den Gefängnissen der ČK, der GPU, des NKWD und des MGB. Ihre Namen sind unbekannt. Unser Land begibt sich auf den Weg der Demokratisierung der Gesellschaft. [. . . ] Aber ohne die Kenntnis der nahen Vergangenheit, ohne ihr kritisches Verständnis, sind neue Tragödien, ähnlich derer, die auf den Solovki geschehen und im Gedächtnis des Volkes verankert sind, nicht zu vermeiden. [. . . ]³⁹

Die Ausstellung wurde am 6. Juni 1989 in einer ehemaligen Lagerbaracke der SLON, unweit des Kremls eröffnet und erst 2010 von einer neukonzipierten Ausstellung des Museums ersetzt. Im Rahmen der Eröffnung wurden in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft Memorial am 8. Juni 1989 zum ersten Mal Gedenktage für die Opfer der Solovecker Lager begangen. Diese umfassten eine Denkmalssetzung für alle Opfer der Solovecker Lager, einen ersten öffentlichen orthodoxen Gottesdienst in der Himmelfahrtskirche des Sekirnaja Gorja, dem

38 Zusätzlich verwendeten die Kuratoren fotografisches Material des Dokumentarfilmes Vlast’ Soloveckaja der sowjetischen Regisseurin Marina Goldovskaja. 39 Vystavka Soloveckie lagerja osobogo naznačenija 1923–1939. Ausstellungskatalog, Archangel’sk 1990.

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ehemaligen Strafisolator des Lagers, und Gesprächsrunden mit ehemaligen Häftlingen im Solovecker Museum.⁴⁰ Aufgrund des enormen Aufsehens, das die Ausstellung landesweit erregt hatte, wurde sie in den Folgemonaten als Wanderausstellung konzipiert und in den Jahren 1990/91 in Leningrad, Novgorod, Minsk, Moskau, Archangel’sk und Kiew gezeigt. Die maßgeblich durch den Künstler Aleksandr Baženov entwickelte neue Formensprache der musealen Darstellung von sowjetischer Lagerhaft und Repression findet bis heute ihre Entsprechungen in russischen Museen, die der Geschichte des stalinistischen Zwangsarbeitslagersystem gewidmet sind.⁴¹ Nachdem Anfang der 1990er Jahre die Mönche auf die Inselgruppe zurückgekehrt und das Solovecker Kloster und seine Baudenkmäler 1992 offiziell zum UNESCO Weltkulturerbe erklärt und an die Russisch-Orthodoxe-Kirche übergeben worden waren, überlagerten religiöse Themen langsam die Aufarbeitung der Solovecker Lagergeschichte. Während zwischen 1989 und 1991 jährlich weit über 100 000 Besucher das Museum frequentierten und grundlegende Forschungsarbeiten zur Geschichte der Solovecker Lager von Sošina und Mel’nik fast wöchentlich in den Regionalzeitungen erschienen, drangen durch die Rückkehr der Mönche und des kirchlichen Lebens vermehrt religiöse Themen in den Vordergrund der offiziellen Repräsentation. Die religiöse Wiederbelebung der Solovki und die damit einhergehende schleichende orthodoxe Interpretation Solovecker Geschichte entwickelten sich parallel. Hinzu drängten gerade in den 1990er Jahren Fragen zur wirtschaftlichen und politischen Inklusion des Solovecker Archipels in das neue russische Staatsgebilde in den Vordergrund der Diskussionen.

40 A.A. Sošina: K 20-letiju ekspozicii „Soloveckie lagerja osobogo naznačenija“, in: Soloveckij Sbornik 6 (2010), S. 167–173, hier S. 172. 41 Putešestvija soloveckoj vystavki’, in: Soloveckij Vestnik 16 (1990), S. 4. Konzeptionell war die Ausstellung horizontal in zwei Teile gegliedert: Der obere Teil der Ausstellung sollte das sowjetische Imperium und seine Politik darstellen. Der untere, den oberen kontrastierenden Teil, thematisierte die Welt des Lagers und der Häftlinge. Die Ausstellung bestand im Wesentlichen aus Holzinstallationen und suggerierte dem Besucher in einen Baracken-Rohbau zu treten. Im unteren Teil waren Installationen an die Holzgerüste montiert worden, die nach eignen Angaben Tragen und Lagerpritschen nachempfunden worden waren. Siehe dazu: Katharina Haverkamp: Gedenken als Herausforderung. Zur Geschichte der ersten GULag-Ausstellung in der Sowjetunion, in: Gulag. Texte und Dokumente 1929–1956, Weimar 2014 (im Druck).

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Die Solovki: Zwanzig Jahre besondere Verwendung Der Bruderschluss zwischen Staat und Orthodoxer Kirche, der seit dem Amtsantritt Vladimir Putins im Jahr 1999 gepflegt wird, erschwert auf den Solovki zusehends eine alternative, in der Tradition der Perestroika stehende, offene Auseinandersetzung mit der Geschichte des GULag. Die Kirche propagiert eine in sich geschlossene, religiöse Deutung sowjetischer Repressionen, in dessen Mittelpunkt das Leiden und die Unterdrückung russisch orthodoxer Geistlicher und der Orthodoxen Kirche als solche stehen. Nach jahrelangen Streitigkeiten zwischen dem Solovecker Museum und dem Kloster ist seit 2009 der Solovecker Archimandrit offizieller Leiter des Solovecker Museums. Dabei handelt es sich um eine für Russland einmalige, zukünftig aber wohl Konjunktur erhaltende Verzahnung des Kultursektors mit der Staatskirche. Jurij Brodskij findet mit seiner Interpretation der Solovecker Geschichte nur noch wenige Gleichgesinnte auf den Inseln. Seine Mitstreiter an der Arbeit zur ersten Gulag-Ausstellung sind mittlerweile verstorben, nur selten bekommt er noch die Gelegenheit als Experte aufzutreten. 2002, über 30 Jahre nach dem Beginn seiner Spurensuche konnte sein Hauptwerk und preisgekrönter Quellenband zur Geschichte des Lagers und des Gefängnisses der Solovki erscheinen und von ihm 2003 auf der Frankfurter Buchmesse präsentiert werden.⁴² Die über 500 Seiten starke Quellensammlung Solovki – Dvatcat’ let osobogo naznačenija⁴³ ist ein bis heute einmaliger Quellenkorpus sowjetischer Lagergeschichte und gleichzeitig die beeindruckende Dokumentation eines Lebenswerkes. Das 2008 bereits in zweiter Auflage erschienene und ins Italienische übersetzte Werk kombiniert Erinnerungen ehemaliger Häftlinge und Angehöriger des sowjetischen Geheimdienstes der Solovecker Lager, Archivdokumente und Illustrationen persönlicher Erinnerungsstücke ehemaliger Gefangener mit über 700 Fotografien aus dem Privatarchiv Brodskijs. Die großflächig gedruckten Fotografien zeigen Solovecker Baudenkmäler sowie Landschaftsaufnahmen und dokumentieren die zum großen Teil bereits verschwundenen Überreste Solovecker Lagerinfrastruktur. Die Bewahrung dieser Zeugnisse im zeitgenössischen russischen Gedächtnis ist auch die Hauptintention des Buches. So schreibt Brodskij in der Einleitung: „Die Zeit hat ihren Teil getan. Seit einigen Jahrzehnten sind die Solovki kein Gefängnis mehr. Die materiellen Zeugnisse des ‚Mittelalters des 20. Jahrhunderts‘ gehen

42 Jurij Brodskij: Solovki. Dvatcat’ let osobogo naznačenija. 2. Aufl. Moskau 2008. 43 Dt.: Zwanzig Jahre besondere Verwendung. Der Buchtitel ist eine Anlehnung an die offizielle Bezeichnung des Solovecker Lagers zur Besonderen Verwendung. Siehe Fußnote 17.

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verloren. Dieses Buch ist der Bewahrung der Erinnerung an diese vergangene Epoche gewidmet.“⁴⁴ In seinen aktuellen Arbeiten bemüht er sich um eine Einordnung der repressiven Vergangenheit der Solovki in einen großen zeitlichen Rahmen und versucht die Geschichte der SLON als Teil einer einmaligen jahrhundertealten Geschichte des Solovecker Archipels zu beschreiben. Die ersten Kapitel sind bereits fertig. Auch sein neues Projekt besticht durch liebevoll gesammelte und arrangierte Abbildungen und die Konzentration auf wichtige Figuren der Solovecker Geschichte. Bis heute ist Jurij Brodskij den Solovki verbunden geblieben. Seine Sommermonate verbringt er jedes Jahr auf dem Archipel. Oft habe er sich gefragt, warum gerade er 1970 den Archipel besucht habe und anfing, sich mit dem Lagerkapitel der Solovki zu beschäftigen. Wahrscheinlich habe ihn das Schicksal auf die Solovki geführt, sagt Brodskij. Ohne seine Dokumentation wären schließlich viele Spuren der Solovecker Lagerschichte für immer verloren gegangen. Die Zeiten, in denen Brodskij über die Inseln streift, sammelt, dokumentiert und dabei im Visier des Geheimdienstes agiert, sind lange vorbei. Auch seine persönliche und berufliche Sternstunde zu Zeiten der Perestroika, als seine Arbeit vom großen Interesse der sowjetischen Gesellschaft getragen und honoriert wurde, gehört der Vergangenheit an. Niedergeschlagen berichtet Brodskij von einer Inschrift in der Preobraženskij Sobor (dt. Kirche der Verklärung Christi) des Solovecker Klosters, die er zu Sowjetzeiten an einer der Wände entdeckte. Dabei handelte es sich um die Inschrift eines armenischen Häftlings, der den „Säuberungen“ des Jahres 1937/38 zum Opfer gefallen war. Für die Entzifferung der Schriftzeichen, die den Namen und die Haftdauer des Häftlings dokumentierten, habe er Jahre gebraucht. Doch heute würde sich niemand mehr für das Schicksal des Häftlings und damit im Umkehrschluss auch für seine Arbeit interessieren, bemerkt Brodskij traurig.⁴⁵ Trotz politischen Gegenwinds scheint seine Beschäftigung mit den Solovki noch immer nicht abgeschlossen zu sein. Erst nach Jahrzehnten der Beschäftigung mit der Solovecker Lagervergangenheit habe er „langsam das Gefühl, zu verstehen, was das Solovecker Lager eigentlich war“.⁴⁶

44 Brodskij, Solovki, S. 4. 45 Interview der Verf. mit Jurij Brodskij in Elektrostal’ am 13.05.2013. 46 Ebd.

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Resümee Sowohl im russischen Zarenreich als auch in der frühen Sowjetunion dienten die Solovki und ihre jahrhundertealten Klostergebäude zur Inhaftierung politischer Gegner und entwickelten sich zu einem wirkungsmächtigen Symbol von Repression und Lagerhaft. Nachdem der Archipel aufgrund seiner sowjetischen Lagervergangenheit und Funktion als Basis der sowjetischen Nordflotte nach Ende des Zweiten Weltkrieges fast zwanzig Jahre in erzwungene Vergessenheit geraten war, wurde die Inselgruppe aufgrund ihrer historisch-architektonischen Kultur- und Naturdenkmäler in den 1960er Jahren wiederbelebt. Im Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Renaissance der vorsowjetischen Vergangenheit in den 1960er Jahren zwang die private Initiative des Solovecker Schulleiters, Pavel Vasil’evič Vitkovs, die zentralstaatlichen Entscheidungsträger, sich mit der Zukunft und der Vergangenheit des Archipels auseinander zu setzen. Durch die Gründung des Solovecker Museums 1967 trat der Widerspruch zwischen der Arbeit des Museums und dem historischen Erbe der Inseln, das in seiner religiös-vorsowjetischen und repressiv-sowjetischen Ausprägung nur schwer mit der sowjetischen Erziehungsidee in Einklang zu bringen war, offen zutage. Indirekt beeinflusst durch die Formation der Dissidentenbewegung nach der gewaltsamen Niederschlagung des „Prager Frühlings“ und dem stärkeren Einwirken des sowjetischen Geheimdienstes in den sowjetischen Kultursektor, entwickelten sich die Solovki in den 1970er und 1980er Jahren zu einem Aktionsfeld und Anlaufpunkt von „Andersdenkenden“, ehemaligen Häftlingen und deren Angehörigen. Die, wenn auch inoffizielle, Thematisierung der Solovecker Lagervergangenheit kreierte eine Atmosphäre, in der sich Widerstand gegenüber dem staatlichen Umgang mit der stalinistischen Vergangenheit rührte und Freiräume ausgelotet wurden. In dieses Umfeld stieß 1970 Jurij Arkad’evič Brodskij, ein junger Fotograf und engagiertes Komsomolmitglied aus Elektrostal’. Die Konfrontation mit der Solovecker Lagergeschichte und die Begegnungen mit Personen aus regimefernen Kreisen prägten seine politischen Einstellungen und seine Lebensweise in der Folgezeit stark. Als Parteikandidat seiner Stadt verzichtete er auf den Eintritt in die Kommunistische Partei und begann mit der fotografischen Dokumentation der zerstörten Reste der Solovecker Lagerinfrastruktur auf dem Archipel. Seine vor allem in den 1980er Jahren ausgeweitete „Spurensuche“ nach ehemaligen Solovecker Häftlingen und deren persönlichen Erinnerungsstücken bildeten zusammen mit seinen fotografischen Quellen eine grundlegende Basis für die erste Ausstellung über das Solovecker Lager 1989, der ersten Ausstellung zum sowjetischen Zwangsarbeitslagersystem in der Sowjetunion überhaupt.

Aglaia Wespe

Verletzliche Weiblichkeit verweigern Die Bildchronik der Evfrosinija Kersnovskaja als Selbstzeugnis und Erinnerungsort Zwei Personen stehen am Stacheldraht. Die Person vor dem Zaun ist von der Bildbetrachterin abgewandt und hat den Blick auf eine großgewachsene hagere Frau hinter den Drähten gerichtet. Das Gegenüber ist schwanger, ihr Gesicht deutet ein Lächeln an. Im Hintergrund drei Männer, zwei stehend, einer kauert. Ihre kahlgeschorenen und ausgezehrten Gesichter gleichen Totenschädeln, die Mimik ist leidvoll. Die Männer und die Frau tragen kurze leichte Hosen und ein ärmelloses Leibchen, wodurch ihre abgemagerten Gesichtszüge, Arme und Beine zu sehen sind. Auch die Frau vor dem Zaun wirkt ausgemergelt, doch sticht dies weniger ins Auge, weil sie eine lange Hose und ein Hemd trägt. Von der Umgebung sind keine markanten Details abgebildet, doch der Stacheldraht deutet klar auf die Situation der Gefangenschaft hin. Die Zeichnung ist eine von 700 Illustrationen aus der Bildchronik der Russin Evfrosinija Antonovna Kersnovskaja (1907–1994). Die Zeichnungen schildern, kombiniert mit dem Text, Szenen aus der zehnjährigen Gefangenschaft im sowjetischen Lagersystem. Kersnovskaja wurde 1942 in Bessarabien, einem Gebiet nördlich des Donaudeltas zwischen den Flüssen Pruth und Dnjestr, verhaftet und nach Sibirien deportiert. Nach ihrer Flucht aus einem Holzfällerlager wurde sie

Abb. 1: Wiederbegegnung im Lazarett. Aus: Kersnovskaja 1991, 235. Die Zeichnungen sind im Original farbig.

178 | Aglaia Wespe wieder gefasst und kam in ein Gefängnis; dann in verschiedene Lager. Die Zeichnung zeigt das Lazarett in einem sibirischen Lager in der Nähe von Tomsk. Kersnovskaja, die Person vor dem Stacheldraht, trifft unverhofft eine alte Bekannte wieder, hochschwanger im Lazarett. Die Zeichnerin schuf mit dem nachträglich verfassten Bericht einen Erinnerungsort. Das Manuskript, ein Stapel von Heften gefüllt mit Zeichnungen und Kommentaren, verleiht diesem Erinnerungsort einen physischen Charakter. Kersnovskaja widmete das Werk ihrer Mutter, die sie gebeten hatte zu beschreiben, was in der Gefangenschaft vorgefallen war. Zur Einleitung schrieb sie: Nein, meine Liebe! Du wirst diese traurige Geschichte nie bis zum Schluss kennenlernen [. . . ] weil mein ganzes Leben in diesen Jahren eine Kette von abscheulichen und absurden Ereignissen war, die für einen gesunden Menschenverstand unvorstellbar sind und für den, der so etwas nicht selbst erlebt hat, kaum glaubhaft sind. Das wollte ich sagen – anstelle eines Vorworts.¹

In diesen Zeilen spricht die Autorin ein konstitutives Merkmal von Berichten Überlebender an: die Kluft zwischen dem Geschehen im Lager einerseits und der Gegenwart der Erzählenden, ihrer Leser und Leserinnen andererseits. Giorgio Agamben bezeichnet diese Kluft in der philosophischen Auseinandersetzung mit der Shoah als Aporie von Auschwitz: Hier handelt es sich offensichtlich nicht um die Schwierigkeit, der wir bei jedem Versuch begegnen, anderen unsere innersten Erfahrungen mitzuteilen. Der Unterschied betrifft die Struktur des Zeugnisses selbst. Einerseits nämlich erscheint den Überlebenden das, was in den Lagern geschehen ist, als das einzig Wahre und als solches Unvergessliche; andererseits ist diese Wahrheit genau in demselben Maß unvorstellbar, d. h. nicht auf die sie konstituierenden Wirklichkeitselemente reduzierbar. [. . . ] Die Aporie von Auschwitz ist die Aporie historischer Erkenntnis selbst: Die Nicht-Koinzidenz von Fakten und Wahrheit, von Konstatieren und Verstehen.²

Die Nicht-Koinzidenz von Konstatieren und Verstehen führt dazu, dass eine Kluft oder Lücke wesentlicher Teil jedes Zeugnisses ist. Ein Zeugnis zu untersuchen bedeutet deshalb, „jene Lücke zu befragen – oder besser: zu versuchen ihr zuzuhören“.³ Im Folgenden versuche ich den Lücken in Kersnovskajas Bericht zu-

1 Evfrosinija A. Kersnovskaja: „Ach Herr, wenn unsre Sünden uns verklagen“. Eine Bildchronik aus dem Gulag, hrsg. von Vladimir Vigiljanskij. Kiel 1991, S. 7. 2 Giorgio Agamben: Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge (Homo sacer III). Frankfurt a. M. 2003, S. 8. 3 Ebd., S. 9.

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zuhören, indem ich rekonstruiere, wie die Erzählerin mit der ihr widerfahrenen Gewalt umging. Ausgangspunkt für diesen Versuch bildet eine Beobachtung zu den Geschlechterbildern in der eingangs beschriebenen Zeichnung. Werden bei der Betrachtung Eigennamen und Kontextwissen ausgeblendet⁴, lässt sich das Geschlecht der Person vor dem Stacheldraht nicht festlegen. Die Arbeitskleidung und der kurze Haarschnitt lassen eher auf einen Mann tippen. Die zweite Hauptfigur dagegen ordnet der Betrachter oder die Betrachterin aufgrund der Schwangerschaft und des langen Haars als Frau ein. Diese Konstellation findet sich in den meisten Zeichnungen der Chronik. Kersnovskaja verleiht sich selbst ein geschlechtsneutrales Aussehen, oft in einer traditionell männlichen Position. Andere Frauen jedoch zeichnet sie im Rock, mit langem Haar und in einer weiblich konnotierten Rolle. Dieser Kontrast legt nahe, dass die Verweigerung von Weiblichkeitsnormen für Kersnovskaja eine Überlebensstrategie darstellte.⁵ Diese These wird am Schluss dieses Beitrags wieder aufgegriffen. Zunächst wird die Geschichte der Bildchronik als Erinnerungsort dargestellt, anschließend werden einige methodische Überlegungen ausgeführt. Der folgende Abschnitt „Lebensgeschichte und Sinnkonstruktion“ untersucht den Bericht Kersnovskajas auf Leitmotive. Das Erkenntnisinteresse richtet sich auf die Frage, wie die Autorin die Gewalt verarbeitete, der sie ausgesetzt war. Dabei kommt die von Agamben konstatierte Lücke ins Spiel: Es gilt, die Verarbeitung der Gewalt im Moment des Geschehens selbst und im Nachhinein miteinander abzugleichen. In den weiteren Ausführungen wird diskutiert, inwieweit Gewaltwiderfahrnisse in Straflagern geschlechtsspezifisch konnotiert waren.

Eine Bildgeschichte als Erinnerungsort Zwei Eigenheiten des Zeugnisses von Kersnovskaja beeindrucken besonders. Die eine betrifft den Umfang: Das Manuskript umfasst 1 500 Seiten und 700 Illustrationen, die zwölf Schulhefte füllen. Die zweite Besonderheit ist die Kombination von

4 Dass der Schritt der Bildinterpretation ohne das textliche Vorwissen einen Erkenntnisgewinn bringt, ist ein Postulat der qualitativen Bildanalyse in der Soziologie. Vgl. Ralf Bohnsack: Qualitative Bild- und Videointerpretation. Die dokumentarische Methode. Opladen 2009, S. 32–33. 5 Die Gedanken zur Verweigerung von Geschlechternormen beruhen auf meiner Mitarbeit am Sammelband: Anne Brüske/Isabel Miko Iso/Aglaia Wespe/Kathrin Zehnder/Andrea Zimmermann (Hrsg.): Szenen von Widerspenstigkeit. Geschlecht zwischen Affirmation, Subversion und Verweigerung. Frankfurt a.M. 2011.

180 | Aglaia Wespe Bild und Text. Die Zeichnungen erinnern an Situationen, die nicht fotografisch oder filmisch festgehalten werden konnten, weil Fotografen oder Fotografinnen keinen Zutritt zum Gulag hatten. Franziska Thun-Hohenstein stellt treffend fest, dass die Aufzeichnungen mit den naiv-lebendigen Bildern in reinen Farben, der schönen Handschrift sowie der Aufteilung von Wort und Bild an eine Kinderbuchästhetik erinnern.⁶ Nicht immer verbinden die Betrachtenden die Illustrationen mit dem bedrückenden Inhalt. Die Farbigkeit und Bildästhetik steht im Kontrast zum Text, der über die Gewaltwiderfahrnisse der Autorin berichtet: „Stil und Inhalt prallen aufeinander“.⁷ Kersnovskaja begann ihre Erinnerungen an die Gefangenschaft im Jahr 1963 aufzuzeichnen.⁸ Sie befürchtete, die Geheimpolizei könne die Aufzeichnungen bei einer Hausdurchsuchung entdecken und vernichten. Deshalb schrieb und zeichnete sie die Schulhefte in den sechziger und siebziger Jahren mehrfach ab. Die Abschriften versteckte sie bei Freunden und Freundinnen. Zu den verschiedenen Versionen gehören „Alben“ mit Zeichnungen und gekürzten Texten in Form von Legenden. Freunde erstellten in den achtziger Jahren eine maschinengeschriebene Fassung, die Kersnovskaja erneut illustrierte. Im langen Entstehungsprozess verbinden sich Ereignisse von einer individuellen Lebensgeschichte mit dem politischen Geschehen. Dass die Zeitzeugin ihre Erinnerungen aufzuzeichnen begann, ist auf den Tod ihrer Mutter im Jahr 1962 zurückzuführen, der einen einschneidenden Wendepunkt in ihrer Biographie markiert. Kersnovskaja war 1952 aus der Gefangenschaft entlassen worden und arbeitete im Bergwerk von Norilsk in Sibirien. 1956 erfuhr sie während eines Urlaubs in Bessarabien, dass ihre Mutter noch lebte. Erst ein Jahr später konnten sich Mutter und Tochter wiedersehen und verbrachten einen Urlaub am Schwarzen Meer. Von 1960 bis 1962 lebten sie zusammen in Essentuki. Eine Zeichnung aus dem Epilog zeigt eine Szene aus dieser gemeinsamen Zeit: Die Mutter sitzt in eine Decke eingehüllt in einem Sessel, die Tochter ihr gegenüber und malt ein Landschaftsbild. Das Bild bringt zum Ausdruck, weshalb Kersnovskaja die Aufzeichnungen erst nach dem Tod der Mutter begann. Die Mutter hatte gewünscht, dass die Tochter berichtete, was ihr in den Jahren ihrer Trennung widerfahren war. Kersnovs-

6 Franziska Thun-Hohenstein: Gebrochene Linien. Autobiographisches Schreiben und Lagerzivilisation. Berlin 2007, S. 189. 7 Ebd., S. 191. 8 Zum Entstehungszeitraum der ersten Fassung gibt es unterschiedliche Angaben. Der erste Herausgeber des Werks, Vladimir Vigiljanskij, nennt die Jahre 1963 und 1964 (Kersnovskaja, „Ach Herr“, S. 8). Thun-Hohenstein gibt einen wesentlich längeren Entstehungszeitraum an, der ihren Recherchen zufolge 1964 bis 1972 dauerte (Thun-Hohenstein, Gebrochene Linien, S. 187).

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kaja erfüllte diesen Wunsch nicht, weil sie ihrer Mutter die Geschehnisse nicht zumuten wollte. „Sie verschwieg der Mutter, welche grausamen Dinge sie durchgemacht und gesehen hatte. Stattdessen malte sie für die Mutter Idyllen, Meeresbilder. Die Szene, im Rückblick gemalt, verweist auf ein Verschweigen, das erst nach dem Tod der Mutter gebrochen werden konnte.“⁹ Die innere Zwiesprache mit der Mutter, die den Tod überdauert, gibt dem Erzählgestus der Zeitzeugin seine entscheidende Prägung: „Zieht man die handschriftliche Fassung der Erinnerungen als zusätzliches Indiz für deren persönlichen Charakter in Betracht, so kann man die Erinnerungen auch als Brief an die tote Mutter lesen.“¹⁰ Im Zusammenhang mit den politischen Ereignissen in den sechziger Jahren sind die Aufzeichnungen von der widersprüchlichen Erinnerungspolitik der sowjetischen Führung geprägt. Nikita Chruščev deckte die Verbrechen Stalins an zwei Parteitagen 1956 und 1961 teilweise auf. In der Folge konnte 1962 Aleksandr Solženicyns Novelle Ein Tag im Leben des Ivan Denisovič erscheinen. Die Erzählung löste eine derart heftige Debatte aus, dass die Parteiführung die Publikation von weiteren Berichten verbot. Opfer des Terrors der Stalinzeit durften nicht öffentlich über ihre grausamen Erfahrungen sprechen. Die Bildergeschichte ist auch als Widerstand gegen das verordnete Vergessen zu lesen.¹¹ In diesem Klima der Repression suchte Kersnovskaja nicht nach einer Publikationsmöglichkeit. Als sie in den Jahren der Perestrojka das Angebot erhielt, die Hefte im Westen zu veröffentlichen, lehnte sie ab. Ihre Begründung lautete, sie wolle eine Zeit abwarten, in der es in ihrem eigenen Land keine Zensur mehr gebe. Auszüge der Aufzeichnungen erschienen erstmals 1990 in der Literaturzeitschrift „Ogonek“. Die Auswahl war selbst nach der Perestrojka von der Zensur eingeschränkt. 1991 erschien in Russland und Deutschland ein Bildband mit dem Faksimile der Heftseiten.¹² Die Herausgeber wählten eine Zwischenfassung von Illustrationen, die mit erweiterten Legenden versehen und in der deutschen Ausgabe übersetzt sind.¹³ Der vollständige Text wurde im Jahr 2000 ediert.¹⁴ Gegenwärtig sind die Zeichnungen aus den Schulheften im Internet zugänglich.

9 Thun-Hohenstein, Gebrochene Linien, S. 208. 10 Ebd., S. 209. 11 Aglaia Wespe: Evfrosinija Kersnovskajas Bildchronik aus dem Gulag. Der Kampf wider das verordnete Vergessen, in: Heiko Haumann (Hrsg.), Erinnerung an Gewaltherrschaft. Selbstzeugnisse, Analysen, Methoden. Frankfurt a.M. 2010, S. 149. 12 Kersnovskaja, „Ach Herr“. 13 Die Bilder und Texte in diesem Beitrag sind dieser Ausgabe entnommen. 14 Evfrosinija A. Kersnovskaja: Skol’ko stoit čelovek. Povest o perežitom v 12 tetradjach i 6 tomach. Moskva 2001–2002.

182 | Aglaia Wespe Die Seite wird von Kersnovskajas Erbe Igor’ Čapkovskij verwaltet.¹⁵ 2008 wurde außerdem ein Dokumentarfilm über die Zeichnungen gedreht. Die Stationen, die das Werk von seiner Entstehung bis zur Publikation im Internet und im Film durchlief, erzählen von der Wandlung eines Erinnerungsorts, der zunächst im Verborgenen existierte, seit 1990 in mehreren Etappen öffentlich und multimedial zugänglich wurde.

Die Vielschichtigkeit von Selbstzeugnissen durchleuchten Das Zeichnen, Um- und Abschreiben der Bildgeschichte beschäftigte die Verfasserin über zwei Jahrzehnte. Der Entstehungsprozess belegt eindrücklich, dass ein Selbstzeugnis aus vielen Schichten von Geschehen, Erfahrung und Erinnerung zusammengesetzt ist. Weil verschiedene Menschen dieselbe Situation ganz unterschiedlich wahrnehmen¹⁶, erschließen Selbstzeugnisse das Geschehene lediglich indirekt – ebenso wie jede andere historische Quelle. Dennoch lassen sich daraus „harte Informationen“ gewinnen¹⁷: Selbstzeugnisse geben, „durch die Erinnerung gefiltert, Hinweise darauf, welche Vorstellungen sie [die Erzählenden, A.W.] seinerzeit prägten und ihr Handeln beeinflussten, welches Selbstverständnis sie hatten und in welchem Verhältnis dieses zum gesellschaftlichen Normensystem stand.“¹⁸ In ähnlicher Weise geht die Soziologin Gabriele Rosenthal von einer Wechselbeziehung zwischen Lebensgeschichte und Geschichte aus. Sie prägte die Begriffe der erlebten und erzählten Lebensgeschichte. Der wesentliche Punkt im Verhältnis von Erleben und Erzählen besteht darin, dass

15 http://www.gulag.su. Den Stellenwert des Internets für die Erinnerung an sowjetische Straflager beleuchtet der Artikel von Martin Müller-Butz und Christian Werkmeister in diesem Band. 16 Ute Daniel: Die Erfahrungen der Geschlechtergeschichte, in: Margrit Bos u.a. (Hrsg.), Erfahrung. Alles nur Diskurs? Zürich 2004, S. 59–69. 17 Heiko Haumann: Blick von innen auf den Stalinismus, in: ders., Erinnerung an Gewaltherrschaft, S. 51–76. 18 Heiko Haumann: Die Verarbeitung von Gewalt im Stalinismus am Beispiel ausgewählter Selbstzeugnisse. Methodische Bemerkungen und ein Werkstattbericht, in: ders./Brigitte Studer (Hrsg.), Stalinistische Subjekte. Individuum und System in der Sowjetunion und der Komintern, 1929–1953. Zürich 2006, S. 381.

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die erzählten Lebensgeschichten in ihrer Entstehung an die Gegenwart ihrer Produktion gebunden [sind]. Sie entstehen jeweils neu in der Interaktion mit anderen Menschen, seien diese nun leibhaftig anwesend oder beim Schreiben der Biographie als idealisierte, verallgemeinerte andere gedacht. Die gegenwärtige Lebenssituation des Erzählers, seine Gegenwartsperspektive bestimmt den Rückblick auf die Vergangenheit. [. . . ] Erzählte Lebensgeschichten verweisen also immer sowohl auf das heutige Leben mit der Vergangenheit als auch auf das damalige Erleben dieser vergangenen Ereignisse.¹⁹

Die Herausforderung in der Analyse von Selbstzeugnissen besteht darin, die verschiedenen Schichten aus Erlebnissen und nachträglichen Deutungsmustern zu unterscheiden, ohne in einen Dualismus zwischen damals Erlebtem und im Erinnerungsprozess Verfälschtem zu verfallen.²⁰ Als mögliche Lösung sieht Rosenthal vor, die beiden Ebenen der erlebten und der erzählten Lebensgeschichte immer gemeinsam zu rekonstruieren. Ausgehend von diesen Überlegungen entwickelten Heiko Haumann und Ueli Mäder eine Methode, mit der die Vielschichtigkeit lebensgeschichtlicher Erinnerungen durchleuchtet werden kann. Sie unterscheiden „im Interview die Ebene der Erzählung in der Gegenwart von der Ebene des tatsächlich erlebten Geschehens, so wie es noch zum Vorschein kommt, und von der Ebene der Sinngebung“.²¹ Die Ebenen entsprechen drei Fragen, die Historiker und Soziologinnen an ausgewählte Erzählsegmente richten können: Wird etwas Erlebtes geschildert? Werden damalige Vorgänge so beschrieben, dass spätere Einflüsse spürbar sind? Wird argumentiert, um etwas zu begründen, dem Geschehen also Sinn zu geben?²² Die Fragen verweisen auf zwei Textsorten in lebensgeschichtlichen Erinnerungen: einerseits Erzählungen und Beschreibungen, andererseits Argumentationen und Bewertungen.²³ Weil erlebte und erzählte Erfahrung eng zusammenhängen, liegen Erzählungen in der Regel näher an den Erfahrungen. Gleichzeitig kann die Auswahl des Erzählten etwas mit der Sinn-Suche zu tun haben. Letzteres

19 Gabriele Rosenthal: Die erzählte Lebensgeschichte als historisch-soziale Realität. Methodologische Implikationen für die Analyse biographischer Texte, in: Alltagskultur, Subjektivität und Geschichte. Zur Theorie und Praxis von Alltagsgeschichte, hrsg. von der Berlin Geschichtswerkstatt. Münster 1994, S. 132–133. 20 Ebd., S. 130. 21 Heiko Haumann, Heiko/Ueli Mäder: Erinnern und erzählen. Historisch-sozialwissenschaftliche Zugänge zu lebensgeschichtlichen Interviews, in: Marco Leuenberger/Loretta Seglias (Hrsg.), Versorgt und vergessen. Ehemalige Verdingkinder erzählen. Zürich 2008, S. 283. 22 Ebd., S. 284. 23 Arnd-Michael Nohl: Interview und dokumentarische Methode. Anleitungen für die Forschungspraxis. Wiesbaden 2006, S. 26–30.

184 | Aglaia Wespe trifft auch für Argumentationen zu, die „einen starken inhaltlichen Bezug zum Gegenwartsstandpunkt des Erzählers“ aufweisen.²⁴ Deshalb verweisen sie stärker auf den Sinn, den Erzählende ihrer Lebensgeschichte nachträglich verleihen. Ein Beispiel für die Nuancen zwischen Erzählen und Argumentieren gibt der Text zur eingangs beschriebenen Zeichnung. Kersnovskaja erinnerte die Wiederbegegnung mit ihrer Bekannten im Lazarett mit den Worten: Bei der Krankenhausbaracke [. . . ] bemerkte ich plötzlich Vera Leonidovna Tankova (geb. Nevelskaja) [sic]. Wie wenig war sie noch jener gut gebauten jungen Frau ähnlich, als die ich sie kannte. Wie konnte es unter diesen Umständen nur möglich sein, dass sie das Kind noch nicht verloren hatte. Würde sie gebären können? Man müsste ihr sofort helfen, ihr Nahrung zukommen lassen. . . Und ich beschloss auf der Stelle, zur Tat zu schreiten.²⁵

Bei diesem Zitat handelt es sich um eine Erzählpassage. Die Erzählerin schildert das damalige Geschehen und die damit verbundenen Gefühle unmittelbar: das Entsetzen über den Zerfall der Frau, die Sorge um ihr Leben. In der Fortsetzung der Episode zeichnete sich Kersnovskaja bei der Kartoffelernte und schrieb dazu: Diese Tage könnte man als die Tage „relativen Glücks“ bezeichnen. Ich trug zwar eine doppelte Belastung, nachts arbeitete ich in der Werkstatt, tagsüber auf dem Feld, aber ich hatte ein festes Ziel vor Augen. Ich sollte Kartoffeln reiben, auspressen, und diese, am Körper versteckt, Vera Leonidovna bringen. Nur so konnte ich ihr Kind retten. . . und sie selbst.²⁶

Im Unterschied zum vorigen Zitat ist dieses eher als Bewertung zu interpretieren. Die Zeitzeugin beschreibt sich rückblickend als „relativ glücklich“ und „stark belastet“. Auf die gebrochene Unmittelbarkeit deuten auch die von ihr gesetzten Anführungsstriche hin. In beiden Passagen kommt dieselbe Sinnkonstruktion zum Ausdruck, die im Folgenden eingehender betrachtet wird. Die Erinnerung, zum Überleben von Vera beigetragen zu haben – Mutter und Kind überlebten die Geburt – half Kersnovskaja möglicherweise, das eigene Leid zu verarbeiten. Ein anderer relevanter Aspekt bei der Untersuchung der Erinnerungsschichten ist das Verhältnis von individuellen und kollektiven Deutungsmustern. Dies gilt besonders für einen Erinnerungsort wie Kersnovskajas Zeugnis, das in einer Tradition von vielen weiteren Berichten ehemaliger Lagerhäftlinge steht. Zwischen diesen Berichten bestehen inhaltliche Ähnlichkeiten, die auf kollektive Deutungsmuster hinweisen. Als Möglichkeit, solchen Deutungsmustern auf die

24 Fritz Schütze: Das narrative Interview in Interaktionsfeldstudien. Hagen 1987 (Studienbrief der Universität Hagen, Teil 1), S. 149. 25 Kersnovskaja, „Ach Herr“, S. 235. 26 Ebd., S. 238.

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Spur zu kommen, schlägt Haumann vor, verschiedene Selbstzeugnisse miteinander zu vergleichen und zunächst gemeinsame Erzählschemata festzuhalten. In einem zweiten Schritt können individuelle Verarbeitungsweisen ausfindig gemacht werden.²⁷ In Anlehnung an dieses Vorgehen beziehe ich bei der Frage nach den Geschlechterverhältnissen ausgewählte Stellen aus weiteren Berichten über den Gulag ein, die für die Kategorie Geschlecht besonders aussagekräftig sind.

Lebensgeschichte und Sinnkonstruktion Kersnovskaja wurde 1907 in Odessa geboren. Ihr Vater war Staatsanwalt, ihre Mutter unterrichtete Deutsch und Französisch.²⁸ Als 1919 die Bolschewiki in Odessa an die Macht kamen, floh die Familie nach Rumänien. Sie ließ sich in Bessarabien nieder, wo der Vater ein Landgut besaß. Das Gebiet gehörte Ende des 19. Jahrhunderts zu Russland und wurde 1918, ein Jahr vor der Flucht der Familie Kersnovskij, von Rumänien annektiert. Kersnovskaja beendete in Bessarabien das Gymnasium. Sie lehnte es ab, wie ihr älterer Bruder in Paris zu studieren, und ließ sich stattdessen zur Tierärztin ausbilden. Danach bewirtschaftete sie das Landgut ihrer Familie. Die Aufzeichnungen beginnen 1940, als Bessarabien von der Roten Armee besetzt wurde. Die sowjetischen Besatzer vertrieben Kersnovskaja und ihre Mutter von ihrem Bauernhof. Der Vater war ein Jahr zuvor verstorben, der Bruder an der Front. Als ihr kleines Landgut kollektiviert wurde, floh die Mutter nach Rumänien. Kersnovskaja wurde 1941 zusammen mit Tausenden ihrer Landsleute festgenommen und ohne Urteil nach Sibirien deportiert, wo sie schwerste Waldarbeiten verrichten musste. Sie floh im Frühjahr 1942 und legte während eines Dreiviertel Jahres über 1 000 Kilometer in der sibirischen Taiga zurück. Dann wurde sie gefasst. Sie kam zunächst ins Gefängnis von Barnaul am Ob, südlich von Novosibirsk, und im Winter 1942/43 in Untersuchungshaft in das weiter nördlich gelegene Narym. Die Angeklagte wurde zum Tod verurteilt. Obwohl sie sich weigerte, ein Gnadengesuch zu verfassen, wurde das Todesurteil in eine Strafe von zehn Jahren Zwangsarbeit umgewandelt. Sie kam in ein Lager in der Nähe von Tomsk, dann wegen angeblich systemfeindlicher Äußerungen ins Gefängnis. Das Gericht verurteilte sie zu zehn Jahren Lagerhaft und fünf Jahren Bürgerrechtsent-

27 Haumann, Die Verarbeitung von Gewalt, S. 388. 28 Die biographischen Angaben sind aus Vladimir Vigiljaniskijs Vorwort zum Bildband (Kersnovskaja, „Ach Herr“, S. 9; 12–13) und der Studie von Thun-Hohenstein (Thun-Hohenstein, Gebrochene Linien, S. 198–201) zusammengestellt.

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Abb. 2: Familienszene in Bessarabien. Aus: Kersnovskaja 1991, 63.

zug. Bis 1952 war sie in Slobino und in Norilsk in Gefangenschaft. In diesen Lagern verrichtete sie Zwangsarbeit in der Krankenstation, im Leichenhaus und in den letzten Jahren in einem Bergwerk. Im Hinblick auf die Sinnkonstruktion sollen hier zwei Momentaufnahmen näher betrachtet werden. Die erste erinnert an die Zeit, in der die damals Dreißigjährige getrennt von der Familie in Bessarabien zurückblieb. Kersnovskaja berichtet über die Bekanntschaft mit der Russin Paša Dobratenko und deren Kindern. Paša und ihre Familie waren im Dorf einquartiert worden, ihr Mann, Unterleutnant der sowjetischen Armee, war für einige Monate nach Kiew verreist. Eine Zeichnung zeigt Kersnovskaja mit Frau und Kindern des Unterleutnants. Dem Text zufolge begleitete sie Paša vom Krankenhaus zurück, die gerade ihr drittes Kind zur Welt gebracht hatte. In der Mitte ist Kersnovskaja abgebildet. Sie steigt mit dem Neugeborenen auf den Armen in die Kutsche. Links im Bild die Mutter mit den zwei älteren Kindern an der Hand. Kersnovskaja befand sich damals in einer schwierigen Lage, sie hatte die eigene Familie und ihren Besitz verloren. Die sowjetischen Besatzer waren ihr als ehemalige Gutsbesitzerin feindlich gesinnt. Doch in der Zeichnung und dem Begleittext bleiben diese Schwierigkeiten ausgeblendet. Kersnovskaja stellte sich als Teil einer Familienszene dar. Eine mögliche Interpretation dieser Szene lautet, dass die Erzählerin dank dem Kontakt mit der Familie die eigene schwierige Lage besser ertragen hat. Die Gelegenheit, eine Frau zu unterstützen, die Hilfe benötigte, gab ihr vermutlich Halt und half, die bei der Kollektivierung erfahrene Gewalt zu verarbeiten. Die Bereitschaft für Schwächere einzustehen, in erster

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Abb. 3: Im Gerichtssaal. Aus: Kersnovskaja 1991, 200–201.

Linie für Frauen, bildet eine tragende Säule in der erlebten und erzählten Lebensgeschichte Kersnovskajas. Ein weiteres Leitmotiv zeigt sich in einer Erinnerung an die Untersuchungshaft in Narym. Kersnovskaja zeichnete sich vor dem Gericht. Links in der Zeichnung sitzen drei Beamte hinter einem Tisch. Ein vierschrötiger Mann in der Mitte beugt sich über den Tisch und starrt mit zusammengezogenen Augenbrauen auf die Angeklagte. Diese steht mitten im Raum und zeigt mit ausgestrecktem Arm auf den Richter. Der Text zu dieser Zeichnung lautet: Im Gesichtssaal nahm ich nur Beloborodow [den Vorsitzenden] wahr. Ich kämpfte mit offenem Visier gegen ihn. Der Kampf war noch viel sinnloser als alle Heldentaten von Don Quichote zusammen. Ich wußte, daß alles bereits vorher festgelegt war, die Richter nichts anderes als Aufziehpuppen waren. [. . . ] Ich schloß mit den Worten: ‚Die Wahrheit ist wie das Licht! Der ‚Strahl der Dunkelheit‘ wird nie in einen lichten Raum eindringen können! Aus diesem Grund hat die schwarze Lüge Angst vor der lichten Wahrheit.‘²⁹

Kersnovskaja zeigt sich hier in einem Kampf für Freiheit und Gerechtigkeit, den sie gegenüber den korrupten Beamten unmöglich gewinnen konnte. Sie erklärt die Standfestigkeit und den Optimismus mit ihrem familiären Hintergrund. Die

29 Kersnovskaja, „Ach Herr“, S. 201.

188 | Aglaia Wespe Mutter habe ihr das wichtigste geistige Erbe weitergegeben: „Jeden Dreck von der eigenen Seele fernzuhalten und Kröten in Rosen umzumünzen, das hat sie mich gelehrt – Mama!“³⁰ Das Motiv von Don Quichotte, der ungeachtet widriger Umständen für seine Ideale kämpft, ist eine zweite zentrale Säule der Sinnkonstruktion. Im Zusammenhang mit den Erinnerungsschichten stellt sich die Frage, in welchem Moment sich diese Selbstdarstellung herausgebildet hat. Mit Sicherheit spielte das Einstehen für die Menschenrechte, die im Lager permanent missachtet wurden, in der erzählten Lebensgeschichte eine zentrale Rolle. Inwieweit es in der erlebten Lebensgeschichte bedeutend war, lässt sich nicht mit Sicherheit festhalten. Die Resilienz gegenüber der Gewalt, die Kersnovskaja in den zwölf Jahren erfuhr, deutet darauf hin, dass das Beharren auf Menschlichkeit in einer unmenschlichen Situation bereits in der Zeit der Kollektivierung und im Lager eine Überlebensstrategie war.

Geschlecht zwischen Körpererfahrung und kultureller Codierung In diesem Abschnitt wird Kersnovskajas Selbstzeugnis im Zusammenhang mit frauengeschichtlichen Studien zum Gulag untersucht. Zu diesen Studien ist kritisch anzumerken, dass sie Aspekte der Konstruktion von Geschlecht kaum reflektieren. Daher ergänze ich sie mit Erkenntnissen der Geschlechtertheorie. Meinhard Stark stellt die Situation von weiblichen Lagergefangenen aufgrund von autobiographischen Erinnerungen und Akten der Lagerverwaltung umfassend dar.³¹ Eine besondere Belastung konnte die Trennung von den Kindern darstellen. Zeitzeuginnen erinnern sich, dass Mütter emotional und körperlich litten, wenn sie während der Stillzeit von ihrem Kind getrennt wurden.³² Außerdem waren die Frauen in vielen Situationen sexuellen Übergriffen ausgesetzt, unter anderem bei der Rasur unmittelbar nach der Ankunft im Lager. Diese Maßnahme bedeutete für beide Geschlechter eine Zerstörung der menschlichen Würde und Identität. Für Frauen kam hinzu, dass die Schambehaarung beinahe ausschließlich von männlichen Häftlingen entfernt wurde.³³ Neben den teilweise verdeckten Übergriffen gab es viele offene Formen sexueller Ausbeutung:

30 Zitiert in: Thun-Hohenstein, Gebrochene Linien, S. 197. 31 Meinhard Stark: Frauen im Gulag. Alltag und Überleben 1936–1956. München 2003. 32 Kersnovskaja, „Ach Herr“, S. 301; Stark, Frauen im Gulag, S. 205. 33 Stark, Frauen im Gulag, S. 376–377.

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Mehr als ein Drittel der zu Wort kommenden Frauen äußern sich in ihren Erinnerungen über sexuelle Zudringlichkeiten, Nötigungen und Vergewaltigungen. Sie waren selbst Opfer oder Zeuginnen des Geschehens. Allein dieser Umstand spricht für das Ausmaß des sexuellen Ausgeliefertseins von Frauen im Gulag. Männliche Gefangene, vor allem kriminelle, nutzten die existentielle Notlage der weiblichen Häftlinge. [. . . ] Angehörige der Lageradministration verfolgten die strafbaren Handlungen männlicher Krimineller eher selten, sondern duldeten diese meist stillschweigend.³⁴

Die Berichte von Zeitzeugen und Zeitzeuginnen über sexuelle Gewalt sind als Texte zu gewichten, die traumatische Erfahrungen einschließen. Geschlechtertheoretische Reflexionen gewähren weiterführende Aufschlüsse zur Untersuchung dieser Berichte.³⁵ Denn sie vermitteln Einsichten zu den kulturellen GeschlechterCodierungen, die die Selbstzeugnisse prägen. Die Codierungen stehen im Zusammenhang mit einer kulturellen Geschlechterdifferenz, die sich seit dem 18. Jahrhundert in der bürgerlichen Gesellschaft Westeuropas etablierte. Diese „Ordnung der Geschlechter“³⁶ wurde durch „konzeptionelle Einteilungen in Privatheit und Öffentlichkeit, in Natur und Kultur, in Emotionalität, in das Besondere und das Allgemeine“ konstituiert.³⁷ Die Einteilungen untermauerten ein Machtverhältnis, in dem männliche Wertesysteme, Interessen, Verhaltenslogiken und Kommunikationsstile dominieren.³⁸ Gleichzeitig wurden Frauen aus Bereichen, die als gesellschaftlich relevant gelten, systematisch ausgeschlossen.

34 Ebd., S. 384. 35 Grundlegende Ausführungen zur Relevanz der Kategorie Geschlecht für die Geschichtswissenschaft hielt Joan W. Scott fest: Joan W. Scott: Gender. A useful category of historical analysis, in: The American historical review 91,5 (1986), S. 1053–1075. Zur Rezeption des programmatischen Aufsatzes vgl. Joan W. Scott: Die Zukunft von gender. Fantasien zur Jahrtausendwende, in: Claudia Honegger/Caroline Arni (Hrsg.), Gender. Die Tücken einer Kategorie. Joan W. Scott, Geschichte und Politik. Zürich: 2001, S. 39–63; Regina Wecker: Vom Nutzen und Nachteil der Frauenund Geschlechtergeschichte für die Gender Theorie oder: Warum Geschichte wichtig ist, in: L’homme. Zeitschrift für Geschichte 18,2 (2007), S. 27–52. Eine differenzierte Analyse sexueller Gewalt leisten die Beiträge in: Insa Eschenbach/Regina Mühlhäuser (Hrsg.): Krieg und Geschlecht. Sexuelle Gewalt im Krieg und Sex-Zwangsarbeit in NS-Konzentrationslagern. Berlin 2008. 36 Claudia Honegger: Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib 1750–1850. Frankfurt a.M. 1991. 37 Karin Hausen: Die Nicht-Einheit der Geschichte als historiographische Herausforderung. Zur historischen Relevanz und Anstößigkeit der Geschlechtergeschichte, in: Hans Medick/AnneCharlott Trepp (Hrsg.), Geschlechtergeschichte und Allgemeine Geschichte. Herausforderungen und Perspektiven. Göttingen 1998, S. 45. 38 Michael Meuser/Sylka Scholz: Hegemoniale Männlichkeit. Versuch einer Begriffsklärung aus soziologischer Perspektive, in: Martin Dinges (Hrsg.), Männer – Macht – Körper. Hegemoniale Männlichkeiten vom Mittelalter bis heute. Frankfurt a.M. 2005, S. 223.

190 | Aglaia Wespe Fundament der hierarchischen Geschlechterdifferenz bildeten philosophische, moralische, biologische und anatomische Argumente. Nimmt man diese geschlechtertheoretischen Erkenntnisse als Interpretationsfolie für die Erinnerungsliteratur über die sowjetischen Straflager, wird deutlich: Die „Ordnung der Geschlechter“ zeichnet sich ab, obwohl die historischen Entwicklungen in Russland und Westeuropa unterschiedlich verliefen. Dies lässt sich anhand einer Passage aus Aleksandr Solženicyns Archipel Gulag aufzeigen.³⁹ Im Kapitel über „Die Frau im Lager“ schildert der Schriftsteller, dass weibliche Gefangene unter den Lebensbedingungen im Lager litten: „Der Körper verzehrt sich bei solch einer Arbeit, und alles, was in der Frau das Frauliche ausmacht, beständig oder einmal im Monat, versiegt. [. . . ] (Nach den Worten des Gynäkologen folgt auf einige Monate beim Holzschlagen die Senkung und der Vorfall des wichtigsten Organs).“⁴⁰ In diesem Kapitel ist auch von sexueller Ausbeutung die Rede. Männer in mächtigen Positionen nötigten Frauen zu sexuellen Handlungen und verschafften ihnen dafür höhere Nahrungsmittelrationen oder leichtere Arbeitseinsätze. Wollte eine Frau sich nicht darauf einlassen, drohte ihr Schwerstarbeit: „Du willst nicht? Na bitte. Zieh Wattehosen und Joppe an und mach dich, außen unförmig und dick, innen schwach und gebrechlich, auf den Weg in den Wald. Wirst noch von selbst zurückgekrochen kommen, auf den Knien um Vergebung bettelnd.“⁴¹ Das Kapitel über „Die Frau im Lager“ reproduziert mit mehreren Elementen die Geschlechterordnung. Zunächst ist erwähnenswert, dass der Situation weiblicher Gefangener ein eigenes Kapitel gewidmet wird. Die Lage der Männer dagegen erhält keinen Exkurs. Damit wird eine Dichotomie zwischen Besonderem und Allgemeinen hergestellt. Die Darstellung des körperlichen Zerfalls reduziert Weiblichkeit im Wesentlichen auf die Funktion der biologischen Reproduktion. Eine zusätzliche Dichotomie wird im Zusammenhang mit der sexuellen Gewalt ersichtlich. Ein gewalttätiges männliches Subjekt verfügt über ein „schwaches und gebrechliches“ weibliches. Hier wird das Stereotyp der männlichen Verletzungsmacht und der weiblichen Verletzungsoffenheit aufgegriffen.

39 Zu Werk und Wirkung Solženicyns in seiner Zeit vgl. David Burg/George Feifer: Solshenizyn. Biographie. München 1973; und Elisabeth Markstein/Felix P. Ingold (Hrsg.): Über Solschenizyn. Aufsätze, Berichte, Materialien. Darmstadt 1973. Wie Solženicyns Literatur als historische Quelle verwendet werden kann, zeigt Christian Walt: „Wer’s warm hat, versteht den Frierenden nicht“. Alexander Solschenizyns Erzählung ‚Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch‘ als historische Quelle zum Leben in sowjetischen Straflagern, in: Haumann, Erinnerung an Gewaltherrschaft, S. 157–170. 40 Alexander Solschenizyn: Der Archipel Gulag. Bern 1974, S. 224. 41 Ebd., S. 219.

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Die Analyse der Geschlechterkonstellation will nicht in Abrede stellen, dass Archipel Gulag leidvolle Realitäten spiegelt, die je nach Geschlecht unterschiedlich gewesen sein mochten. Doch in der Bandbreite zwischen kulturellen Codierungen und körperlicher Erfahrung liegen die zitierten Stellen auf der Seite der Codierungen. Ein Blick über die Dichotomien hinaus schafft Raum für erweiterte Einsichten zu den Geschlechterverhältnissen im Lager. Hinsichtlich der Erfahrung von Frauen ist festzuhalten, dass Frauen sexueller Gewalt nicht immer ohnmächtig ausgeliefert waren, sondern sich zuweilen zur Wehr setzen konnten. Darauf lassen die von Stark zusammengetragenen Erinnerungen schließen.⁴² Als Beispiel sei eine Erinnerung Kersnovskajas erwähnt: Die Zeitzeugin erzählt, ein Soldat der Militärwache habe Frauen in einem Krankenzimmer durch sein unangekündigtes Erscheinen beschämt. Zur Wehr kehrte eine Frau den Spieß um und hielt dem Mann den Hintern entgegen, worauf der Soldat seine Kontrollen durch ein Anklopfen ankündigte.⁴³ Das Stereotyp des weiblichen Opfers wird außerdem durch die Annahme gebrochen, Frauen seien mit geringeren Todesraten durchs Lager gekommen.⁴⁴ Historiker und Historikerinnen erklären dies damit, dass weibliche Gefangene sich durch die menschenfeindlichen Lebensbedingungen weniger zermürben ließen. Eine weitere These besagt, dass sie sich besser mit der Mangelernährung arrangierten: „Männer halten Hunger weniger gut stand als Frauen, was daran liegt, dass der Energiebedarf des Mannes pro Kilogramm seines Körpergewichts höher ist als bei der Frau.“⁴⁵ Wichtig ist, diese Anpassungsfähigkeit nicht allein mit biologisch-anatomischen Geschlechterunterschieden zu erklären, denn zu Recht hinterfragen die gender studies diese Unterschiede als Hauptfaktor der Geschlechterdifferenz.⁴⁶ Vielmehr sind die Überlebensstrategien im Zusammenhang mit der

42 Stark, Frauen im Gulag, S. 376–377. 43 Kersnovskaja, „Ach Herr“, S. 304. 44 Aila de la Rive: Geschlechtsspezifische Überlebensstrategien in stalinistischen Zwangsarbeitslagern. Warum Frauen im Gulag besser überlebten, in: Rosa. Die Zeitschrift für Geschlechterforschung 20 (2000), S. 8. 45 Ebd., S. 9. 46 Agent provocateur in dieser Debatte war bekanntlich Judith Butlers „Gender trouble“. (Judith Butler: Gender trouble. Feminism and the subversion of identity. New York 1990). In Bodies that matter hat die Kulturphilosophin ihre Argumente über die Konstruktion von Geschlecht ausdifferenziert (dies.: Bodies that matter. On the discursive limits of „sex“. New York 1993). Aufschlußreich sind auch die Gedanken Erving Goffmans. Der Soziologe legt dar, dass die eher unbedeutenden Geschlechterunterschiede durch kulturelle Praktiken, „institutionalisierte Genderismen“, mit massiver Bedeutung versehen werden (Erving Goffman: Das Arrangement der Geschlechter, in: ders.: Interaktion und Geschlecht. Frankfurt a.M. 2001 [Amsterdam 1977], S. 105–158.). Vgl. auch Andrea Maihofer: Geschlecht als soziale Konstruktion. Eine Zwischen-

192 | Aglaia Wespe unterschiedlichen sozialen Prägung der Geschlechter zu sehen. Dass die Differenz selbst so körpernahe Erfahrungen wie das Hungern tangiert, lässt sich etwa mit Pierre Bourdieus Theorie begründen, dass Zweigeschlechtlichkeit in die kognitiven Strukturen und in die Körper der Individuen eingeschrieben ist.⁴⁷

Gewalt gegen Männer zwischen Scham und Tabuisierung Beim Versuch, Geschlechterdichotomien zu hinterfragen, werden auch wenig beachtete Forschungsfragen zur Erfahrung von Männern ersichtlich. Wie veränderten sich männliche Körper durch die Gefangenschaft? Gab es spezifische Formen der Gewalt gegen Männer? Allgemeiner gefragt: Welche geschlechtsspezifischen Zumutungen widerfuhren männlichen Lagerhäftlingen? Die Erinnerung an die Wiederbegegnung zwischen Kersnovskaja und der schwangeren Vera im Lazarett bietet einen Erklärungsansatz (s. Abb. 1). Um der Frage männlicher Erfahrung nachzugehen, können Historiker/innen den Blick von den Hauptfiguren weg auf die Männer im Hintergrund richten. Die Statur, Gestik und Mimik der drei Gestalten deuten auf ihren schlechten Zustand hin. Näheres ist nicht zu erfahren, weil die Männer für die Autorin Unbekannte sind. In anderen Zeichnungen geht Kersnovskaja auf die Situation schwacher Männer ein. So bildete Kersnovskaja einen Zwangsarbeiter ab, der mit ihr in Verbannung Waldarbeit verrichten musste. Im Mittelpunkt steht der Mann, der sich über das Stück eines zersägten Baumstamms beugt. Der Baumstamm liegt auf einem umgekippten Schlitten, hinter dem Mann – ebenfalls in der Bildmitte – steht ein Pferd. Die Zeichnerin stellt das Geschehen aus der Distanz dar, in der Filmsprache wäre von einer Weitaufnahme die Rede. Damit steht das Bild im Gegensatz zur „Nahaufnahme“ einer jungen Frau, die von einem Baum erschlagen wurde. Die Nähe zeugt von einer größeren Anteilnahme der Erzählerin. Dass die bildliche und emotionale Distanz mit dem Geschlecht der Betroffenen zu tun haben könnte, lässt sich im Text festmachen. Kersnovskaja schreibt zur Zeichnung: „Barsach,

betrachtung, in: Urte Helduser, Karsten Kassner, Daniela Marx (Hrsg.): Under construction? Konstruktivistische Perspektiven in feministischer Theorie und Forschungspraxi. Frankfurt a.M. 2004, S. 33–43. 47 Pierre Bourdieu: Männliche Herrschaft, in: Irene Dölling/Beate Krais (Hrsg.), Ein alltägliches Spiel. Geschlechterkonstruktion in der sozialen Praxis. Frankfurt a.M. 1997, S. 153–217; Meuser/ Scholz, Hegemoniale Männlichkeit, S. 224.

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ehemaliger Besitzer eines Modeschuhgeschäfts, kam mit der Arbeit eines Fuhrmanns nicht zurecht. Es war peinlich anzusehen, und man konnte sich vor Lachen kaum halten, wenn man seine vergeblichen Versuche sah, einen Baumstamm auf den Schlitten zu laden.“⁴⁸ Die Autorin stellt den Protagonisten der Szene als „Besitzer eines Modeschuhgeschäfts“ vor. Ein Geschäftsinhaber und Schuhverkäufer entsprach weder dem Ideal eines tatkräftigen Arbeiters noch den damit verknüpften Männlichkeitsnormen. Die Erzählerin äußert kein Verständnis für die fehlenden Fertigkeiten und Kräfte des Mannes, sondern Scham und Belustigung. Eine Erklärung für diese Reaktion lautet, dass die Männlichkeitsnormen ihrer Zeit nicht mit dem Begriff des Opfers zu vereinbaren waren. Diese Unvereinbarkeit konstatiert Hans-Joachim Lenz in einer sozialwissenschaftlichen Studie über Gewalt gegen Männer. In seinen geschlechtertheoretischen Überlegungen über Männer und Krieg führt Lenz aus: Männern bleibt kulturell die physische und psychische Unversehrtheit vorenthalten, da die Verletzbarkeit von Frauen und Männern kulturstereotyp ungleich bewertet wird. Im System der Zweigeschlechtlichkeit [. . . ] stellt der Begriff des ,männlichen Opfers‘ ein kulturelles Paradox dar: Entweder gilt jemand als Opfer oder er ist ein Mann. [. . . ] Die Folge ist, dass die Viktimisierung von Männern verleugnet bleibt oder bagatellisiert wird.⁴⁹

Die Erinnerung an den hilflosen Waldarbeiter Barsach relativiert diese Überlegungen, indem sie ein männliches Opfer ins Zentrum rückt. In der Literatur über den Gulag wird über Männer berichtet, die sich zuunterst in der Hierarchie befanden.⁵⁰ Hier ist das Selbstzeugnis Lev Klejns zu erwähnen, der 1981 wegen Homosexualität zu einer Haftstrafe im Lager verurteilt wurde.⁵¹ Doch insbesondere Formen sexueller Gewalt gegen Männer, die Klejn erinnert, werden meist verschwiegen. „Sie können so stark tabuisiert sein, dass sie entweder nicht erinnerbar sind oder die betroffenen Männer (z. B. aus Schamgefühl) nicht über sie berichten.“⁵² Dass ein Mann als Opfer die Rollenbilder ins Wanken bringt, wird auch in Kersnovskajas Darstellung des Zwangsarbeiters klar. Wie die Erzählhaltung zeigt, ist sie zwar erinnerbar, doch schambehaftet.

48 Kersnovskaja, „Ach Herr“, S. 117. 49 Hans-Joachim Lenz: Männer und die Widerfahrnisse des Krieges, in: Meike Penkwitt (Hrsg.), Erinnern und Geschlecht. Freiburg i.Br. 2007, S. 175. 50 Ebenso in Erinnerungstexten über Konzentrationslager, vgl. etwa Agamben 2003, S. 36–37. 51 Lev Samuilovič Klejn: Verkehrte Welt. In Brežnevs Lagern. Essays. Berlin 1991. 52 Lenz, Männer, S. 175.

194 | Aglaia Wespe Eine weitere Szene zum Motiv eines männlichen Opfers schildert Kersnovskaja in der Erinnerung an die Gefangenschaft in einem Lager bei Tomsk. Sie berichtet über die Begegnung mit einem betagten Mann, der als Professor an der Universität Tomsk gearbeitet hatte. Er habe ihr die Geschichte und Geographie näher gebracht.⁵³ In der Fortsetzung erzählt sie über den körperlichen Zerfall des Greisen. Er habe sich zusammen mit anderen „Abkratzern“ auf die Abfälle aus der Krankenhausküche gestürzt: Sie stießen einander weg, schöpften mit ihren Händen Fischblasen, Schuppen, Geräten, und vertilgen sie gierig. Das „Finale“ dieses traurigen Bildes steht noch vor meinen Augen: auf dem spärlichen, zertrampelten Gras kniet auf allen Vieren Professor Kolčanov; sein Körper wird vor Krämpfen geschüttelt – er erbricht sich. . . Als der Brechreiz vorbei ist, schiebt er das Erbrochene auf der Erde zusammen und. . . steckt es in seinen Mund. . . ⁵⁴

Wie kann die Historikerin angesichts dieser grauenvollen Erinnerung im Sinne Agambens in der Kluft zwischen Erfahrung und deren Beschreibung verweilen? Unter anderem die körperliche Erfahrung des Hungerns bleibt für Außenstehende nicht nachvollziehbar. Der Historiker Philipp Sarasin umschreibt „Erfahrungen, deren Sprache sich nicht vollständig in unsere übersetzen lässt“, als Riss. Er tut sich da auf, „wo die Sprache auf das Fleisch trifft und dieses nicht ‚in Text‘ aufzulösen vermag: Nicht nur beim Tod, sondern unter anderem im Schmerz und im Begehren des verkörperten Subjekts.“⁵⁵ Dass Kersnovskaja den sibirischen Professor als „Abkratzer“ bezeichnet, verweist auf ein kollektives Deutungsmuster. Die Bezeichnung stammt aus der Umgangssprache im Lager und fand Eingang in die Erinnerungstexte. Ein verwandtes Motiv findet sich in Zeugnissen über Konzentrationslager. Überlebende berichten über Häftlinge, die geistig und körperlich so verfallen waren, dass sie jeglichen Überlebenswillen verloren hatten.⁵⁶ Diese Gestorbenen bilden einen zentralen Punkt in Agambens philosophischen Betrachtungen, weil sie jene Ereignisse ver-

53 Kersnovskaja, „Ach Herr“, S. 229. 54 Ebd., S. 230. 55 Philipp Sarasin: Mapping the body. Körpergeschichte zwischen Konstruktivismus, Politik und „Erfahrung“, in: Historische Anthropologie 7 (1999), S. 449. 56 In der Umgangssprache im Lager und in den Zeugnissen Überlebender wurden diese Häftlinge als „Muselmänner“ bezeichnet. Agamben versteht den Ausdruck als „Krankheitsbild oder ethische Kategorie, [. . . ] oder anthropologischer Begriff“ (Agamben, Was von Auschwitz bleibt, S. 41). Dieses Verständnis halte ich für unzureichend. „Der Muselmann“ müsste im Zusammenhang mit Theorien zu Orientalismus und Okzidentalismus untersucht werden. Weil dies die Fragestellung dieses Artikels sprengen würde, verzichte ich auf die Verwendung des Begriffs und dessen (postkoloniale) Reflexion.

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körpern, die nicht vergegenwärtigt werden können, „ein Unbezeugbares, das die Überlebenden ihrer Autorität beraubt. Die ‚wirklichen‘ Zeugen, die ‚vollständigen Zeugen‘ sind diejenigen, die kein Zeugnis abgelegt haben und kein Zeugnis hätten ablegen können. Es sind die Untergegangenen.“⁵⁷ Bringt man Agambens Gedanke der Lückenhaftigkeit jedes Zeugnisses mit der Kategorie Geschlecht zusammen, kommt ein geschlechtsspezifischer Aspekt zur Lücke hinzu: Die Unvereinbarkeit zwischen Opfer- und Männlich-Sein.

Verweigerung von Weiblichkeit In den vorhergehenden Abschnitten war von verletzlichen Häftlingsfrauen und -männern die Rede. Im Gegensatz dazu zeichnet sich Kersnovskaja in ihrer erzählten Lebensgeschichte beinahe durchgehend widerstandsfähig. Um aufzuzeigen, mit welchen Geschlechterrollen die Ich-Erzählerin die eigene Widerständigkeit verknüpft, werden drei Zeichnungen noch einmal aufgegriffen – jene der Leutnantsfrau in Bessarabien, der Bekannten in einem Lagerlazarett und der Gerichtsverhandlung. In allen drei Zeichnungen bildete Kersnovskaja sich selbst in Hose und mit kurzem Haar ab. In diesem androgynen Aussehen stellte sie sich beinahe durchgängig dar, während die meisten anderen Frauen Röcke, langes Haar oder ein Kopftuch tragen.⁵⁸ Dieser Kontrast wird in der Szene mit Paša und ihren Kindern deutlich ersichtlich: Die dreifache Mutter trägt einen Rock und eine Bluse, die ihre weibliche Gestalt hervorheben (s. Abb. 2). Die Erzählerin hat in dieser Zeichnung außerdem auch im Auftreten eine männlich konnotierte Position inne. Die Personen sind so positioniert, dass die Figur von Kersnovskaja leicht für den Vater des Neugeborenen gehalten werden kann. Wie aus der Legende hervorgeht, liegt diese Annahme nicht allein im Auge der Betrachtenden. Kersnovskaja schrieb: „Es war eine eindrucksvolle Prozession! Paša mit den beiden vor Freude hüpfenden Kindern, und ich vorneweg mit dem Neugeborenen in meinen Armen. Vielleicht war ich so etwas wie der ‚Vater‘?“.⁵⁹ Demzufolge sah sich die Autobiographin nicht als Freundin der Familie, sondern als Ersatzvater in der Rolle eines Mannes. Diese Beziehungskonstellation wiederholt sich unter anderem in der Begegnung mit Vera im Lazarett (s. Abb. 1). Wenn Kersnovskaja die Schwangere mit Kar-

57 Agamben, Was von Auschwitz bleibt, S. 30. 58 Nur auf der Flucht aus der Verbannung trug Kersnovskaja Rock und Kopftuch, um sich als alte Frau zu tarnen. 59 Kersnovskaja, „Ach Herr“, S. 63.

196 | Aglaia Wespe toffeln versorgt, kommt ihr die Ernährerrolle zu. Dass in der sowjetischen Gesellschaft Frauen und Männer für das Einkommen zuständig waren, spräche für eine geschlechtsneutrale Lesart.⁶⁰ Doch in der Beziehung zur hilfsbedürftigen Frau könnte die Erzählerin als starke Feldarbeiterin wiederum in einer männlich konnotierten Position gesehen werden. Dies ist auch vor dem Hintergrund ihrer Sozialisation im ländlichen Bessarabien zu sehen, das erst 1941 von der Sowjetunion annektiert wurde. Wahrscheinlich war die vorrevolutionäre Geschlechterordnung stärker präsent als jene, die sich in der Sowjetunion entwickelt hatte. Durch die Erinnerung, anderen Häftlingen eine Helferin gewesen zu sein, verlieh Kersnovskaja ihrer Lebensgeschichte Sinn. Diese Verarbeitungsweise von Gewalterfahrung findet sich auch in anderen Selbstzeugnissen, doch ist das Helfen dort weiblich konnotiert. Beispielsweise berichtet Evgenija Ginzburg über eine Barackenälteste, die bei ihrer Ankunft im Frauenlager El’gen eine Stimmung von Geborgenheit schuf.⁶¹ In dieser Erinnerung von Ginzburg sind Mütterlichkeit und Häuslichkeit, weiblich konnotierte Eigenschaften, ein Ausdruck von Stärke. Im Unterschied dazu zeichnete Kersnovskaja sich als maskuliner Beschützer. Eine weitere Facette dieses Selbstbildes zeigt sich in der Erinnerung an die Gerichtsverhandlung (s. Abb. 3), die eine Schlüsselrolle für den Sinnkonstruktion der Lebensgeschichte spielt. Kersnovskaja beschrieb sich hier und in zahlreichen weiteren Erinnerungen nicht als Opfer willkürlicher Gewalt, sondern als Anklagende – als Anwältin der Menschenrechte. Offenbar konnte die Schreiberin dieses Leitmotiv der Lebensgeschichte nicht mit ihren Vorstellungen von Weiblichkeit vereinbaren, denn sie verglich sich mit dem Ritter Don Quichotte. So gesehen stärkte Kersnovskaja ihre Widerständigkeit, indem sie sich der Opferrolle und der damit konnotierten Weiblichkeit gleichzeitig entzog.

60 Eine Auflistung von zentralen Studien über Geschlechterverhältnisse in der Sowjetunion findet sich bei Anke Stephan: Von der Küche auf den Roten Platz. Lebenswege sowjetischer Dissidentinnen. Zürich 2005, S. 18–19. 61 Evgenija Ginzburg: Marschroute eines Lebens. Hamburg 1967, S. 359–361. Diese Episode bildet einen zentralen Moment in Ginzburgs Erinnerungstext. Vgl. Haumann, Die Verarbeitung von Gewalt, S. 388.

Liliya Berezhnaya

Die Stalinzeit im russischen Postperestroika-Film Zwischen nationaler Sinnstiftung, Sowjetnostalgie und melodramatischen Kassenschlagern Seit dem Erscheinen des Films Die Reue (Pokajanie) von Tengiz Abuladze im Jahr 1986, der zu einem Klassiker des anti-stalinistischen Perestrojka-Kinos wurde, sind 25 Jahre vergangen. Das Filmzitat: „Aber wozu braucht man eine Straße, wenn sie nicht zur Kirche führt?“ wurde nicht nur zu einem Startpunkt für die Neureflektierung der stalinistischen Vergangenheit im russischen Kino. Vielmehr wandelte es sich zu einem Leitmotiv der gesamten Perestrojka-Zeit. Nach Pokajanie folgten Der kalte Sommer des Jahres 53’ (Cholodnoje leto 53-go, 1987), Die schwarze Rose (Černaja roza, 1989), Die Gastmahle des Balthasar, oder Eine Nacht mit Stalin (Piry Valtasara, ili Noč’ so Stalinym, 1989), Verloren in Sibirien (Zaterjannyj v Sibiri, 1990), Genosse Stalin fährt nach Afrika (Tovarišč Stalin jedet v Afriku, 1991), Ankor, nochmal Ankor (Ankor, ješčo Ankor, 1992) sowie ferner eine Reihe von Dokumentarfilmen über die Epoche des Stalinismus, wie etwa Die Macht von Solovki (Vlast’ Soloveckaja, 1987). All diese Werke vereinte das Bestreben, einerseits die Verfehlungen des Stalinismus zu verurteilen, andererseits neue Heldenmythen und Rollenmodelle zu festigen.¹ Der englische Filmwissenschaftler Julian Graffy schrieb 1993, dass die russischen Kinoproduzenten der Perestrojka-Zeit historischen Themen, insbesondere der Stalinperiode, besondere Aufmerksamkeit schenkten und damit das Ziel verfolgten, die Mythen des sozialistischen Realismus zu dekonstruieren. Als solche benannte er im Anschluss an Francois Niney: die Hoffnung auf eine lichte Zukunft, die Überzeugung von der Genialität des Führers, die Existenz feindlicher Verschwörungen und den Lobgesang auf die Taten der Helden der Arbeit.²

1 Susan Larsen: Melodramatic Masculinity, National Identity, and the Stalinist Past in Postsoviet Cinema, in: Studies in Twentieth-Century Literature 24,1 (2000), S. 85–120. 2 Julian Graffy: Unshelving Stalin: After the Period of Stagnation, in: Richard Taylor/Derek Spring (Hrsg.), Stalinism and Soviet Cinema. London 1993, S. 218. Für eine detaillierte Analyse von Perestrojka-Filmen über Stalin und seine Zeit, vgl. Anna Lawton: The Ghost That Does Return: Exorcising Stalin, in: ebd., S. 186–200; David Gillespie: Identity and the Past in Recent Russian Cinema, in: Wendy Everett (Hrsg.), European Identity in Cinema. Exeter 1996, S. 53–60. Über den „kinematographischen Beitrag“ in der Dekonstruktion von sowjetischen Mythen, vgl. Alexander Prokhorov: From Family Reintegration to Carnivalistic Degradation. Dismantling Soviet Commu-

198 | Liliya Berezhnaya Im Prozess der Neureflektierung der Vergangenheit, besonders in Zeiten historischer Umbrüche und Transformationen, kommt dem Kino eine besondere Rolle zu. Nicht allein deshalb, weil Filme Schlüsselprodukte gesellschaftlicher Kommunikation sind, sondern auch, weil das kinematographische Bild für gewöhnlich die Funktion einer „Naturalisierung“ und damit die Authentifizierung des ideologischen Gehalts der geschriebenen Sprache leistet.³ In der modernen Gesellschaft bezieht das Publikum sein Wissen über seine Vergangenheit viel öfter vom Bildschirm oder der Leinwand als aus Büchern oder gar Lehrbüchern. Ein gutes Beispiel für diese aktive Partizipation bei der Neureflektierung der stalinistischen Vergangenheit ist das russische Kino der Perestrojka-Zeit. Es visualisierte die stalinistische Epoche auf der Ebene eines allgemeinen nationalen Traumas in der Geschichte. Die sogenannten černucha – („schwarze“) Filme⁴ stellen das stalinistische Regime als dämonisch und zerstörerisch dar und machten nicht allein auf die Opfer der stalinistischen Repressionen aufmerksam, sondern auch auf die Opfer der Gegenwart, wie etwa Soldaten, die unter der dedovščina (Schikane von Dienstälteren an Wehrpflichtigen) litten, Prostituierte, Drogensüchtige oder die Opfer krimineller Gewalt. Allerdings ging schon in der ersten Hälfte der 1990er Jahre das allgemeine Interesse am Thema Stalinismus rapide zurück.⁵ Im Jahr 1996 publizierte das Journal Seans die Dokumente eines runden Tisches zum Thema stalinistischer Repressionen im Perestrojka-Kino.⁶ Die versammelten Filmexperten hielten einmütig die Bearbeitung dieser Thematik in den letzten zehn Jahren für unbefriedigend. Der bekannte Kritiker Daniil Dondurej beklagte das Fehlen filmischer Umsetzungen von Solženicyn, Šalamov und Dombrovskij im postsowjetischen Kino. Ljubov Arkus konstatierte, dass es im russischen Kino keine der Literatur adäquate Abbildung des Themas „Stalinismus“ gebe und fast alle Versuche auf diesem Gebiet in dieser oder jener Hinsicht zum Scheitern verurteilt seien. Auf die Frage nach den Gründen dieses Scheiterns antworteten die Experten unterschiedlich. Nach Ansicht Dondurejs wirkte sich das Fehlen entsprechender Aufträge für solche Filme von Seiten des Goskomkino (des damals noch existierenden staatlichen Komitees für Kino) negativ auf das Inter-

nal Myths in Russian Cinema of the Mid-1990s, in: Slavic and East European Journal 51, 2 (2007), S. 272–294. 3 Stephen Hutching: Introduction, in: ders. (Hrsg.), Russia and Its Other(s) on Film. Screening Intercultural Dialogue. Studies in Central and Eastern Europe. Palgrave 2008, S. 5. 4 Seth Graham: Chernukha and Russian Film, in: Studies in Slavic Culture 1 (2000), S. 9–27; Birgit Beumers: A History of Russian Cinema. London 2008, S. 204–208. 5 Svetlana Boym: Stalin’s Cinematic Charisma: Between History and Nostalgia, in: Slavic Review, 51,3 (1992), S. 536–543. 6 Seans 14 (11/1996): http://seance.ru/n/14/istoriya/tema.

Die Stalinzeit im russischen Postperestroika-Film

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esse der russischen Regisseure an der Stalin-Epoche aus. Sergej Dobrovol’skij bemerkte „eine deutliche Ermüdung des Materials vom Stalin-Thema“. Ihm pflichtete Lev Lurje bei, indem er zugleich darauf verwies, dass alle Gesichtspunkte des Stalinismus bereits in der Literatur der 1960er und 1970er Jahre präsent seien, so dass die Regisseure der Perestrojka lediglich die bestehenden Konzeptionen wiederholten. Zu diesen Gesichtspunkten zählte Lurje die Ideen, dass Stalin die Ideale der Oktoberrevolution pervertiert habe, dass die Repressionen des Jahres 1937 nur eine logische Fortsetzung der Logik von 1917 seien; und schließlich, dass Stalin als Staatsmann und charismatischer Führer ein Nachfolger der Regierung Peters des Großen sei. Oleg Kovalëv bemerkte in den zeitgenössischen russischen Filmen einen bestimmten Akzent auf den „dämonischen Stalinismus“, welcher seiner Ansicht nach zwar die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf die persönlichen Charaktereigenschaften des vožd’ (des Führers) lenkte. Allerdings sollte nach Meinung des Kritikers dem Phänomen des „gewöhnlichen“ Stalinismus besondere Aufmerksamkeit gelten, etwa der Erforschung der Sprachgewohnheiten und der Mythologeme der Epoche. Folglich „verharrt das Thema noch in Ohnmacht“, so lautete das einhellige Urteil der Experten von 1996.⁷ Der „Tiefpunkt“, den die Beschäftigung mit Stalin durch russische Filmemacher in der Mitte der 1990er Jahre erreichte, war zugleich ein „Wendepunkt“.⁸ In dieser Zeit wechselte das Thema Stalinismus und Repressionen von der Sphäre des künstlerischen Kinos hinüber in die Sphäre der Massenkultur. Gerade zu dieser Zeit kam der Kassenschlager Die Sonne, die uns täuscht (Utomlennye solncem, 1994) von Nikita Michalkov in die Kinos, und man begann darüber hinaus im Fernsehen die Alten Lieder vom Hauptsächlichen (Starye pesni o glavnom, 1996–2001) zu zeigen, ein Zyklus von Fernsehfilmen zu Neujahr, in denen zeitgenössische Sänger sowjetische Schlager unter anderem aus den 1940er und 1950er Jahren aufführten. Damals wurde auch, zunächst spät abends, dann zur besten Sendezeit, erneut der Film Kubaner Kosaken (Kubanskie kazaki, 1949) gezeigt.⁹ Diese Werke wurden zu einer Art „Brücken“, die die sowjetische Vergangenheit und

7 Ebd. 8 Alexander Jakobidze-Gitman: Istorija kak „predmet podražanija.“ Stalinskaja epocha v postsovetskom kino. Diss. Moskva 2009. 9 Ljubov Borusjak: „Staroje dobroje kino“ i postsovetskij teleopyt, in: Vestnik obsčestvennogo mnenija: Dannyje. Analiz. Diskussii 103,1 (2010), S. 90–101. Über die Alten Lieder vom Hauptsächlichen als „Teil der Strategie von Produzent Konstantin Ernst bei der Ümschreibung der Vergangenheit für die heutigen Konsumszwecke“, vgl. Stephen M. Norris: Blockbuster History in the New Russia. Movies, Memory, and Patriotism. Bloomington/Indianapolis 2012, S. 291–296.

200 | Liliya Berezhnaya das Post-Perestrojka-Russland verbanden.¹⁰ Die Filme aus der Mitte der 1990er Jahre über die stalinistischen Repressalien und die sowjetische Wirklichkeit der 1930er bis 1950er Jahre vereinten die Forderung nach einer Revision der Narrative der Perestrojka. Populär wurden jetzt Diskussionen über die geopolitische Rolle Russlands, über die Stabilität von Wirtschaft und Gesellschaft und über den „dritten Weg“.¹¹ Folgt man den Kategorien von Igor Polianski, begann die stalinistische Vergangenheit von derjenigen der „warmen Erinnerung“ („das, was weh tut, weil es aufhört“) in die Kategorie der „heißen Erinnerung“ überzugehen, „einen Pol des erinnerungskulturellen Kraftfeldes, von dem aus eine Delegitimation und Umgestaltung der geltenden Gesellschaftsordnung in Namen der Geschichte gefordert wird“.¹² Das gesellschaftliche Bedürfnis, die verlorene kollektive Erinnerung zurückzubringen, trieb die Regisseure dazu, die Filme der stalinistischen Epoche neu zu überdenken. Die staatliche Gewalt, der „Große Vaterländische Krieg“ und die Modernisierung der Gesellschaft, also die Schlüsselthemen der 1930er bis 1950er Jahre, wurden nun in Formen der westlichen Massenkultur verhandelt. Der Stalinismus war nicht länger allein ein Gegenstand der „schwarzen Filme“ (černucha), sondern wurde nun auch vom kommerziellen Kino aufgegriffen. Lipoveckij charakterisierte solche Filme als post-soz. Charakteristisch für diese ist eine Polarisierung in „gute“ und „schlechte“ Archetypen, die durch Zitate aus den Werken des Sozialistischen Realismus und der Hollywood-Massenkultur erkennbar sind.¹³ Dabei blieb das Thema Stalinismus ein interessantes Sujet für die Regisseure des künstlerischen Kinos und des Dokumentarfilms. Das Bild Stalins, so wie alles Sowjetische, wurde allmählich zu einer Kino-Mode.¹⁴

10 Jurij Bogomolov: Prošloje kak prijem, in: Seans 35/36 (08/2008): http://seance.ru/category/n/ 35-36. Sergei A. Oushakine sieht in den damaligen Remakes die Zeichen einer gesellschaftlichen Aphasia (Unfähigkeit zu sprechen). Diese Formen sind aus der in der Vergangenheit für die Gegenwartsstrukturierung entlehnt, vgl. Sergei Alex. Oushakine, New Lives of Old Forms: On Returns and Repetitions in Russia, in: Genre XLIII (Fall/Winter 2010), S. 409–457. 11 Russlands Erinnerungskultur in ihrer post-Perestroika-Dynamik wurde eingehend aus vergleichender Perspektive analysiert in: Bernd Faulenbach/Franz-Josef Jelich (Hrsg.): „Transformationen“ der Erinnerungskulturen in Europa nach 1989. Essen 2006, S. 221–298. 12 Igor J. Polianski: Eisbrecher der Geschichte. „Heiße“, „kalte“ und „warme“ Erinnerung in der postsowjetischen Geschichtskultur, in: Lars Karl/Igor J. Polianski (Hrsg.), Geschichtspolitik und Erinnerungskultur im neuen Russland. Göttingen 2009, S. 70. Polianski greift hier die Begrifflichkeiten von Jan Assmann auf. 13 Mark Lipovetsky: Post-Sots: Transformations of Socialist Realism in the Popular Culture of the Recent Period, in: Slavic East European Journal 48,3 (2004), S. 361–62. 14 Jakobidze-Gitman, Istorija kak „predmet podražanija“.

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Die Entwicklung resultierte nicht mehr aus einem offiziellen „Anspruch von oben“ zur Konstruktion eines neuen historisch-identifikatorischen Narratives mit den Mitteln des Kinos. In den 1990er Jahren wurden Russland und andere post-sowjetische Staaten von einer bis dahin ungeahnten Welle von westlichen Bildern sowie von lateinamerikanischen Seifenopern überschwemmt. Das neue Selbstverständnis knüpfte einerseits an das sowjetische (und im weiteren Sinne imperiale) Erbe an und speiste sich zum anderen aus expliziten Gegenentwürfen westlicher Seifenopern und der Kommerzialisierung des Kinos. Das Ergebnis waren postsowjetisch-imperiale (vielfach als nationalistisch interpretierte) Vorstellungsmuster, die eine Rückbesinnung gegenüber dem als Selbstgeißelung empfundenen Zugang der Perestrojka und Glasnost’-Zeit bedeuteten. Nach Meinung von Aleksandr Prochorov brachte das Kino dieser Zeit den Wandel der gesellschaftlichen Stimmung von Enttäuschung zu neuer Hoffnung zum Ausdruck.¹⁵ Seitdem sind anderthalb Jahrzehnte vergangen. Das russische Kino ist nach der „Koma-Periode“¹⁶ der Perestrojka in finanzieller wie in kreativer Hinsicht gleichsam regeneriert. Doch inwieweit waren die vergangenen 15 Jahre von einer neuen Hinwendung zum Thema Stalinismus geprägt? Welche neuen Topoi, Narrative und Mythologien hat der russische Film bei der Bearbeitung der Stalin-Zeit herausgebildet? Wurde der antistalinistische Konsens aufgekündigt?¹⁷ In welcher Weise hat das Post-Perestrojka-Kino die Formierung einer russländischen Erinnerungskultur über die Epoche des Stalinismus beeinflusst? In meinem Aufsatz möchte ich zeigen, dass die vergangenen eineinhalb Jahrzehnte tatsächlich von einer neuen Wendung des Interesses zum Thema Stalinismus und Personenkult in der russländischen Geschichte geprägt waren. Dabei knüpften die zeitgenössischen Kinematographen zweifellos an die Methoden der Verbildlichung des Perestrojka-Kinos an. Doch während die Filme der Perestrojka-Zeit noch in der Tradition der „dämonischen“ Visualisierung des Stalinismus standen, vermochten die zeitgenössischen Regisseure auch neue Sujets in der Verbildlichung des „gewöhnlichen“ und „alltäglichen“ Stalinismus zu entdecken. Im Folgenden werden die russischen Gegenwartsfilme zum Stalinismus entlang von vier Motiven dargestellt, die das Thema konstituieren. Das erste Mo-

15 Prokhorov, From Family Reintegration to Carnivalistic Degradation, S. 275–76. 16 Helena Goscilo: Introduction, in: Slavic and East European Journal. (Special Forum Issue: Resent, Reassess, and Reinvent: The Three R’s of Post-Soviet Cinema) 51,2 (2007), S. 214–220, hier 220. 17 So Nina Frieß: Nichts ist vergessen, niemand ist vergessen? Erinnerungskultur in Russland. Potsdam 2010, S. 95–96.

202 | Liliya Berezhnaya tiv zeichnet den Stalinismus als Symbol von Gefängnis und Unterdrückung (die Metapher der „Zone“). Dieses Thema wird im ersten Teil betrachtet. Im zweiten Teil wird der Verbindung von Stalinismus und Religion in den Filmen nachgegangen, die den „Großen Vaterländischen Krieg“ als eine Zeit von geistiger Reinigung beschreiben. Der dritte Teil geht der Frage nach, ob die Sicherheitsorgane des stalinistischen Regimes als Henker und als Verteidiger der Gesellschaft gezeichnet werden. Und schließlich werden Formen der Verklärung der Stalin-Zeit als eine Periode des Fortschritts aufgezeigt.

Die Stalin-Epoche als Symbol von Gefängnis und Unterdrückung Der Ausspruch des Kritikers Dondurej von 1996 über das Fehlen einer Leinwandadaptation von Solženicyn und Šalamov blieb unter den russischen Regisseuren und Produzenten nicht unbeachtet. Im Auftrag des Fernsehkanals „Rossija“ drehte Gleb Panfilov im Jahr 2006 eine 12-teilige Serie nach Motiven des Romans V krugie pervom (Im ersten Kreis der Hölle) von Solženicyn, der auch am Drehbuch mitwirkte und eine Sprechrolle übernahm. Dies war die erste russische Verfilmung des Romans, zuvor gab es nur eine Theaterinszenierung durch Julia Ljubimova von 1998 im Theater an der Taganka.¹⁸ In der Hauptrolle des Neržin trat auf Empfehlung von Solženicyn selbst Evgenij Mironov auf. Die Lebensgeschichte der politischen Gefangenen in der Šaraška (Sondergefängnis für Wissenschaftler und Ingenieure) von Marfino zog anfangs die Aufmerksamkeit einer großen Zahl von Zuschauern auf sich und stieß gleichzeitig auf widersprüchliche Reaktionen.¹⁹ Die Konfliktlinie verlief dabei nicht zwischen „Stalinisten“ und „Demokraten“, obwohl es diesen Gegensatz auch gab, sondern zwischen jenen, die auf die stalinistische Epoche durch das Prisma politischer Grabenkämpfe und Repressionen schauten, und jenen, die in der Verfilmung von Solženicyn eher grundsätzliche moralische Fragen von Liebe, Treue und Verrat sahen.²⁰

18 Der Roman „Im Ersten Kreis der Hölle“ von Aleksandr Solženicyn wurde von ihm zwischen 1955–1958 nach seinen autobiographischen Aufzeichnungen aufgeschrieben, allerdings erst 1990 in der UdSSR veröffentlicht. 19 Vgl. „Solženicyn pobedil Terminatora“, in: Strana.Ru (01/2006): http://www.vkrugepervom.ru/content.html?id=321&cid=44. 20 Bemerkenswert ist, dass ebenfalls der Filmproduzent Maxim Panfilov sich zu den letzteren bekannte. Ebd.

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Bereits einige Jahre bevor der Film Im ersten Kreis der Hölle auf den Bildschirm kam, wurde im russischen Fernsehen eine mehrteilige Bildschirmadaptation von Perestrojka-Literatur über die Stalinzeit gezeigt. Der Film Die Kinder vom Arbat (Deti Arbata, 2004 Regisseur: Andrej Ešpaj), nach der Trilogie von Anatolij Rybakov, erzählt vom Schicksal der Moskauer Jugend in den 1930er und 1940er Jahren. Die Serie folgt der traditionellen Perestrojka-Darstellung und teilt die Gesellschaft jener Zeit in idealistische Märtyrer und infernalische Henker. Das stalinistische Regime und seine Schergen werden als moralisch verkommene Subjekte dargestellt. Symptomatisch ist in diesem Fall das Bild des NKVD-Offiziers Jurij Šarok, dargestellt von Daniil Strachov. Der pragmatische Šarok übertritt häufig moralische Prinzipien im Interesse seiner Karriere, begeht dabei Verrat an Liebe und Freundschaft und bleibt am Ende allein. Der Kulminationspunkt des Weges dieser Hauptfigur ist die Szene seiner Ermordung auf offener Straße und am helllichten Tag durch die Hand anderer NKVD-Agenten. Der Linie des politischen Terrors wird das melodramatische Sujet der Liebesbeziehung eines jungen Paares gegenübergestellt, das es trotz aller Hindernisse schafft, seinen Gefühlen treu zu bleiben. Ähnlich wie Michalkovs Von der Sonne getäuscht versucht die Serie Die Kinder vom Arbat eine Synthese von Alltagsgeschichte und „großer Geschichte“ in Form von „nachahmenden Themen“.²¹ Ungeachtet gewisser Unterschiede im Zugang die gefangenen Gelehrten im Ersten Kreis der Hölle führen philosophische Gespräche miteinander, während die Helden in Die Kinder vom Arbat eher in Seifenoper-Manier über die Verwicklungen in ihren persönlichen Beziehungen räsonieren vereint beide Serien die Suche nach gesellschaftlichen Alternativen zum Terror. Die Regisseure postulieren die moralische Reinheit der Repressionsopfer und erheben sie in den Rang mythologisierter Helden. Analoge Motive klingen in einigen Dokumentarfilmen der Post-Perestrojka-Epoche an. In erster Linie gehört hierzu der zehnteilige Film Russland im Krieg. Blut auf Schnee (Rossija v vojnie. Krov’ na snegu, 1996), eine Gemeinschaftsproduktion des Fernsehkanals „Rossija“ und der BBC. Einer der Autoren des Drehbuches war der Publizist, Dramaturg und Schriftsteller Genrich Borovik, der in der Gorbačev-Zeit Abgeordneter des Kongresses der Volksdeputierten war. Die zwei ersten Folgen (Die Finsternis fällt (T’ma opuskajetsja) und In letzter Stunde (V poslednij čas)) des Regisseurs Viktor Lisakovič sind dem stalinistischen Terror der späten 1920er und der 1930er Jahre gewidmet. Auf der Basis von dokumentarischen Materialien und Erinnerungen von Zeitzeugen versuchen die Autoren des Films zu zeigen, dass die totalitären Systeme Deutschlands und der UdSSR viel gemeinsam hatten, ungeachtet der Rivalität der beiden Diktatoren.

21 Vgl. Jakobidze-Gitman. Istorija kak „predmet podražanija“.

204 | Liliya Berezhnaya Stalin wird darin als eine bösartige und manische Figur dargestellt, die gedankenlos Millionen von Mitbürgern in den Tod schickt. Der Film wurde seither vielfach auf mehreren russischen Fernsehkanälen gezeigt, oft im Zusammenhang mit Feierlichkeiten zum Tag des Sieges.²² Einen analogen Blickwinkel wählte der Regisseur Aleksej Il’juchin in einem Dokumentarfilm über das Exekutionsfeld von Butovo unter dem Titel Bittet Gott für uns (Molite Boga o nas, 2008). Der Film, preisgekrönt auf dem Festival „Goldener Recke“ (Zolotoj Vit’jaz), erzählt das Schicksal von Menschen, die zwischen 1930 und 1950 auf dem Exekutionsfeld Butovo des NKVD hingerichtet worden waren. Da viele der Opfer später als Märtyrer kanonisiert wurden, wird Butovo oft als „russisches Golgotha“ bezeichnet. Genau in diesem Sinne erzählt der Film Il’juchins von den stalinistischen Repressalien. Aufgenommen in Schwarz-Weiß und in rostfarbener Couleur, die an alte Fotographien erinnert, inszeniert Bittet Gott für uns die Ereignisse dieser Zeit als Martyrium des orthodoxen Russlands während der Diktatur einer gottlosen Macht. Dabei sind diese Filme von der Gesellschaft nicht nur als ein Mittel gegen das stalinistische, sondern auch das postsowjetische Trauma wahrgenommen worden. Die Filme werden als Berichte über das „Überleben in Unruhezeiten, in den 1920-er ebenso wie in den 1990-er Jahren“ gesehen.²³ Eine etwas andere Tendenz in der Darstellung stalinistischer Lager verraten die zwei letzten Filme des Regisseurs Nikolaj Dostal’. Im Jahr 2007 brachte er die Kolymaer Geschichten (Kolymskije rasskazy) von Varlaam Šalamov auf den Bildschirm. Die Fernsehserie Lenins Testament (Zaveščanie Lenina) fand beim Publikum keine besondere Sympathie, auch wenn sie 2008 den Preis des „Goldenen Adlers“ erhielt und gleich zweifach auf dem Kanal RTR gezeigt wurde. Das mag daran liegen, dass die Prinzipien des stalinistischen Lagersystems, die jegliche moralische Grundlagen zerstört hatten, die Leitidee des Filmes bildet. Einer der

22 Die Haltung der Filmautoren von Russland im Krieg. Blut auf Schnee (Rossija v vojnie. Krov’na snegu, 1996), die in Russland zu Zeit der Perestrojka und während Jelzins Amtszeit praktisch als unstrittig galt, wurde zehn Jahre später zum Hauptgegenstand des Dokumentarfilmdiskurses. Der Hauptredakteur der verbotenen Zeitung „Das Duell“ Jurij Muhin drehte den Film Die Sehnsucht nach Stalin (Toska po Stalinu, 2007), welcher die wesentlichen Postulate von Blut auf Schnee kritisierte. Laut Muhin, sei die Zahl der Repressionsopfer stark erhöht; die Amerikaner, der Westen und mit ihnen Trotzkij seien die maßgeblichen Gegner und Verleumder der Sowjetunion. Der Film enthält überwiegend antisemitische Äußerungen und ständige Verweise auf „die demokratische und Chruščevsche Verschwörung“ gegen die UdSSR – „das demokratischste Land der Welt“. Die Sehnsucht nach Stalin wurde nicht im Fernsehen ausgestrahlt, dafür fand er eine breite Verwendung auf ultrapatriotischen Internetseiten. 23 Norris, Blockbuster History, 110.

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Drehbuchautoren, Jurij Abramov, benannte in einem Brief an die Literaturnaja Gazeta zumindest Lüge und Betrug als „durchgängige Themen der Dramaturgie der Serie“ und zugleich als Daseinsprinzipien des stalinistischen Lagersystems überhaupt.²⁴ Der Film, der von Journalisten als „Urteil über die Epoche“²⁵ bezeichnet wurde, beschrieb im Detail die Schrecken des Lebens im Lager Kolyma. Offensichtlich hatte das Prinzip einer Darstellung der UdSSR der 1930er bis 1950er Jahre als Repräsentation von Despotie, Gefängnis und allumfassenden Straflagers²⁶ beim zeitgenössischen Publikum an Interesse verloren. Zwei Jahre später drehte der Regisseur Nikolaj Dostal’ einen weiteren Film zum Thema des Lagerlebens in der Stalinzeit. Petja auf dem Weg ins Himmelreich (Petja po doroge v Carstvo Nebesnoe, 2009) erhielt den ersten Preis auf dem Moskauer Internationalen Kinofestival. Der Film ist stilistisch dem Testament Lenins vollkommen entgegengesetzt. Im Zentrum der Erzählung steht nun der frei in Kandalaks lebende, halbverrückte junge Bursche Petja – ein komischer Typ, ein Jurodivyj (ein närrischer Mensch), den zu beleidigen nach russischer Tradition eine Sünde bedeutet. Am Ende des Films wird er irrtümlich vom NKVD, der flüchtige Gefangene jagt, umgebracht.²⁷ Die stalinistische Epoche stellt in diesem Film einen eher allgemeinen Hintergrund dar. Repressionen werden im Film nicht gezeigt. Die im Lager Eingeschlossenen sehen zwar wie unglückliche und unfreie Menschen aus, aber ihr Anblick löst eher Befremden und Angst vor dem Unbekannten aus. Der Zuschauer sieht das Lager mit den Augen der Siedler, die auf der anderen Seite des Stacheldrahtzaunes wohnen. Insofern erzeugen Stöße und Schreie der Aufseher gegen die dunkle Häftlingsmasse weder Entrüstung noch Verurteilung beim Publikum. Nur einigen Häftlingen gelingt es, diese Grenze der Entfremdung zu überwinden. Zum Beispiel wird der jüdische Häftling Doktor Joffe der Frau des Lagerkommandanten zur Verfügung gestellt, die ihrerseits innerhalb eines amourösen Dreiecks versucht, den ungeliebten Mann zu manipulieren und

24 Jurij Abramov: „Steržnevoj osnovoj dramaturgii seriala, jego skvoznoj temoj javlajetsia lož“, in: Literaturnaja gazeta, 04.07.2007: http://www.lgz.ru/article/785/. 25 Aleksandr Rogatkin: „Prigovor epoche“, in: Vesti, 04.06.2007: http://www.vesti.ru/doc.html? id=124561. 26 Oksana Sarkisova hebt die Motive „Knast“ und „Ausbruch“ als filmische Schlüsselstoffe im postsowjetischen Kino hervor, vgl. Oksana Sarkisova: Long Farewells. The Anatomy of the Soviet Past in Contemporary Russian Cinema, in: Oksana Sarkisova/Péter Apor (Hrsg.), Past for the Eyes. East European Representations of Communism in Cinema and Museums after 1989. Budapest/New York 2008, S. 145–152. 27 Alexander Jakobidze-Gitman: „The Stalin Era in Secondary Processing“, 25 May 2010, in: Artmargins. Contemporary East and Central European Visual Culture: http://www.artmargins.com/ index.php/6-film-a-video/580-stalin-era-secondary-processing-film-review-article.

206 | Liliya Berezhnaya an ihm Rache zu üben. Der „dämonische Stalinismus der Lager“ fehlt hier fast vollständig. Ungeachtet dessen tritt Petja beinah als Hauptrepräsentant seiner Zeit auf, der im selben Jahr wie Stalin stirbt. Auf dem Bildschirm tauchte nun der „kleine Mann“ in der führenden Rolle auf – die Zeit des „gewöhnlichen Stalinismus“ war gekommen.

Der Große Vaterländische Krieg, der Glaube und stalinistische Verbrechen Womöglich gibt es kein besseres Genre als den Kriegsfilm, um die Rolle des „kleinen Mannes“ in der Geschichte darzustellen. Das anwachsende Interesse an der Kriegsthematik im russischen Kino wurde schon länger zum Forschungsgegenstand von Historikern und Kinoexperten.²⁸ Die Gründe für die aktuelle Konjunktur des Zweiten Weltkrieges sah man im verletzten Nationalstolz einer ehemaligen Weltmacht, fortgesetzten imperialen Ambitionen sowie im Versuch in der Geschichte einen gewissen „Moment der Wahrheit“ zu finden, in dem persönliche Interessen dem Sieg im Krieg untergeordnet waren. Die russische Führung fördert solche Stimmungen beim Kinopublikum durch die Initiierung patriotischer Kinofestivals, wie etwa „Goldener Recke“ (Zolotoj Vit’jaz) oder „Das Festival des Kriegskinos“ (Festival’ vojennogo kino).²⁹ Interessanterweise rief das Bedürfnis der Bevölkerung nach einer Revision des Bildes vom „Großen Vaterländischen Krieg“ eine nachhaltige Reaktion unter den Dokumentarfilmregisseuren hervor. In einigen jüngeren Filmen werden Stalin und seine Entourage als Feinde des siegreichen Volkes dargestellt. Besonders augenfällig wird diese Idee in Sieger über die Sieger (Pobediteli pobeditelej, 2010) des Regisseurs Aleksej Smagljuk. Der Film berichtet von der Ermordung der Generäle der Roten Armee, die in deutsche Gefangenschaft geraten waren, durch den NKVD. Der Sieg über die „Faschisten“ wird tituliert als „großes Ereignis in der geistigen Geschichte der Menschheit“, das die Sowjetmenschen zu „Gestaltern der Geschichte“ machte. Der „Algorithmus der Sieger“, von dem sich die von der Front heimgekehrten Soldaten leiten ließen, entsprach den Filmesprechern

28 Isabel de Keghel: Ungewöhnliche Perspektiven. Der Zweite Weltkrieg in neueren rußländischen Filmen, in: Osteuropa 4–6 (2005), S. 337–346; Denise J. Youngblood: Russian War Films. On the Cinema Front, 1914–2005. Lawrence 2006, Kap. 9; siehe auch die Rezension von Elena Baraban in: Canadian Slavonic Papers 50,1 (2008), S. 277–278. 29 Sarkisova: Long Farewells, S. 158.

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zufolge nicht den Vorstellungen Stalins von einer einzigen homogenen Macht im Staat. Analoge Schlussfolgerungen finden sich im Film Stalin gegen die Rote Armee (Stalin protiv Krasnoj Armii, 2011), der von Regisseur Daniil Serych im Auftrag des Fernsehkanals NTV gedreht wurde. Hitlers Entscheidung, die Sowjetunion im Juni 1941 zu überfallen, wird mit der Erschöpfung der Roten Armee infolge der stalinistischen Repressalien des Jahres 1937 erklärt. Auf diese Weise werden die großen Verluste in den ersten Kriegsmonaten als Folge der Politik des Kreml’ dargestellt. Und nur dank des Heroismus des gewöhnlichen Sowjetsoldaten sei es gelungen, dem deutschen Angriff standzuhalten.³⁰ In diesen Dokumentarfilmen wird die „Historizität“ und die „Wahrheit“ des Dargestellten durch Kommentare eines Sprechers und durch die argumentative Logik der Erzählführung erzielt. Mit Bill Nichols gesprochen: Beim Zuschauer entsteht der Eindruck der „Stimme Gottes“ hinter dem Bildschirm.³¹ Gepaart mit der Kritik an der stalinistischen Politik versucht das russische Post-Perestrojka-Kino über den „Großen Vaterländischen Krieg“ den Krieg als schwere Prüfung darzustellen. Rimgaila Salys nennt diese Art Film über die Stalinzeit „kompensatorisch“, insofern diese versuchten, einige Aspekte dieser Zeit von ihren negativen Konnotationen zu befreien.³² Diese Filme thematisieren häufig die Wandlung des „kleinen Mannes“ zum Helden, berichten von seinem Widerstand gegen das Regime und verherrlichen dessen moralische Überlegenheit über die inneren und äußeren Gegner. Besonders instruktiv sind in dieser Hinsicht die Serie des schon erwähnten Nikolaj Dostal’ Strafbatallion (Štrafbat, 2004)³³ und die zwei neuen Blockbuster von Nikita Michalkov (Von der Sonne

30 Der Film Das letzte Geheimnis des 2. Weltkrieges (Posledniaja tajna vtoroj mirovoj, 2007) von Alexej Denisov wurde von GRTK in Auftrag gegeben und handelt von Repressionen des NKVD, die im Jahre 1945 gegen Kosakenfamilien, Angehörige der Vlasov-Armee, russische Emigranten und zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppte Sowjetbürger gerichtet waren. Aus der Sicht der Filmautoren, gilt die Hauptschuldzuweisung den politischen Regierungen Großbritanniens und der USA, die gemäß den Verträgen von Jalta diese Menschen dem NKVD übergeben hatten. Nichtsdestotrotz wird auch Russland (genau so wird die UdSSR im Film genannt) nicht von jeglicher Schuld freigesprochen. Der Film beginnt und endet mit Bildern von „Tepluški“ (Güterwagen für Gefangene), Hunden und Stacheldrahtzaun, die das Russland Stalins repräsentieren. Das Lager bildet in der visuellen und textuellen Rangordnung einen Antagonismus zum Bild des schuldlos leidenden Volkes. 31 Bill Nichols: Introduction to Documentary. Bloomington 2011, S. 167. 32 Rimgaila Salys: Infernal Energy: Revisioning the Stalin Era, in: KinoKultura 33 (2011): http://www.kinokultura.com/2011/33-salys.shtml. 33 Isabel de Keghel: The Penal Battalion: a Russian TV Series between Reassessing History and Staging Patriotism, in: Kultura 3 (2005), S. 15–17; Peter Jahn: Patriotismus, Stalinismuskritik und Hollywood. Der ‚Große Vaterländische Krieg‘ in russischen TV-Serien der Gegenwart, in: Beate

208 | Liliya Berezhnaya getäuscht 2: Exodus (Predstojanie, 2010) und Von der Sonne getäuscht 3: Zitadelle (Citadell, 2011). Beide Filme sind im Zug der „Umschreibung der Geschichte“ geschaffen, wie sie für das spätere Werk von Michalkov so aktuell ist.³⁴ Sie drohten an den Kinokassen jedoch zum Flop zu werden,³⁵ lösten unter den Zuschauern und den Kritikern aber dennoch Diskussionen aus. Im jüngst erschienenen Buch „Offene Rede“ (Prjamaja reč’) schreibt Michalkov, er habe den Film für die Jugend gemacht, die nichts über den Krieg wisse und auch das sowjetische Kino zu diesem Thema nicht kenne.³⁶ Er schuf mit der Fortsetzung von Von der Sonne getäuscht ein Pendant zum Spielberg-Film Saving Private Ryan (1998): eine persönliche Geschichte vor dem Hintergrund des großen Krieges. Es sollte eine russische Alternative zur Hollywood-Version des Zweiten Weltkrieges sein. Der Film erzählt die tragische Familiengeschichte Kotovs, der im Verlauf des Films seine erwachsen gewordene Tochter wiederfindet und seine Frau erneut verliert. Die stalinistischen Repressionen und das Lagermilieu bilden lediglich den Hintergrund für die religiöse Erweckung Kotovs, der zunächst einen Priester hinrichtet, als Gefangener seine Sünden bereut und schließlich zu einem moralischen Führer, General und Otec (Pater) seiner Soldaten wird.³⁷ Die Haupthelden der drei Filme sind Strafgefangene, von Repressalien unterdrückte Soldaten und Offiziere, die im Kampf gegen die Wehrmacht das eigene Leben nicht schonen, in deren Rücken aber stets Wachabteilungen erscheinen.

Fieseler/Jörg Ganzenmüller (Hrsg.): Kriegsbilder. Mediale Repräsentationen des ‚Großen Vaterländischen Krieges‘. Essen 2010, S. 115–130. 34 Birgit Beumers erkennt in Michalkovs Hinwendung zur Geschichte das persönliche Bedürfnis, eine ideelle und charismatische Vaterfigur zu finden oder zu erzeugen: sei es in Kotov oder Zar Alexander III, vgl. Birgit Beumers: Nikita Mikhalkov: between Nostalgia and Nationalism. London/New York 2005, S. 124; vgl. auch: Tatiana Moskvina: „La Grande Illusion“, in: Birgit Beumers (Hrsg.), Russia on Reels: The Russian Idea in Post-Soviet Cinema. KINO: The Russian Cinema Series. London/New York 1999, S. 91–104. 35 „Von der Sonne getäuscht 2: Exodus“ brachte es in den ersten zwei Verleihwochen auf eine sehr niedrige Zuschauerzahl, in den zwei Monaten des Jahres 2010 spielte der Film lediglich 217 Mio. Rubel ein (ca. 5,2 Mio. Euro): http://kinometro.ru/release/card/id/1252. Das Filmbudget belief sich auf 40 Mio. USD. „Von der Sonne getäuscht 3: Zitadelle“ schnitt noch schlechter ab – die Einnahmen für 2011 ergaben nur 42 Mio. Rubel (ca. 1 Mio. Euro): http://kinometro.ru/release/ card/id/4371. Die Produktionskosten beliefen sich auf 34 Mio. USD. 36 Nikita Mikhalkov: Prjamaja rec’. Moskau 2011, S. 326. 37 Die Geschichte Kotovs in der Trilogie von Michalkov ist ein typisches Motiv des zeitgenössischen russischen Kinos, wie es Aleksandr Etkind beschrieben hat: die Wandlung des Sünders zum Opfer und anschließend zum moralischen Vorbild, vgl. Aleksandr Etkind: The tale of two turns: Khrustalev, My Car! and the cinematic memory of the Soviet past, in: Studies in Russian and Soviet Cinema 4,1 (2010), S. 45–63.

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Im Ergebnis kommt ihre Opferbereitschaft christlichem Märtyrertum gleich, ihre Heldentaten werden religiös überhöht. Es vollzieht sich eine Remythologisierung der Stalin-Epoche und eine Sakralisierung der Kriegszeit.³⁸ Diese Parallelen werden in der letzten Szene von Strafbataillon deutlich, als über den Körpern der im Kampf gefallenen Bataillonssoldaten das leuchtende Antlitz der Gottesmutter erscheint.³⁹ Und der frühere Divisionskommandeur Kotov entgeht in Von der Sonne getäuscht 2: Exodus auf wundersame Weise dem Tod, indem er dank des Beistands einer Mutter-Gottes-Ikone die Bombardierung einer Kirche überlebt. Im dritten Film aus dem Epos, Von der Sonne getäuscht 3: Zitadelle, führt der von Stalin rehabilitierte Kotov seine mit Stöcken bewaffneten Soldaten über Wasser und trockenes Gelände zum Angriff auf die feindliche Festung. Dabei vermögen die deutschen Soldaten nicht einmal Widerstand zu leisten, da durch eine seltsame Verkettung von Umständen die Festung aus unerklärlichen Gründen in die Luft gesprengt wird. Allgemein sind religiöse Motive sehr populär in Filmen über den Krieg. Eine besondere Stellung nehmen in dieser Kategorie dokumentarische Filme über die Rolle der russischen orthodoxen Kirche im Kampf gegen die Deutschen ein. Zwei Filme betrachten dieses Thema durch das Prisma der Beziehung zwischen Kirche und Sowjetmacht in den Jahren des „Großen Vaterländischen Krieges“: Für Glauben und Vaterland (Za veru i otečestvo, 2010, Regie Jurij Linkevič) sowie Stalin und das 3. Rom (Stalin i tretij Rim, 2006, Regie Viktor Beljakov). Beide Filme thematisieren die Wiedererrichtung des Patriarchats im Jahr 1943 und die schwere Entscheidung von Metropolit Sergij (Stragorodskij) zur Zusammenarbeit mit dem atheistischen Regime. In beiden Fällen wird der Kompromiss mit der Sowjetmacht mit den Notwendigkeiten des Krieges und den gemeinsamen Interessen von Kirche und Volk gerechtfertigt. Zu den künstlerischen Filmen zum Thema Religion, Stalinismus und Krieg zählt auch der von Regisseur Chotinenko gedrehte Film Der Pope (Pop, 2009) über die Pskover Mission in den besetzten Gebieten. Auch das Melodram Ein Krieg (Odna vojna, 2010) von Vera Glagoleva über die Repressionen gegen sowjetische Frauen, die Kinder von deutschen Gefangenen bekommen hatten, gehört zu diesem Genre der religiösen Erweckungsfilme. Eine der Heldinnen bittet aus Verzweiflung und angesichts des nahen Todes in einem Gebet vor einer kleinen Ikone um ihre Rettung, wird erhört und überlebt.

38 Jakobidze-Gitman: Istorija kak „predmet podražanija“. S. auch Natascha Drubek, Russian Film Premieres in 2010/11: Sacralizing National History and Nationalizing Religion in: Liliya Berezhnaya/Christian Schmitt (Hrsg.): Iconic Turns. Nation and Religion in Eastern European Cinema since 1989, Leiden, 2013, S. 81–98. 39 Norris, Blockbuster History, S. 120–124.

210 | Liliya Berezhnaya Bemerkenswert ist, dass bei all diesen Filmen Repressionsopfer als Haupthelden auftreten. Auf diese Weise werden die Leidtragenden der staatlichen Gewalt in ein patriotisches Geschichtsbild integriert. Den Organisatoren des Terrors, den Offizieren des NKVD, und der stalinistischen Herrschaft wird bei der Verbildlichung hingegen nur eine Nebenrolle zuteil. Die Regimevertreter erscheinen entweder in einer Aura von abstoßender Faszination, wie etwa der „Osobist“ (NKVDOffizier) im Strafbataillon, oder sie wechseln auf die Seite der Opfer, wofür sie dann ihrerseits Repressionen durch die Sowjetmacht erfahren. So entpuppt sich etwa ein Major des NKVD in dem Film Ein Krieg, der zur Verschickung verhafteter Frauen in ein Lager eintrifft, als Veteran, der im Verlauf des Krieges seine Familie verloren hat. Die letzte Szene des Films zeigt seine Wandlung von einem skrupellosen Werkzeug des Regimes zu einem Menschen mit hohen moralischen Prinzipien. Am Ende des Films verhindert der Major nicht die Flucht der Frauen und Kinder zu den Altgläubigen, womit er sein eigenes Todesurteil unterschreibt.

Sicherheitsorgane der Stalinzeit – Henker oder Verteidiger des Vaterlandes Es ist viel darüber geschrieben worden, dass der gesellschaftliche Diskurs über die stalinistischen Repressionen den Akzent auf die Leiden der Opfer setzt und die Täter praktisch nicht zur Kenntnis nimmt.⁴⁰ Im Kino ist diese Akzentverschiebung gegenüber der Perestrojka-Zeit besonders deutlich. In einer Reihe von Filmen (zum Beispiel in Einer von uns (Svoi), Dmitrij Meskiev, 2004) oder Ein halber Augenblick (Polumgla, Artem Antonov, 2005) ist die Grenze zwischen Tätern und Opfern sogar aufgehoben.⁴¹ Zwei zeitgenössische Fernsehserien verarbeiten die Rolle des NKVD bei den stalinistischen Repressionen zu Actionfilmen. Die Liquidierung (Likvidacija, 2007, Regie von Sergej Ursuljak) und Der Apostel (Apostol, 2008, Gennadij Sidorov, Jurij Moroz) thematisieren in einer Mischung aus JamesBond-Film und spätsowjetischem Stil die heroische Rolle der Mitarbeiter der

40 Alter L. Litvin/John L. H. Keep: Stalinism: Russian and Western Views at the Turn of the Millenium. Totalitarian Movements and Political Religions. London 2004, S. 68–77 und 97–100; Arsenij Roginskij: Erinnerung und Freiheit. Die Stalinismus-Diskussion in der UdSSR und Russland, in: Osteuropa 61, 4 (2011), S. 55–60; ders.: Fragmentierte Erinnerung. Stalin und der Stalinismus im heutigen Russland, in: Osteuropa 59, 1 (2009), S. 37–44. 41 Zu Polumgla siehe auch: Christine Engel: 60 Jahre danach. Neue Sichtweisen auf den ‚Große Vaterländischen Krieg‘ im Film Polumgla, in: Beate Fieseler/Jörg Ganzenmüller (Hrsg.): Kriegsbilder. Mediale Repräsentationen des ‚Großen Vaterländischen Krieges‘. Essen 2010, S. 95–113.

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Sicherheitsorgane bei der Bekämpfung von Verbrechen und im Kampf gegen die deutschen Besatzer. Dies ist freilich nur eine der Varianten der Interpretation der Filmsujets. Likvidacija erzählt von der Vernichtung einer Bande von Untergrundsaboteuren – Kämpfern der Ukrainischen Aufstandsarmee – im Odessa der Nachkriegszeit. Der Film hält sich nicht an die historischen Gegebenheiten und blendet die politischen Ziele der ukrainischen Kämpfer vollständig aus. Grausamkeiten der Sicherheitsorgane werden nicht gezeigt, stattdessen erscheinen die Mitarbeiter des NKVD als aufrechte Kämpfer gegen das organisierte Verbrechen und Garanten von Ruhe und Ordnung. Die zweite Serie, Der Apostel, wurde von den Kinokritikern positiv aufgenommen. Sie erzählt die Geschichte von zwei Zwillingsbrüdern, Pjotr und Pavel, von denen einer während des Krieges von den Deutschen angeworben und für die Durchführung von Sabotageakten nach Moskau geschickt wird. Der andere ist ein Dorflehrer, der ein beschauliches Familienleben führt, aber unter den stalinistischen Repressionen zu leiden hat. Als dessen Bruder, der Saboteur, bei einem Fluchtversuch ums Leben kommt, erpresst das NKVD ihn zu einem Doppelspiel mit der deutschen „Abwehr“. Um seine Familie zu retten, muss sich der Dorflehrer die Verhaltensmuster eines Kriminellen zu eigen machen und zum Spion werden. Der Kritiker Jurij Bogomolov machte auf die „Retromotive“ in beiden Filmen aufmerksam, insbesondere auf die Rückkehr zu Stilistik und Sujets des sowjetischen Kinos. Im Fall von Die Liquidierung finden sich offensichtlichste Parallelen zu der Serie Der Treffpunkt darf nicht geändert werden (Mesto vstreči izmenit’ nel’zja, 1979) von Stanislav Govoruchin. Die Sujetlinie und viele Szenen aus Apostol haben große Ähnlichkeiten mit dem Film Siebzehn Momente des Frühlings (Semnadcat’ mgnovenija vesny, 1973) von Tatjana Lioznova. Bogomolov konstatiert, dass es allen vier Serien gelänge, beim Zuschauer „traurige kollektive Emotionen“ zu wecken. Der Apostel thematisiere etwa den Komplex der Feindschaft zwischen der Einzelperson und dem Staat sowie das Gefühl des Ausgesetztseins durch diesen Staat während der Heimsuchungen des Krieges.⁴² Diese Motive behalten ihre Aktualität. Ferner verkörpert der Spezialagent, der seinem Schicksal überlassen wird und für das Leben seiner Familie kämpfen muss, ein Motiv ganz in der Tradition von Hollywood und entbehrt jeglichen historischen Hintergrunds. Trotzdem kann

42 Bogomolov, Prošloje kak prijem. Zwei Tendenzen sind in der Feinddarstellung bei den zeitgenössischen russischen Filmen zu beobachten: eine dichotomische Gegenüberstellung von „Unseren“ und den „Anderen“, und eine Verwischung der Grenze zwischen den beiden. Vgl. Oleg Sulkin: Identifying the Enemy in Contemporary Russian Film, in: Stephen M. Norris/Zara M. Tortone (Hrsg.): Insiders and Outsiders in Russian Cinema. Bloomington/Indianapolis 2008, S. 113–125.

212 | Liliya Berezhnaya man nicht behaupten, dass die Repressionen hier verschwiegen würden. Ganz im Gegenteil: Das Heldentum der NKVD-Angehörigen besteht gerade darin, dass sie die Fallen umgehen, die von „inneren“ wie „äußeren“ Feinden gestellt werden und ihre Ehre unbefleckt aufrechterhalten.

Nostalgie der stalinistischen Vergangenheit – zwischen Seifenoper, Gangsterdrama und Farce Die Heroisierung der stalinistischen Vergangenheit, die Sakralisierung des Sieges im Krieg, die verwischten Grenzen zwischen Opfern und Tätern – all das trug auf die eine oder andere Weise zum Entstehen nostalgischer Erinnerungen über die sowjetische Vergangenheit bei. Nicht wenig trugen Filme dazu bei, welche die 1930er bis 1950er Jahre durch die Augen von Kindern schildern. Ein klassisches Beispiel ist Der Dieb (Vor, 1997) von Pavel Čuchraj. Einerseits zeigt der Film detailliert und mit offener Sympathie das Leben in der Komunalka und die Atmosphäre in einem vom Krieg zerstörten Provinzstädtchen, andererseits erzählt er von der endlosen Täuschung und Mimikry der Haupthelden, zu welcher die Atmosphäre der Stalinzeit sie nötigt. Ein Kapitän der sowjetischen Armee ist eigentlich kein Kapitän, sein Sohn ist nicht sein Sohn, und ein gewöhnlicher Dieb geriert sich in seiner Umgebung als „Väterchen Stalin“. Solche Filme über den „gewöhnlichen Stalinismus“ tragen nicht unwesentlich zum Entstehen nostalgischer Stimmungen in der Gesellschaft bei. Neben dem schon klassisch gewordenen Film Der Dieb ist in diesem Zusammenhang an Zwei Fahrer (Echali dva šofjora, 2002) von Aleksandr Kott zu erinnern. Das etwas simple Sujet, aufgenommen nach Motiven der Ballade Čujskij traktat, erzählt die amouröse Dreiecksgeschichte vom Lastwagenfahrer Kolja, seiner Kollegin Raja und dem Piloten eines Postflugzeugs. Die Geschichte dieser Beziehungen ist angesiedelt im Altaj der Nachkriegszeit und stellt so etwas wie eine „sowjetische Idylle“ dar. Die Kritikerin Natalia Sirivlja charakterisiert den Inhalt von Zwei Fahrer folgendermaßen: „Ein Film über ‚das Gute und das Ewige‘, in dem es keinen einzigen Schuss gibt. Der Konflikt gerät zu einem Kampf ‚des Guten mit dem Besseren‘, und eine unschuldige Liebeskollision löst sich durch das Wettrennen zweier Lastwagen“.⁴³ Die nostalgischen Töne im Film von Kott sind zentral. Daher ist der Meinung von Rimgaila Salys nicht ganz zuzustimmen, dass Zwei Fahrer bar jedes „historischen Denkens“ sei. Tatsächlich sind Symbole der Sowjetmacht

43 Nataliya Sirivlya: Igra v mašinki, in: Iskusstvo kino 2 (2002), S. 43.

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und des Sozialistischen Realismus (Losungen an den Wänden, Statuen von Fallschirmspringern oder der schwarze Teller eines Lautsprechers mit triumphaler Musik) nicht nur „metonymische Tricks, eingesetzt zur Erzielung komischer Effekte“.⁴⁴ Das Ziel von Kott war ebenso eine Nachschöpfung der Atmosphäre einer „romantischen Nachkriegszeit“. Der Film ist somit auch ein Tribut an die nostalgischen Erlebnisse der älteren Generation, die auf ihre Weise zur Überwindung des durch Repressalien und Krieg bedingten kollektiven Traumas fähig war. Deshalb schenkte Kott den historischen Details eine solche Aufmerksamkeit.⁴⁵ Filme wie Zwei Fahrer oder Der Dieb befördern in der Gesellschaft eine gewisse einseitige Mischung von Vorstellungen über den Stalinismus, in der es sowohl Raum für Leiden einzelner Leute, als auch für Bilder von Stabilität und Patriotismus gibt, aber auch Beispiele von hohen moralischen Eigenschaften einen Platz finden. In den letzten Jahren neigte sich die Waagschale deutlich zugunsten der letztgenannten Interpretation. Im Jahr 2007, als die Leinwandadaptionen von Solženicyn und Šalamov erstellt wurden, lief im russischen Fernsehen zugleich eine Serie ganz anderer Art an: Stalin Live. In einer Mischung aus Dokumentarfilm und Seifenoper setzte der Regisseur Grigorij Ljubomirov für den Fernsehsender NTV das letzte Lebensjahr des Diktators in 40 Folgen in Szene und entwarf ihm dabei eine neue Persönlichkeit: der alternde Herrscher blickt auf sein Leben zurück, gesteht Fehler ein⁴⁶ und rezitiert biblische Fragmente auswendig. Außerdem rechtfertigt der Film sogar manche Repressalien mit der Notwendigkeit, deutsche, englische und später amerikanische Terrorakte zu verhindern. Folgt man dem, so hat es keine unschuldigen oder sinnlosen Opfer gegeben. Allerdings bedeuten die nostalgischen Filme über den Stalinismus keineswegs „einen weiteren Schritt hin zur endgültigen Aufkündigung des einstigen antistalinistischen gesellschaftlichen Konsens.“⁴⁷ Neben Stalin Live erschienen auf den russischen Bildschirmen der Abenteuerfilm von Jurij Gusman Der Park der sowjetischen Periode (Park sovetskogo perioda, 2006) und die Gangsterserie Das Rudel (Staja, 2009). Beide Filme platzieren ihre begüterten und erfolgreichen Helden in ein ungewöhnliches „Sanatorium“ der Stalinzeit. Für den Haupthelden von Der Park ist es tatsächlich eine Art „Pension“ am Ufer eines warmen Meeres, ein Symbol für ein multiethnisches und friedliches Imperium, wo die Urlauber sich eine Rolle vom hohen Parteifunktionär bis zum Dissidenten auswählen kön-

44 Rimgaila Salys, Infernal Energy. 45 Svetlana Boym: The Future of Nostalgia. New York 2001, Kap. 6; Sarkisova, Long Farewells, S. 165–169. 46 Frieß: Nichts ist vergessen, niemand ist vergessen?, S. 95–96. 47 So Nina Frieß, vgl. ebd., S. 97.

214 | Liliya Berezhnaya nen. Und in Das Rudel haben sich die Personen sogar dazu entschieden, in einer Art parodiertem stalinistischem Lager zu leben. Doch als der Held sich weigert nach den dort geltenden Regeln zu spielen, wandelt sich das Spiel augenblicklich zur realen Welt der Repressionen. Die Auflösung ist in beiden Filmen allerdings höchst unterschiedlich. Der Park endet wie eine Parodie auf den eingangs erwähnten Film Die Reue, indem hier der geläufige Satz paraphrasiert wird zu „Wer braucht eine Straße, die nicht in den Park der sowjetischen Periode führt?“⁴⁸ Das Rudel vertauscht die Plätze von Opfern und Tätern und spielt auf die mafiösen Strukturen des gegenwärtigen Russlands an, indem es die Unterschiede verwischt, wer jeweils hinter Gittern sitzt und wer in Freiheit lebt.

Fazit Wie hat sich die Darstellung der Stalin-Zeit im russischen Kino seit der Mitte der 1990er Jahre geändert? Zunächst haben Fernsehproduzenten ihr Interesse am Thema entdeckt. Serien, die in den letzten Jahren aufgelegt wurden, waren für ein Massenpublikum bestimmt, das früher oder später zumindest einige Teile ansieht. Zweitens gibt es in der Interpretation der stalinistischen Vergangenheit eine gewisse Ambivalenz. Es tauchten neue Themen auf, denen man in der Perestrojka-Zeit noch keine Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Dies betrifft in erster Linie das Thema des „Großen Vaterländischen Krieges“, den Heroismus und das Märtyrertum des einfachen Soldaten, der sowohl unter den deutschen Besatzern als auch unter dem Hohn des NKVD leidet. Neu mutet ferner der nostalgische Blick auf die Stalinzeit an, zumal die Regisseure darum bemüht sind, das vergangene und das gegenwärtige Russland mit dem Mittel der Nostalgie miteinander in Verbindung zu setzen. Nostalgie bedeutet hier allerdings nicht der Wunsch nach einer Rückkehr der Vergangenheit. Die Stalin-Zeiten sind in manchen Filmen vielmehr als eine verlorene Heimat dargestellt. Im Unterschied zur „restaurierenden“ (restorative) Form der Nostalgie, postulieren zeitgenössische russische Filme eher ihre „reflektierende“ (reflective) Prägung.⁴⁹ Die alten Themen der Unterdrückung der Opfer in den Lagern und der Dämonisierung der Täter unterlagen ihrerseits einem Wandel. In vielen Filmen erschei-

48 Sarkisova sieht in diesem Zitat die Perversion, die „die Geschichte zur Farce macht“, vgl. Sarkisova, Long Farewells, S. 177. 49 Norris, Blockbuster History, 294–296.

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nen die gewohnten Grenzen zwischen den beiden Welten endgültig verwischt.⁵⁰ Das Thema der stalinistischen Repressionen ist zweifellos auch für das heutige Russland nach wie vor aktuell. Seine Interpretation hat jedoch komplexere Formen angenommen als dies noch in der Perestrojka-Zeit der Fall war. Dabei ist weniger eine Aufkündigung des antistalinistischen Konsenses zu beobachten, als Tendenzen zur Kommerzialisierung, zur patriotischen Sinnstiftung und auch zu einer Differenzierung der in der Perestrojka-Zeit etablierten klaren Täter-OpferDichotomie.

50 Auf diese Weise wird beim Zuschauer eine vielschichtige Vorstellung von der stalinistischen Vergangenheit erzeugt, welche von Andrey Shcherbenok als „vernäht“ („sutured belief“) bezeichnet wurde. Das bedeutet, der Zuschauer stimmt mit der einseitigen Bilddarstellung von Stalinismus auf der Leinwand völlig überein. Die Schichtung von derart einseitigen Herangehensweisen auf dem Bildschirm erreicht eben den Effekt von Komplexität. Vgl. Andrey Shcherbenok: This Is Not a Pipe: Soviet Historical Reality and Spectatorial Belief in Perestroika and Post-Soviet Cinema, in: Slavonica 17,2 (2011), S. 145–155; Evgeny Dobrenko/Andrey Shcherbenok: Between History and the Past: The Soviet Legacy as Traumatic Object of Contemporary Russian Culture, in: Slavonica 17,2 (2011), S. 77–84.

Martin Müller-Butz und Christian Werkmeister

Die Geschichte des GULag im Russischen Internet (RuNet) Möglichkeiten und Grenzen virtueller Erinnerungskulturen

Vom Web 1.0 zum Web 2.0 Im Jahre 2002 schrieb der Ägyptologe und Kulturwissenschaftler Jan Assmann in einem Artikel zum kulturellen Gedächtnis folgenden Satz über die Bedeutung des Mediums Internet für die Geisteswissenschaften: „Durch die exponentiell gesteigerten Speicherungsmöglichkeiten des Computers werden Grenzen und Selektionsmechanismen hinfällig, die von der Ökonomie und Verwaltbarkeit materieller Speichermedien diktiert sind.“¹ In Assmanns Aussage spiegelt sich der frühe Enthusiasmus wider, der dem Internet als neues Medium entgegengebracht wurde. Er beschreibt hier nicht zuletzt die Hoffnung der Geisteswissensschaften, mit Hilfe des Internet die bestehenden Gesetze der Kommunikation und Medialisierung von Information – nämlich Priorität und Ungleichzeitigkeit – durchbrechen und revolutionieren zu können. In der Folge sollten sich diese Hoffnungen als überzeichnet erweisen. Die Etablierung des Internet in Form des Web 2.0 mit interaktiven und hypertextuellen Anwendungen wie Facebook, Google, Wikipedia, Internetblogs etc., an der sich alle passiven Nutzer auch aktiv beteiligen sollten, führte letztlich zu der Erkenntnis, dass jegliche mediale Form der Kommunikation Selektionsmechanismen folgen muss. Erik Meyer formulierte 2009 im Gegensatz zu Assmann die Annahme, dass in allen Massenmedien – einschließlich des Internet – „der aus historiographischer Perspektive artikulierte Anspruch auf adäquate Repräsentation der Vergangenheit mit dem medienökonomischen Primat des Publikumserfolgs als Ausdruck kulturindustrieller Verwertungsinteressen“ konkurriert.² Der Traum vom grenzenlosen Mitmachmedium Internet ist heute vielmehr der Erkenntnis gewichen, dass im Web 2.0 vor allem solche Informationen wahrgenommen werden,

1 Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, in: Erwägen, Wissen, Ethik 1, 13 (2002), S. 239–247, hier S. 246. 2 Erik Meyer: Problematische Popularität? Erinnerungskultur, Medienwandel und Aufmerksamkeitsökonomie, in: Barbara Korte/Sylvia Paletschek (Hrsg.): History Goes Pop. Zur Repräsentation von Geschichte in populären Medien und Genres. Bielefeld 2009, S. 267–288, hier S. 270.

218 | Martin Müller-Butz und Christian Werkmeister die einer ständigen Aktualisierung unterliegen. Der Suchdienst Google nimmt als Hilfsmittel des Nutzers zur Informationssuche und -selektion eine zentrale Rolle ein. Bei der Informationsbeschaffung und für die Auflistung von Webseiten und Blogs ist dabei nicht die bloße Existenz von Daten, sondern die Häufigkeit der Zugriffe und – im Falle von Wikipedia – der Edits von Bedeutung. Der Softwareentwickler und Altertumswissenschaftler Tim O’Reilly beschreibt das Prinzip Google folgendermaßen: „[T]he value of the software [gemeint ist der Suchdienst Google, d. A.] is proportional to the scale and dynamism of the data it helps to manage.“³ Für die Bereitstellung historisch orientierter und historiographisch relevanter Inhalte im Internet hat dies weitreichende Folgen. Das Prinzip der Interaktivität im Internet konfrontiert die Wissenschaftsprinzipien der Historiographie in bisher beispielloser Art mit der sogenannten „wisdom of crowds“.⁴ Unter Berücksichtigung der angesprochenen Spezifika des Mediums Internet untersucht der vorliegende Beitrag an zwei russischsprachigen Wikipedia-Beiträgen exemplarisch den virtuellen Umgang mit der Geschichte des sowjetischen Lagersystems. Als Gegenentwurf einer der Vermittlung von historischem Wissen verpflichteten Webseite soll der Auftritt des Virtuellen GULag-Museums untersucht werden.

Forschungsstand Der Beitrag kann dabei durchaus an eine junge Forschung zum Thema Geschichtsschreibung im Internet und ihren konkreten Erscheinungsformen anknüpfen. Das internationale interdisziplinär angelegte Online-Projekt Digital Icons hat vor allem bezüglich der Erforschung des russischsprachigen Internet eine Vorreiterrolle inne.⁵ Die Anthropologin Adi Kuntsman hat im gleichnamigen Online-Magazin im Jahr 2010 die Frage gestellt, welchen Stellenwert das Internet in der Verhandlung dessen, was als erinnernswert erscheint, einnimmt und welche Fragen sich

3 Tim O’Reilly: What is Web 2.0. Design Patterns and Business Models for the Next Generation of Software, verfügbar unter: http://oreilly.com/web2/archive/what-is-web-20.html, Zugriff am 11.09.2011. 4 James Surowiecki: The Wisdom of Crowds. Why the Many Are Smarter than the Few and How Collective Wisdom Shapes Business, Economies, Societies and Nations. London 2004. Surowieckis Publikation liegt die Annahme zugrunde, dass Gruppen bessere Lösungsansätze anbieten als Individuen. In diesem Sinne ist seine Aussage von der „Wisdom of Crowds“ durchaus wörtlich zu verstehen. 5 Vgl. Digital Icons, verfügbar unter: http://www.digitalicons.org, Zugriff am 11.09.2011.

Die Geschichte des GULag im Russischen Internet

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hieraus für die wissenschaftliche Forschung stellen: „What is the role of the Internet in cultural practices of memory and commemoration? Are online commemoration sites merely an extension of their physical counterparts, or do they provide new forms of accessing and experiencing the past? Can interactions in cyberspace challenge national and transnational regimes of memory?“⁶ Der Bezugspunkt des Nationalen und ob eine virtuelle Auseinandersetzung mit historischen Themen nationale Narrative herauszufordern imstande ist, stehen zunehmend im Zentrum der Diskussion zur Erforschung virtueller Geschichtsschreibung – diese sind übrigens nicht zu verwechseln mit kontrafaktischen Formen der Geschichtsschreibung. Ellen Rutten verwendet gar die Kategorie der digital diaspora als Ansatz zur Erklärung des Phänomens alternativer Geschichtsbilder in Russland und der Ukraine. Dabei betont sie aber mitnichten die Gegensätze von online- und offline-Geschichtsschreibung, sondern fragt vielmehr nach den wechselseitigen Einflüssen: „How does the scattered, ‚diasporic‘ nature of online communication affect notions of Ukraine or Russia as national communities? And how does it affect processes of cultural commemoration, remembrance, and mourning?“⁷ Elena Trubina geht in ihrem Aufsatz über russischsprachige Blogs zum Zweiten Weltkrieg einen Schritt weiter. Sie postuliert den Niedergang der Identifizierung des russischen Internetnutzers mit dem staatlichen Siegesnarrativ zum Zweiten Weltkrieg und benennt diese Erscheinungsform sogleich als „cosmopolitan memory“: Such internationalization of collective memory can lead to stronger emphasis on the greatness of Russia’s achievements and on the uniqueness of its suffering during the war. But it can also bring cosmopolitan openness to other peoples and their histories, often emerging as a result of complex and uneasy work of comparison of hardships, leaderships, warfare and survival during war times.⁸

Wenngleich mit Trubinas Kategorie des cosmopolitan memory und der Auswahl ihres Untersuchungsgegenstands die Komplexität virtueller Erinnerungskulturen nur teilweise beleuchtet werden kann, so sind – ausgehend von dem bisher

6 Adi Kuntsman: Online Memories, Digital Conflicts and the Cybertouch of War, in: Digital Icons. Studies in Russian, Eurasian and Central European Media, 4 (2010), S. 1–12, hier S. 3. 7 Ellen Ruten: Web Wars: Digital Diasporas and the Language of Memory (An Announcement of the HERA Research Project, University of Bergen), in: Digital Icons. Studies in Russian, Eurasian and Central European Media, 4 (2010), S. 171–176, hier S. 173. 8 Elena Trubina: Past Wars in the Blogosphere: On the Emergence of Cosmopolitan Memory, in: Digital Icons. Studies in Russian, Eurasian and Central European Media, 4 (2010), S. 63–85, hier 76.

220 | Martin Müller-Butz und Christian Werkmeister Gesagten – für den hier zu unternehmenden Versuch einer qualitativen Analyse virtueller Erinnerungskultur in Russland zwei Fragen von entscheidender Bedeutung: Welche Rolle spielen nationalisierte und politisch gewollte oder politisch geförderte Geschichtsbilder in der virtuellen Erinnerungskultur des russischsprachigen Internet? Können virtuelle Formen des Umgangs mit Geschichte als Alternativen zur staatlichen Geschichtspolitik ernst genommen werden? Vor diesem Hintergrund beschreibt der Begriff der virtuellen Erinnerungskultur das Spektrum von Formen der öffentlichen Auseinandersetzung mit Geschichte im Internet.⁹ Virtuelle Erinnerungskultur umfasst somit, ebenso wie offline-Formen der Erinnerungskultur, Elemente der Aushandlung von Vergangenheitsdeutungen und somit auch des Streits um die jeweilige kollektive oder nationale Deutungshoheit. Edgar Wolfrum beschreibt diesen Prozess mittels der Kategorie „Geschichtspolitik“.¹⁰ Für Russland sind diese Prozesse umso wichtiger, da der politische Diskurs, wie Eugene Gorny feststellt, in Russland aufgrund des Dominanzanspruchs des Staates in allen gesellschaftlichen Bereichen zunehmend indirekte und symbolische Formen annehme.¹¹ Die Untersuchung muss also neben den virtuellen Erinnerungsakteuren und ihren Ausdrucksformen auch das „herrschaftsrelativierende Potential neuer Medien“ sowie ihre gesellschaftliche und politische Wahrnehmung berücksichtigen und kritisch hinterfragen.¹² Dazu widmet sich der Beitrag zunächst dem Phänomen des RuNet und dessen Besonderheiten. Will man die Befunde der Untersuchung zusammenfassen, ist zunächst auf den eng gesteckten Rahmen der Untersuchung, auf die Auswahl des Untersuchungsgegenstandes zu verweisen. Die Ergebnisse sind demnach nicht als repräsentativ zu bewerten, können jedoch grundlegende Tendenzen des Umgangs mit Geschichte in Russland und im russischen Internet herausfiltern.

9 Erik Meyer verdeutlicht mit der Bezugnahme auf die Kategorie der Erinnerungskultur besonders die Kommunikationsfunktion von Erinnerungskultur für den Untersuchungsgegenstand des Internet und definiert diese demzufolge als „kommemorative Kommunikation“. Diesbezüglich macht er auf den besonders im Medium Internet anzutreffenden Zusammenhang von Erinnerungskultur und Popularität aufmerksam. Vgl. Meyer 2009 (wie Anm. 2), S. 268. 10 Vgl. Edgar Wolfrum: Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Der Weg zur bundesrepublikanischen Erinnerung 1948–1990. Darmstadt 1999. 11 Vgl. Eugene Gorny: Understanding the Real Impact of Russian Blogs, in: Russian Analytical Digest 69 (2009), S. 8–11, hier S. 10. 12 Konrad Hierasimowicz: Tagungsbericht „Neue Medien in den Geschichts- und Osteuropawissenschaften. Internationale und interdisziplinäre Sommerakademie“. 20.09.2010– 26.09.2010. Marburg, in: H-Soz-u-Kult, verfügbar unter: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/ tagungsberichte/id=3372, Zugriff: 11.09.2011.

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Exemplarisch und mithilfe folgender Fragen sollen schließlich die Beiträge der russischsprachigen Wikipedia zum GULag und Stalin sowie das OnlineProjekt Virtual’nyj Muzej GULaga der Gesellschaft Memorial in St. Petersburg hinsichtlich ihrer Umsetzung, ihrer Relevanz im Internet und Wahrnehmung untersucht werden. Kann sich eine virtuelle Erinnerungskultur jenseits nationalstaatlicher Deutungsmuster im russischsprachigen Internet entfalten? Welche Besonderheiten zeichnet diese im Gegensatz zur Erinnerungskultur in konventionellen Medien aus? Welche neuartigen Erzählformen ermöglicht das Internet bei der Darstellung des GULag? Worin unterscheiden sich hypertextuell-interaktive und statisch-virtuelle Erzählungen voneinander? Und worin besteht der Wert einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit sich stetig verändernden virtuellen Formen des Umgangs mit Geschichte?

Zum Phänomen des RuNet: Besonderheiten und Nutzung Mit der Entfaltung des russischen Internet seit der Einführung der Domain .ru im Jahre 1994 hat sich eine russischsprachige Community entwickelt, die sich durch zahlreiche Spezifika auszeichnet. Dabei sind entsprechend der Zahl der im Ausland lebenden Russen und der russisch sprechenden Nutzer dreißig bis vierzig Prozent der RuNet-Nutzer der russischen Diaspora im Ausland zuzuordnen.¹³ Die Rede vom RuNet verwundert deshalb, weil sich insbesondere im Westen, wo sich das Internet zuerst und besonders schnell als Kommunikationsmedium entwickelte, kein Äquivalent wie das USNet oder das DeNet herausgebildet hat. Folgt man Henrike Schmidt und Katy Teubener, fungiert das RuNet als vergemeinschaftendes Medium mit hohem Identifikationspotential, das sich durch eine gemeinsame Sprache sowie gemeinsame kulturelle Normen und Werte kennzeichnet.¹⁴ Diese Eigenschaft rührt aus der Entstehungsgeschichte des RuNet als Krisenmedium Mitte der 1990er Jahre. Anfänglich wurde das RuNet von einem re-

13 Vgl. Henrike Schmidt/Georg Butwilowski/Katy Teubener: Vom Klub zum Massenmedium? Das russische Internet als Ort intellektueller Debatten und politischen Engagements, in: Kultura. Russland-Kulturanalysen 1 (2005), S. 10–16, hier S. 12. 14 Vgl. Henrike Schmidt/Katy Teubener: „Our RuNet“? Cultural Identity and Media Usage, in: Henrike Schmidt/Katy Teubener/Natalja Konradova (Hrsg.): Control + Shift. Public and Private Spheres of the Russian Internet. Norderstedt 2006, S. 14–20, hier S. 14.

222 | Martin Müller-Butz und Christian Werkmeister lativ überschaubaren exklusiven Milieu Intellektueller getragen, die sich der Ethik des underground verpflichtet sahen.¹⁵ Wenngleich einige Autoren wie Natalja Konradova noch 2005 das hohe Maß an Selbstreflexion und Historisierung innerhalb der RuNet-Community betonen, muss diese Feststellung mit der steigenden Popularität des Mediums für einen überwiegenden Teil der Nutzer heute zunehmend relativiert werden.¹⁶ Ekaterina Lapina-Kratasyuk beschreibt das Internetnutzungsverhalten junger Russen als emotional aufgeladenes „trendy fashion accessory“, wobei sich die ernsthafte Nutzung vor allem auf social networking, Mails und die damit verbundenen meist offiziellen Informationskanäle beschränke.¹⁷ Aktuelle Zahlen zur Nutzung des RuNet bestätigen diesen Befund. Während ein Drittel der Russen das Internet mindestens einmal pro Woche nutzt, beschränkt sich ein Großteil dieser Aktivitäten auf soziale Netzwerke und Blogs wie vkontakte.ru, livejournal.com, diverse Mailanwendungen, Google, Youtube und natürlich Wikipedia. Abgesehen von Maildiensten mit integrierten Nachrichtendiensten wie Rambler und Yandex befindet sich kein Nachrichtenportal unter den zehn meistgenutzten russischen Onlineseiten.¹⁸ Bezüglich der sozio-ökonomischen Schichtung der russischen Internetnutzer hat Karina Alexanyan festgestellt, dass die Internetnutzung proportional zum Einkommen steigt und nach wie vor in Städten wie St. Petersburg und Moskau am weitesten verbreitet ist. Wenngleich lediglich ein Drittel der russischen Bevölkerung das Internet regelmäßig nutzt, setzt sich dieser Anteil wiederum zu 65 Prozent aus Akademikern zusammen. Dennoch gibt es auch in ländlichen Gebieten und bildungsfernen Schichten ein stetiges Wachstum.¹⁹ Bei der Untersuchung virtueller Darstellungen historischer Themen im RuNet sind folgende Befunde von Belang: Erstens hat die Bedeutung des Internet für die Informationsbeschaffung auch in Russland an Bedeutung zugenommen. Dabei konzentriert sich die Recherche lediglich auf einige wenige Internetseiten und -suchdienste. Zweitens ist der Trend zur Entpolitisierung der Gesellschaft

15 Vgl. Schmidt/Butwilowski/Teubener, Vom Klub zum Massenmedium? S. 11. 16 Vgl. Natalja Konradova: Obščestvennye dviženija v rossijskom internete (2005), in: RussianCyberspace.org, verfügbar unter: http://www.ruhr-uni-bochum.de/russ-cyb/library/texts/ru/ konradova_movements.htm, Zugriff am 11.09.2011. 17 Vgl. Ekaterina Lapina-Kratasyuk: News in the Russian Internet: The Growing Indifference of a Closing Society, in: Russian Analytical Digest 69 (2009), S. 12–14, hier S. 13. 18 Vgl. Alexa – Top Sites in Russia, verfügbar unter: http://www.alexa.com/topsites/countries/ RU, Zugriff am 11.09.2011. 19 Vgl. Karina Alexanyan: The RuNet – Lost in Translation, in: Russian Analytical Digest 69 (2009), S. 2–4.

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aufgrund wachsender Popularisierung des Mediums Internet auch hier deutlich sichtbar. Diese Folgen gilt es, zusammen mit dem hochgradig selektiven Nutzungsverhalten bei der virtuellen Darstellung der Geschichte des GULag, bei der Befragung der Repräsentationsformen zu berücksichtigen. Folgt man der Statistik zur Zugriffshäufigkeit, fällt auf, dass sich insbesondere die russischsprachige Wikipedia-Enzyklopädie der Nutzung erfreut. Da Wikipedia als einziges Informationsportal in den Top 10 des RuNet nicht mit Funktionen des social networking oder zur Mail-Nutzung ausgestattet ist, drängt sich die Frage auf, welchen Einfluss das hypertextuelle Schreibverfahren der Online-Enzyklopädie auf die Ausformung eines Wikipedia-spezifischen GULag-Narrativs hat. Spiegeln sich die eben benannten Befunde zum Phänomen des RuNet bei der Nutzung der russischsprachigen Wikipedia-Enzyklopädie wider? Wer sind die Protagonisten und Nutzer der Online-Enzyklopädie und unter welchen Umständen und zu welchen Bedingungen wird Geschichte in der russischsprachigen Wikipedia vermittelt?

Struktur und Funktionsweise von Wikipedia Wie aus der Statistik ersichtlich wird, gehört die Online-Enzyklopädie Wikipedia neben den sozialen Netzwerken, Suchdiensten und Mailservices von russischen IP-Adressen zu den am häufigsten angesteuerten Internetseiten. Eine Zugriffsstatistik der in Russland registrierten Nutzer und IP-Adressen führt Wikipedia derzeit auf Platz acht.²⁰ Die Nutzung der Enzyklopädie geschieht zumeist über die Eingabe eines Suchwortes in einem Suchdienst wie Google, Yahoo oder im Falle des RuNet vor allem bei Yandex oder Rambler. Hier nehmen Wikipedia-Artikel in den Suchergebnissen meist die vorderen Plätze ein. Hermann Maurer bezeichnet dieses Phänomen als „Google-Wikipedia-Connection“²¹. Die hohe Platzierung von Wikipedia-Beiträgen bei Google ist auf die hohe Zahl von edits in den einzelnen Beiträgen und damit auf die Häufigkeit der Zugriffe auf Wikipedia zurückzuführen. Ein edit ist ein Bearbeitungsvorgang am konkreten Wikipedia-Beitrag. Hierbei

20 Vgl. Alexa – Top Sites in Russia, verfügbar unter: http://www.alexa.com/topsites/countries/ RU, Zugriff am 11.09.2011. 21 Hermann Maurer et al.: Report on Dangers and Opportunities Posed by Large Search Engines, Particularly Google. Online Publikation der Universität Graz vom 30. September 2007, verfügbar unter: http://www.iicm.tu-graz.ac.at/Ressourcen/Papers/dangers_google.pdf, Zugriff am 11.09.2011.

224 | Martin Müller-Butz und Christian Werkmeister kann es sich sowohl um die Setzung eines Leerzeichens als auch um die Bearbeitung eines größeren Kapitels in einem Beitrag handeln. Die Artikel – auch Lemmata genannt – werden als Hypertexte erstellt. Die Nutzer können hierbei gleichzeitig die Rolle von sogenannten Text-Konsumenten und -produzenten einnehmen. Hyperlinks können sowohl intern als auch extern gesetzt werden. Ein Peer-Review-Verfahren von Beiträgen im Sinne einer Qualitätskontrolle findet nicht statt. Politisch und historisch orientierte Artikel sind wiederholt sogenannten Bearbeitungskriegen ausgesetzt und laut Maren Lorenz von Geschichtsrevisionismus, Militarismus und Antifeminismus geprägt.²² Immer stärker greifen Editoren mit Lösch- und Sperrbefugnissen, sogenannte administrators, in das Geschehen ein.²³ Lorenz sieht in der Online-Enzyklopädie bereits 2006 ein „ heimliches Leitmedium“²⁴. Die Binnenstruktur von Wikipedia beschreibt sie als „stille Autokratie“ mit mehreren „diversen verwirrenden Ebenen“²⁵. Das Projekt Wikipedia kann man demnach als ein Konglomerat mit diffusen Machtstrukturen beschreiben, wobei Lorenz jedoch feststellt: Die entscheidende Macht haben die, die im Hintergrund die Wiki-Software weiterentwickeln, die entscheiden, wann und wofür automatisierte Verfahren eingesetzt werden, die Versionsgeschichten löschen und standardisierte Alarme setzen können, um Artikel oder bestimmte angemeldete Nutzer zu überwachen, die Artikel oder bestimmte angemeldete Nutzer überwachen, die Artikel für Bearbeitung ganz sperren oder auch den IP-Adressen von eingeloggten Nutzern nachspüren können.²⁶

Den Mythos vom basisdemokratischen Enzyklopädie-Projekt hält auch Wikipedia-Gründer Jimmy Wales für verfehlt, wie er in einem Interview mit der New York Times aus dem Jahr 2007 einräumt: „We aren’t democratic. Our readers edit the entries, but we’re actually quite snobby. The core community appreciates when someone is knowledgeable, and thinks some people are idiots and shouldn’t be writing.“²⁷

22 Vgl. Maren Lorenz: Repräsentation von Geschichte in Wikipedia oder: Die Sehnsucht nach Beständigkeit im Unbeständigen, in: Barbara Korte/Sylvia Paletschek (Hrsg.): History Goes Pop. Zur Repräsentation von Geschichte in populären Medien und Genres. Bielefeld 2009, S. 289–312, hier S. 300. 23 Vgl. ebenda, S. 303. 24 Maren Lorenz: Wikipedia. Zum Verhältnis von Struktur und Wirkungsmacht eines heimlichen Leitmediums, in: WerkstattGeschichte 43 (2006), S. 84–95. 25 Lorenz, Repräsentation von Geschichte in Wikipedia, S. 301. 26 Ebenda. 27 Zit. in: Edward Lewine: The Encyclopedist’s Lair. Interview with Jimmy Wales, in: New York Times am 18.11.2007.

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Unklare Hierarchien und Kompetenzgerangel zwischen den auf Länderebene agierenden administrators, international aktiven checkusers, oversights und den developers führen immer wieder zum Löschen von Artikeln oder Sperren von Editoren und IP-Adressen. Am erstaunlichsten ist wohl die weltweit konstant niedrige Anzahl der Beiträger der Artikel: Bei der englischsprachigen Wikipedia zählt Lorenz lediglich 4 300 regelmäßig aktive Verfasser im Jahr 2009.²⁸ Für den Beitrag ist vor allem das Engagement von Editoren in der russischsprachigen Wikipedia von Interesse. Im April 2011 weist die Statistik hier etwa 42 000 aktive Verfasser aus.²⁹ Zwar liegt diese Zahl beträchtlich höher als Lorenz’ Schätzung, sie ist angesichts einer Zahl von etwa dreißig Millionen aktiven Nutzern des RuNet, ohne die russischsprachige Diaspora zu berücksichtigen, erstaunlich niedrig. Die Zahl der Nutzer mit mehr als fünf Beiträgen monatlich unterliegt gewissen Schwankungen, stagniert jedoch seit März 2010 und beträgt im April 2011 lediglich 4 401 Nutzer.³⁰ Dieser Trend ist ebenfalls in Deutschland bemerkbar.³¹ Momentan sind lediglich 94 Administratoren, die Edits und Artikel bearbeiten und löschen und Beiträger sperren dürfen, in der russischsprachigen Wikipedia registriert.³² Aus diesen Zahlen ergibt sich für die russischsprachige Wikipedia folgendes Gesamtbild: Das Prinzip des Hypertexts, in dem mehrere Akteure und sich personell überschneidende Konsumenten und Produzenten einen Text beständig verändern, wird angesichts strenger Machtverteilungsmechanismen und einer überschaubaren Zahl aktiver Verfasser ad absurdum geführt. Die Weisheit der Masse ist vielmehr der Herrschaft der administrators gewichen, die letztlich auch über den erinnerungskulturellen Diskurs in der russischsprachigen Wikipedia bestimmen. Wie wirken sich diese Mechanismen nun auf die konkreten Artikel aus?

28 Vgl. Lorenz, Repräsentation von Geschichte in Wikipedia, S. 291. 29 Vgl. Monthly counts & Quarterly rankings, in: Wikimedia.org, verfügbar unter: http://stats.wikimedia.org/DE/TablesWikipediaRU.htm, Zugriff: 11.09.2011. 30 Vgl. ebenda. 31 Vgl. Lorenz, Repräsentation von Geschichte in Wikipedia, S. 291. 32 Vgl. Spisok učastnikov, in: Wikipedia, verfügbar unter: http://ru.wikipedia.org/wiki/Википедия:Администраторы, Zugriff am 11.09.2011.

226 | Martin Müller-Butz und Christian Werkmeister

Die Darstellung Josif Stalins in der russischsprachigen Wikipedia Kriegsveteran und Staatsmann – so wird Josif Stalin in der russischen Wikipedia einleitend vorgestellt. Neben den politischen Ämtern in Staat und Partei werden seine zivilen und militärischen Orden und Auszeichnungen angeführt.³³ In der darauf folgenden biographischen Kurzübersicht wird diese Aufzählung der Titel Stalins wiederholt. Der zweite einleitende Abschnitt beginnt mit folgender Feststellung: „Während der Herrschaft Stalins geschahen eine Reihe wichtiger Ereignisse in der Geschichte der UdSSR und der Welt des zwanzigsten Jahrhunderts.“³⁴ Hierzu zählen für die Autoren die Industrialisierung, die Mechanisierung der Landwirtschaft und der Aufstieg der UdSSR zur Weltmacht. Auch Zwangskollektivierung, Massenrepressionen und die Errichtung einer Diktatur werden erwähnt. Die Übersicht schließt mit den Worten: „Die gesellschaftliche Debatte über die Rolle Stalins bei diesen Ereignissen zeichnet sich durch äußerste Polarisierung aus.“³⁵ Im Gegensatz zu anderen historischen oder politischen Lemmata findet sich kein Hinweis auf die Umstrittenheit der Objektivität des Artikels.³⁶ Stattdessen erscheint auf der dem Artikel zugeordneten Diskussionsseite der in Großbuchstaben verfasste Hinweis, dass eine Bewertung Stalins nicht erwünscht sei. Ungeachtet dieses frühen Hinweises verzichtet der Artikel nicht auf den sowjetischen Duktus des „Großen Vaterländischen Krieges“ oder der „Großen Sozialistischen Oktoberrevolution“. Es wird darauf hingewiesen, dass es um die „Fakten“ zu Stalins Biographie gehe, alles andere würde „bereinigt“ werden (ubirat’sja).³⁷ Diese Fakten beinhalten unter anderem Stalins Zeugnis von 1894 als Beweis für dessen Lerneifer sowie die Erwähnung seiner autodidaktischen Fähigkeiten beim Spracherwerb. Der Leser erfährt zusätzlich, dass J.S. zwar mit georgischem Akzent Russisch sprach, dieser beim Singen allerdings nicht zu hören war. Auch Stalins lyrische Selbstversuche erscheinen der Wikipedia-Gemeinde als veröf-

33 Vgl. Wikipedia-Artikel „Stalin, Iosif Vissarionovič“, verfügbar unter: http://ru.wikipedia.org/ wiki/Сталин,_Иосиф_Виссарионович, Zugriff am 11.09.2011. Augrund des großen Umfangs werden nur vereinzelte Aspekte des Artikels hervorgehoben werden können. 34 Vgl. ebenda. 35 Vgl. ebenda. 36 Ein solcher Hinweis eröffnet beispielsweise den Artikel „Stalinismus“, vgl. Wikipedia-Artikel „Stalinizm“, verfügbar unter: http://ru.wikipedia.org/wiki/Сталинизм, Zugriff am 11.09.2011. 37 Vgl. Diskussion zum Wikipedia-Artikel „Stalin, Iosif Vissiarionovič“, verfügbar unter: http: //ru.wikipedia.org/wiki/Обсуждение:Сталин,_Иосиф_Виссарионович, Zugriff am 11.09.2011.

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fentlichungswürdiger Fakt, ebenso wie der Hinweis auf dessen „Polemiken“ mit Šostakovič.³⁸ Die biographischen Angaben stellen das Leben des „russischen Revolutionärs und sowjetischen Staatsmannes, politischen, Partei- und Militärführers“ linear und zielorientiert dar. Schlüsselszenen daraus werden durch Abbildungen von Dokumenten, Fotografien und Abbildungen sowjetischer Briefmarken illustriert. Somit haben die Abbildungen, die Stalin neben Lenin auf dem SerovGemälde „Lenin ruft die Sowjetmacht aus“ oder Stalins Ankunft bei der ersten Reiterarmee im russischen Bürgerkrieg aufzeigen, ein unerwartetes digitales Nachleben gefunden. Stalins Verhalten in den Folgejahren der Revolution wird mit „Tendenz zu strengen Maßnahmen“ umschrieben, welches ihn insbesondere bei Caricyn auszeichnete und der Wikipedia einen eigenen Abschnitt wert ist.³⁹ Die Nähe zur offiziellen sowjetischen Geschichtsschreibung, derzufolge Stalin die Schlacht vom heutigen Wolgograd entscheiden konnte, ist frappierend. Der Artikel lobt Stalins Engagement für die Ukraine: „Nach der Niederlage der Armee Denikins baute Stalin die zerstörte Wirtschaft der Ukraine wieder auf. Von Februar bis März war er Ratsvorsitzender der ukrainischen Armee der Arbeiter und bewegte die Bevölkerung dazu, Kohle abzubauen.“⁴⁰ Auch bei den Umbrüchen und Reformen der jungen UdSSR wird das persönliche Verdienst Stalins unterstrichen. So werden die Kollektivierung der UdSSR und die Erfolge der Industrialisierung durch die unkommentierte Einbindung sowjetischer Statistiken zur Produktionssteigerung positiv hervorgehoben. Die Liquidierung der „Kulaken“ wird in einem Halbsatz des Abschnitts erwähnt, ohne auf die problematische Formulierung oder den Forschungsstand einzugehen. Ähnlich unkritisch berichtet der Artikel über die Rolle Stalins während der Verfolgungswellen der dreißiger Jahre. Der Abschnitt zur Innenpolitik und Massenrepression benennt zwar die Ermordung Kirovs als Beginn der repressiven Maßnahmen, verweist dann aber auf den ausgelagerten Artikel zur stalinistischen Repression. Der Befehl 00447 findet keine Erwähnung im Artikel. Vielmehr habe der Apparat die Verbrechen, welche vorrangig schuldige, aber auch unschuldige „Parteimitglieder“ betrafen, zu verantworten, so das Lemma. Hinweise auf

38 Vgl. Wikipedia-Artikel „Stalin, Iosif Vissarionovič“, verfügbar unter: http://ru.wikipedia.org/ wiki/Сталин,_Иосиф_Виссарионович, Zugriff: 13.09.2011. 39 Vgl. Kapitel 1.31 „Oborona Carycina“ des Wikipedia-Artikels „Stalin, Iosif Vissarionovič“, verfügbar unter: http://ru.wikipedia.org/wiki/Сталин,_Иосиф_Виссарионович, Zugriff: 11.09.2011. 40 Vgl. Kapitel 1.32 „1919–1922“ des Wikipedia-Artikels „Stalin, Iosif Vissarionovič“, verfügbar unter: http://ru.wikipedia.org/wiki/Сталин,_Иосиф_Виссарионович, Zugriff: 11.09.2011.

228 | Martin Müller-Butz und Christian Werkmeister Willkür und Terror finden sich nicht. Vielmehr versteckt sich dieser Abschnitt hinter Formulierungen wie „Massenrepressionen“ oder „Repressionen“ sowie der kurz erwähnten, jedoch sehr distanziert vorgetragenen Sichtweise „einiger Organisationen“, die Stalins Politik für Hungersnöte und den Tod mehrerer Millionen Menschen verantwortlich machen. Eine entschiedene Erwähnung oder Verurteilung der stalinistischen Verbrechen findet nicht statt. Der Wikipedia-Artikel beschränkt sich somit auf das Lob der Errungenschaften der Stalinzeit und verortet die Hintergründe der Verbrechen in einer abstrakten Mischung aus Bürokratie, Notwendigkeit und Unglück. Der Leser des Artikels wird auf ausgelagerte Spezialartikel verwiesen, welche als „umstritten“ ausgewiesen sind. Im Stalin-Artikel wird dieser Debatte kein Raum zugestanden. In seinen Grundannahmen mutet der Text daher sehr statisch an und umschifft mehrdeutige Aspekte des Fortschrittsnarrativs. Diese Vorgehensweise wird auch bei der Bewertung des Rippentrop-MolotovPaktes deutlich. Im mehrere Seiten umfassenden Unterartikel „Außenpolitik“ werden eindeutige Interpretationsmuster angeboten. Das deutsch-sowjetische Abkommen wird als „bedeutende Stufe zur Vorbereitung des Sieges der UdSSR im Großen Vaterländischen Krieg“ beurteilt und durch den Verweis auf einzelne „Historiker“ untermauert.⁴¹ Der Leser wird auch mit den Kriegsämtern Stalins vertraut gemacht. Außerdem erscheint der Hinweis, dass Stalin „in den Jahren des Großen Vaterländischen Krieges auf den ihm zustehenden Titel ‚Genosse Marschall (Generalissimus) der Sowjetunion‘ verzichtete und schlicht als Genosse Stalin“ angesprochen werden wollte.⁴² Der Artikel erscheint in diesen Details erneut als Fortführung sowjetischer Geschichtsschreibung im Massenmedium Internet. Die Schlagwörter „Großer Terror“, „1937“ oder „GULag“ kommen in dem über 30 000 Wörter zählenden Artikel zu Stalin nicht vor. Die Auslagerung der Betrachtung stalinistischer Gesellschaftsverbrechen zeugt von der klaren Trennung, die zwischen dem Staatsmann Stalin und den Opfern seiner Herrschaft gezogen wird. Somit liefert der Artikel eine Zusammenschau der sowjetischen Machtkonsolidierung nach dem Bürgerkrieg, den Erfolgen der Industrialisierung, dem Sieg im „Großen Vaterländischen Krieg“ und dem Aufstieg zur Großmacht, welche direkt mit dem Namen Stalins in Verbindung gebracht werden. Der kurze Abschnitt zu den sowjetischen Gesellschaftsverbrechen ist durch defensive Formulierungen,

41 Vgl. Kapitel 1.6 „Stalin i Velikaja Otečesvennaja Vojna“ des Wikipedia Artikels „Stalin, Iosif Vissarionovič“, verfügbar unter: http://ru.wikipedia.org/wiki/Сталин,_Иосиф_Виссарионович, Zugriff am 11.09.2011. 42 Vgl. ebenda.

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distanzierte Erwähnungen kritischer Sichtweisen sowie Relativierungen gekennzeichnet. Der Hinweis, der Artikel diene nicht der Debatte der Rolle Stalins in der sowjetischen Geschichte, bezieht sich somit ausschließlich auf die negativen Folgen seiner Herrschaft. Aufgrund dieser undifferenzierten Darstellung der Person Stalins ist es umso wichtiger, die Bedeutung des Artikels im RuNet und in der Wikipedia insgesamt zu betrachten. Wie bereits erwähnt, belegt die russische Wikipedia durch ihre allgemeine Präsenz und die Häufigkeit der Zugriffe einen hervorragenden achten Platz im RuNet. Weit über die Hälfte der Zugriffe erfolgen durch die Topplatzierungen des Onlinenachschlagewerkes bei anderen Suchmaschinen, die Tendenz ist hierbei stark steigend.⁴³ Zusätzliche Möglichkeiten die Seite zu erreichen, bestehen in direkten Aufrufen, eigenständigen Toolbars und zahlreichen Einbindungen der Wikipedia-Suchwerkzeuge. Ähnlich wie im deutsch- oder englischsprachigen Internet hat sich Wikipedia somit zur primären Informationsquelle bei OnlineSuchen entwickelt, was auch von Google PageRank bestätigt wird.⁴⁴ Die Bedeutung des Stalin-Artikels wird durch die interne Wikipedia-Statistik bestätigt. Die Zugriffszahlen für die zurückliegenden Monate offenbaren interessante Einblicke in das Verhalten der Wikipedia-Nutzer: Insgesamt wurde der Artikel im August 2011 mehr als 57 000mal aufgerufen. Weniger als ein Fünftel der Seitenbesucher hat zuvor eine direkte Wikipedia-Suche nach dem Artikel „Stalin“ vollzogen, wie die Zugriffszahlen der weiterleitenden Seite zeigen. Die restlichen 44 000 Zugriffe erfolgten daher über die Verlinkung einer anderen Wikipedia-Seite oder von externen Webseiten, wie Google oder Rambler.⁴⁵ Die Zugriffsstatistiken der einzelnen Monate lassen erkennen, dass werktags häufiger auf den Artikel zugegriffen wird. Daraus lässt sich schließen, dass der Artikel auch zu Schul- und Berufszwecken konsultiert wird. Diese Differenz löst sich in den Ferienmonaten auf. Somit verfügt der Artikel trotz seiner inhaltlichen Schwächen über einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf das Schul- und Universitätswesen. Die unkritische Beschäftigung mit Stalins Biographie und das Verschweigen elementarer Erkenntnisse zu den begangenen Gesellschaftsverbrechen werden somit Teil der gesellschaftlichen Auseinandersetzung und Bildung der heranwachsenden Generationen.

43 Vgl. Alexa – Top Sites in Russia, verfügbar unter: http://www.alexa.com/topsites/countries/RU, Zugriff am 11.09.2011. 44 Vgl. PageRank Check, verfügbar unter: http://www.database-search.com/sys/pre-check.php, Zugriff am 11.09.2011. 45 Vgl. Wikipedia Article Traffic Statistics zu Wikipedia-Artikel „Stalin, Iosif Vissarionovič“, verfügbar unter: http://stats.grok.se/ru/201108/Сталин%2CИосифВиссарионович, Zugriff am 11.09.2011.

230 | Martin Müller-Butz und Christian Werkmeister 40 35 30 25 20 15 10 5

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Anzahl Editoren

Abb. 1: Anzahl unterschiedlicher Editoren des Stalin-Artikels.

Der Artikel zählt zu den am stärksten editierten Seiten der gesamten russischsprachigen Wikipedia und wurde in den sieben Jahren seines Bestehens mehr als 7 600 Veränderungen unterzogen. Hierbei wurden über 1,2 Gigabyte Daten generiert.⁴⁶ Durchschnittlich alle achteinhalb Stunden wird an dem Artikel eine Veränderung vollzogen. Der User mit dem Nutzernamen Igor’ N. Ivanov hat zwischen dem 8. März 2008 und dem 01. September 2011 stolze 2 188 Veränderungen eingetragen, was einer Veränderung pro 14 Stunden entspricht.⁴⁷ An der dem Artikel angegliederten Diskussion nimmt der erwähnte User nicht teil.⁴⁸ Somit zeigt sich, dass der Tenor des Artikels nicht durch Diskussion und Konsensfindung, sondern durch die massive Editierwut Einzelner geformt wird. Diese Exklusivität schlägt sich auch in den Gesamtzahlen der unterschiedlichen Editoren nieder. Obwohl der Artikel von der größten Zahl unterschiedlicher Nutzer bearbeitet wird, bewegt sich diese Zahl nur zwischen 15 und 30 regelmäßigen Usern:⁴⁹

46 Vgl. Wikipedia Statistics Russian, verfügbar unter: http://stats.wikimedia.org/EN/ TablesWikipediaRU.htm#mostedited, Zugriff am 11.09.2011. 47 Vgl. Wikipedia Page History Statistics zu Wikipedia-Artikel „Stalin, Iosif Vissarionovič“, verfügbar unter: http://vs.aka-online.de/cgi-bin/wppagehiststat.pl?lang=ru.wikipedia&, Zugriff am 11.09.2011. 48 Vgl. Diskussion zum Wikipedia-Artikel „Stalin, Iosif Vissiarionovič“, verfügbar unter:http:// ru.wikipedia.org/wiki/Обсуждение:Сталин,_Иосиф_Виссарионович, Zugriff am 11.09.2011. 49 Eigene Grafik. Zu den Daten vgl. Kapitel Zeitgeist, in: Wikipedia Statistics Russian, verfügbar unter: http://stats.wikimedia.org/EN/TablesWikipediaRU.htm#zeitgeist, Zugriff am 11.09.2011. Für die Zeit zwischen den Daten bestehen keine Zahlen, da der Artikel Stalin zu diesem Zeitpunkt nicht unter den von der größten Anzahl unterschiedlicher Editoren bearbeiteten Artikeln war.

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Somit bestätigt sich an dieser konkreten Falluntersuchung die bereits von Maren Lorenz vorgetragene Kritik an der Unterwanderung des ursprünglichen Wikipedia-Prinzips der allgemeinen Teilhabe durch die hierarchisch organisierten Wikipedia-Offiziellen und vornehmliche Veränderung durch einen überschaubaren Nutzerkreis.⁵⁰ Auch die gesellschaftliche Beschäftigung mit dem Thema Stalinismus schlägt sich in den Veränderungsstatistiken nieder. So wurde im Jubiläumsjahr 2007 der bisherige Höchststand an Veränderungen vorgenommen.⁵¹ Anhand dieser Editierzahlen wird der direkte Bezug zwischen gesellschaftlicher Auseinandersetzung und dem respektiven Lemma erkennbar. Erstaunlicherweise blieben die Angaben zum Jahr 1937 im Artikel davon unberührt, was von den Grenzen der Editierbarkeit zeugt. Die Reichweite und Popularität der einzelnen Lemmata ist beeindruckend: Alexej Miller nannte die Auflage eines Schulbuches von 250 000 Exemplaren eine politische Maßnahme des Staates.⁵² Der Stalin-Artikel erreicht eine solche virtuelle Reichweite in weniger als fünf Monaten. Die Wikipedia-Artikel sind bestens verlinkt und in kommerziellen Suchmaschinen auf den Top-Plätzen zu finden. Bei Yandex, einer der populärsten russischen Suchmaschinen, belegt der StalinArtikel den zweiten Rang in den Ergebnissen. Der erste Platz wird von der offiziellen Stalin-Seite des Suchdienstes eingenommen. Bei Rambler thront der Wikipedia-Artikel unangefochten auf dem ersten Platz und ist somit der erste Anlaufpunkt des wissbegierigen Nutzers.⁵³ Der Artikel verfügt daher über einen hohen Onlinemarktwert, um den kommerzielle Seiten hart kämpfen, werben und den sie schließlich optimieren müssen. Besonders in Anbetracht der suggerierten Fakten des Artikels sowie der steigenden Popularität des Online-Nachschlagewerkes ist für die Zukunft eine Verstärkung dieser Tendenz zu erwarten. Es bedarf daher verstärkter Anstrengungen, um diesem virtuellen Geschichtsmonopol nicht nur qualitativ, sondern auch quantitativ entgegenzutreten. Der von Einzelnen editierte Artikel gilt als wichtige Autorität im russischen Internet und somit auch im russischen Geschichtsbild. Die Manipulation eines solch bedeutenden Mediums ist in der Lage,

50 Vgl. Lorenz, Wikipedia S. 301ff. 51 Vgl. Wikipedia Page History Statistics zu Wikipedia-Artikel „Stalin, Iosif Vissarionovič“, verfügbar unter: http://vs.aka-online.de/cgi-bin/wppagehiststat.pl?lang=ru.wikipedia&, Zugriff am 11.09.2011. 52 Vgl. Alexej Miller: Geschichtspolitik in Russland, in: Russlandanalysen 196 (2010), S. 2–5, hier S. 4. 53 Vgl. Suchergebnisse für „Stalin“ bei Rambler, http://yandex.ru und Yandex http://www. rambler.ru. Die Suchen erfolgten am 11.09.2011.

232 | Martin Müller-Butz und Christian Werkmeister die Geschichtswahrnehmung der Nutzer und somit auch den gesellschaftlichen Geschichtsdiskurs nachhaltig zu beeinflussen.

Die Darstellung der Geschichte des GULag in der russischsprachigen Wikipedia Zu Beginn des Beitrags wird deutlich gemacht, dass es sich bei der „Hauptverwaltung der Besserungs-Arbeitslager, Arbeitssiedlungen und -haftanstalten“ um eine „Unterabteilung des NKVD, das Ministerium für innere Angelegenheiten“ handele, die von 1934 bis 1960 unter Führung des „Systems der BesserungsArbeitslager“ gestanden habe. Die offenbar zitierten Definitionen werden weder angezeigt, noch wird dem Nutzer deren Herkunft erläutert. Die wenige Sätze zählende Einführung endet mit der Beschreibung des Lagersystems als „wichtigstes Organ im System der politischen Repressionen der UdSSR“. Neben dieser Einführung findet sich am Beginn der Seite eine Karte, auf der die einzelnen Lager verzeichnet sind. Der Bilduntertitel verweist auf die Organisation Memorial als Urheber der Daten.⁵⁴ Insgesamt umfasst der Artikel knapp 9 000 Wörter und bietet damit einen quantitativ umfassenden Einstieg in das Thema. Dies spiegelt sich ebenso in der Beitragsgliederung wider, die aufgrund vieler vereinzelter Unterpunkte einen eher fragmentarischen Eindruck erweckt. Inhaltlich widmet sich der Artikel dem Thema GULag aus verschiedenen Perspektiven. Im Kapitel „Geschichte“ wird zunächst kurz die Entstehung der Lagerverwaltung von 1930 bis 1960 skizziert. Der Aspekt der Zwangsarbeit und die Bereitstellung von Lagerhäftlingen bei staatlichen Bauprojekten von staatlichen Bauunternehmen wie Dalstroj oder Glavgidrostroj werden dabei wiederholt erwähnt. Im Kapitel „Struktur“ folgen Zahlen und Auflistungen einzelner Lager sowie Verweise zu weiteren Beiträgen in der Wikipedia.⁵⁵ Eine Vielzahl weiterer Statistiken wird im folgenden Kapitel „Statistik des GULag“ bemüht. Diese werden im Fließtext jedoch kaum erwähnt und bedürfen der selbständigen Erschließung des Nutzers, der diese ohne weiteres Hintergrundwissen kaum zu deuten vermag. Sucht man nach Quellenangaben zu diesen Statistiken, fällt die

54 Wikipedia-Artikel „GULag“, verfügbar unter: http://ru.wikipedia.org/wiki/ГУЛаг, Zugriff am 11.09.2011. 55 Vgl. Kap. 2 „Struktur“ des Wikipedia-Artikels „GULag“, verfügbar unter: http://ru.wikipedia. org/wiki/ГУЛаг Zugriff am 11.09.2011.

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häufige Nutzung von Online-Publikationen auf.⁵⁶ Angesichts der vielen quantitativen Aussagen, wie beispielsweise zur nationalen Zusammensetzung der Lager und den entsprechenden Sterberaten fehlt eine kritische Interpretation der vorgelegten Zahlen und deren Entstehung. Man kann die auffallend häufige Bemühung von Statistiken durchaus als Ausdruck der Wikipedia-Prinzipien wie denen des „neutralen Standpunktes“ und der Verifizierbarkeit der Beiträge werten, die sich letztlich in einer um Eindeutigkeit und Faktizität bemühten Erzählung widerspiegeln.⁵⁷ In den weiteren Kapiteln bleibt der Artikel fragmentarisch und detailhaft und hinterlässt einen unfertigen Eindruck. Dabei offenbaren sich die Vor- und Nachteile einer hypertextuellen Erarbeitung. So wiederholen sich viele Informationen der ersten Abschnitte „Geschichte der Organisation“. Es finden sich allerdings auch neue, den ersten Kapiteln widersprechende Aussagen. So wird im Beitrag unter anderem erstmalig das Dekret zur „Bildung von Lagern zur Zwangsarbeit“ von 1919 erwähnt, ohne dabei jedoch den frühen Lagerkomplex auf den Solovki-Inseln und dessen Wirkung und Konsequenzen für die Etablierung eines unionsweiten Lagersystems zu diskutieren. Im vierten Kapitel „Geschichte der Organisation“ weist der fragwürdige Untertitel „Periode der Blütezeit“ auf das Anwachsen der Häftlingszahlen und die zunehmende Nutzung von Häftlingen als Strafarbeiter hin. Bis dahin wird weder die wachsende Zahl politischer Häftlinge in den 1930er Jahren, noch der sprunghafte Anstieg der Häftlingszahlen infolge der Terrorwellen von 1935 bis 1937 und nach Ende des Zweiten Weltkrieges erwähnt. Ebenso wenig wird der berüchtigte Paragraph 58 des Strafgesetzbuches der RSFSR und dessen Bedeutung für die hohe Zahl politischer Häftlinge in den Lagern oder die Generalamnestie nach Stalins Tod erwähnt. Darüber hinaus finden sich keine Aussagen zum Wandel der Lager von Umerziehungslagern hin zu Zwangsarbeitslagern zwischen den 1920er Jahren und 1930er Jahren oder zur Nutzung etlicher Lagerkomplexe über die Zeit des Stalinismus hinaus bis in die 1980er Jahre.⁵⁸ Bis zum sechsten Kapitel „Leitung des GULag“ folgt der Artikel dem Muster einer institutionsgeschichtlichen Erzählung. In späteren Abschnitten lässt sich beobachten, wie der Aspekt der Zwangsarbeit zunehmend in den Fokus des Lemma rückt. Der Artikel beschäftigt sich in diesem Abschnitt ausführlich damit und

56 Vgl. Fußnote 7 des Wikipedia-Artikels „GULag“, verfügbar unter: http://ru.wikipedia.org/ wiki/ГУЛаг#cite_note-7, Zugriff am 11.09.2011. 57 Vgl. Kap. 2.1 „Grundsätze“ des Wikipedia-Artikels „Wikipedia“, verfügbar unter http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia#Grunds.C3.A4tze, Zugriff am 11.09.2011. 58 Vgl. Anne Applebaum: Der GULag. München 2005.

234 | Martin Müller-Butz und Christian Werkmeister geht der Frage nach, welchen Beitrag die Lager zu den wirtschaftlichen Reformen in den 1930er und 1940er Jahren leisteten. Ein Zitat Stalins von 1938 verdeutlicht den direkten Zusammenhang von Ausbeutung, Zwangsarbeit in den Lagern und Industrialisierung unter Stalin: Wir tun schlecht daran, wenn wir die Arbeit der Lager zerstören. Die Befreiung dieser Leute ist natürlich notwendig, aber aus Sicht der staatlichen Wirtschaft ist das schlecht. (. . . ) Man muss die Sache so wenden, dass die Leute bei der Arbeit bleiben – geben wir ihnen Auszeichnungen, Orden vielleicht? Aber wenn wir sie befreien, werden sie zu sich kommen, sie werden sich von neuem mit Kriminellen zusammentun und auf den alten Weg zurückgehen. Im Lager ist die Atmosphäre eine andere, dort fällt es ihnen schwer, zu verderben.⁵⁹

Im Folgenden werden das Lagerregime und die Bedingungen innerhalb der Lager hinterfragt sowie die schwierigen Lebensbedingungen der Häftlinge thematisiert. Dabei werden Vorstellungen des Lagerlebens wenig systematisch erläutert und nicht mit Fußnoten belegt, wie an einer anderen Stelle des Beitrags, wo verschiedene Formen von „Folter und Nötigung“ im Lager beschrieben werden.⁶⁰ Auch hier sind es vorrangig Zahlen, die zur Illustration der Haftbedingungen hinzugezogen werden. Im Falle der Essensrationen wird auf eine Tabelle des sowjetischen Innenministeriums von 1948 zurückgegriffen.⁶¹ Der Artikel bleibt auch hier bruchstückhaft und lässt es an einer systematischen Darstellung fehlen. So werden die Spezifika des GULag lediglich angedeutet, der Wandel des sowjetischen Lagersystems rückt durch die Beschränkung der Darstellung des GULag auf die Zeit des Stalinismus aus dem Blickfeld. Die Verschärfung des Lagerregimes, wie sie Anne Applebaum im gesamten Zeitraum von 1930 bis nach Ende des Zweiten Weltkrieges ausmacht, Zäsuren wie die Generalamnestie 1953 und ihre Folgen oder die Funktion und der Wandel des Lagersystems nach dem Tod Stalins werden im Beitrag nicht ausreichend thematisiert.⁶² Ebenso wenig findet die literarische Rezeption zum GULag, von einer Auflistung zweier Zitate aus der Memoirenliteratur abgesehen, Niederschlag. Außerdem wird der aktuelle gesellschaftliche Umgang mit der Geschichte des Lagersystems in Russland nicht weiter erwähnt. Viele Quellenangaben verweisen auf unterschiedliche Online-Bibliotheken und Zeitungsartikel. Trotzdem ist die Quellenherkunft meist ungesichert, einige

59 Zitat Stalins aus einem Beschluss des Rates der Volkskommissare der UdSSR vom 11.07.1929, zit. in Wikipedia-Artikel „GULag“, verfügbar unter: http://ru.wikipedia.org/wiki/ГУЛаг, Zugriff am 11.09.2011. 60 Ebenda. 61 Ebenda. 62 Vgl. Applebaum, Der GULag, S 10f.

Die Geschichte des GULag im Russischen Internet

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Quellenangaben fehlen vollends. Obwohl die Bibliographie zum Artikel ausführlich auf wissenschaftliche Werke verweist, benennen die Fußnoten oftmals nur Zeitungsartikel und im Internet zu findende Aufsätze und Fachbeiträge. Interessanterweise wurde eine Vielzahl von Statistiken mit Verweisen auf Akten des Staatsarchivs der Russischen Föderation (GARF) versehen. Diese verraten nur wenig über die Art und Provenienz der Quellen.⁶³ Wie in den anderen Lemmata der Wikipedia bietet auch der GULag-Artikel dem Nutzer ein Forum, an dem man sich mit Diskussionsbeiträgen beteiligen kann. So werden im Forum zum russischsprachigen GULag-Beitrag vorrangig die verschiedenen Angaben der Bibliografie, aber auch die Glaubwürdigkeit von Quellen diskutiert. Dabei fällt auf, dass sich die Diskussion dauerhaft auf einige wenige engagierte Nutzer wie Andrej Kolomiec, Vlas, Borealis55 und Silent1936 beschränkt.⁶⁴ Nur selten greifen Administratoren in die Diskussion ein und bitten um Kommentare und Meinungen oder löschen Editoren – wie im Falle von Andrej Kolomiec geschehen. Es wird unter anderem über in der Literatur genannte Opferzahlen, Änderungen der Häftlingszahlen in den 30er Jahren, aber auch die Eignung inhaltlicher Rubriken wie „Prominente Insassen des GULag“ diskutiert.⁶⁵. Fraglich ist, in welchem Maße sich die Diskussion auf die strukturelle und inhaltliche Form des Lemma auswirken. Denn vergleicht man die Diskutanten mit den Editoren des GULag-Beitrags, wird sichtbar, dass die meisten Veränderungen von Nutzern stammen, die sich wenig bis gar nicht am Diskussionsforum beteiligen, wie etwa Sergej Olegovič, CaptaiN Tub0rg und Koljasik. Abgesehen von Koljasik, der kein Profil führt, lassen alle genannten Autoren in ihrem WikipediaProfil neben anderen Themen vor allem eine Affinität für militärische Themen erkennen. Befragt man den Beitrag hinsichtlich der Zugriffe, Edits und der Zahl der Editoren, ist festzustellen, dass der Artikel sowohl in den Zugriffszahlen als auch bei der Gesamtzahl der Veränderungen und Editoren innerhalb der russischsprachigen Wikipedia ein Nischendasein fristet. Im Gegensatz zum Stalin-Beitrag mit mehr als 7 600 Veränderungen wurde der GULag-Artikel lediglich gut 1 000 Veränderungen unterzogen. Während sich 487 IP-Adressen als Editoren des Stalin-

63 Vgl. folgende Fußnote des Wikipedia-Artikels „GULag“, verfügbar unter: http://ru.wikipedia. org/wiki/ГУЛаг#cite_ref-5, Zugriff am 11.09.2011. 64 Die Profile der genannten Nutzer sind verfügbar unter: http://ru.wikipedia.org/wiki/ Участник:Koljasik, http://ru.wikipedia.org/wiki/Участник:Borealis55, http://ru.wikipedia.org/ wiki/Участник:Vlas, http://ru.wikipedia.org/wiki/Участник:Silent1936, Zugriff am 11.09.2011. 65 Vgl. Diskussion zum Wikipedia-Artikel „GULag“, verfügbar unter: http://ru.wikipedia.org/ wiki/Обсуждение:ГУЛаг, Zugriff am 11.09.2011.

236 | Martin Müller-Butz und Christian Werkmeister Lemmas ausmachen lassen, haben 154 Editoren Beiträge zum GULag-Beitrag geliefert. Gleicht man die Namen der Editoren miteinander ab, so sind etliche Mitschreiber des Gulag-Beitrags auch aktive Editoren des Stalin-Beitrags.⁶⁶ Während der Beitrag zu Stalin eine Veränderung in acht Stunden verzeichnet, wird der GULag-Beitrag lediglich einmal in drei Tagen bearbeitet. Die Betrachtung der Zugriffe auf den GULag-Artikel offenbart, dass die Seite weniger als ein Siebtel der Besucher des Stalin-Artikels vorweisen kann. Auch die beim Stalin-Artikel beobachtbare Wochenendfluktuation tritt nicht auf.⁶⁷ Somit ist von keiner besonderen Bedeutung in Schulen, Universitäten oder im Arbeitsalltag auszugehen. Im Februar 2007 war der Text zum GULag einer der von den meisten unterschiedlichen Kontributoren veränderten Artikel der russischsprachigen Wikipedia. Anhand dieses einmaligen Auftauchens in der Rangliste ist die Bedeutung des gesamtgesellschaftlichen Diskurses im Jubiläumsjahr des „Großen Terrors“ erkennbar, wie es sich auch im Jahresvergleich offenbart.⁶⁸ Bei Yandex und Rambler belegt der Wikipedia-Artikel trotzdem den ersten Platz bei einer Suchanfrage nach dem Begriff GULag.⁶⁹ Dieses Ranking ist jedoch weniger als Kennzeichen großer Relevanz des Artikels im RuNet, sondern vielmehr als weiterer Beleg für die Dominanz der Wikipedia im Internet zu bewerten. Man kann für den GULag-Artikel festhalten, dass das Prinzip des „neutral point of view“ der Wikipedia und die Gestaltung des Artikels als Hypertext mehrerer Beiträger eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Thema GULag verhindern. Die einzelnen Kapitel sind von unterschiedlicher Qualität und widersprüchlichen Deutungsmustern geprägt und erscheinen bisweilen bruchstückhaft. An dieser Stelle sei auf die erstmalige Editierung des Artikels 2004 hingewiesen.

66 Vgl. Wikipedia Page History Statistics zu den Wikipedia-Artikeln „Stalin, Iosif Vissarionovič“ und „GULag“, verfügbar unter: http://vs.aka-online.de/cgi-bin/wppagehiststat.pl?lang= ru.wikipedia&, Zugriff am 11.09.2011. 67 Vgl. Wikipedia Article Traffic Statistics zu Wikipedia-Artikel „GULag“, verfügbar unter: http://stats.grok.se/ru/201010/ГУЛаг, Zugriff am 11.09.2011; vgl. Wikipedia History Page statistics, verfügbar unter: http://vs.aka-online.de/cgi-bin/wppagehiststat.pl?lang=ru.wikipedia&, Zugriff am 11.09.2011. 68 Vgl Wikipedia Statistics Russian, verfügbar verfügbar unter: http://stats.wikimedia.org/ EN/TablesWikipediaRU.htm, Zugriff am 11.09.2011; vgl. Wikipedia History Page Statistics zu Wikipedia-Artikel „GULag“, verfügbar unter http://vs.aka-online.de/cgi-bin/wppagehiststat.pl? lang=ru.wikipedia&, Zugriff am 11.09.2011. 69 Vgl. Suchergebnisse für „ GULag“ bei Yandex, http://yandex.ru und Rambler http://www. rambler.ru. Die Suchen erfolgten am 11.09.2011.

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Die häufige Anwendung von Zitaten und Statistiken suggeriert eine vermeintliche Faktizität des Artikels, oft fehlt es aber an Interpretationen und Deutungen sowie der notwendigen Kontextualisierung von Quellen. Die Lesart des GULag als einer durchweg auf den Stalinismus beschränkten Geschichte knüpft durchaus an offizielle Deutungsmuster an, das zu Beginn des Artikels erwähnte System der politischen Repressionen wird im Artikel kaum ausführlich erwähnt. Dennoch lässt der Artikel Platz für alternative Deutungen. Im Gegensatz zu anderen Medien stehen sich alternative Narrative unvereinbar gegenüber.

Das Virtuelle GULag-Museum – eine zivilgesellschaftliche Alternative? Das „Virtuelle GULag-Museum“ ist ein in freier Kooperation unterschiedlicher Akteure im russischen Internet begonnenes Projekt, dessen Hauptanliegen es ist, das öffentliche Bewusstsein für das Thema GULag zu sensibilisieren, an die Geschehnisse zu erinnern sowie verstreute Informationen zusammenzutragen und zu sichern. Hierbei sollen unter der Adresse gulagmuseum.org Synergieeffekte zwischen den geographisch und organisatorisch heterogenen Gruppen erzielt werden. Neben der russischen Nichtregierungsorganisation Memorial, der Gedenkstätte Perm’ 36 sowie einzelnen russischen Stiftungen ist insbesondere die Unterstützung durch die diplomatischen Vertretungen Polens, Deutschlands und der Niederlande zu erwähnen. Neben Universitäten und Forschungseinrichtungen werden die Seiten auch durch eine englische Stiftung, die Ford Stiftung aus den USA sowie die Firmengruppe Snob Media aus Moskau finanziert.⁷⁰ Auf kommerzielle Komponenten wie Tracker oder Werbung wird vollständig verzichtet. Die Seite stellt daher nicht nur aufgrund der internationalen Finanzierung eine Besonderheit dar. Die Startseite ermöglicht zwei unterschiedliche Betrachtungsansätze: die strukturierte Suche nach Informationen zum sowjetischen Lagersystem einerseits sowie das direkte Eintauchen in visuelle Exponate zum Thema GULag andererseits. Diese Zweiteilung setzt sich in den Unterkategorien des virtuellen Museums fort. Zusätzlich kann zielgruppenspezifisch und funktional differenziert werden: Die Seite spricht sowohl wissenschaftliche als auch fachfremde Internetnutzer

70 Vgl. Virtual’nyj Muzej Gulaga, verfügbar unter: http://gulagmuseum.org/showObject.do? object=11747147, Zugriff am 11.09.2011.

238 | Martin Müller-Butz und Christian Werkmeister an. Somit versucht sie sowohl den Anforderungen eines Museums als auch denen einer Gedenkstätte gerecht zu werden. Die mosaikartigen Bildausschnitte der Startseite suggerieren das Facettenreichtum des Systems GULag. Die Bildfragmente offenbaren nach dem Anklicken ein größeres Foto sowie die Verortung des Originalexponats im komplexen System GULag. Eine thematische Einordnung findet allerdings nicht statt. Somit sind die kleinen Bilder als niedrigschwellige Auseinandersetzung mit der Thematik sowjetischer Gesellschaftsverbrechen gedacht. Die Geschehnisse werden durch Bilder von Alltagsgegenständen, wie Zigaretten, Menschen als Häftlingen oder „Tätern“, von Gleissträngen und Häftlingskleidung in einer GULag-spezifischen Symbolik konkretisiert. Auch die Platzierung des Webseitenelements in der mittleren bis oberen rechten Hälfte spricht für die Funktion der Bilder als Aufmerksamkeitsmagnet der Internetpräsenz, da dieses Gebiet von Nutzern am stärksten beachtet wird.⁷¹ Die linke Seite offenbart den Aufbau der Webseite und bietet nach unterschiedlichen Aspekten geordnete Informationen. So ist es möglich, eine Übersicht aller der Seite gemeldeten Museen auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion zu erhalten. Die insgesamt 101 Einrichtungen unterschiedlichster Träger sind mit Adresse, Bild und Kurzbeschreibung veröffentlicht. Hiervon getrennt findet sich eine Auflistung von 517 Bestattungsorten und 370 Erinnerungsorten. Diese klare Trennung nach den Funktionen Museum, Ort der Trauer und Denkmal ist als Angebot an das breite Spektrum der Seitennutzer zu verstehen. Jedoch werden auch im Internet die Grenzen des Konzepts einer multifunktionalen Gedenkstätte erkennbar. Anhand der umfassenden Übersicht wird der Anspruch der Seite, die sowjetischen Gesellschaftsverbrechen zu dokumentieren, deutlich. Dieser Dokumentationsgedanke schlägt sich auch in den Unterseiten „Exponate“, „Spuren des Terrors“ und „Abbildungen“ nieder. Unter der Schaltfläche „Spuren des Terrors“ finden sich Orte und Gebäude, die in direktem Zusammenhang mit den Gesellschaftsverbrechen stehen. Alte Fotografien stehen hierbei neben aktuellen Aufnahmen, die die Gebäude in ihrer derzeitigen Funktion zeigen. Daher erscheinen Bilder eines nun von der Stadtverwaltung genutzten Gebäudes neben Bildern eines überwucherten Wachturmes im Ural. Die Seite versucht die marginalisierte Vergangenheit im Alltag der Gegenwart zu verorten. Sie verknüpft die Abgeschiedenheit des Lagers durch die

71 Vgl. Sav Shrestha/Kelsi Lenz: Eye Gaze Patterns while Searching vs. Browsing a Website, in: Software Usability Research Laboratory (SURL) at Wichita State University: Usability News 9, 1 (2007), verfügbar unter: http://psychology.wichita.edu/surl/usabilitynews/91/pdf/Usability% 20News%2091%20-%20Shrestha.pdf, Zugriff am 11.09.2010.

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121 Fotos mit den postsowjetischen Städten, die ehemaligen Gefängnisse mit der städtebaulichen Nachnutzung ehemaliger Orte der Verfolgung. Die unter den Verknüpfungen „Exponate“ und „Abbildungen“ zu Tage tretende Sammlung ist ebenfalls sehr vielfältig. Es erschließt sich keine bestimmte Katalogisierung, auch die Unterscheidungsmerkmale zwischen Exponaten und Abbildungen werden nicht erläutert. Vielmehr ist festzustellen, dass sich unter den 4 191 Abbildungen nicht nur Texte, Fotografien und Dokumente finden. Unter den 2 237 Exponaten gibt es auch klassische Archivdokumente. Beide Unterteilungen des Internetauftritts weisen eine durchweg hochwertige Beschreibung der Gegenstände sowie weiterführende Informationen vor, so dass auch der stöbernde Seitenbesucher auf die Grundstrukturen des Lagersystems hingewiesen wird. Sowohl der vorrangig nach visuellen Kriterien klickende Nutzer als auch der mittels der sehr guten Suchfunktion gezielt forschende User kann sich auf seine individuelle Art und Weise die unterschiedlichen Gegenstände erschließen. Die große Heterogenität der Informationen vermag es, den Seitennutzer anzusprechen. So finden sich neben dem Bild eines litauischen Samizdat-Magazins aus dem Jahr 1971 typische Lagerkunstgegenstände und neben den Aufnahmen Repressierter auch eine in den Lagern hergestellte Leninbüste. Diese bisweilen abrupten Gegenüberstellungen unterstreichen den Anspruch der Seite, nicht nur zu dokumentieren, sondern zum Nachdenken anzuregen und Reaktionen zu provozieren. In diesem Sinne ist die Seite als Anlaufpunkt vielschichtiger Adressaten zu verstehen und liefert im Gegensatz zu dem an der Utopie (F)Aktualität des GULag orientierten Wikipedia-Artikel vielfältige Interpretationsansätze und Widersprüche, die es für den Betrachter zu überdenken gilt. Trotz dieser Gegenüberstellungen und geistigen Sprünge verzichtet die Seite nicht auf den Anspruch Nachprüfbarkeit zu ermöglichen. Ohne beliebig zu erscheinen, lässt das Angebot ausreichend Freiraum, das eigene Vorwissen zu ergänzen und im Exponaten- und Abbildungsteil recherchieren zu können. Zusätzlich vereint es die im Web verfügbaren Ressourcen über physische Denkmäler, Museen und Bestattungsorte, ohne dabei den Brückenschlag zwischen Gegenwart und Vergangenheit zu vernachlässigen. Alles in allem stellt die Seite eine im russischen Netz einmalige Ressource zur Thematik GULag und Gesellschaftsverbrechen in der ehemaligen UdSSR dar. Die Funktion als Informationsseite schlägt sich in der zweiten Hälfte der nachgeordneten Seiten nieder. Hierbei ist es möglich, unterschiedliche Register gezielt zu durchsuchen. Für westliche Besucher der Seite besteht die Möglichkeit, kyrillische Buchstaben einzugeben. Die Informationen sind nach Personennamen, Gebiet, Unterthema und einzelnem Lager geordnet.

240 | Martin Müller-Butz und Christian Werkmeister Insbesondere die thematische Übersicht bietet eigene Interpretationen der Seitenbetreiber. Hier finden sich zahlreiche Narrative, die als literarische Anleihen aus der Zeit des Samizdat zu sehen sind. Formulierungen wie „Fleischwolf des Terrors“ (mjasorubka terrora) oder „Im Schatten des Terrors“ (v teni terrora) sind bezeichnend für die thematische Einordnung der Kategorien und bieten ein eindeutiges Interpretationsangebot. Anders als bei dem besprochenen Wikipedia-Artikel bietet das Virtuelle GULag-Museum einen Erklärungsansatz, der die Massenverbrechen in ein kontinuierliches Wechselspiel zur Sowjetunion, dem Alltag und der Ideologie stellt. Die Anführungszeichen um „Das friedliche Leben“ (mirnaja žizn’) sowie die eigenen Kategorien zur Befreiung und dem Gedenken unterstreichen die Weite der von den Seitenbetreibern beabsichtigten Klammerfunktion des Begriffes Terror. Durch die breite Ausdifferenzierung, die Nachweise zu den einzelnen Lagern in den Regionen sowie Hinweise auf die Einzelschicksale bietet die Seite den Gegenpol der vermeintlich kollektiven aber eindimensionalen Geschichtsschreibung der Wikipedia. Die Seite hat einen perpetuell unfertigen Charakter. Einige Verweise, wie die gesamte Unterkategorie „Menschen und Schicksale“, führen ins Leere, viele Unterseiten der Exponatkategorien sind spärlich bestückt. Die Literaturhinweise sind extensiv, jedoch nicht geordnet. Zusätzlich begegnet man dem bereits angesprochenen Phänomen der russischen Vorliebe für Internetquellen. Viele der 569 Literaturangaben verweisen auf Online-Angebote. Ebenso liberal ist der Umgang der Seitenbetreiber mit ihrem geistigen Eigentum: Das Kopieren und Nutzen der Informationen ist ausdrücklich erwünscht, alles ist zum privaten Gebrauch als gemeinfrei eingestuft. Die Betreiber verzichten auf die Möglichkeiten des Web 2.0 und bieten weder Forum, noch Wiki oder Gästebuch. Auch direkte Kontaktmöglichkeiten zu den Administratoren sind nicht möglich, lediglich ein Hinweis auf eine E-Mailadresse besteht. Im Gegensatz zu den in Amsterdam befindlichen Wikipedia-Servern sind die hier untersuchten Seiten in St. Petersburg hinterlegt und unterliegen somit den strengen russischen Internetgesetzen, die Verleumdungen im Internet mitunter hart bestrafen. Daher bedeutet kontroversen Diskussionen Raum zu bieten auch immer ein gewisses Risiko für die Seitenbetreiber.⁷² Dieses Risiko wurde bereits in deutschen Zeitungen erwähnt.⁷³

72 Vgl. Dmitry Vinogradov: Das russische Internet: Insel der Meinungsfreiheit und Zivilgesellschaft, in: Rußlandanalysen 118/06, S. 17–21, hier S. 20. Server-Standort via DomainTools, verfügbar unter: http://whois.domaintools.com/gulagmuseum.org, Zugriff am 11.09.2011. 73 Vgl. Karl Grobe: Verräterischer Gedächtnisverlust, in: Frankfurter Rundschau vom 29. Dezember 2008, verfügbar unter http://www.fr-online.de/politik/meinung/verraeterischergedaechtnisverlust/-/1472602/3200514/-/index.html, Zugriff am 11.09.2011.

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Dem westlichen Publikum sind die Seiten noch nicht in Deutsch oder Englisch zugänglich, obwohl entsprechende Schalter bereits angelegt sind. Eine Analyse der inbound links zeigt allerdings, dass der Großteil der insgesamt 52 Verweise auf das GULag-Museum von westlichen Webseiten kommt.⁷⁴ 25 dieser Links stammen dabei aus direkten Wikipedia-Verweisen in unterschiedlichen Sprachen und Artikeln, die Hälfte davon aus russischsprachigen Artikeln.⁷⁵ Bezeichnend ist hierbei, dass nur wenige Verweise von der russischen Wikipedia-Seite stammen. Es handelt sich dabei um den GULag-Hauptartikel sowie Einträgen russischer Regionen oder Personen, die einen direkten Bezug zum GULag vorweisen. Außer dem GULag-Hauptartikel verweist keine Wikipedia-Seite mit historischem Bezug auf das Angebot. In Anbetracht der zahllosen Lager auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion ist die Seite daher von einer ausschöpfenden Einbettung in Wikipedia noch weit entfernt. Bei einer Suchanfrage nach dem Begriff GULag auf Yandex findet man die Seite GULagmuseum.org erst auf der fünften Ergebnisseite auf Rang 46, sie ist in ihrer Popularität innerhalb eines Jahres um drei Ergebnisseiten nach hinten gerutscht. Bei Rambler bestätigt sich dieser Trend.⁷⁶ Die Seiten des Virtuellen GULag-Museums können daher nur bei einer zielgerichteten Internetsuche gefunden werden. Bei der jüngsten Seitenpflege ist das Angebot einem fundamentalen Stilwechsel unterzogen worden. Größeres Augenmerk wird auf die Übersichtlichkeit und Nutzerfreundlichkeit gelegt. So wurde der obskur anmutende Charakter der Seite gegen eine moderne, übersichtliche Anordnung der Elemente ersetzt. Auch das die gesamte alte Seite durchziehende Narrativ der Schreibmaschine und Knöpfe vor schwarzem Hintergrund haben eine interpretationsoffenere Umgestaltung erfahren.⁷⁷ Es ist zu vermuten, dass durch die Beteiligung vieler unterschiedlicher Projektpartner auf eine offenere Umsetzung des Online-Museums Wert gelegt wurde.

74 Vgl. Alexa – Sites linking in, verfügbar unter: http://www.alexa.com/site/linksin/ gulagmuseum.org, Zugriff am 11.09.2011. 75 Vgl. Russian Wikipedia references for Gulagmuseum.org, in: DomainTools, verfügbar unter: http://directory.domaintools.com/ruwikipedia/gulagmuseum.org, Zugriff am 11.09.2011. 76 Vgl. Suchergebnisse für „GULag“ bei Yandex, http://yandex.ru und Rambler http://www. rambler.ru. Die Suchen erfolgten am 11.09.2011. 77 Eine alte Version der Internetseite findet sich im Internet Archive – Wayback Machine, verfügbar unter http://web.archive.org/web/20060110195112/http://www.gulagmuseum.org, Zugriff: 11.09.2011.

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Möglichkeiten und Grenzen virtueller Erinnerungskulturen: Fazit Die Analyse zweier Präsentationsformen zur Geschichte des GULag offenbart, dass das Internet eine durchaus bereichernde, aber zugleich ambivalente Wirkung auf Formen gesellschaftlicher Auseinandersetzung mit Geschichte hat. Das Internet bietet gemäß seiner Funktion als Medium beschleunigter Kommunikation sowohl gesellschaftlichen Gruppen als auch dem Individuum die Möglichkeit, direkt an kreativen Gestaltungsprozessen im Netz teilzuhaben. Der Kern dieses Mediums liegt demnach nicht in den „Speicherungsmöglichkeiten des Computers“, wie Assmann 2002 noch hoffte, sondern vielmehr im passiven Zugriff auf, wie der aktiven Aufbereitung von Information. Die Untersuchung konnte vielmehr zeigen, dass auch das Internet dem von Meyer postulierten „ medienökonomischen Primat des Publikumserfolgs“ und den Selektionsmechanismen konventioneller Medien folgt. Betrachtet man die Ergebnisse der einzelnen Projektanalysen in der Zusammenschau, fällt zunächst auf, dass sich die Darstellungsformen und die offerierten Narrative der Wikipedia-Beiträge und des Virtuellen Gulag-Museums erheblich voneinander unterscheiden. Dies ist auf die unterschiedlichen Gestaltungsinstrumentarien, Nutzergruppen und Absichten hinter den Projekten zurückzuführen. Zum einen veranschaulicht dies die formale und inhaltliche Heterogenität des Internet, zum anderen konfrontiert der Befund der Heterogenität die Forschung mit der Frage, welche methodischen Konsequenzen sich aus der Einbeziehung des Internet als Ressource erinnerungskultureller Untersuchungen ergeben, ohne es bei der generellen Absichtsbekundung vieler Historiker zu belassen, das Internet bedürfe der Berücksichtigung historiografischer Forschung. Die Befunde zu den Wikipedia-Lemmata und ihren Deutungen lassen für den Nutzer Interpretationen zu, die durchaus anschlussfähig sind an den innerrussischen gesellschaftlichen Diskurs über die Geschichte des GULag, der sowjetischen Gewaltverbrechen und die Rolle der Person Stalins. Es ist davon auszugehen, dass diese Interdependenz von online- wie offline-Narrativen im Interesse der russischen Regierung ist und mitnichten geschichtspolitischer Steuerungsmechanismen seitens der russischen Regierung bedarf. Somit kann die fehlende Verknüpfung zwischen Stalin- und GULag-Artikel als Ausfluss der innerrussischen Renaissance Stalins als Organisator des Sieges im „Großen Vaterländischen Krieg“, wie sie von Irina Scherbakowa festgestellt wurde, gesehen werden.⁷⁸ Ein 78 Vgl. Irina Scherbakowa: Zerrissene Erinnerung: Der Umgang mit Stalinismus und Zweitem Weltkrieg im heutigen Russland. Göttingen 2010, S. 53.

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Narrativ, das sich der wiedererstarkten offiziellen Kulturpolitik widersetzt, findet sich sowohl offline als auch online nur in gesellschaftlichen Nischen wieder. Inwiefern die Wikipedia-Beiträge ein Spiegelbild der russischen Gesellschaft liefern können, sei dahingestellt, denn berücksichtigt werden muss in diesem Zusammenhang auch das enge soziale Profil der Wikipedia-Editoren. Dennoch liefern die Wikipedia-Beiträge wertvolle Erkenntnisse darüber, wie sich im Internet, abseits staatlicher Geschichtspolitik, ein gesellschaftlicher Diskurs über die Geschichte des GULag formiert. Für den interessierten Leser stellen diese Widersprüche in den Deutungen historischer Ereignisse eine wertvolle Bereicherung dar. Die Analyse des Virtuellen GULag-Museums fügt sich in diese Befunde ebenfalls ein, wie die niedrigschwellige Nutzung der Seite im russischen Internet und die mäßige Anzahl von inbound links aus der russischen Wikipedia und anderen russischen Seiten belegen. Die Folgen einer fehlenden Thematisierung stalinistischer Gewaltverbrechen in der russischen Öffentlichkeit sind hier deutlich zu spüren. Jedoch zeigt sich die aus solchen Projekten hervorgehende hohe Qualität. Solche Projekte stellen eine gewinnbringende Alternative zu den quantitativ dominanten Narrativen der der russischen Wikipedia dar. Der Staat als geschichtspolitischer Akteur dient dessen ungeachtet als Wegmarke und Abgrenzungspunkt zugleich, wodurch die Möglichkeiten und Grenzen virtueller Erinnerungskulturen deutlich abgesteckt erscheinen. Einerseits bietet das Netz neue Partizipationsmöglichkeiten. Andererseits ist die Wirkung des Mediums überall dort begrenzt, wo eine öffentliche Thematisierung seitens der Gesellschaft, aber auch vonseiten konventioneller Medien und des Staates unerwünscht bleibt. Somit erweitert das Netz zwar die Spielräume gesellschaftlicher Partizipatoren, ein Automatismus wachsender öffentlicher und gesellschaftlicher Wahrnehmung geht damit jedoch kaum einher. Die Frage nach den Chancen und Möglichkeiten einer virtuellen Erinnerungskultur muss daher differenziert beantwortet werden. Der das Internet gezielt durchsuchende Nutzer wird nach intensiver Recherche zu Informationsgewinn kommen können. Das Netz bietet die Möglichkeit, parallele und sich diametral entgegenstehende Geschichten zu betrachten und somit dominante Narrative gedanklich herauszufordern. Außerdem stellt es eine nicht zu unterschätzende Bereicherung für abgelegene oder weit entfernte Kommunikationspartner dar, da sie im Rahmen der Digitalisierung und besseren Auffindbarkeit von Quellen und Wissen im Allgemeinen unkompliziert auf die Ressourcen anderweitig nicht erreichbarer Einrichtungen und Kollegen zugreifen können. Für die Mehrzahl der Internetbenutzer ohne ausgeprägtes historisches Fachwissen stellt das Onlineangebot, wie so oft, eine schier unerträgliche Flut an Halbwissen und Trivialem dar. Trotzdem werden durch die Hypertextualität und Möglichkeit „einen Klick weiter zu denken“ Widersprüche offenbar und Neugier

244 | Martin Müller-Butz und Christian Werkmeister geweckt. Letztlich ist davon auszugehen, dass das Internet, ähnlich wie andere Massenmedien, die bewusste Auseinandersetzung mit historischen Inhalten nicht erleichtern oder ersetzen kann. Die in das Netz gesetzte Hoffnung der frühen neunziger Jahre auf dessen aufklärerische Wirkung hat sich daher nicht bestätigt. Hierbei ist die kritische Einstellung zum Text sowie den verwendeten Quellen weitaus bedeutender als der Rahmen, in dem die Informationen vermittelt werden. Obwohl es der verstärkten Auseinandersetzung von Fachhistorikern mit den rasant wachsenden elektronischen Medien bedarf, kann die kritische Haltung zu Informationen auch durch die gestalterischen Möglichkeiten und die zahlreichen Foren zum Gedankenaustausch nicht ersetzt werden.

Elke Fein

Geschichtspolitik und Identität Eine sozialpsychologische (Re-)Interpretation russischer Erinnerungskulturen am Beispiel zweier post-sowjetischer Erinnerungsorte Der vorliegende Beitrag schlägt eine sozialpsychologisch informierte Interpretation von Phänomenen der Geschichts- und Erinnerungskultur im gegenwärtigen Russland vor und illustriert diese am Beispiel zweier postsowjetischer Erinnerungsorte: des KPdSU-Prozesses vor dem russischen Verfassungsgericht 1992 und, in Form eines Ausblicks, anhand der Debatten rund um Katyn und das russischpolnische Verhältnis im Zusammenhang mit dem Flugzeugabsturz von Smolensk im Frühjahr 2010. Konzeptionelle Grundlage hierfür bildet eine Kombination historisch-soziologischer und kognitionspsychologischer Strukturalismen. Eine solche Herangehensweise erscheint aus zwei Gründen interessant: Zum einen bietet sie neue Einblicke in einige Tiefenstrukturen gesellschaftlicher Erinnerungsdiskurse und -praktiken als Ausdruck kollektiver Identität und gibt damit Aufschluss über eine zentrale Dimension politischer Kultur. Zum anderen werden damit strukturelle, inhaltsunabhängige Kriterien für die Analyse von und die gesellschaftliche Verständigung über Werte und deren Wandel im Medium der Geschichts- und Erinnerungskultur vorgeschlagen. Das Ziel des Beitrags ist also ein Doppeltes: Zum einen (theoretisches Anliegen) möchte er die Frage diskutieren, inwiefern sozialpsychologische Perspektiven für die Analyse und Interpretation von Diskursen zu Geschichtspolitik, Erinnerungskultur und politischer Identität einen heuristischen Mehrwert beinhalten. Zum zweiten (empirisches Anliegen) soll das gesellschaftliche Ringen um die Bewertung bestimmter Aspekte der sowjetischen Vergangenheit im postsowjetischen Russland aus einer sozialpsychologisch-kognitivistischen Perspektive re-interpretiert und neu kartographiert werden. Auf diese Weise wird zugleich die Anwendung und damit der Nutzen dieser Perspektive empirisch illustriert.

Einleitung Der Systemwechsel in Russland von 1989 bis 1993 zeichnet sich gegenüber denjenigen in den ostmitteleuropäischen Transformationsstaaten insbesondere dadurch aus, dass er vergleichsweise langsam und schrittweise vonstattenging;

246 | Elke Fein und dass ungeachtet der beiden größten in diesem Kontext erfolgten staatsrechtlichen Zäsuren – der Auflösung der Sowjetunion (31. Dezember 1991) und der Verabschiedung einer neuen Verfassung (12. Dezember 1993) – in vielen Lebensbereichen einstweilen eher ein Fortwirken bestimmter früherer Praktiken, Interaktionsmuster und Denklogiken als ein allzu radikaler Bruch mit denselben zu beobachten ist. Obwohl der Beginn der „friedlichen Revolutionen“ im östlichen Europa seinen Ausgang in der Sowjetunion nahm und deren Zerfall (ungeachtet des beherzten Handelns ihres ersten und letzten Präsidenten, Michail Gorbačev) letztlich auch das Ergebnis einer schleichenden, inneren Erosion des staatssozialistischen Systems war, die bereits in den Jahren und Jahrzehnten der so genannten Stagnation begonnen hatte, sind Beobachter immer wieder erstaunt über das Ausmaß an Kontinuität(en) und die offensichtliche Trägheit der politischen Kultur. Hiervon zeugt nicht zuletzt der hohe Anteil an „rückwärtsgewandten“, in mancher Hinsicht modernisierungsfeindlichen oder zumindest -skeptischen Kräften, Akteuren und Positionen im öffentlichen Diskurs, von denen viele einen (unterschiedlich konzipierten und begründeten) russischen „Sonderweg“ propagieren.¹ Ähnlich wie schon in früheren Reformepochen in der russischen Geschichte stießen auch in den Jahren nach 1991 engagiertere Reformen auf zunehmend massive Widerstände unterschiedlichster, darunter auch kultureller Art. Dabei kam es zu teilweise erheblichen Diskrepanzen zwischen den in öffentlichen Diskursen formulierten Ansprüchen und den politischen Realitäten. Welche Auswirkungen hatte dies im Feld der Geschichtspolitik und Erinnerungskultur im postsowjetischen Russland? Inwiefern müssen diese (wie einige Beobachter meinen) umgekehrt sogar als Faktoren betrachtet werden, die zu dem eher schleichenden, schrittweisen und in seinen (vorläufigen) Ergebnissen mitunter ambivalenten Übergang beitrugen – und noch immer beitragen?²

1 Vgl. etwa Olga Kurilo: Wandel der Erinnerungslandschaften im heutigen Russland: Zwischen sowjetischem und postsowjetischem Denken, in: Lars Karl/Igor Polianski (Hrsg.), Geschichtspolitik und Erinnerungskultur im neuen Russland. Göttingen 2009, S. 141–162; Markus Kaiser (Hrsg.): Auf der Suche nach Eurasien. Politik, Religion und Alltagskultur zwischen Russland und Europa. Bielefeld 2004; Markus Mathyl: Grenzenloses Eurasien. Der neurechte Nationalbolschewismus in Russland hat Elemente des Monarchismus, des Bolschewismus und des Faschismus aufgenommen und die Gegenkultur nationalistisch aufgeladen. 2003, unter: http://www.evrazia. info/modules.php?name=News&file=article&sid=4045; Andreas Umland: Vladimir Zhirinovskii in Russian Politics: Three Approaches to the Emergence of the Liberal-Democratic Party of Russia 1990–1993. Berlin 1997. ˙ 2 Vgl. etwa Jurij Baturin: Epocha El’cina. Očerki političeskoj istorii. Moskva 2001.

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Der Wandel von Geschichtsdiskursen und Erinnerungskulturen im postsowjetischen Russland ist mittlerweile vielfach beschrieben worden, nicht zuletzt von zahlreichen Einzelstudien zu unterschiedlichen Aspekten der Geschichtserinnerung.³ Versuche einer Synthese sind sich im Wesentlichen darin einig, dass das Feld der Erinnerungskultur bezüglich seiner Heterogenität, Fragmentierung und mitunter Ambivalenz keine Ausnahme darstellt, sondern eher einen Spiegel der allgemeinen politischen und politisch-kulturellen Befindlichkeiten im Land. Ol’ga Kurilo hat die russische Erinnerungslandschaft als eine in drei Lager gespaltene beschrieben. Demzufolge stehen „ demokratische“ Erinnerungsdiskurse und ihre Helden neben denen national-patriotischer und eher nostalgischer Kräfte, die an frühere Größe und teilweise an sowjetische Erinnerungsmuster anknüpfen, wobei liberale Akteure in der Ära Putin zunehmend marginalisiert wurden.⁴ Anliegen des vorliegenden Beitrags ist es daher weniger, diesen Beschreibungen eine weitere hinzuzufügen. Vielmehr soll die Erinnerungslandschaft auf der Basis sozialpsychologischer Kriterien neu kartographiert oder – um im Bild zu bleiben – die Karte, die wir vom Feld der Erinnerungsorte und -kulturen haben, mit einer neuen Legende versehen werden. Die Heranziehung theoretischer und konzeptioneller Modelle aus anderen geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen ist für die Geschichtswissenschaft (die es ja mit menschlichem Geist und menschlichen Gesellschaften in der Vergangenheit zu tun hat), nichts Außergewöhnliches. Noch eher ungewöhnlich ist jedoch die Einführung kognitiver Kriterien als einer zusätzlichen analytischen Dimension, die daher zunächst näher erläutert und begründet werden soll. Nach einer kurzen Vorbemerkung zur theoretischen Verortung der hier vertretenen Perspektive im Kontext historischer und sozialwissenschaftlicher Diskussionen stelle ich im Folgenden zunächst jene Bausteine und tools aus dem theoretischkonzeptionellen Instrumentarium einer kognitiv sensiblen, strukturgenetischen Kulturgeschichte vor, die für die Analyse des Wandels von Denkmustern, Werten und Weltbildern (hier: in Bezug auf historische Erinnerung und Identität) bedeutsam erscheinen (Teil 1). Auf dieser Grundlage werden in einem zweiten Schritt ausgewählte Geschichts- und Erinnerungsdiskurse und Subjektpositionen (hier: anhand einer Fallstudie zum KPdSU-Prozess sowie eines Ausblicks zu den Ereignissen in Smolensk 2010) im Blick auf die ihnen zugrunde liegenden strukturellen Muster untersucht und soweit möglich re-interpretiert.

3 Vgl. dazu etwa die Sonderhefte der Zeitschrift Osteuropa 3 (2003), 6 (2007), 6 (2008) und 8–9 (2011). 4 Kurilo, Wandel, S.143–156.

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Zur Integration historisch-soziologischer und sozialpsychologischer Strukturalismen Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung sind zwei Grundannahmen: Erstens, dass Erinnerungskultur, also Diskurse und Praktiken, die explizit oder implizit eine Bewertung der nationalen (russischen/sowjetischen) Vergangenheit vornehmen, stets auf einer bestimmten Vorstellung von nationaler politischer Identität aufbauen. Sie beantworten also explizit oder implizit Fragen wie: „Wer sind wir?“, „Wer sind wir nicht?“, „Wer sind die anderen?“, „Von wem grenzen wir uns (wodurch) ab und warum?“ usw. Zweitens wird angenommen, dass sich die Antworten gesellschaftlicher Diskurse und Subjektpositionen auf derartige Fragen, und damit ihre Aussagen über die eigene politische und historische Identität, in ihrer strukturellen Komplexität unterscheiden können. In Abhängigkeit von der Weite ihrer jeweiligen Sozialperspektive können politische, moralische und Selbst-Aussagen in sich sowie in ihren jeweiligen Argumentations- und Begründungsmustern einfacher oder komplexer strukturiert sein.⁵ Dies wirkt sich, so die hier vertretene These, zum einen auf ihre Wirkungsmacht in verschiedenen historischen und gesellschaftlich-kulturellen Kontexten aus. Zum anderen hat es auch Konsequenzen für ihre kulturwissenschaftliche Untersuchung. Denn diese kann kognitive Muster und Strukturen des meaning making folglich jeweils auch vertikal differenzieren und analysieren. So verstanden bilden kognitive Strukturmuster gleichsam Ermöglichungsräume und definieren umgekehrt die Grenzen des in einem konkreten historisch-kulturellen Kontext Denkbaren und insofern Möglichen mit. Eine solche Sichtweise kann unmittelbar an diskursanalytische Analyseperspektiven etwa in der Tradition Foucaults anschließen, wie sie auch in der Geschichtswissenschaft inzwischen vielfach zum Einsatz kommen.⁶ Konzeptionelle Grundlage für die hier vorgeschlagene Herangehensweise bildet demnach eine Kombination historisch-soziologischer und sozialpsychologischer Strukturalismen, wie sie etwa von dem amerikanischen Politologen Shawn Rosenberg systematisch begründet wurde. Rosenberg geht davon aus, dass das Soziale (in Geschichte wie Gegenwart) stets „doppelt strukturiert [dually structured]“ ist: nämlich durch individuelle – darunter psychologische – Bestimmungsfaktoren

5 Vgl. dazu grundlegend: Shawn W. Rosenberg/Dana Ward/Stephen Chilton: Political Reasoning and Cognition. A Piagetian View. Durham 1988. 6 Vgl. Achim Landwehr: Historische Diskursanalyse. Frankfurt/Main u.a. 2008; ders.: Geschichte(n) der Wirklichkeit. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte des Wissens. Augsburg 2002; Reiner Keller: Diskursforschung. Eine Einführung für SozialwissenschaftlerInnen. Opladen 2004; Philipp Sarasin: Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse. Frankfurt am Main 2003.

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einerseits, und durch soziale/intersubjektive andererseits, also z.B. soziale Regeln, kulturelle Normen, Institutionen usw. Dabei gehorchen beide Dimensionen, wenngleich eng miteinander verflochten, eigenen Logiken.⁷ Folglich können die Logiken der psychischen und der intersubjektiven Dimension des Sozialen analytisch nicht aufeinander reduziert werden, sondern müssen als komplementäre in ihrer jeweiligen Spezifik in die Analyse und Erklärung kulturellen Wandels einbezogen werden.⁸ Da besonders der sozialpsychologische Aspekt dieses Wechselverhältnisses bislang noch wenig untersucht wurde, möchte dieser Beitrag den heuristischen Mehrwert einer strukturgenetisch-kognitivistischen Perspektive für die Analyse von Identitäts- und Erinnerungsdiskursen und ihres Wandels anhand zweier Fallstudien aus der russischen Zeitgeschichte theoretisch erörtern und empirisch demonstrieren. Damit soll jedoch keine einseitige „Kausalbeziehung“ im Sinne einer „psychischen Determination“ sozialer Strukturen und politischer Kulturen behauptet, sondern lediglich die Relevanz kognitiver Strukturen im Kontext vielfältiger und komplexer, dialektischer Wechselwirkungen mit sozialen und kulturellen Mustern und Strukturen aufgezeigt und erhellt werden. Eine konkretere Ausgangshypothese dabei ist, dass sich „kognitive Kulturen“, darunter auch geschichts- und erinnerungspolitische, im Grad der Komplexität ihrer Wirklichkeitserfassung und -verarbeitung unterscheiden, wobei weniger komplexe kognitive Strukturmuster, sofern sie kulturell dominant sind, entsprechend weniger komplexe Identitäten, Diskurse, gesellschaftliche Interaktionsformen, Erinnerungspraktiken usw. hervorbringen. Allgemeiner formuliert wird also angenommen, dass konkrete Geschichts- und Erinnerungskulturen zum einen eine „Funktion“ der strukturellen Komplexität der durchschnittlichen bzw. der in der betreffenden Gesellschaft dominierenden kognitiven Muster und der von ihnen gespeisten Denk- und Handlungslogiken sind. Zum anderen wird postuliert, dass sich beide (individuelle kognitive Muster und ihre kulturellen Entsprechungen) in enger wechselseitiger Abhängigkeit in die eine oder andere Richtung verändern und entwickeln können, also sowohl in Richtung zuneh-

7 Vgl. Shawn W. Rosenberg: Theorizing Political Psychology, Doing Integrative Social Science under the Condition of Postmodernity, in: Journal for the Theory of Social Behaviour 33,4 (2003), S. 431f. sowie 441 und 446. 8 Vgl. ebd.: ders.: The Not So Common Sense. Differences in How People Judge Social and Political Life. New Haven/London 2002; Elke Fein: Kognition und politische Kultur. Sozialpsychologische Perspektiven in der Diskursforschung am Beispiel von Patronage, Klientelismus und Korruption in Russland, in: Jörg Oberthür/Hartmut Rosa (Hrsg.), Kultureller und sprachlicher Wandel von Normen- und Wertbegriffen in Europa. Interdisziplinäre Perspektiven (in Vorbereitung).

250 | Elke Fein mender als auch abnehmender Komplexität der Wirklichkeitswahrnehmung und -verarbeitung, hin zu mehr oder weniger Selbst-Reflexivität. Auf das Wechselverhältnis von Kognition und Kultur, also von individuellen und gesellschaftlichen Dimensionen kognitiver Strukturen und damit auch auf die methodische Problematik der Übertragbarkeit individual-psychologischer Kategorien auf kulturelle Phänomene wird im Zuge der folgenden Erörterung des konzeptionellen Instrumentariums näher eingegangen. In Anlehnung an strukturalistische Entwicklungstheorien in der Tradition von Baldwin, Mead, Vygotsky, Piaget, Kohlberg, Selman u.a. sowie in neuerer Zeit etwa von Kegan, Cook-Greuter oder Commons werden nachfolgend diejenigen Aspekte individueller und sozialer Kognition (verstanden in einem umfassenden, noch näher zu erörternden Sinn) in den Blick genommen, die für das Denken und Handeln historischer Akteure in Bezug auf Geschichte, Erinnerung und politische Identität und damit für das Entstehen und Funktionieren konkreter Erinnerungskulturen unmittelbar bedeutsam erscheinen.⁹

I Das theoretisch-konzeptionelle Instrumentarium: kognitive Dimensionen des Wandels von Identitäten, Weltbildern, Werten und Erinnerungskulturen Das psychische System der Kognition und seine Teilbereiche als „biologischtechnische“ Voraussetzungen dafür, dass und wie wir uns selbst und die uns umgebende Welt wahrnehmen, verstehen und interpretieren, verändert und entwickelt sich in allgemeiner Form zum einen im Lebensverlauf- dies scheint ein universales Phänomen zu sein –, sowie in seiner konkreten Gestalt infolge entsprechender äußerer, sozialer und kultureller Kontextbedingungen. Die hier interessierenden, kognitionsbasierten Modelle zur Entwicklung sozialer Normen, Werte, Weltbilder und Identitäten machen sich allesamt die Erkenntnisse von Theorien komplexer adaptiver Systeme zu eigen¹⁰, denen zufolge kybernetische Systeme (darunter das der menschlichen Kognition) stets von den Prinzipien Emergenz und Selbstorganisation bestimmt werden. (Kognitive) Entwicklung

9 Zu den genannten Autoren und ihren Arbeit vgl. die Anmerkungen der folgenden Seiten. 10 Vgl. Ludwig von Bertalanffy: General System Theory. Foundations, Development, Applications. 9. Aufl. New York 1984.

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wird daher als ein potenziell stetiger, jedoch nicht linearer Prozess der Differenzierung und Dezentrierung verstanden, der Herauslösung aus dem Eingebundensein in ein bestehendes Gleichgewicht einerseits und einer anschließenden Rezentrierung auf einem neuen Gleichgewicht andererseits, das die Beziehungen zur Welt von einem komplexeren Zentrum aus reorganisiert. Dabei beseitigt jedes Gleichgewicht bestimmte Probleme, Defizite und Unstimmigkeiten des vorherigen; enthält aber auch wiederum neue, welche ihrerseits zu umfassenderen, komplexeren Problemlösungen und damit zur Weiterentwicklung des (hier: kognitiven) Systems anregen. Neben den grundlegenden Arbeiten Jean Piagets zur Entwicklung kognitiver Kompetenzen¹¹ sind für die Untersuchung der hier interessierenden Diskurse über Geschichte, Identität und Erinnerung etwa die Studien Robert Selmans zu sozialen Kognition und Perspektivenübernahme¹² relevant, ferner Lawrence Kohlbergs

11 Piaget kam in den 1930er Jahren zu dem Schluss, dass die Entwicklung der (allen anderen Bereichen der psycho-sozialen Entwicklung zugrunde liegenden) Kognition in bestimmten, aufeinander aufbauenden und insofern nicht willkürlichen Schritten (oder Strukturstufen) erfolgt. Seine „genetische Epistemologie“ (1970) unterscheidet die Hauptstufen senso-motorische, prä-operationale, konkret-operationale und formal-operationale Kognition, die sich durch ihre zunehmende Fähigkeit zur Abstraktion des Denkens im Sinne einer systematischen Koordination von immer mehr kognitiven Teilleistungen unterscheiden, wobei letztere im Wesentlichen unabhängig von den konkret koordinierten Inhalten sind. Vgl. August Flammer: Entwicklungstheorien. Psychologische Theorien der menschlichen Entwicklung. 3. Aufl. Bern 2005; Jean Piaget: Psychologie der Intelligenz. Stuttgart 1980. Während die Universalität der von Piaget entdeckten, hierarchisch organisierten Stufensequenz in zahlreichen Studien bestätigt wurde, unterscheidet sich die Art und die Geschwindigkeit, mit der sich Kognition entwickelt – oder auch nicht –, in Abhängigkeit von sozialen Kontextfaktoren historisch und kulturell erheblich. Diesbezüglich hat die historisch-strukturgenetische Soziologie festgestellt, dass sie ohne weitergehende äußere Anreize dort zum Stehen kommt, wo die für das Leben im betreffenden sozialen Kontext erforderlichen Kompetenzen erworben wurden. Vgl. dazu Günter Dux: Historisch-genetische Theorie der Kultur. Instabile Welten. Zur prozessualen Logik im kulturellen Wandel. Weilerswist 2005; ders.: Die Logik der Weltbilder. Sinnstrukturen im Wandel der Geschichte. 3. Aufl. Frankfurt am Main 2006; Tilman Sutter: Die “Logik der Entwicklung“. Probleme eines ontogenetischen Zugangs zur Geschichte, in: Frank Welz/Uwe Weisenbacher (Hrsg.): Soziologische Theorie und Geschichte. Opladen/Wiesbaden 1998, S. 233–256; Tilman Sutter/Michael Charlton (Hrsg.): Soziale Kognition und Sinnstruktur. Oldenburg 1994. 12 „Soziale Kognition“ setzt nach Selman zwar eine bestimmte allgemeine Kognition voraus, ist jedoch nicht auf diese reduzierbar. Selman beschreibt die Entwicklung sozialer Kognition als die zunehmende Fähigkeit, die Perspektiven verschiedener sozialer Akteure erfolgreich miteinander zu koordinieren und in die eigene Urteilsbildung zu integrieren. Mit einer höheren Perspektivenintegration geht eine größere interpersonelle Sensibilität und Sozialkompetenz einher, während die Egozentrik (Selbstbezogenheit) der frühen Stufen im Zuge weiterer Entwicklung abnimmt. Ein Zusammenhang mit bestimmten Formen des Denkens und Handelns

252 | Elke Fein Modell der Entwicklung des moralischen Urteilens¹³ und die darauf aufbauende Theorie Stephen Chiltons zur politischen bzw. politisch-kulturellen Entwicklung¹⁴ sowie schließlich insbesondere Modelle zur Entwicklung von Selbst und Ich-Identität, wie sie von Robert Kegan, Jane Loevinger, Susanne Cook-Greuter und anderen vorgelegt wurden.¹⁵ Das Interdependenzverhältnis der genannten

sowie konkreten Weltbildern und Wertbegriffen konnte inzwischen in historischen und ethnologischen Untersuchungen nachgewiesen werden. Vgl. dazu Lutz H. Eckensberger/Rainer K. Silbereisen: Entwicklung sozialer Kognitionen. Modelle, Theorien, Methoden, Anwendung. Stuttgart 1980; Christopher Robert Hallpike: The development of cultures (unveröffentlichtes Manuskript). 2011; Dux: Historische-genetische Theorie; Andrea Bender/Stefan Seitz /Hans Spada (Hrsg.): Verantwortungszuschreibung und Ärger: emotionale Situationsbewertung (appraisal) in polynesischen und "westlichen"Kulturen. Virtuelle Fachbibliothek Psychologie an der Saarländischen Universitäts- und Landesbibliothek/Psychologie: Hochschulen Deutschland 2004; Andrea Bender/Sieghard Beller: Spezifische Zahlsysteme in Tonga : kognitive Grundlagen, historische Wurzeln und kulturelle Adaptation, Freiburg i. Br. 2007; dies.: Allgemeine Psychologie – Denken und Sprache. Göttingen u.a. 2010. 13 Kohlberg zufolge handeln Menschen auf allen Entwicklungsstufen moralisch bzw. streben danach, moralisch zu handeln, was jedoch im jeweiligen Verständnis von Moral Unterschiedliches bedeutet. Die Moral der beiden ersten (präkonventionellen) Strukturstufen ist egozentrischselbstbezogen, argumentiert also allein von den eigenen Ängsten, Wünschen und Bedürfnissen her; die der konventionellen Stufen 3 und 4 ist soziozentrisch und argumentiert von der jeweils als maßgeblich erlebten einbindenden Gemeinschaft her (einer konkreten, unmittelbaren auf Stufe 3 und einer abstrakten wie dem Staat, einer Nation, einer religiösen oder ideologischen Gruppierung o.ä. auf Stufe 4). Die Moral der beiden höheren Stufen 5 und 6 ist weltzentrisch-universal (postkonventionell), insofern sie allgemeine, abstrakte Werte und Prinzipien als vorrangig vor gemeinschaftlich gepflegte Regeln und Traditionen setzt. Für den Umgang mit belasteter Vergangenheit impliziert dies unter anderem, dass Verantwortung desto weniger abgeschoben wird (auf andere, nach oben oder unten oder auf die Umstände), je komplexer die kulturell dominante moralische Urteilsfähigkeit ist. 14 Mit der einfachen Begründung: „Wie man andere behandelt, ist ein moralischer Akt“ versteht Chilton Politik als „any way people relate to each other“ – und damit immer auch als moralisches Projekt. Auf dieser Basis gelangt Chilton zu einer hierarchischen Sequenz unterschiedlich komplexer Interaktionsformen als idealtypischen Strukturmustern politischer Kultur, auf denen wiederum die Entstehung und Funktionsweise sozialer Institutionen beruht. Genau hier liegt folglich die Schnittstelle psychologischer und soziologischer Strukturalismen, an der eine kognitiv-entwicklungssensible Diskursforschung ansetzen kann. 15 Kegans Konzept der Selbst- bzw. Identitätsentwicklung fasst die Entwicklung in verschiedenen Erfahrungsbereichen (Kognition, soziale Perspektivenübernahme und moralisches Urteilen) zu einem einzigen, grundlegenden Prozess zusammen, dessen Ergebnis er „epistemologisches Selbst“ nennt. Diese „general structure of the perceiving mind“ strukturiert als “Kernidentität“ sämtliche Erfahrungen einer Person. Wo dabei jeweils die Grenze zwischen Selbst und anderen gezogen wird, bestimmt, wie sich diese in verschiedenen sozialen Kontexten sieht und verhält. Jede der zunehmend reflexiven/komplexen Strukturstufen ist somit durch ein spezifisches Subjekt-Objekt-Gleichgewicht definiert, welches das Verhältnis zwischen dem Subjekt

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Theorien bzw. der von ihnen beschriebenen Kompetenzen lässt sich schematisch wie folgt veranschaulichen: Kognition > soziale Kognition/Perspektivenübernahme > moralisches Urteilen > Handlungslogik/Ich-Identität

Die weiter links stehenden Kompetenzen sind demnach notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzungen der weiter rechts stehenden.¹⁶ Insofern sind alle Dimensionen für den Verlauf und ergo die Untersuchung gesellschaftlicher und politisch-kultureller Wandlungsprozesse im Allgemeinen, ebenso wie für diejenigen gesellschaftlicher Vergangenheitsbezüge (Erinnerungskulturen) im Besonderen unmittelbar relevant. Wenngleich alle genannten Ansätze von einer engen Wechselwirkung individueller und soziokultureller Entwicklung ausgehen, werden sie bislang von der historischen und sozialwissenschaftlichen Forschung zum Wandel politischer Kulturen noch kaum rezipiert – zu Unrecht, wie im Folgenden gezeigt werden soll. Die Relevanz der genannten Konzepte für die Analyse der Strukturen diskursiver Identitätskonstruktionen (nicht nur im (post-) sowjetischen Russland) erscheint insofern offensichtlich als auch geschichtspolitische oder erinnerungskulturelle Diskurse und Positionen, ebenso wie individuelle Identitäten, mehr oder weniger von der Komplexität abbilden bzw. integrieren können, die eine

(Ich, Selbstverhältnis) und den als äußerlich wahrgenommenen Personen und Phänomenen („Objekten“) bestimmt. Dieses Verhältnis verändert sich im Zuge der Auseinandersetzung zwischen Selbst und Umwelt. Mit zunehmender Herauslösung des Subjekts aus seiner (sozialen und materiellen) Umwelt wird diese immer mehr als eine eigenständige, vom Subjekt unabhängig („objektiv“) existierende Einheit wahrgenommen, über die es reflektieren und mit der es Beziehungen eingehen kann. Mit jeder neuen Stufe verschiebt sich demnach das Gleichgewicht zugunsten einer weiteren Sozialperspektive und damit von einer selbstzentrischen Weltsicht zu zunehmend differenzierten, komplexen und dezentrierten Identitäten. Das Modell von CookGreuter wird nachfolgend genauer vorgestellt. 16 Dass moralische Entwicklung an kognitive Voraussetzungen gebunden ist, bedeutet beispielsweise, dass laut Kohlberg konkret-operationale Kognition bestenfalls eine präkonventionelle Moral ausbilden kann, während für konventionelle und höhere Moralstufen formal-operationales Denken und eine entsprechend anspruchsvolle Perspektivenintegration erforderlich ist. Vgl. Lawrence Kohlberg: Die Psychologie der Moralentwicklung, Frankfurt am Main 1996, S. 125. Dies erklärt beispielsweise, warum in Kulturen oder historischen Gesellschaften ohne allgemeine Schulbildung (wie etwa in vormodernen Gesellschaften in und außerhalb Europas) soziale Austauschprozesse stark personalisiert sind, während sich etwa die Einführung abstrakter, überpersönlicher Rechtsbegriffe eher schwierig gestaltet. Vgl. dazu Fein, Kognition und politische Kultur.

254 | Elke Fein konkrete Vergangenheit jeweils ausmacht. Ebenso wie individuelle Identitäten kann die strukturelle Komplexität von Geschichts- und Erinnerungsdiskursen im Blick auf Fragen wie die folgenden untersucht werden: – Wie viele der an einem konkreten (historischen) Konflikt oder Problem beteiligten Akteursperspektiven werden von einem Geschichtsbild/einem kulturellen Selbst-Konzept integriert? Welche werden ausgegrenzt? Mit welcher Begründung (sofern vorhanden) und mit welchen Konsequenzen geschieht dies? – Welche (gegenwärtigen oder vergangenen) Handlungen und/oder Akteure werden als moralisch oder unmoralisch konstruiert und mit welchen Begründungen? – Welcher Sinn wird bestimmten individuellen und kollektiven Erfahrungen zugeschrieben und welche Konsequenzen werden daraus gezogen? – Schließlich: Welche Phänomene werden als gegeben angesehen, welche umgekehrt als Gegenstand möglicher eigener Handlungen? Was ist beeinflussbar, was muss akzeptiert werden? (Subjekt-Objekt-Gleichgewicht) usw.¹⁷ Wie sich individuelle und kollektive Dimensionen von Identität im Zuge idealtypischer Prozesse der Selbst- und Identitätsentwicklung strukturell verändern, wird nachfolgend anhand des in dieser Hinsicht differenziertesten Modells der amerikanisch-schweizerischen Sozialwissenschaftlerin Susanne Cook-Greuter näher erläutert.

17 Ob beispielsweise eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe als „anders“, „feindlich“ o.ä. angesehen wird, ist in dieser Perspektive nicht primär eine politische Frage, sondern eine Frage der Weite der zugrunde liegenden Sozialperspektive und damit der Struktur der eigenen Identität. Zum Zusammenhang zwischen individuellen (kognitiven) und sozialen (kulturellen) Strukturen und damit zur theoretisch-methodischen Frage der Relevanz psychologischer Kategorien für die Untersuchung gesellschaftlicher Phänomene schreibt Kegan: „Die Unterscheidung von persönlichen oder psychologischen Erscheinungen einerseits und politisch oder sozialen andererseits ist recht willkürlich und ein Ergebnis von Theorien, deren Grundbegriffe zu eng gefasst sind. [. . . ] Weder psychologische noch soziale Faktoren haben den Vorrang; die bedeutungsschaffende Aktivität der Entwicklung lässt beide Bereiche erst entstehen.“ Robert Kegan: Die Entwicklungsstufen des Selbst. Fortschritte und Krisen im menschlichen Leben. München 1986. Andreas Langenohl bezeichnet die Unterscheidung zwischen individueller und kollektiver Identität sogar als „sinnlos“, weil sich Identität generell durch soziale Interaktion bilde. Andreas Langenohl: Erinnerung und Modernisierung. Die öffentliche Rekonstruktion politischer Kollektivität am Beispiel des neuen Rußland. Göttingen 2000.

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Die Entwicklung von Selbst und Identität nach Susanne Cook-Greuter Cook-Greuter unterscheidet in ihrer auf der Basis von rund 9 000 Satzergänzungstests entwickelten Theorie insgesamt neun „Strukturstufen zunehmenden Erfassens“.¹⁸ Die fünf Hauptstufen und die dazwischen liegenden Übergangsstufen zeichnen sich durch je spezifische Strukturmuster der Wahrnehmung, Interpretation und Verarbeitung von Erfahrungen aus. Insofern die frühesten sowie die sehr differenzierten späten Stufen für die Untersuchung empirischer Erinnerungskulturen kaum relevant sind, beschränkt sich die folgende Übersicht auf die Weltbilder, Werte, Denk- und Verhaltenslogiken der fünf in modernen Gesellschaften geläufigsten Strukturstufen und fragt jeweils danach, welche sozial-psychologischen Bedürfnisse Identitätsangebote im Allgemeinen und Erinnerungskulturen mit ihren geschichtspolitischen Narrativen, Mythen, Helden usw. im Besonderen im Rahmen des jeweiligen Strukturmusters befriedigen müssen. Von der Dominanz entsprechender erinnerungskultureller Muster, so die Hypothese, kann auf dieser Grundlage mit einiger Plausibilität auf entsprechende Identitätsbedürfnisse und damit den strukturellen Schwerpunkt der betreffenden kognitiven Kultur geschlossen werden. Dazu sei betont, dass das Ziel hier nicht darin besteht, kognitive Strukturen real existierender sozialer oder historischer Akteure zu rekonstruieren, sondern darin, strukturelle Muster im Bereich diskursiver Kulturen als „soziale Tatsachen“ dingfest zu machen, um mit den Bestimmungsfaktoren politisch-kultureller Dynamiken auch die Möglichkeiten und Grenzen erinnerungskulturellen Wandels in den betreffenden Kontexten genauer und zuverlässiger erfassen zu können.¹⁹

Strukturmuster 1: Das „symbiotische Selbst“ Die symbiotisch-autistische, vorsoziale Stufe, die im Grunde nur in prä-kognitiven Kontexten anzutreffen ist (z.B. bei Säuglingen, Demenzkranken oder aus anderen Gründen von äußerer Hilfe abhängigen Personen) sei hier, der Vollständigkeit halber, nur deswegen angeführt, weil die geschichtspolitisch unmittelbar relevante

18 Vgl. Susanne Cook-Greuter: Post-autonomous Ego Development: Its Nature and Measurement. Cambridge, MA 1999. 19 Alle folgenden Beschreibungen der Strukturmuster folgen: ders.: Ego Development: Nine Levels of Increasing Embrace. 2007, unter: http://www.cook-greuter.com/, bzw. bauen darauf auf.

256 | Elke Fein impulsive Identität (Strukturmuster 2) hieraus als nächste Differenzierungsstufe hervorgeht. Das symbiotische Selbst ist noch nicht von seinem Körper oder seiner Umgebung differenziert, Einbindung und Abhängigkeit sind total. Folglich gibt es in dieser Struktur auch noch keine Unterscheidung zwischen den Wahrnehmungen, Gefühlen und Empfindungen des Individuums einerseits und der äußeren Realität andererseits, also auch keine Konstruktion von „Geschichte“ als eines vom realen physischen Leben unterscheidbaren kognitiven und sozialen Phänomens. Akteur und Geschichte sind gleichsam identisch („Ich BIN die Geschichte“).

Strukturmuster 2: Das „impulsive Selbst“ Die impulsive Psycho-Logik ist das erste politisch und geschichtspolitisch bedeutende Strukturmuster (und das erste, das von Cook-Greuters Satzergänzungstest gemessen wird). Indem sich das Selbst aus der einbindenden Umgebung heraus differenziert, erwirbt es die Perspektive der ersten Person, die (noch) nichts weiter kann – und daher tut – als „ich“ zu sagen, also zwischen sich selbst und der Außenwelt zu unterscheiden. Die vollständige Identifikation mit dem eigenen Ich führt in dieser kognitiven Struktur zu einer Haltung absoluter Subjektivität, welche die Abgrenzung und Unterscheidung zwischen ICH und Nicht-ICH entlang des simplen Gegensatzes „mein-dein“, „gut-böse“, „nett-gemein“ usw. vornimmt, also aus einer vollkommen selbst-bezogenen (egozentrischen) Sicht heraus: „Wer mir gibt, ist gut, wer nicht, böse; wer nicht für mich/uns ist, ist gegen mich/uns“ usw. Da hier vor allem die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse zählt („ich will“), während andere lediglich dazu da sind, diese (wie auf Knopfdruck) zu erfüllen, ist diese Struktur im Wesentlichen impulsgesteuert. Wenngleich diese Psycho-Logik primär an diejenige von Kleinkindern erinnert, findet sie sich Cook-Greuters Daten zufolge auch bei etwa fünf Prozent der (in den USA und England) untersuchten Erwachsenen.²⁰ Idealtypisch betrachtet ist die impulsive Identität sogar der Prototyp von Geschichtspolitik – und daher als Strukturmuster sehr kraftvoll –, weil hier die Konstruktion von Geschichte/Erinnerung vollständig durch eigene/politische Interessen bestimmt wird („Geschichte ist, was ich will“). Das impulsive Selbst feiert sich selbst, ohne Selbst-Kritik, es sieht nur, was es sehen will und fegt alles, was nicht in sein Weltbild passt, sowohl von der symbolischen als mitunter auch von der realen

20 Vgl. ebd., S. 5

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Landkarte. Seine unbegrenzten Macht- und Besitzansprüche werden sowohl physisch wie symbolisch ausgelebt. Exemplarisch (wenngleich stark vereinfacht) sei hierzu die frühe bolschewistische Geschichtspolitik angeführt, insofern sie etwa Lenin symbolisch den vorrevolutionären „Unrat“ vom Erdball fegen ließ²¹, oder die stalinistische Praxis, in Ungnade gefallene oder vermeintliche Gegner aus Fotos und Enzyklopädien zu entfernen, und Zweifel an den eigenen „Wahrheiten“ vielfach mit dem Tod zu bestrafen.²² Die Moralität dieser Handlungslogik beschränkt sich weitgehend auf eine Frage von Strafe und Gehorsam (Kohlbergs Stufe 1), die in der Regel einfach mit Hilfe physischer Gewalt gelöst wird. Es herrscht also eine sehr simple kognitive Struktur vor, die nicht in der Lage oder willens ist, die Komplexitäten der realen Welt zu erfassen bzw. ihnen auf eine reifere, differenziertere Weise zu begegnen, sondern die umgekehrt die Welt ihren eigenen Wünschen anzupassen sucht.

Strukturmuster 2/3: Das „selbst-schützende Selbst“ („Opportunist“) Die Übergangsstufe 2/3, die im Blick auf die russische Geschichtserinnerung im 20. und 21. Jahrhundert ebenfalls von einiger Bedeutung zu sein scheint, zeichnet sich durch das Auftauchen eines rudimentären Begriffs eines eigenständigen Anderen aus. Dieser wird jedoch noch immer aus einer selbst-bezogenen Sicht betrachtet, namentlich als Konkurrent um Dinge, Raum oder Macht, erscheint also vor allem als Bedrohung des eigenen Selbst. Dieses Strukturmuster sieht die Welt weiterhin durch die Brille der eigenen Wünsche und Bedürfnisse, versucht nun aber, andere zu kontrollieren, was hier indessen nicht mehr primär dazu dient, die eigenen Wünsche erfüllt zu bekommen, sondern dazu, die Grenzen des eigenen Selbst zu testen und diese(s) zu schützen. Identität wird mithin über das Ausmaß an Kontrolle über andere erlebt. Da es beim Überschreiten der Grenzen anderer häufig zu Konflikten kommt, erscheint die Welt der selbst-schützenden PsychoLogik als ein feindlicher und gefährlicher Ort, an dem es überlebenswichtig ist, „clever“ zu sein und aus jeder Gelegenheit das Beste für sich herauszuholen. Ihre Moral ist folglich eine Moral der Zweckmäßigkeit (Kohlbergs Stufe 2: „Was nützt

21 Vgl. Isabelle de Keghel/Robert Maier (Hrsg.): Auf den Kehrichthaufen der Geschichte? Der Umgang mit der sozialistischen Vergangenheit. Hannover 1999. 22 Vgl. David King: Stalins Retuschen. Foto- und Kunstmanipulationen in der Sowjetunion. Hamburg 1997.

258 | Elke Fein es mir?“). Regeln werden zwar prinzipiell zur Kenntnis genommen, aber nur insoweit anerkannt und befolgt, als es dem eigenen Vorteil dient oder dazu, Strafe zu vermeiden. Wenn dieses Selbst bei einer Regelüberschreitung ertappt wird, zeigt es wenig Scham und keine Reue, denn „schuld“ ist jeweils der andere, niemals es selbst.²³ Infolgedessen nimmt auch die selbst-schützende Identität – die vermutlich die gesamte nachstalinistische sowjetische Geschichtspolitik mehr oder weniger geprägt hat (wenn auch zu unterschiedlichen Zeiten auf verschiedene Arten und Weisen), und die auch die aktuelle russische Politik in gewissem Maße zu bestimmen scheint – Geschichtskonstruktionen, die ihrer eigenen widersprechen, als Bedrohung wahr. Sie versucht sie jedoch nicht mehr einfach zu „liquidieren“, sondern eher anderweitig zu verhindern oder zu bestrafen. Da sie eine Ahnung von den eigenen dunklen Seiten hat (Scham), jedoch noch nicht die innere Stärke, die Verantwortung für Probleme zu übernehmen, die sie verursacht (hat), versucht sie, die Konfrontation damit zu vermeiden und stattdessen sich selbst und andere von ihrer eigenen Größe zu überzeugen. Beides ist typischerweise durch die Angst motiviert, das Gesicht und/oder Macht zu verlieren. Es geht um Stabilisierung des bestehenden (Identitäts-) Regimes durch positive, heroische Selbstbilder und das Ausblenden von Schattenseiten aus dem eigenen, respektive aus dem öffentlichen Bewusstsein. Es geht um den Schutz des kollektiven Selbst vor Beschämung und einem Verlust nationaler „Ehre“ und „Souveränität“.

Strukturmuster 3: Das „konformistische Selbst“ („Diplomat“) Das nächste komplexere, interpersonelle oder konformistische Strukturmuster von Identität nimmt andere erstmals nicht nur als gleichberechtigte Gegenüber wahr (Perspektive der zweiten Person), sondern es definiert sich auch in erheblichem Maße über die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, sei es die Familie, die Nation, eine Peer Group, Religionsgemeinschaft oder die Gemeinschaft „zivilisierter Nationen“. Infolge dieser Perspektivenerweiterung verschiebt sich hier der zentrale Bezugspunkt der Identität auf die Wertmaßstäbe der als maßgeblich erlebten Gruppe, in der das konformistische Selbst weitgehend aufgeht und von deren Wertschätzung sein Selbstbild in hohem Maße abhängt. Während die Grenzen zwischen Individuen innerhalb dieser Gruppe verwischt sind, wird sie nach außen klar abgegrenzt. Zwar werden andere auch hier entweder als für oder gegen „uns“, als Freund oder Feind, schwarz oder weiß

23 Cook-Greuter bezeichnet diese Struktur daher auch als „opportunistisch“.

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gesehen, dies hat jedoch eine andere Qualität als in den Strukturmustern 2 und 2/3. Während alle drei ein Problem mit Mehrdeutigkeiten und Ambivalenzen haben, bedrohen diese doch die Identität des Konformisten nicht mehr existentiell, sondern eher im Sinne des Zweifels, auf der richtigen Seite zu stehen. Mit diesem Ziel geht eine gestiegene Bedeutung sozialer Regeln und Rollenabsprachen einher, die um der guten zwischenmenschlichen Beziehung willen als eigene Pflicht eingehalten werden. Aus dieser strukturellen Handlungslogik heraus betriebene Politik wird daher kooperativer und berechenbarer. Anderen politischen Akteuren, meist als nationale Wir-Gruppen gesehen, werden eigene Rechte, Ansichten, Erinnerungen usw. zugestanden und die Handlungen der eigenen Gruppe umgekehrt auf die legitimen Erwartungen der anderen abgestimmt. Es kommt folglich zu einer Haltung des Gebens und Nehmens auf der Basis gemeinsamer Verpflichtungen (do ut des), deren Verletzung nunmehr als eigene Verantwortung zugerechnet wird. Damit tritt das Konzept der „Schuld“ an die Stelle des vorherigen undifferenzierten Schamgefühls. Der Begriff der „nationalen Ehre“ verändert seine Bedeutung im Sinne konformistischer Erwartungserfüllung („being the good guy/nice girl“). Beispiele hierfür sind etwa Nachkriegsdeutschland, das (unter dem Druck der Alliierten) sukzessive seine Schuld anerkannte und bestimmte Erwartungen der Siegermächte erfüllte, um wieder in den Kreis der „zivilisierten Nationen“ aufgenommen zu werden; ferner national-religiös bzw. national-patriotisch geprägte Erinnerungskulturen in postkommunistischen Ländern unter Berufung auf traditionelle (nationale) Werte, Traditionen und moralische Überzeugungen. Inwieweit und wo dieses Strukturmuster in Russland Bedeutung für erinnerungskulturelle Handlungslogiken gewonnen hat, wird in Teil 2 anhand des KPdSU-Prozesses sowie der geschichtspolitischen Debatten im Kontext des Flugzeugabsturzes von Smolensk näher erörtert.

Strukturmuster 3/4: Das „selbst-sichere Selbst“ („Spezialist/Experte“) Auf der Übergangsstufe 3/4 löst sich das Selbst aus der Einbindung in die zuvor maßgebliche Gemeinschaft. Mit der Entwicklung der Perspektive der dritten Person ist es erstmals in der Lage, sich selbst und andere als Objekt von außen zu betrachten und mit einer gewissen Distanz über sich und andere nachzudenken. Der Fokus der Aufmerksamkeit und damit der Identität verschiebt sich hier von den mit anderen geteilten Ähnlichkeiten oder Gemeinsamkeiten hin zur eigenen Individualität. Eigene Wünsche, Bedürfnisse und Einsichten werden nun nicht mehr um der Akzeptanz durch andere willen unterdrückt; vielmehr möchte die-

260 | Elke Fein ses Selbst, um sich seiner zu versichern, gerade aufgrund der eigenen Besonderheit(en) anerkannt werden. Derartige, von Cook-Greuter ironisch als „Experten“ oder „Spezialisten“ bezeichnete Personen neigen daher dazu, ihre Einsichten und Fähigkeiten besonders herauszustellen, nicht selten in Form belehrender, perfektionistischer oder überkritischer Kommentare. Ebenso streng und unerbittlich, wie ihre Kritik an anderen ausfällt, sind sie jedoch oft auch sich selbst gegenüber. Wo die selbst-sichere Struktur mit ihrer Sozialperspektive der dritten Person politischen und kulturellen Einfluss gewinnt, werden Autoritären demontiert, Rollen und Abhängigkeiten in Frage gestellt. Ihr beginnendes Verständnis der Mechanismen zwischenmenschlicher Beziehungen lässt sie beispielsweise die Funktionsweisen bestimmter (Geschichts-) Politiken durchschauen, wobei ihre kritische Haltung stets nach Fehlern (vor allem der anderen) sucht, während sie sich ihrer selbst sehr sicher ist. Beispiele für diese Handlungslogik sind die Kritik der 1968er Generation am Verhalten ihrer Eltern während des Nationalsozialismus, ebenso wie ihre Revolte gegen verschiedenste Konventionen. In Russland basierte etwa Chruščevs Entstalinisierung in erheblichem Maße auf der Konstruktion Stalins zum Sündenbock, aus der umgekehrt eine moralische Überlegenheit der „Entstalinisierer“ abgeleitet werden konnte. Auch der pauschale Antikommunismus El’cins in den frühen 1990er Jahren erinnert in vieler Hinsicht an selbst-sichere Psycho- und Handlungslogiken (s.u.).

Strukturmuster 4: Das „selbst-bewusste Selbst“ („Leistungsmensch“) Die demonstrative Herauslösung des selbst-sicheren Selbst aus der einbindenden Gemeinschaft wird auf der folgenden Differenzierungsstufe im Sinne einer selbstverantwortlichen Re-Integration des nunmehr vielseitig entwickelten Individuums in die Gesellschaft ausbalanciert und zugleich konsolidiert. Diese weithin als Zielstufe der westlichen Kultur geltende „reife erwachsene Persönlichkeit“ zeichnet sich durch formal-operationales, sachliches und logisches Denken und die damit einhergehenden Kompetenzen rationaler Weltbetrachtung einerseits aus sowie durch eine größere persönliche (innere) Unabhängigkeit von traditionellen Werten, Ansprüchen und Denkweisen andererseits. In Erweiterung der Sozialperspektive der dritten Person tritt hier zusätzlich der Blick in die Zukunft und in die Vergangenheit hinzu. Die selbst-bewusste Identität interessiert sich daher für die Gründe und Ursachen des Gewordenen, studiert Eigenschaften und Funktionsweisen der Dinge und setzt sich Ziele in der Zukunft. Sie glaubt daran, dass richtig angewandte wissenschaftliche Untersuchungsmethoden am Ende erklä-

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ren können, wie die Welt beschaffen ist und vertraut darauf, dass mit Hilfe der Wissenschaft die Welt und das Leben verbessert werden können. Nicht selten setzt sie sich auch selbst dafür ein. Da diese Struktur auch an der Wahrheit über sich selbst und über andere interessiert ist, ist sie toleranter gegenüber anderen und deren Problemen. Sie ist daher die erste, die verschiedenen Gruppen gleichzeitig angehören kann, ohne durch konkurrierende Loyalitäten verwirrt zu werden. Da die selbst-bewusste Handlungslogik auch die Konsequenzen ihres Handelns im Blick hat, werden ihre zwischenmenschlichen Beziehungen intensiver, authentischer und verantwortungsvoller. Und da sie eigene Fehler in ihr Selbstbild integriert, ist diese Struktur die typische Trägerin von „Vergangenheitsbewältigung“ im Sinne der Übernahme politischer Verantwortung für das eigene Handeln in der Vergangenheit, aus der sich mitunter auch die Verpflichtung zu Akten der Wiedergutmachung ergibt. Auch auf der symbolischen Ebene, etwa bei der Konstruktion von Helden und Vorbildern, hebt sie am ehesten auf Werte wie Verantwortlichkeit und Zivilcourage ab (siehe z.B. die „Helden des Widerstandes“ vom 20. Juli 1944). In Russland nimmt diese Struktur derzeit eine eher marginale Position im öffentlichen Diskurs ein.

Strukturmuster 4/5: Das „individualistische/pluralistische Selbst“ Auch wenn das selbst-bewusste Strukturmuster wie erwähnt vielfach als Endpunkt der Entwicklung betrachtet wird bzw. sich selbst dafür hält, wird es im Zuge post-moderner politisch-kultureller Entwicklungen seinerseits von postkonventionellen Identitäten und Handlungslogiken in Frage gestellt oder zumindest relativiert. Letztere sind im Rahmen des hier skizzierten Modells durch den Erwerb der Perspektive der vierten Person gekennzeichnet, die es den Betreffenden ermöglicht, die Relativität und Standpunktabhängigkeit aller Dinge, „Wahrheiten“ und Sichtweisen zu erkennen, darunter auch ihre eigenen individuellen und kulturellen Konditionierungen. In dem Maße, in dem eine zunehmend systemische Sicht dazu verhilft, die Grundannahmen und Werte offenzulegen, die sowohl soziokulturellen als auch persönlichen Weltbildern zugrunde liegen, tritt auch der Wert wissenschaftlicher Erkenntnis stärker hinter den persönlicher Erfahrung zurück. Vermeintliche Sicherheiten gehen verloren; die rein rationale Analyse weicht holistischeren Sichtweisen und einer Verbindung von Kontext, Körper, Gefühl und Geist (verkörpertes statt intellektuelles Bewusstsein). Das stark gestiegene Vermögen der individualistischen/pluralistischen Struktur zur Introspektion und zum Kontakt mit dem eigenen Selbst steigert ihre Empathiefähigkeit, Toleranz und Kreativität, so dass von entsprechenden Identitäten

262 | Elke Fein geprägte Handlungslogiken individuelle Unterschiede und soziale Widersprüche nicht mehr bekämpfen oder wegdiskutieren, sondern aushalten, tolerieren oder sogar zelebrieren. Der kognitive Habitus dieser Struktur, andere nicht nur zu respektieren, sondern auch verstehen zu wollen, hat als intellektuelle Kraft neben dem cultural und dem interpretative turn in den Sozialwissenschaften auch das Interesse an Erinnerungskultur, Geschichtspolitik, Vergangenheitsaufarbeitung usw. selbst forciert. Der beachtliche Output dieses rasch wachsenden Forschungsfeldes ist mithin ein Ausdruck der Selbst-Reflexivität individualistischer/pluralistischer, post-moderner Gesellschaften, die beständig über die Grundlagen ihres eigenen sozialen und kulturellen Lebens nachdenken und diskutieren. Das authentische Interesse dieses kulturellen Strukturmusters für zuvor vernachlässigte Perspektiven und Biographien, vor allem die von „Opfern“, wie sie etwa in der Oral History und in Zeitzeugeninterviews erhoben werden, unterstützt neben dem Versuch, wirklich zu verstehen, was passiert ist und warum, auch eine tiefere psychologische Aufarbeitung historischer Traumata. Echte Versöhnung und Begegnung werden auf diese Weise möglich. Auch für diese erinnerungskulturelle Struktur finden sich Beispiele im postsowjetischen Russland, darunter neben der Arbeit von Memorial (deren strukturelle Komplexität m.E. freilich in mancher Hinsicht noch darüber hinausreicht, dazu s.u., S. 290ff.) eine Reihe von Initiativen und Projekten zur Versöhnung und Verständigung. Während die bisher angeführten Beispiele für die strukturellen Eigenschaften verschiedener Identitäten und Erinnerungskulturen aus Platzgründen eher allgemein und knapp gehalten waren, soll im folgenden Schritt eine detailliertere empirische Analyse konkreter Identitäts- und Erinnerungsdiskurse erfolgen. Wie lassen sich diese also mit Hilfe der vorgestellten modellhaften Strukturmuster untersuchen? Und was ist gegebenenfalls der Mehrwert einer solchen kognitiv sensiblen, strukturgenetischen Perspektive gegenüber anderen Betrachtungsweisen?

II Empirische Identitäten und Erinnerungsdiskurse im postsowjetischen Russland: Zwei Fallbeispiele Als erstes, hier ausführlicher behandeltes Anwendungsbeispiel werden nachfolgend Diskursfragmente aus dem Kontext des KPdSU-Prozesses untersucht, der 1992 vor dem Verfassungsgericht der Russischen Föderation stattfand. Die Frage

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eines etwaigen strukturellen Wandels der russischen Erinnerungskultur im Kontext der Katastrophe von Smolensk im April 2010 wird aus Platzgründen lediglich in Form eines Ausblicks diskutiert.

Der KPdSU-Prozess als Schauplatz eines kognitiv-kulturellen Hegemonie-Konflikts Der KPdSU-Prozess ist nicht zuletzt deswegen ein interessanter Erinnerungsort, weil seine politisch-kulturellen Auswirkungen, darunter die gerichtliche Sanktionierung bestimmter erinnerungskultureller Strukturmuster m.E. weit über das Ereignis selbst hinausreichten.²⁴ Das Verfahren eignet sich insofern als Quelle einer diskursanalytischen Untersuchung als es der erste und bisher einzige große Gerichtsprozess zur Bewertung der sowjetischen Vergangenheit im postsowjetischen Russland war und infolgedessen Ort und Anlass umfangreicher öffentlicher Diskussionen über dieses Thema. Es verwundert daher nicht, dass sich in diesem Rahmen alle damals maßgeblichen Diskurse und damit auch die ihnen jeweils zugrunde liegenden psycho-logischen Strukturmuster von Identität und Erinnerung wiederfanden: namentlich das selbst-schützende („opportunistische“, vorwiegend im kommunistischen Diskurs), das selbst-sichere (Experten) bzw. selbstbewusste (vorwiegend bei den Vertretern des Präsidenten und Rumjancevs) und eine stark dezentrierte, mindestens individualistische/pluralistische Perspektive bei einigen Sachverständigen, während das konformistische Strukturmuster m.E. vor allem auf Seiten des Gerichts zu finden war. Bei den im Folgenden vorgestellten Diskursbeispielen handelt es sich um typische Argumentationsmuster ausgewählter Prozessparteien zur Begründung ihrer jeweiligen (juristischen) Positionen vor Gericht sowie um Äußerungen der Richter selbst, die Aufschluss über deren eigenes Selbstverständnis und, auf dieser Grundlage, ihre Handlungsmotive geben. Während die hiervon im Kontext des Prozesses generierten diskursiven Dynamiken an anderer Stelle ausführlich

24 Anlass und Auslöser des Prozesses waren die Suspendierung und später das Verbot der Tätigkeit der KPdSU/KPR durch Präsident El’cin im August/November 1991, gegen welche eine Gruppe kommunistischer Abgeordneter unverzüglich Verfassungsklage einreichte. Ein Gegenantrag des Abgeordneten Rumjancev auf Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der Tätigkeit der KPdSU wurde mit der kommunistischen Klage zu einem Verfahren verbunden, so dass sich vor Gericht formal vier Prozessparteien gegenüberstanden: die kommunistischen Kläger, Vertreter des Präsidenten und Rumjancevs sowie Verteidiger der KP gegenüber dem Vorwurf der Verfassungswidrigkeit.

264 | Elke Fein untersucht wurden²⁵, sind im Rahmen dieses Beitrags vor allem die strukturellen Merkmale der betreffenden Diskurse und Argumentationsmuster von Interesse. Für deren Analyse werden aus dem Instrumentarium der zuvor vorgestellten strukturgenetischen Entwicklungsmodelle vor allem die Kategorien der Sozialperspektive (Selman), der Struktur des moralischen Urteilens (Kohlberg) und insbesondere des Selbst- und Weltverhältnisses/Identität (Kegan/Cook-Greuter) verwendet. Ziel der folgenden Darstellung ist es dabei weder, Aussagen über die Repräsentativität bestimmter erinnerungskultureller Strukturmuster für bestimmte soziale Gruppen zu machen, noch den zitierten Prozessteilnehmern persönlich bestimmte kognitive Strukturen zuzuschreiben, sondern lediglich, einige der im Prozessverlauf einflussreichen Argumentationsmuster selbst auf ihrer strukturelle Komplexität hin zu untersuchen, um so den potenziellen Erkenntnisgewinn der hier vorgeschlagenen Herangehensweise zu illustrieren.

Der kommunistische Diskurs: selbst-schützender „Opportunismus“ Wenngleich die kommunistische Seite mit dem (von ihr selbst in Gang gesetzten) Prozess das Ziel verfolgte und den Anspruch vertrat, das „Existenzrecht“ ihrer Partei dem Präsidenten gegenüber mit rechtsstaatlichen Mitteln zu erstreiten, also mit Hilfe eines rechtsstaatlichen Verfahrens und vor allem unter Berufung auf das Vereinigungsrecht, überraschten viele der von ihr vorgetragenen Argumentationsmuster nicht nur durch ihre Unsachlichkeit, Widersprüchlichkeit und bisweilen logische Inkohärenz, sondern auch durch ein ambivalentes Verhältnis gegenüber rechtsstaatlichen Grundsätzen. Zwar können moralische, emotionale und andere nicht-juristische Argumente in bestimmten Situationen durchaus Bausteine einer erfolgversprechenden Prozessstrategie sein (was hier auch der Fall war).²⁶ Insbesondere die unkritische Berufung auf sozialistische Rechtsvorstellungen wie die „Parteilichkeit des Rechts“ – auch wenn vor dem Hintergrund der Präsenz zahlreicher sowjetisch qualifizierter Juristen als Prozessvertreter der kommunistischen Seite erklärlich – erscheint jedoch im Blick auf das genannte Anliegen nicht nur verblüffend. Die damit verbundene und zum Teil demonstra-

25 Elke Fein: Rußlands langsamer Abschied von der Vergangenheit. Der KPdSU-Prozeß vor dem Russischen Verfassungsgericht (1992) als geschichtspolitische Weichenstellung. Ein diskursanalytischer Beitrag zur politischen Soziologie der Transformation. Würzburg 2007. 26 Vgl. ebd.

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tiv zur Schau gestellte Selbstbezogenheit mancher Äußerungen zeugt auch von einer strukturell vergleichsweise wenig komplexen Sozialperspektive. Wenngleich die normative Grundlage des Prozesses in gewisser Weise uneindeutig war²⁷, so lag doch sowohl der Existenzberechtigung des Gerichts als auch dem Verfahren selbst, ebenso wie dem damaligen Zeitgeist insgesamt ein klares Bekenntnis zur Herstellung von Rechtsstaatlichkeit zugrunde. Hätte sich das Gericht (wie anfangs angesichts der klaren Beweislage von vielen erwartet) unmissverständlich auf einen rechtsstaatlichen Standpunkt gestellt, so hätten Äußerungen wie die unten angeführten wohl umgehend disqualifiziert werden müssen bzw. gar nicht erst zugelassen werden dürfen. Dass es dem kommunistischen Diskurs unter anderem mit ihrer Hilfe dennoch gelang, die Frage der Maßstäbe für die Bewertung der Partei auf dem Weg einer geschickten impliziten Machtentfaltung zu einer de facto prozessentscheidenden zu machen, zeigt neben einer gewissen Ambivalenz im Selbstverständnis des Gerichts (dazu s.u.) auch die unterschwellige Hegemonie eines entsprechenden politisch-kulturellen Strukturmusters.²⁸ Beides rechtfertigt es, die Strukturen der von den verschiedenen Akteuren im Prozess eingesetzten Argumentationsmuster einer genaueren Untersuchung zu unterziehen. Wie bereits betont wird damit nicht beansprucht, Aussagen über die kognitiven Fähigkeiten bestimmter Prozessvertreter – oder über deren Fehlen – zu machen, sondern lediglich, die Komplexität der Diskurse selbst näher zu bestimmen, die sich im Prozess als mehr oder weniger erfolgreich erwiesen. Obwohl in eine mitunter durchaus komplizierte juristische Sprache gekleidet, kann die kommunistische Argumentation ihrem strukturellen Gehalt nach lediglich als selbst-schützend (und damit selbstzentriert) bezeichnet werden. Dies kann in hohem Maße auf das sozialistische Rechtsverständnis zurückgeführt werden,

27 Zum juristischen Aspekt dieser Problematik sei angemerkt, dass die Frage, inwieweit der Bezug auf das traditionelle sozialistische Recht im gegebenen Prozess als rechtliches Argument zulässig und folglich strategisch brauchbar war, angesichts der unklaren Verfassungsgrundlage durchaus als offen angesehen werden konnte. Zwar war das Gericht qua Auftrag und Selbstverständnis rechtsstaatlichen Grundsätzen verpflichtet, doch hatte es diese einstweilen auf der Grundlage der vielfach reformierten und im Ergebnis in sich uneinheitlichen spätsowjetischen Verfassung umzusetzen. Auch wenn etwa der berüchtigte Art. 6.1, der die „Führungsrolle“ der KPdSU in allen Politikbereichen festschrieb, im März 1990 abgeschafft worden war, fanden sich weiterhin zahlreiche Unstimmigkeiten in dieser „Patchworkverfassung“ der Übergangszeit. Der Widerspruch zwischen dem direkt gewählten Präsidenten und den weitreichenden Vollmachten des (bis dahin nicht demokratisch gewählten) Parlaments führte bekanntlich im Herbst 1993 zu einem blutig ausgetragenen Konflikt zwischen El’cin und der Parlamentsmehrheit. 28 Vgl. ebd.

266 | Elke Fein das wie angedeutet von kommunistischen Prozessvertretern wiederholt bemüht wurde. Umgekehrt wirft es aus der hier vorgeschlagenen strukturalistischen Perspektive jedoch auch ein neues Licht auf dieses. Kern des sozialistischen Rechtsverständnisses war bekanntlich die Auffassung, Recht sei, was dem Aufbau des Sozialismus diene, dem sich die kommunistische Partei ihrerseits nicht nur verschrieben hatte, sondern mit dem sie zugleich den Willen des Volkes/der Werktägigen zu verkörpern vorgab. Dieses letztlich zirkuläre, wenngleich von der alten, seit der Brežnev-Verfassung von 1978 gültigen Redaktion des Artikels 6.1²⁹ gestützte Räsonnement hatte die Konsequenz, dass die Tätigkeit der Partei per definitionem nicht rechtswidrig sein konnte, und machte sie folglich rechtlich (in diesem Verständnis) unangreifbar bzw. exkulpierte sie gleichsam ex ante gegenüber beliebigen Vorwürfen. Während ein solcher Politikvorbehalt in einem rechtsstaatlichen Verständnis nicht als „Recht“ angesehen würde – besteht doch das Wesen des Rechts (in letzterem Verständnis) in seiner überpersönlichen und überparteilichen Qualität als formales Instrument zur Regelung politischer Konflikte –, stützte sich die kommunistische Position gleichwohl in weiten Teilen auf entsprechende selbstbezogene und zirkuläre Argumentationen. Den folgenden Äußerungen liegt letztlich der gemeinsame Subtext zugrunde, Recht sei, was der kommunistischen Sache (hier: vor Gericht) nutze, Unrecht dagegen, was ihr schade: „Alles, was die Partei im Sinne der Werktätigen entschied, war verfassungsmäßig“, so der kommunistische Sachverständige Osadčij. Viktor Truskov meinte: „Auf die Frage, ob die KP eine Partei war, sollten die Kommunisten (selbst) als die größten Experten antworten.“³⁰ Die zirkuläre, selbst-schützende Logik dieser Argumentation zeigte sich insbesondere im Umgang der kommunistischen Prozessparteien mit von der Gegenseite vorgelegten, die KPdSU belastenden Archivdokumenten. Dagegen protestierte Rechtsanwalt Kligman schlicht mit den Worten: „Wir werden hier beschuldigt, und das Gericht läßt das zu!“ Rumjancevs

29 Der am 14.März 1990 abgeschaffte Art. 6.1 schrieb die politische Führungsrolle der KPdSU fest, während Absatz 6.3 bestimmte: „Alle Parteiorganisationen agieren im Rahmen der Verfassung“. In Verbindung mit Art. 2 der sowjetischen Verfassung („Alle Gewalt in der RSFSR gehört dem Volk. Das Volk übt die Staatsgewalt durch die Sowjets der Volksdeputierten aus (. . . ). Alle anderen Staatsorgane unterliegen der Kontrolle der Sowjets der Volksdeputierten und sind ihnen rechenschaftspflichtig“, zit. nach: Dietrich Frenzke: Die russischen Verfassungen von 1978 und 1993. Eine texthistorische Dokumentation mit komparativem Sachregister. Berlin 1995.) argumentierte die antikommunistische Seite im Prozess, dass die KPdSU (wie Archivdokumente belegten) auch nach 1990 noch eklatant gegen diese Bestimmung verstoßen habe. 30 Osadčij, gemäß Prozessstenogramm, Bd. II, S. 401, i.F. zitiert als: II, S. 401. Truskov, zit. nach: Prigovor vynosit žizn’. Razmyšlenija ob ekspertach, ocenivajuščich KPSS v KS i vne ego, in: Pravda vom 17.10.1992.

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Anwalt Andrej Makarov beschrieb die kommunistische Defensivstrategie so: „Wenn ihnen ein Dokument nicht gefällt, sagen sie [die Kommunisten], dass es nur von historischem Interesse sei“.³¹ Tatsächlich äußerten kommunistische Vertreter gegen die Zulassung von Dokumenten, die Verfassungsverstöße der KP belegten, etwa folgende „Argumente“: „Hat es etwa etwas mit dem Verfassungsgericht zu tun, dass die KP, der Kern des sowjetischen Systems, kriminell war? Das ist nichts Neues [. . . ] Das sind alles Exkurse in die Vergangenheit.“³² „Das alles ist unsere schreckliche, tragische Geschichte, doch was hat das mit dem Verfassungsgericht zu tun? Alles ist historisch verbunden. (. . . ) Aber es muß doch irgendwelche zeitlichen Eingrenzungen [bei der Annahme von Beweisdokumenten] geben!“³³

Und KP-Anwalt Ivanov beklagte am 21. Oktober 1992: Das Verfassungsgericht hat in den letzten Tagen so viele Dokumente angenommen, von denen wir gesagt haben, sie hätten keinen Bezug zur Tätigkeit der Partei. Da könnte man auch über die Beziehungen zwischen dem russischen Staat und den Warägern nachdenken! [. . . ] An solchen Spekulationen nehmen wir nicht teil. Wir weigern uns, diese Dokumente zu kommentieren und zu diskutieren.³⁴

Mit anderen Worten: die kommunistische Seite verweigerte sich einer gründlichen sachlichen Prüfung der im Raum stehenden Verfassungsverletzungen ihrer Organisation und reagierte stattdessen mit einer Vogel-Strauß-Strategie. Ergänzend dazu wurde seitens der Kommunisten mehrfach der Wunsch bzw. die Forderung geäußert, den Prozess zu stoppen, damit sie einen Parteitag abhalten und über ihr weiteres Vorgehen beraten könnten. Die Begründung, die Kommunisten hätten ein Recht, „selbst über das Schicksal ihrer Partei zu entscheiden“³⁵, entsprach dem Versuch, die Jurisdiktion des Verfassungsgerichts zu umgehen und eine außergerichtliche bzw. außerrechtliche Problemlösung zu erwirken. Obwohl sie die Autorität des Gerichts ja durch ihre Klage anerkannt hatten – in der zu Beginn, d.h. vor der Zusammenlegung der beiden Verfahren, durchaus berechtigt erscheinenden Hoffnung auf Erfolg –, illustriert die Drohung, am Prozess nicht

31 Prozessstenogramm, IV, S. 556. 32 Sergej Pogrel’skij: „Oleg Rumjancev protiv KPSS“, in: Pravda vom 18.6.1992. 33 Damit ist die kommunistische These gemeint, bis zur Abschaffung der Allmachtsklausel in Art. 6.1 sei die Tätigkeit der KP umfassend gerechtfertigt gewesen, und das Gericht könne seiner Prüfung daher nur die Zeit danach zugrundelegen. Prozessstenogramm, IV, S. 414. 34 Prozessstenogramm, V, S. 116f. 35 Prozessstenogramm, II, S. 311–314.

268 | Elke Fein weiter teilzunehmen, nachdem sich das Blatt gewendet hatte, die Selbstbezogenheit der kommunistischen Position. Tatsächlich erinnert das Argumentationsund Verhaltensmuster „was uns schadet, ist ungerecht“ in vieler Hinsicht an eine impulsive Trotzreaktion gemäß der Psycho-Logik „wer mit gibt ist gut, wer nicht, böse“ (s.o.). Die Widersprüchlichkeit dieses Argumentationsmusters, sowohl in sich, als auch im Blick auf die Idee einer übergeordneten, überpersönlichen Rechtsordnung, ist ein weiteres Indiz für eine selbst-schützende Handlungslogik; zeichnet sich diese doch unter anderem durch das Strukturmerkmal einer fehlenden Stringenz und logischen Kohärenz aus. Denn im Blick auf das zentrale Handlungsmotiv dieser Psycho-Logik, den Schutz des eigenen Selbst vor Auslöschung oder Beschämung, sind logische Widersprüche von sekundärer Bedeutung und werden daher entweder in Kauf genommen oder gar nicht erst als solche erkannt. Insofern ist auch die Frage sekundär, ob den betreffenden Prozessvertretern ein (kognitives) Verständnis für abstrakte Rechtsprinzipien grundsätzlich fehlte³⁶ oder ob ihr Verhalten „nur“ strategisch bedingt bzw. motiviert war. Entscheidend ist hier vielmehr, dass ihr handlungsleitendes Strukturmuster von Identität kein Problem damit hatte, als inkohärent zu erscheinen und logische Kohärenz daher nicht zum handlungsleitenden Motiv machte. Stattdessen wirkte dieses Argumentationsmuster umgekehrt auf die Entwertung der rechtsstaatlichen (als parteipolitischen Interessen übergeordneten) Maßstäbe hin, auf die sich der kommunistische Diskurs zwar einerseits verbal berief, von deren Relativierung er sich jedoch zu Recht eine Verbesserung seiner Chancen auf diskursive Hegemonie – und damit einen Sieg im Prozess – erhoffte. In diesem Zusammenhang schlug der kommunistische Diskurs im Kontext des Prozesses eigene, typisch selbst-schützende Wahrheitskriterien zur Bewertung der Partei durch das Gericht vor; darunter (nach Art einer „Logik der Aufrechnung“) drei einander ergänzende, zuweilen jedoch auch widersprechende „Argumente“, die allesamt rechtstaatlichen Prinzipien widersprachen. Erstens wurde die Erwartung geäußert, dass auch die „Leistungen und Erfolge“ der KP-Herrschaft (darunter etwa diverse technische oder soziale „Weltbestleistungen“ oder die

36 Dafür spricht etwa die einem am 15. September 1992 von Rybkin vor Gericht verlesenen Brief der Kommunisten an El’cin inhärente Logik. In dem Brief heißt es: „Es ist unlogisch und unerklärlich, wie man von der Unzulässigkeit der Verfolgung von Kommunisten reden und gleichzeitig ihre Partei verbieten kann. Wenn die Kommunisten keiner Verfolgung unterliegen, dann sollte die Partei der Kommunisten nicht verfolgt werden, weil die Partei nicht nur ein Symbol ist, sondern eine gesellschaftliche Organisation realer Menschen. Wie kann man von der Verfassungsmäßigkeit der Kommunisten und der Verfassungswidrigkeit der Kommunistischen Partei sprechen? Können diese beiden Begriffe etwa getrennt existieren?“ Ebd.

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„Rettung der Welt vor Katastrophen“ wie dem Faschismus oder der Atombombe) sowie zweitens die „guten Absichten“ der Partei (ihre humanistischen ideologischen Ziele) berücksichtigt werden sollten, und drittens, dass in Bezug auf ihre „Verfehlungen“, also ihre Verletzungen auch der damals geltenden sowjetischen Verfassung, umgekehrt eine „böse Absicht“ nachgewiesen werden müsse. Denn der Wille der Partei, so Rudinskij, sei nie verfassungswidrig oder inhuman gewesen: „Zwar war die Politik der Partei manchmal fehlerhaft, aber immer human“³⁷, und: „Eine unvoreingenommene Überlegung führt unweigerlich zu dem Ergebnis, dass Fehler der Partei sich sicherlich auf die Entwicklung eines großen Landes auswirkten, aber groß wurde das Land erst dank der Partei.“³⁸ Weitere, demselben Strukturmuster entspringende diskursive Manöver wie etwa der relativierende Vergleich können an dieser Stelle aus Platzgründen lediglich erwähnt werden.³⁹ Im Ergebnis übernahm der kommunistische Diskurs minimale rechtliche Verantwortung für die historische Tätigkeit der Partei, forderte jedoch – ähnlich einem Appell an Eltern, ihren Kindern deren Jugendsünden zu verzeihen – maximale Nachsicht dafür sowie maximalen Rechtsschutz für ihre Erben.⁴⁰ In struktureller Hinsicht kann der kommunistische Diskurs (darunter letztlich auch das ihm zugrunde liegende sozialistische Rechtsverständnis⁴¹, das sich im KPdSU-Prozess erstmals einem mehr oder weniger rechtsstaatlichen Verfahren stellen musste) insofern als Ausdruck einer selbst-schützenden Psycho-

37 Prozessstenogramm, V, S. 525. 38 Konstantin Nikolaev: Kakaja že partija podnimet nas s kolen, in: Pravda vom 25.9.1992. Nikolaev war Vorsitzender des (illegalen) Organisationskomitees der 20. Allunionskonferenz der KPdSU. 39 Vgl. Argumente wie: „Wir wollten nur das Beste“, andere, z.B. der CIA, würden auch Verfassungsrechte verletzen, oder die Repressionen von 1937 seinen zwar schlimm gewesen, aber die Auflösung der SU und das Verbot der KP seien schlimmer usw. Ausführlicher: Fein, Rußlands langsamer Abschied. 40 Mithin verlangte er für die Beurteilung der Vergangenheit, der Pflichten und der Verantwortung der Partei die Anwendung früherer, sowjetischer Kriterien, während er für die KP gleichzeitig „heutige“ rechtsstaatliche Garantien und Menschenrechte in Anspruch nahm, darunter das Rückwirkungsverbot. So hielt die Charakterisierung der Rechte der Werktätigen als den modernen, „wahren Menschenrechten“, bei gleichzeitiger Relativierung des Wertes formaler Freiheitsrechte als überholt, die KP-Vertreter nicht davon ab, sich zum Schutz der heutigen Rechte der Kommunisten auf ein „Menschenrecht“ der KPdSU auf eine legale Existenz als politische Partei zu berufen, oder in Bezug auf die Alleinherrschaft der KPdSU von der „Existenzberechtigung des Einparteiensystems“ als einem diesem quasi inhärenten Grundrecht zu sprechen. Prozessstenogramm, II, S. 345. 41 Makarov charakterisierte es mit den Worten, es gehöre zur „Mentalität der Organisation, die sich KPdSU nannte“, dass „sie absolut überzeugt war von ihrer eigenen Unbestrafbarkeit“ Prozessstenogramm, I, S. 191.

270 | Elke Fein Logik charakterisiert werden, in deren Rahmen auch die selektive, selbstbezogene Interpretation des Rechts als „logisch“ im Sinne der zentralen Handlungsmotive dieses Strukturmusters von Identität und Erinnerung erscheint. Dass die kommunistische Seite diese Argumentationsmuster ungeachtet ihrer logischen Inkohärenz derart exzessiv einsetzen konnte, dürfte auch mit dem Verhalten und der Handlungslogik des Verfassungsgerichts zusammenhängen, die daher im Folgenden untersucht werden.

Der Wunsch nach Anerkennung als Experten – Selbstverständnis und Handlungslogik des Verfassungsgerichts zwischen Konformismus und Selbst(un)sicherheit Dieser Prozess trug einen absolut politischen Charakter. Das Recht war in diesem Prozess irgendwo sehr, sehr weit weg. Die Lösung der rechtlichen Fragen stellte praktisch keine besondere Schwierigkeit dar. Die ganze Schwierigkeit lag darin, dass es ein rein politischer Fall war.⁴²

Wie schon im Fall des kommunistischen Diskurses können auch die Äußerungen, Argumentations- und Verhaltensmuster der anderen am Prozess beteiligten Akteure auf ihre strukturelle Komplexität hin untersucht werden. Und wie schon in jenem Fall erweisen sich auch hier diejenigen Diskursfragmente am aufschlussreichsten, die sich nicht oder nicht allein auf der rechtlichen Ebene bewegten. Tatsächlich war auch das russische Verfassungsgericht (VG) in gewisser Weise ein politischer Akteur. Es war im Zuge der Bemühungen um die Einführung von Rechtsstaatlichkeit im Sommer/Herbst 1991 erst kurz vor Prozessbeginn überhaupt geschaffen worden (der „Fall KPdSU“ war sein 9. Fall) und hatte sich daher in einem Umfeld aus hochgesteckten Zielen und gemischten, mitunter diffusen Erwartungen zu bewähren. Die Frage, wie die Richter des neuen VG ihre institutionelle Identität (corporate identity) definierten und konkretisierten, hatte nicht nur erhebliche Implikationen für den Verlauf des KPdSU-Prozesses; es zeugt auch von einer aus bestimmten Strukturmustern von Identität heraus erklärbaren Handlungslogik. Formale Grundlage der Arbeit des Gerichts bildete – neben der Verfassung selbst – das Verfassungsgerichtsgesetz (VerfGG), dessen Präambel die „Leidenschaftslosigkeit und Unabhängigkeit“ der Richter forderte. Ein zentrales (letztlich

42 Interview mit Richter Gadžiev.

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politisches) Ziel, dass das Gericht mit dem Prozess verband, war es somit, sein Image als unabhängige („objektive“ und „gerechte“) dritte Gewalt im Staat unter Beweis zu stellen und damit seine institutionelle Autorität in der politischen Arena zu festigen. Diesbezüglich schienen die Richter ihren Mangel an professioneller Erfahrung gleichsam durch besonders hohes Engagement wettmachen zu wollen. Im Einzelnen lagen der Selbstdarstellung und -positionierung des Gerichts im sich wandelnden Verfassungssystem, wie sie aus öffentlichen Verlautbarungen des Vorsitzenden sowie einzelner Richter hervorgingen und durch die von mir geführten Interviews bestätigt wurden, insbesondere zwei, auf eine selbst-sichere Identität (Stufe 3/4) hindeutende Postulate zugrunde: zum einen die Beschwörung von Recht und Verfassung als Gegenmittel zu „ Willkür und Diktatur“, nicht nur vor dem Hintergrund der sowjetischen Praxis (s.u.): „Lange Zeit hatten wir einen strafenden Staat. (. . . ) Es ist die Aufgabe des VG der RF, rechtliche Methoden, rechtliches Denken in das gesellschaftliche Bewusstsein einzuführen.“⁴³

Zum anderen entwickelte das Gericht das Credo, „kein Diener“ oder „höriges Anhängsel der Macht“ werden zu wollen. Auch dies kann zunächst als bewusste Abgrenzung gegenüber früheren Praktiken verstanden werden. Wenn der Vorsitzende Zor’kin jedoch im Januar 1992 öffentlich „die Bereitschaft des Gerichts (erklärte), jegliche rechtswidrigen Dekrete aufzuheben, um ein Abgleiten in die überhaupt nicht spekulative Gefahr des Despotismus zu verhindern“⁴⁴ oder die Einschätzung formulierte, „dass die heutigen Führer die historische Erfahrung unterschätzen. Ihr rechtlicher Nihilismus ist besorgniserregend“⁴⁵, so klang darin bereits eine tagespolitische Note an.⁴⁶ Tatsächlich gab es Zor’kin zufolge alsbald Vorwürfe, „dass wir El’cin provozieren“. Es verwundert daher nicht, dass die beiden genannten Postulate/Prinzipien im Kontext des KPdSU-Prozesses (und darüber hinaus) in ein teilweise problematisches Spannungsverhältnis zueinander traten. Wie äußerte sich dies konkret und wie ist es im Licht der hier vertretenen strukturgenetischen Perspektive zu bewerten?

43 U nas, kažetsja, pojavljaetsja tret’ja vlast’, Interview mit E. Ametistov, in: LG vom 22.01.1992. 44 MN vom 05.01.1992. 45 Sudba KPSS rešitsja 26 Maja?, in: MN vom 17.05.1992. 46 Als Hintergrund hierzu sei insbesondere das erste, als spektakulär und wegweisend im Sinne von Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung gelobte Urteil des Gerichts erwähnt, mit dem es Anfang 1992 die von El’cin verfügte Zusammenlegung von Geheimdienst und Innenministerium für verfassungswidrig erklärt hatte. Vgl. Robert Sharlet: The Russian Constitutional Court: The First Term, in: Post Soviet Affairs 9,1 (1993), S. 131.

272 | Elke Fein Dass sich das Gericht mit seiner impliziten Kritik in einen Gegensatz zum Präsidenten begab, barg in der gegebenen Situation insofern ein nicht unerhebliches Konfliktpotential, als es vor allem El’cin war, der einen gewaltenteiligen Staatsaufbau favorisierte, und der das VG maßgeblich mit geschaffen hatte. Deswegen musste die missionarische Selbstdarstellung des VG als rechtlicher „Zivilisator“ und Retter der Nation auf Kosten seines Schöpfers das Gericht in einen gewissen Widerspruch zu seiner politischen Mission (bzw. den politischen Implikationen seines rechtlichen Anspruches) bringen, nämlich den Einsatz für eine rechtsstaatlich-gewaltenteilige Verfassungsauslegung. Dies gilt umso mehr als die rechtliche Grundlage dieser Mission unklar war und der vielbeschworene „Geist der Verfassung“ aus den schon erwähnten Gründen (vgl. Fußnote 14) nur schwer oder gar nicht eindeutig zu identifizieren, ein einzig gewaltenteiliger „Geist“ jedenfalls nicht aus einer wörtlichen Auslegung ableitbar war. Dass die Kritik an der Exekutive zunehmend als fester Bestandteil der Selbstdarstellung des Gerichts – mitunter sogar als Selbstzweck – erschien (vgl. die Beschreibung des selbst-sicheren Strukturmusters 3/4 weiter oben), konterkarierte daher letztlich die Umsetzung der ihm auferlegten Prinzipien der Leidenschaftslosigkeit und Unabhängigkeit. Denn durch die über seine rein rechtliche Mission hinausgehenden Ansprüche, als Mediator zwischen den verfeindeten politischen Lagern zu wirken und dabei gleichzeitig in den Augen der Öffentlichkeit „kein Diener der Macht zu werden“, machte sich das russische VG in bedenklichem Maße von der Anerkennung ebendieser Öffentlichkeit und der betreffenden politischen Akteure, bzw. einem bestimmten Verhältnis zu ihnen abhängig (vgl. die Beschreibung des konformistischen Strukturmusters 3 weiter oben). Während dies im Fall der antikommunistischen Koalition im KPdSU-Prozess unproblematisch war, da sowohl Rumjancev als auch die Präsidentenseite ein konstruktiv-kooperatives Verhalten gegenüber dem Gericht an den Tag legten (und es sich folglich um deren Anerkennung keine Sorgen machen brauchte), sollte sich der Wunsch des Gerichts nach Anerkennung auch durch die Kommunisten als ein gefährliches Fass ohne Boden erweisen. Denn wenngleich diese den Prozess wie erwähnt initiiert hatten, entzogen sie dem Gericht ihre Anerkennung vor dem Hintergrund diverser als ungerecht wahrgenommener Entscheidungen auf diskursivem Weg partiell wieder, bzw. knüpften ihre weitere Kooperation an Bedingungen (s.o.). Wenngleich das Gericht formal nicht auf die Anerkennung oder Kooperation der Prozessteilnehmer angewiesen war, hatte sein Wunsch, sie dennoch zu erhalten, zur Folge, dass es sich zumindest um die Anerkennung der Kommunisten de facto aktiv bemühen musste. Diesbezüglich ist hier weniger die Tatsache von Interesse, dass der von der kommunistischen Seite angedrohten Anerkennungsverweigerung ein beachtliches Machtpotential inhärent war – sowohl im Hinblick auf die Definition der Verfahrensregeln wie auch des Urteils selbst –

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als vielmehr die strukturelle Qualität der Handlungslogik des Gerichts, in deren Ergebnis es in vieler Hinsicht zum Diener einer anderen Macht wurde, nämlich der diskursiven Macht der Kommunisten. Die Wirkungsweise des konformistischen (in Verbindung mit Elementen des selbst-sicheren) Strukturmusters kann sowohl anhand der Verfahrensgestaltung, der „Prozesspolitik“ des Gerichts, als auch anhand seines Umgangs mit der substantiellen Frage der Verfassungswidrigkeit der KP demonstriert werden. Beide sind im Kontext des Bemühens zu sehen, die institutionelle Autorität des Gerichts als unabhängige, neutrale und gerechte (Gerechtigkeit bringende) dritte Gewalt im Staat zu festigen und die erwähnten (als solche typisch selbst-sicheren) Postulate „gegen Willkür und Diktatur“ und „kein Diener der Macht werden“ zu wollen, zu konkretisieren. Dass, wie und warum beide letztlich auf einen „materiellen“ Ausgleich zwischen den verfeindeten politischen Lagern abzielten, ist indes ein Indiz für eine stärkere handlungsleitende Qualität des konformistischen Strukturmusters. Für die Art, wie das Gericht seine Schiedsrichterfunktion ausgestaltete, waren vor allem zwei Faktoren bedeutsam: erstens das „Gefühl, dass wir eine äußerst wichtige Frage entscheiden, die großen Einfluss sowohl auf das gegenwärtige Leben als auch für die Zukunft haben konnte“⁴⁷, und zweitens die Einschätzung, dass „die Gesellschaft tief gespalten war. Gerade 1992 war das Jahr der schärfsten Polarisierung. [. . . ] Daher gab es eine sehr starke Kluft in der Gesellschaft, und natürlich hatten wir das alles vor Augen. Natürlich hatte das einen Einfluss.“⁴⁸ Welchen Einfluss dies hatte, deutete Gadžiev ebenfalls an: Das ist die Situation, wo man gezwungen ist, zu berücksichtigen, was um einen herum vorgeht, damit es nicht dazu kommt, dass im Ergebnis deiner Entscheidung eine Revolution ausbricht. [. . . ] Wir können und dürfen uns nicht zu irgendjemandem in Opposition befinden. Wir sind die Schiedsrichter. Sollen doch die anderen beiden Gewalten, Legislative und Exekutive streiten. So ist das in jeder beliebigen normalen Gesellschaft. Wir bringen politische Streitigkeiten und Konflikte in juristische Bahnen und entscheiden sie auf zivilisierte Weise.⁴⁹

47 Interview mit Vedernikov. 48 Interview mit Gadžiev. Ähnlich auch Richter Lučin: „Die Konfrontation in der Gesellschaft vergrößerte sich, diese gegenseitige Bekämpfung der Exekutive und der Legislative, d.h. der neuen Institutionen und Strukturen und der früheren. [. . . ] Dieser Druck war überall sichtbar und vorhanden [. . . ], und meiner Meinung nach war der Prozess unter solchen Bedingungen schwer zu führen.“ 49 Interview mit Gadžiev.

274 | Elke Fein Zum einen leiteten die Richter aus ihrer rechtlichen Mission also die politischmoralische Pflicht ab, zwischen den streitenden politischen Gruppierungen zu vermitteln; zum anderen legitimierten sie dies mit entsprechenden Erwartungen der Gesellschaft an das VG, auf die sie implizit aus dem offensichtlichen Antagonismus der politischen Kräfte schlossen. Besonders interessant ist diesbezüglich, dass das Gebot, eine neutrale Haltung einzunehmen, von den Richtern offenbar im Sinn einer Art Äquidistanz zu beiden Lagern verstanden bzw. konstruiert wurde. Eine solche musste sich freilich in der gegebenen Situation pro-kommunistisch auswirken. Denn zum einen implizierte sie eine Vorstellung von Gerechtigkeit als einer wohlwollenden Haltung gegenüber der jeweils schwächeren Seite, und zum anderen lief der Versuch, „es allen recht zu machen“, im Kontext der zweideutigen Übergangsverfassung der RSFSR zwischen 1991 und 1993 auf eine relativistische Toleranz und mitunter einen Verzicht auf eine klare rechtlich-politische (rechtsstaatliche) Positionsbestimmung hinaus, was ebenfalls nur den Kommunisten nutzen konnte. Zur Umsetzung seines Ideals der Streitschlichtung (Primärziel) verfolgte das Gericht konkret zwei im Prinzip widersprüchliche und auf den ersten Blick unvereinbare Strategien (Sekundärziele). Einerseits versuchte es, durch eine (scheinbare) äußerlich-formale Gleichbehandlung beider Seiten politische Neutralität und Unabhängigkeit (rechtliches „Expertentum“ im Sinne Cook-Greuters) zu demonstrieren; andererseits betrieb es mittels einer (faktischen) besonderen Protektion der Kommunisten eine Art „ausgleichende Gerechtigkeit“ (affirmativeaction-Politik) zugunsten letzterer.⁵⁰ Vor dem Hintergrund der konformistischen Handlungslogik ist der Widerspruch zwischen diesen Strategien freilich nur ein scheinbarer. Im Blick auf die Zugeständnisse gegenüber den Kommunisten ist daher hier vor allem der Nachweis von Interesse, dass die Richter mit diesem Verhalten bewusst (also gleichsam malgré eux) vom Kriterium sachlicher Notwendigkeit abwichen, „damit es keinen Streit gibt“ – mit anderen Worten. damit

50 In der Prozessführung äußerte sich das Bemühen um formale Gleichberechtigung im Versuch, eine arithmetische, numerische Balance zwischen beiden Seiten zu wahren, etwa bei der Zulassung von Zeugen (positive Gleichbehandlung) oder dem Austeilen von Rügen (negative Gleichbehandlung). Ein Abweichen von ebendiesem Grundsatz (als gleichsam freundlicher Akt gegenüber den Kommunisten) zeigte sich umgekehrt in der Duldung gewisser formaler Diskrepanzen (wenn etwa 21 kommunistische Prozessvertreter zugelassen wurde, obwohl die Gegenseite sich mit nur zweien begnügte), aber auch in einer Prozesspolitik der kaum begrenzten Toleranz gegenüber den Kommunisten. Dass die kommunistische Seite bei genauer Betrachtung des Prozessstenogramms denn auch bedeutend mehr Rügen erhielt als die antikommunistische, lässt anderslautende Beteuerungen der Richter im Interview umso mehr als nachträgliche Rechtfertigung und Legitimation ihrer Schlichtungsmission erscheinen.

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sich die kommunistische Seite nicht beschwert. Tatsächlich bezeugen die folgenden richterlichen Kommentare, dass für die gerichtliche Prozesspolitik weniger sachliche Erfordernisse handlungsleitend waren, sondern letztlich der Wunsch nach Anerkennung: Wir konnten sie [die Zahl der kommunistischen Vertreter] gar nicht einschränken. Wir konnten nur eines einschränken: dass sie vom Thema abwichen, dass die Reden zu politischen Forderungen wurden und sich in politische Bekenntnisse verwandelten. Deswegen habe ich die Seite unterbrochen [ostanavlival], wenn derartiges vorkam. Das sehen Sie wahrscheinlich im Stenogramm.⁵¹

Wie wirkungslos dies allerdings gegenüber bestimmten Personen war, gab Zor’kin selbst zu, wenn er über den kommunistischen Vertreter Slobodkin sagte: „Es nutzte nichts, ihn zu verwarnen, er machte gleich wieder dasselbe. Wie wenn man die Tür schließt und gleichzeitig das Fenster öffnet.“⁵² Im Ergebnis wurde der Prozess unter anderem für die Richter selbst zu einer „qualvollen Sache“. Die Richter Gadžiev und Morščakova kommentierten die lange Dauer der kommunistischen Plädoyers mit den Worten: „Nun ja, sie [die Kommunisten] verzögerten den Prozess, immer weiter und weiter“ (Morščakova). „Aber wir verstanden, dass das egal war. Zum Teil mußten wir zwei bis drei Tage lang zuhören, obwohl uns das schon gar nicht mehr interessiert hat. Für die Schlüsse des Gerichts hatte das keinerlei Bedeutung“ (Gadžiev). „Natürlich war das qualvoll, weil das Gericht nicht pausenlos die eine Seite unterbrechen kann, denn dann könnte man ihm vorwerfen, dass es nicht objektiv ist. Aber es gab halt keinen Grund, die andere Seite auch zu unterbrechen.“ (Morščakova)

Das konformistische Motiv dieses Abweichens vom Gebot sachlicher Notwendigkeit (welche für das Strukturmuster des selbst-sicheren Experten per definitionem handlungsleitend gewesen wäre) wird von Morščakova also klar benannt: Obwohl es keinen (objektiven) Grund gab, die andere Seite auch zu unterbrechen, fürchtete das Gericht, die Öffentlichkeit könne unter Objektivität etwas anderes verstehen als es selbst – es war sich also seines institutionellen, professionellen Selbst keineswegs sicher. Vielmehr betonte Morščakova: „Die Öffentlichkeit sollte nicht denken, dass hier die gegenwärtige Regierung eine Abrechnung organisiert.“⁵³

51 Interview mit Zor’kin. 52 Ebd. 53 Der Präsidentenvertreter äußerte sich daher „sehr verärgert, dass viele unserer Beweisdokumente abgelehnt wurden. Diese Dokumente hatten ganz ohne Zweifel Beweiskraft. Aber sie

276 | Elke Fein Ein konformistisch motiviertes, im Ergebnis pro-kommunistisches Bemühen der Richter um politischen Ausgleich und öffentliche Anerkennung kann des weiteren auch in ihrer Suche nach einem „ versöhnenden“, kompromissbetonten Urteil nachgewiesen werden. Auch in dieser Hinsicht ist eine erhebliche Diskrepanz zwischen theoretischen Einsichten und faktischem Verhalten zu beobachten, also zwischen der prinzipiellen, sachlich-rechtlichen Bewertung der KP durch die Richter einerseits (s.u.) und dem tatsächlichen Verdikt⁵⁴ andererseits. Die nachstehenden Interviewauszüge belegen, dass die von der Präsidentenseite vorgelegten Beweisdokumente aus den Partei- und Staatsarchiven aus der Sicht aller befragten Richter einen eindeutigen Informationswert in Bezug auf den Charakter der KPdSU und die Funktionsmechanismen des Regimes (dem wichtigsten Kriterium für die Bewertung ihrer Verfassungsmäßigkeit und infolgedessen auch für diejenige des Parteiverbots) hatten. Da die frisch gebackenen Verfassungsrichter, wie Lučin stellvertretend für seine Kollegen betonte, zuvor „ja keine hohen Parteiposten eingenommen (hatten), und keiner von uns darüber so genau Bescheid wusste, was dort abgelaufen ist“⁵⁵, „waren die Dokumente für das Gericht neu. Klar, ich wusste auch, dass das Politbüro alles entscheidet, aber wie das im Einzelnen ablief, das war neu, das waren Eröffnungen“.⁵⁶ Für uns zählte vor allem, dass die Partei sich die Staatsorgane untergeordnet hat. Daher waren im Prozess diejenigen Dokumente besonders wichtig, die konkrete Fakten enthielten z.B. über Missbräuche der früheren KPdSU. In dieser Hinsicht gab es allerdings [neue] Informationen, und das arbeitete natürlich gegen die Partei. Was soll man dazu noch sagen? Das stimmte halt.⁵⁷

So Vedernikov. Auch Morščakova sah den Wert der Dokumente gerade darin, dass sie das belegten, was zuvor „alle gewusst“ hatten, für das es aber keine klaren Beweise gab:

hätten die Chancen der anderen Seite stark reduziert, und [daher] hat Zor’kin diese Dokumente abgelehnt. Er bemühte sich immer um so eine arithmetische Balance.“ Interview Šachraj. 54 Das am 30. November 1992 verkündete Urteil (Postanovlenie, in: Vedomosti RF 1993, Nr. 11, Pos. 400, S. 661ff.) beinhaltete zum einen eine nur teilweise Bestätigung von El’cins Parteiverbot (die Führungsstrukturen der KPdSU blieben verboten, während ihre Basisorganisationen als reguläre „gesellschaftliche Organisationen“ neu gegründet werden durften) und zum anderen die Einstellung des Verfahrens zur Frage der Verfassungsmäßigkeit der KPdSU, also ihre NichtBeantwortung und damit einen Verzicht auf eine umfassende rechtliche Bewertung der Tätigkeit der Partei. Siehe auch Sharlet, The Russian Constitutional Court. 55 Interview mit Lučin. 56 Interview mit Zor’kin. 57 Interview mit Vedernikov.

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Wenn das, was eigentlich alle wissen, sich auch noch dokumentarisch bestätigt, so gewinnt es natürlich eine zusätzliche Kraft. Das Gericht hat sich auf diese Weise praktisch gar nicht einer Kategorie wie der ‚allgemein bekannten Tatsache‘ bedienen müssen. Man denke nur daran, dass gar niemand besondere Beweise oder dokumentarische Belege für die Repressionen des Jahres 1937 eingefordert hatte, dennoch gab es auch einzelne Dokumente dieser Art. [. . . ] Als historische Beweismittel waren sie also sehr wichtig.⁵⁸

Neben den Herrschaftsmechanismen der KPdSU wurden durch die Archivdokumente auch zahlreiche von der Parteiführung zu verantwortende Menschenrechtsverletzungen belegt. Richter Kononov sprach recht euphorisch von: (. . . ) riesig interessanten, absolut einzigartigen Dingen, die natürlich eine Rolle spielten in diesem Prozess. [. . . ] Sehen Sie doch, allein diese berühmten Protokolle über die Tragödie von Katyn und die Erschießung der Polen. Das war für alle überraschend. Bis dahin wurde immer gesagt, dass es das nicht gab. Niemand wusste, dass dieses Papierchen dort jahrelang gelegen hatte. Dass da einfach Stalin, Berija und was weiß ich wer noch einfach gesagt haben: Erschießen! Oder die Entscheidung über den Einmarsch in Afghanistan. Was gab es da nicht alles für historische Spekulationen! Und da liegt das Protokoll der Politbüro-Sitzung, wo alle unterschrieben haben. [. . . ] Natürlich haben viele Dokumente nur das bestätigt, was auch ohne sie schon offensichtlich war. Vielen öffneten sie einfach nur die Augen für diese Dinge (. . . ). Wie das alles vonstatten ging, das ging aus den Dokumenten ja klar hervor. Das waren also sehr gute Beweismittel.⁵⁹

Ähnlich äußerte sich Richter Gadžiev: Die Dokumente waren natürlich von großem historischem Wert. Vieles von dem, was ich da las, konnte ich ahnen, ich konnte mir denken, dass es so war. Aber das waren nur Ahnungen, Gerüchte. Aber als wir das schwarz auf weiß vor uns liegen sahen, das war natürlich schockierend. Das machte natürlich einen riesigen Eindruck und hatte einen riesigen Einfluss.⁶⁰

Dieser Einfluss wurde von Gadžiev dahingehend konkretisiert, dass er auf die Frage, welches die beeindruckendste Erkenntnis war, antwortete: Der Beweis des absolut kriminellen Charakters der Staatsmacht. D.h. der unanfechtbare Beweis, dass die Regierung verbrecherisch [prestupna] war. Dass es für sie keinerlei eingrenzende Prinzipien gab – ich rede gar nicht vom Gesetz – auch moralische gab es keine. Das war natürlich einfach unglaublich. [. . . ] Das betrifft mehr die Geschichte, aber auch die Ereignisse von Ende der 1980er Jahre. Schon zu Zeiten Gorbačevs war diese Regierung zwar in geringerem Ausmaß, aber trotzdem kriminell.⁶¹

58 Interview mit Morščakova. 59 Interview mit Kononov. 60 Interview mit Gadžiev. 61 Ebd.

278 | Elke Fein Im Hinblick auf die Überzeugungsmacht der Dokumente geht aus diesen Interviewextrakten demnach zweierlei hervor. Zum ersten zeigen sie, dass der Wahrheitswert der Dokumente als authentische, objektive Zeugnisse der Tätigkeit der KPdSU für die Richter außer Frage stand (Vedernikov: „das stimmte halt“, Morščakova: „dokumentarisch bestätigte, fixierte Fakten“, Kononov: „Dokumente, aus denen klar hervorging, wie das alles vonstatten ging“ usw.). Zum zweiten hatten die Dokumente nach Ansicht der befragten Richter einen eindeutigen Erkenntniswert im Blick auf die Verfassungswidrigkeit der KPdSU und belasteten sie massiv. Vor diesem Hintergrund war ihren eigenen Angaben zufolge im Grunde kein anderer Schluss möglich, als dass die KPdSU sich verfassungswidrig betätigt hatte und ihr Verbot demnach rechtmäßig war.⁶² Dass das Verdikt dennoch nicht entsprechend ausfiel (vgl. Fn. 31) unterstreicht das Auseinanderfallen von theoretischer Überzeugungskraft und praktischer Überzeugungswirkung der betreffenden „sachlichen Argumente“ und verweist damit auf ein Handlungsmuster, das andere als sachliche Prioritäten setzte. Auch dieses lässt sich anhand von Interviewauszügen illustrieren. So sei vor allem der Vorsitzende Zor’kin, seinem Kollegen Lučin zufolge, „stark parteiisch“ aufgetreten, und zwar in dem Sinn, dass er versuchte, diesen Vektor im Zentrum zu finden, er versuchte, die Seiten zu versöhnen, ein Streben nach einem politischen und rechtlichen Kompromiss. Er tat alles in seiner Macht stehende, damit das Gericht keine extreme, einseitige und radikale Entscheidung treffen würde, entweder dem Präsidenten vollständig Recht zu geben [oder den Kommunisten]. Es war der Versuch, einen Kompromiss zu finden, um die Gesellschaft zusammenzuschweißen. Diese Position Zor’kins findet sich auch im Urteil wieder.⁶³

Anstatt sich also allein von sachlich-rechtlichen Kriterien leiten zu lassen, so Zor’kin selbst, „galt es, abzuwägen zwischen Politik, Recht, Moral und Sittlichkeit. [. . . ] Es gab sehr schwierige, lange und heiße Debatten darüber, wie man vorgehen solle, wie was formuliert werden sollte.“⁶⁴ Neben der Rolle von Beweismitteln, Dokumenten und juristischen Überlegungen betonten Zor’kin und andere Richter insbesondere die Bedeutung der möglichen „Folgen für die Gesellschaft und die politische Situation“ als ein wesentliches Kriterium der Entscheidungsfindung und sahen das Gericht vor diesem Hintergrund dazu verpflichtet, schlichtend bzw. „friedensstiftend“ tätig zu werden.

62 Tatsächlich hatte selbst der als pro-kommunistisch geltende Richter Lučin es im Interview als „einfach“ bezeichnet, die Verfassungswidrigkeit der Partei zu beweisen. 63 Interview mit Lučin. 64 Interview mit Zor’kin.

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Frage: „Unter welchem Einfluss hat sich Ihre Position herausgebildet?“ Vedernikov: „Unter dem Einfluss aller Beweismittel zusammen. Natürlich auch meiner persönlichen Überzeugungen. Und unter Berücksichtigung der Situation und der möglichen Folgen, zu denen unsere Entscheidung führen konnte. Für mich war das jedenfalls einer der Aspekte: Welches sind die möglichen Folgen unserer Entscheidung? Meiner Meinung nach muss jeder Richter das bedenken.“⁶⁵

Gadžiev räumte sogar ein, dass die gesellschaftliche Situation und seine Einschätzung der möglichen Folgen des Urteils seine Position im KPdSU-Prozess am meisten beeinflusst habe. Als besonders wichtigen Entscheidungsfaktor führte er die Sorge vor einer kommunistischen Revanche an: „Unsere Entscheidung sollte der Gesellschaft keine ernsthaften Probleme bereiten, d.h. die Angst davor, dass, wenn wir, sagen wir, diese Ideologie verbieten, der Konflikt in den Untergrund abtaucht und diese Leute dann ungesetzliche Mittel einsetzen, darunter auch den bewaffneten Kampf. Die Angst davor.“⁶⁶ Aus diesem Grund („um des lieben Friedens willen“) betätigte sich das Gericht also letztlich weniger als Rechtsausleger denn als (geschichts-) politischer Zukunftsmacher im Sinne eines „langsamen Abschieds von der Vergangenheit“.⁶⁷ Es verzichtete auf die juristische Feststellung der Verfassungswidrigkeit der Parteitätigkeit und erlaubte die Neugründung einer kommunistischen Partei auf der Grundlage der KPdSU-Basisorganisationen, in der Hoffnung, damit zur Befriedung und Stabilisierung der politischen Entwicklung beizutragen. Auch Richter Kononov, der ein von der Mehrheitsmeinung abweichendes Sondervotum veröffentlicht hatte, bestätigte diese Einschätzung: Für mich hat der Gedanke der Versöhnung der Gesellschaft ehrlich gesagt keine besondere Rolle gespielt. Ich verstehe nicht, was das sein soll. Zum Zweck der Befriedung oder Versöhnung der Gesellschaft gleich ganz auf eine [. . . ] Bewertung zu verzichten? Aber wahrscheinlich haben viele Richter so gedacht, ehrlich gesagt. Ich glaube, gerade das hat sie einem Kompromiss geneigt gemacht.⁶⁸

Eine explizit selbstkritische Bemerkung dazu äußerte allein Morščakova. Als „ein Motiv, das sich sehr stark auf die Entscheidung in diesem Fall auswirkte“, nannte sie rückblickend die Frage:

65 66 67 68

Interview mit Vedernikov. Interview mit Gadžiev. Ebd. Interview mit Kononov.

280 | Elke Fein Was werden wir mit den 19 Millionen Kommunisten machen, die sich nichts zuschulden kommen ließen, die ehrliche Leute waren, die die Besten in ihren beruflichen Gebieten waren usw.? Was ist das für ein Motiv? Nun, doch sicher ein politisches. Das sollte eigentlich keinen Niederschlag in der Entscheidung finden, weil das Verfassungsgericht nicht berechtigt war, seine Entscheidung mit derartigen Motiven zu begründen.⁶⁹

Im Ergebnis kann somit festgehalten werden, dass die beteiligten Richter zwar durchaus in der Lage waren, die Fakten sachgerecht zu erkennen und zu würdigen (kognitive Kompetenz, rechtliche Expertise); das Ergebnis dieser Würdigung schlug sich jedoch nicht im Urteil nieder, wurde also nicht handlungsleitend. Vielmehr bestimmten der Wunsch nach Anerkennung seiner Autorität als Gerechtigkeitsbringer durch die Prozessteilnehmer (insbesondere die Kommunisten) sowie seiner Funktion als Friedensstifter durch die russische Öffentlichkeit – und damit eine selbstunsichere, sich tendenziell von äußerer Bestätigung abhängig machende Identität – die Handlungslogik der Mehrheit der Verfassungsrichter im KPdSU-Prozess deutlich stärker als ihr (angestrebtes) Selbstverständnis als rechtliche Experten und ihre nach außen demonstrierte Selbst-Sicherheit. Erklärtes Motiv dieser Verhaltensstrategie war mit der „Sorge/Angst“ vor bestimmten (angeblich drohenden, potenziellen) Reaktionen bestimmter sozialer Akteure, also auch davor, bestimmten gesellschaftlichen Erwartungen nicht zu entsprechen, mithin ein konformistisches.⁷⁰ Dass die Richter dieses Verhalten als „objektiv“ (d.h. fair, gerecht usw.) bezeichneten, macht deutlich, eine wie wenig objektive Größe „Recht“ letztlich darstellt. Die hier vorgeschlagene Analyse zeigt vielmehr, in welchem Maße Rechtsverständnisse „kulturell bedingt“ sind und die Art und Weise, wie Recht in einem konkreten Kontext interpretiert und umgesetzt wird, unter anderem aus bestimmten, sozial-kognitiv erklärbaren Handlungslogiken heraus zu ver-

69 Interview mit Morščakova. 70 Hierfür spricht auch die Tatsache, dass die kommunistische Seite zu Beginn des Prozesses, wo ihre Erfolgschancen aufgrund der Verfahrensvereinigung als eher gering eingeschätzt wurden, mitnichten bedrohlich, sondern eher kleinlaut auftraten. Wie ich an anderer Stelle ausführlich gezeigt habe (Fein, Russlands langsamer Abschied), hing die Dynamik der sich verschiebenden Kräfteverhältnisse im Verlauf des Prozesses nicht unerheblich mit der seitens des Gerichts demonstrierten Verhaltenslogik der „Reziprozität“ (Kohlbergs Stufe 3), hier in Gestalt eines Handels mit/um Anerkennung, zusammen. Die von ihm hierdurch implizit suggerierte („konformistische“) Vorstellung vom Gerichtsprozess als einer „Verhandlung“ zwischen den Beteiligten, als Ort eines Tauschhandels von Geben und Nehmen, dürfte die dargestellten defensiven Reaktionen, ebenso wie umgekehrt entsprechend maximalistische Forderungen der Kommunisten massiv genährt, womöglich sogar erst ermutigt haben. Somit machte seine eigene, konformistische Handlungslogik das Gericht erst politisch erpressbar.

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stehen ist. Dieser Befund ist insofern auch von politischer und erinnerungskultureller Bedeutung als verschiedene Strukturmuster von Identität aufgrund ihrer unterschiedlich komplexen Wahrnehmung und Interpretation sozialer Phänomene neben verschiedenen Rechtsverständnissen auch unterschiedliche (Geschichts-) Politiken und Erinnerungskulturen hervorbringen, wie die vorliegende Untersuchung zeigt. Während die selbst-schützende Identität eine Erinnerung im Sinne von Aufarbeitung schwieriger historischer Erfahrungen entweder zu verhindern suchte oder ihr nach Kräften auswich, stellte die konformistische Identität sie (in diesem Fall⁷¹) hinter andere Ziele zurück, namentlich die gesellschaftliche/politische „Versöhnung“. Vor dem Hintergrund der beschriebenen, im Ergebnis entstandenen „kognitiv-kulturellen Gesamtkonstellation“ war daher für die verbliebenen, auf komplexeren Strukturstufen argumentierenden/handelnden Akteure nicht mehr viel Terrain zu gewinnen. Im Folgenden wird die Frage untersucht, welche Rolle komplexere Strukturmuster und Handlungslogiken im Rahmen des KPdSU-Prozess spielten und warum sie sich mit ihren Anliegen, darunter einer juristischen Bewertung der KPdSU als rechtlicher Grundlage einer nachhaltigen Aufarbeitung der sowjetischen Geschichte, nicht durchsetzen konnten.

Aufklärung als Nebeneffekt: selbst-sichere, selbst-bewusste und synthetisch-strategische Identitäten und Handlungslogiken auf verlorenem Posten Als Erinnerungsort zeichnet sich der KPdSU-Prozess unter anderem dadurch aus, dass er Anlass und Auslöser einer beispiellosen Welle der Aufklärung über die sowjetische Geschichte war, und zwar insbesondere infolge der massenhaften Veröffentlichung von bis dahin geheim gehaltenen Dokumenten aus den Parteiund Staatsarchiven: In Vorbereitung auf das Undenkbare einen Gerichtsprozess gegen die KPdSU mussten die Archivare ihre Tresore für Historiker und Juristen, darunter auch ehemalige Dissidenten,

71 Je nach den für den betreffenden Konformismus maßgeblichen gesellschaftlichen Erwartungen wären aus dieser Handlungslogik heraus auch andere Verhaltensstrategien denkbar, so z.B. die Durchführung bestimmter Wiedergutmachungsleistungen durch Nachkriegsdeutschland und damit eine gewisse Übernahme von Verantwortung für die eigene Vergangenheit, welche nicht zuletzt einem entsprechenden Erwartungsdruck der Alliierten begegnete (s.o.), oder auch das geschichtspolitische Entgegenkommen der Putin-Regierung gegenüber Polen nach dem Flugzeugunglück von Smolensk (s.u.).

282 | Elke Fein öffnen. [. . . ] Historiker aus dem Ausland schienen mit Rückendeckung der Regierung die Akten meterweise in ihre Notebooks einzuscannen, zu verfilmen oder gar über die Grenzen zu schaffen.⁷²

Zahlen zur Entwicklung der Freigabe-Praxis von Dokumenten aus staatlichen Archiven, wonach diese ihren Höhepunkt im Jahr 1992 hatte und danach wieder rapide zurückging, zeigen deutlich einen politischen Bezug zum Prozess.⁷³ Einer der seinerzeit in den Archiven arbeitenden „ehemaligen Dissidenten“ war der Historiker Nikita Petrov, Mitglied der Organisation Memorial sowie, in dieser Eigenschaft, einer vom Verfassungsgericht mit der Erstellung eines Gutachtens zur Frage der Verfassungswidrigkeit der KPdSU beauftragten Expertengruppe. Petrov erinnert sich wie folgt an die Archivpolitik der damaligen Regierung: Formal unterlagen viele der Dokumente der Geheimhaltung. Aber dafür wurde dann ja die Poltoranin-Kommission gegründet, die ein großes Konvolut an Dokumenten prüfte und augenblicklich freigab. Mir gelang es, an den Sitzungen dieser Kommission teilzunehmen, und ich kann sagen, dass die Atmosphäre dort sehr geschäftig war. Poltoranin saß da und hörte die Einwände der Behördenvertreter nicht einmal an. Wenn irgendein Offizier aus dem Verteidigungsministerium einwandte: ‚Dieses müsste man doch [unter Verschluss halten]‘, so sagte Poltoranin: ‚Was reden Sie da! Das muß freigegeben werden¡ Dieses Dokument war dann wahrscheinlich notwendig, weil es z.B. eine bestimmte These der Präsidentenseite [im KPdSU-Prozess] belegte. [. . . ] El’cin wies einfach Kotenkov, Šachraj und die anderen, die ihn im Prozess vertraten, wie etwa den offiziellen Beamten Rudol’f Pichoja [damaliger Leiter des Staatlichen Archivfonds GARF, E.F.] an, dass jegliche Dokumente, die El’cin helfen konnten, zugänglich sein sollten. [. . . ]Ich zum Beispiel habe im gegebenen Fall viel mit Pichoja zusammengearbeitet. Und wenn ich sagte, ich brauche dieses oder jenes Dokument, so haben sie es umgehend herbeigeschafft. Wenn es irgendwelche Schwierigkeiten mit Dokumenten gab, so wurden sie sofort gelöst. Im Grunde gab es also keine Schwierigkeiten.⁷⁴

Die bereits von den Richtern referierte Einschätzung zur Bedeutung der Dokumente wurde auch von Petrov bestätigt: Dieser Bestand hat die dokumentarische Grundlage der Erforschung der Geschichte der KPdSU und der Sowjetunion insgesamt ganz maßgeblich erweitert. 80 Prozent der vorgelegten Dokumente enthielten neue Fakten, und diese Fakten waren für die KPdSU absolut tödlich. [. . . ] Wenn wir diese ganze Arbeit an den Dokumenten nicht geleistet hätten, wäre

72 Vladimir Kozlov/Ol’ga Lokteva: Die ‚Archivrevolution‘ in Rußland (1991–1996), in: Ingrid Oswald/Petra Stykow/Jan Wiegohls (Hrsg.), Sozialwissenschaften in Rußland, Bd. 2. Berlin 1996, S. 258. 73 Vgl. ebd., S. 276. 74 Interview mit Petrov.

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unsere Geschichte deutlich ärmer, weil die Freigabe auf dem offiziellen Weg bis heute noch nicht soweit gekommen ist.⁷⁵

Somit war die historische Aufklärung über die sowjetische Vergangenheit also ein zentrales Ergebnis des KPdSU-Prozesses. Gleichzeitig zeichnet sich dieser Erinnerungsort jedoch auch dadurch aus, dass die dargestellte Aufklärungswirkung – anders als anfangs von vielen erwartet – lediglich ein (wenn auch bedeutender) Nebeneffekt des Gerichtsverfahrens war. Dies hing, neben den bereits beschriebenen Aspekten der diesbezüglichen „sozial-kognitiven Gemengelage“, möglicherweise auch damit zusammen, dass das Anliegen der historischen Aufklärung nicht für alle den Kommunisten gegenüberstehenden Akteure gleichermaßen ein Selbstzweck war. Vielmehr lagen deren Verhaltensstrategien, durch das Prisma struktureller Identitäten betrachtet, unterschiedliche psycho-logisch bedingte Handlungsmotive zugrunde. Inwieweit trug beides dazu bei, dass die von Petrov erwähnten „tödlichen Fakten“ sich letztendlich für die KP mitnichten als tödlich erwiesen? Wie eingangs erwähnt sind als weitere, strukturell relevante Akteure (die als solche, ebenso wie die bereits dargestellten Positionen, stellvertretend für die entsprechenden Strukturmuster von Identität und Erinnerung innerhalb der russischen Gesellschaft stehen) an dieser Stelle insbesondere die Vertreter des Präsidenten und Rumjancevs sowie eine Reihe von Sachverständigen anzuführen. Präsident El’cin ließ sich von seinem Rechtsexperten Sergej Šachraj vertreten, Rumjancev (ebenfalls Jurist) war zunächst selbst anwesend, delegierte sein Mandat nach der Eröffnungssitzung jedoch an einen Anwalt, Andrej Makarov. Zusätzlich liegen dem folgenden Abschnitt Interviews mit drei Mitgliedern der erwähnten Expertengruppe des VG zugrunde. Die unterschiedlichen in den Argumentationen und dem Verhalten der betreffenden Akteure zu beobachtenden strukturellen Muster und Qualitäten umfassen in Cook-Greuters Modell der Identitätsentwicklung mutmaßlich eine Spanne zwischen den Strukturmustern 3/4 (selbst-sicher/Experte) und 5 (Synthetiker/Stratege). Sie werden im Folgenden dennoch gemeinsam abgehandelt, erstens weil die drei genannten Akteursgruppen in der Sache ähnliche Ziele verfolgten, auch wenn sich die von ihnen hierzu gewählten Strategien unterschieden, zweitens weil aufgrund der Kooperation verschieden strukturierter bzw. verschieden strukturiert argumentierender/handelnder Personen eine klare Zuordnung der jeweiligen Gruppe zu entsprechenden Strukturmustern von Identität schwierig ist, und zum dritten, weil die im Kontext des Gerichtsprozesses erhobene Quellengrundlage nicht in

75 Ebd.

284 | Elke Fein allen Fällen für eine entsprechend präzise und solide Bestimmung der jeweiligen Muster ausreicht. Betrachten wir zunächst die Prozessgegner der Kommunisten. Bezüglich der Handlungslogiken der „antikommunistischen“ Seite im Kontext des KPdSUProzesses muss zwischen dem öffentlichen Auftreten von Präsident El’cin selbst, demjenigen seines juristischen Vertreters Sergej Šachraj sowie Rumjancev/ Makarov differenziert werden.

Der Präsidentenvertreter im Prozess: selbst-bewusstes Expertentum Große Unterschiede bestehen zunächst zwischen der Darstellung der Position El’cins durch seinen Prozessvertreter vor Gericht einerseits, und dem Bild, das auf der Grundlage verschiedener politischer Akte und Äußerungen El’cins in den Medien gezeichnet wurde, und das demnach die Öffentlichkeit (darunter auch die Wahrnehmung der befragten Richter) bestimmte, andererseits. Das Auftreten des Präsidentenvertreters vor Gericht zeichnete sich vor allem durch juristische Professionalität, Sachlichkeit und eine demonstrative Zurückhaltung im Verhältnis zum Verfassungsgericht aus. Diesem gegenüber bekundeten Šachraj, ebenso wie Rumjancev und sein Vertreter Makarov ihr uneingeschränktes Vertrauen. So sagte Makarov vor Gericht: „Ich bin überzeugt, dass die Verfassungskontrolle in unserem Land den ganz normalen gesetzlichen Weg gehen wird.“⁷⁶ Rumjancev selbst verfolgte den Fortgang des Prozesses nach eigenen Angaben nach den ersten Sitzungen sogar gar nicht weiter, weil „ich wusste, dass das Verfassungsgericht eine unabhängige und rechtmäßige Entscheidung trifft.“⁷⁷ El’cins Berater Burbulis betonte, auch der Präsident habe diese Haltung vertreten: „Er ist überzeugt von der Objektivität des Gerichts und der Professionalität seines Teams“.⁷⁸ Insbesondere Šachraj war sichtbar darum bemüht, dem Eindruck entgegenzuwirken, er beabsichtige, sich in die Kompetenzen des Gerichts einzumischen oder diesem irgendwie geartete Vorgaben zu machen. Indem er die Unabhängigkeit des VG betonte, ihm seine Anerkennung und Hochachtung in Bezug auf seine Kompetenz und Legitimität aussprach und ihm bedeutete, dass seine Seite jede

76 Prozessstenogramm, I, S. 190. 77 Rossijskaja Gazeta, vom 07.07.1992. 78 „Processom v KS interesuetsja El’cin“, in: Nezavisimaja Gazeta, vom 30.07.1992.

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Entscheidung des Gerichts akzeptieren werde, signalisierte er den Verzicht darauf, sachliche oder institutionelle Machtressourcen des Präsidenten zur Beeinflussung des Gerichts auszunutzen. Insgesamt demonstrierte Šachraj dem Gericht gegenüber damit, im Unterschied zur kommunistischen Seite (die, wie wir sahen, recht fordernd aufgetreten war) ein eher dienendes Verhalten.⁷⁹ Inwieweit lässt sich dieses (ganz oder teilweise) bestimmten Strukturmustern von Identität zuordnen? Und welchen Umgang mit dem sowjetischen Erbe, welche idealtypische Erinnerungskultur implizierte es? Dem Prozessprotokoll (Stenogramm) zufolge vermittelte Šachraj sowohl in der Sache wie auch in seinen Interaktionen mit den Kommunisten und dem Gericht neben fachlicher Kompetenz und professioneller Selbstsicherheit zuweilen sogar den Eindruck juristischer Überlegenheit. Für die Frage, aus welchem Strukturmuster heraus die betreffenden Handlungen/Äußerungen erfolgten, ist dabei vor allem der Umgang mit dem eigenen „Expertenwissen“ relevant. Die folgenden Beispiele zeugen von einer auf den ersten Blick selbst-sicheren (# 3/4), letztlich m.E. jedoch eher selbst-bewussten (Leistungs-) Identität (# 4). Im Verhältnis zu den Kommunisten war der Präsidentenvertreter in mehreren Situationen genötigt, seinen Opponenten die Spielregeln des Prozesses zu erklären. Insofern er dabei stets die Kompetenzen, die Würde und die Unabhängigkeit des Gerichts herausstellte, nahm er damit dem Gerichtsvorsitzenden zum Teil die Arbeit ab. Zahlreiche Nachfragen der kommunistischen Seite zwangen Šachraj nicht nur dazu, Einzelheiten (etwa zu den rechtlichen Grundlagen der Präsidialerlasse) zu wiederholen, die er gerade erst ausführlich erläutert hatte.⁸⁰ Sie versetzten ihn teilweise auch in die Position, die jeweiligen Fragesteller über einfache rechtliche Zusammenhänge bzw. grundlegende rechtsstaatliche Gepflogenheiten zu belehren, was Šachraj (nicht zuletzt in Bezug auf letztere) als juristisch besonders kompetent, die Fragesteller dagegen als weniger kompetent bzw. als unprofessionell und unerfahren erscheinen ließ. So wies Šachraj mehrfach nachdrücklich etwa darauf hin, dass nicht der Präsident sich zu rechtfertigen habe, sondern die Beweislast im gegebenen Fall bei den kommunistischen Antragstellern liege. Auf die dennoch wiederholte Frage des KP-Anwalts Ivanov hin, bei wem in der gegebenen Situation die Beweislast liege⁸¹, erklärte Šachraj seinem

79 Tatsächlich räumten auch die Richter entsprechende Unterschiede im Verhalten der Seiten ein. So bemerkten etwa Zor’kin oder Lučin, die antikommunistische Seite sei ruhiger, professioneller und sicherer aufgetreten, Morščakova nannte sie „klüger“ und „würdiger“. Umgekehrt hieß es über die Kommunisten, sie „wollten Macht“ (Zor’kin), hätten „Angst vor Lustration“ gehabt, das Gericht zuweilen „genervt“ und sich emotionaler verhalten (Morščakova). 80 Siehe z.B. Prozessstenogramm, I, S. 107, 112, 118 und 213. 81 Prozessstenogramm, I, S. 118.

286 | Elke Fein Kontrahenten, darin von Zor’kin unterstützt, den Unterschied zwischen einem Verfassungsgerichtsprozess und einem Strafprozess⁸²: [Ivanov:] Wir haben verstanden, dass wir die Gesetzwidrigkeit und Unrichtigkeit dieser oder jener Umstände begründen sollen, auf die in den Texten der Erlasse verwiesen wird, Genosse Vorsitzender. [Zu Šachraj:] Sie verwiesen im Verlauf Ihres Plädoyers auf eine Vielzahl von Dokumenten oder faktische Umstände. [. . . ] Ich werde mich nicht in den Bereich der Beweistheorie begeben, aber muss man das so verstehen, dass Sie davon ausgehen, dass diese als Beweismaterial in diesem Verfassungsgerichtsprozess verwendet werden sollen? [Šachraj:] Sie als großer Spezialist der Beweistheorie haben gerade eben bemerkt, dass diese Frage für das Gericht noch nicht entschieden ist. [. . . ] Das VG untersucht die Umstände eines Falls, wenn es die Verfassungsmäßigkeit der Tätigkeit von Amtspersonen oder normativer Akte prüft. Und in diesem Zusammenhang können diese oder jene Dokumente für das Gericht von Bedeutung sein. [. . . ] Das Gericht entscheidet, welche der von uns vorgelegten Dokumente in die Prozessakten aufgenommen werden.⁸³

In dieser Interaktion entsteht der Eindruck, dass der kommunistische Fragesteller, immerhin ein Rechtsanwalt, gerade erst zu verstehen begann, worum es prozessrechtlich überhaupt ging. Auch seine Anrede Zor’kins als „Genosse Vorsitzender“ deutet darauf hin, dass Ivanov im rechtsstaatlichen Verfahren – im Unterschied zu Šachraj – (noch) nicht beheimatet war. Die hier aus (unfreiwilligen) Belehrungen sprechende Sachlichkeit und Fachkompetenz Šachrajs verweist also auf eine mindestens selbst-sichere Struktur seines „Expertentums“ (# 3/4). Die häufig mit dieser Struktur verbundenen Merkmale perfektionistischer „Besserwisserei“ und moralischer Überheblichkeit gegenüber kritisierten Anderen stehen hier jedoch weniger im Vordergrund als eine professionelle Zurückhaltung im Dienst der Sache (strukturelle Merkmale der selbst-bewussten Identität, # 4). Letztere zeigten sich besonders in Interaktionen wie den folgenden mit dem Gericht: [Richter Lučin zu Šachraj:] Es wäre unbescheiden, Sie über das Verfassungsgerichtsgesetz [VerfGG] belehren zu wollen, das Sie selbst mitgeschrieben haben und wahrscheinlich besser kennen als die gewählten Richter des VG. In Art. 32 VerfGG heißt es, das VG entscheide nur Rechtsfragen. Denken Sie, dass der Antrag der 37 [kommunistischen] Abgeordneten oder die Fragen: „War die KPdSU eine Partei oder nicht? War sie eine gute oder eine schlechte Partei?“ überhaupt Gegenstand eines Verfahrens vor diesem Gericht sein können?

82 Wie das VG auf seiner ersten Sitzung in dieser Sache am 26. Mai 1992 fixiert habe, gebe es in der Verfassungsgerichtsbarkeit keine Beklagten und keine Kläger, keine Ankläger und keine Angeklagten. Der Begriff „Beweislast“ aus der Terminologie des Strafprozessrechts könne nur theoretisch übertragen werden. Im Verfassungsrecht besitze ein Rechtsakt solange Gültigkeit, wie er nicht vom VG für verfassungswidrig befunden worden sei. Den Nachweis darüber hätten selbstverständlich diejenigen zu erbringen, die seine Verfassungsmäßigkeit in Zweifel zögen. Vgl. ebd. 83 Ebd., S. 119.

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[Šachraj:] Das VG ist nach der vom 6. Volksdeputiertenkongress [im April 1992] beschlossenen Verfassungsänderung sogar verpflichtet, bei der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit einer politischen Partei alle die Tätigkeit dieser Partei betreffenden Aspekte zu berücksichtigen. Das Mandat des VG ist durch die Anträge vorgegeben. [Lučin:] Bedeutet Ihr Verweis auf Art. 7 der sowjetischen Verfassung [verbietet die Tätigkeit von Parteien, die den sowjetischen sozialistischen Staatsaufbau beeinträchtigen wollen, E.F.], dass Sie ein glühender Anhänger des sowjetischen Staatsaufbaus sind? [Šachraj:] Sie werden wohl nicht bestreiten, dass wir noch immer einen sowjetischen Staatsaufbau mit einem ‚Obersten Rat‘ als höchstem repräsentativem Organ haben. Was das Attribut ‚sozialistisch‘ betrifft, so denke ich, dass das Gericht die aktuelle Rechtslage, d.h. nach der Streichung dieses Terminus durch den 6. Volksdeputiertenkongress zugrunde legen sollte. [Lučin:] Gilt das Leninsche Konzept von der ‚faktischen und effektiven Verfassung‘ noch? [Šachraj:] Das müssen Sie entscheiden. Sie legen die Verfassung aus.⁸⁴

Lučins Fragen zwangen Šachraj also gleichsam dazu, dem Richter Ratschläge und Hinweise zur Auslegung der Verfassung zu erteilen. In dieser faktischen Demonstration fachlicher Kompetenz bzw. Überlegenheit ist m.E. indes weniger die Belehrung des Richters über seine Rechte und Pflichten bedeutsam als vor allem eine „professionelle Verantwortung“, die sich unter anderem im Bewusstsein der Grenzen der eigenen, rechtlich definierten Zuständigkeit und damit in der Achtung und dem Respekt vor der Autorität und Unabhängigkeit des Gerichts äußerte. Dieser mutmaßlich selbst-bewussten Handlungslogik (# 4) geht es weniger darum, sich ihrer eigenen Identität über das „Recht haben“ gegenüber anderen zu versichern, als darüber, professionell und rational zu agieren, also z.B. gute, sachlich richtige, rechtlich und wissenschaftlich haltbare Problemlösungen zu finden. Hierzu ist auch der sachlich-unaufgeregte, pragmatisch-effiziente Umgang mit problematischen Situationen wie der dargestellten ambivalenten Rechtsgrundlage des vorliegenden Verfahrens zu zählen. Dieselbe professionelle Grundhaltung der Nüchternheit, Sachbezogenheit und Kompetenz demonstrierte Šachraj auch in der Sache selbst. Ohne an dieser Stelle Einzelheiten der juristischen Position der Präsidentenseite referieren oder diskutieren zu können sei hier lediglich die Beobachtung angeführt, dass der Präsidentenvertreter auch in dieser Hinsicht auffallend darum bemüht war, „den Ball flach zu halten“. Zwar machte er einerseits umfassenden Gebrauch von

84 Ebd.

288 | Elke Fein die KP belastendem Material aus den Archiven, um die Rechtmäßigkeit der Verbotserlasse seines Dienstherrn zu unterstreichen. Darüber hinaus verzichtete er jedoch – in dieser Frage unterschieden sich die Strategien der beiden „antikommunistischen“ Prozessparteien – auf eine publikumswirksame Dramatisierung vergangener Rechtsbrüche der KP und beschränkte sich weitgehend auf formale, juristische Argumentationen. In diesem Sinn ist auch sein Versuch zu sehen, den unübersehbaren politischen Antagonismus zwischen El’cin und den Kommunisten, der sich im Verlauf des Prozesses noch erheblich verschärft hatte, in sachliche Bahnen zu leiten, mit anderen Worten zu einem „bloß“ juristischen Antagonismus herabzustufen. Dazu dienten unter anderem vielfältige verbale Gesten des Entgegenkommens gegenüber den Kommunisten unter Berufung auf die gemeinsame Parteivergangenheit der meisten Beteiligten, etwa in Form „versöhnender“, integrativer Bemerkungen wie der, es sei „keine Schande, Kommunist (gewesen) zu sein“, El’cin sei „kein Feind der Kommunisten“ oder: „Mit seinen Erlassen hat der Präsident sozusagen die einfachen Kommunisten vor individueller Verfolgung geschützt.“⁸⁵ Dieser Entdämonisierung El’cins bei gleichzeitiger (verbaler) Entkriminalisierung der anwesenden Kommunisten als Personen lag eine Differenzierung zwischen den unleugbaren juristischen Tatbeständen einerseits (der verfassungsrechtlichen Verantwortung der KPdSU als Organisation) und darüber hinaus gehenden politischen Bewertungen andererseits zugrunde, wie sie typischerweise erst das selbst-bewusste Strukturmuster zu leisten imstande ist. Doch diese dem Prozessprotokoll zu entnehmende gemäßigte und differenzierte Perspektive Šachrajs, die als offizielle Geschichtspolitik zur Grundlage einer politisch integrativen Aufarbeitung der sowjetischen Vergangenheit hätte werden können, bestimmte nicht die Außenwahrnehmung der Präsidentenseite im Kontext des Prozesses und letztlich auch nicht deren tatsächliche Geschichtspolitik. Letztere unterschieden sich von ersterer just durch den Umgang mit den erwähnten Machtressourcen des Präsidenten.

Der Präsident in der allgemeinen Wahrnehmung: ideologischer Antikommunismus Den Aussagen Dritter über das Auftreten der „antikommunistischen“/Präsidentenseite im Prozess ist im Wesentlichen gemeinsam, dass (neben den Kommunisten selbst) sowohl Medien als auch Richter und Sachverständige dieses als

85 Interview mit Šachraj und Prozessstenogramm, V, S. 397.

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ähnlich oder sogar „genauso emotional“ und radikal wie das der Kommunisten beschrieben: Leider gingen beide Seiten sehr oft über den Rahmen der Frage hinaus und versuchten – beide – anstatt über den juristischen Aspekt des Falls ständig über Politik zu sprechen. Das war bei beiden Seiten absolut gleich. D.h. es war schon kein Streit über die juristischen Aspekte des Problems mehr, darüber, ob diese Partei für verfassungsmäßig erachtet werden kann, sondern ein allgemein historischer Streit darüber, ob diese Partei gut oder schlecht war. Darauf lief alles hinaus.⁸⁶

Ähnlich kritisierte Gerichtspräsident Zor’kin, dass beide Seiten „maximale Forderungen“ stellten: „Schon von Anfang an war sichtbar, daß jede Seite va banque spielt. Sie wollten das Äußerste erreichen. Diese Extreme gab es. Wir hatten es mit extremen Positionen zu tun, auf beiden Seiten“.⁸⁷ Richter Lučin äußerte im Blick auf die Eröffnung des Prozesses sogar die Sorge, die Gegner der Kommunisten hätten eine „Bartholomäusnacht“ veranstalten wollen. Zor’kin zufolge war die Prozessführung gerade deswegen psychologisch schwierig, weil völlig offensichtlich war, dass dieser Radikalismus der beiden Seiten im Verlauf des Prozesses nicht nachlassen würde. [. . . ] Eigentlich hätten sie sich gegenseitig zuhören sollen, aber das war nicht der Fall. Im Saal gab es keine konstruktiven Gespräche zwischen den Seiten. Sie standen die ganze Zeit Rücken an Rücken.⁸⁸

Die Radikalität der „Antikommunisten“ wurde insbesondere darin gesehen, dass sie eine Abrechnung mit dem Kommunismus gewollt hätten: Die Präsidentenseite wollte ein Gericht über die KPdSU. Sie wollte eine Verurteilung der kommunistischen Vergangenheit. [. . . ] Und deswegen haben sie uns kofferweise historische Dokumente gebracht, [. . . ] um diesem Prozess eine solche rein historische Bedeutung zu geben, als Abschied von der kommunistischen Vergangenheit sozusagen.⁸⁹

Auch die Moskovskie Novosti bezeichneten das Jahr 1992 als das „Jahr des Gerichts“ bzw. der Abrechnung in Osteuropa und veröffentlichten eine Sonderseite mit der Überschrift: „ Ein Gespenst geht um in Europa, das Gespenst des Gerichts über den Kommunismus“.⁹⁰

86 87 88 89 90

Interview mit Gadžiev. Interview mit Zor’kin. Interview mit Zor’kin. Interview mit Gadžiev. Moskovskie Novosti vom 9.8.1992.

290 | Elke Fein Wenngleich ein solches Gericht grundsätzlich unterschiedlich motiviert sein konnte und theoretisch aus verschiedenen Handlungslogiken heraus vorstellbar gewesen wäre – auch die des Gedankens an eine geschichtspolitische „Abrechnung“ eher unverdächtige Organisation Memorial hatte sich beispielsweise von Anfang an für ein (internationales) Gerichtsverfahren zur Aufarbeitung der Rechtsverstöße während der KPdSU-Herrschaft eingesetzt⁹¹ – spricht aus zahlreichen Zeugnissen zum Verhalten der damaligen Regierung am ehesten eine dem selbst-sicheren Strukturmuster (# 3/4) entspringende Motivlage, also eine vergleichsweise unausgewogene, undifferenzierte, die Gegenseite recht pauschal kritisierende/dämonisierende Handlungslogik. Auch dazu einige weitere Beispiele. Tatsächlich erscheint der Versuch, die Kommunisten pauschal zu diskreditieren und als gefährlich darzustellen, als wiederkehrendes Motiv sowohl in El’cins (Geschichts-) Politik der frühen 1990er Jahre als auch bestimmter Handlungen gegenüber dem VG. Bereits im Kontext seines Parteiverbotserlasses vom August/November 1991 hatte El’cin von „Kräften der Reaktion“ gesprochen, die das Land „in eine Sackgasse geführt“ hätten, und die es daher aus dem politischen Leben zu entfernen gelte.⁹² Damit verwies er implizit auf einen „Kampf zwischen Gut(en) und Böse(n)“ Kräften, aus dem er eine gewisse Legitimation für erstere ableitete, mehr oder weniger entschlossen gegen letztere vorzugehen. Als subtiler, wenn auch letztlich kontraproduktiver Versuch, die Kommunisten dem Gericht gegenüber als gefährlich darzustellen, wurde seitens der Richter etwa der nachfolgend geschilderte, offensichtlich von höchster politischer Stelle ausgegangene Vorstoß gesehen: [Frage:] Gab es Versuche der Seiten, den Prozessverlauf zu beeinflussen? [Gadžiev:] Ja, gab es, überwiegend versteckte, wie das so üblich ist. Zum Beispiel tauchte irgendwie die Information auf, dass Attentate auf Verfassungsrichter nicht ausgeschlossen sind, dass die Kommunisten einen Terrorakt verüben wollen. Das war kein Gerücht, sondern eine offizielle Information von unserem Vorsitzenden, der dies von der Präsidentenadministration mitgeteilt bekam. Das war im Juli. Und danach wurde die Bewachung verstärkt. Alle Richter fuhren mit vier Wagen Begleitschutz zur Arbeit. Wenn der Richter zur Arbeit ins Gericht fuhr, war vor ihm ein Begleitfahrzeug, dahinter und an den Seiten. Obwohl wir eigentlich darüber lachten und sagten: ‚Diese alten Leutchen wollen einen Terrorakt verüben¡

91 Vgl. dazu auch Elke Fein: Geschichtspolitik in Rußland. Chancen und Schwierigkeiten einer demokratisierenden Aufarbeitung der sowjetischen Vergangenheit am Beispiel der Tätigkeit der Gesellschaft Memorial. Hamburg/Münster 2000. 92 Vgl. den Erlass des Präsidenten der RSFSR „Über die Tätigkeit der KPdSU und der Kommunistischen Partei der RSFSR“, vom 06.11.1991, VVS RSFSR Nr. 35, Pos. 1537.

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Das war natürlich lächerlich und dumm. Und wir haben das natürlich nicht [geglaubt]. Aber natürlich war das ein Versuch, die Richter zu beeinflussen, also den Eindruck zu erwecken, dass die Kommunisten derart gefährlich sind, dass sie euch sogar ermorden können. Also ich habe nicht daran geglaubt, wenn ich mir diese alten Leute so ansah. [. . . ] Das war der Versuch einer psychologischen Einflussnahme.⁹³

Ein entsprechendes Grundmuster präsidialer Geschichtspolitik belegen, auf die Archivarbeiten bezogen, auch die Erinnerungen dreier Mitglieder der vom VG beauftragten Expertengruppe aus der Vorbereitungszeit des Prozesses: [Roginskij:] „Einmal haben sie, d.h. Burbulis [El’cins erster Staatssekretär und Stellvertreter], uns zu sich eingeladen. Das war vor Beginn des Prozesses. Aber es war schon klar, dass wir [die oben genannte Expertengruppe] in den Archiven arbeiten. [. . . ] Burbulis saß im Büro von Suslov, am Alten Platz [in der früheren Zentrale der KPdSU, E.F.], vielleicht war es sogar auch das von Brežnev. Jedenfalls war es ein absolut typisches Parteibüro. Ich war zum ersten Mal in meinem Leben dort, und ich erinnere mich sehr gut an die Anwesenden, Experten und Juristen der Präsidentenseite. Es gab ein Gespräch, das von Burbulis’ Seite relativ korrekt verlief. [. . . ] Er fragte alle am Tisch, was sie tun könnten, nun, im Prinzip, um diese verfluchten Kommunisten zu besiegen. Er sagte das natürlich nicht mit diesen Worten, er sagte es ziemlich korrekt. Und ich erinnere mich sehr gut daran, dass dann alle außer mir begannen, unheimlich stürmisch darüber zu reden, was sie alles machen könnten, um die verfluchten Kommunisten zu besiegen. [Ochotin:] Ich weiß noch, wie sich Fedotov und Šachraj an mich wandten, mir sogar einen Wagen schickten, ob wir nicht Dokumente finden könnten über die deutschen Gelder der Bolschewiki, darüber, dass die Revolution mit deutschem Geld gemacht worden sei. Ich habe lange versucht, zu verstehen, wozu sie das brauchten, was das mit dem Prozess zu tun hatte. [Roginskij:] Sie haben alle möglichen Schrecken und Greueltaten der kommunistischen Regierung ausgewählt, verschiedene interessante Geschichten. [. . . ] Ich erinnere mich, dass ich mich dort überflüssig fühlte, auf dieser seltsamen Veranstaltung, weil ich [an historischer Aufklärung] unabhängig von diesem Gericht interessiert war. Schon damals fand ich es äußerst langweilig, einfach nur Antikommunist zu sein. Für sie war das aber total wichtig, eine ideelle Innovation. Sie waren alle solche aufgepeitschten Antikommunisten. [. . . ] Für die Geschichte interessierten sie sich gar nicht wirklich, sondern ereiferten sich ständig darüber, dass sie die Partei nicht [früher, vollständiger] verboten hatten usw. Das waren schließlich Leute im Zentrum der Macht, im Unterschied zu uns. Und sie hatten offensichtlich das Gefühl, nicht hart genug durchgegriffen zu haben.⁹⁴

93 Interview mit Gadžiev. 94 Interview mit Roginskij/Ochotin.

292 | Elke Fein Roginskij und Ochotin zufolge war die vom Präsidententeam betriebene Suche nach die KP diskreditierendem Archivmaterial also nicht primär sachlich motiviert, sondern politisch, durch den Wunsch, „die Kommunisten zu besiegen“. Strukturgenetisch betrachtet entspricht dieser Wunsch eher dem Motiv, Recht zu haben und den Gegner ins Unrecht zu setzen, als etwa der Suche nach (als solchen unter Umständen weniger eindeutigen) historischen Wahrheiten um ihrer selbst willen. Auch Roginskijs Formulierung, der „aufgepeitschte Antikommunismus“ sei für die Betreffenden eine „ideelle Innovation“ gewesen, verweist auf die Struktur der selbst-sicheren Handlungslogik, die sehr von der Richtigkeit ihrer eigenen Position überzeugt ist und ihre Identität primär aus der Abgrenzung gegenüber und der tendenziell pauschalen Herabwürdigung von als kritikwürdig erkannten Gegnern bezieht. Ähnlich erklärte Nikita Petrov auch die Hintergründe der bereits erwähnten Dokumentenfreigabe. Als klar wurde, dass der Präsidentenseite die Argumente nicht ausreichen, erschienen neue Dokumente. Z.B. die Protokolle des Geheimpakts zwischen Molotov und Ribbentrob, mit den Original-Unterschriften, endlich tauchten sie auf, deren Existenz so lange geleugnet wurde! Ebenso erschienen die schrecklichen Dokumente über die Tragödie von Katyn. Das war alles im September 1992, soweit ich mich erinnere. Der Prozess wurde ja in den Medien ziemlich breit abgedeckt. Die Zeitungen veröffentlichten ständig irgendwelche Sensationen, d.h. Dokumente, die im VG erschienen und der KP Verbrechen vorwarfen. [. . . ] Man kann zwar nicht sagen, dass das alles neu war und wir nichts darüber wußten. Die Katyn-Dokumente z.B., ja, von Katyn wußten wir, aber die Dokumente hatte noch niemand gesehen. Den Mechanismus, der zu dieser Entscheidung geführt hatte. Daß das im Politbüro von Stalin persönlich entschieden wurde und sonst niemandem. Dasselbe mit dem Terror von 1937, dasselbe mit den Morden nach dem Krieg. Resolutionen von Stalin, Befehle ans MGB [Sicherheitsministerium], das waren absolut neue, niemandem bekannte Dokumente.⁹⁵

Diese Erinnerungen unterstreichen ein weiteres Mal, dass und warum die Aufklärung über die Geschichte im Kontext des KPdSU-Prozesses eher ein Nebeneffekt war. Sie illustrieren überdies die selbst-sichere und als solche wenig integrative Tiefenstruktur der damaligen „antikommunistischen“ Geschichtspolitik und liefern damit auch eine Erklärung für deren mangelnden Erfolg als Erinnerungskultur im politisch gespaltenen post-sowjetischen Russland.

95 Interview mit Petrov.

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Zwischen individualistisch/pluralistisch und strategisch-autonom: Aufklärung als Selbstzweck im Dienst gesellschaftlicher Transformation Die Handlungslogik der dritten in diesem Zusammenhang anzuführenden Akteursgruppe unterschied sich sowohl von El’cins selbst-sicherem Umgang mit politischer Macht und geschichtspolitischem (hier: archivalischem) Expertenwissen als auch von Šachrajs selbst-bewusst-professioneller Leistungs- und Verantwortungsidentität. Wie angedeutet waren die genannten Gerichtssachverständigen Mitglieder der „historisch-aufklärerischen, rechtsschützenden und wohltätigen“ Gesellschaft Memorial und können insofern in gewisser Weise stellvertretend nicht nur für deren Positionen und Arbeitsweise stehen, sondern auch für das bzw. die diese prägenden Strukturmuster von Identität und Erinnerung. Betrachten wir in Bezug darauf zunächst die Äußerungen der Sachverständigen zum Prozess selbst. Roginskij zufolge sah seine Arbeitsgruppe ihre Aufgabe von Anfang an darin, das staatliche Wesen der Partei zu beweisen. Mir scheint, uns ging es mehr um die konzeptionelle Seite der Frage. Die Aufgabe, die allein wir erfüllten – andere haben ja auch massenhaft Dokumente gesammelt, nicht wahr? Aber nur unsere Gruppe hat systematisch [osmyšlenno] Dokumente gesammelt. [. . . ] Dabei war uns ganz unwichtig, ob es sich um Verbrechen oder bloße Ereignisse handelte. (. . . ) Es kam nicht darauf an, Dokumente über irgendwelche schrecklichen Verbrechen zu finden, sondern die dahinter stehenden Mechanismen aufzudecken, Parteientscheidungen zu der betreffenden Angelegenheit. Und zwar keine individuelle Entscheidung irgendeines Funktionärs, sondern eine Entscheidung eines kollegialen Organs. [. . . ] Über die Verbrechen wusste man damals schon relativ viel. Nicht genau, aber viel. Aber über den Mechanismus, wie die Partei als Staat funktionierte, ich glaube, das war unsere wichtigste, prinzipielle Sache. [. . . ] Uns war wichtig, eine Logik in diese ganze Geschichte hineinzubringen und zu zeigen, dass jede noch so banale Frage [. . . ] von der Partei entschieden wurde, und nicht von den Institutionen, die eigens dafür formal bestanden – nicht jedoch, welche Terroristen z.B. das Politbüro ausbildet oder unterstützt, oder wie es ausländische kommunistische Parteien finanzierte. Dass gerade das Politbüro ausländische Parteien finanzierte, das war normal. Die Partei kann ihr Geld geben, wem sie will. Aber nachzuweisen, dass das staatliche Gelder waren, das ist schon eine andere Frage.⁹⁶

Petrov ergänzte: „Uns ging es nicht um die Repressionen. Was die betrifft, das unterliegt bis heute keinerlei Zweifel. Der Charakter der KPdSU musste offengelegt werden.“⁹⁷ Ochotin:

96 Interview mit Roginskij. 97 Interview mit Petrov.

294 | Elke Fein Die größte Entdeckung, die wir machten, die eigentlich auch gar keine war, und die die Präsidentenseite auch gut benutzt hat, das war die Geschichte der Entstehung der Verfassung von 1977. Wie die Partei sie schrieb, annahm, ausführte usw., obwohl das eigentlich die Aufgabe des Parlaments gewesen wäre. [. . . ] Das ist ein lustiges Paradox. Diese Mechanismen, warum hat die sonst niemand erforscht? Aus einem einfachen Grund: Dabei handelte es sich um ‚ganz normale‘ Dinge, die jeder wusste. Und unsere Rolle war es, das auszusprechen und ihnen eine juristische Form zu geben. [. . . ] Das war derart gewöhnlich, dass es die Aufmerksamkeit des Gerichts [aus der Sicht Poltoranins] scheinbar gar nicht wert war.⁹⁸

Und noch einmal Roginskij: Wir haben dazu eine phantastische Menge von Material bearbeitet, mehrere Monate lang. Dabei haben wir gar nicht so viele Dokumente geliefert, einige Duzend, weil wir verstanden, dass es nicht auf die Anzahl, sondern die Qualität der Dokumente ankam.⁹⁹

Aus diesen Darstellungen spricht zunächst eine sachbezogene Nüchternheit und Klarheit, wie sie auch das bereits beschriebene selbst-bewusste Strukturmuster kennzeichnen. Zugleich gehen die den hier angeführten Erinnerungen zugrunde liegenden Strukturen der Wahrnehmung, kognitiven Differenzierung, Perspektivenübernahme und Selbst-Verortung m.E. jedoch in dreierlei Hinsicht darüber hinaus. Zum ersten bildet „Professionalität“ im Sinne von Wissenschaftlichkeit, Rationalität, Sachlichkeit, Kompetenz usw. hier nicht den Kern des eigenen Selbst-Verständnisses, sondern ist lediglich ein (dem Selbst zur Verfügung stehendes) Mittel, das zu einem anderen, übergeordneten Zweck eingesetzt wird, nämlich um das Wesen der KPdSU zu ergründen. Dieser Fokus setzt zum zweiten eine noch stärker dezentrierte Haltung und Sozialperspektive als die der erweiterten dritten Person (Strukturmuster # 4) voraus, insofern er von den konkreten „sachlichen“ Tatbeständen (hier: den von der KPdSU konstruierten Institutionen) abstrahiert, diese also in ihrer „Normalität“ hinterfragt und als institutionelle „Fassaden“ erkennt und sich gleichsam hinter deren Kulissen auf die Funktionsweisen und den Herrschaftsmechanismus des sowjetischen Regimes richtet. Die Sozialperspektive der (in diesem Fall als wirksam unterstellten) postkonventionellen Strukturmuster zeichnet sich mithin dadurch aus, dass sie die Ebene der sozialen „Fakten“ zugunsten eines Interesses für deren tiefer liegende Bestimmungsfaktoren und entsprechende systemische Zusammenhänge und Mechanismen transzendiert. Diese systemische Sichtweise bezieht sich zum dritten neben äußeren Phänomenen (wie dem genannten institutionellen Herrschaftsmechanismus) auch auf innere, psychologische Realitäten. Sie erkennt somit

98 Interview mit Ochotin. 99 Interview mit Roginskij.

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beispielsweise die den (äußeren) Verhaltensmustern der betreffenden Akteure zugrunde liegenden (inneren) Denkmuster in ihrer jeweiligen Eigenlogik und Bedeutung, kann diese benennen (objektivieren) und sich darauf beziehen, ohne damit zwangsläufig bestimmte eigene Bewertungen oder Absichten zu verbinden. So war etwa für Roginskij klar, dass und warum das Präsidententeam in der beschriebenen Weise vorging. Seine Aussage, es habe nach „Schrecken und Greueltaten“ in der Geschichte der KPdSU gesucht, weil es den Antikommunismus für eine ideelle Innovation hielt, illustriert, dass das Handeln der beobachteten Gruppe hier nicht, wie auf den prä-konventionellen oder konventionellen Strukturstufen, entweder durch die Brille eigener Wünsche oder Bedürfnisse betrachtet oder in Relation zum eigenen Handeln (Selbst) gesetzt, sondern in seiner eigenen strukturellen Logik verstanden wird. Ähnliches gilt für Ochotins Einschätzung der Sicht- und Handlungsweise Poltoranins (s.o.). Während weniger komplexe und weniger dezentrierte Handlungslogiken stärker dazu neigen, von sich selbst auf andere zu schließen, demonstrieren die hier angeführten Beispiele eine Sensibilität und Empathiefähigkeit, die eine vergleichsweise differenzierte Perspektivenübernahme voraussetzen, welche m.E. mindestens dem kognitiven Habitus der individualistischen/pluralistischen Identität entsprechen. Auf die strukturell komplexere Qualität der vorliegenden Denkund Handlungslogik weisen ferner Bemerkungen wie die Roginskijs hin, er habe den damaligen ideologischen Antikommunismus als „langweilig“ empfunden, oder jene Ochotins, es sei ein „lustiges Paradox“, dass sonst niemand die besagten Mechanismen erforschte. Beide unterstreichen die von unmittelbaren EgoBedürfnissen und -Interessen in hohem Maße losgelöste (de-identifizierte), stark prinzipiengeleitet agierende Perspektive post-konventioneller Identitäten (vgl. die Kohlberg-Stufen # 5–6, Fn. 6), die daher weniger Energie auf Selbstverteidigung, Selbstvergewisserung, Selbstdarstellung, Selbstbestätigung/-bespiegelung usw. verwenden müssen als weniger dezentrierte Perspektiven. Die einer prinzipiengeleiteten Haltung entspringende Gewohnheit, nicht sich selbst (mit welchen Eigenschaften auch immer), sondern die Sache in den Vordergrund zu stellen – bzw. sich zurückzuziehen, wo dies nicht der Fall ist – spricht auch aus Roginskijs ironischer Bemerkung, er habe sich „überflüssig gefühlt, auf dieser seltsamen Veranstaltung [na e˙ tim prazdnike žizni], weil ich [an historischer Aufklärung] unabhängig von diesem Gericht interessiert war.“¹⁰⁰ Tun wird in dieser Perspektive wichtiger als Reden; der Wunsch nach authentischem Sein bzw. Handeln ersetzt den nach einem bestimmten Schein. Schließlich zeugt auch die Ironie selbst, mit der die zitierten Sachverständigen über die

100 Interview mit Roginskij.

296 | Elke Fein angestrengten Bemühungen der übrigen Akteure sprechen, ihre jeweiligen Ziele zu erreichen, von ihrer eigenen inneren Unabhängigkeit und (Selbst-) Distanz sowie von einem gewissen, erfahrungsbasierten Gleichmut (auch in Bezug auf die Möglichkeit, die übrigen Akteure im gegebenen Kontext von ihren eigenen Sichtweisen zu überzeugen) und damit von einer vergleichsweise stark dezentrierten Identität. Vor dem Hintergrund der angeführten Diskursbeispiele sowie der weithin bekannten und gut dokumentierten Geschichts- und Erinnerungspolitik Memorials¹⁰¹ kann in Bezug auf die strukturelle Qualität derselben somit mindestens eine individualistische/pluralistische Handlungslogik unterstellt werden (vgl. die Beschreibung des Strukturmusters # 4/5 weiter oben). Denn Memorial steht bekanntlich seit seiner Gründung 1988 für ein unbedingtes und authentisches Interesse an umfassender historischer Aufklärung über die sowjetische Vergangenheit sowie eine nachhaltige Aufarbeitung der damit verbundenen (individuellen und kollektiven) traumatischen Erfahrungen. Hierzu engagiert sich die Gruppe von Anfang an in recht umfassender Weise, zum Beispiel durch öffentliche Erinnerungsprojekte, aber auch durch rechtliche, finanzielle und menschliche Beratung und Unterstützung von Repressionsopfern sowie durch kontinuierliche Menschenrechtsarbeit an verschiedenen Brennpunkten der russischen Politik. Insofern letzteres in seinem Anspruch freilich deutlich über den vorwiegend individuellen Fokus des individualistischen/pluralistischen Strukturmusters (# 4/5) hinausgeht, dürfte es strukturgenetisch betrachtet am ehesten in der folgenden, autonomen/strategischen Handlungslogik (# 5) zu verorten sein. Diese wurde in der modellhaften Darstellung oben zwar (aus Platzgründen und aufgrund seiner quantitativ geringen Bedeutung) ausgelassen¹⁰², sie erklärt jedoch gerade die von Memorial auf der Grundlage einer stark dezentrierten Identität und einer systemischen Sichtweise gleichsam als gesamtgesellschaftliches Projekt verstandene Aufarbeitungspraxis meines Erachtens am Besten. Denn diese betreibt eine die belastete Vergangenheit sehr aktiv und grundlegend (insofern „nachhaltig“) aufarbeitende Erinnerung als eine Art gesellschaftlicher „Schattenarbeit“, das heißt als eine Arbeit zur bzw. an der Integration der eigenen (nationalen) Schattenseiten im Dienst einer politisch-psychologischen und damit

101 Vgl. dazu Fein, Geschichtspolitik in Rußland; dies.: Memorial und die post-sowjetische Erinnerungskultur, in: Lars Karl/Igor J. Polianski (Hrsg.), Geschichtspolitik und Erinnerungskultur im neuen Russland. Göttingen 2009, S. 165186. 102 Cook-Greuter zufolge halten sich fast 80 % der Erwachsenen im westlichen Kulturkreis im Bereich der konventionellen Strukturstufen auf. Vgl. dazu ausführlicher Cook-Greuter, Ego Development.

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zugleich auch politisch-kulturellen Transformation. Tatsächlich ist das Engagement Memorials insgesamt meines Erachtens erst in diesem Sinne angemessen zu verstehen, betreibt es doch historische Aufklärung nicht nur als wissenschaftlichen Selbstzweck, sondern auch aus dem politisch-systemischen Motiv heraus, eine Wiederholung der totalitären Erfahrungen strukturell und kulturell unmöglich zu machen. Daher leistet es auch sozial-psychologische Unterstützung nicht nur aus „therapeutischen“ Gründen, sondern im Interesse einer tiefer ansetzenden und nachhaltigen gesellschaftlich-politischen Bewältigung und Wiedergutmachung (der Folgen) geschehenen Unrechts. So gesehen illustriert die Arbeit Memorials unter anderem, dass im autonomen/strategischen Strukturmuster von Identität und Erinnerung Nüchternheit nicht mehr versus „Emotionalität“ steht (hier in Gestalt von Empathie und Mitgefühl) und Sachlichkeit nicht versus Leidenschaft, sondern beide Pole jeweils in einer differenzierten und ausgewogenen Weise integriert werden, im Dienst des übergeordneten, strategischen Ziels der „Heilung“ und der gesellschaftlichen Transformation.

III Zwischenfazit: Zwischen Selbst-Schutz und Konformismus – Geschichtspolitik und Erinnerungskultur in Russland nach dem KPdSU-Prozess Ziel dieses Beitrags war bzw. ist es erstens, die hier vertretene theoretischmethodische These empirisch zu illustrieren, dass unterschiedliche Strukturmuster von Identität aufgrund ihrer unterschiedlich komplexen Wahrnehmung, Interpretation und Verarbeitung historischer und aktueller sozialer Phänomene und Interaktionen nicht nur zu verschiedenen Rechts- und Politikverständnissen führen, sondern damit auch zu unterschiedlichen Erinnerungskulturen und -praktiken. Dieser Befund ist zweitens von erheblicher heuristischer Bedeutung für die Analyse von Erinnerungskulturen selbst, wie auch von politischer Kultur insgesamt. Zum einen schärft die hier vorgeschlagene Perspektive den Blick dafür, dass in den meisten modernen Gesellschaften verschiedene kognitive Kulturen (bzw. auf der Basis unterschiedlicher kognitiver Strukturmuster denkende/handelnde Akteure) zur Interaktion oder Kooperation innerhalb eines gemeinsamen öffentlichen Raums gezwungen sind. Dies illustriert und erklärt zugleich auch einen großen Teil der kommunikativen Schwierigkeiten, die sich dabei für die Beteiligten ergeben (können). Die Beobachtung der verschiedenen jeweils wirksamen

298 | Elke Fein kognitiven Kulturen wirft somit zum anderen die Frage nach den dominanten, die gesellschaftlichen Beziehungen und Institutionen am stärksten prägenden und bestimmenden Strukturmustern auf. Denn die gesellschaftliche Dominanz des einen oder anderen politisch-kulturellen Strukturmusters hat weitgehende Implikationen in vielen gesellschaftlichen Lebens- und Funktionsbereichen. In der Fallstudie zum KPdSU-Prozess konnte beispielsweise gezeigt werden, dass die am wenigsten komplexe (hier: selbst-schützende) Handlungslogik in der gegebenen „kognitiv-kulturellen Gesamtkonstellation“ allen anderen Beteiligten ihre Argumentations- und Bewertungskriterien und damit letztlich auch ihren Willen aufzwingen konnte, weil eine überwiegend konformistische gerichtliche „Prozesspolitik“ dies gestattete. Dies illustriert in mancher Hinsicht die These Stephen Chiltons, dass Institutionen stets gemäß der Handlungslogik funktionieren, die bei den sie ausfüllenden Akteuren dominiert.¹⁰³ Es bedeutet auch, dass in Fällen, in denen die (kulturell) dominante Handlungslogik der Akteure in ihrer Komplexität hinter derjenigen der Funktionslogik der betreffenden Institution (hier: des Gerichts) zurückbleibt – häufig, weil die Institutionen von außen „importiert“ wurden – letztere mitunter in suboptimaler oder sogar dysfunktionaler Weise funktionieren.¹⁰⁴ Die Macht der im KPdSU-Prozess hegemonisch gewordenen bzw. als hegemonisch bestätigten politisch-kulturellen Strukturmuster (des selbst-schützenden und des konformistischen) zeigte sich beispielsweise darin, dass das konformistische Strukturmuster nach Ende des Prozesses von El’cin übernommen wurde, der fortan seinen bis dahin eher selbst-sicheren Antikommunismus zugunsten des Versuchs aufgab, die verfeindeten Lager mit Hilfe einer „versöhnenden“, kompromissbetonten Politik und Geschichtspolitik zu integrieren. Dass es sich hierbei um konformistische, vorwiegend an einer oberflächlichen gesellschaftlichen „Harmonie“ interessierte Versöhnungsversuche handelte, zeigte sich etwa daran, dass weitgehend unklar blieb, wer sich mit wem auf welcher Grundlage versöhnen sollte, und dass hierzu auch keine nennenswerten Schritte unternommen wurden, weswegen das Projekt in der Sache wenig erfolgreich war.¹⁰⁵ Der konformistische Wunsch, es allen Recht zu machen, führte vielmehr dazu, dass die offizielle Geschichtspolitik fortan weitgehend auf Stellungnahmen zur sowjetischen Ver-

103 „Unless the institution’s structure is preserved by people at the appropriate stage, the institution will regress to less developed forms.“ Stephen Chilton: Defining political development. Boulder Colorado 1988. 104 Vgl. ebd., S. 88. 105 Elke Fein: Zwei Schritte vor, einen zurück. Widersprüchliche Haltungen zur Vergangenheitsbewältigung in Rußland, in: Osteuropa-Archiv 8 (2000), A 271–A 276.

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gangenheit verzichte, ebenso wie auf die Definition klarer Leitplanken einer postsowjetischen geschichtspolitischen „Korrektheit“. Die stattdessen geübte recht weitgehende Toleranz, auch gegenüber neostalinistischen und ähnlichen, ihrer Struktur nach wenig komplexen und vergleichsweise stark selbst-bezogenen Positionen dürfte die politisch-kulturell dominante Sozialperspektive nicht eben erweitert haben. In erinnerungskultureller Hinsicht befindet sich Russland im Ergebnis bis heute in gewisser Weise „zwischen Vergangenheit und Zukunft wie in einem Aufzug zwischen zwei Stockwerken.“¹⁰⁶ Während politisch-kulturelle Entwicklung, verstanden als eine Erweiterung der dominanten Sozialperspektive (im Sinne eines differenzierteren Umgangs mit den Komplexitäten der sozialen Welt), Chiltons kognitionsbasierter Theorie zufolge am Besten gelingt, wenn die Handlungslogiken der Regierenden um bis zu zwei Strukturmuster komplexer sind als diejenigen des gesellschaftlichen Durchschnitts, wurde im Kontext des KPdSU-Prozesses und darüber hinaus ein politisch-kulturelles Strukturmuster hegemonisch (gemacht), das mit dem konformistischen Ideal einer eher oberflächlichen „Versöhnung um des lieben Friedens willen“ letztlich weniger eine politisch-kulturelle Weiterentwicklung als eine „Regression“ in selbst-schützende Denkmuster protegierte und ermutigte. Dass letztere in der Folgezeit erneut größeren Einfluss gewannen, verwundert daher nicht. Der empirische Nachweis für die These, dass das selbst-schützende Strukturmuster (# 2/3) insbesondere in der von Putin betriebenen Geschichts- und Identitätspolitik wieder dominant wurde, wäre im einzelnen Stoff für eine eigene Studie. Daher sei hierzu an dieser Stelle lediglich auf die empirische Dissertation von Martin Müller hingewiesen, der in seiner Untersuchung geopolitischer Identitätsdiskurse am Moskauer MGIMO (ohne selbst mit den hier vorgestellten Kategorien gearbeitet zu haben) letztlich vor allem die Handlungslogik des selbstschützenden Strukturmusters vorgefunden hat.¹⁰⁷ Inwieweit gab es diesbezüglich in jüngerer Zeit Anzeichen für einen Wandel?

106 Leszek Buszynski: Russian Foreign Policy after the Cold War. London 1996, S. IX; XI. 107 Wichtig ist diesem etwa, ein respektierter und einflussreicher Akteur in der Weltpolitik zu sein, sich der eigenen nationalen Größe und Ehre, ebenso wie der Konturen und Grenzen des eigenen Selbst zu versichern, weswegen etwa so genannte „Einmischungen in innere Angelegenheiten“ im Namen universaler Prinzipien als Verletzung des nationalen Selbstwertes empfunden und scharf verurteilt werden. Müller konstatiert ferner, dass der Wunsch, eine führende Rolle in den post-sowjetischen Staaten zu spielen, die Hauptantriebskraft gegenwärtiger russischer Politik, und deren Motivation die Angst vor einem schwachen Russland sei. Vgl. Martin Müller: Making Great Power Identities in Russia. An Ethnographic Discourse Analysis of Education at a Russian Elite University. Münster 2009.

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IV Ausblick: Smolensk/Katyn 2010 als Wendepunkt der russischen Erinnerungskultur? Das oben angeführte Modell der Strukturmuster von Identität und Erinnerung kann, so der hier vertretene konzeptionelle Anspruch, als methodisches Instrument zur Beschreibung idealtypischer Muster und Formen historischer Erinnerung verstanden und folglich auch zur Analyse anderer politisch- und erinnerungskultureller Phänomene und Szenarien herangezogen werden. Dabei stellt sich stets die Frage, welche der beschriebenen Strukturmuster von welchen Akteuren wann, wo und wie vertreten wurden. Dies sei im Folgenden abschließend für die russische Erinnerungskultur im Umgang mit dem Thema Katyn kurz skizziert. Aus Platzgründen ist in diesem Rahmen freilich lediglich eine grobe, strukturgenetisch informierte Einschätzung (educated guess) möglich, während eine fundiertere Analyse entsprechenden empirischen Untersuchungen vorbehalten bleiben muss. Bekanntlich wurde die Verantwortung der stalinistischen Führung für das Massaker von Katyn während der Sowjetzeit bis zuletzt geleugnet und dieses den Nationalsozialisten zugeschrieben. Das Verschweigen und Verdrängen unangenehmer „Wahrheiten“ und die Weigerung, die Verantwortung für eigene Taten in der Vergangenheit zu übernehmen, entsprechen der Handlungslogik des selbstschützenden Strukturmusters von Identität. Dieses besitzt zwar eine Ahnung bzw. sogar ein mehr oder weniger klares Bewusstsein von der Verwerflichkeit der betreffenden Handlungen, nicht jedoch die innere Stärke, um die Konfrontation damit auszuhalten, also um entsprechende Schattenseiten in das eigene Selbstbild zu integrieren. Vielmehr ist seine Identität stark an den Glauben an die eigene Größe, Heldenhaftigkeit usw. gebunden und damit an die Aufrechterhaltung einer entsprechenden Fassade nach außen hin. Aufgrund der starken Selbstbezogenheit dieser Psycho-Logik wird dabei kaum zwischen idealisiertem Selbstbild (der selbst gebauten Fassade) und der „Realität“ differenziert. Erst mit Michail Gorbačev, dessen Perestrojka an zahlreichen tragenden Säulen des sowjetischen Systems rüttelte, änderte sich auch die Haltung der UdSSR zur Frage der Verantwortung für das Verbrechen von Katyn. In seinem Auftrag übergab die sowjetische Führung dem damaligen polnischen Staatschef Wojciech Jaruzelski eine Namensliste der in Katyn erschossenen Kriegsgefangenen sowie ein Dokument, welches belegt, dass die betreffenden Morde durch den sowjetischen NKWD verübt wurden. Auf der Grundlage dieses Eingeständnisses kam es auch zur Aufnahme des ersten Strafverfahrens in der Sache Katyn durch die russische Hauptmilitärstaatsanwaltschaft. Insofern es sich hierbei tatsächlich um einen aus eigener Initiative erfolgten Versuch der Aufarbeitung historischer „Ver-

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fehlungen“ und der Übernahme entsprechender Verantwortung mit dem Ziel der Versöhnung handelte, ist diesbezüglich am ehesten von einer selbst-bewussten Handlungslogik auszugehen, ohne dass letztere an dieser Stelle umfassend belegt und nachgewiesen werden könnte. Diese ersten Schritte der Annäherung und Versöhnung wurden 1992 von Präsident El’cin durch die Übergabe und Veröffentlichung weiterer Dokumente fortgesetzt. Darunter befanden sich, wie oben dargestellt auch Belege dafür, dass der Beschluss zur Erschießung der polnischen Offiziere von den Mitgliedern des sowjetischen Politbüros gemeinsam getroffen wurde. Damit bekannte sich die Russische Föderation als Rechtsnachfolgerin der Sowjetunion erstmals zu dem Verbrechen an den polnischen Kriegsgefangenen. Der ehemalige polnische Außenminister Adam D. Rotfeld hat die Jahre seit 1989 daher als „die besten polnisch-russischen Jahre des vergangenen Jahrtausends“ bezeichnet.¹⁰⁸ Inwieweit indes auch El’cins Erinnerungspolitik in der Sache Katyn in erster Linie ein authentischer Versuch der Aufarbeitung oder aber primär von dem Wunsch motiviert war, „mit den Kommunisten abzurechnen“ bzw. diesen politisch zu diskreditieren (s.o.), kann an dieser Stelle nicht abschließend beantwortet bzw. muss im Licht seiner sonstigen Geschichtspolitik beurteilt werden. Einen erneuten Rückschlag bildete im Jahr 2004 die Mitteilung der russischen Hauptmilitärstaatsanwaltschaft, die Ermittlungen in der Strafsache Katyn einzustellen und die wichtigsten Dokumente hierzu sowie den Beschluss über die Einstellung selbst für geheim zu erklären. Ungeachtet gesellschaftlicher Proteste (unter anderem der Gesellschaft Memorial) erklärte die Militärstaatsanwaltschaft nach der Einstellung des Verfahrens die damalige Führung der UdSSR für unschuldig, mit der Begründung, ihr Handeln sei lediglich als „Amtsmissbrauch“ zu werten, „der schwere Folgen unter besonders erschwerenden Bedingungen nach sich gezogen“ habe.¹⁰⁹ Auch wenn auf die näheren Umstände dieses rechtlich fragwürdigen Akts hier nicht eingegangen werden kann und über seine Hintergründe auch nicht weiter spekuliert werden soll, so bestätigt er doch das seit Putins Amtsantritt als Präsident im Jahr 2000 erneut kultivierte selbst-schützende Strukturmuster von Identität. Es betont vor allem die nationale Größe und den Stolz Russlands als Großmacht und beruft sich dazu unter anderem auf den Sieg im „Großen Vaterländischen Krieg“, welcher daher nach Möglichkeit nicht durch „unangenehme Wahrheiten“ befleckt werden soll.

108 Reinhold Vetter: Euphorie und Ernüchterung. Polens Russlandpolitik vor und nach Smolensk, in: Osteuropa 9 (2011), S. 17–36. 109 Zit. nach: Aufruf der Gesellschaft Memorial an Dmitrij Medvedev, Russland-Analysen Nr. 198/2010, S. 13f.

302 | Elke Fein Während man das Verbrechen von Katyn in Polen als Völkermord bewertet, war vor Smolensk von russischer Seite in der Diskussion um die sowjetische Verantwortung immer wieder die Forderung zu hören, Polen solle zuerst selbst zu seinen eigenen Verbrechen stehen.¹¹⁰ Dieses auch im KPdSU-Prozess beobachtete defensive Reaktionsmuster verweist auf die für die selbst-schützende Identität typische Logik der Aufrechnung: Wenngleich etwaige Verbrechen der Gegenseite die eigenen weder aus der Welt schaffen noch (in einem rechtsstaatlichen oder moralisch-prinzipielleren Sinn; Kohlberg # 4–6) relativieren können, glaubt die selbst-schützende Psycho-Logik aufgrund ihrer stark selbstbezogenen Sozialperspektive, sich mit einer derartigen (moralisch prä-konventionell urteilenden) „Vogel-Strauß-Strategie“ aus der Affäre und damit aus der Verantwortung ziehen zu können. Auch wenn die Fakten also spätestens seit dem KPdSU-Prozess öffentlich bekannt waren, lautete die offizielle russische Geschichtspolitik bis zur Tragödie von Smolensk nunmehr im Wesentlichen: Wir waren es zwar, tragen aber keine rechtliche Verantwortung.¹¹¹ Inwieweit haben sich also Russlands Umgang mit dem Thema Katyn und damit auch die russisch-polnischen Beziehungen insgesamt nach dem Flugzeugabsturz von Smolensk verändert? Ein deutlicher atmosphärischer Wandel ließ sich unmittelbar nach der Katastrophe vom 10. April 2010 auf verschiedenen Ebenen beobachten. Das russische Staatsfernsehen zeigte gleich am folgenden Tag Andrzej Wajdas Film Katyn zur Hauptsendezeit, und auch die russischen Zeitungen berichteten auf sehr einfühlsame Weise über die Geschehnisse. Präsident Medvedev äußerte sich in einem Fernsehinterview mit ungewöhnlich klaren Worten zur Rolle Stalins in der Vergangenheit, und Putin selbst zeigte am Unglücksort eine spontane Geste des Mitgefühls gegenüber seinem polnischen Kollegen Donald Tusk. Schließlich bezeugten sowohl die Bürger von Smolensk vor Ort als auch viele andere Russen an der polnischen Botschaft in Moskau in unzähligen Trauer- und Solidaritätsbekundungen ihre Anteilnahme in eindrucksvoller Weise. Somit war die Zeit unmittelbar nach Smolensk von einem Klima der Verständigung, des Dialogs, der Annäherung und Entspannung geprägt sowie von einem verstärkten Willen, sich der gemeinsamen Vergangenheit auch zunehmend gemeinsam anzunehmen. Wie

110 Hiermit ist das Schicksal russischer Kriegsgefangener gemeint, die während des Krieges 1919–1921 in polnischen Lagern umkamen. 111 Umfragen belegten überdies ein eher begrenztes Wissen der russischen Bevölkerung über Katyn (im März 2010 wussten nur 19 % von der Verantwortung der Stalinistischen Führung für das Verbrechen) sowie eine eher defensive Haltung hierzu (nur 18 % befürworteten eine russische Geste der Entschuldigung). Vgl. Kai-Olaf Lang: Die polnisch-russischen Beziehungen nach der Tragödie von Smolensk, in: Russland-Analysen 199 (2010), S. 2–4. Siehe die gesamte Ausgabe der Russland-Analyse 199 (2010).

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ist dies also in strukturgenetischer Perspektive zu verstehen und zu bewerten? Anstelle des vorherigen defensiven Beharrens auf eigenen Positionen nahm die russische (politische) Öffentlichkeit Polen nunmehr als Partner mit gleichem Recht auf eine eigene nationale Erinnerung in den Blick. Nicht nur wurde seine Trauer anerkannt und die damit verbundenen Emotionen respektiert. Diese weckten offenbar auch ein tieferes Interesse für die Hintergründe des Massakers von Katyn im Jahr 1940. Dieser überraschende Wandel schien zumindest dem offiziellen Russland umso leichter zu fallen, als dieses hier allein durch äußere Umstände, das heißt ohne eigenes Zutun – und ohne seinerseits besondere Zugeständnisse machen zu müssen bzw. gemacht zu haben – die Möglichkeit bekam, sich Polen und der Welt gegenüber als freundlicher und solidarischer Nachbar und damit als Mitglied der „Gemeinschaft zivilisierter Nationen“ zu präsentieren. Und diese Rolle des „netten Jungen“ bzw. hilfsbereiten Bruders von nebenan schien dem russischen „nationalen Selbst“ gleich in zweifacher Hinsicht gut zu tun: Zum einen wirkte sie wie eine Erleichterung, als eine Befreiung aus der Enge der gewohnten Defensiv-Logik; zum anderen erhielt Russland damit recht unvermittelt und offenbar auf für es selbst überraschende Weise genau die internationale Anerkennung als Nation, nach der es sich dem Vernehmen nach seit dem Untergang der Sowjetunion in besonderem Maße sehnt(e), und um die sich die russische Politik daher seither intensiv bemühte – wenn auch mit der vorwiegend selbst-schützenden auf für manchen Beobachter zum Teil fragwürdige Weise.¹¹² Da Russland in der gegebenen Situation „Größe“, insbesondere in Form menschlicher Großherzigkeit demonstrieren konnte, ja geradezu musste, ohne dabei selbst etwas zu verlieren zu haben, bot diese Situation den maßgeblichen politischen Akteuren in psychologischer Hinsicht gleichsam die Möglichkeit, „über sich selbst hinauszuwachsen“. Genauer gesagt, es erlaubte ihnen, ohne einen – vom selbst-schützenden Strukturmuster mehr als alles andere gefürchteten – Gesichtsverlust, die Grenzen des bisher vertretenen Konzepts des nationalen Selbst zu transzendieren – zugunsten eines „geräumigeren“, offeneren, komplexeren Selbst-Konzepts, namentlich des konformistischen, welches seine Identität im Wesentlichen daraus bezieht, den Erwartungen bestimmter als maßgeblich erachteter anderer zu entsprechen, von diesen also als gleichberechtigtes Mitglied einer Gemeinschaft mit geteilten Wertmaßstäben anerkannt und wertgeschätzt zu werden. Die beschriebenen russischen Reaktionen auf „Smolensk“ taten im gegebenen Fall also de facto genau das, was alle zufrieden und „uns“ (die eigene Nation) beliebt(er) machte, und was folglich für gute Beziehungen sorgte.

112 Vgl. dazu Müller, Making Great Power.

304 | Elke Fein Inwieweit dies freilich tatsächlich aus einer konformistischen Handlungslogik heraus motiviert oder mehr den Umständen geschuldet war, kann an dieser Stelle nicht abschließend geklärt werden. Denn inwiefern es sich dabei um eine wirkliche strukturelle Transformation der maßgeblichen kognitiv-kulturellen Wahrnehmungs- und Handlungslogik handelte, der betreffende Wandel sich also als nachhaltig „erfolgreich“ erweist, ist naturgemäß erst im Nachhinein zu beurteilen. Dass Russland unter Putin zweifellos in gewissem Maß zu der von der selbst-schützenden Psycho-Logik angestrebten nationalen Größe/Stärke zurückgefunden hat, mag eine entsprechende Weiterentwicklung¹¹³ erleichtert und wahrscheinlicher gemacht haben. Die Tatsache, dass die infolge von Smolensk beobachtete Öffnung freilich inzwischen, unter anderem durch das russische Vorgehen auf der Krim und im Ukraine-Konflikt in vieler Hinsicht wieder in Frage gestellt wurde, spricht eher gegen eine nachhaltige Transformation. Wie unter anderem die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen infolge der Parlamentswahl vom Dezember 2011 gezeigt haben, scheint der (typisch selbst-schützende) Versuch der Staatsführung, das gesellschaftliche Leben zu kontrollieren, in der politisch vorherrschenden Motivlage noch immer über den Wunsch zu dominieren, zu einem geachteten Mitglied einer internationalen demokratischen Wertegemeinschaft zu werden und sich folglich deren Maßstäbe und Erwartungen zu eigen zu machen. Dass das (offizielle) politische Russland derzeit also weiterhin zwischen zwei Strukturmustern zu pendeln scheint, deutet gleichwohl darauf hin, dass eine Entwicklung der politischen und damit auch der Erinnerungskultur hin zur konformistischen Handlungslogik gemäß den theoretischen Annahmen der hier verwendeten Modelle der nächste anstehende bzw. realistischerweise erwartbare Schritt wäre (vgl. Fn. 47). Für eine kognitiv-entwicklungssensible Politik und Wissenschaft heißt dies unter anderem, dass es eine lohnende Aufgabe wäre, dieses Strukturmuster, wo immer möglich, zu fördern und zu stabilisieren. Zur Frage, wie dies geschehen kann, machen die hier vorgestellten Modelle ebenfalls einige erfahrungsgestützte Vorschläge, deren weitere Erläuterung jedoch über den Rahmen des vorliegenden Beitrags hinausweist.

113 Vgl. dazu insbesondere Chilton, der betont, dass kulturelle Strukturmuster, die von einer Gesellschaft als dominante Kultur historisch erstmals entwickelt werden, kollektiv auch dann nicht dauerhaft übersprungen werden können, wenn einzelne gesellschaftliche Gruppen sie bereits verinnerlicht haben. Vielmehr müssen sie an den eigenen Problemen der betreffenden Gesellschaft erarbeitet werden. Vgl. Chilton, Defining Political.

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V Abschließende Bemerkungen Vor dem Hintergrund der dargestellten Fallstudien kann die zu Beginn aufgeworfene Frage nach dem heuristischen Gewinn einer kognitiv sensiblen, strukturgenetischen Perspektive auf politische (darunter auch Erinnerungs-) Kultur somit vorläufig auf zweierlei Weise beantwortet werden. Zum einen suchen kognitivistische, entwicklungssensible Analyseperspektiven die Dynamiken (historischer und aktueller) politisch-kultureller Entwicklungen in ihren jeweiligen Eigenlogiken zu verstehen. Insofern sie strukturelle Subjekt-Objekt-Verhältnisse stets als etwas Werdendes in den Blick nehmen, setzen sie politisch-kulturelle Phänomene sowohl zu ihren jeweiligen Entstehungskontexten als auch zu ihren (hier als nicht „vollständig kontingent“ betrachteten, da durch strukturelle Eigenlogiken der Ausdifferenzierung von sozialer Kognition/Perspektivenübernahme/Identität usw. begrenzten) potentiellen Entwicklungsmöglichkeiten in Beziehung. In diesem Verständnis sind Krisen vor allem Veränderungen der Bedeutung, die bestimmten Dingen, Phänomenen oder Ereignissen gegeben wird, wobei jeweils zu fragen ist, ob es sich bei den entsprechenden Veränderungen der von den Akteuren favorisierten Wahrnehmungs- und Reaktionsmuster um Schritte in Richtung von mehr oder von weniger Komplexität (von Wachstum oder Regression) handelt. Ein Kriterium für die Beantwortung dieser Frage ist dabei unter anderem, inwieweit entsprechende Krisen der Bedeutungsgebung von den Akteuren selbst (auch) als Ausdruck von Selbstkritik erlebt und in einer Haltung von Selbstreflexion durchlebt werden, denn diese sind – in der einen oder anderen Form – stets der Preis einer dauerhaften Ablösung von einem alten, „überlebten“ SelbstKonzept.¹¹⁴ Insofern konkrete politisch-kulturelle Handlungslogiken und die von ihnen (mit-) generierten sozialen Erscheinungen dabei also in ihren strukturellen Eigenschaften betrachtet werden, bieten kognitiv-strukturgenetische Perspektiven weitgehend inhalts- bzw. kulturunabhängige Kriterien für die Analyse von und die gesellschaftliche Verständigung über Werte und deren Wandel (hier: im Medium von Geschichts- und Erinnerungskultur) an, die neben den Grenzen auch die Errungenschaften und vor allem die realistischen Entwicklungsperspektiven der betreffenden Strukturmuster sichtbar machen. Eine praktisch-politische Bedeutung der hier vorgeschlagenen Perspektive liegt demnach zum anderen darin, dass sie politischen Akteuren, die Transformationen in Richtung zunehmend komplexer Handlungslogiken (im eigenen

114 Kegan, Die Entwicklungsstufen, S. 352.

306 | Elke Fein oder in anderen sozialen Kontexten) unterstützen wollen, entsprechendes Handlungswissen an die Hand gibt. Denn „Therapien“, die auf einer falschen Diagnose basieren, hier: das politisch-kulturell maßgebliche Selbst-Konzept falsch einschätzen, bleiben bekanntlich nicht nur unwirksam, sondern können sich im Extremfall auch als grausam erweisen.¹¹⁵ Dies gilt, wie zahlreiche gewaltsame Versuche der Modernisierung, Zivilisierung, Demokratisierung usw. in der Weltgeschichte gezeigt haben, nicht nur in der Individualpsychologie, sondern auch im Feld der (historischen) Sozialwissenschaften, die sich mit den Interaktionen von Individuen beschäftigen, welche in ihrem Denken und Handeln unter anderem durch ihre kognitiven (im weiteren Sinn) Strukturen begrenzt sind.

115 Ebd. S. 235.

Danksagung Kein Buch entsteht ohne Mühen und ohne, dass dabei Dankesschulden aufliefen: Die Herausgeber danken in erster Linie den Autorinnen und Autoren des vorliegenden Bandes für ihr ebenso kritisches wie beharrliches Engagement und der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde, insbesondere ihrer Geschäftsführerin Gabriele Freitag, für die Förderung der DGO-Fachtagung Geschichte im November 2010 in Jena, der Initialzündung dieses Buches. Jutta Scherrer, Lutz Niethammer und Joachim von Puttkamer sei ausdrücklich für ihre damalige Bereitschaft gedankt, die Moderation der Panels zu übernehmen. Sie haben darüber hinaus unsere Diskussion in vielfältiger Art und Weise bereichert. Für die Aufnahme des vorliegenden Bandes in die Schriftenreihe des Imre Kertész Kollegs Jena danken die Herausgeber seinen beiden Direktoren Włodzimierz Borodziej und Joachim von Puttkamer. Einen besonderen Dank haben sich Franziska Rodewald und Immo Rebitschek für ihr umsichtiges und sorgfältiges Lektorat verdient.

Autorenverzeichnis Dr. Liliya Berezhnaya, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Projektleiterin im Exzellenzcluster „Religion und Politik“ an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Sie hat an der Moskauer Lomonossov-Universität Osteuropäische Geschichte studiert, an der Central European University in Budapest (Ungarn) im Fach vergleichende Geschichte promoviert und dort als wissenschaftliche Mitarbeiterin gearbeitet. Nach mehreren Forschungsaufenthalten in Polen, den USA und Kanada war sie Stipendiatin an der LudwigMaximilians-Universität in München. Publikationen: Iconic Turns: Nation and Religion in Eastern European Cinema since 1989, hg. mit Christian Schmitt, Leiden 2013; Longing for the Empire: State and Orthodox Church in Russian Religious Films, in: ebd., S. 99–120. Rosanna Dom (1980), ist Lehrbeauftragte an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg und Doktorandin am Lehrstuhl für Geschichte Süd- und Osteuropas an der Universität Regensburg. 2008 bis 2009 war sie Lektorin der Robert Bosch Stiftung an der Udmurtischen Staatlichen Universität Iževsk (Russland). Zuvor absolvierte sie ein Magisterstudium der Osteuropastudien, der Neueren Geschichte und der Kunstgeschichte an der Freien Universität Berlin und der Staatlichen Universität St. Petersburg. Publikation: Thomas Milde/Rosanna Dom/Markus Wollny: Der Erinnerung auf der Spur. Ein didaktischer und methodischer Exkursionsleitfaden am Beispiel der Erinnerungskultur des Ortes Workuta, Schwalbach/Ts. 2012. Dr. Elke Fein (1970), ist Geschäftsführerin des Instituts für integrale Studien in Freiburg i. Br. und koordiniert seit 2012 den Masterkurs

„Integrale Führung“ an der Fernuniversität Hagen. Sie ist Dipl.-Politologin, absolvierte ein Magisterstudium der Osteuropastudien und promovierte an der Forschungsstelle Osteuropa der Universität Bremen. 2010–11 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neuere und Osteuropäische Geschichte der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Publikationen: Kognition und politische Kultur. Sozialpsychologische Perspektiven in der Diskursforschung am Beispiel von Patronage, Klientelismus und Korruption in Russland, in: Rosemarie Lühr/Natalia Mull/Jörg Oberthür/Hartmut Rosa (Hg.): Kultureller und sprachlicher Wandel von Wertbegriffen in Europa, Frankfurt/Main u.a. 2012, S. 61–100; Adult development theory and political analysis. An integral account of social and political change in Soviet and post-Soviet Russia, in: Integral Review. A Transdisciplinary and Transcultural Journal for New Thought, Research and Praxis (2010), S. 83–114; Geschichtspolitik in Rußland : Chancen und Schwierigkeiten einer demokratisierenden Aufarbeitung der sowjetischen Vergangenheit am Beispiel der Tätigkeit der Gesellschaft Memorial, Münster 2000. PD Dr. Jörg Ganzenmüller (1969), vertritt den Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Er habilitierte 2010 in Jena mit einer Studie zur Integration des polnischen Adels in das russische Zarenreich nach den Teilungen Polens. 2004 bis 2010 war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte der Universität Jena, unterbrochen durch ein einjähriges Stipendium am Historischen Kolleg in München. 2003 wurde er an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg mit einer Dissertation zur Blockade

310 | Autorenverzeichnis Leningrads im Zweiten Weltkrieg promoviert. Dort hatte er auch 1992 bis 1999 ein Magisterstudium der Neueren und Neuesten Geschichte, der Osteuropäischen Geschichte sowie der Wissenschaftlichen Politik absolviert. Publikationen: Das belagerte Leningrad 1941 bis 1944. Die Stadt in den Strategien von Angreifern und Verteidigern, Paderborn u.a. 2005 (2., durchges. Auflage 2007); Russische Staatsgewalt und polnischer Adel. Elitenintegration und Staatsausbau im Westen des Zarenreiches (1772–1850), Köln, Weimar, Wien 2013; Kriegsbilder. Mediale Repräsentationen des „Großen Vaterländischen Krieges“, hg. m. Beate Fieseler, Essen 2010. Katharina Haverkamp (1984), ist Doktorandin an der Graduiertenschule des Imre Kertész Kollegs an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und promoviert zum Erinnerungsort Solovki von 1939 bis 1991. 2012–2013 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin und wissenschaftliche Hilfskraft am Imre Kertész Kolleg und von Mai 2011 bis Januar 2012 wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Gedenkstätte Buchenwald in Weimar, wo sie u.a. die Ausstellung: „Gulag. Spuren und Zeugnisse 1929–1956“ mitgestaltet hat. Von 2004 bis 2011 absolvierte sie ein Magisterstudium der Osteuropäischen Geschichte, der Ostslawistik und der Interkulturellen Wirtschaftskommunikation an der FriedrichSchiller-Universität in Jena. Publikation: Gedenken als Herausforderung. Zur Geschichte der ersten GULag-Ausstellung in der Sowjetunion, in: Gulag. Texte und Dokumente 1929–1956, Weimar 2014 (im Druck). Ekaterina Makhotina (1982), ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Abteilung für Geschichte Osteuropas der LudwigMaximilians-Universität München und am Institut für Zeitgeschichte München. Zurzeit absolviert sie ihre Promotion zur Erinnerungskultur an den Zweiten Weltkrieg in

Litauen. Von 2001 bis 2008 absolvierte sie ein Studium der Neueren und Neuesten sowie Osteuropäischen Geschichte und der Bohemistik in St. Petersburg, Karlsruhe, Regensburg und München. Publikationen: Vilnius. Geschichte und Gedächtnis einer Stadt zwischen den Kulturen, hg. mit Martin Schulze Wessel und Irene Götz, Frankfurt am Main 2010; Stolzes Gedenken und traumatisches Erinnern. Gedächtnisorte der Stalinzeit am Weißmeerkanal, Frankfurt am Main 2013. Thomas Milde (1982), ist Lehrer für Geschichte und Politik-Wirtschaft an der Heinrich-Nordhoff-Gesamtschule Wolfsburg. Von 2008 bis 2010 arbeitete er als Lektor der Robert Bosch Stiftung an der Orenburger Staatlichen Universität. Er hat in Dresden die Fächer Geschichte und Gemeinschaftskunde für das Lehramt an Gymnasien studiert. Publikation: Thomas Milde/Rosanna Dom/Markus Wollny: Der Erinnerung auf der Spur. Ein didaktischer und methodischer Exkursionsleitfaden am Beispiel der Erinnerungskultur des Ortes Workuta, Schwalbach/Ts. 2012. Martin Müller-Butz (1984), ist Doktorand und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Imre Kertész Kolleg der Friedrich-SchillerUniversität Jena. Sein Dissertationsprojekt untersucht die Auswirkungen der politischen und gesellschaftlichen Umbrüche auf die Lebenswege polnischer Eliten des ausgehenden russischen Zarenreichs und in der Zweiten Polnischen Republik. Von 2004 bis 2010 absolvierte er ein Magisterstudium der Osteuropäischen Geschichte und Politikwissenschaft in Jena und Krakau. Immo Rebitschek (1987), ist Doktorand an der Graduiertenschule des Imre Kertész Kollegs an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und promoviert zur Geschichte der Sowjetischen Staatsanwaltschaft in der Region Perm’ 1939–1956. Von 2006 bis 2011 absolvierte er

Autorenverzeichnis

ein Magisterstudium der Neueren Geschichte, Germanistik und Religionswissenschaft an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Dr. Anna Schor-Tschudnowskaja (1974), lehrt und forscht in Wien an der Sigmund Freud Privatuniversität mit dem Forschungsschwerpunkt „Politische Kultur in Russland“, studierte Psychologie, später Soziologie und Politikwissenschaft in Gießen. Anschließend promovierte sie in Soziologie zum postsowjetischen Wandel in Russland und gesellschaftlichen Deutungsmustern der politischen Kultur. Publikationen: Gesellschaftliches Selbstbewusstsein und politische Kultur im postsowjetischen Russland. Eine Studie zu den Deutungsmustern „eigen“, „unser“ und „fremd“, Baden-Baden 2011; „Der Zerfall der Sowjetunion. Ursachen – Begleiterscheinungen – Hintergründe“, hg. mit Martin Malek, Baden-Baden 2013. Dr. Raphael Utz (1970), ist Wissenschaftlicher Geschäftsführer des Imre Kertész Kollegs an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Von 2007 bis 2010 war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Teilprojekt B5 „Weimar und Rußland“ des SFB 482 „Ereignis Weimar – Jena: Kultur um 1800“ an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, von 2006 bis 2007 war er als Knowledge Manager bei L.E.K. Consulting GmbH München und von 2001 bis 2006 im Produktmanagement bei der SAP A.G. Walldorf (Baden) tätig. Er promovierte 2006/07 an der Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg mit einer Arbeit über den Zusammenhang von Nationalismus und Außenpolitik im Zarenreich. 1991–1996 studierte er in Heidelberg und Oxford (M.Phil. in Russian and East European Studies) und hatte Lehraufträge in Oxford, Cambridge und Heidelberg. Publikationen: Rußlands unbrauchbare Vergangenheit: Nationalismus und Außenpolitik im Zarenreich, Wiesbaden 2008: Besuch bei Goethe: Aus den Tagebüchern der

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Großherzogin Maria Pavlovna von SachsenWeimar-Eisenach 1829–1832, München 2011; The Russian Revolution of 1905 in Transcultural Perspective: Identities, Peripheries and the Flow of Ideas, hg. m. Felicitas Fischer v. Weikersthal, Frank Grüner, Susanne Hohler und Franziska Schedewie, Bloomington, Ind. 2013. Christian Werkmeister (1983), promoviert seit April 2012 mit einem Vorhaben zur sowjetischen Jugendkultur am Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte der FriedrichSchiller-Universität Jena. Er ist Stipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes. Von 2004–2011 absolvierte er an der Universität Jena ein Magisterstudium der Osteuropäischen Geschichte mit den Nebenfächern Rechtswissenschaft und Politikwissenschaft. Publikation: Johannes Lepsius und die Verbrechen an den Armeniern. Die Vorgeschichte der UN-Genozidkonvention, in: Sybille Steinbacher (Hg.): Holocaust und Völkermorde. Die Reichweite des Vergleichs, Frankfurt a. M., New York 2012, S. 83–104. Dr. Aglaia Wespe (1976), arbeitet bei der Menschenrechtsorganisation Terre des Femmes in Bern und ist Lehrbeauftragte am Departement Geschichte der Universität Basel. Sie untersuchte in ihrer Dissertation die Darstellung von Alltagssituationen in sowjetischen Dokumentarfilmen der 1970er Jahre. Das Forschungsprojekt wurde durch den Schweizerischen Nationalfonds gefördert. Zudem war Aglaia Wespe Doktorandin im Graduiertenkolleg „Gender in Motion“ der Universität Basel. Publikationen: Alltagsbeobachtung als Subversion. Leningrader Dokumentarfilm im Spätsozialismus, Göttingen 2014; Erschöpfung und Widerspenstigkeit im Dokumentarfilm Unsere Mutter – ein Held, in: Monica Rüthers/Alexandra Köhring (Hg.): Das Ende des Helden. Erschöpfungszustände in der Kunst des Sozialismus. Frankfurt/Main, New York 2014.

312 | Autorenverzeichnis Markus Wollny (1979), ist Lehrer für Geschichte und Politik-Wirtschaft an der Kooperativen Gesamtschule Tarmstedt. Zuvor absolvierte er ein Lehramtsstudium der Geschichte und Politikwissenschaften an der TU Dresden. Publikation: Thomas Milde/Rosanna Dom/Markus Wollny: Der Erinnerung auf der Spur. Ein didaktischer und methodischer Exkursionsleitfaden am Beispiel der Erinnerungskultur des Ortes Workuta, Schwalbach/Ts. 2012.

Margarete Zimmermann (1985), promoviert als Stipendiatin der Heinrich-Böll-Stiftung über die Geschichtspolitik der postsowjetischen Russisch-Orthodoxen Kirche. Von 2006 bis 2011 absolvierte sie ein Magisterstudium der Osteuropäischen Geschichte, Ostslawistik und Interkulturellen Wirtschaftskommunikation an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.