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German Pages 379 [380] Year 1991
STUDIEN ZUR DEUTSCHEN LITERATUR
Band
Herausgegeben von Wilfried Barner, Richard Brinkmann und Conrad Wiedemann
Martina Eicheldinger
Friedrich Spee Seelsorger und poeta doctus Die Tradition des Hohenliedes und Einflüsse der ignatianischen Andacht in seinem Werk
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1991
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG W O R T
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Eicheldinger,
Martina:
Friedrich Spee : Seelsorger und poeta doctus ; die Tradition des Hohenliedes und Einflüsse der ignatianischen Andacht in seinem Werk / Martina Eicheldinger. Tübingen: Niemeyer, 1991 (Studien zur deutschen Literatur ; Bd. 110) NE: G T D 16 Neuphilologische Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg (Friedrich Spee und die Tradition des Hohenliedes. Funktion und Gestaltung des geistlichen Brautschaftsmotivs in seiner Beziehung zur ignatianischen Andacht und zur humanistischen Gelehrtendichtung) ISBN 3-484-18110-9
ISSN 0081-7236
© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1991 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz und Druck: Laupp & Göbel, 7401 Nehren/Tübingen Einband: Heinrich Koch, Tübingen
Inhalt
Einleitung 0.1. Hoheslied und Hohelied-Allegorese 0.2. Zum Stand der Forschung 0.3. Methode, Ziel und Aufbau der Arbeit 1. Struktur und Methode des >Tugendbuchs< 1.1. Der Aufbau des >Tugendbuchs< und seine Beziehung zur >Trutznachtigall< 1.2. Entstehung und Adressaten des >Tugendbuchs< 1.3. Die allgemeine Verfahrensweise der Speeschen Andachten . . . . 1.4. Die geistlichen Übungspraktiken des >Tugendbuchs< 1.4.1. Seufzer, Stoßgebete u.ä 1.4.2. Geistliche Lieder 1.4.3. Bilderandachten 1.4.4. Betrachtende Lesung 1.4.5. Gleichnisse, Parabeln und Exempelfiguren 1.4.6. Zur emblematischen Struktur der >TugendbuchExercitia spiritualia< des Ignatius von Loyola als Vorbild des >Tugendbuchs< 2.1. Die Frömmigkeit der >Exerzitien< als Voraussetzung des >Tugendbuchs< 2.1.1. Die ignatianischen >Exerzitien< - Aufbau, Thematik, Verlauf und Zielsetzung 2.1.2. Grundpositionen der ignatianischen Spiritualität im >Tugendbuch< 2.2. Die Andachtsmethode der >Exerzitien< und ihr Einfluß auf die Gestaltung des >Tugendbuchs< 2.2.1. Das betrachtende Gebet in den >Geistlichen Ubungen< des Ignatius von Loyola
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2.2.2. Die >Rhetorisierung< der Andacht in den ignatianischen >Exerzitien< 2.2.3. Übereinstimmende Präsentationsformen in den >Exerzitien< und im >Tugendbuch< 2.2.4. Rhetorische Andachtselemente im >Tugendbuch< 2.3. Das rhetorische Verfahren der amplificatio als Grundstruktur der Andacht 2.3.1. Vier amplifizierende Betrachtungsmodelle im Exerzitienbuch 2.3.2. Der komparative Andachtstyp bei Spee 2.3.3. Gradatio und minutio im >Tugendbuch< 2.3.4. Die Funktion der congeries in Spees Erbauungsbuch . . . . 2.3.5. Der antithetische Typus der Tugendübung 2.4. Adaptationen und Bearbeitungen der >Geistlichen Übungen< . . .
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3. Der Ruf Christi und die menschliche Entscheidung zur Nachfolge .
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3.1. >Ruf< und >Antwort< in den ignatianischen Wahlbetrachtungen als Vorbild für Spees Andachten 3.2. Der Ruf des Guten Hirten in Kap. II 4 des >Tugendbuchs< . . . . 3.2.1. Vorbilder, Struktur und Wirkungsabsicht 3.2.2. Die Parabel vom Guten Hirtenknaben 3.2.3. Die applicatio der Schäfchenparabel auf die Person des Lesers 3.3. Ein Appell des sponsus Christus zur Weltabkehr (Kap. II 11). . . 3.4. Spees Umformung der ignatianischen Wahlbetrachtung zur Brautwerbungsszene in Kap. III 11 3.5. Zur allegorischen Einkleidung des Wahlgeschehens im >Tugendbuch
Tugendbuch< 4.2. Die Leidensnachfolge der anima sponsa in Kap. II 8 4.2.1. Aufbau und theoretische Fundierung 4.2.2. Die Trostrede des sponsus Christus 4.2.3. Die Gemeinschaft der sponsa mit Christus im mitleidenden Nachvollzug der Passion 4.2.4. Der Liedanhang 4.3. Die sakramentale unio als Vollendung der imitatio Christi in der Kommunionandacht Kap. III 10 VI
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4.4. Die mitleidende Betrachtung des leidenden sponsus in der Passionsandacht Kap. III 34 4.5. Das Verlangen nach passionaler Angleichung an den Erlöser als Ausdruck des amor spiritualis (Kap. III 3) 4.6. Die Verwirklichung der Nachfolge Christi in den Werken der Nächstenliebe (Kap. III 12-14 und 16) 5. Das Prinzip des >laudare magis< und die >Mitteilung von beiden Seiten< als Forderung der Gottesliebe
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5.1. Das >kommunikative< Wesen des amor spiritualis als strukturbildendes Moment der Andacht 5.2. Die dialogische Struktur der >contemplatio de amore< in Kap. I 3 und 4 des >Tugendbuchs< 5.3. Schöpferlob und Naturbetrachtungen in Spees Tugendübungen . 5.4. Geistliche signa als Instrumente des Gotteslobs 5.5. Die Bilder des sensus internus im Dienst des (poetischen) Gotteslobs 5.6. Die Meßfeier als höchste Form der laudatio Dei
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6. Die Jesuitenkatechese und das Katechismuswerk des Petrus Canisius als Vorbilder des >Tugendbuchs
Tugendbuch< 6.3. Die frühe Jesuitenkatechese und ihre Affinität zur Methode des >Tugendbuchs< 6.4. Bearbeitungen des Kanisischen Katechismuswerks und ihre Modellfunktion für Spees Erbauungsbuch
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7. Weitere Quellen und Anregungen für das >Tugendbuch
Industriae< 7.2.2. Christian Mayers Handbuch des geistlichen Lebens . . . 7.2.2.1. Der Exerzitiengedanke im >Enchiridion Industriarum< . . 7.2.2.2. Mayers Meß- und Kommunionandachten und ihre Beziehung zu Spee 7.2.3. Francisco Arias'Übung der Gegenwart Gottes
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7.2.4. Roberto Bellarmins >Ascensio mentis< 7.2.5. Joannes Polancos Sterbebüchlein 7.3. Einflüsse weiterer geistlicher Autoren auf das >TugendbuchConsolatio pusillanimium< des Ludwig von Blois (OSB) 7.3.3. Bartholomaeus Saluthius'(OFM) >Minerae seraphicae< . . 7.3.4. Georg Muntzius'(OPr) Gebetbücher 7.3.4.1. Konzeption und Aufbau 7.3.4.2. Die Formen des Laiengebets bei Muntzius 7.4. Spees >Tugendbuch< im Kontext der nachtridentinischen Erbauungsliteratur - Zur Arbeitsweise eines geistlichen Autors im Frühbarock
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8. Die geistliche Liebeslyrik der >Trutznachtigall
Trutznachtigall< 8.1.2. Thematik und Aufbau 8.2. Spee und der Petrarkismus 8.2.1. Die religiöse Umdeutung der weltlichen Liebesmetaphorik in der geistlichen Emblematik 8.2.2. Petrarkismus und geistlicher Petrarkismus 8.2.3. Der petrarkistische Liebesbegriff als Grundlage der >Trutznachtigall< 8.2.4. Die Übertragung der petrarkistischen Liebessituation auf Spees ältere Sponsalieder 8.3. Die Funktion der Hohelied-Motivik bei der Darstellung der unio . 8.3.1. Die Uberwindung des petrarkistischen Rollenschemas in den jüngeren Sponsaliedern 8.3.2. Lied Nr. 2 als programmatische Absage an die petrarkistische Klagehaltung 8.3.2.1. Metrum, Aufbau und >meditative< Struktur 8.3.2.2. Sprachliche Gestaltung und Gehalt 8.3.3. Das Traum- und das Suchmotiv in den Gedichten Nr. 9 und 10 8.3.3.1. Inhalt und Aufbau 8.3.3.2. Das Traummotiv 8.3.3.3. Das Suchmotiv in Lied Nr. 10 8.3.4. Die paradoxe Verkehrung des Suchmotivs im Magdalenenlied VIII
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9. Die Übertragung von Motiven der weltlichen Liebesdichtung auf die Büß- und Trostlieder
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9.1. Die Gedichtgruppe Nr. 12-19 - Aufbau, Beziehungen zum >Tugendbuch< und zu den >Exerzitien< 9.2. Die Umdeutung des petrarkistischen Motivbestands in den Bußliedern (Nr. 12 und 15f.) 9.3. Spees Trostgedicht TN Nr. 18 9.3.1. Thematik, Aufbau und Metrum 9.3.2. Die Frühlingsnatur als Sinnbild des göttlichen Trostes . . . 9.3.3. Spees Trostgedicht in der Nachfolge des secundischen Kußgedichts 9.3.4. Beziehungen zur Bildersprache der Mystik
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10. Das Motiv des Guten Hirten und seine Einordnung in die Schäferdichtung
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10.1. Zur Verchristlichung der Schäferdichtung 10.2. Spees Pastor-bonus-Gedicht (TN Nr. 37) und seine Vorstufe im >Tugendbuch< 10.3. Der Daphnis-Mythos als Brücke zwischen dem Hirtengleichnis des N T und dem Hohenlied 10.4. Die Umformung des Hirtengleichnisses in der Ekloge Nr. 40 . . 10.4.1. Die Erweiterung und Ergänzung des Suchmotivs durch pastorale Elemente 10.4.2. Die geistliche Auswertung panegyrischer Motive . . . . 10.5. Die Verbindung mythologischer und christlicher Motive in den Passionseklogen 10.5.1. Die Abrundung des Daphnis-Bildes durch weitere mythologische Motive 10.5.2. Daphnis-Christus als göttliche Sänger 10.5.3. Der Aktäon-Mythos und die christliche Jagdmetaphorik 10.6. Der Trauergesang um Daphnis-Christus in der Ekloge Nr. 45 . . 10.6.1. Naturanrufung und Beweinung des Toten durch die Vögel 10.6.2. Die laudatio funebris auf Daphnis 10.6.3. Die Trauer der Natur und der Hirten 10.7. Die Gleichniseklogen Nr. 48 und 49 als allegorischer Schlüssel zur >Trutznachtigall< 10.8. Arkadien als Ort sehnsuchtsvoller Erinnerung
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IX
11. Das Programm der compassio in der >Trutznachtigall
Lieder der Liebe. Die ältesten und schönsten aus Morgenlande. Nebst vier und vierzig alten Marienliedern.< Leipzig 1778. S. 529. Ebd., S. 532. Beispiele bei Rudolph (1962), S. 97 f. Rudolph (1962), S. 86. Herder, Werke, hg. v. Suphan, Bd. 8 (1892). Darin S. 5 8 9 - 6 5 6 : »Lieder der Liebe. Ein Biblisches Buch. Nebst zwo Zugaben.< Leipzig 1776. S. 589. Gerlemann (1965), S. 75. Oppel (1911), S. 4. Gerlemann (1965), S. 63.
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Geliebten oder der Freundin und eine elementare Freude der Liebenden aneinander, die im wechselseitigen Lob ihrer Schönheit zum Ausdruck kommt. 9 Dabei werden vor allem Bilder und Vergleiche aus der Natur benutzt - es ergibt sich also eine enge Verbindung zum ersten Themenkreis. Einer „Schäferstunde der Vorsehung" 10 verdanken wir die Aufnahme dieser ausgesprochen lebensfrohen Lyrik in den Kanon heiliger Schriften. Unter dem Einfluß asketischer Strömungen, die schon früh an Boden gewannen, hielt man es für nötig, einen >höheren< bzw. >tieferen< Sinn hinter den Worten dieses biblischen Buches zu suchen, um es auf diese Weise dem eigenen Verständnishorizont einzugliedern.11 Wie die Rollen von sponsus und sponsa jeweils ausgefüllt wurden, variiert und hängt davon ab, auf welcher Ebene des Schriftsinns sich die Interpretation bewegt. 12 In Anlehnung an die jüdische Auslegung als Jahwe und Israel deuteten die frühen christlichen Kommentatoren seit Hippolyt (3. Jahrhundert) Braut und Bräutigam des Hohenliedes als Christus und die Kirche.13 Wegweisend wurde für die christliche Exegese die von Origenes populär gemachte Interpretation als Christus und Einzelseele, die dem Individuum größeres Gewicht beimißt.14 Ambrosius fügte im 4. Jahrhundert der typologischen und tropologischen Auslegung die mariologische hinzu, die in der Gottesmutter das abendländische Virginitätsideal verkörpert sah.15 Erweitert wurde das Spektrum möglicher Deutungen u. a. durch Salomo und Sophia 16 und durch den Messias und seine Gemeinde am Ende der Tage. 17 Auch die Protestanten wichen von dieser Tradition nicht wesentlich ab. Luther hielt das Hohelied für ein Loblied auf die Herrschaft Salomons in Israel.18 Besondere Bedeutung erlangte das Hohelied in der neu aufblühenden Frömmigkeit seit dem 12. Jahrhundert als Lieblingsbuch der Mystik. 19 Eine herausragende Stellung kommt in diesem Zusammenhang den Hohelied-Predigten Bernhards von Clairvaux zu, die das Modell der Seelenbrautschaft an das Mitleiden der Passion Christi durch den Gläubigen binden und damit eine betont subjektive Frömmigkeitsbewegung entfesselten.20
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Rudolph (1962), S. 145: Cant. 4 , 1 - 7 ; 5,10-16; 6 , 4 - 7 ; 7,1-6. Timm, Lied (1982), S. 175. Curtius (1969), S. 212. Ohly, Sinn (1959), S. 10. Goebel (1914), S. 15. - Vgl. Oppel (1911), S. 7 u. 12 f. Gerlemann (1965), S. 44 f. - Vgl. Meloni (1975), S. 156. Oppel (1911), S. 13. Krinetzki (1981), S. 33 f. Ohly, Hohelied-Studien (1958), S. 11. Rudolph (1962), S. 85. Oppel (1911), S. 11. - Vgl. Ohly, Hohelied-Studien (1958), S. 8 f. Ohly, Hohelied-Studien (1958), S. 55 f.
Es liegt im Wesen der Mystik, daß ihre zentrale Erfahrung, das unmittelbare persönliche Gotterleben in der unio, mit dem irdischen Medium der Sprache nicht dargestellt werden kann. 21 Der Mystiker muß daher Zuflucht zu Bildern nehmen, in denen die sinnlich faßbare Realität über sich hinaus auf eine höhere Realität weist. 22 Schon im Neuen Testament finden sich Ansätze dazu, das beispiellose Verhältnis zwischen Gott und Mensch durch die Liebe zwischen Menschen zu veranschaulichen. 23 Durch die Übertragung der erotischen Bildsprache des Hohenliedes ins Geistig-Religiöse konnte das Hohelied der Mystik wichtige Impulse geben. Von nun an konnten alle Bilder für die weltliche Liebe auch im geistlichen Bereich verwendet werden. 24 Daraus ergab sich eine Annäherung von amor carnalis und amor spiritualis bis hin zu ihrer wechselseitigen Durchdringung, 25 so daß man für die größere Anschaulichkeit die Gefahr von Mißverständnissen in Kauf nehmen mußte. 26 Bis weit in die Neuzeit hinein wirkt das Gedankengut der patristischen Hohelied-Allegorese und der mittelalterlichen Hohelied-Mystik nach. Die »Spannkraft zwischen dem mutmaßlichen Ursprungssinn der Gedichte und ihrer offenbarungsreligiösen Uberforderung« 27 setzte ungeahnte Möglichkeiten der dichterischen Gestaltung frei, die durchaus nicht auf den engeren Bereich des geistlichen Liedes und der Erbauungsliteratur beschränkt blieben. Im Werk des Jesuiten Friedrich Spee (1591-1635) erweist sich die erstaunliche Lebenskraft dieser Tradition. Seine Erbauungsschrift >Güldenes TugendBuch< (GTB) und die religiöse Liedersammlung >Trutznachtigall< (TN), 28 die beide erst 1649 gedruckt wurden, 29 erwachsen aus der schöpferischen Auseinandersetzung mit der allegorischen Hohelied-Auslegung, deren Wirkungsgeschichte in einem begrenzten, aber, wie mir scheint, exemplarischen Ausschnitt der Literaturgeschichte untersucht werden soll.
Richter (1960), Sp. 1237. - Vgl. Hankamer (1964), S. 164. Rehm (1967), S. 237. 23 Oppel (1911), S. 9. - Z.B. 1. Kor. 13; Joh. 4,7-21. 24 Martz (1954), S. 279. 25 Jacobsen (1954), S. 36. 2« Garber (1974), S. 49. " Timm, Lied (1982), S. 179. 28 Zitate aus dem GTB, hg. v. Oorschot (1968), werden im folgenden durch Seiten- und Zeilenzahlen in arabischen Ziffern belegt; römische Ziffern beziehen sich auf die drei Teile dieses Werks. Zu Textstellen aus der TN, hg. v. Oorschot (1985), werden jeweils Liednummer (mit nachfolgendem Semikolon) und Zeilenangaben genannt. 2' Rosenfeld, Stimme (1958), S. 116 u. 197. 21
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0.2. Zum Stand der Forschung Seit Leibniz im Jahr 1677 mit seinem >Elogium Patris Friderici SpeeEiniges von dem Leben, Handeln, Leiden und Sterben des geistlichen Vaters Friedrich Spee von Langenfelde1 bekannt machte, hat die Persönlichkeit des Jesuitenpaters mit bemerkenswerter Konstanz in zahlreichen wissenschaftlichen und in noch zahlreicheren popularisierenden Veröffentlichungen Aufmerksamkeit gefunden.32 Die bewegte Lebensgeschichte des dichtenden Geistlichen in einer Zeit äußerer Verheerungen und innerer Verirrungen regte die Phantasie seiner Bewunderer schon frühzeitig zur Legendenbildung an.33 Im Grenzbereich zwischen Hagiographie und Historie formierte sich ein idealisiertes Spee-Bild, das nicht selten erzieherisch-erbaulichen Intentionen dienstbar gemacht wird. Vielfach erscheint Spee als schillernde Figur vor dem >barocken< Hintergrund von Jesusminne und Teufelsbuhlschaft. Bis heute wird der Theologe und vermeintlich >naive< Dichter beharrlich als »Gottesminner«, 34 edler Menschenfreund, Mahner und Märtyrer 35 gezeichnet, wie ihn bereits zu Beginn dieses Jahrhunderts seine Biographen J.B. Diel und B. Duhr (1901) darstellten.3' Auch das Standardwerk der Spee-Forschung aus neuerer Zeit, E. Rosenfelds Monographie aus dem Jahr 1958, konserviert viele der stereotypen Züge, mit denen das überkommene Spee-Porträt ausgestattet ist. Eine kritische Uberprüfung der biographischen und zeitgeschichtlichen Fakten auf der Grundlage weiterer Quellenforschungen wäre daher wünschenswert. Unter Spees Werken ist es vor allem das 1631 von einem unbekannten Herausgeber anonym veröffentlichte Buch gegen die Hexenprozesse, das seit der Aufklärung nahezu uneingeschränkt Anerkennung fand.37 Daß die >Cautio Criminalis< (CC), die Manifestation eines außerordentlichen Rechtsbewußtseins, noch 1939 in der Ubersetzung von J.-F. Ritter in Deutschland erscheinen konnte, mag geradezu als Ironie der Geschichte aufgefaßt werden. Nach dem zweiten Weltkrieg erwachte das wissenschaftliche Interesse an diesem denkwürdigen Buch aufs neue. Besonders H. Zwetsloot (1954) untersuchte Spees Bedeutung als Kritiker der zeitgenössischen gerichtlichen Praxis und regte eine eingehende Auseinandersetzung mit der Wirkungsgeschichte Leibniz, Werke, hg. v. Klopp, Reihe 1, Bd. 8 (1873), S. 62-65. Vorrede zu Brentanos Ausgabe der T N (1817), S. VII-XXII. Μ Vgl. die Titel-Übersicht in F.R. Reicherts Spee-Bibliographie (1984), S. 257-264. 33 Kemper, Spee (1984), S. 93. 34 Rosenfeld, Stimme (1958), S. 2. 35 Vgl. die Titel der Arbeiten von I. Rüttenauer (1950) und F.-J. Ritter, Spee (1977). 36 Die Spee-Biographie aus dem Jahr 1901 wurde von B. Duhr als 2., umgearb. und erweiterte Aufl. einer Studie des verstorbenen J. B. Diel (1892) veröffendicht. 37 Rosenfeld, Stimme (1958), S. 281-294. 31
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der C C an. Mehrere Arbeiten zu diesen Themenbereich ergaben, daß Spees Buch im 17. Jahrhundert nur geringen Einfluß auf die Justiz erlangte. Erst vermittelt durch die Schriften von Christian Thomasius und G. W. Leibniz, die Spees Schrift kannten und hochschätzten, konnte sich die >aufgeklärte< Gesinnung der C C im Rechtswesen auswirken. 38 Daß Spee trotz seiner fortschrittlichen Haltung an die Existenz von Hexen glaubte, kann nach den Ausführungen von Th. C. van Stockum (1949) und P. Reilly (1959) als sicher angenommen werden. Neben den genannten Fragestellungen waren in den letzten Jahren zunehmend auch spezielle rechtshistorische Aspekte der C C Gegenstand von Einzelstudien. Unter diesen warfen vor allem die Aufsätze von H. Waider neues Licht auf die Entstehungsgeschichte der C C und auf ihre Bedeutung für die Entwicklung des modernen Straf rechts. 39 Im Unterschied zur CC,die im Zeitalter der Aufklärung - wenn auch verspätet - Resonanz fand, blieb Spees poetisches Werk im 18. Jahrhundert nahezu unbeachtet und sollte erst von den Romantikern wiederentdeckt und intensiv rezipiert werden. 40 Mit der TN beschäftigten sich um die Jahrhundertwende eine Reihe von sprach- und formengeschichtlichen Untersuchungen, die u.a. Spees Beziehung zum Opitzschen Reformwerk erforschten. 41 Sofern die poetische Bildlichkeit der TN in dieser frühen Phase der Forschung überhaupt beachtet wurde, beschränkte man sich auf eine Betrachtung der Naturdarstellungen. H. Schachner (1906) machte auf Spees Vorbilder in der Bibel, in der christlichen Hymnendichtung, im Volkslied und in der neulateinischen Poesie aufmerksam; I. Märtens (1925) untersuchte demgegenüber die »innere Form« der Naturbilder, die - so lautet die These der Autorin - »Himmel und Erde [...] mit fast romantischer Naturtrunkenheit und ganymedischer Hingebung umfassen.« 42 Erst in den fünfziger Jahren begann sich die Literaturwissenschaft eingehender mit der Dichtung der TN auseinanderzusetzen. Als Glücksfall für die Spee-Forschung muß E. Jacobsens Studie über >Die Metamorphosen der Liebe und Friedrich Spees Trutznachtigall· (1954) betrachtet werden. In seiner ebenso materialreichen wie anregenden Arbeit zeigt der Verfasser die vielfältigen Beziehungen auf, die Spees Dichtung mit der Bildlichkeit der Mystik, mit der zeitgenössischen Emblematik, mit dem Petrarkismus und mit der antiken Liebesdichtung verbinden. Zwetsloot (1954), S. 279-304; Rosenfeld, Stimme (1958), S. 341-352; Geilen (1963), S. 23-92; Holzhauer (1984), S. 151-164. 3» Waider, Strafrechtsentwicklung (1971); ders., Kampf (1973); ders., Fehlerquellen (1974). « Schaub, Dichter (1973), S. 329-346. 41 Jungbluth (1906); Schönenberg (1911); Becker(1912); Moser(1915).-Vgl. Gentner (1965), S. 1. « Märtens (1925), S. 566. 38
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Im gleichen Jahr unternimmt W. Nowak eine Analyse der pastoralen Motivik in der T N ; allerdings verhindert in dieser Arbeit die durchgehend pejorative Etikettierung des >SchäferlichenDie Entstehung der religiösen Schäferlyrik von Petrarca bis Spee< untersucht E. Eikel (1956). Der Verfasserin gelingt es, das Erbe der humanistischen Poetik und Poesie in der T N nachzuweisen und die Bedeutung des Hohenliedes für die Entwicklung der geistlichen Schäferdichtung im 16. und 17. Jahrhundert überzeugend darzulegen. Die Reihe der Studien zur Motivik der T N setzen u.a. die Veröffentlichungen von G. R. Dimler fort, der die poetische Bildlichkeit des Liederbuches klassifiziert und vorwiegend quantitativ auswertet. 44 Nahezu unbeeinflußt von den Ergebnissen der motivgeschichtlichen Untersuchungen der letzten Jahrzehnte erschienen in demselben Zeitraum eine Reihe von Arbeiten, die einem vorwiegend werkimmanenten oder biographisch orientierten Forschungsansatz verpflichtet sind.45 Dabei wird oft in einer für die Dichtung des 17. Jahrhunderts problematischen Weise die Prämisse der Einheit von Leben und Werk als Basis für die Auseinandersetzung mit Spees poetischem Schaffen benutzt. So rücken etwa die Paraphrasen und Interpretationen von Spee-Texten in E. Rosenfelds >Neuen Studien zur Lyrik von Friedrich von Spee< (1963) das dichterische Werk des Jesuitenpaters bedenklich nahe an den Typus der Erlebnisdichtung, wie sie erst das Zeitalter Goethes kennt. 46 Unter dem Einfluß der älteren Forschungsrichtung, die Spee als die herausragende Einzelpersönlichkeit zu betrachten pflegte, wird auch bei einem Teil der jüngeren Autoren die Tendenz sichtbar, die historischen Wurzeln der T N und zeitgenössische Einflüsse, die in Spees Gedichten allenthalben wirksam werden, außer acht zu lassen oder doch zu unterschätzen. Diese Verengung der Perspektive auf die einmalige Dichtergestalt führt bisweilen dazu, daß die Gedichte der T N im kühnen Zugriff aktualisiert werden, als seien nicht bald 400 Jahre seit ihrer Entstehung ins Land gegangen. Nicht selten operieren die Interpreten überdies mit subjektiven Kategorien wie »Herznähe«, 47 mit der »begeisterten Inbrunst« 48 der Dichterseele oder gar
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Nowak (1954), S. 86. Dimler, Imagery (1970); ders., Genesis (1973); ders., Death (1975). Vgl. hierzu Harting, Einleitung zu Spees >anonymen Liedern< (1979), S. 35. Rosenfeld, Studien (1963), S. 64, 85 u. passim. Gentner (1965), S. 168. Zeller (1956), S. 78.
mit Termini wie »Gottdurchdrungenheit« und »Gottestrunkenheit«, 49 die sich jeglicher Überprüfung entziehen. Neben den Darstellungen, die die T N im ganzen würdigen, vermitteln eine Reihe von Einzelstudien und -Interpretationen oft überraschende Erkenntnisse über Spees dichterisches Schaffen: M. Lüthi (1962) macht auf die Struktur der Ringerzählung in Gedicht Nr. 43 der T N aufmerksam und erläutert Spees stufenweise Umgestaltung seiner Textvorlage; Α. M. Haas (1973) interpretiert die Echogedichte der T N ; und Th. G. M. van Oorschot (1974) stellt die Quelle des Magdalenenliedes T N Nr. 11 vor. Nur vereinzelt fand bisher Spees Beziehung zu anderen Autoren und die Wirkungsgeschichte der T N Beachtung, 50 zuletzt durch G. Schaub, der die Spee-Rezeption in der Romantik untersucht." Nachdem 1985 die seit langem angekündigte, von Th. G. M. van Oorschot besorgte Edition der T N erschienen ist, steht der künftigen wissenschaftlichen Beschäftigung mit Spees poetischem Werk eine zuverlässige historisch-kritische Textgrundlage zur Verfügung, die zugleich die Entstehungsgeschichte der Liedersammlung und die Arbeitsweise des Dichters durch eine Fülle von Informationen erhellt. Während die T N in der Forschungsliteratur der letzten Jahre aus verschiedenen Perspektiven und mit unterschiedlichem Erkenntnisinteresse beleuchtet wurde, begegnet sowohl die Germanistik als auch die Theologie dem G T B mit unveränderter Zurückhaltung. Oft begnügt man sich mit der Wiedergabe einiger Textproben und dem Hinweis, daß >kein Geringerer als Leibniz< das Erbauungsbuch geschätzt und lobend erwähnt habe. Auch nachdem Th. G. M. van Oorschot 1968 eine textkritische Ausgabe des G T B ediert und in seiner instruktiven Dissertation Entstehungsgeschichte, Quellen, Methode und Wirkung des Werks untersucht hat, wurden die Resultate seiner Arbeit kaum weiterverfolgt. Für weiterführende Quellenstudien und stilistische Analysen bietet sich hier noch ein lohnendes Arbeitsfeld. Auch die Kirchenlieder, die bereits in den zwanziger und dreißiger Jahren des 17. Jahrhunderts anonym in verschiedenen Gesangbüchern erschienen, bilden einen erst wenig erschlossenen Bereich des Speeschen Werks. Stiluntersuchungen, die der Hymnologe J . Götzen bereits in den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts unternahm, 52 und die Bemühungen der neueren Forschung konnten für rund 170 geistliche Lieder Spee als Verfasser nachweisen.53 Nach neueren Quellenfunden veröffentlichte M. Härting (1979) die bis dahin 49 50
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Rosenfeld, Stimme (1958), S. 2. Zuerst bei Jäcklein (1892); danach E. Reichert (1913); Hiller (1962); Rener, Georgic (1972); ders., Arcadia (1974). Schaub, Rezeption (1972); ders., Dichter (1973). Götzen, Kirchenlied (1928); ders., Gesangbücher (1931). Härting, Quellenlage (1984), S. 6 3 - 7 1 ; Oorschot, Verzeichnis (1984), S. 7 3 - 8 1 ; Arens, Lieder (1984), S. 8 3 - 9 4 ; Keyser (1985), S. 79 f.
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bekannt gewordenen anonymen Spee-Lieder. Detaillierte Analysen der frühen Speeschen Liedproduktionen fehlen allerdings noch gänzlich, und da ein Teil der Sammelpublikationen, die Lieder Spees enthalten, verschollen ist, stehen grundlegende quellenkritische Untersuchungen noch aus.54 Neue Anstöße erhielt die Forschung durch den 1984 von A. Arens herausgegebenen Sammelband mit dem Titel >Friedrich Spee im Licht der Wissenschaftern. Die Aufsatzsammlung umfaßt Arbeiten aus den unterschiedlichsten Forschungsdisziplinen und trägt mit ihren historischen, literaturwissenschaftlichen, rechtsgeschichtlichen, moraltheologischen, hymnologischen und liturgischen Studien zu einer Differenzierung und zur Korrektur des tradierten Spee-Bildes bei. Einen weiteren wichtigen Beitrag zur Spee-Forschung liefert H.-G. Kemper (1984). Sein kompetenter Aufsatz bietet neben einer Zusammenfassung der jüngsten Forschungsergebnisse zahlreiche Informationen zu bisher wenig berücksichtigten Aspekten des Speeschen Werks insbesondere auch zu dessen theoretischen Grundlagen - , die bei der künftigen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Spee nicht außer acht gelassen werden sollten. 55
0.3. Methode, Ziel und Aufbau der Arbeit Obwohl in der Forschungsliteratur der letzten Jahre verstärktes Interesse an Spees Persönlichkeit und Werk festzustellen ist, findet der heutige Leser dennoch nur mit Mühe Zugang zum Schaffen dieses geistlichen Barockpoeten. Mit ihrem eigentümlichen Amalgam von erotischen und religiösen Motiven befremden das G T B und die T N ein modernes Publikum eher, als daß sie es unmittelbar ansprächen. Unleugbar trennt uns eine immense Distanz von der Frömmigkeit und von der Geisteshaltung des 17. Jahrhunderts. Da sich diese Kluft durch eine vorwiegend einfühlende Deutung kaum überbrücken läßt, scheint mir eine Spee-Exegese, die sich ihres Gegenstandes unter Vernachlässigung seiner geschichtlichen Voraussetzungen bemächtigt, ebenso unangemessen wie die gelegentlichen Attacken einer Literaturkritik, die mit dem Instrumentarium der modernen Psychoanalyse den >Geist< der Poesie exorziert. Es bleibt die Aufgabe der weiteren wissenschaftlichen Beschäftigung mit Spee, dem heutigen Leser das Verständnis der fremd gewordenen Texte zu erleichtern, indem sie die Traditionszusammenhänge, in die Spees Werk eingebunden ist, rekonstruiert und seine historischen Wurzeln, die dem Gesichtskreis unseres Jahrhunderts weitgehend entschwunden sind, freizulegen ver54 55
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Harting, Quellenlage (1984), S. 65-70. - Vgl. Keyser (1985), S. 79. Nicht mehr berücksichtigt werden konnten hier die Beiträge in dem von Italo Michele Battafarano herausgegebenen Band >Friedrich von Spee. Dichter, Theologe und Bekämpfer der Hexenprozesse.< Trient 1988.
sucht. Nur so ist meines Erachtens eine Auseinandersetzung mit Spees literarischen Produktionen möglich, die den Autor und sein Werk in ihrer Eigenart gelten läßt. Eine Untersuchung der Hohelied-Tradition im GTB und in der T N bietet die Möglichkeit, das Fortleben mittelalterlicher Denkformen in der Barockzeit aufzudecken, lenkt den Blick zugleich aber auch auf die Besonderheiten der Speeschen Gestaltungweise und auf bedeutsame Neuansätze im Werk eines einzelnen Autors. Eine wesentliche Leistung Spees besteht darin, daß er die überkommenen Vorstellungen und Bilder der allegorischen Hohelied-Deutung nicht nur konserviert, sondern daß er sie in zeitgemäßer Form weiterführt und ausgestaltet, indem er sie mit verschiedenen anderen Traditionssträngen zu einer ebenso reizvollen wie spannungsreichen Einheit verschmilzt. Spee schöpft aus einer Vielzahl religiöser und profaner Quellen. Motive aus dem Alten und Neuen Testament, liturgische Texte, das aszetische Schrifttum seiner Zeit, lateinische Hymnen, volkssprachliches geistliches Liedgut, aber auch weltliche Lieder, zu denen er zuweilen Kontrafakturen schuf, ferner die antike und neulateinische Liebesdichtung sowie geistliche und weltliche Emblemsammlungen inspirierten Spees Schaffen.56 Seine Beziehungen zu den einzelnen Vorbildern und deren Einfluß auf die Gestaltung der HoheliedThematik im GTB und in der T N werden im einzelnen zu erörtern sein. Dabei empfiehlt es sich angesichts der vielfältig verflochtenen Traditionsstränge, mit denen Spees Werk verbunden ist, die Bibel, Ovid (oder andere weltliche Poeten) und zeitgenössische Autoren aus dem Jesuitenorden gleichermaßen zu konsultieren. Als wertvolle Hilfsmittel bei der Analyse des GTB und der T N erweisen sich allegorische Wörterbücher, in denen mittelalterliche Bibelexegeten und ihre Nachfolger in der frühen Neuzeit die Erträge ihrer Arbeit in konzentrierter Form sammelten.57 Diese systematisch angelegten Kompendien erlauben es, den spirituellen Sinngehalt, der Spees Bildersprache innewohnt, zu erschließen. Zur Erhellung der mystisch getönten Bilder, die im GTB und in der T N begegnen, kann weiterhin die Lektüre (pseudo-)bernhardinischer Schriften beitragen.58 Zwar kannte Spee wahrscheinlich nicht die Werke der mittelalterlichen Mystiker, aber in seinen Quellen, den zeitgenössischen populären s« Jacobsen (1954), S. 136 u. 139f.; Schönenberg (1911), S. 65; Müller (1925), S. 41; Oorschot, Abhandlung (1968), S. 89-107. 57 Näheres zu diesen Hilfsmitteln bei Ohly, Sinn (1959), S. 15-17 und Schmidtke, Tierinterpretation I (1968), S. 83-87. - Folgende Werke werden in dieser Arbeit benutzt: Eucherius von Lyon, >Formularum spiritalis intelligentiae ad uraniam liber unus< (PL 50, 727-772); Alanus ab Insulis, >Liber in distinctionum theologicalium< (PL 210, 687-1012); die Naturenzyklopädie des Hrabanus Maurus, >De universo libri viginti duo< (PL 111, 9-614) sowie Hieronymus Lauretus, >Silva allegoriarum totius sacrae scripturae< (zuerst 1570). 58 Grundlegend sind in diesem Zusammenhang Bernhards von Clairvaux >Sermones in
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Erbauungsschriften, lebt - wenn auch vielfach gebrochen - die Vorstellungswelt der bernhardinischen Hohelied-Mystik fort. 59 In ihrer Bindung an wechselnde Motivfelder unterschiedlichster Herkunft entfaltet die Liebesthematik des Hohenliedes in Spees Werk immer neue, bedeutsame Sinndimensionen. Begegnet im GTB das Brautschaftsmotiv zunächst als zentrales Strukturelement des Andachtsgeschehens, mit dessen Hilfe Spee seine geistlichen Übungen zum meditativen Rollenspiel überformt, so erweist sich die Tradition des Hohenliedes in der T N als schöpferische Mitte von Spees geistlicher Liebeslyrik. Das Verfahren der allegorischen Deutung erlaubt Spee, immer weitere Motivbereiche der profanen Poesie in seine geistliche Dichtung einzubeziehen. Zuweilen dient das Hohelied, insbesondere das Brautschaftsmotiv, nur noch als Ausgangspunkt für assoziative Erweiterungen und als Kristallisationskern, an den sich eine Vielzahl von Motiven aus der weltlichen Dichtung anlagern. Aus dem regen Austausch zwischen religiösem und profanem, antikem, mittelalterlichem und humanistischem Gedankengut schafft Spee sich eine Bildersprache, die durch ihren Beziehungsreichtum fasziniert. Im folgenden möchte ich zu zeigen versuchen, wie Spee im GTB ein geistliches Übungsprogramm entwickelt, das durch die religionspädagogische Funktionalisierung der Hohelied-Tradition im Verein mit einem erstaunlich fortschrittlichen Andachtsverfahren einen wesentlichen Beitrag zur Vertiefung und zur Individualisierung des Laiengebets leistet. Nach einem ersten Überblick über Inhalt, Aufbau, Zielsetzung und Adressaten des GTB beschreibt das erste Kapitel der vorliegenden Arbeit Spees Andachtsmethode und die verschiedenen Übungstechniken, die er in seinem Erbauungsbuch lehrt. Ausgehend von einer summarischen Charakterisierung der >Exercitia spiritualiaVitis mystica seu tractatus de passione Domini< (PL 184, 635-740). Die Möglichkeit einer direkten Beeinflussung Spees durch die Schriften der mittelalterlichen Mystiker diskutiert Oorschot, Abhandlung (1968), S. 100-104.
Weitere Quellen und Vorbilder, die den dominierenden Einfluß der ignatianischen >Exerzitien< ergänzen, sollen im sechsten und siebten Kapitel vorgestellt werden. Außer den didaktischen Grundsätzen, denen die Jesuiten in der katechetischen Praxis folgten, und außer dem Katechismuswerk des Petrus Canisius werden vorwiegend zeitgenössische Gebets- und Betrachtungsbücher berücksichtigt und im Hinblick auf Stoffangebot, Aufbau, Methode, Zielsetzung u. ä. ausgewertet. Auf eine Analyse des gesamten von Spee benutzten Quellenmaterials, das u. a. auch umfangreiche theologische Kompendien und liturgische Texte umfaßt, mußte allerdings verzichtet werden, da dies den Rahmen meiner Arbeit gesprengt hätte. Nach diesem Versuch, das GTB in den übergreifenden Zusammenhang der nachtridentinischen, insbesondere der ignatianischen, Frömmigkeit einzuordnen, soll im weiteren Verlauf der Arbeit bei der Interpretation von Gedichten aus der T N gezeigt werden, wie Spee vor dem Hintergrund der traditionellen Hohelied-Auslegung Motive und Themen der weltlichen Dichtung für seine religiöse Lyrik fruchtbar macht. Neben einigen einleitenden Bemerkungen zu Aufbau, Thematik und Vorläufern der Liedersammlung steht im achten Kapitel zunächst Spees geistliche Umdeutung des Petrarkismus im Vordergrund: Spee gestaltet das Motiv der Seelenbrautschaft mit der Sprache des Petrarkismus und verbindet in der Darstellung der unio mystica die petrarkistische Motivik mit Bildern aus dem Hohenlied; außerdem überträgt er Motive aus dem weltlichen Liebeslied auf den Vorstellungsbereich von Buße, Gnade und Trost (9. Kapitel). Ein weiterer Schwerpunkt dieser Arbeit liegt auf Spees geistlicher Schäferdichtung (10. Kapitel), seiner Interpretation des Guten Hirten als verliebten Schäfer, seinen Passionsbetrachtungen vor dem Hintergrund der poetischgefühlvollen Landschaft Arkadiens und der damit verbundenen christlichen Umdeutung der antiken Mythologie. Zum Schluß wird das elfte Kapitel darzustellen versuchen, wie Spee den Topos der Natursympathie, den die pastorale und nichtpastorale Liebesdichtung vielfach variiert, in die Vorstellungswelt der Passionsfrömmigkeit einbezieht. In der poetischen Vergegenwärtigung des Kreuzopfers und der sympathierenden >Mitwelt< erweist sich exemplarisch die Kontinuität der mittelalterlichen spirituellen Weltsicht. Die allegorische Auslegung des Hohenliedes, die Spees geistliche Liebeslyrik inspirierte und überhaupt erst ermöglichte, ist richtungsweisend und symptomatisch für diese spezifische Denkform, die in der bilderfreudigen Dichtung des 17. Jahrhunderts eine letzte Blüte erlebte.60
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Schöne (1968), S. 47. - Vgl. Schings (1966), S. 100 f. u. 104.
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1.
Struktur und Methode des >Tugendbuchs
Tugendbuchs< und seine Beziehung zur >Trutznachtigall< Spees >Tugendbuch< umfaßt, wie der Titel es ausdrückt, »Werck vnd Übung der dreyen Göttlichen Tugenden [...]« (S. 9). Den Aufbau seines Erbauungsbuches, mit dem der Verfasser die Nachfolge des mittelalterlichen aszetischen Schrifttums antritt,1 erläutert Spee in seiner kurzen Einleitung »ZUM A N D Ä C H T I G E N LESER, Von außtheilung dises Buchs« (11,2f.), die dem Benutzer zur ersten Orientierung dient: Was dan nun die abtheilung oder Ordnung dises Buchs betrifft, solle es drey Theil haben, weil es ie auch von den dreyen Göttlichen Tugenden handien wird, nemlich von dem Glauben, H o f f n u n g , vnd der Liebe Gottes (11,13-16).
In den drei Teilen des GTB soll jeweils eine dieser Tugenden eingeübt werden. Mit seinen zwölf Kapiteln nimmt der Glaubens-Teil den geringsten Raum im >Tugendbuch< ein; der Hoffnung sind 22 Kapitel gewidmet, während der dritten göttlichen Tugend mit 35 Kapiteln auf 260 von insgesamt 526 GTBSeiten schon in quantitativer Hinsicht der Vorrang zukommt. 2 Damit der Leser »recht wisse, vnd auß dem grund verstehe, wie er es nützlich brauchen könne, vnd was Glaube, Hoffnung vnd Liebe sey« (11,25 f.), stellt Spee dem Übungsteil seines Werks eine „ G E M E I N E VNTERR I C H T U N G , zu gründlichem verstand dises Buchs gantz nothwendig« (13,1 f.) voran. Diese umfangreiche Vorrede (S. 13-32) enthält neben allgemeinen Übungsanweisungen eine »hoch-nützlich[e]« (11,31) Abhandlung über Wesen und »eigenschafften aller dreyen Göttlichen Tugenden" (ll,32f.), »ohne welche dises Buch nicht soll gebraucht werden« (19,27). Glaube, Hoffnung und Liebe sind unmittelbar auf Gott gerichtet (20,7 f.) und in einer Stufenfolge aufeinander bezogen: Der Glaube »stehet [...] fürnemlich in dem verstand« (22,37) 3 und bildet die Voraussetzung für die beiden anderen Tugenden; die Liebe braucht Glaube und Hoffnung als Wegbereiter 1
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Oorschot, Abhandlung (1968), S. 96 f. E b d . , S. 123 f. Vgl. hierzu Oorschot, Abhandlung (1968), S. 49.
(22,39-23,2). Unter diesen Tugenden nimmt die dritte den höchsten Rang ein, weil sie allein die Eigenschaft besitzt, den Sünder (auch ohne Sakrament) zu rechtfertigen (23,11-40). Es gibt allerdings zwei Arten der Liebe, wie Spee hervorhebt (26,18-20): Die egozentrische »Lieb der Begierlichkeit« (26,22) betrachtet den begehrten Gegenstand lediglich als Instrument zum Nutzen dessen, der ihn begehrt (26,22-27,3); im Gegensatz dazu wünscht man mit der vollkommenen »Liebe der Gutwillichkeit oder Freundtschafft« (27,36 f.) einer geliebten Person selbstlos alles Gute (27,4-18). Nach Spees Auffassung ist der amor concupiscentiae, wenn er sich auf ein gegenwärtig nicht erreichbares Ziel richtet, mit der Tugend der Hoffnung, die ja ebenfalls einen futurischen Aspekt aufweist, identisch (29,24-32).4 Beim Fortschreiten in den Übungen der drei göttlichen Tugenden deckt das GTB Schritt für Schritt ihre verschiedenen Aspekte und Wirkungen auf.5 So äußert sich die Hoffnung in unbedingtem Vertrauen auf die göttliche Gnade (Kap. II 1-8) und im Verlangen nach Gott (Kap. II 9-16); verschiedene Weisen, das Vaterunser zu beten, sollen als Übungen der Hoffnung zur »erlangung des geliebten Gottes helffen« (248,25 f.; Kap. II 17-22) und leiten über zum dritten Teil des Werks. Dieser Teil beginnt mit Übungen, die die Weltverachtung und die Bereitschaft zum Martyrium wecken oder stärken wollen (Kap. III 1-3). Aufrichtige Reue, »Zerknirschung deß Hertzens« (322,5f.; Kap. III 9) über begangene Sünden, der Wunsch, Gott zu loben (Kap. III 4-8 und 19-28), und tätige Nächstenliebe (Kap. III 11-17) nennt Spee als weitere Aspekte der göttlichen Liebe. Die letzten Kapitel dieses Teils (Kap. III 27-35) erklären den Ablauf der Messe und bereiten den Übenden auf die Kommunion vor. Nicht allein als das Werk, in dem Spees Frömmigkeit und seelsorgerisches Anliegen am deutlichsten zum Ausdruck kommen, 6 sondern auch als Voraussetzung und Vorstufe der TN gebührt dem >Tugendbuch< Beachtung. In den Prosatext des Andachtsbuches sind zahlreiche Lieder eingeschoben, von denen ein Teil den Grundstock der >Trutznachtigall< bildet. Fast die Hälfte der 52 in der TN vereinten Gedichte hatte Spee zunächst für die Aufnahme ins GTB vorgesehen.7 Schon die Übernahme einer größeren Zahl von >TugendbuchTrutznachtigall< läßt auf einen engen Zusammenhang 4
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Zu dieser etwas problematischen, weil überscharfen Unterscheidung: Oorschot, Abhandlung (1968), S. 58-62. Zum Folgenden: ebd., S. 51-57 u. 63-67. Kemper, Spee (1984), S. 94. TN Nr. 3-8, 11-18, 20-22, 24 f., 28, 38, 42 f. - In seiner letzten Fassung des GTB, auf der die sog. Düsseldorfer Handschrift basiert, hat Spee Nr. 11,14 u. 42 der T N aus dem Andachtsbuch entfernt. Vgl. die gestrichenen Passagen im Anhang des GTB S. 535-547 (TN Nr. 11), S. 546 f. (TN Nr. 14) u. S. 554-557 (TN Nr. 42). - Zur Entstehungs- und Textgeschichte der beiden Werke: Rosenfeld, Stimme (1958),
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zwischen beiden Werken schließen. In dem Erbauungsbuch, von dem Spee zumindest einzelne Kapitel schon 1627/28 fertiggestellt hatte,8 sind die zentralen Themen des Liederbuchs schon vorgebildet. Der Herausgeber des textkritischen GTB-Drucks nennt Spees Erbauungsschrift »die Knospe, die sich in der T r N in voller Pracht entfaltet hat«.' Für das Verständnis der >Trutznachtigall< stellt das >Tugendbuch< eine unentbehrliche Grundlage bereit.10
1.2. Entstehung und Adressaten des >Tugendbuchs< Spee wendet sich im GTB nicht an eine gelehrte Leserschaft - in diesem Fall hätte er sich wie in der >Cautio Criminalis< der lateinischen Sprache als des angemessenen Verständigungsmittels unter Gebildeten bedient vielmehr spricht der Verfasser in diesem Werk zu einem größeren Kreis interessierter Laien. Das >Tugendbuch< ist für alle »Gott-liebenden, andächtigen, frommen Seelen« bestimmt, wie der Untertitel (S. 9) verkündet. Uber die Gründe, die ihn dazu bewogen, ein Andachtsbuch zu verfassen, schreibt Spee im Vorwort des GTB, eine »geistliche Tochter so sich der weit abgethan, vnd dem dienst Ihres Breutigams Christi Jesu gantz ergeben hatte« (13,4-6), habe ihn wiederholt gebeten, daß er »ihr zu papier setzen wollte, wie man sich das gantze jähr durch, in den fürnemsten Tugenden nutzlich vben köndte« (13,6-8). Da die Jesuiten im allgemeinen keine geistlichen Übungen in schriftlicher Form an Außenstehende weitergeben durften,11 hat diese fromme Frau Spees Ausführungen zufolge (13,8-19) nach längerem Drängen die Zustimmung der Ordensleitung zu dem von ihr gewünschten Erbauungsbuch erwirkt und damit den Anstoß zur Niederschrift des GTB gegeben. Es ist zweifelhaft, ob diese Anekdote die Entstehungsgeschichte des Andachtsbuches in authentischer Form wiedergibt. Der Herausgeber des >Tugendbuchs< hat festgestellt, daß Spee die Übungen des GTB ursprünglich nicht nur für eine einzige Person verfaßt haben kann.12 Als er das GTB zusammenstellte, verwandte Spee auch Andachten, die schon seit längerer Zeit unter seinen Beichtkindern verbreitet und praktisch erprobt waren.13 Offenbar greift der Verfasser des >Tugendbuchs< in der Einleitung zu seinem Werk auf die überlieferten Formeln der Exordial- und BescheidenS. 197 u. 201-211; Oorschot, Nachwort zur T N (1985), S. 511-532; Oorschot, Abhandlung (1968), S. 8 f. u. 17-20. « Oorschot, Abhandlung (1968), S. 42-45. ' Ebd., S. 167. 10 Jacobsen (1954), S. 10. 11 Oorschot, Abhandlung (1968), S. 96. 12 Ebd., S. 29 f. » Ebd., S. 36f.
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heitstopik zurück. 14 Wenn Spee eingangs den gelehrten Leser um Nachsicht für sein schlichtes Werk bittet (11,3-12), eröffnet er das GTB mit einer geradezu >klassischen< captatio benevolentiae. Ein topischer Hinweis auf die Schwierigkeiten des schriftstellerischen Unternehmens (13,21 f.) darf ebensowenig fehlen wie die Anrufung göttlicher Hilfe (13,24-29), die nicht nur in religiösen Werken der damaligen Zeit einen festen Platz einnimmt. Wie Spee versichern unzählige antike und mittelalterliche Autoren vor ihm auf den ersten Seiten ihres Werks, daß sie nicht aus eigenem Antrieb und aus persönlichem Geltungsbedürfnis mit ihrer Arbeit an die Öffentlichkeit treten, sondern daß sie sich erst durch das hartnäckige Zureden wohlmeinender Freunde oder angesehener Persönlichkeiten - bei Spee sind es ein frommes Beichtkind und die Vorgesetzten im Orden - von dem Nutzen ihres bescheidenen Werkleins für die lesende Öffentlichkeit überzeugen ließen.15 Doch auch wenn Spee in der Einleitung des >Tugendbuchs< dem Systemzwang einer literarischen Konvention gehorcht, gibt sein exordium einige Hinweise auf die Zielgruppe, an die sich das Andachtsbuch vornehmlich wendet. Als sicher kann nach den Nachforschungen von J. Kuckhoff und Th. G. M. van Oorschot gelten, daß das GTB für Devotessen konzipiert war. 16 Devotessen und ähnliche geistliche Gemeinschaften, die zu Beginn des 17. Jahrhunderts in größerer Zahl entstanden, bilden die Vorläufer der Schwesternkongregationen, die jedoch erst im 19.Jahrhundert kirchlich anerkannt wurden. 17 Fromme Frauen schlossen sich in lockeren Organisationen zusammen, lebten aber nicht in Klausur wie die Mitglieder der alten Klosterorden und legten auch keine Gelübde ab wie jene; doch verpflichteten sie sich durch ein befristetes Versprechen zu einem keuschen Lebenswandel und übernahmen soziale und karitative Aufgaben im Unterrichtswesen oder in der Krankenpflege. 18 In Köln, einem der Zentren der Devotessenbewegung, unterstützten derartig organisierte Frauen die Jesuiten beim Katechismusunterricht.19 Mit der geschilderten Lebensform nahmen die Devotessen und ähnliche religiöse Gruppierungen wie die Ursulinen, Englische Fräulein oder die Congregatio Beatae Mariae Virginis eine ziemlich ungesicherte Stellung zwischen weltlichem und geistlichem Stand ein, die Spee mit der Bezeich" 15
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Curtius (1969), S. 89 u. 93-97. Zum Auftragstopos und weiteren Elementen der Exordialtopik vgl. Plett (1979), S. 14. Oorschot, Abhandlung (1968), S. 36-41. Näheres zur Entstehung dieser Frauengemeinschaften bei Voß (1952), S. 54-61; Kuckhoff, Mädchenschulwesen (1932), S. 28-33; Erlinghagen (1972), S. 161-178. Oorschot, Abhandlung (1968), S. 38f. Kuckhoff, Mädchenschulwesen (1932), S. 8-12.
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nung »Geistliche[r]- oder Mittelstand« (493,33; ähnl. 494,27.f.) oder »Weltgeistliche^) Personen« 20 umschreibt.
1.3. Die allgemeine Verfahrensweise der Speeschen Andachten Für eine sinnvolle, gewinnbringende Durchführung seiner Tugendübungen hält Spee es für unerläßlich, dem Benutzer des GTB die theoretischen und methodischen Grundlagen seines geistlichen Übungsprogramms in leicht verständlicher Form darzulegen.21 In der >gemeinen Vnterrichtung< (besonders S. 14-19) erläutert der Verfasser in Grundzügen die Methode seines Erbauungsbuches und zeigt dem Leser, »Wie man dises Büchlein eigentlich gebrauchen solle« (11,30). Am Samstag jeder Woche soll die >geistliche Tochter< zur Beicht kommen. Dann, so verspricht Spee, wird ihr der Beichtvater »auff einem zettel ein Capitell geschrieben geben, welche Tugend, vnd auff welche weiß du sie die zukünfftige woch vben sollest« (14,3-5). Spee verlangt intensive Beschäftigung mit den Übungen des >TugendbuchsTugendbuchs< legt Spee einfache, aber wohldurchdachte Prinzipien zugrunde. Um den Leser nicht zu überfordern und um ihm die Konzentration auf den jeweiligen Übungsgegenstand zu erleichtern, gliedert Spee den Stoff jedes Kapitels in eine Reihe kurzer, überschaubarer >PunkteMitspielen< einladen. In engem Zusammenhang mit dem Gebrauch der Gesprächsform steht eine weitere methodische Eigenart des >TugendbuchsTugendbuchs< soll die vorgelegten Fragen »fein lang- vnd bedachtsam« (35,10) lesen, damit er den Übungstext vollkommen versteht; »sondere obacht« (15,26) empfiehlt Spee seinem Schützling darauf zu verwenden, daß er nach der Lektüre jedes >TugendbuchErinnerung< seiner Vorrede auf die Notwendigkeit hin, die Andachtsübungen mit »auffmercksamkeit« zu absolvieren.26 Spees Verfahren verlangt vom Teilnehmer der Andacht intensive Mitarbeit und innere Beteiligung am Gegenstand der Andacht. Die Leistungen, die der 23
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Ebd., S. 111. Ebd., S. 111. Ebd., S. 111 u. 114. 15,5f.; 8f., 16f. u. 36f.; ähnl. in Kap. I 4, S. 48, 4f. Bei der Andacht in Form von Fragen und Antworten wird man nicht »verstrewet« (248,30); »pausen helffen vill zur andacht vnd auffmercksamkeit daß man sich nicht vbereile« (256,11 f.). Kap. III 18 fordert entsprechend, daß man die Übungstexte »in der stille mit auffmercksamkeit vnd mit etwas nachdenckens vberliset« (381,19f.). 17
Seelsorger von seinem Schützling verlangt, beschränken sich nicht auf die Lektüre erbaulicher Texte; vielmehr wird der Gläubige, wenn er die Anweisungen des Geistlichen befolgt, gerade in den Zäsuren, die zwischen den einzelnen Textabschnitten vorgesehen sind, gesteigerte seelische Aktivitäten entfalten.27 Darum betont Spee eingangs zu Recht, sein Buch sei »eigentlich zum Brauchen, vnd nicht nur zum Lesen gemacht« (11,24). Wichtig sind die Pausen nicht nur, um den Leser durch eine übersichtliche Gliederung zu entlasten, sondern vor allem auch, weil sie dem Benutzer des >Tugendbuchs< einen Freiraum der Andacht eröffnen, in dem sich der Gegenstand der geistlichen Übung »recht ins hertz hineinsencken« (124,30 f.) kann. In der entscheidenden Phase des Andachtsgeschehens, die Spee mit einer Pause bezeichnet, vollzieht sich der Ubergang vom rationalen Erfassen des Gegenstandes zu seiner emotionalen Durchdringung,28 die notwendig ist, damit sich der Übende die Glaubenswahrheiten als persönliches Erleben gänzlich aneignen kann. Die einfache, aber psychologisch und didaktisch wirksame Struktur, die Spee seinem geistlichen Übungsprogramm zugrunde legt, erweist sich als äußerst flexibles und ausbaufähiges Schema. Nur die wenigsten Kapitel des >Tugendbuchs< begnügen sich mit einem einfachen »Ja oder Nein« (15,14) des Beichtkindes. Schon in den ersten Übungen gestaltet Spee die Antworten zusehends ausführlicher und differenzierter - oft steigern sie sich zu emphatischen Bekenntnissen, die in einen glühenden Gebetsruf münden.29 Spee ergänzt und erweitert das Grundmuster seines Andachtsverfahrens auf vielfältige Weise, wobei er allmählich von den einfachsten zu immer komplexeren Übungsformen fortschreitet. Der Leser des >Tugendbuchs< lernt eine Reihe einfacher, in ihrer Wirksamkeit ζ. T. schon jahrhundertelang erprobter Gebets- und Andachtspraktiken kennen, die ihn zu einem gesammelten mündlichen Gebet anleiten und Schritt für Schritt zum betrachtenden Gebet hinführen. Besonders der erste Teil des >Tugendbuchs< erscheint unter diesem Blickwinkel geradezu als Propädeutikum eines vertieften spirituellen Lebens, indem er für die anspruchsvolleren Übungen im zweiten und dritten Teil des Andachtsbuchs ein tragfähiges Fundament, bestehend aus einer Anzahl elementarer Übungstechniken, bereitstellt. U. a. umfaßt das Übungsprogramm des >Tugendbuchs< eine Unterweisung im Gebrauch frommer Seufzer (Kap. I 2 und passim), eine Auswahl von
27 Oorschot, Abhandlung (1968), S. 118. 28 Ebd., S. 118. » Z.B. Kap. 17, S. 68,5-15; 70,16-27u. 70,32-71,2; Kap. 111, S. 83,25-32; 85,3-14u. passim.
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Stoßgebeten und geistlichen >ConceptenTugendbuchs< runden das reiche Übungsangebot ab und tragen zur Auflockerung der geistlichen Lektionen bei. Neben diesen Praktiken, die ausführlich erklärt und gründlich eingeübt werden, gibt das GTB an verschiedenen Stellen kurze Hinweise für den Vollzug weiterer Tugendakte. Zahlreiche Beispiele und Übungsvorschläge findet der Leser in Kap. III 30, das ein »Schönes Register etlicher vnterscheidlichen guten werck« (499,2) enthält. Spee empfiehlt in diesem Kapitel neben einer größeren Anzahl von Werken der Nächstenliebe die Gewissenserforschung unter Anleitung des Seelsorgers (Nr. 91 und 94), einige einfache Bußübungen (Nr. 46,100,115), eine Reihe von Tugendübungen zu Ehren der Passion Christi (ζ. B. Nr. 47 f., 50-52,69-72,114), das Beten des Psalters (Nr. 144) und des Marianischen Offiziums (Nr. 138), die Absolvierung der »Sieben Fußfäll Christi [...] die Römerfart, oder dergleichen bittgäng« (505,30 f.; Nr. 62) und viele weitere Akte der Frömmigkeit, die auch von kulturgeschichtlichem Interesse sind. Die Einsicht, daß eine sorgfältige Erklärung des Übungsverfahrens dem Leser die effektive Durchführung seiner Andachtsübungen erleichtert, veranlaßt Spee dazu, den meisten Kapiteln seines Erbauungsbuches theoretische Einleitungen voranzustellen.34 Exakte Übungsanweisungen machen den Benutzer des >Tugendbuchs< mit verschiedenen Techniken des Gebets und der Andacht bekannt und erläutern Nutzen, Wirkungsweise sowie die Anwendungsmöglichkeiten der einzelnen aszetischen Praktiken. Typisch für viele Kapitel des >Tugendbuchs< sind Einleitungen wie die folgenden zu Kap. II 2 und 6: Diese anstehende woch magstu täglich folgende kleine, aber doch kräfftige vbung am bestimpten viertelstündlein an die hand nehmen: Also das du erstlich das Fundament so ich hie setzen werd, langsam vberlesest, vnd dir fürbildest. Darnach aber die fragen formirest, wie folgen wird (121,15-19). 30
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Kap. 1 5 ; II 12; III 18. Kap. II 12, S. 349,20-29; Kap. III 29, S. 488,12-489,29. Kap. III 2; III 8, S. 169,15-36; Kap. III 24 u. im Anhang S. 534,16-24 u. 551,32-552,6. Kap. I 6 u. 10-12, II 2-6, III 1 u. 33. Oorschot, Abhandlung (1968), S. 114 f.
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Oder: Anstehende woch magstu täglich [ . . . ] folgende vier puncten bedachtsam vberlesen vnd beantworten, so wird sich allgemach in deinem hertzen eine recht vertrawliche neigung zu Gott entzünden (144,23-26).
Meist handelt es sich wie in den zitierten Beispielen um kurze Hinweise für die Andachtspraxis; zuweilen - vor allem im dritten Teil des >Tugendbuchs< dehnt Spee seine theoretischen Einleitungen jedoch zu mehrere Seiten umfassenden Abhandlungen von relativ hohem Abstraktionsniveau aus, die nur für besonders >verständige< Leser bestimmt sind (vgl. 369,29 und 484,5 f.), wie der Verfasser anmerkt. Mit ihrer ausführlichen Unterweisung »Von den eigenschafften aller dreyen Göttlichen Tugenden« (19,28), ihren Erscheinungsformen und Wirkungen bietet bereits die Einleitung zum GTB ein erstes Beispiel für Spees Bemühen, die Andachtsübungen seiner geistlichen Tochter< durch eine zweckbezogene theoretische Fundierung, die dem Fassungsvermögen des Lesers angepaßt ist, zu untermauern. Danach erläutert bereits eines der ersten Kapitel des >Tugendbuchs< (Kap. I 2) im Zusammenhang mit dem martyrium in voto den für Spees Theologie zentralen Begriff der Intention; 35 an anderer Stelle ergänzt er diese Ausführungen durch eine Erklärung des sacramentum in voto. 36 Weiterhin erörtert der Seelsorger die Frage der Verdienstlichkeit guter Werke, die zwar intendiert, aber tatsächlich nicht vollzogen werden.37 Die Kapitel III 12 und 17 geben mit ihrer Unterweisung vom Wesen der Nächstenund Feindesliebe praktische Hinweise für den täglichen Umgang mit anderen Menschen. Soweit ihre Kenntnis für das Verständnis und die Durchführung der Tugendübungen notwendig ist, macht Spee den Leser mit den Grundbegriffen der zeitgenössischen Seelenlehre vertraut, die sich im wesentlichen auf die aristotelische Psychologie beruft: 38 Kap. II 9 belehrt über den Zusammenhang zwischen Sinneswahrnehmungen und Seelenregungen (179,10-13), ein Exkurs in Kap. III 17 erklärt als Grundlage einer Übung der Gottesliebe den sinnlichen oder rationalen Ursprung von Zuneigung und Haß (369-375). In einem späteren Abschnitt (Kap. III 21) legt Spee in leicht verständlicher Form die aristotelisch-scholastische Zeichenlehre dar, die der Gläubige im weiteren Verlauf des Übungsprogramms als Hilfsmittel der Andacht gebrauchen soll. Zu demselben Zweck lernt der Leser im >Fundament< des Kapitels III 25 die Lehre vom »Phantasma« und den »Species intelligibiles« (451,13 f.) kennen, wie sie »die Philosophi, oder weltweisen in den bücheren so genennet werden De Anima« (450,13 f.) vortragen. 35
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Oorschot, Abhandlung (1968), S. 68-74. Kap. II 2. - Oorschot, Abhandlung (1968), S. 71-73. Kap. III 13, S. 356,20-40; Kap. III 16. Kemper, Spee (1984), S. 97.
Eine weitere wichtige Gruppe von Erklärungen im letzten Teil des >Tugendbuchs< bezieht sich auf die Meßfeier. Kapitel III 26, das durch gelehrte Argumentation, gestützt auf Bibelstellen, die »nichtigkeit alles vnseres Gottesdienst vnd Gottes lob« (465,3) beweist, stellt den theoretischen »Vortrab« (464,26) für den Meßunterricht im nachfolgenden Kapitel dar. Zusammen mit der einleitenden Aufforderung zur wöchentlichen Beicht und mit der Verpflichtung des Lesers auf das Tridentinische Glaubensbekenntnis in Kap. I I 3 9 bilden die abschließenden Unterweisungen über die Feier der Messe und über den Empfang der Kommunion (Kap. III 26-35) den unverzichtbaren kirchlichen Rahmen, in den die praxis pietatis des einzelnen Gläubigen eingebunden ist. Mit seiner charakteristischen Verbindung von theoretischer Unterweisung und praktischer Tugendübung ergänzt das >Tugendbuch< gezielt die religiösen Kenntnisse des frommen Laien, schult seine Fertigkeiten im Gebet und vermittelt dem Gläubigen eine Fülle von Anregungen für eine fruchtbare und abwechslungsreiche Gestaltung seiner privaten Andacht und damit auch für sein spirituelles Wachstum in den drei göttlichen Tugenden. Auf den folgenden Seiten soll eine Reihe für das >Tugendbuch< grundlegender Andachtsformen vorgestellt werden, mit deren Hilfe Spee ein vielseitiges Angebot geistlicher Übungen aufbaut.
1.4. Die geistlichen Übungspraktiken des >Tugendbuchs< 1.4.1. Seufzer, Stoßgebete u. ä. Bereits im zweiten Kapitel seines Erbauungsbuchs ergänzt Spee die Grundstruktur seiner Tugendübungen durch eine kurze Einführung in die Technik des andachtsfördernden Seufzens (40,8-11). Dieses Verfahren begleitet den Benutzer des GTB durch das ganze Übungsprogramm hindurch. Th. G. M. van Oorschot hat in seiner Dissertation die zentrale Bedeutung der Seufzer für die Methodik des >Tugendbuchs< erkannt:40 Sie dienen wie die Pausen zur Gliederung der Übung und als Ruhepunkte für den Leser und werden oft in Verbindung mit ihnen oder an Stelle der Pausen ausgeführt. 4 ' " « 41
Oorschot im Kommentarteil des G T B (1968), S. 586. Oorschot, Abhandlung (1968), S. 116-121. Vgl. 36,9-11: »daß du nach der antwort auch noch mit einem tieffen Seufftzer beschließest an statt einer Pause«; 53,13-16: »Seufftze, vnd ruhe ein wenig vnd also thue in allen articulen, wo dises Sternlein*· stehet; dan daß solle bedeuten, daß du allda etwas ruhen, vnd seufftzen sollest, an statt einer pausen: weil solches das gemüt ein wenig erquicket«; ähnl. 256,9-12: »vnd wo ein solches * Sternlein stehet, da thue einen tieffen Seufftzer; halte ein wenig still; vnd gehe darnach fort. Dan solche pausen helffen vill zur andacht vnd auffmercksamkeit daß man sich nicht vbereile.«
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Im Kontext der >TugendbuchTugendbuchs< lassen sich untermauern und ergänzen, wenn man ihre Wurzeln in der Tradition der christlichen Spiritualität noch stärker berücksichtigt, als das bisher geschah. Ihre hohe Wertschätzung bei den Kirchenvätern und vielen geistlichen Autoren vom Mittelalter bis ins Barockzeitalter verdanken die Seufzer zunächst ihrer Erwähnung in der Hl. Schrift. Schon das Alte Testament, vor allem die Psalmen und das Hohelied sprechen häufig und in verschiedenen Zusammenhängen von Seufzern. 44 In der Praxis des spirituellen Lebens genossen aspirationes, gemitus oder suspiria seit jeher großes Ansehen, weil sie außerordentliche Wirksamkeit mit äußerst einfacher Durchführbarkeit verbinden: 45 Die >Technik< des Seufzens besteht darin, daß ein elementarer physiologischer Vorgang, eine unwillkürliche Lebensäußerung, zum Gebetsakt erhoben und bewußt in den Dienst der Andacht gestellt wird. Eine umfassende Würdigung der Seufzer durch einen zeitgenössischen Autor, der alle für die Andachtspraxis wesentlichen Aspekte berücksichtigt, konnte Spee z.B. in der erbaulichen Schrift >Vergiß Gott nichtInstitutio Spiritualis< (1551) den Nutzen der aspiratio als »tertium ad unionem instrumentum«: « « « 45 46
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Oorschot, Abhandlung (1968), S. 118. Ebd., S. 118 u. 120 f. Vansteenberghe (1937), Sp. 1019f.-Z.B. Ps. 6,7; 12,6; 31,11; 38,10; 102,6. Lercaro (1959), S. 346. Zuerst spanisch 1587. - Vgl. Oorschot im Kommentar zum GTB (1968), S. 621 u. ders., Abhandlung (1968), S. 119. - Zitiert wird im folgenden nach der Ausgabe Köln 1619.
VT autem Asceta reddatur ad sanctam introuersionem idoneus, ediscat & commedet memoriae verba aliqua ad aspirationum suauia atque ignita, quae in Deum eiaculetur, & quibus vbique locorum, siue quiescat siue progrediatur seipsum ad illum reuocet, seque ei coniungat & vniat.47
Die Tradition der christlichen Spiritualität erblickt in den Seufzern der andächtigen Seele spontane Äußerungen des Gottverlangens, die ihren Ursprung im prädiskursiven affektiven Bereich der Persönlichkeit haben, direkt aus dem Herzen des Gläubigen aufsteigen und den sog. motus anagogicus, den Aufschwung der Seele zu Gott, bewirken bzw. begleiten.48 All diese Bedeutungskomponenten der aspiratio kennt auch Spee und versucht, sie dem Benutzer des >Tugendbuchs< nahezubringen. Gottverlangen und Seufzen sind für Spee geradezu austauschbare Begriffe.49 »Durch die Hoffnung seind wir Gottes begierig; wir warten, verlangen, seufftzen nach ihm« (20,27 f.), erklärt der Seelsorger in der Vorrede des GTB seinem Beichtkind, und die andächtige Seele betet in Kapitel III 32 zu Gott: »dich allein begere ich; nach dir seufftze ich, nach dir verlanget mich« (515,29 f.).50 Seufzer veranschaulichen und befördern den »zarten affect« (199,15) der Gottesliebe. Sie dringen aus dem Herzen (200,30-34; 250,17) oder aus dem »Seelen-grund« (229,16) und »steigen auff« (233,14) zu Gott. Dieselbe Dynamik des motus anagogicus beschreibt die Übungsanweisung zu Kap. II 12, die den Gläubigen auffordert: »so lasse einen tieffen seufftzer von grund deines hertzens mit auffgeschlagenen äugen, gen Himmel gehen«.51 An einer anderen Stelle des >Tugendbuches< verdeutlicht ein poetisches Bild den ascensus der frommen Seele zu Gott mit Hilfe andächtiger aspirationes: Seufzer erklimmen die Himmelsleiter und tragen das Menschenherz zu Gott, um es ihm als Opfer darzubringen (219,6-18). Die vielfach gerühmte Effizienz wiederholter aspirationes beruht auf psychologischen Gesetzmäßigkeiten, die schon früh von den Theoretikern und Praktikern der christlichen Seelenführung für das Gebetsleben verwertet wurden. Seufzer gelten als spontane Manifestationen des amor divinus. Als physische Äußerungen einer seelischen Verfassung können sie willentlich beeinflußt werden. Eine derartige, scheinbar nur äußerliche, Manipulation wirkt sich auf die verursachenden Seelenkräfte aus; häufiges Seufzen kann daher die Gottesliebe steigern oder überhaupt erst wecken. So ermöglicht die enge Wechselbeziehung zwischen Körper und Psyche dem Menschen, durch den natürlichen «7 Opera omnia (1632), S. 306. « Vansteenberghe (1937), Sp. 1017 f.-Vgl. Lercaro (1959), S. 346 f. u. Hausherr (1960), S. 287 f. 49 Oorschot, Abhandlung (1968), S. 118 f., Anm. 24. 50 Vgl. 218,5-7: »thue einen tieffen seufftzer zu JESU, vnd Sprech: Ach JESU, kom, kom JESU; nach dir verlanget mich; ach mögte doch mein hertz für begierd zerspringen?« Vgl. 259,7: »seufftzen vnd verlangen«; ähnl. 220,18. 51 98,21 f.; ähnl. 179,33f.; 180,1 f. u. 16f.
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Akt der oratio aspirativa seine Seele für den Empfang der übernatürlichen Gnade zu disponieren.52 Ein besonderer Vorzug der aspirationes, der zugleich auch ihren auffallend häufigen Gebrauch im >Tugendbuch< erklärt, besteht darin, daß sie aufgrund ihrer Kürze und Simplizität in jeder Lebenslage und auf jeder Stufe des spirituellen Lebens praktiziert werden können, um die persönlichen Anliegen des Beters vorzubringen.53 In der Anfangsphase des geistlichen Lebens dienen Seufzer als Mittel zur Läuterung der Seele; der Gläubige benützt sie als Waffe gegen Anfechtungen und bringt durch aspirationes seine Reue und die Bitte um Vergebung zum Ausdruck oder erfleht Gottes Erbarmen in äußerer und innerer Not. 5 4 Durch Seufzer lobt die Seele Gott und bringt ihm ein wohlgefälliges Opfer dar. Bei der Andacht sind aspirationes gerade für den im Glaubensleben noch Unerfahrenen ein unschätzbares Mittel zur inneren Sammlung und eine Quelle der Kraft. 55 Den Fortgeschrittenen leiten Seufzer auf dem Weg der inneren Vervollkommnung bis zur unio. Häufiges Wiederholen der oratio aspirativa erzeugt in der Seele einen übernatürlichen Habitus der Caritas und läßt die Andacht des Gläubigen in eine dauerhafte Gebetshaltung einmünden, da der multiplikatorische Effekt der Gebetsseufzer alle Handlungen und Gedanken des Frommen mit dem >Geist< des Gebets erfüllt.56 Auf diese Weise stellen die aspirationes eine innige Verbindung zwischen Gott und Mensch her; sie unterstützen insbesondere den Frommen bei der Übung der Gegenwart Gottes und führen den Gläubigen mit göttlicher Hilfe bis zum status perfectionis. 57 Auch Spee erläutert in seinen Übungsanweisungen die verschiedenen Funktionen und Anwendungsmöglichkeiten des Seufzens. Außer Seufzern der Reue (Kap. 14, S. 48-52), der Trauer (190,23) und der Bedrängnis (164,13-18; 168,11-15) findet der Leser des >Tugendbuchs< Seufzer des Gottvertrauens (Kap. II 1-3), des Gotteslobs (Kap. III 3-5), Seufzer, die um Erbarmen bitten (Kap. I 4), und solche, die die Aufopferung des Herzens an Gott begleiten. (Kap. III 2; 218 f.). Unter allen Arten von aspirationes ist im >Tugendbuch< die Spezies der »liebreichefn] seufftzer« (280,19) am häufigsten vertreten. In der oratio aspirativa sammelt die pia anima alle Kräfte, um sie auf himmlische Dinge zu lenken (212,19) und sich die Haltung andächtiger Gottesliebe zu eigen zu machen: »wan die Seel anfahet zu seufftzen wie ein Turteldaub, so grünen in vns die blumen der lieb vnd andacht« (387,35-37), bemerkt der Fromme in Kapitel III 18. 52 53 54 55
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Vansteenberghe (1937), Sp. 1019. Lercaro (1959), S. 349. Vansteenberghe (1937), Sp. 1024. Ebd., Sp. 1020 f. Lercaro (1959), S. 345. - Vgl. Vansteenberghe (1937), Sp. 1021. Vansteenberghe (1937), Sp. 1021 f.
Spee bemüht sich im >Tugendbuch< darum, dem Leser durch einfache, aber wirksame Techniken die Grundlagen eines vertieften Gebetslebens zu vermitteln. Er erklärt vorwiegend solche Fertigkeiten der praxis pietatis, die für ein breiteres frommes Publikum ohne gelehrte Vorbildung erlernbar sind; aber auch der Gläubige, der die Voraussetzungen für ein überdurchschnittliches spirituelles Leben mitbringt, dürfte auf diese Weise hilfreiche Anstöße für die individuelle Weiterentwicklung seiner Andachtsübungen erhalten. Um die affektive Wirkung der >TugenbuchSeufzer< und >Gebet< oft als synonyme Begriffe verwendet. Insbesondere die sogenannten orationes iaculatoriae, kurze Gebete, die der Fromme mit heftiger seelischer Bewegung spricht, werden als aspirationes bezeichnet.58 Spee nennt derartige Gebete in Anlehnung an den lateinischen Terminus »schußgebettlein(s)« (48,8). Dieser metaphorischen Bezeichnung liegt die Vorstellung zugrunde, daß die Seufzer bzw. Stoßgebete des Gläubigen wie ein Geschoß das Herz Gottes treffen. Auch Francisco Arias veranschaulicht seine Erklärung der orationes iaculatoriae durch das Bild eines Pfeils: Solche aspirationes zu wahungen begirde vn einbrunstige anmutunge des hertzes / gibt der Mensch zuuerstehen / wann er mit GOtt durch etliche kurtze Gebettlein / die man Schußgebettlein nennt / redet: vnd seynd gleich wie fewrige Pfeil oder Boltz vom Hertzen her auß geschossen. 59
Eine emblematische Darstellung der orationes iaculatoriae durch das Pfeilmotiv eröffnet Hermann Hugos Erbauungsbuch >Pia Desideria< (1624).60 Dieselbe Vorstellung nimmt Spee in Kap. II 12 auf, in dem er seine >geistliche Tochter< eine »Schöne Weiß das Hertz JESU zu verwunden« (199,21), lehrt.61 Wie »eine weltliche gesponß« (199,4), die ihrem Geliebten durch »langsame seufftzer, vnd liebsprüch, sampt den lieblichen anblicken [...] gantz vnd gar das hertz erwunden« (199,12-14) kann, so soll die sponsa Christi dem 58 59 60
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Vansteenberghe (1937), Sp. 1017 f. >Vergiß Gott nicht« (1615), S. 59 f. F o l . * * 6 v der Ausgabe Antwerpen 1632 (Nachdruck 1971); zu dem Motto aus Ps. 37,10: »Domine, ante te omne desiderium meum et gemitus meus a te non est absconditus«. Oorschot, Abhandlung (1968), S. 119, Anm. 26 schließt daraus, daß Kap. II 12 »als Ganzes einem Vorgang gewidmet ist, der sonst nur in der zweiten Pause stattfindet«.
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Gekreuzigten durch aspirationes und Stoßgebete ihre Liebe bekunden. Besonderen Nachdruck erhalten diese »liebsprüch« (199,13) durch eine allegorische »fürbildung« (199,29), die die orationes iaculatoriae als Liebespfeile verbildlicht. Spee fordert seine >geistliche Tochter< auf: bilde dir fur, als wan die folgende liebsprüch, nur lautere schöne pfeil der liebe weren: deren dein hertz, als ein pfeilkocher, voll stecke ; vnd die du gleich als von einem bogen durch einen anmütigen seufftzer in das hertz des gecreutzigten JESU könnest abgehen laßen (199,24-28).
Ahnliche kurze, gefühlsgeladene Gebets-Seufzer, wie sie Spee in diesem Kapitel dem Leser vorlegt, wurden zuweilen in umfangreichen Erbauungsbüchern zusammengestellt. Der Jesuit Antoine de Balinghem, der bereits einige Jahre zuvor das umfangreiche Werk >De Orationibus JaculatoriisThesaurus Orationum Jaculatorium< heraus. Francisco Arias sammelt in Kapitel 8-10 seines Büchleins >Vergiß Gott nicht< »dreyerley vnderschiedliche Zuwahungen νή Schußgebettlein / auß dem heilige Augustino gezogen« (S. 62), die er den drei Phasen des geistlichen Lebens, der via purgativa, illuminativa und unitiva zuordnet, »damit ein jeder / nach seiner beschaffenheit / wegmassige Gebettlein bey handen hab / mit welchen er in offt ermelter vbung der gegenwart Gottes / jhm zuwahen mSge« (S. 62 f.). Hermann Hugo nennt die drei Bücher seiner >Pia Desideria< >Gemitus animae paenitentisVota animae Sanctae< und >Suspiria animae amantis< und betont damit die affektive Komponente seiner meditativen Emblematik. Wie in Kap. II 12 so scheint sich Spee auch in Kap. III 18 an derartigen weit verbreiteten >SeufzerTugendbuchsSeufzern< des >Tugendbuchs< kommt solchen in Versform hervorragende Bedeutung zu. Die Lieder, die mit verändertem Titel als >Liebgesang der Gespons Jesu< in die >Trutznachtigall< aufgenommen wurden 62
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1. Aufl. Lille 1617, 2. Aufl. Anvers 1618. Biographische und bibliographische Angaben zu diesem Autor bei de Backer/Sommervogel I (1960), Sp. 831-841. - Vgl. Hausherr (1960), S. 289.
(TN Nr. 3-8), tragen im >Tugendbuch< noch die Bezeichnung >Seufzer< und deuten damit noch auf ihren Ursprung in der Devotionspraxis hin. 63 Die Lehre von den aspirationes, die das Mittelalter an das geistliche Schrifttum der Barockzeit weitergab, setzt für die verifizierten Seufzer des >Tugendbuchs< poetologische Maßstäbe. Wie der Prosatext der orationes iaculatoriae sind auch die geistlichen Liebeslieder des >Tugendbuchs< vom Gottverlangen der andächtigen Seele getragen. Sie sind Ausdruck und Mittel der >HerzenserhebungTugendbuchs< »die natur der begierlichen liebe« (220,5 f.) in exemplarischer Weise »abgemahlet« (220,9). Spee empfiehlt, sie »zu einer geistlichen ergetzlichkeit« (220,6) zu lesen, um »liebreiche begierden zu Gott« (220,3 f.) zu erwecken. In Ubereinstimmung mit der zeitgenössischen, von der Schulrhetorik beeinflußten Dichtungslehre, ordnet Spee den versifizierten Passagen des >Tugendbuchs< ein spezifisch emotionales Wirkziel zu. 65 Als Sonderform der ars bene dicendi gewinnt die Poesie nach traditioneller Auffassung den Hörer oder Leser durch ihre gefällige sprachliche Form. Dichtung wird definiert als zweckgebundene Rede, die die doppelte Zielsetzung des >prodesse< und >delectare< verfolgt.66 Beide Wirkziele gehen auch in den >TugendbuchTugendbuchSeufzer< bezeichnet sind, bilden sie oft den letzten gefühlsbetonten Aufschwung am Ende einer Übung. 67 Vor allem in Kapiteln, die überwiegend die ratio des Lesers ansprechen, weckt ein abschließendes Gedicht die Affekte des Übenden und fordert zur Affirmation des dargebotenen Andachtsgegenstands auf. Verseinlagen sollen den Gläubigen mitreißen und über das Ende der jeweiligen Übung hinaus dauerhaft auf sein Gemüt einwirken. Im Kontext der einzelnen Andachten können die Lieder daneben noch weitere Aufgaben übernehmen. Wenn Spee viele Kapitel mit einem Gedicht abschließt, so wiederholt er darin Z.B. 190,14; 211,19; 218,24. Kap. II 16 besteht aus einer Sammlung von neun Liedern; davon sind acht (darunter T N Nr. 3-8) als >Seufzer< bezeichnet. M Arens, Seelsorge (1984), S. 131 f. «5 Plett (1979), S. 4 f. - Vgl. Lausberg (1973), § 257. " Horaz, >Ars PoeticaTugendbuchs< begünstigt die poetische Sprache die Lösung des Schlußlieds von der engen Bindung an den Rahmen der Tugendübung, so daß ein Teil der GTB-Lieder auch außerhalb der Andacht »zur geistlichen ergetzlichkeit« (220,6) bei der Arbeit oder zur Unterhaltung an Stelle weltlicher Lieder gesungen werden kann. Einige Kapitel bestehen ganz oder vorwiegend aus Liedbeiträgen (Kap. II 16; III 6 und 8) und haben bereits den Charakter eigenständiger Liedersammlungen. Mit dieser partiellen Verselbständigung seines Liedbestands zeigt das >Tugendbuch< seine Verwandtschaft mit den zeitgenössischen geistlichen Liederbüchern, die entsprechende seelsorgerische Intentionen verfolgen. Der >Geistliche PsalterTrutznachtigall< perfektioniert Spee die sprachliche Gestaltung der religiösen »Gebrauchslyrik«, 74 wie sie im Jesuitenpsälterlein und ähnlichen Gesangbüchern gesammelt wurde; abstrakte Glaubenssätze 48
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Dimler, Death (1975), S. 44. Oorschot, Abhandlung (1968), S. 116. Näheres zu diesem Werk und zu Spees Anteil an seinen Liedern bei Keyser (1985), S. 78 f. - Vgl. Harting, Psälterlein (1969), S. 2 6 7 - 2 7 0 und Arens, Seelsorge (1984), S. 109-133. Von den 216 Liedern des >Psälterleins< werden mehr als die Hälfte Spee zugeschrieben. »Geistlicher Psalter< (1638), S. 5. Arens, Seelsorge (1984), S. 133. - Vgl. Keyser (1985), S. 82. Harting, Einleitung zu Spees »anonymen Liedern< (1979), S. 29 f. Ebd., S. 30.
werden »aufgelöst in die Individualität eines künstlerischen Bildes«, 75 das Verstand und Gemüt des Lesers anspricht, mit seinen ästhetischen Qualitäten das Glaubensleben fördert und zunehmend die personale Komponente in den Vordergrund der praxis pietatis rückt. 1.4.3. Bilderandachten In Kapitel I 8 stellt Spee den Standardtypus der geistlichen Bildbetrachtung vor, wie er in der Societas Jesu gepflegt wurde. Bereits die mittelalterliche Frömmigkeitspraxis erkannte die vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten des Bildes im spirituellen Leben und schätzte seine belehrende und andachtsfördernde Wirkung, die oft der Sprache überlegen ist, außerordentlich hoch. 76 Thomas von Aquin nennt drei Gründe, die den kirchlichen Gebrauch von Bildern rechtfertigen: 77 Die bildliche Darstellung religiöser Themen unterweist auch den Ungebildeten in Glaubensdingen; Bilder vergegenwärtigen dem Betrachter einen Gegenstand des geistlichen Lebens, sprechen unmittelbar die kognitiven Fähigkeiten des Gesichtssinns an und ermöglichen so die rasche, lebhafte Auffassung des Dargestellten.78 Wie die Lektüre der Evangelien halten Bilder die Erinnerung an die Heilsgeschichte, besonders an die Menschwerdung Christi, wach. Sie verherrlichen die Barmherzigkeit Gottes, die in seinen Werken zutage tritt und rufen zur Nachahmung der Heiligen auf.79 Ferner dienen Bilder dem Frommen als Hilfsmittel zur Erbauung und zum Gebet, indem sie der Andacht Nahrung geben, das Gefühlsleben aktivieren und damit die geistlichen Erfahrungen des Betrachtenden intensivieren.80 Die Beschlüsse des Konzils von Trient knüpfen an die tradierten Lehrmeinungen über den Nutzen von Bildern für die Frömmigkeit an. In seinen Lehrinstruktionen akzentuiert das Tridentinum den didaktischen und pädagogischen Wert religiöser Bilder sowie deren erbauliche Breitenwirkung: 81 Per historia mysteriorum nostrae redemptionis, picturis vel aliis similitudinibus expressas, erudiri et confirmari populum in articulis fidei commemorandis ut assidue recolendis; tum vero ex omnibus sacris imaginibus magnum fructum percipi, 75
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Scheitler, Lied (1982), S. 48. Rayez (1971), Sp. 1529. »Fuit autem triplex ratio institutionis imaginum in ecclesia. primo, ad instructionem rudium, qui eis quasi quibusdam libris edocentur. secundo ut incarnationis mysterium et sanctorum exempla magis in memoria essent, dum quotidie in oculis repraesentantur. tertio ad excitandum devotionis affectum qui ex visis efficacius excitatur quam ex auditis.« (In IV Sent., 1 .III, dist. I X , a.2, sol. 2, ad tert.) - Vgl. Grumel (1922), Sp. 797. Grumel (1922), Sp. 797f. Jedin (1935), S. 171 f. - Vgl. Grumel (1922), Sp. 798f. Rayez (1971), Sp. 1532-1534. - Vgl. Grumel (1922), Sp. 800. Jedin (1935), S. 159 u. 423 f.
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non solum quia admonetur populus beneficiorum et munerum, quae a Christo sibi oculis fidelium subiiciuntur, ut pro iis Deo gratias agant, ad sanctorumque imitationem vitam moresque suos componant, excitenturque ad adorandum ac diligendum Deum, et ad pietatem colendam. 82
Mit dieser abschließenden verbindlichen Stellungnahme des Konzils in der Bilderfrage stellt die kirchliche Autorität die Kunst der Gegenreformation in den Dienst der religiösen Didaxe und bahnt einer überaus bilderfreudigen Frömmigkeit den Weg. 83 Spees Anleitung zur Bilderandacht im ersten Teil des >Tugendbuchs< lehrt den Leser ähnlich wie die Unterweisung im Seufzen eine traditionsreiche Grundtechnik der Andacht, die leicht durchzuführen und dabei in hohem Grade wirksam ist, sich dem geistlichen Fortschritt des Übenden mühelos anpassen läßt und in den drei Teilen des >Tugendbuchs< ihre erstaunliche Entwicklungsfähigkeit beweist. In Kap. I 8 empfiehlt der Seelsorger seinem Beichtkind, sich für die täglichen Tugendübungen ein geistliches »bilderbuch« (72,15) zu verschaffen, »darin das gantze leben, vnd leiden Christi, oder andere historien der heiligen schrifft begriffen seind« (72,16 f.). Wenn der Gläubige während seiner Andacht die einzelnen Bilder aufmerksam betrachtet »vnd die äugen belüstiget« (72,32 f.) hat, soll er das Herz zu Gott erheben (72,33), um im Gebet seinen Glauben an das dargestellte Mysterium zu bekennen. Nicht allein Werke des Glaubens, sondern auch die beiden anderen göttlichen Tugenden können auf diese Weise geübt werden, wenn die andächtige Seele Darstellungen des Lebens und Leidens Christi mitfühlend und mit innerer Bewegung betrachtet (73,27-74,6). Die Vertiefung in den Anblick des leidenden Erlösers gibt dem Betrachtenden Gelegenheit zu frommen »einwürffen« (74,7), kurzen, emphatischen Gebetsrufen, die der Klasse der orationes iaculatoriae zuzuordnen sind. Auf diese Weise kann der Gläubige in seiner Seele »vil guter anmütungen verursachen« (74,9) und erreichen, daß das »hertz bey Gott, vnd mit Gott beschäftiget« (73,17) ist. Bei dieser Andachtsform erfüllt die Sinneswahrnehmung die Funktion eines Schlüssels zum affektiven Bereich der Seele; der optische Eindruck aktiviert die Gefühle des Betrachters und weckt in ihm die pia affectio, die zur geistlichen Vervollkommnung notwendig ist. Ein Vorzug des beschriebenen Verfahrens besteht darin, daß es ohne Anstrengung, selbst von Kranken (73,12 f.) oder auch in Gesellschaft (73,15-20) praktiziert werden kann und zur Erbauung wie zur Unterhaltung gleichermaßen beiträgt.84 In seiner letzten Anmerkung zu Kap. I 8 macht Spee sein Beichtkind auf weitere Anwendungs82 Dz. 987. - Vgl. Jedin (1935), S. 183. « Jedin (1935), S. 423-425. 84 »vnd durch ein iedes solches werck verdienestu ein sehr große Cron im himmel, vnd doch belüstigest du zugleich die äugen« ( 7 3 , 8 - 1 0 ) .
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möglichkeiten dieser Form der Betrachtung aufmerksam. Auch außerhalb der gewohnten Viertelstunde, die der Benutzer des >Tugendbuchs< täglich mit geistlichen Übungen zubringt, soll er die empfohlene Art der Betrachtung üben, sobald er »in den kirchen, oder hin vnd wider in den häuseren, auff den gassen, kirchhöven, oder anderstwo gemahlte oder außgehawete historien der schrifft siehet« (74,14-16). Spees Erläuterungen der Bilderandacht und ihrer besonderen Wirkungsweise gibt in popularisierender Form und auf einfache Begriffe reduziert Grundgedanken der aristotelischen Seelenlehre wieder, mit deren Hilfe die Theoretiker des Jesuitenordens, wie ζ. B. Francisco Suarez, diese und verwandte Andachtstechniken erklärten. Fromme Bilder können der damals herrschenden Auffassung zufolge als signum der abgebildeten Glaubenswahrheit aufgefaßt werden, dessen spirituelle Bedeutung den »natürlichem Bildinhalt weit übersteigt.85 Bei der Betrachtung eines Bildes werden neben dem sinnlichen Wahrnehmungsvermögen auch die imaginativen, kognitiven und die appetitiven oder affektiven Fähigkeiten der Seele angesprochen; Einbildungskraft, Verstand und der Wille, dem die Affekte zugehören, werden betätigt. In der Phantasie des Betrachters, dem sensus internus, entsteht ein lebhaftes, getreues Abbild (phantasma) des betrachteten Gegenstandes. 86 Die ratio erforscht die Bilder des sensus internus in ihren Einzelheiten. Parallel zu diesem Prozeß der kognitiven Aneignung werden die Affekte des Gläubigen mobilisiert. Mit der Betätigung des rationalen Seelenvermögens durchdringt zugleich der Glaube, der dem Bereich der Vernunft zugeordnet wird, den Andachtsgegenstand, so daß der Betrachter im Licht des Glaubens die Bedeutung der betrachteten Darstellung erkennen kann. Dies schafft die Voraussetzung dafür, daß die dritte göttliche Tugend im voluntativen Bereich der Seele wirksam wird und das affektive Vermögen der menschlichen Seele von der göttlichen Liebe ergriffen wird. Als Urheber und Spender der Tugenden arbeitet die Gnade Gottes mit den natürlichen Fähigkeiten des Menschen zusammen, die als kohärente Einheit in die Andacht einbezogen werden. 87 In der Bildmeditation und bei vergleichbaren Formen der Andacht wird die Erfahrung, daß Sinneseindrücke Gefühle wecken können, für eine systematische Beeinflussung des Affektlebens ausgewertet. Visuelle Eindrücke lösen eine Kette von seelischen Reaktionen aus, die immer tiefere Schichten der Persönlichkeit ergreifen und sie dem Wirken der göttlichen Gnade eröffnen. Die erste Voraussetzung für eine effektive Andachtsübung ist daher eine möglichst deutliche Vorstellung des Betrachtungsgegenstandes. Gerade bildliche Darstellungen bieten dem ungeschulten Anfänger eine wertvolle Hilfe für 85 86
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Zum Folgenden Lundberg (1966), S. 164 f. Entstehung und Wirkung dieser Phantasiebilder bespricht Spee in Kap. III 25 des GTB. Lundberg (1966), S. 140.
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seine Andacht, da sie die Einbildungskraft anregen und verhindern, daß die Aufmerksamkeit abschweift.88 Mit entsprechenden Modifikationen und Ergänzungen können Spees Ausführungen über die Bildandacht auch zum Verständnis der anspruchsvolleren Übungen im dritten Teil des >Tugendbuchs< beitragen, in denen nicht mehr die Wahrnehmungen der äußeren Sinne, sondern die imaginativen Fähigkeiten des sensus internus als Instrument zur Erweckung frommer Gemütsbewegungen eingesetzt werden (z.B. Kap. ΙΙΪ 25 f.). 1.4.4. Betrachtende Lesung Im Anschluß an seine Unterweisung in der Methode der Bilderandacht ersetzt Spee in Kapitel I 9 die Betrachtung »Biblischefr] bilder« (72,25) durch die Lektüre von »Historien der heiligen Schrifft so schön vnd kurtzweilig zu lesen vnd zu erzehlen seind« (77,14 f.). Die weiteren Übungselemente, die Herzenserhebung und das Bekenntnis zur dargestellten Glaubenswahrheit durch ein Kurzgebet, stimmen mit den entsprechenden Passagen in Kap. 18 weitgehend überein, ebenso auch eine Reihe von »merckpunckten« (75,35) mit Hinweisen auf besondere Vorzüge und Anwendungsmöglichkeiten der Andachtsübung. 89 Ein Register biblischer Texte, deren Lektüre Spee für besonders nützlich hält, beschließt das Kapitel (S. 77-81). Ähnlich wie bei den zuvor besprochenen Übungspraktiken handelt es sich auch bei der betrachtenden Lesung um eine alte und bewährte Methode der Andacht. In den mittelalterlichen Klöstern nahm die geistliche Lesung zum Lob Gottes neben dem Gebet eine beherrschende Stellung im monastischen Leben ein. 90 Die lectio divina diente zunächst vornehmlich der Vorbereitung zum betrachtenden Gebet der Ordensleute, entwickelte sich jedoch seit dem ausgehenden Mittelalter zunehmend zur lectio spiritualis mit aszetischer, apostolischer und moralischer Zielsetzung.91 Diese Form der geistlichen Lesung war nicht mehr auf die vita contemplativa des Klosterlebens begrenzt, sondern grundsätzlich jedem alphabetisierten Christen zugänglich, der sich um geistlichen Fortschritt bemühte. Besonders Mitglieder des Jesuitenordens lehrten eine systematisch ausgearbeitete Methode der lectio spiritualis.92 Ein wichtiger Vorzug der betrachtenden Lesung besteht darin, daß sie den Andachtsübungen des Gläubigen einen thematischen Rahmen gibt, die AufEbd., S. 177. Unterhaltend und zugleich belehrend (75,37f.); nützlich auch für Kranke (76,1-6); zum Zeitvertreib und in Gesellschaft durchführbar (76,30-33 u. 77,9-13); Übung aller drei göttlichen Tugenden (76,34 f.). *> Rousse (1976), Sp. 470. - Vgl. Lercaro (1959), S. 31 f. « Sieben (1976), Sp. 488. « Ebd., Sp. 494. 88
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merksamkeit des Frommen auf einen geistlichen Gegenstand lenkt und damit der Gefahr der Zerstreuung entgegenwirkt. Für die pia anima erweist sich die geistliche Lesung als Quelle erbaulicher Gedanken; sie gibt dem Gläubigen Gelegenheit zu guten Vorsätzen und läßt Raum für fromme Affekte, die aus der Andachtsübung erwachsen.93 Dem Laien, der von weltlichen Geschäften beansprucht wird, bietet die lectio spiritualis die Möglichkeit, sich in die Gegenwart Gottes zu versetzen. Durch ihre Verwandtschaft zum betrachtenden Gebet erleichtert die geistliche Lesung dem Frommen den Zugang zu hochentwickelten Gebetsformen. 94 Vornehmster Gegenstand der betrachtenden Lesung ist die Hl. Schrift. Die Bibel ruft der andächtigen Seele Gottes Taten von der Schöpfung bis zur Erlösung ins Gedächtnis und bringt sie dem Gläubigen nahe, so daß er sich anschließend betrachtend in die Mysterien der Heilsgeschichte versenken und das Gelesene für sein Gebetsleben nutzen kann. 95 Aber auch in anderen Büchern, die für den Gebrauch in der Andacht bestimmt sind, findet der Fromme eine Fülle von Stoff für seine Betrachtungen. Spee gibt außer der einführenden Unterweisung in die Methode der lectio spiritualis in Kap. 19 noch an mehreren Stellen des >Tugendbuchs< zusätzliche Lektüreempfehlungen. In Kap. III 25 ist der Übende aufgefordert, die Schöpfungsgeschichte zu lesen, um sich anschließend in eine Betrachtung der göttlichen Wohltaten zu vertiefen (452,19-22). Die Meßanleitung in Kap. III 29 instruiert den Gottesdienstbesucher, er möge während der Schriftlesung des Priesters »vnterdessen auch seine geistliche Lection halten, daß ist etwas wenig zu erquickung deß geists, entweder auß dem newen Testament, oder auß dem büchlein der Nachfolgung Christi lesen« (488,8-10). Kapitel III 30 rät der andächtigen Seele, »in den Legenden der Heyligen« (504,9 f., Nr. 44) zu lesen. In demselben Kapitel ermutigt der Seelsorger seine >geistliche Tochter< zur Lektüre der Passionsgeschichte (Nr. 57-59) und der >Nachfolge Christi< (Nr. 130); ferner schlägt er vor, »dise gantze woch alle tag in einem geistlichen buch ein viertel-stündlein zu lesen« (Nr. 60). Insgesamt bietet Spee mit seiner Einführung in die Methode der lectio spiritualis und mit den Ergänzungen, die er in mehreren weiteren Kapiteln anbringt, eine praxisbezogene Anleitung zur betrachtenden Lesung, die dem Benutzer des G T B zugleich den Blick für die individuellen Variationsmöglichkeiten der vorgestellten Übungstechnik öffnet und damit wichtige Anstöße für die Pflege der Privatandacht gibt.
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Lercaro (1959), S. 234 f. Boland (1976), Sp. 479. - Vgl. Lercaro (1959), S. 250 f. Lercaro (1959), S. 234.
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1.4.5. Gleichnisse, Parabeln und Exempelfiguren Zahlreiche Kapitel des >Tugendbuchs< haben zum Fundament der Andacht eine Parabel (z.B. II 4; III 11), eines oder mehrere »schöne gleichnuß« (145,16; Kap. II 5 f.) oder eine »wundere history« aus »alten büchern« (124,32; Kap. II 3), an die sich eine geistliche Deutung und erbauliche Nutzanwendungen anschließen. Zuweilen illustriert der Seelsorger seine religiösmoralischen Lehren durch selbsterdachte exempla, die er meist dem Erfahrungsbereich seiner Leser entnimmt;96 in anderen Fällen gestaltet Spee biblische Gleichnisse um. 97 Auch wenn Spee biblische Muster sehr frei bearbeitet oder gänzlich unabhängig von ihnen Parabeln erzählt, bleibt doch die strukturelle Analogie zu den Vorbildern im Alten und Neuen Testament offenkundig. Daß Gott in der Hl. Schrift durch Gleichnisreden zum Menschen spricht, legitimiert auch das von Spee angewandte Verfahren der religiösen Unterweisung durch bild- und gleichnishaftes Reden. Statt abstrakter Belehrungen bietet das >Tugendbuch< plastische Bilder und kurzweilige >GeschichtenTugendbuchs< gleichsam in personifizierter Form vor Augen geführt: In Kap. II 4 läßt sich der Erzähler durch die Worte des pastor bonus zu Tränen rühren (134,40 f.) und demonstriert mit diesem Gefühlsausbruch dem Leser in vorbildlicher Weise die Reaktion, die dem Andachtsgeschehen angemessen ist. Zwölf himmlische Jungfrauen bringen in Kapitel III 5 Gott ihren Lobgesang dar und veranlassen durch ihr Beispiel die pia anima, in den Gesang der Geschöpfe zu Gottes Ehren einzustimmen. In Kap. III 18 benützt Spee den rhetorischen Kunstgriff der sermocinatio98 und läßt in mehreren >ConceptenTugendbuchs< den Affekt der Gottesliebe erwecken wollen, eine namenlose, schemenhafte »andächtige Seel« (406,31) als Exempelfigur auftreten.99 Auch eine »weltliche gesponß« (199,4) kann mit ihren überschwenglichen Liebesbekundungen der Braut Christi ebenso als Leitbild dienen wie »die keusche Sanct Agnes« (404,12f.). Mehrere Übungen des >Tugendbuchs< übertragen diese Vorbildfunktion auf Heilige und Märtyrer. Eine Reihe von >Concepten< in Kap. III 18, die die *
Vgl. Kap. II 2 u. II 5. In Kap. II 4 u. a. die Parabel vom verlorenen Schaf und das Gleichnis vom Guten Hirten; Kap. II 3 basiert z.T. auf gleichnishaften Passagen der Propheten Hosea und Jesaja. - Vgl. die Randbemerkungen auf S. 125 f. des G T B und den Kommentar des Herausgebers auf S. 597 f. " Lausberg (1973), § 824. - Dieses Verfahren findet sich bereits bei Spees Vorbild G. Muntzius. w N r . 7, 14, 16, 19, 27, 31-34, 36, 51, 54-57. 97
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Passion Christi thematisieren, nennen u. a. St. Franziskus (Nr. 6,26 f., 80 u.ö.), St. Hieronymus (Nr. 11,23,37), St. Dominikus (Nr. 12), St. Bonaventura (Nr. 28), St. Gregorius (Nr. 46), den Apostel Thomas (Nr. 15 und 22), aber auch die alttestamentarischen Gestalten Moses (Nr. 40) und David (Nr. 44) als Exempelfiguren, die dem Leiden des Erlösers besondere Verehrung darbringen.100 An einigen Stellen des >Tugendbuchs< führt Spee die Muttergottes als Urbild der compassio Christi in die Andacht ein (ζ. B. 125,20-40; Kap. II 8). Ähnlich dient in Kap. II 14 die bildliche Darstellung eines Heiligen als Modell für die Haltung mitleidender Liebe, die der Gläubige dem Gekreuzigten entgegenbringen soll. Vor dem Bild des Hl. Augustinus ruft die pia anima aus: Ο Gott wan ich Sanct Augustinum gemahlet sehe mitt einem fewrigen vnd verwundtem hertzen, so blutet mir mein hertz, weils nicht auch verwundt ist. Ach Gott [ . . . ] Nun bitt ich dich, nim hin den pfeil auß ienem hertzen, oder nim hin die blutige lantzen auß deinem eigenen hertzen, vnd durchdringe mir mein hertz, daß ich für liebe sterben möge (215,31-37).
In all diesen Beispielen soll stets »der abgebildete Affekt [ . . . ] in dem Beschauer einen gleichen hervorrufen«.101 Während in anderen katholischen Erbauungsbüchern derselben Entstehungszeit der Kult der Heiligen eine bedeutende Rolle spielt, schenkt Spee dieser Art der Frömmigkeitsübung nur wenig Beachtung. Heilige und Märtyrer begegnen dem Benutzer des >Tugendbuchs< nicht als Gegenstand religiöser Verehrung, sondern figurieren als historische exempla christlicher Vollkommenheit, als sittliche und religiöse Leitbilder, die den Glaubenseifer der Frommen anfeuern und zur Tugend erziehen sollen. So tritt ζ. B. in Kap. III 16 der Jesuitenmissionar Franz Xavier als leuchtendes Vorbild der Caritas auf; an anderer Stelle empfiehlt der Seelsorger die Lektüre von Heiligenlegenden, wobei das Beichtkind besonders auf solche Verhaltensweisen achten soll, denen es bei Gelegenheit »nachfolgen könne« (504,13). Spee präsentiert seinen Lesern einen Reigen von Figuren, von denen jede einzelne als Verkörperung einer vollendeten Tugendhaltung angesehen werden kann. Im >Tugendbuch< findet der Gläubige Repräsentanten unbeugsamer Glaubensstärke, grenzenlosen Gottvertrauens und glühender Gottesliebe versammelt, deren Vergegenwärtigung den Übenden bessern und zur christlichen Lebensführung erziehen will. Dieses Verfahren, das die moderne Lerntheorie als stellvertretendes Lernen< oder als >Lernen am Modell· bezeichnet, wendet Spee bevorzugt auf die Scharen christlicher Märtyrer an, die er dem Leser als Tugend-Modelle präsentiert. Dabei erhöht der kumulative Effekt eines Märty-
Ähnlich begegnen im Register guter Werke in Kap. III 30 die Hl. Elisabeth (Nr. 4, 14), die Hl. Brigitta (Nr. 15, 69f.), Ignatius v. Loyola (Nr. 67) und Franz Xavier (Nr. 68) als Vorbilder für besondere Formen der devotio. "» Jacobsen (1954), S. 64. 100
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rer-Registers, wie es Kap. I 12 bietet, den Gefühlsgehalt und die erbaulichnormative Wirkung der Darstellung. 102 In der christlichen Überlieferung gilt das Martyrium als radikalstes Glaubenszeugnis und als höchster Akt der Gottesliebe.103 Bernhard von Clairvaux deutet in seinen >Sermones in Cantica Canticorum< die Wundmale der Märtyrer als Zeichen der Caritas.104 Im Nachvollzug des Opfertodes Christi verwirklicht der Märtyrer die sakramentale Gemeinschaft mit Christus. Durch sein unschuldiges Sterben verherrlicht der Märtyrer den Opfertod seines Erlösers und verwirklicht die imitatio Christi in quasi mimetischer Form.105 Mit diesem Akt der heroischen configuratio fordern die Märtyrer nach dem Grundsatz >exempla trahunt< ihrerseits zur Nachfolge auf.106 In den Übungen des >TugendbuchsTugendbuchTugendbuchs< läßt sich dieses zweiteilige Bauprinzip nachweisen, das sich der Struktur des Emblems annähert.110 Ahnliche, wenn auch weniger umfangreiche Kataloge finden sich in Kap. 1 6 , 1 1 0 - 1 2 und III 1. 103 K. Rahner, Martyrium (1962), Sp. 157. 104 Serm. LXI, PL 184, 1074 C u. serm. XXVIII, PL 184, 926 B. 105 J. Beckmann (1962), Sp. 129. - Vgl. Ledeur (1971), Sp. 1563 u. 1571. 106 Grumel (1922), Sp. 801. 107 In Kap. III 25 empfiehlt Spee derartige dramatische Imaginationen in Zusammenhang mit den Bildern des sensus internus, deren affektive Wirksamkeit das GTB nutzt. «8 Barner (1970), S. 344-352. "» Kemper, Spee (1984), S. 96. Ebd., S. 96 f. 102
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Spee transponiert die »Doppelfunktion des Abbildens und Ausdeutens«,111 die das Emblem kennzeichnet, in den dynamischen Prozeß der Andacht, der durch diese Art der Konkretisierung geistlicher Lehren an Überzeugungskraft und sinnlicher Fülle gewinnt. Spee realisiert die Verbindung von sinnfälliger Darstellung und geistlicher Unterweisung mit so viel Einfallsreichtum, daß die Variationsbreite seiner emblematischen Andachtsmethode bis in benachbarte Bereiche bildhaften Sprechens, wie Parabel, exemplum, similitudo usw., sichtbar wird. Bilderandachten, betrachtende Lesung, erbauliche Gleichnisse und die Präsentation von Exempelfiguren mit nachfolgender adhortatio können als Vorstufen bzw. Sonder- und Grenzformen des emblematischen Andachtstyps aufgefaßt werden. Die Lehre von den Bildern des sensus internus stellt die theoretische Grundlage für eine im weiteren Sinn emblematische Form der Andacht bereit, in der verbalisierte imagines und Phantasiebilder die Funktion der pictura im Emblem übernehmen. Im Fundament des Kapitels III 25 erklärt Spee seinem Leser: wan wir etwas, es sey was es wolle, gedencken, oder mit den sinnen begreiffen, hören, sehen, fühlen, riechen, schmecken, &c. alsbald inwendig in vns solcher ding, die wir gedacht, gehöret, gesehen, geschmecket &c. gantz lebhafftige gemähl, oder gestalten, oder biltnußen sich absetzen, vnd inwendig bey vns verbleiben (450, 14-19).
Wenn der Gläubige geistliche Bücher liest, gute Werke vollbringt (460,26 f.) und selbst wenn er sich lediglich etwas »fürbildet« (456,5), prägen sich der Seele bleibende Bilder ein. Sogar ohne Betätigung des sensus externus ist das Vorstellungsvermögen imstande, Phantasiebilder hervorzubringen. Im Hinblick auf Erkenntnisleistung und Affektwirkung sind diese Bilder der Einbildungskraft den materiellen Bildern, die wir betrachten, ebenbürtig, da ja auch jene zuerst dem sensus internus >eingebildet< werden, bevor ratio und Wille in Aktion treten. In der mittelalterlichen Lehre von den Phantasie- und Seelenbildern fand Spee die theoretischen Grundlagen, die ihm erlaubten, der Phantasietätigkeit einen bevorzugten Platz in seinen geistlichen Übungen einzuräumen. Die konsequente Anwendung dieser auf aristotelischem und scholastischem Denken beruhenden Lehren erweitert und vervielfältigt die Gestaltungsmöglichkeiten der emblematischen Andacht erheblich. In der engen Verbindung von Betrachtung und reflektierender Deutung tritt in Spees Werk ein allegorisch-emblematisches Denkmodell zutage, das im ordo-Gedanken des Mittelalters wurzelt.112 Dieses tradierte Weltbild weist 111 112
Schöne (1968), S. 20. Ebd., S. 50.
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dem Menschen und den Naturdingen jeweils einen festen Platz im Gefüge der Schöpfung zu, deren Sinnmitte und göttlicher Bezugspunkt außerhalb der sichtbaren Welt liegt. Alles Geschaffene ist auf seinen Schöpfer hingeordnet und in einen harmonischen, von Gott gestifteten, Sinnbezug eingebunden.113 Den irdischen Dingen ist von der göttlichen Weisheit eine spirituelle Bedeutung eingeschrieben. Sie konstituieren einen »Kosmos von Signaturen« 114 und eröffnen dem geübten Betrachter, der ihre Zeichensprache zu entziffern versteht, den Weg zur Gotteserkenntnis.115 Mittelalterliches Analogiedenken lebt in der Vorstellung fort, daß im Schöpfungsplan geheime Entsprechungen zwischen der sichtbaren und der unsichtbaren Wirklichkeit angelegt sind. Diese Auffassung läßt auch im 17. Jahrhundert noch die materielle Welt als Gleichnis einer verborgenen göttlichen Realität erscheinen.116 Alles Irdische, das >Buch der Natur< ebenso wie Geschichte, Kunst, Wissenschaften und die übrigen Werke des Menschen, weisen über sich hinaus auf eine transzendente Wahrheit, zu der es vorzudringen gilt. Wer die Dinge der Welt als res significantes betrachtet, um ihre verborgene significatio zu erschließen, findet das notwendige hermeneutische Instrumentarium in der allegorischen Deutungsmethode der mittelalterlichen Theologie. Als Werk Gottes kann die Schöpfung nach demselben allegorischen Verfahren ausgelegt werden wie die Hl. Schrift, die ihre Entstehung der göttlichen Inspiration verdankt.117 Zur universalen Denkform erhoben prägt die traditionelle Methode der allegorischen Bibelexegese das Weltbild des Abendlandes bis weit in die Neuzeit hinein. In den Emblemsammlungen des 16. und 17. Jahrhunderts wirkt das allmählich säkularisierte Erbe der mittelalterlichen Welt- und Schriftexegese nach.118 Auch sie wollen einen Beitrag zur Welterkenntnis leisten, indem sie dem Betrachter die Augen für die verborgenen Sinnzusammenhänge im >mundus symbolicus< öffnen. 119 Umfassende Wirksamkeit entfaltet das allegorisch-emblematische Denken auch in der Andachtspraxis des 17. Jahrhunderts. In seinem Vorwort zum Nachdruck der >Pia Desideria< von Hermann Hugo formuliert E. Benz den Leitgedanken, der allen Spielarten der emblematischen Andacht gemeinsam ist:
i » Ohly, Sinn (1959), S. 4. » * Schöne (1968), S. 42. »5 Lundberg (1966), S. 163 f. - Vgl. Henkel/Schöne (1967), S. XVI. 116 Benz in der Einleitung zum Nachdruck von H . Hugos >Pia Desideria< (1971), S. X I * . 117 Schmidtke, Tierinterpretation I (1968), S. 123. »« Henkel/Schöne (1967), S. XVI. »» Windfuhr (1966), S. 22 u. 99. - Vgl. Henkel/Schöne (1967), S. XVI. 38
Alles ist voll geistlichen Sinnes, man muß nur lernen, ihn zu entdecken, den emblematischen Charakter aller Dinge zu entfalten, den allenthalben verborgenen Hinweis auf die göttlichen Wahrheiten herauszuholen, 120
um die gewonnene Erkenntnis für die Andachtspraxis nutzen zu können. Beide Konfessionen machen es sich zur Aufgabe, auch den frommen Laien in der emblematischen Betrachtungsweise zu schulen. Ziel eines solchen geistlichen Trainings ist es, den Gläubigen zu einer besonderen meditativen Haltung zu erziehen, die alle Gegenstände und selbst die banalsten Verrichtungen des Alltags auf ihre spirituelle Bedeutung hin durchschaut. 121 Ein reizvolles Beispiel aus der Spätphase dieser Betrachtungsweise vertonte Johann Sebastian Bach in der Aria >So oft ich meine Tobacks-Pfeife< (1725).122 In diesem Lied, dessen Text von einem unbekannten Verfasser stammt, läßt sich ein Raucher vom Anblick und vom Genuß seiner Pfeife zu erbaulichen Gedanken über das menschliche Geschick anregen. Auf halb scherzhafte Weise wird hier das konventionelle Verfahren der Transgression ins Geistliche bei der Betrachtung eines alltäglichen Requisits vorgeführt: Die Dingwelt wird für den Betrachter transparent und läßt ihren geistlichen Sinngehalt durchscheinen. Noch im 17. Jahrhundert kann diese Weltsicht, die die Welt betrachtend durch-schaut, ihre Vorherrschaft behaupten. Die tradierten Kategorien der Weltdeutung begründen die für die Frömmigkeit der Gegenreformation charakteristische Tendenz, Natürliches und Ubernatürliches in enge Nachbarschaft zu rücken und zu verschmelzen. 123 Als komplementärer Vorgang zur >Vergeistigung< des Dinglichen findet umgekehrt eine Verdinglichung des Geistigen statt. Im gleichen Maße wie sich die stoffliche Substanz der Gegenstände zu verflüchtigen scheint, verdichten sich komplexe Phänomene aus dem geistigen und geistlichen Bereich und gewinnen konkrete Gestalt. Sie werden dem Gläubigen sinnfällig, fast schon greifbar vor Augen geführt und in einer manchmal naiv anmutenden >realistischen< Manier präsentiert, wie das ζ. B. in zahlreichen bildlichen Darstellungen der Seelenbrautschaft in geistlichen Emblemsammlungen der Fall ist. Besonders in der seelsorgerischen Arbeit der Gesellschaft Jesu erlangte eine derartige »sinnlich-übersinnliche Didaxis« 124 hervorragende Bedeutung. Der Jesuitenorden bemühte sich um eine »systematische Schulung des religiösen Bilddenkens«, 125 indem er bildliche und szeniBenz (1971), S. XII*. 12· Ebd., S. XI*f. 122 B W V 515a. Text bei Neumann (1974), S. 245 (>Erbauliche Gedanken eines TobackrauchersExercitia spiritualia< des Ignatius von Loyola als Vorbild des >Tugendbuchs
Exerzitien< als Voraussetzung des >Tugendbuchs< Ein wichtiges Vorbild für sein Erbauungsbuch fand Spee in den >Exercitia spiritualia< des Ignatius von Loyola (1491-1556), die wie kein anderes Werk der Ordensliteratur die Spiritualität der Societas Jesu prägten. 1 Einige Abschnitte des >Tugendbuchs< geben nahezu wörtlich oder in freier Paraphrase Passagen des Exerzitientextes wieder,2 doch übersteigt der Einfluß der ignatianischen >Geistlichen Ubungen< solche punktuellen Entlehnungen weit.3 Methode und Struktur des >Tugendbuchs< stützen sich auf das von Ignatius entwickelte spirituelle Übungsverfahren, das auf erstaunlich modernen didaktischen und psychologischen Erkenntnissen beruht. In der gedanklichen Konzeption des >Tugendbuchs< bildet die freie Umgestaltung des ignatianischen Vorbilds ein tragendes Element. Das Schaffensprinzip der imitatio, dem die literarischen Produktionen der Barockzeit insgesamt verpflichtet sind, sichert dem >Tugendbuch< den Anschluß an die Tradition der mittelalterlichen Erbauungsliteratur, in der das ignatianische Vorbild wurzelt.
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Oorschot, Abhandlung (1968), S. 96. - Zitiert wird im folgenden nach der modernen deutschen Ausgabe der >Geistlichen ÜbungenVersio vulgata< angegeben. Sie liegt vor in den >Monumenta Ignatiana [ . . . ] Series secunda< (1919). Verweise auf diese Edition sind durch die Abkürzung MI, Ex. mit nachfolgender Seitenzahl gekennzeichnet. Oorschot, Abhandlung (1968), S. 97 stellt eine Konkordanz der Textparallelen zwischen G T B und >Exerzitien< auf. Kemper, Spee (1984), S. 95. - Vgl. Oorschot, Abhandlung (1968), S. 97.
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2.1.1. Die ignatianischen >Exerzitien< - Aufbau, Thematik, Verlauf und Zielsetzung In seinem Werk, das er zwischen 1522 und 1535 niederschrieb, 4 knüpft Ignatius von Loyola an das Gedankengut mittelalterlicher aszetischer Schriften an, das er etwa in der >Vita Christi< des Ludolph von Sachsen, in der >Imitatio Christi< des Thomas a Kempis oder im >Exercitatorio de la vida espiritual< des Garcia de Cisneros kennengelernt hatte. 5 Eine wesentliche Leistung der >Exerzitien< besteht darin, daß sie ausgehend von den spirituellen und mystischen Erfahrungen ihres Verfassers die überlieferten Formen der christlichen Seelenführung systematisch zusammenfassen, perfektionieren und allgemein anwendbare Regeln für das Gebetsleben daraus ableiten. 6 Ignatius verbindet die planmäßige Schulung im methodischen Gebet mit einer Anleitung zur sittlich-religiösen Vervollkommnung und schafft damit ein »seelsorgerisches Instrument von größter Wirksamkeit«. 7 D a der Exerzitientext aus sehr knappen, oft nur stichwortartigen Instruktionen für den geistlichen Betreuer des Exerzitanten besteht, erschien es bald notwendig, die ignatianischen Übungsanweisungen für den praktischen Gebrauch mit ausführlichen Erläuterungen zu versehen. 8 Diese sogenannten Direktorien, die bald nach Ignatius' Tod entstanden, geben darüber Auskunft, wie Spee und seine Zeitgenossen die >Exercitia spiritualia< verstanden und auf welche Weise sie in die Andachtspraxis umgesetzt wurden. 9 Vor allem das offizielle Direktorium aus dem Jahr 1599, ein Projekt des Ordensgenerals Claudio Aquaviva, stellt wichtige Interpretations- und Verständnishilfen für die im Jesuitenorden gepflegte Andachtsmethode bereit. 10 Als gelehrter Theologe und bewährter Seelsorger der Gesellschaft Jesu war Spee selbstverständlich auch mit den Kommentaren zum Exerzitienbuch vertraut. Bei der Ausarbeitung des >Tugendbuchs< verwertete er diese Hilfsmittel ebenso wie den Exerzitientext selbst. Mehrfach stützen sich die theoretischen Einleitungen zu einzelnen Tugendübungen deutlich auf die Erläuterungen der Direktorien, die eine Fundgrube methodischer Überlegungen zur Durchführung der >Exercitia spiritualia< bereitstellen. Wie kaum ein anderes geistliches Werk haben die >Exerzitien< die Entwick4 5
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K. Rahner, Vorwort zu den >Geistlichen Übungen< (1981), S. 9. Pourrat, spiritualite III (1925), S. 3 0 - 4 5 . - Vgl. Guibert, spiritualite (1953), S. 142 f. Brucker (1922), Sp. 725. H . Rahner, Exerzitien (1959), Sp. 1299. Cusson (1971), Sp. 1312 f. Eine Sammlung von Direktorien erschien in den >Monumenta Ignatiana, Series secunda, Tom. II [.. .]< (1955), hg. v. Iparraguirre; abgekürzt als MI, Dir. MI, Dir., Doc. 33, 34, 43, S. 562—751, >Directoria conscripta usui et auctoritate R.P.C1. Acquavivae< (1591-1599); enthält das offizielle Direktorium (Doc. 43) mit seinen Vorstufen und Entwürfen.
lung der gegenreformatorischen Frömmigkeit bestimmt. 11 Um die Einflüsse der ignatianischen Übungen auf das >Tugendbuch< sichtbar machen zu können, sollen zunächst Aufbau, Thematik, Zielsetzung und Verfahren der >Exerzitien< in großen Zügen skizziert werden.12 In der ersten der zwanzig >AnweisungenGeistlichen Übungen< vorangestellt sind, definiert Ignatius Begriff und Inhalt der >Exerzitienje für sich< erkennen und in seiner persönlichen Lebensgestaltung zum Heil seiner Seele verwirklichen kann.14 Ignatius möchte dem Gläubigen ein wirksames Instrument zur Neuordnung seines Lebens an die Hand geben, das den Menschen dazu befähigt, aktiv an der Rettung seiner Seele mitzuwirken. Die Grundlagen seiner inneren reformatio erwirbt der Exerzitant unter Leitung eines erfahrenen Seelsorgers in einem anspruchsvollen, vier Wochen dauernden Übungskursus. Der Gläubige verbringt diese Zeit in äußerer Abgeschiedenheit und leistet täglich ungefähr fünf Stunden intensiver Gebets- und Meditationsarbeit.15 Die angestrebte Umorientierung verläuft in zwei Phasen: Auf der Stufe der Läuterung muß der Exerzitant seine Sündhaftigkeit erkennen und seine >ungeordneten< Leidenschaften bekämpfen, Reue und Buße disponieren ihn für den Empfang der göttlichen Gnade. Danach kann der Gläubige im zweiten Teil der >Exerzitien< (2.-4. Woche) beginnen, im Suchen und Finden des göttlichen Willens sein Leben neu zu gestalten.16 Einen verbindlichen Maßstab, an dem sich die Bemühungen des Exerzitanten und darüber hinaus jegliches menschliche Handeln orientieren muß, setzt das »Prinzip und Fundament< der >ExerzitienGeistlichen Übungen< richtet sich vor allem an die kleine Zahl derer, die einen höheren Grad der christlichen Vollkommenheit anstreben und die Voraussetzungen für einen weitergehenden spirituellen Fortschritt mitbringen.24 Den Auftakt zu dieser zweiten Phase des Exerzitienprozesses bildet die contemplatio über den >Ruf des KönigsBesinnung (meditacion) über zwei BannerContemplatio regni Jesu Christi ex similitudine regis terreni subditos suos euocantis ad bellumMeditatio de duobus uexillisSinnesart Jesu< durch seine Schüler. 32 In der 2.—4. Exerzitienwoche führt Ignatius dem Übenden Christus vor Augen, der den Willen Gottes in exemplarischer Weise erfüllt hat und daher dem Gläubigen als Vorbild bei seiner Lebensentscheidung dienen soll. 33 Wenn sich der Exerzitant in die Betrachtung der vita Christi vertieft, findet er darin ein exemplum virtutis, das verpflichtende Modell menschlicher Vollendung, dem es nachzustreben gilt.34 Suchen und Finden des göttlichen Willens vollzieht sich in einem langen Prozeß der Angleichung an Christus. 35 Bei der contemplatio über Leben und Leiden des Heilands soll der Retraitant daher alle Seelenkräfte darauf ausrichten, seinen Erlöser immer besser kennenzulernen und mit ihm vertraut zu werden.36 Intensive Meditation führt zu immer tieferer Teilnahme an Christi Leben und Sterben. In dem Maße wie die Betrachtung des Erlösers alle Gefühlskräfte und Seelenregungen des Exerzitanten in ihren Bann zieht, gewinnt das Christusbild an Leben. 37 Die >Exerzitien< wollen »unmittelbar den Schöpfer mit seinem Geschöpf und das Geschöpf mit seinem Schöpfer und Herrn wirken lassen.«38 Während der Exerzitant in seinen Betrachtungen über das Heilsgeschehen fortschreitet, erfährt er die liebende Hinwendung Gottes zum Menschen, die sich insbesondere in der Menschwerdung und im Kreuzopfer Christi offenbart. 3 ' Die Versenkung in das Passionsgeschehen enthüllt die Liebe Gottes in ihrer ganzen a » μ
Nr. 167; MI, Ex., S. 372. Nr. 189; MI, Ex., S. 390. Nr. 1 5 0 - 1 5 7 , 1 6 4 - 1 6 8 , 1 7 5 - 1 8 9 ; M I , Ex., S. 3 5 6 - 3 6 2 , 3 6 8 - 372u. 3 7 8 - 3 9 0 . - V g l . Meschler (1911), S. 80 und M. Schneider (1983), S. 113. Brucker (1922), Sp. 724 f. 32 Rahner, Betrachtungen (1965), S. 88 u. 121 f. Μ Lies (1983), S. 40. * Adnes (1971), Sp. 1589 f. - Vgl. Ledeur (1971), Sp. 1562. » Stierli, Ignatius (1981), S. 78 u. 119. * Sierp (1925), S. 136. - Vgl. Lies (1983), S. 64. w Richstätter, Herz (1924), S. 322. - Vgl. Rivera (1971), S. 32. « Nr. 15; MI, Ex., S. 238. - Vgl. Rivera (1971), S. 32. 3' Przywaralll (1940), S. 7.
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Tragweite und fordert zur Anteilnahme und zur Erwiderung der empfangenen Liebesbeweise heraus. In der Betrachtung zur Erlangung der LiebeExercitia spiritualia< betrachtet der Übende, »wie Gott in den Geschöpfen wohnt«, und erkennt dabei, »wie Gott um meinetwillen in allen geschaffenen Dingen [ . . . ] arbeitet und sich müht«. 41 Alle Einzelheiten des Schöpfungswerks enthüllen sich dem Betrachtenden als Zeichen der göttlichen Liebe.42 Das anfängliche Ringen um Distanz gegenüber den irdischen Dingen weicht am Ende der >Exerzitien< einer dankbaren Hinwendung zum Irdischen. Die >Contemplatio ad amorem spiritualem in nobis excitandum< nimmt - unter veränderter Akzentsetzung - den Grundgedanken des >Fundaments< auf und führt ihn zu seiner Vollendung im Zeichen der Gottesliebe, indem sie dem Gläubigen das ignatianische Ideal vom >Gott Suchen in allen Dingen< nahebringt. 43 Aus der abschließenden Zusammenschau der göttlichen Wohltaten erwächst der Wunsch des Exerzitanten, seine ganze Existenz in den Dienst Gottes zu stellen, der als >aktive Kontemplation verstanden sein will. 44 Ignatius betont, »daß die Liebe mehr in die Werke als in die Worte gelegt werden muß«. 45 Nicht in der weltflüchtigen vita contemplativa des Klosters, sondern im Dienst in der Welt und am Nächsten erfüllt sich die Liebe zu Gott. Mit dieser dezidierten Wendung zur Welt tragen die >Exerzitien< den Gedanken der Nachfolge Christi in den Alltag des Gläubigen hinein und begründen die für den Jesuitenorden charakteristische >Mystik der TatTugendbuch< Die überkommenen Standardthemen des aszetischen Schrifttums, die Ignatius von Loyola in seinen >Geistlichen Übungen< als kohärente Phasen eines spirituellen Lern- und Entwicklungsprozesses darstellte, 48 lassen sich auch im >TugendbuchExerzitien< beeinflußten Andachtsbüchern, nachweisen. Mehrere Kapitel beschäftigen sich mit
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Nr. 2 3 0 - 2 3 7 ; MI, Ex., S. 4 2 6 - 4 3 2 . Nr. 235 f.; MI, Ex., S. 430 u. 432. K. Rahner, Einübung (1970), S. 294. - Vgl. Stierli, Ignatius (1981), S. 199. Stierli,Ignatius (1981), S. 111 u. 1 1 8 f . M. Schneider (1983), S. 69. - Vgl. Stierli, Ignatius (1981), S. 200 und Brucker (1922), Sp. 725 f. Nr. 230; MI, Ex., S. 426. Stierli, Ignatius (1981), S. 7 0 - 7 4 u. 1 1 8 - 1 2 4 . - Vgl. Dumeige (1972), Sp. 1287f. Lippen (1956), S. 52. - Vgl. Lies (1983), S. 89. Guibert, spiritualite (1953), S. 110. - Vgl. Brucker (1922), Sp. 723.
den Themenkreisen Reue und Buße. 49 Der Gläubige ist aufgefordert, alle falsche Anhänglichkeit an die Geschöpfe abzulegen (besonders Kap. II 9—11). Spee nähert sich der ignatianischen Indifferenz-Forderung, wenn er in einer Übung »für die jenige, so etwan eine Creatur zu sehr lieben« (192,3; Kap. II 11), erklärt, die Liebe zu den Geschöpfen sei zwar an sich nicht sündig, sie dürfe den Menschen aber nicht so sehr beanspruchen, daß er »zum Gottes dienst vntauglich werde« (192,12 f.). In einem solchen Fall sei es für das Seelenheil notwendig, von dem übermäßig geliebten Geschöpf »sein hertz ein wenig abzuziehen, vnd widerumb zu Gott allein zu wenden« (192,18 f.). Im vanitas-Lied »Ich newlich früh zu morgen [...]« (182,25; vgl. T N Nr. 13) veranschaulicht das Gleichnis von der rasch aufblühenden und ebenso rasch verwelkenden Blume dem Leser »die eitelkeit deß menschlichen lebens« (182,20 f.), um ihn »zu aller weltlichen ding Verachtung« (181,5 f.) zu veranlassen. Dasselbe Ziel verfolgt die erste Exerzitienwoche, in der der Retraitant »um Erkenntnis der Welt« bittet, »damit ich mit Abscheu die weltlichen und eitlen Dinge von mir entferne«. 50 Wie Ignatius intendiert Spee die unbedingte Ausrichtung des Menschen auf ein übernatürliches Lebensziel. Die Liebe zu Gott duldet nicht, daß das menschliche Herz »anklebet an der Creatur« (197,9; vgl. 1 9 2 , 3 - 9 ) . Weltabkehr und die liebende Hinwendung zu Christus, die vor allem durch die zahlreichen Passionsbetrachtungen des >Tugendbuchs< gefördert wird, bedingen und ergänzen einander.51 Im >Tugendbuch< äußert sich die gleiche ambivalente Haltung gegenüber der >WeltGeistlichen Übungen< des Ignatius von Loyola kennzeichnete. Erscheint die Schöpfung im zweiten Teil des G T B als potentielles Hindernis, das den Menschen von seinem göttlichen Ziel abzulenken droht, so wendet sich die pia anima, wenn sie zu den Übungen der dritten göttlichen Tugend fortgeschritten ist, wieder der Schöpfung und den Mitmenschen zu. Doch zuvor muß die Caritas dem Gläubigen die Augen öffnen, damit er die Werke Gottes bestaunen und als Instrumente des Gotteslobs gebrauchen kann (besonders Kap. III 5 — 8). Dann findet der andächtige Betrachter in der Schönheit der Natur den Reflex der göttlichen Herrlichkeit. Je aufmerksamer der Fromme die Natur betrachtet, desto mehr ergreift ihn die Gottesliebe, die im dankbaren Lobpreis Ausdruck findet. Wie das Grundmotiv des Gotteslobs so wird in den Übungen des >Tugendbuchs< auch die betont praktische Ausrichtung der ignatianischen Frömmigkeit wirksam. Spee nimmt sehr genau die sozialen Mißstände seiner Zeit wahr, die Bedrängnis der Armen, denen niemand zu ihrem Recht verhilft 49
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K a p . I I I — 8 u. I I I 9 ; allerdings gibt Spee die systematische Stoffanordnung der >Exerzitien< auf. N r . 63; MI Ex., S. 292. 197,23-25; 209,36-40; 210,20-26; 338,6-10.
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(353,7—26), den (religiösen) Bildungsnotstand der Jugend (363,6—8) oder das Elend in den Spitälern und Gefängnissen. 52 In den Übungen, die zu einem »werck der Liebe deß nechsten« (353,2f.) anleiten (Kap. III 12-17 und 30), regt Spee sein Beichtkind an, mit den Mitteln, die ihm jeweils zur Verfügung stehen, die Not der Mitmenschen zu lindern. Auch wenn im >Tugendbuch< ein unüberwindlicher Hiat zwischen gutem Willen und guter Tat bestehen bleibt, so daß der bloß intendierten frommen Tat derselbe Rang zuzukommen scheint wie dem tatsächlich vollzogenen guten Werk,53 so gehört doch der aktive Einsatz für den Nächsten >zur größeren Ehre Gottes< zu den wesentlichen Anliegen des >TugendbuchsExerzitien< und ihr Einfluß auf die Gestaltung des >Tugendbuchs< 2.2.1. Das betrachtende Gebet in den >Geistlichen Ubungen< des Ignatius von Loyola Die >Exercitia spiritualia< sind daraufhin angelegt, den ganzen Menschen zu ergreifen.54 Alle Seelenkräfte sollen aktiviert und auf den Gegenstand der Andacht konzentriert werden. Dies geschieht durch die Anwendung verschiedener Gebets- und Andachtspraktiken, die sich ergänzen und in ihrem Zusammenwirken allmählich immer tiefere Schichten der Persönlichkeit ansprechen.55 Um die unterschiedlichen Übungsformen aufeinander abzustimmen und ihre Verbindung möglichst effizient zu gestalten, ist es notwendig, den Ablauf des Andachtsgeschehens genau zu regeln. Jede Übungseinheit folgt einem sorgfältig durchdachten und gegliederten Arbeitsplan.56 Mehrere Vorbereitungsübungen eröffnen jeweils die Andacht und stimmen den Exerzitanten auf das Thema der Übung ein. Dazu gehören die innere Sammlung des Retraitanten,57 ein Vorbereitungsgebet, mit dem der Gläubige die Gnade Gottes bei der anstehenden Aufgabe erfleht,58 eventuell eine kurze Rekapitulation des geschichtlichen Stoffsfiktiven Augenzeugen< (Lausberg) eines inneren Schauspiels«,100 das heftige Gemütsbewegungen hervorzubringen vermag. In den >Geistlichen Ubungen< transponiert Ignatius das Verfahren der rhetorischen Psychagogie in den Prozeß der Andacht. Er bedient sich der erprobten Strategien zur Affektlenkung, die ihm die Rhetorik bereitstellt, um mit ihrer Hilfe dem Gegenstand der Meditation oder Kontemplation zu größter psychologischer Wirksamkeit zu verhelfen. Strukturierung und Darbietung des Übungsstoffs entsprechen der Forderung nach Anschaulichkeit und amplifizierender Darstellung, wie sie die Schulrhetorik erhebt.101 In verschiedenen Übungsteilen und -phasen setzt Ignatius das (Phantasie-)Bild als wirkungsmächtigen Affektträger ein. Bereits in den Vorübungen findet das rhetorische Gestaltungsprinzip der evidentia Eingang in die Methode der >Exercitia spiritualiarepraesentatio historiaeBrevis instructio de modo tradendi Exercitia< (probabiliter P. Everardi Mercuriani, ca. 1575—1580), S. 243 [4] f. - Auch neuere Kommentatoren charakterisieren die Bestimmung der >Exerzitien< für die Frömmigkeitspraxis durch die Formel >zum Brauchen, nicht zum LesenGeistlichenUbungenAnweisung< ausspricht,135 findet sich im >Tugendbuch< wieder. Unter der Überschrift >Praecavenda capitis laesio< erörtert ein Kapitel des Direktoriums aus dem Jahr 1599 die Maßnahmen, die zu ergreifen sind, damit der Exerzitant nicht überfordert wird.136 Der Übende braucht Gelegenheit zur Erholung 137 oder zur »erquickung« (218,22), wie Spee es ausdrückt. Eine für den Exerzitiengeber bestimmte Weisung lautet: »inter alia, quae Instructor attendere debet, est etiam illud ne qui exercetur, caput laedat nimia attentione orandi«. 138 In der Übungsanweisung zu Kapitel III 29 übernimmt Spee diese Mahnung in nahezu wortgetreuer Übersetzung, wenn er erklärt, die folgende Übung sei nur für solche Beichtkinder bestimmt, »so einer guten discretion seind, vnd dermassen verstendig daß man vermuten mag, sie es ohne Verletzung ihres haupts verrichten können« (484,5 — 8). Und kurz darauf schreibt er über »andächtige fromme Kinder« (484,9), die ihre Andachtsübungen besonders gewissenhaft verrichten wollen: »wan sie dan etwan in einem oder andern nicht gleich nachkommen können, brechen sie ihre häupter« (484,12 f.). Wie diese Entlehnung aus dem offiziellen >ExerzitienExercitia spiritualia< gewonnen hatte, und vermittelt auf diese Weise dem Benutzer des >Tugendbuchs< die methodischen Voraussetzungen für seinen weiteren Fortschritt im Gebetsleben.
2.2.4. Rhetorische Andachtselemente im >Tugendbuch< Spees Tugendübungen stimmen mit dem Vorbild der >Exerzitien< darin überein, daß alle natürlichen Fähigkeiten des Menschen, seine sinnliche AuffasN r . 18;MI, Ex.,S. 242u. 244;vgl. G T B 14,23 f. (Beicht) u. Kap. III 3 1 - 3 5 (Kommunion). 135 N r . 14 u. 18; MI, Ex., S. 234 u. 236, 242 u. 244. »» MI, Dir., Doc. 43, S. 607 [65]. »» MI, Dir., Doc. 43, S. 681 - 6 8 3 [159]. 138 MI, Dir., Doc. 43, S.607 [65] u. ebd., S.653 [120]: »modus servandus, ut cum attentione, et sine capitis laesione perseverari possit, et quomodo se animus colligere, collectumque tenere debeat.« - Vgl. Doc. 31, S. 497 f. [56]: »Verum est quod cum parum expertis, et in initio Exercitiorum excursiones aliquas indicare oportet, et aperire quasi viam ad meditandum, ne aliqui rüdes laedere caput cogantur.« Ähnl. ebd., S. 504 [71].
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sungsgabe, Gedächtnis, Verstand, Phantasie und Wille, am Andachtsgeschehen beteiligt sind.139 Neben diskursiv-belehrenden Bestandteilen werden daher besonders auch visuelle und imaginative Elemente als Mittel der Affektlenkung in die Andacht einbezogen. In weitem Umfang übernimmt Spee die anschaulichen, affektwirksamen Präsentationsformen und Gestaltungsmittel, die Ignatius von Loyola in Anlehnung an die Strategien der Rhetorik entwikkelte, und wendet sie auf einen erweiterten Stoffbereich an. Spee, der zeitweilig selbst als Rhetorikprofessor unterrichtete,140 beherrscht souverän das von Ignatius für die Andachtspraxis aufbereitete Instrumentarium der antiken Redekunst. Im >Tugendbuch< paßt Spee die rhetorisch fundierten Meditationspraktiken der ignatianischen >Exerzitien< der Wirkungsabsicht und dem Adressatenkreis seines Erbauungsbuches an. Er ergänzt die Elemente der ignatianischen Andacht aus eigener Erfindung oder aus weiteren Quellen, um ihre Wirksamkeit zu steigern, und kombiniert diese heterogenen Komponenten zu einem vielgestaltigen, auf emotionale Beeinflussung und religiös-sittliche Erziehung des Lesers abgestimmten geistlichen Übungsprogramm. Mehrere Kapitel des >Tugendbuchs< beginnen mit einer Ortsbeschreibung nach dem Muster der ignatianischen compositio loci. In Kapitel 16 weckt der Erzähler durch die descriptio eines prunkvollen Schauplatzes die Aufmerksamkeit des Beichtkindes: Es führete mich letztlich ein guter Engel in einen Fürstlichen, schön, vnd herrlichen pallast, der mit den allerköstlichsten gemähl, täppich, gold, silber, edelgestein dermaßen gezieret war, vnd gleichsam leuchtete, daß ich nicht anders meinete, dan es müste gewißlich ein antritt oder vorgemach deß himmels sein (58,25—29).
Nach einigen einleitenden Bemerkungen über Ziel und Gegenstand der Übung entwirft Spee in der Einführung zu Kapitel III 5 eine amöne Szenerie als Raum der Meditation und des Gotteslobs: [ . . . ] Da dauchte mich, ich käme in einem gesicht auff eine schöne wise, da alles laub vnd graß, gar lieblich als im anfang des Frühlings, furgeschlagen ware. In mitten war ein lebendig klares brünnlein, heller als Crystall, darumb ich zwölff himmlische Jungfrawen sitzen sähe (280,14—18).
In zahlreichen Gedichten des >Tugendbuchs< und der >Trutznachtigall< übernimmt der traditionelle Natureingang die Funktion einer poetischen compositio loci, die den Gläubigen auf den meditativen Gehalt seiner Lektüre einstimmt und eine adäquate Kulisse für das >Seelendrama< der pia anima bereitstellt.141 140
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Oorschot, Abhandlung (1968), S. 114 u. 121. 1618-1619 in Mainz. - Vgl. Oorschot, Lebensdaten (1984), S. 10 und Kemper, Spee (1984), S. 95. Z . B . »Noch andere Seufftzen der andächtigen Seelen nach J E S U M « (239,22ff.; = T N N r . 4); »Ich newlich früh zu morgen« (182,25ff.; = T N N r . 13); »Anders gedieht in abgang der Trawrigkeit« (173,26ff.; = T N N r . 17).
Bei der anschaulichen Vergegenwärtigung des Andachtsgeschehens folgt Spee zuweilen dem dreiteiligen Schema personae - dicta - opera,142 wobei den Worten die größte Bedeutung zukommt. Kap. 16 stellt nach der Beschreibung des Schauplatzes die Akteure vor: O b e n an, nach der breite des Pallasts, sassen zwölff Fürstliche Personen, in lauter purpur, vnd Scharlach gekleidet, ein jede auff einem fast königlichen thron: hetten alle in ihren händen lauter güldene wolklingende harpffen; auff denen sie gar lieblich spieleten ( 5 8 , 3 0 - 3 3 ) .
Nach dieser descriptio der handelnden Personen gibt die zwölf >Punkte< umfassende Übung die Worte der zwölf Apostel-Fürsten wieder. Jeder von ihnen trägt einen Artikel des Apostolischen Glaubensbekenntnisses in Liedform vor und wird in einer dramatischen Szene von einer feindlichen Menschenmenge bedroht. Wie die Betrachtungen der 2.—4. Exerzitienwoche den Übenden jeweils zur Rückbesinnung auf sich selbst< führen, »um einigen geistlichen Nutzen zu ziehen«, 143 so ist auch der Leser des >Tugendbuchs< dazu aufgerufen, in dem imaginierten Andachtsgeschehen Partei zu ergreifen: »Was duncket dich nun, mein kind, wiltu es mit disen thoren oder mit dem Apostel halten?« (61,2—4), fragt der Beichtvater in jedem der zwölf Übungsabschnitte. Durch intensive Anteilnahme an dem vorgestellten Geschehen macht sich der Übende die vorbildliche Glaubensstärke der Apostel zu eigen. Jeder der zwölf parallel gebauten Abschnitte endet mit dem persönlichen Bekenntnis des Beichtkindes: »Ich halte es mit dem H. Apostel« (64,24) und gipfelt am Ende des Kapitels in den Entschluß, »ein ander frommes leben« (65,9) zu beginnen. Ein ähnliches Schema liegt Kapitell 10f. zugrunde. Nach einer kurzen repraesentatio historiae (81,27-36) eröffnet der Erzähler den ersten Teil der Übung mit der compositio loci: E s käme mir gar eigendich in gedancken für, als wäre ich auff einem großen Schawplatz, allda in angesicht einer vnzähliche mänge aller vnglaubigen Völcker ein öffentliches halßgericht gehemmet werden solte (82,2—8).
Darauf werden die Hauptpersonen des Andachtsgeschehens vorgestellt: »Vnd siehe da, man führte vor gericht einen alten fast betagten gefangenen, Welchen ich gleich an seinen gebärden erkente, das er der Heilige S.Petrus wäre« (82,6—8). Im Verlauf der dramatischen Aktion wird der Protagonist von seinen Widersachern angeklagt (82,9—34), er bekennt seinen Glauben »mit einem vnerschrockenem Löwenmuth« (82,35) und erleidet das Martyrium, das Spee ausführlich beschreibt (82,39—83,2). Nach diesem erbaulichen »Spectakel« (90,9) ruft der Beichtvater den Leser zu einer persönlichen Stellungnahme auf: »Nun komme ich zu dir, mein kind, [...]«(83,3 ff.). Emphati»« N r . 1 0 6 - 1 0 8 ; M I , Ex., S. 324 u. 326. - Vgl. M I , Dir., D o c . 4 3 , S. 673 [151]. « « N r . 1 1 4 - 1 1 6 ; MI, Ex., S. 332 u. 334.
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sehe Zustimmung zu den einzelnen Glaubensartikeln und herzliche »frewd« (83,4) über die Ehre, die die Apostel Gott darbrachten, signalisieren die pia affectio des andächtigen Lesers, die sich bis zum martyrium in voto steigert (83,18-32). Um mit seinen szenischen Schilderungen eine besonders lebendige Wirkung zu erzielen und um den Wahrheitsgehalt des Andachtsgeschehens zu beglaubigen, gibt der Seelsorger zuweilen vor, Selbsterlebtes zu berichten (z.B. K a p . H i l l ; S.339,7f.), oder er benützt den erzählerischen Kunstgriff der fiktiven Augen- und Ohrenzeugenschaft (z.B. Kap. 114; S. 130,24—27). Mehrmals scheint Spee Bilder wiederzugeben, die ihm selbst während meditativer Übungen vor sein geistiges Auge traten. Die Einleitung zu Kap. III 5 läßt den Leser an »einem gesicht« (280,14) teilhaben, das der Erzähler hatte, als er »einsmahls in allerhand gedancken« war, »wie es doch so herrlich sein mögte, wan alle Creaturen Gott ihrem Schöpffer recht dienen, vnd ihm loben mögten« (280,11-14). 1 4 4 Detailreiche, dynamische Darstellungen fesseln das Interesse des Lesers und geben seinem Vorstellungsvermögen Nahrung, um es sogleich in den Dienst der Andacht zu stellen. Oft appelliert Spee direkt an die Phantasie des Lesers und fordert ihn mit der Wendung »Bilde dir für [.. ,]«145 zur Betätigung seiner Einbildungskraft auf. Eine anschauliche »fürbildung« (199,29) verleiht dem betrachtenden Teil der Übung dramatische Präsenz. Besonders eindringlich und ergreifend wirkt das imaginierte Andachtsgeschehen auf das Gemüt des Gläubigen, wenn der Verfasser seine Schilderungen durch eine Fülle pathoshaltiger Einzelheiten lebhaft ausmalt. Das Direktorium von 1599 empfiehlt vor allem dem ungeübten Exerzitanten, bei der Betrachtung der Passion Christi das dreiteilige ignatianische Schema für die Vergegenwärtigung von Personen, ihren Worten und Werken durch die Anwendung zusätzlicher circumstantiae zu erweitern: Debet tarnen, iis praesertim qui non adeo sunt exercitati, aperiri via in hac materia per ilia puneta quae communiter tradi solent, quis patiatur, quid patiatur, a quibus, et propter quos. 1 4 6
Das rhetorische Urbild für dieses Andachtsverfahren hatte Matthäus von Vendome bereits im 12. Jahrhundert in einem allgemein anwendbaren Gerüst »heuristischer Grundpositionen« 147 niedergelegt und in seinem bekannten i+4 Vgl. die Einleitung zu Kap. 110 u. 11: »als ich newlich etwas tieffer bey mir nachgedacht, wie mit herrlicher standhafftigkeit die heyligen Apostel [ . . . ] für den einmal gefaßten Christlichen glauben leib vnd leben in die schantz geschlagen: dauchte mich als wan ich aller ihrer vnterschiedliche bekantnuß vnd Marter [ . . . ] an ietzo da zugleich für äugen schawete« (81,27—33). 145 1 8 6 , 5 ; ähnl. 1 2 1 , 2 1 ; 1 6 5 , 7 ; 1 9 2 , 2 3 ; 199,24; 2 6 9 , 2 3 ; 2 7 1 , 1 ; 2 7 2 , 3 4 u.ö. H7
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MI, Dir., Doc. 43, S. 729 [241], Plett (1979), S. 12.
Merkspruch prägnant zusammengefaßt: »quis, quid, ubi, quibus auxiliis, cur, quomodo, quando.« Spees Passionsbetrachtung in der Meßerklärung des Kapitels III 29 verrät die Schulung an der Methode der >Exerzitien< und am Bildungsgut der Schulrhetorik. In der genannten Tugendübung benützt Spee für die Stoffdisposition einen Fragenkatalog, der die inventio anschaulicher, die Meditation fördernder Einzelheiten erleichtert. Wenn sich der Priester in der Messe auf die Wandlung vorbereitet, soll der Gläubige Christi Weg zum Kalvarienberg bedenken und sich dabei folgende, in Gebetsform wiedergegebene Andachtspunkte vor Augen halten: Ο Gott vnd Herr, wer wird außgeführet? das vnschuldige lämblein JESUS, das allerzarteste kind Gottes vnd Mariae, so keinen menschen ie beleidiget. Wo wird es hingeführt? zur Statt hinauß, auß der gesellschaft der menschen, zum berg Calvarie, zur gerichtsstatt, zu dem allerschmählichsten Todt. Wie wird es geführet? [ . . . ] Warumb wird es hingeführt? Vmb meinet willen; dieweil er mich zu sehr geliebet. Ich bin die vrsach seines leidens, vnd sterbens [ . . . ] (492,35—493,11).
Angeregt durch die ignatianischen colloquia kleidet Spee zahlreiche Kapitel im zweiten und dritten Teil des >Tugendbuchs< in die Form eines Dialogs zwischen der Seele und dem Gekreuzigten. 148 Den Instruktionen des Exerzitientextes zufolge soll der Retraitant »anschaulich sich vorstellen (imaginando) wie Christus unser Herr gegenwärtig ist, und ein Zwiegespräch beginnen«. 14 ' Ahnlich fordern die Übungsanweisungen im >TugendbuchTugendbuchs< darf dem imaginierten Andachtsgeschehen nicht als distanzierter Beobachter gegenüberstehen, sondern findet sich unversehens als Akteur darin verstrickt. Wußte der Übende bislang, daß Christus gestorben ist, um den Menschen zu erlösen, so erlebt die pia anima nun das Geglaubte in der Konfrontation mit dem sponsus Christus als persönliches Heilsangebot. Dadurch daß Christus selbst als sprechende und handelnde Person in die Andacht eingeführt wird, gewinnen die Appelle zur christlichen Vervollkommnung, die das >Tugendbuch< vorbringt, ein Höchstmaß an Überzeugungskraft. Spee inszeniert ein paradigmatisches Rollenspiel zwischen der anima sponsa und dem sponsus Christus, das die Einübung des Lesers in die drei göttlichen Tugenden zum Ziel hat. Zeichnet sich bereits im Methoden-Pluralismus des >Tugendbuchs« Kap. 113, S. 1 2 6 , 1 7 - 1 2 9 , 2 2 ; 118, S. 1 6 4 , 7 - 1 6 8 , 8 ; I U I ; S. 1 9 2 , 2 2 - 1 9 7 , 3 0 ; III3, S. 272,30 - 2 7 6 , 3 5 ; III 18, Nr. 56 u.ö. Nr. 53f.; MI, Ex., S. 282 u. 284.
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unterschiedlichen Fähigkeiten und Neigungen seiner Benutzer gerecht zu werden versucht, das allmähliche Erstarken des personalen Moments in der Andacht ab, so illustriert und verstärkt Spees Rückgriff auf die Liebessituation des Hohenliedes diese Tendenz. Die Andacht gewinnt zusehends privaten Charakter, sie wird zum vertraulichen Dialog der Seele mit ihrem himmlischen Bräutigam. Das Brautschaftsmotiv aus dem Hohenlied stellt das emotionale Zentrum und den meditativen Rahmen der Andacht bereit, in deren Verlauf sich der Leser in die Rolle der anima sponsa vertieft und deren vorbildliche Haltung selbstloser Liebe annimmt. Anders als der Gläubige, der die >Exercitia spiritualia< absolviert, findet der Benutzer des >Tugendbuchs< eine vorgefertigte Textgrundlage für seine Andachtsübungen vor. An die Stelle der spontanen, unmittelbaren Kommunikation des Exerzitanten mit Gott, tritt im >Tugendbuch< der stilisierte Dialog zwischen anima sponsa und dem sponsus Christus. Indem Spee seine Tugendübungen zum allegorischen Rollenspiel ausgestaltet, vereinfacht er das anspruchsvolle Andachtsverfahren der >Exercitia spiritualiaGeistlichen Ubungen< zum freien betrachtenden Gebet an. Der Exerzitiengeber fungiert dabei vorwiegend als geistlicher Berater, der dem Retraitanten die für die Andacht erforderlichen methodischen Kenntnisse vermittelt, ohne in den Gebetsdialog zwischen Gott und dem Gläubigen einzugreifen.150 Während der Andacht bleibt die individuelle Ausarbeitung des vorgegebenen Stoffgerüsts dem Retraitanten überlassen, der seine Gebete selbständig formuliert und Gott seine persönlichen Anliegen vorträgt. Dagegen kommt im >Tugendbuch< die Regie des Seelsorgers weitaus stärker zum Tragen. Während Ignatius die »emotionale Selbstaffizierung« 151 des Übenden als entscheidende Voraussetzung für den spirituellen Fortschritt betrachtet, hat im >Tugendbuch< die sorgfältige elocutio der Übungstexte, mit deren Hilfe der Seelsorger die frommen Gemütsbewegungen des Lesers lenkt, wesentlich Anteil am Erfolg der Andacht. Der massive Einsatz rhetorischer Figuren im Text des >Tugendbuchs< weckt bei der andächtigen Lektüre in der Seele des Gläubigen die pia affectio, die der Exerzitant selbsttätig durch entsprechende imaginative und gedankliche Operationen hervorbringt. Mit Spees Übungsprogramm, das wenigstens teilweise den Versuch darstellt, den Exerzitienprozeß in die schriftliche Form des Andachtsbuches zu übersetzen, ermöglicht der Verfasser auch dem ungeschulten Leser, die Errungenschaften der ignatianischen Methode für sein Gebetsleben zu nutzen.
150 Nr. 15-17; MI, Ex., S. 236-240. - Vgl. Roustang (1960), Sp. 1399 f. >5i Plett (1979), S. 6.
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2.3. Das rhetorische Verfahren der amplificatio als Grundstruktur der Andacht 2.3.1. Vier amplifizierende Betrachtungsmodelle im Exerzitienbuch Nicht nur in einzelnen Übungselementen wie der compositio loci, den colloquia oder der Betrachtung anhand von circumstantiae, auch in der Struktur größerer Übungseinheiten wird die >Rhetorisierung< der Andacht durch Ignatius von Loyola erkennbar. In einer instruktiven Untersuchung, die die Verwandtschaft der >Exercitia spiritualia< mit den Methoden der antiken Psychagogie aufzeigt, stellt P. Rabbow vier Übungstypen vor, in denen Ignatius das Verfahren der amplificatio für die Zwecke der Andacht adaptiert.152 Die Schulrhetorik unterscheidet mehrere Methoden, die dem Redner erlauben, durch gedankliche und sprachliche Mittel einen Gegenstand größer und bedeutender erscheinen zu lassen.153 Zu den wichtigsten Formen der pathetischen amplificatio gehören der überbietende Vergleich (comparatio), die graduelle Steigerung, die oft als dreifach ansteigende Reihe auftritt (incrementum), ferner das Verfahren der ratiocinatio, wobei die Amplifikation von Begleitumständen auf die Größe des Gegenstandes selbst schließen läßt, und schließlich die Akkumulation von Begriffen, oft in Gestalt der Synonymenhäufung (congeries). Weitere amplifizierende Darstellungsformen können mit Hilfe der loci argumentorum gewonnen werden.154 In den >Exercitia spiritualia< lassen sich vier Übungstypen unterscheiden, deren Struktur von den rhetorischen Amplifikationstechniken bestimmt ist. Der erste von ihnen besteht in einer »Vergrößerung durch den Vergleich und der Erhöhung in den Komparativ«. 155 Dabei wird ein großer, an sich schon gewichtiger Sachverhalt als Vergleichsgegenstand herangezogen und vom Gegenstand der Andacht überboten, wodurch dieser noch größer erscheint. Eine zweite Form der Amplifikation vergrößert ihren Gegenstand, indem sie ihm in einer ansteigenden Reihe von Betrachtungspunkten den obersten Platz zuweist und ihn so stufenweise in den Superlativ erhebt.156 Die Umkehrung dieses Verfahrens zur Antiklimax dient der gezielten minutio, etwa der Selbsterniedrigung des reuigen Sünders.157 Als dritte Möglichkeit der >parteiischen< Vergrößerung erzielen die >Exercitia spiritualia< die Intensivierung und Multiplikation eines Eindrucks »durch Vereinzelung und Zerlegung«. 158 Rabbow (1954), S. 5 6 - 70. 153 Lausberg (1973), §§401—406; eine abweichende Systematik findet sich bei Plett (1979), S. 44-56. 1* Lausberg (1973), §259. iss Rabbow (1954), S. 58. - Z.B. Nr. 50-52; MI, Ex., S. 276-282. Rabbow (1954), S. 58 f. - Z.B. Nr. 195-197; MI, Ex., S. 195 u. 197. 157 Rabbow (1954), S. 59f. - Z.B. Nr. 58; MI, Ex., S. 286 u. 288. 158 Rabbow (1954), S.60f. - Z.B. Nr. 56; MI, Ex., S.284.
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Neben diesen drei Übungstypen, die Ignatius aus den genera amplificationis im engeren Sinn entwickelte, leitet er eine vierte Möglichkeit der Amplifikation aus dem locus e contrario ab. 159 Dieser Typus der meditatio beruht auf einer polaren Disposition des Betrachtungsstoffs, 160 wobei die psychologische Wirkung des Andachtsgegenstands durch Kontrasteffekte gesteigert wird. Diese vier Typen des geistlichen exercitiums können beliebig modifiziert und untereinander kombiniert werden. Die Schlußbetrachtung der Geistlichen ÜbungenContemplatio ad amorem spiritualem in nobis excitandumTugendbuchs< bieten die vier amplifizierenden Übungstypen variable Grundmuster, die dem Erfindungsreichtum des Autors genügend Spielraum für die Entfaltung seiner kombinatorischen Phantasie läßt.
2.3.2. Der komparative Andachtstyp bei Spee Ein markantes Beispiel für das Verfahren der Vergrößerung durch comparatio findet sich in Kapitel II 9 des >TugendbuchsTugendbuch< zahlreiche Beispiele. Die polarisierende Präsentation eines Andachtsgegenstandes eignet sich besonders dafür, die Emotionen des Hörers oder Lesers >im Parteiinteresse< zu lenken. Eine Reihe von Übungen im zweiten Teil des >Tugendbuchs< hat das Ziel, »ein verlangen vnd begierd, auch großschetzung der himmlischen, hingegen aber Verachtung der irrdischen Sachen« (179,3—5) zu wecken (Kap. II 9— 11 und 13 f.). In antithetischer Zuspitzung stellt Spee Zeit und Ewigkeit, die vanitas alles Irdischen und die unvergängliche Herrlichkeit des Himmlischen Jerusalems, die Verderben bringende Liebe zur Welt und die seligmachende Liebe zu Gott, ewigen Tod und ewiges Leben einander gegenüber, um seiner geistlichen Tochter< den Entschluß zur Weltverachtung zu erleichtern. Meist führt Spee durch die starke Akzentuierung von Gegensätzen eine Entscheidungssituation nach dem Modell der >Exercitia spiritualia< herbei. Wie der Exerzitant in der >Besinnung über zwei BannerTugendbuchs< für Gott oder für die Welt Partei ergreifen (552,25-554,24). Wie in den drei zuvor besprochenen amplifizierenden Andachtstypen stellt auch in den antithetisch aufgebauten Tugendübungen die Schulrhetorik die bewährten Mittel für eine wirkungsvolle Strukturierung und für die kunstvolle gedankliche Vergrößerung eines Betrachtungsgegenstandes zur Verfügung. Durch die Integration rhetorischer Strategien in die Andacht gewinnt Spee, wie vor ihm sein Vorbild Ignatius von Loyola, ein vielseitiges, in der Andachtspraxis erprobtes Instrumentarium zur emotionalen Beeinflussung seiner Leser und das heißt auch zur religiösen und sittlichen Besserung des Gläubigen.
2.4. Adaptationen und Bearbeitungen der >Geistlichen Übungen< Spiritualität und Methode der >Exercitia spiritualia< gaben Spee wichtige Anregungen für die Konzeption seines Erbauungsbuches, doch ist dieser Einfluß nicht im Sinne einer engen Anlehnung an das ignatianische Modell zu verstehen, sondern vielmehr als eine produktive Aneignung und Weiterentwicklung vorbildlicher methodischer Prinzipien. Das so entstandene Werk wahrt seinen eigenständigen Charakter und kann unter Umständen bedeutsame Neuansätze aufweisen, die bei seinem Vorläufer und Lehrer noch nicht vorgebildet waren. «β' Nr. 136-148; MI, Ex., S. 348-356. 77
Der entscheidende Anstoß zu zahlreichen Umgestaltungen und weitreichenden Modifikationen der ignatianischen Übungen, wie Spee und andere zeitgenössische Autoren sie unternehmen, ging vom Exerzitienbuch selbst aus. Ignatius erkannte, daß der Weg zum Heil nicht für jedermann der gleiche sein kann. Mehrmals betont er die Notwendigkeit, seine >Geistlichen Ubungen< flexibel zu handhaben. In der 18. >Anweisung< erklärt er: Die vorliegenden Übungen haben sich den eigentümlichen Voraussetzungen (disposicion) derer anzupassen, die sich ihnen unterziehen wollen, nämlich ihrem Alter, ihrer Bildung oder ihrer geistigen Fassungskraft. 182
Die Form der Einzel-Exerzitien ermöglicht es, die Übungen den besonderen Anlagen jedes Menschen entsprechend abzuwandeln, die methodische Vielfalt des Werks kommt individuellen Eigenarten der Übenden und ihren unterschiedlichen Fähigkeiten entgegen.183 Je nach Alter, Bildung, Vorgeschichte und Belastbarkeit des Retraitanten sollen die Schwerpunkte der >Exerzitien< verlagert werden. Weil sich nicht jede Übung gleichermaßen für alle eignet, kann manches gekürzt oder übergangen werden, andere Passagen, die mehr Gewinn versprechen, sollen dagegen intensiver bearbeitet werden. Da der vollständige Exerzitienkursus hohe Anforderungen an den Teilnehmer stellt und hauptsächlich für eine geistliche Elite von Ordensleuten bestimmt war,184 empfiehlt Ignatius eine verkürzte Version mit einer täglichen Übungszeit von eineinhalb Stunden für Personen, die im öffentlichen Leben stehen. 185 Eine vereinfachte Form der >Geistlichen ÜbungenFundament< berücksichtigt, eignet sich auch für wenig gebildete Personen und fand daher in der Volksmission Verwendung.186 Auch die Kommentatoren der >Exercitia spiritualia< unterstreichen den individuellen Grundzug, der das ignatianische Andachtsverfahren kennzeichnet. So unterscheidet z.B. das Direktorium des bayrischen Jesuiten Paul Hoffäus (1524—1608) neun verschiedene Personengruppen, denen die >Exerzitien< auf jeweils unterschiedliche Weise erteilt werden sollen.187 Die meisten Direktorien geben dem Seelsorger ergänzende Instruktionen für die Arbeit mit einfachen, ungebildeten Leuten, die die >Geistlichen Übungen< absolvieren N r . 18; MI, Ex., S . 2 4 2 u . 244. i » Guibert, spiritualite (1953), S. 1 1 2 - 1 2 1 . - Vgl. Lippen (1956), S. 37 u. 99. 184 MI, Dir., Doc. 43, S. 581 [19]. - Vgl. H . Rahner, Exerzitien (1959), Sp. 1299. 185 N r . 19; MI, Ex. S. 244 u. 246. 186 N r . 18; MI, Ex., S. 242 u. 244. - Vgl. Duhr, Geschichte I (1907), S. 468. 187 MI, Dir., Doc. 17, S. 218—240: >Instructiones magistri Exercitantium Α. P. Hoffaeo traditae< (ca. 1575—1580), S. 220 [2]: »De personis et rebus in quibus pro sua quisque conditione exercendus videtur.« - Vgl. Doc. 12, S. 172—178: >Excerpta ex instructione ignoti auctoris< (ca. 1 5 7 5 - 1 5 8 0 ) , S. 176 [17]: »Multiplex est modus tradendi Exercitia ac (sie) diversis hominum generibus«. 182
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wollen. Diese Gruppe von Gläubigen braucht neben dem religiösen Elementarunterricht besondere Unterweisung in einfachen Gebetsformen. 188 Mit seiner Forderung, die >Exerzitien< den Bedürfnissen verschiedener Benutzerkreise anzupassen, regte Ignatius zahlreiche freie Bearbeitungen seiner >Geistlichen Übungen< für die Zwecke der praktischen Seelsorge an. 189 U. a. wurden und werden auch heute noch gekürzte und vereinfachte Fassungen des Exerzitienkurses erteilt, die vierzehn, acht oder nur drei Tage umfassen." 0 In seiner Adaptation der ignatianischen Methode bindet Spee die allmählich einsetzende Individualisierung der Andacht, die mit den >Exercitia spiritualia< ihren Einzug ins Gebetsleben hält, an die allegorisch gedeutete Bildlichkeit des Hohenliedes, die ihrerseits die Einzelseele in ihrer Beziehung zu Gott in den Mittelpunkt des religiösen Lebens rückt. Damit ergänzen sich im >Tugendbuch< eine fortschrittliche, auf möglichst hohe Wirksamkeit hin angelegte Gebetsmethode und die allegorische Einkleidung des Andachtsgeschehens zu einem ansprechenden geistlichen Übungsprogramm für die private Erbauung eines vorwiegend weiblichen Leserkreises. In dem 1925 erschienenen Aufsatz >Das Heilandsbild der Exerzitien< schlägt P. Sträter eine adressatenspezifische Abwandlung der ignatianischen Übungen vor, wie Spee sie bereits 300Jahre zuvor im >Tugendbuch< verwirklicht hat. Es dürfte, meint der Theologe unseres Jahrhunderts, »kein Abweg sein, die zweite Woche bei Schwestern-Exerzitien auf die Brautwerbung Christi, des Königsohnes, umzustellen«.191 Eine Adaptation der >Exerzitien< speziell für den Gebrauch von Devotessen oder anderen frommen Frauen im Rahmen eines Andachtsbuchs konnte zu Spees Zeit notwendig oder doch nützlich erscheinen, da man Frauen im allgemeinen - wenn überhaupt - nur die erste Woche der >Geistlichen Übungen< zu erteilen pflegte.192 Die Frage, ob und in welcher Weise Frauen die >Exerzitien< absolvieren sollten, wird in den Direktorien ausgiebig diskutiert. Grundsätzlich gelten von Ausnahmen abgesehen - für Frauen dieselben Bestimmungen und das gleiche reduzierte Übungsprogramm wie für die Gruppe der »rüdes et illitterati«, die zu den >Exerzitien< zugelassen werden wollen. 193 Um Klatsch und Verdächtigungen zu vermeiden, dürfen Mitglieder des Jesuitenordens nur in der Kirche und nur in mündlicher Form geistliche Übungen an Frauen weitergeben: 'es MI, Dir., Doc. 43, S.607 [65]; Doc. 18, S. 248 f. [ 1 9 - 2 7 ] ; Doc. 17, S.220 [3]. Guibert, spiritualite (1953), S. 5 3 8 - 5 4 0 . - V g l . Iparraguirre, Historia (1973), S. 113. 1.0 H . Rahner, Exerzitien (1959), Sp. 1299. - Vgl. A. Haas, Erklärungen zu den >Geistlichen Übungen< (1981), S. 185. 1.1 Sträter, Heilandsbild (1925), S. 109. 192 Iparraguirre, Historia (1973), S. 520 u. 527. - Vgl. Duhr, Geschichte I (1907), S. 466. MI, Dir., Doc. 43, S. 617 [83]; Doc. 18, S. 255 f., [75]. 189
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illud observari deberet, quod prudentiae est, ut ipsae [sc. feminae] in ecclesiam nostram veniant ad accipiendas meditationes; et ita caute procedatur, ne ulla suspicio aut scandalum sequatur. Q u a m etiam ob causam fortasse expediet, ut non dentur meditationes in scriptis, sed voce, ne homines existiment aliquas esse epistolas. Q u o d si scripto utendum erit, fiat omnino discrete. 194
Spee befolgt diese Vorsichtsmaßnahmen, die die Autoritäten seines Ordens im Umgang mit Frauen empfahlen, gewissenhaft. Erst nach einigem Zögern und nur mit Genehmigung der Ordensleitung erklärt er sich bereit, seinem Beichtkind schriftliche Andachtsübungen zu übergeben (13,4—18), und diese Übergabe findet offenbar in der Kirche statt, wo Spees >geistliche Tochter< ihre wöchentliche Beichte ablegt (vgl. 14,2—5). Außer der Furcht vor Skandalgeschichten und außer ihrem geringen Vertrauen in die Geistesgaben ihrer weiblichen Schützlinge hatte die Societas Jesu noch weitere Gründe für ihre auffällige Zurückhaltung auf dem Gebiet der Frauenseelsorge. Seinen Statuten gemäß wollte der Jesuitenorden seine Kräfte nicht wie die alten Orden in der geistlichen Betreuung von (Nonnen-)Klöstern binden, sondern betrachtete Mission und Unterrichtswesen als seine wichtigsten Arbeitsfelder. 195 Diese Haltung änderte sich auch nicht, als zu Beginn des 17. Jahrhunderts einige der neu entstandenen Frauengemeinschaften, vor allem die Englischen Fräulein, deren Status innerhalb der Kirche noch heftig umstritten war, engen Anschluß an die Jesuiten suchten und teilweise sogar den organisatorischen Aufbau der Gesellschaft Jesu nachahmten.196 In die Auseinandersetzungen um diese modernen geistlichen Gemeinschaften, die sich dem Unterricht und der Krankenpflege widmeten und aus diesem Grund die strengen Klausurvorschriften der älteren Frauenorden ablehnten, wollten sich die Jesuiten nicht verstricken lassen und vermieden es, die Rolle von Fürsprechern dieser religiösen Gruppierungen zu übernehmen.197 Da gerade in diesen Kreisen das Bedürfnis nach vertiefter, methodischer Unterweisung im Gebet groß war, baten Angehörige derartiger Gemeinschaften häufig darum, unter der Leitung von Priestern des Jesuitenordens die >Exerzitien< absolvieren zu dürfen. 198 In dieser Situation spricht sich bereits im Jahr 1600 der damalige Ordensgeneral Aquaviva dagegen aus, Frauen überhaupt zu den >Geistlichen Ubungen< zuzulassen. Stattdessen solle man ihnen zur Lektüre geistlicher Bücher raten,199 die dem Glaubenseifer frommer Damen ein hinlängliches Betätigungsfeld gewähren. MI, Dir., Doc. 43, S. 617 [83]; ähnliche Vorsichtsmaßnahmen empfehlen Doc. 12, S. 177, [22]; Doc. 18, S. 256 [78]; Doc. 5, S. 105-112: »Ordinationes et instructiones S. Ignatiirevertere, revertere SunamitisUmkehr< gedeutet. Oorschot, Abhandlung (1968), S. 94. Luk. 1 5 , 1 1 - 3 3 ; GTB 1 3 3 , 4 1 - 1 3 4 , 1 . Mark. 1 2 , 1 - 9 u. Luk. 2 0 , 9 - 1 6 ; GTB 1 3 1 , 3 6 f . 2. Sam. 12,1—4, besonders Vers 3 über die Liebe des armen Mannes zu seinem Schäfchen: »Es aß von seinem Bissen und trank aus seinem Becher und schlief in seinem Schoß, und er hielt's wie eine Tochter.« Im G T B 132,13—15 ruft der pastor bonus das verlorene Schaf zur Rückkehr: »ich
Anleihen bei verschiedenen Bibelstellen, ja sogar bei völlig verschiedenen Quellensorten, sind charakteristisch für Spees poetische Schaffensweise, die ihn Motive aus ihrem angestammten Kontext herauslösen und aus heterogenen Elementen ein neues, ausdrucksstarkes Bild kombinieren läßt. Bei diesem Verfahren verliert die biblische Figur des Guten Hirten im gleichen Maß an Eindeutigkeit, wie sie an Eindringlichkeit gewinnt. Neben den biblischen Vorbildern, denen Spee die pastorale Motivik entlehnt, und neben den >Exercitia spiritualiaTugendbuchGeistlichen weissen Gilgenstock< (1606) des Dominikaners Georg Muntzius heran.15 In diesem Erbauungsbuch aus dem frühen 17. Jahrhundert fand Spee einen »Dialogus zwischen dem Kindlein Jesus / vnd einer andächtigen Seel« (fol. 107^) zum Fest der Beschneidung des Herrn. Wie im >Tugendbuch< tritt der Jesusknabe als Guter Hirte auf, der aufbricht, um ein verirrtes Lamm zu suchen, der sein Blut für das geliebte Schäfchen vergießt und die andächtige Seele über die Ursachen seiner Passion belehrt. Aus diesem Konglomerat von Motiventlehnungen formt Spee eine Andachtsübung, deren wohldurchdachte Strukturierung die Schulung an der Methode der >Exercitia spiritualia< verrät. Das >Fundament< (130,3) der Übung bildet eine Parabel in Form eines Dialogs zwischen einem Erzähler und dem pastor bonus, der ein verlorenes Schäfchen sucht und bereit ist, das eigene Leben zu opfern, um den entlaufenen Schützling zu retten (130,23 — 135,6). Spee komponiert seine dramatische Parabel aus allegorischen Erzählelementen zumeist biblischer Herkunft, deren heilsgeschichtliches Sinnpotential es dem Leser ermöglicht, das >Fundament< unter dem Verständnishorizont der christlichen Bildersprache als änigmatische Darstellung des Opfertodes Christi zu entschlüsseln. Danach ist der Leser in der »Vbung selbst« (135,7) dazu aufgefordert, in einem zweiten Deutungsschritt die Lehre der Parabel auf seine eigene Situation als Sünder, der von Gott abgeirrt ist, zu beziehen. In einem Akt der Selbsterkenntnis und der Reue soll er sich selbst in dem ungehorsamen Schaf wiedererkennen und dem Ruf des Guten Hirten zur Umkehr folgen. Den beiden wesentlichen Bestandteilen dieses Kapitels, der Parabel und der nachfolgenden Applikation ihrer Lehre auf die Person des Lesers, entspricht in den ignatianischen Übungen die lebhafte Vergegenwärtigung eines Ereignisses der Heilsgeschichte und die anschließende >Rückbesinnung< des Exerzitanten »auf sich selbst [ . . . ] um einigen Nutzen daraus zu ziehen.« 16
15
i«
soll dich in meinen armen tragen; mitt meinem Vatter sollstu an einem tisch auß seinen händen essen; in seinen armen sollstu schlaffen.« >GilgenstockTugendbuchs< auf das folgende Geschehen einstimmt. Durch eine knappe compositio loci versetzt Spee den Leser an den Schauplatz des Andachtsgeschehens; die anschließende kurze descriptio personae macht ihn mit der zentralen Figur der Betrachtung, dem göttlichen Hirtenknaben, bekannt: Einßmahls im kalten Winter, zur mitten nacht, sähe ich bey dem Monatschein an einem armen hüttlein ein schönes knäblein, das hette in seiner hand einen hirtenstekken, vnd weinet bitterlich ( 1 3 0 , 2 4 - 2 6 ) .
Der Aufenthalt des jungen Schäfers am locus terribilis, in Kälte, Nacht, Armut und Einsamkeit, korrespondiert mit seiner tieftraurigen Gemütsverfassung; räumliche Bilder veranschaulichen seelische Vorgänge und wecken das Mitgefühl des Lesers. Im Gespräch mit dem Erzähler stellt sich der weinende Hirtenknabe dem Leser vor und berichtet dann von dem väterlichen Auftrag, der ihn in diese Ode geführt hat, um ein verlorenes Schaf zu suchen (130,30-35). In Anlehnung an den Muntzius-Text machen die drei folgenden Fragen und ihre Antworten den Beweggrund dieser Suche sichtbar. Die >vernünftigen< Einwände, die der Erzähler gegen das gefährliche Unternehmen vorbringt, entkräftet der Hirt jeweils durch den Hinweis auf seine und seines Vaters grundlose Liebe zu dem verlorenen Schaf. Die drei Abschnitte dieses 86
Gesprächs bilden eine ansteigende Reihe, deren einzelne Gedankenschritte wie die Glieder einer Kette ineinandergreifen. Der Erzähler argumentiert nach dem Schema >Wenn schon a, warum dann auch noch b?Tugendbuchs< und seinem Vorbild bei Muntzius zeigt, daß sich Spee nur in der Exposition und in den beiden folgenden Gesprächspunkten eng an den >Geistlichen weissen Gilgenstock< anschließt; der weitere Text des >TugendbuchsExerzitien< anlegt. Nach einem kurzen Blick auf den Schauplatz des Geschehens18 schildert der Hirtenknabe seine Suche nach dem verlorenen Schaf, die als imaginiertes und intendiertes Geschehen durch ein konditionales Satzgefüge im Indikativ Futur wiedergegeben wird (132,3-16). Dem Schema der ignatianischen Betrachtungen folgend schreitet seine descriptio von den visuellen zu den akustischen Eindrücken fort. 19 Der pastor bonus beschreibt zunächst sich selbst als die Hauptfigur des Geschehens, »den schönen Sohn des königs« (132,3 f.), danach seine Taten (132,4 - 9 ) und seine Worte (132,9 -16). Bis in die Einzelheiten seiner schmerzlichen Suche vergegenwärtigt der Hirt seinem Zuhörer die dramatische Aktion. Sukzessiv führt Spee dem Leser durch die Häufung von Details, Verdoppelung von Satzteilen, durch präzisierende und 17
18 19
Fol. 109'—109". - Vgl. die Textprobe bei Oorschot im Kommentarteil des GTB, S.598. Vgl. 132,4: »in der wüsten, durch berg vnd thal«. Vgl. 132,3—9: »wan die menschen sehen werden [...] wan sie auch hören werden [...]«. 87
ausschmückende Adjektive eine anschauliche, fast greifbar konkrete Szene vor Augen. 20 Eine Fülle von Verben beleben den kurzen Erzählabschnitt und vermitteln dem Leser den Eindruck heftiger innerer und äußerer Bewegung, wie es der rastlosen und angstvollen Suche des pastor bonus entspricht. Wie sich der Exerzitant in den >Geistlichen Ubungen< des Ignatius von Loyola durch die Betätigung seiner Phantasie in die Rolle eines Augen- und Ohrenzeugen des Heilsgeschehens versetzt, so läßt auch der Gute Hirte in Spees Parabel durch seine eindringlichen Worte, die die Vorstellungskraft des Lesers ansprechen, seinen Zuhörer und damit auch den Benutzer des >Tugendbuchs< an seiner gefährlichen Mission teilnehmen. Durch die eindrucksvolle Vergegenwärtigung der Leiden, die der pastor bonus auf der Suche nach dem verirrten Schaf erduldet, will das >Tugendbuch< den Gläubigen zur Erkenntnis der göttlichen Liebe führen und zur Erwiderung dieser Liebe veranlassen. Der himmlische Hirtenknabe selbst gibt dem Leser eine Rezeptionsanweisung für die Parabel von der Suche des pastor bonus: Vnd dises ist was mein Vatter suchet, daß man seine lieb zu disem Schäfflein recht erkenne, vnd ihn hingegen wider liebe vnd lobe; darumb hat er seinen eintzigen lieben Sohn in eigner Person schicken wollen (132,24—27).
Wenn der Gute Hirte seinem Gegenüber den Zweck des väterlichen Auftrags erklärt, haben seine Worte programmatischen Charakter im Hinblick auf die Wirkungsabsieht, die das >Tugendbuch< mit seinen zahlreichen Passionsbetrachtungen verfolgt: Die Darstellung des Leidens Christi soll als Beweis der Liebe Gottes zum Menschen betrachtet werden und in der menschlichen Seele den Affekt der Gottesliebe wecken. Viel stärker als im Muntzius-Text betont der göttliche Schäfer im J u g e n d buchs daß seine eigene selbstlose Liebe ihn zur Suche nach dem verlorenen Schäfchen bewegt. Diese Erklärung bildet den Höhepunkt der ersten Argumentationsreihe. Ließ schon die unterste Stufe dieser dreifachen Klimax auf einen außerordentlichen Grad der göttlichen Liebe schließen, so treiben die beiden folgenden Betrachtungspunkte den Gegenstand der Andacht einem uneinholbaren Maximum zu. Die schrittweise minutio der Einwände und Gegenargumente, die der Erzähler vorträgt, läßt die Liebe als movens der Suche nach dem verlorenen Schaf um so klarer hervortreten. Die parallel dazu durchgeführte »stufenweise Superlativierung«21 der göttlichen Liebe, die sich in der leidvollen Suche des pastor bonus offenbart, mündet in den ergreifenden
20
88
Z.B. 132,4—9: »[...] daß er seine füß vnd hände an den scharpffen steinen vnd spitzigen dörneren anstoß vnd verwunde; daß er lauffe mit bloßem haupt, in schnee, vnd regen; daß er für matt- vnd müdigkeit sich offt nidersetze, seufftze, vnd weine; auch offt niderfalle zur erden, vnd sein Sonnenklares angesicht verletze« [Hervorhebung von mir]. Rabbow (1954), S. 59.
Ruf des Hirten nach seinem geliebten Schaf. Wortwiederholungen, 22 anaphorische Reihungen, die Häufung von Fragen und emphatischen Ausrufen 23 gipfeln in der flehenden Bitte, in der der >revertereTugendbuchs< untermauert Spee abschließend die >Lehre< seiner Andacht durch einen Rückgriff auf die Autorität der Bibel und erhöht dadurch die Beweiskraft seiner Parabel. Neben seiner Rolle als Exeget der Parabel erfüllt der Erzähler als Mitspieler und Dialogpartner des pastor bonus noch eine weitere wichtige Aufgabe: Er übernimmt zum einen die Funktion eines Vermittlers zwischen dem göttlichen Hirtenknaben und dem Leser. Durch seine Fragen lenkt er den Dialog mit dem 22
Z . B . » O Schäfflein, Schäfflein« (132,10); »Ich, ich selbst« (132,12).
23
Z . B . » [ . . . ] wo irxestu? wo bistu? wo solle ich dich finden?« ( 1 3 2 , 1 0 f . ) .
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pastor bonus und führt den Übenden zur Erkenntnis der göttlichen Liebe. Zum andern führt der Erzähler dem Benutzer des >Tugendbuchs< auch die vorbildliche Haltung der compassio vor Augen. Am Ende der dramatischen Begegnung weint er mit dem Hirtenknaben (134,40 f.), dessen unabwendbarer Tod ihn »dauret« (135,5). 3.2.3. Die applicatio der Schäfchenparabel auf die Person des Lesers Nachdem der Erzähler stellvertretend und wegweisend für den Leser in der Parabel vom Guten Hirten die Macht der göttlichen Liebe erkannt hat, soll der Leser in der nachfolgenden fünf Fragen umfassenden Übung sich selbst in dem ungehorsamen Schaf wiedererkennen und dem Ruf zur Umkehr folgen. Stand der Leser anfangs als interessierter, dann als mitfühlender Beobachter außerhalb der parabolischen Handlung, so wird er in der anschließenden applicatio unversehens in das Andachtsgeschehen einbezogen. Er erkennt, daß er bis dahin, ohne es zu wissen, eine wesentliche Rolle in dem betrachteten >Drama< gespielt hat. Sobald sich der Gläubige bewußt gemacht hat, daß er selber das verlorene Schaf ist, das der Gute Hirte sucht (1.), hat er damit bereits einen ersten Schritt zur inneren Erneuerung vollzogen. Diesen Weg verfolgt er unter der Leitung des Beichtvaters weiter. In den folgenden Übungsabschnitten soll der Gläubige im Vertrauen auf die Gnade Gottes den Entschluß zur Umkehr fassen (2.), seine Sünden bereuen (3.), Gott um Verzeihung bitten (4.) und sich endlich von der Liebe zu den Geschöpfen lossagen, um ganz dem Schöpfer anzugehören
(5·)· In der pointierten Kürze einer chiastischen Sentenz wiederholt der letzte Abschnitt der Übung die Aufforderung zur Erwiderung der göttlichen Liebe: »Er [sc. Gott] ist allein der dich redlich liebet, vnd nach dir verlanget: liebe auch du vnd verlange nach ihm allein« (136,21 f.). Diesen Appell spricht das Schlußlied »Jesus sucht das verlohren Schäfflein« (137,8 ff.) in poetischer Form aus, indem es den komplexen seelischen Prozeß des Andachtsgeschehens zum poetischen Bild des suchenden Hirten verdichtet, der sein Schäfchen unermüdlich bis zum Tod am Kreuzbaum zur Umkehr ruft.
3.3. Ein Appell des sponsus Christus zur Weltabkehr (Kap. II 11) Auch in Kapitel II 11 sind der Ruf Christi und die Aufforderung zur unbedingten Entscheidung für den Seelenbräutigam zentrale Momente der Andacht. In der Einleitung zu dieser Übung, die für solche Leser bestimmt ist, »so etwan eine Creatur zu sehr lieben« (192,3), warnt Spee vor den Gefahren der Welt-
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liebe. Wer zu sehr an den Geschöpfen hängt, vergißt darüber nur zu leicht die Liebe, die er Gott schuldet. Daher empfiehlt der Seelsorger seinem Beichtkind die ignatianische Methode des agere contra, um sich von jeglicher ungeordneter Anhänglichkeit an die Geschöpfe zu befreien. Ziel der Übung ist, den Leser frühzeitig von dem eingeschlagenen Irrweg abzubringen, indem er »gereitzet wird sein hertz ein wenig abzuziehen, vnd widerumb zu Gott allein zu wenden« (192,17-19). Während Kapitel II 4 dem Leser durch eine Parabel in Dialogform die unermeßliche Liebe Gottes veranschaulichte, ist der Benutzer des >Tugendbuchs< in Kapitel II 11 dazu aufgefordert, sich die Gestalt des Gekreuzigten und seine Worte zu vergegenwärtigen, wie sie der Seelsorger auf dem Übungsblatt für die laufende Woche aufgezeichnet hat (192,23 f.). Wenn der sponsus crucifixus selbst vom Kreuz herab sein >Gespons< zu sich ruft, kann sich die andächtige Seele diesem nachdrücklichen Liebeswerben kaum entziehen. Christus beginnt seine Rede mit dem Geständnis seiner Liebe, die die Gegenliebe des Menschen herausfordert und die Liebe zu den Geschöpfen gänzlich verdrängt: Mein kind, wan du wüstest wie vnaußsprechlich ich dich liebe, so würdestu gewißlich dein gantzes hertz, sinn vnd gemüth auff mich allein schlagen, vnd keiner andern Creaturen als mir allein anhangen (192,29—32).
Christus hat um unseretwillen sein himmlisches Reich verlassen und fordert nun, daß die pia anima ihm zuliebe von den Geschöpfen abläßt (193,3-10). Um ihr den Entschluß zur Weltabkehr und die Entscheidung für Christus zu erleichtern, legt ihr der sponsus eine Reihe von »Bedenck Puncten« (193,17) vor, die dazu geeignet sind, die »begierliche(n) Liebe zu Gott« (192,2) zu wecken oder zu steigern. Diese >Punkte< orientieren sich an den Instruktionen, die Ignatius dem Exerzitanten zum rechten Vollzug der Wahl an die Hand gibt.24 Die Regeln, um »eine heile (sana) und gute Wahl zu treffen«, 25 empfehlen dem Gläubigen, den Gegenstand, über den es zu entscheiden gilt, sorgsam zu prüfen. Die Vorzüge und Nachteile, die aus den Wahlmöglichkeiten für das Heil der Seele und für die Ehre Gottes erwachsen, sind zu erwägen. Nach Berücksichtigung aller Gesichtspunkte soll die Vernunft eine Entscheidung treffen, die dem Willen Gottes entspricht. Für den rechten Vollzug der Wahl ist es hilfreich, sich vorzustellen, ein anderer befände sich in derselben Situation und erbitte einen Rat. Ebenso nützlich ist für den Gläubigen die Überlegung, ob seine Entscheidung auch vor dem himmlischen Richter standzuhalten vermag.26 N r . 1 6 9 - 1 8 8 ; MI, Ex., S. 372-388. 25 N r . 1 7 8 - 1 8 8 ; MI, Ex., S. 3 7 8 - 3 8 8 . 26 N r . 187; MI, Ex., S. 388. 91
In Übereinstimmung mit diesen Empfehlungen des Exerzitientextes analysieren die >Bedenkpunkte< in Kapitel II 11 des >Tugendbuchs< die Wahlmöglichkeiten, die dem Übenden offenstehen, und wägen jeweils deren Bedeutung und Folgen ab (7.-9. >PunktTugendbuchs< ebenso wie dem Exerzitanten als Maßstab seines Handelns (4. und 13. >PunktGeistlichen Übungen< die Maxime auf, daß »ich nicht das Ziel dem Mittel unterordne und anpasse, sondern das Mittel dem Ziel«.27 Das >Tugendbuch< wendet diesen Grundsatz auf einen konkreten Fall an: Im Widerstreit zwischen Weltliebe und Gottesliebe muß der Gläubige stets bedenken, daß dem Schöpfer viel eher als dem »schnöden« (195,23) Geschöpf unsere Liebe gebührt. Keine Entsprechung im Exerzitienbuch haben eine Reihe von >BedenkpunktenPunktExercitia spiritualia< wenden sich primär an eine geistliche (und geistige) Elite, die Ignatius für >mündig< und für befähigt hält, in einen unmittelbaren Kommunikationsprozeß mit Gott einzutreten; der Exerzitienleiter gibt lediglich Hilfestellungen, die dem Gläubigen erleichtern, >je für sich< den Dialog mit Gott zu führen. Spee vereinfacht in seinem Erbauungsbuch, das »nicht [...] für sehr gelehrte und hohe Gemüter beschrieben ist« (11,4), die anspruchsvolle Zielsetzung der ignatianischen Übungen. Er glaubt, in seinen Tugendübungen dem Laien nicht allzuviel Selbständigkeit zumuten zu dürfen. Daher führt er die Vermittlerfigur des Seelsorgers ein, der als Dolmetscher des göttlichen Willens dem Gläubigen den Weg zur christlichen Vollkommenheit weist. Nachdem die pia anima unter Anleitung des sponsus crucifixus alle wesentlichen Gesichtspunkte erwogen hat, die ihre Wahl beeinflussen könnten, fordert Christus die grundsätzliche Entscheidung für eine der beiden entgegengesetzten Wahlmöglichkeiten: Der Schöpffer vnd daß geschöpff wollen in deinem hertzen herrschen. Der Schöpffer wolte gern allein sein, vnd es were ihm die höchste frewd, wan seinet wegen du die Creaturen fahren liessest (196,2—4).
Geschickt lenkt der sponsus Christus den Prozeß der Meinungsbildung bei seiner Zuhörerin. Durch die rhetorische Figur der permissio30 und durch seine Klage über die weltliche Gesinnung der sponsa (besonders 196,5—12) gibt der Sprecher deutlich zu verstehen, welche Entscheidung er von der andächtigen Seele wünscht. Den stärksten Appell zur Weltabkehr beinhaltet der abschließende Hinweis des Seelenbräutigams auf seine Passion. Die »Außerwöhlten« (197,6) Gottes müssen wie Christus gegen Ängste und Anfechtungen »streiten« (197,7). Mit kaum zu überbietendem Pathos ruft Christus vom Kreuz herab die Seele zur imitatio seiner Liebe und Opferbereitschaft auf: Es were mir mein höchster trost, wan mir zu ehren auch meine kinder mit mir etwas leiden, vnd sich selbst verlaugnen wölten [...] Ade, mein liebes kind, ich sterbe, vnd sterbe für lieb; ich warte doch vergebens, daß du mich tröstest. Gehe hin, vnd suche du deinen trost, dan ich ohn trost muß sterben (197,17—22).
Den letzten Wunsch des Gekreuzigten, der die anima noch sterbend um ihre Gemeinschaft bittet, kann die andächtige Seele nicht verweigern. Christi Liebe, die selbst den Tod nicht scheute, darf nicht unerwidert bleiben. Die Erkenntnis der göttlichen Liebe, die sich am Kreuz offenbart, veranlaßt die pia anima zur unbedingten Entscheidung für den himmlischen Bräutigam und zur Absage an die Weltliebe: »Ich bin gantz entschlossen vmb deiner liebe willen alle Creaturen auß meinem hertzen abzuschaffen« (197,23-25), gelobt sie am Ende der Andacht dem sterbenden Christus. 30
Lausberg (1973), § 875; besonders GTB 197,19-22.
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Spee verleiht dem >WahlgeschehenBesinnung über zwei Banner< personifiziert Spee die konträren Prinzipien des amor spiritualis und des amor carnalis und läßt sie als Kontrahenten im Kampf um die Seele einander entgegentreten. »Venus kind« (197,33), die blinde, mit Pfeil und Bogen ausgerüstete Cupidofigur aus der antiken Mythologie, erscheint in der ersten Strophe als Kontrafiguration des Christusknaben, der als Cupido divinus ins Feld zieht. In je zwei Liedstrophen spricht das lyrische Ich die beiden kriegerischen Götterknaben an31 und trifft seine lebensentscheidende Wahl. Mit einer emphatischen Apostrophe sagt die Gott liebende Seele dem weltlichen Liebesgott ab und fordert ihn auf, vor dem christlichen Gott der Liebe zu kapitulieren. Wie Ignatius es für das Wahlgeschehen fordert, 32 bedenkt die andächtige Seele die Konsequenzen ihrer Entscheidung. Ihre rationale Analyse der Wahlalternativen in der zweiten und vierten Strophe führt dem Leser plastisch den Antagonismus zwischen weltlicher und himmlischer Liebe vor Augen und begründet damit zugleich die Entscheidung der pia anima: Cupidos vergiftete Pfeile gewähren nur kurze Lust, der der rasche Tod folgt (198,1—8); dagegen rettet Jesus, um dessen Gunst die Seele stürmisch wirbt (198,13 f.), durch seine Liebespfeile die anima sponsa vor dem »höllen schlund« (198,19) und schenkt ewiges »heil« (198,16). In der fünften Strophe betrachtet die andächtige Seele abschließend ihre Entscheidung sub specie aeternitatis.33 Eingeleitet von dem affektbetonten Ruf » O Ewigkeit! Ο Ewigkeit« (198,25), bekräftigt und begründet die Schlußstrophe nochmals die Wahl der pia anima: Wer im diesseitigen Leben der sündhaften Liebe zur Welt verfallen ist, muß die kurzen irdischen Freuden mit ewigen Strafen bezahlen. Diese Erkenntnis gibt das lyrische Ich in allgemeingültiger, sentenzhafter Formulierung an den »sünder« (198,21) weiter. Stilistische Mittel wie Antithese und Parallelismus in Verbindung mit euphonischen Binnenreimen (z.B. 198,29 und 31) prägen die eindringliche Mahnung zur Weltabkehr dem Gedächtnis des Lesers dauerhaft ein und fordern zum Nachvollzug der exemplarisch dargebotenen Entscheidung für den amor divinus auf.
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» 'J
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»O Venus kind, du blinder knab« (197,33) - »O JESU mein du schöner knab« (198,9). Nr. 181; MI, Ex., S. 384. Vgl. Nr. 187; MI, Ex., S. 388.
3.4. Spees Umformung der ignatianischen Wahlbetrachtung zur Brautwerbungsszene in Kap. III 11 Eine Wahlsituation nach dem Muster der >Besinnung über zwei Banners wie Spee sie bereits im Lied »O Venus Kind« (197,33) poetisch gestaltete, bildet in Kapitel III 11 die Grundlage einer Übung »für ein eiteles Weltkind« (339,2 f.). Unter dem Vorwand, sein »gemüth ein wenig entladen« (339,15 f.) zu wollen, erzählt Spee seiner »geistlichen Tochter< eine »jämerliche history« (342,26 f.). Gleich zu Beginn des Kapitels unterbricht ein schmerzlicher Ausruf »Aber ach! was will ich sagen?« (339,6) die gewohnte sachliche Einführung zum Thema der Übung mitten im Satz. Spee vergißt scheinbar seine ursprüngliche Absicht, eine »Vbung der liebe Gottes« (339,2) aufzusetzen, und schildert das traurige Schicksal eines seiner Beichtkinder, das ihm soeben berichtet worden sei, wie er versichert (339,7—11). Eine reiche und schöne, »woledele, fromm vnd keusche Jungfraw« (339,20) wurde lange Zeit von einem vornehmen »Baron oder Freyherr[n]« (339,24) umworben, der in Liebe zu ihr entbrannt war. Gegen den Rat ihres Beichtvaters schlägt die adlige Dame diese glänzende Partie aus, weil es ihr an »affection« (339,30) für den vortrefflichen »Cavallier« (339,37) mangelt. Der verschmähte Liebhaber rächt sich furchtbar, indem er »einen mörderischen diener« (340,12) ausschickt, der die spröde Geliebte überfällt und verstümmelt. Beredt beklagt nun der Beichtvater das Schicksal seines Schützlings: »Ach mustest du dan endlich einem solchen schändlichen mörder dargeben, was du einem so dapfferen Ritter hast versagen dörffen?« (340,25-27). Darauf stimmt der Erzähler »ein trawriges liedlein« (340,34) an,34 in dem er die Natur aufruft, den tiefen Fall der einst so stolzen Jungfrau zu beklagen (341,1 — 8). Die Trauer über das Unglück eines einzelnen Menschenkindes mündet ein in eine allgemeine Fortuna-Klage: Das Glück wechselt rasch und unvorhersehbar (341,17—20). Niemand weiß, was ihm die Zukunft bringen wird. Die »schnöde böse weit« (341,25) ist das Reich der Göttin Fortuna, der Mensch ist in ihr den Wechselfällen des Schicksals hilflos preisgegeben. In einer kurzen Prosa-Überleitung (341,25—33) und in einem Gesang des contemptus mundi35 entlarvt der Seelsorger die »falscheit« (341,28) der Welt. In seinem poetischen Ruf der Weltverachtung erinnert Spee den Leser zunächst unter Berufung auf »Die schrifft« (341,36) daran, daß alle, die der trügerischen Welt vertrauen, unweigerlich untergehen müssen (341,34— 342,6). Die folgenden Verse (341,7-10) entwerfen das Gegenbild ewiger Freude und Geborgenheit, die allein bei Gott zu finden sind. Mit einem kurzen 34 35
» O weh der schwinden trawrigkeit!« (340,36). »Wer hoffnung steh: auff dich, ο Welt« (341,34).
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bedauernden Blick auf die Blindheit der Menschen (342,13—16) zieht der Schlußteil des Liedes (342,11 —20) die Konsequenz aus dieser kontrastreich, in Schwarz und Weiß gemalten Gegenüberstellung: Die einzige Möglichkeit der Rettung besteht in der Entscheidung des Menschen für Gott und in dem pathetischen »Ade, Ο Welt« (342,19), mit dem die pia anima dem schwankenden irdischen Glück entflieht. Aus dem lamentablen Schicksal der allzu wählerischen Jungfrau mag der Leser »lehrnen, wie gefährlich es sey mit der weit sich anzulegen« (342,27 f.). In der eingangs versprochenen dreiteiligen Tugendübung soll der Benutzer des >Tugendbuchs< die »history« (342,27), die ihm der Seelsorger vorgetragen hat, auf die eigene Person beziehen und ihre Lehre beherzigen. In den beiden ersten Teilen der Übung muß sich die >geistliche Tochter< eingestehen, daß der Tod früher oder später alles raubt, was uns lieb und teuer ist. Ähnlich wie der Exerzitant den Gedanken an die Todesstunde und an das Jüngste Gericht als Prüfstein seiner Entscheidungen zu gebrauchen lernt,56 dient auch im >Tugendbuch< das Bewußtsein der eigenen Todverfallenheit und das Wissen um das Gesetz der Vergänglichkeit als Richtlinie für die existentielle Entscheidung, die der Gläubige im dritten Teil der Übung treffen muß (344,22—40). Wie Ignatius in seinen Anweisungen für den Vollzug der Standeswahl lehrt, werden beide Möglichkeiten der Entscheidung sorgfältig »erwogen und nach allen Seiten hin schlußfolgernd bedacht«. 37 »Der Tod hat nicht vmb dich verdienet; suchet nur dein verderben« (345,34 f.), belehrt Spee seine >geistliche TochterTugendbuchTugendbuchs< aufgenommen wurde, stellt in einer für Spee ungewöhnlich knappen, tabellarischen Form »Gott vnnd die Welt« (552,29 f.) einander gegenüber: »Beyde werben sie volck« » »
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Nr. 186f.; MI, Ex., S. 386 u. 388. Nr. 181 f.; MI, Ex., S.384.
(552,30), erklärt der Seelsorger, »einem auß diesem mustu dienen« (552,38 f.; vgl. 5 5 3 , 2 1 - 2 3 ) . Um den Leser zur richtigen, gottgefälligen, Entscheidung zu veranlassen, wendet sich Spee am Ende des Kapitels III 11 erneut seinem Bericht von der >törichten Jungfrau< zu. Wie jene von einem vornehmen Mann umworben wurde, so bemüht sich Christus um die menschliche Seele. Spee beschwört seine >geistliche Tochtergetarnt< hatte. In Kapitel II 4 führte die biblisch begründete Auslegung der Parabel vom verlorenen Schaf (verlorenes Schaf = Sünder) in der nachfolgenden Applikation zur Selbsterkenntnis des Übenden (verlorenes Schaf = Ich). Entsprechend gewinnt auch in Kapitel III 11 die allgemeingültige Sentenz von der Vergänglichkeit irdischen Glücks, die der Seelsorger aus der Brautwerbungs-Parabel ableitet, in einem zweiten Schritt der Andacht persönliche Bedeutung für den Benutzer des >Tugendbuchstua res agitur< verfolgt Spee gleichsam eine therapeutische Intention. Ein heilsamer Schrecken soll den Leser auf den Pfad der Tugend führen. Im Schlußlied »O narrheit groß!« (346,14) zeigt Spee erneut, welch verhängnisvollen Irrtum die Abkehr von Gott bedeutet. Drastische Bilder beschwören einen schändlichen, grausamen Tod als Folge derartigen Fehlverhaltens und appellieren ein letztes Mal an die vernünftige Urteilskraft des Gläubigen, sich zu Christus zu bekehren.
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3.5. Zur allegorischen Einkleidung des Wahlgeschehens im >Tugendbuch< In Spees Umgestaltung der ignatianischen Wahlbetrachtungen tritt die kombinatorische Kunst des Verfassers eindrucksvoll zutage. Während Ignatius in der Übung vom >Ruf des Königs< und bei der >Besinnung über zwei Bannen den göttlichen Ruf und die Entscheidungssituation des Gläubigen durch Bilder aus dem militärisch-feudalen Bereich veranschaulichte, die dem Erfahrungsbereich des spanischen Adligen entstammten, verwandelt Spee den Appell zur Heeresfolge in den Ruf des Guten Hirten nach dem verlorenen Schaf (Kap. 114) oder in das Liebeswerben des sponsus crucifixus (Kap. I U I ) ; die >meditatio de duobus uexillisTugendbuch< zu einer Brautwerbungsszene umgeformt ( K a p . H i l l ) . Lediglich die Herkunft des pastor bonus - er ist der Sohn eines Königs - , die edle Abstammung der umworbenen Jungfrau in K a p . H i l l und Bezeichnungen wie »Ritter« (340,27), »Cavallier« (339,37), »Baron oder Freyherr« (339,24) erinnern an die höfische Sphäre, der die ignatianischen Muster verhaftet sind. Auch für einige >TugendbuchRuf des Königsdekorative< Medium der antiken Mythologie. Im Prosatext der Kapitel II 4, II 11 und III 11 verbindet Spee eine Fülle von Motiven vorwiegend biblischer Herkunft zu freien Nachbildungen der ignatianischen Wahlbetrachtungen. Außer der pastoralen Bildlichkeit des Alten und Neuen Testaments, die in Kapitel II 4 dominiert, nutzt Spee insbesondere die schöpferischen Möglichkeiten der Hohelied-Allegorese. Der >revertereKlopfanTu mir auf, liebe Freundin [...]«. Spee deutet den Zusammenhang mit diesem biblischen Vorbild an, wenn er in Kapitel III 11 den Seelsorger zu seinem Beichtkind sprechen läßt: Gesetzt; daß nun villeicht [ . . . ] Christus JESUS der gekreutzigte [ . . . ] an deinem hertzen still vnd sanfft anklopffete, vnd von dir begerete, du doch ihme Μ N r . 1 3 6 - 1 4 8 ; MI, Ex., S. 3 4 8 - 3 5 6 .
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alles das jenige [ . . . ] geben vnd lassen woltest, was du sonsten doch vnfählbarlich dem tod lassen, vnd geben würdest? ( 3 4 4 , 2 2 - 2 9 )
In den Parabeln der >TugendbuchTugendbuchs< planvoll anleitet.
»
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40
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Kemper, Allegorese (1979), S. 9 0 - 1 2 5 . Haug, Einleitung zum ersten Tag des Allegorie-Symposiums Wolfenbüttel (1979), S.9. Kemper, Allegorese (1979), S. 90. Ebd., S. 109.
99
4.
C o m p a s s i o und imitatio Christi ihre Antwortfunktion im göttlich-menschlichen Dialog der Andacht
4.1. Das Erbe der Passionsmystik und Strukturelemente der ignatianischen Andacht im >Tugendbuch< Die dialogische Grundstruktur, die der Exerzitienprozeß in der zweiten Übungswoche im Schema von >Ruf< und >Antwort< exemplarisch verwirklicht, prägt als durchgehendes Kompositionsprinzip die Betrachtungen über das Leben Christi, seine Passion und Auferstehung bis zum Ende der >Geistlichen ÜbungenRuf< und >Antwort< in ein korrespondierendes Andachtsmodell, das durch die Betrachtung der Menschwerdung des Erlösers im Retraitanten den Wunsch weckt, Christus nachzufolgen. Als Ziel dieser Andachten nennt Ignatius die »innere Erkenntnis des Herrn [...], der dazu für mich Mensch geworden ist, ι
100
N r . 53; MI, Ex., S. 282 u. 284.
daß ich Ihn je mehr liebe und Ihm nachfolge.« 2 Insbesondere in den Passionsbetrachtungen der dritten Exerzitienwoche gewinnt dieses Konzept an Prägnanz. Ignatius empfiehlt seinen Schülern, zu erwägen (considerar), was Christus unser Herr in Seiner Menschheit leidet oder leiden will [ . . . ] wie er alles dieses meiner Sünden wegen leidet usw., und was ich für Ihn tun und leiden soll. 3
Schließlich erbittet der Exerzitant »Schmerz mit dem schmerzerfüllten Christus, Zerschlagenheit mit dem zerschlagenen Christus, Tränen, innerliche Pein über die große Pein, die Christus für mich gelitten hat.« 4 Liebendes Mitleiden beantwortet die göttliche Liebestat des Kreuzopfers. In der symmetrischen Entsprechung von passio und compassio, von der Inkarnation des Gottessohns und dessen imitatio durch den Gläubigen wiederholt sich die spiegelbildliche Beziehung von Ruf und Antwort, die die Struktur der Wahlbetrachtungen und den Charakter des gesamten Exerzitiengeschehens bestimmt. In der Andachtspraxis des 17. Jahrhunderts lebt - wenn auch vielfach gebrochen - das Erbe der bernhardinischen Hohelied-Mystik fort. Die geistlichen Autoren der Barockzeit fanden in der Bildersprache des Hohenliedes das Medium, in dem sich eine vom emotionalen Moment getragene Religiosität adäquat aussprechen konnte. Vermittelt durch die Erbauungsliteratur des 16. und frühen 17. Jahrhunderts nimmt Spee das Gedankengut der mittelalterlichen Passionsmystik auf, deren subjektive Frömmigkeit sich aus und an der Hohelied-Allegorese entfaltete.5 Im >Tugendbuch< überformt Spee das dialogisch strukturierte Paradigma der ignatianischen Andacht mit der Illustrationsallegorese der Hohelied-Motivik, die im sensus litteralis die wechselseitige, symmetrische, Liebe zwischen sponsus und sponsa preist. Durch die Übernahme der von Ignatius entwickelten geistlichen Übungsmethode erlangen die überkommenen Vorstellungen der mittelalterlichen Hohelied-Mystik in der täglichen Privatandacht persönliche Aktualität für den Gläubigen. Aus der Synthese des Exerzitiengedankens mit dem allegorisch gedeuteten Motivschatz der alttestamentarischen Liebesdichtung gewinnt Spee die charakteristischen bildlichen Ausdrucksmittel, die der Frömmigkeit des >Tugendbuchs< eine eigentümliche affektbetonte Färbung verleihen und den Gefühlsgehalt seiner Andachtsübungen vertiefen. Vorbilder für eine Verknüpfung der spirituellen Nachfolge-Konzeption, die den Exerzitanten beim Absolvieren der >Geistlichen Übungen< leitet, mit der Vorstellung der Seelenbrautschaft lassen sich bereits in der mittelalterlichen Auslegungstradition des Hohenliedes nachweisen. Besonders die Bitte 2
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Nr. 104; MI, Ex., S. 324. N r . 1 9 5 - 1 9 7 ; MI, Ex., S. 3 9 4 - 3 9 6 . N r . 203; MI, Ex., S. 400 u. 402. - Vgl. N r . 193; MI, Ex., S. 394. Oppel (1911), S. 14. - Vgl. Ohly, Hohelied-Studien (1958), S. 155 und Oorschot, Abhandlung (1968), S. 203.
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der Braut in Cant. 1,4a: »Zieh mich dir nach, so wollen wir laufen«, 6 scheint die Integration des Brautschaftsmotivs in das aszetische Modell der sequela bzw. imitatio Christi begünstigt zu haben. Diese Verbindung, die die Ausrichtung der Andachtspraxis auf den einzelnen Gläubigen anschaulich zum Ausdruck bringt und eine Individualisierung des Gebetslebens fördert, 7 erlangt für die Passionsfrömmigkeit des >Tugendbuchs< hervorragende Bedeutung. Vor allem im zweiten und dritten Teil seines Erbauungsbuches widmet Spee mehrere Kapitel der Betrachtung des leidenden sponsus Christus, um dem Leser die Passion in ihrer Bedeutung >pro me< deutlich zu machen (vgl. 385,10-21 und 493,9-14) und dadurch die Liebe des Gläubigen zu seinem Erlöser zu entfachen. Der Übende soll erkennen, daß Christus um seinetwillen gelitten hat, und aus dieser Einsicht heraus eine unbedingte Entscheidung für seinen Heiland treffen. In ähnlicher Weise leiten auch die >Exerzitien< den Gläubigen dazu an, einen persönlichen Bezug zum Heilsgeschehen herzustellen. Das Direktorium von 1599 empfiehlt in diesem Zusammenhang: »debet anima ita se respicere, quasi ipsa causa fuerit tantorum dolorum et ignominiarum, quas Dei Filius perpessus est«. 8 Das >Tugendbuch< setzt diese sachlichen Instruktionen in plastische Bilder um, die die Phantasie des Lesers fesseln: so offt mein süsser Herr J E S U S in seiner Passion einen streich oder newen schmertzen einname, so offt erseufftzete er, sähe hinauff zum Vatter, vnd zeigete gleichsam auff mich, vnd auff einen ieglichen Sünder sprechend: Ο Vatter, von wegen diser vnd diser person dulde ich solchen schmertzen (385,14—18).
Gerade am Kreuz gibt sich Christus als liebender sponsus zu erkennen. In einigen >Concepten< des >TugendbuchsPia DesideriaTugendbuchs< spricht der Gekreuzigte selbst es aus: 9 Meine liebe, meine flammen, Mein begirden vngehewr, Messet nur an disem stammen Disem Creutz, vnd Marter thewr (426,17-20). U n d die Seele erkennt bei ihrer Andacht »zun füssen ihres gecreutzigten Herrens« (400,31): » J E S U S liebet mich, das siehe ich an seinen wunden« (406,34 f.). Damit spricht sie einen Grundgedanken der mittelalterlichen Passionsmystik aus, zu deren Kernbereich die >sedula meditatio Christi vulnerum< gehört. 1 0 Unter Berufung auf Cant. 4 , 9 - »Vulnerasti cor m e u m « - erblickten die Mystiker besonders im durchbohrten Herzen Jesu das sichtbare Zeichen seiner Liebe. 1 1 Die >Vitis mystica< erläutert im Anschluß an diesen Vers des Hohenliedes die doppelte Bedeutung der Seitenwunde als Zuflucht für die Seele und als Liebeszeichen: Ad hoc enim perforatum est latus tuum, ut nobis patescat introitus. Ad hoc vulneratum est cor tuum, ut in illo et in te ab exterioribus perturbationibus absoluti habitare possimus. Nihilominus et propterea vulneratum est, ut per vulnus visibile vulnus amoris invisibile videamus [...] Carnale ergo vulnus spirituale ostendit.12 Die derartig sinnfällig bekundete Liebe Gottes fordert die Gegenliebe des Menschen heraus. Mit seinen letzten Worten ruft Christus vom K r e u z herab: Liebet, liebet Euch ermahnen Meine Wunden, meine pein. [...] Lieb mit liebe thut ersetzen (427,3-7). 1 3 In der intensiven mitleidenden Vergegenwärtigung des leidenden Erlösers wird das Passionsgeschehen dem Betrachtenden zum inneren Erlebnis, das alle
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»Da mit peinen [...]« (413,16; = T N Nr. 43). Wentzlaff-Eggebert, Mystik (1969), S. 192; Wolfskehl (1934), S. 11. - Vgl. GTB Kap. III 18, Nr. 45 f. u. 55. >i Richstätter, Herz (1924), S. 258 u. 261.-Vgl. Ohly, Hohelied-Studien (1958), S. 212. '2 PL 184, 643 A; ähnlich 641C. 13 Vgl. GTB 426,13—16 u. 25—28. - Entsprechende Gedanken formuliert die >Vitis mystica< in PL 184, 643 C. 10
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Gefühlskräfte bindet.14 »JESU gegenwärtigkeit« (408,23) ergreift die pia anima, während sie sich in die Leidensgeschichte vertieft (408,15—31) und weckt den Affekt der Gottesliebe. Im meditativen Nachvollzug der Passion Christi sucht und findet die andächtige Seele die Gemeinschaft mit dem sponsus Christus. Sein Bild soll der anima sponsa stets präsent sein, um sie auf dem Weg der christlichen Tugend zu führen und um ihr in allen Situationen als Vorbild zu dienen (404,33—405,5). Da Christus aus Liebe zu jedem einzelnen Menschen den Kreuztod erlitten hat, ist nun auch jeder einzelne Fromme dazu aufgefordert, ihm in dieser beispielhaften Liebe nachzufolgen und sich um eine Lebensgestaltung nach dem Willen Gottes zu bemühen. Anhand des symmetrischen Strukturmodells der ignatianischen Übungen entfaltet und variiert Spee in vielen Kapiteln des >Tugendbuchs< den Grundgedanken der liebenden Nachfolge. In allen ihren Erscheinungsformen, als meditative compassio ebenso wie als Akt des Gehorsams gegenüber dem göttlichen Willen oder als aufopfernder Dienst am Nächsten, wahrt das Konzept der imitatio Christi seinen antwortenden Charakter15 und den liebenden Bezug auf das göttliche Urbild. Gottes Liebe zum Menschen und der amor divinus des Gläubigen sind wie actio und reactio oder wie dux und comes aufeinander bezogen. Die reziproke, dialogische, Verschränkung von göttlichem Ruf und menschlicher Antwort, eingebunden in wechselseitige Liebe, bestimmt die innere Dynamik des >Tugendbuchs< entscheidend und prägt darüber hinaus auch den poetischen Gehalt der >TrutznachtigallExercitia spiritualia< und von seiner Rezeption mittelalterlicher Frömmigkeitsformen gleichermaßen Zeugnis ablegt, weist einige für die Passionsandachten des >Tugendbuchs< charakteristische Züge auf. Mit diesem Kapitel übergibt Spee seinem Leser eine Übung »der Hoffnung vnd vertrawen zu Gott in einer sehr grossen betrübnuß vnd betrangnuß deß hertzens« (162,17f.), die den Gläubigen lehrt, Trauer und seelischen Schmerz als einen Akt der imitatio Christi auf sich zu nehmen. Das recht umfangreiche Kapitel besteht aus vier Teilen: einer ausführlichen Vorrede, in der der Seelsorger mit psychologischem Einfühlungsvermögen und praktischer Menschenkenntnis Ursachen, Symptome und Verlauf der »trawrigkeit« (162,29) erklärt und seine >geistliche Tochter< in
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is
Richstätter, Christusfrömmigkeit (1949), S. 274. Solignac (1971), Sp. 1598.
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ihrem gegenwärtigen Leid zur Geduld ermahnt; danach spricht im >Fundament< (S. 164—168) Christus selbst zur betrübten Seele und fordert sie auf, ihm zu Ehren und mit ihm zu leiden; der dritte Teil des Kapitels will den Leser in einer fünf Punkte umfassenden Übung zur Leidensbereitschaft und zur Ergebung in Gottes Willen erziehen (S. 168—170). Als Anhang folgen noch vier Lieder, die der Benutzer des >Tugendbuchs< in Zeiten seelischer Not, »in abgang der Trawrigkeit« (173,25) und »nach vberwundener Trawrigkeit« (176,25) singen kann. In der Einleitung zu Kapitel II 8 beschreibt Spee das Phänomen der geistlichen Trostlosigkeit, über das Ignatius am Ende des Exerzitienbuches in einem Anhang von Regeln »zur Unterscheidung der Geister« spricht.16 Gerade in der ersten Exerzitienwoche befallen den Übenden häufig Gefühle tiefster Trostlosigkeit, die mit Phasen geistlicher Tröstung wechseln.17 Der Exerzitant soll auf diese Schwankungen seiner Gemütsverfassung vorbereitet sein, die verschiedenen Seelenregungen richtig beurteilen können und sich ihrer zu seinem geistlichen Fortschritt bedienen. Spee setzt die sachlichen, knappen Erklärungen des Exerzitientextes in eindringliche, an Bildern und verdeutlichenden Beispielen reiche Ermahnungen um, die zunächst der Beichtvater, danach Christus selbst an die betrübte Seele richten. Wie Ignatius faßt auch Spee die Zeiten der Trostlosigkeit als göttliche Prüfung auf, die der Gläubige mit Geduld und Gottvertrauen bestehen muß.18 Beide Autoren warnen davor, in einer solchen Krisensituation unbesonnen weitreichende Entschlüsse zu fassen, etwa ein Gelübde abzulegen.19 Der Gläubige soll in seiner »betrübnuß« (162,18) »durchauß nichts anders, oder mehr anfangen [ . . . ] als sonsten« (163,1 f.), und er mag
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N r . 3 1 3 - 3 3 6 , besonders N r . 3 1 7 - 3 2 2 ; MI, Ex., S. 5 1 0 - 5 3 6 , besonders S. 5 1 6 - 5 2 0 . Zum Phänomen des Trosts und der Trostlosigkeit vgl. Haas, Erläuterungen zu den »Geistlichen Übungen< (1981), S. 168-175. G T B 164,21—24: »Dises ist die stund, so Gott von ewigkeit hat vorgesehen, daß er dich heimsuchen wolt, vnd recht kennen lehrnen, ob du ihm zu dienst, vnd ehren einen starcken stürm, ablauffen köndest.« Vgl. N r . 320 (u. 322); MI, Ex., S. 518 u. 520: »Wer in Trostlosigkeit ist, erwäge, wie der Herr ihn zur Prüfung seinen natürlichen Fähigkeiten überlassen hat, mit dem Ziel, daß er den verschiedenen Umtrieben und Anfechtungen des Feindes widerstehe.« G T B 163,40—164,2: »du wollest dich hüten, daß du auß bitterkeit deß hertzens nichts anfallest, noch einiges gelübd thuest, oder in deinem stand etwas verenderest, das dich hernach gerewen mag.« Vgl. N r . 318 f.; MI, Ex., S. 516 u. 518: »ZurZeit der Trostlosigkeit soll man niemals eine Änderung treffen.« Vor übereilten Gelübden in Zeiten der Tröstung warnt N r . 14; MI, Ex., S. 234 u. 236; ähnl. MI, Dir., Doc. 17, S. 227 [39]; Doc. 43, S. 707 [200] und G T B 346,1 f. u. 7 - 1 0 . - Vgl. Oorschot, Abhandlung (1968), S. 121 f.
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sich vor Augen halten, »daß ein solches starckes hertzenleyd natürlicher weiß nit lang wehren kann« (163,9 f.).20 Spee veranschaulicht die Situation der Trostlosigkeit durch ein »gleichnuß« (163,24): Wie ein Wanderer stillsteht und um Hilfe ruft, wenn ihm auf einem nächtlichen Fußmarsch auf unsicherem, gefährlichem Boden ein Luftzug die Laterne auslöscht, so soll der Gläubige stillhalten, wenn ihm »der wind der Versuchung« (163,36) das Licht der Vernunft raubt.21 Damit er im Sturm unkontrollierter Affekte nicht blind ins Verderben stürzt, muß er dem Rat des Beichtvaters mehr Vertrauen schenken als dem eigenen getrübten Urteilsvermögen. 4.2.2. Die Trostrede des sponsus Christus Nach der theoretischen Einführung zu Kapitel II 8 leitet Spee seine >geistliche Tochter< wie in mehreren anderen Andachten des >Tugendbuchs< dazu an, sich als >Fundament< ihrer »Vbung der gedult, vnd großmütigkeit« (164,5) den sponsus crucifixus zu vergegenwärtigen und dazu aufmerksam dessen Trostrede zu lesen. Zu Beginn seiner Ansprache fordert Christus die Seele auf, zu Füßen seines Kreuzes ihrem Schmerz freien Lauf zu lassen, zu seufzen und zu weinen (164,14-16). Als Vorbild ihrer Klage soll sie »die süsse Nachtigall auf disem Baum deß Creutzes« (164,19 f.) wählen, die die letzten Worte des sterbenden Erlösers singt. Die Nachtigall, die in der tradierten poetischen Bildersprache oft die Dichtung selbst verkörpert,22 wird in Spees Werk zum »Medium einer Vereinigung zwischen >sponsa< und >sponsusKelch des Leidens< aus den Evangelien (ζ. B. Mark. 14,3; Luk. 22,42) anknüpft, stellt der Sprecher einen Zusammenhang her zwischen dem aktuellen menschlichen Leiden und der Passion Christi. 20
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Vgl. N r . 321; MI, Ex., S. 520: »er möge bedenken, daß er bald wieder getröstet sein wird.« Möglicherweise benutzte Spee für dieses Gleichnis das Erste Emblem aus Teil I der >Pia Desideria< als Vorbild; die pictura zeigt Christus mit einer Laterne, während er der anima sponsa leuchtet. Als Motto wählt Hermann Hugo Jes. 26,9: »Anima mea desiderauit te in nocte.« Schaub, Trutz-Nachtigall (1985), S. 116. Kemper, Spee (1984), S. 102.
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Der sponsus ruft die Menschenseele in die Gemeinschaft des Leidens und der Liebe. Seine Aufforderung: »Komme her mein Schatz, mein außerweite braut, da laßet vns in garten gehen spatzieren« (164,30 f.), ist dem Ruf des Liebenden in Cant. 2,13b nachgebildet: »Steh auf, meine Freundin, und komm meine Schöne, komm her!« Diese Aufforderung verbindet Spee mit dem Gartenmotiv aus dem Hohenlied. »Ich bin gekommen, meine Schwester, liebe Braut in meinen Garten«, spricht der sponsus in Cant. 5,1 a. Doch lokalisiert Spee die amöne Gartenlandschaft des Hohenliedes »Am Olberg« (164,31). Im »schönen ort« (164,32) des Gartens fließen der Liebesort des Hohenliedes und der Garten Gethsemane, der nach neutestamentlicher Uberlieferung die erste Station der Passion Christi darstellt, in eins. Spee errichtet mit dieser knappen Ortsbeschreibung eine heilsgeschichtlich bedeutsame Szenerie, einen locus amoenus der Andacht, der die Einheit von Liebe und Leiden in der Erlösungstat Christi sinnfällig macht. Am Ort des Leidens Jesu soll die leidende Menschenseele Trost finden. Christus verheißt ihr, daß sie dort »ein himmlischer Jungling mit einem güldinen kelch« (164,32 f.) erwartet. Zwar wird der sponsa Christi der bittere Kelch nicht erspart, doch darf sie auf göttlichen Beistand und Stärkung hoffen. Diese Zusage bekräftigt der sponsus Christus durch den Hinweis auf seine eigene Leidenserfahrung im Garten Gethsemane. »Es erschien ihm aber ein Engel vom Himmel und stärkte ihn«, berichtet der Evangelist Lukas (Kap. 22, Vers 43). Spee gestaltet die kurze Erwähnung einer Engelerscheinung am Ölberg zu einer ausdrucksstarken Szene aus, in der der »güldine(n) kelch« vom Himmel (164,33) als Kontrafiguration zum Leidenskelch den verheißenen göttlichen Trost versinnbildlicht. In der kontrastierenden Verdoppelung des Kelchmotivs, die in den Evangelien nicht vorgebildet ist, dürfte wiederum der Einfluß der Hohelied-Tradition wirksam werden. Mehrfach kehrt im >Lied der Lieder< das Motiv des Weintrinkens wieder, um die berauschende Wirkung der Liebe zu veranschaulichen.24 Ahnlich wunderbare Kraft besitzt der himmlische Kelch, der Christus zuteil wurde und nun auch der anima sponsa Trost spenden soll. Der Genuß dieses Kelches weckt unstillbaren (Leidens-)Durst, wie die Worte des sponsus Christus erkennen lassen: Mich dürstet sehr, mich durstet mehr Zu leydn hab ich verlangen. [...] Es dient zu meines Vatters ehr, Groß lieb führt mich gefangen ( 1 6 5 , 2 6 - 3 0 ; vgl. 1 6 4 , 3 7 - 1 6 5 , 3 ) . 24
Cant. 1 , 4 b : »Wir preisen deine Liebe mehr als den Wein«; Cant. 2,4: »Er führt mich in den Weinkeller, und die Liebe ist sein Zeichen über mir«; Cant. 4,10: » [ . . . ] Deine Liebe ist lieblicher als Wein«; Cant. 5 , 1 : »trinkt und werdet trunken von Liebe«.
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Spee deutet den Durst des Gekreuzigten als Ausdruck der Liebe, als Verlangen, zur Erlösung des Menschen und zu Gottes Ehre zu leiden. Leitmotivisch begleitet diese Interpretation des >sitioVitis mystica< das >sitio< des Gekreuzigten im Lichte des Hohenliedes und dessen bildhafter Sprechweise. Nicht im Literalsinn, sondern als metaphorische Rede sei das Herrenwort zu verstehen, vermutet der mittelalterliche Mystiker: »Sed non satis credibile est ipsum [sc. Christum] de siti corporali dixisse, [...] sed potius desiderium ardentissimum salutis nostrae ipsum credimus sitivisse.«25 Das Paradoxon der göttlichen Liebe läßt den Gekreuzigten, der den >Kelch des Leidens< bis auf den Grund geleert hat, seinen unverminderten >Durst< klagen. In einem pathetischen Gebet zu Christus erkennt die Seele in der >Vitis mystica< den >sitioSitire, Sitis< bemerkt der gelehrt Benediktiner: »[...] Sitis Christi, erat appetitus salutis generis humani, cujus gratia omnes patiebatur dolores [.. .]«. 27 Uber die spirituelle Bedeutung der Begriffe >Vinum, Mustum, Vinea< schreibt derselbe Autor u.a.: Vinum aliquando significat passionem Christi, & sanguinem ejus [ . . . ] designat etiam Eucharistiam. E t vinum conditum, q u o d dat sponsa sponso, est meditatio passionis ejus, Cant. 8.a. [ . . . ] Vinum praeterea quandoque significat martyrium, Gen. 27.d. E t mustum malorum granatorum, sunt passiones & exempla Martyrum, Cant. 8.a [ . . . ] Vinum etiam dici potest Charitas, aut fervor charitatis [.. ,]. 28
Während die >Silva allegoriarumVitis mystica< ähnlich wie Spees Tugendübung den Gläubigen schließlich zur imitatio Christi auf: Μ P L 184, 662 C . * P L 184, 663 A B . 27 Hieronymus Lauretus, >Silva allegoriarum« (Nachdruck der Ausgabe 1681), S. 934 f. μ E b d . , S. 1043f.; vgl. S. 1 8 1 - 1 8 3 (>Bibere, Potare [ . . .]Tugendbuchs< und den mittelalterlichen Exegesemodellen lassen deutlich Spees Nähe zu tradierten Frömmigkeitsformen erkennen. Die für das >Tugendbuch< zentralen Gedanken der imitatio und der compassio wurzeln in der mittelalterlichen praxis pietatis, die den Frommen zur Nachfolge und zur mitleidenden Betrachtung des leidenden Erlösers ermuntert. In Anlehnung an die Gedankenwelt der mittelalterlichen Passionsmystik benutzt Spee in Kapitel II 8 das Kelchmotiv der neutestamentlichen Leidensgeschichte als Ausgangspunkt einer vielschichtigen Bilderassoziation, die auf das Wein- und Trinkmotiv des Hohenliedes zurückgreift, um diese mit dem >sitiositiositio< des Gekreuzigten, das in seiner changierenden Mehrdeutigkeit das meditative Sinnzentrum der Andacht darstellt, sind der göttliche Liebesbeweis, den Christus mit seinem Opfertod erbringt, und die Bitte um liebendes Mit-Leiden aufs engste verklammert. Als Ausdruck wechselseitiger Liebe sind Leiden und Mitleiden in den Passionsandachten des >Tugendbuchs< untrennbar miteinander verbunden. Christus gibt der anima sponsa zu bedenken: Du weist auch, vnd sihest ja mit deinen äugen, was ich deinetwegen am Creutz gelitten: du bist mein allerliebste braut, vnd ich dein allerliebster Breutigam: Nun zeige an was du für einen grossen muth habest, wie sehr du mich mit trewen meinest, wie viel du mir zu lieb vberstehen, vnd leiden könnest &c. (167,14—19).
Das Verlangen, dem himmlischen Geliebten nahe zu sein, führt die andächtige Seele zum Kreuz, das Christus als den Ort der unio bezeichnet. Er bittet die sponsa: »bleibe du bey mir, an meinem Creutz, in meinen armen: du sollest mein sein, vnd nicht dein sein« (166,26 f.). Nachdem Christus seine Opferbereitschaft und seinen Gehorsam gegenüber dem himmlischen Vater bewiesen hat, fordert er von seiner »außerwöhlten« (165,35) dieselbe gänzliche Ergebung in den Willen Gottes. Auf zuweilen drastische Weise verlangt der sponsus von der menschlichen Seele Geduld im Leiden und macht ihr klar, daß sich der göttliche Trost menschlicher Verfügbarkeit entzieht. Er weist sie zurecht und mahnt zur Demut: was hastu mich anzumurren? halte du daß maul, vnd leyde, ich will es haben [...] Wan ich dich trösten will, stehet bey mir: Wan ich dich creutzigen will stehet bey mir (166,34-39).
Die sponsa Christi darf nicht eigen-willig über sich verfügen, sondern soll sich dem göttlichen Geliebten »mit leib vnd seel« (167,1 f.) als sein »eigenthumb« (167,1) anvertrauen. Spee bringt diesen Gedanken, dem auch in den >Exercitia spiritualiaTugendbuch< kennzeichnenden Anschaulichkeit zum Ausdruck: Das Herz der sponsa gehört nicht mehr ihr selbst, sondern Christus. Daran erinnert der sponsus crucifixus sie in ihrer Bedrängnis: »Dein hertz ist mein, vnd ist nicht dein: Ja du selber gantz vnd gar bist lauter mein, vnd bist nicht dein« (166,8 f.).32 Erinnert dieser Ruf des sponsus - fast schon parodistisch verfremdet - an die chiastische Liebesformel des Hohenliedes, »mein Freund ist mein, und ich bin sein« (Cant. 6,3), so « N r . 234; MI, Ex., S. 430. Μ Vgl. Kap. III2; S.270,33-35.
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schlägt er mit der Fortsetzung seiner Rede sogleich eine Brücke zum Passionsgeschehen: »Dich will ich brauchen wie ich will, vnd nicht wie du wilst« (166,29; ähnl. 166,14f.), läßt er die sponsa wissen und variiert damit seine im Neuen Testament überlieferten Worte - »doch nicht wie ich will, sondern wie du willst« (Matth. 26,39 b; ähnl. Mark. 14,36 b und Luk. 22,42 b) - , mit denen er am Olberg den >Kelch des Leidens< gehorsam von Gott annahm. Bereits der analoge Satzbau und die stilistische Figur der correctio, die der Sprecher in beiden zitierten Passagen verwendet, stellen eine Verbindung her zwischen den paraphrasierten und >erinnerten< Texten der neutestamentlichen Leidensgeschichte und der alttestamentlichen Liebesdichtung, die beide in Beziehung zur aktuellen leidvollen Situation der pia anima treten. 4.2.3. Die Gemeinschaft der sponsa mit Christus im mitleidenden Nachvollzug der Passion In kunstvoller Weise projiziert Spee Motive aus dem Hohenlied und Szenen der Passion ineinander und verschmilzt sie zu Bildern von visionärer Eindringlichkeit. Der Motivschatz des Hohenliedes übernimmt dabei »die Funktion einer illustrierenden Auslegung«33 der Heilsgeschichte, deren Bedeutung für die Einzelseele in der allegorischen Bildersprache des Canticum Ausdruck findet. Die wechselseitige Spiegelung und Erhellung beider Bild- und Sinnebenen durch das Kompositionsverfahren der allegorischen Allegorese< deckt dem Betrachtenden ein Netz bedeutsamer Sinnbezüge auf. Es kann für »ein betrübtes hertz gar tröstlich« (164,9) sein, die eigene Not als Beweis der Liebe zum himmlischen sponsus und als Nachvollzug seiner Passion zu akzeptieren. Die tröstende Wirkung dieser Andacht besteht somit vor allem darin, daß sie sinnloses menschliches Leiden in einen heilsgeschichtlichen Sinnzusammenhang einordnet. In seiner »Erinnerung« (164,9) unternimmt der sponsus Christus nicht nur eine Selbstauslegung seines Opfertodes, sondern bietet der bedrängten, schmerzerfüllten Menschenseele auch eine >konsolatorische< Deutung ihrer Not an. Spee lehrt den Benutzer des >TugendbuchesFundament< dem Leser die Erkenntnis der göttlichen Liebe ermöglicht und ihn mit dem Appell zur compassio und zur Gegenliebe konfrontiert hat, soll der Gläubige nun seine persönliche Entscheidung zur Nachfolge treffen. Dies geschieht in Form eines Oblationsgebets. Feierlich gelobt die andächtige Seele Gehorsam und bringt Gott ihren freien Willen, ja ihre ganze Persönlichkeit als Opfer dar: »Ich bin gantz dir vnterworffen, kanst thun mit mir was dir geliebet« (169,5 f.). Die bedrängte Seele verwahrt sich gegen Versuchungen (2.) und gegen den »sinnlichen appetit« (169,33), der gegen das göttliche Gebot und »wider die rechte veraunfft« (168,34) gerichtet ist. Nach einer Danksagung für die gegenwärtige Prüfung (3.) erklärt sich der Übende bereit, Gott zuliebe »biß an den jüngsten tag« (169,30) in seiner N o t auszuharren. Schließlich soll sich der Gläubige darum bemühen, seine Pein als verdiente Strafe für seine Sünden auf sich zu nehmen (5.). Mit seinem Hinweis auf die Höllenstrafen lehnt sich dieser letzte Punkt der Übung an die Sündenbetrachtung der ersten Exerzitienwoche an, die den Retraitanten auf den Weg der Besserung führen will. 34 4.2.4. Der Liedanhang Am Ende des Kapitels führt eine thematisch zusammenhängende Reihe von Liedern dem Leser nochmals in poetischer Form den Wechsel von Trostlosigkeit und geistlichem Trost vor Augen. Dabei setzt der Dichter die verschiedenen Seelenregungen zu den einzelnen Phasen des Erlösungswerks in Beziehung» so daß im Medium des geistlichen Liedes die objektivierende Exegese der Heilsgeschichte und das persönliche religiöse Erleben der Einzelseele einander begegnen. Ein Hilferuf in tiefer Trostlosigkeit eröffnet den vier Lieder umfassenden Zyklus, der Spees Übung der Hoffnung in Kapitel II 8 des >Tugendbuchs< beschließt. Das erste Lied, ein »Trawrgesang auß dem 21 vnd 68 Psalmen Davids« (170,29), thematisiert im Anschluß an biblische Textvorlagen den Hilferuf des Frommen in N o t und Verlassenheit. Zugleich weist Spees Psalmenparaphrase verallgemeinernd auf den unerlösten Status der Menschheit μ 112
Nr.65-71; MI, Ex., S.294-298.
vor der Ankunft Christi hin. Der Schrei um »hulff vom himmel« (171,10) mündet in ein hoffnungsvolles Gebet, das die Gewißheit der Rettung ausspricht: Nun rettest mich mit deiner hand, [...] Von oben hast mir hülff gesand, Mag nun in hoffnung schweben (171,25—28).
Mit diesem abschließenden Ruf des Gottvertrauens leitet Spees Gedicht über zum bekannten »Trawrgesäng von J E S U an dem Olberg« (171,33; = T N Nr. 38). In seiner Verlassenheit und Trauer im Garten Gethsemane tritt Christus dem Leser als Prototyp menschlichen Schmerzes entgegen. Sein stellvertretendes Leiden, das er ohne jegliche »hülff« (173,16) auf sich nehmen mußte, erscheint als himmlische Antwort auf den Hilferuf, den der Sprecher des vorangegangenen Gedichts ausstieß. Danach parallelisiert das dritte Lied (»Anders gedieht in abgang der Trawrigkeit«; 173,25) die Erneuerung der Natur im Frühling mit der Belebung der Seele durch den göttlichen Trost. Als Schauplatz ihres Gesangs wählt die Gott liebende Seele den »grünen wald« (174,22), den Ort der Andacht und der Hoffnung, wie das Farb-Epitheton signalisiert, aber auch den Ort der Poesie. Mit der Büßerin Magdalena, die in Anlehnung an Cant. 2,14 als »Taube in den Felsklüften« auftritt,35 will die andächtige Seele nach überwundener Traurigkeit den Lobgesang des Gekreuzigten anstimmen. Sie hat erkannt, daß in diesem irdischen »Jammer-thal« (176,10) die Seele allein bei dem Gekreuzigten Trost finden kann. Im Creutz allein, mag sagen, Ist frewd vnd frölichkeit; Wers will mit J E S U tragen Find endlich süssigkeit ( 1 7 5 , 1 - 4 ) . All meine frewd verborgen In J E S U seiten ligt, D a find ich heut vnd morgen Noch manches rein gedieht ( 1 7 5 , 9 - 1 2 ) .
Christi Seitenwunde, als sichtbares Zeichen der göttlichen Liebe und als pars pro toto des Erlösungswerks betrachtet, wird für die pia anima zur Quelle geistlicher Freude, aus der sie auch ihre poetische Inspiration schöpft. 36 Auch das vierte Lied, der triumphale »Jubel-sang nach vberwundener Trawrigkeit« (176,25; = T N Nr. 18), ist der Tröstung der betrübten Seele durch den Gekreuzigten gewidmet. Während die beiden ersten Lieder den Ruf der trost- und erlösungsbedürftigen Seele und die Passion Christi scheinbar 35 36
Vgl. G T B 174,25f. und 1 7 5 , 2 9 - 3 1 . Eine entsprechende poetologische Dimension wird in Spees Versen sichtbar, wenn er das »Crucifixlein gut« (175,18) als seine »Harpff« (175,13) bezeichnet.
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ohne inneren Zusammenhang nebeneinanderstellten, verknüpft das letzte Gedicht mit seinen poetischen Bildern einer Liebesbegegnung im Zeichen des Kreuzes beide Geschehnisebenen. In einem allegorischen Gemälde integriert Spee kunstvoll Motive aus dem Hohenlied und aus der weltlichen Liebesdichtung seiner Zeit, die im Hinblick auf das Kreuzopfer Christi sinnerschließende Funktion erlangen und der andächtigen Seele die Bedeutung der Passion >pro me< erhellen.
4.3. Die sakramentale unio als Vollendung der imitatio Christi in der Kommunionandacht Kap. III 10 Ebenso wie die private Andacht vor dem Kruzifix bietet auch der tägliche Besuch des Gottesdienstes dem Frommen Raum für eine Übung der imitatio Christi, die »Etliche andere Werck der liebe« (336,20) in sich schließt. In Kapitel III 10 des >Tugendbuchs< leitet Spee seine >geistliche Tochter< zur meditativen Verähnlichung mit dem sponsus Christus an, um sich auf den Empfang der Eucharistie, die Begegnung mit Christus in der Kommunion, vorzubereiten. Die kurze Einleitung zu diesem exercitium (336,22—33), das täglich beim Besuch der Messe durchgeführt werden soll, nennt die selbstlose Aufopferung für den Geliebten und das Verlangen, ihm in jeder Hinsicht zu gleichen, als Kennzeichen des amor amicitiae: Es hat die liebe dise art, das sie sich selbsten gern alles gutes entblöset, wan sie nur damit machen kan, das ihrem geliebten wol vnd gut sey; vnd ist gern in allen dingen, auch in der kleidung, ihrem geliebten gleich (336,26—29).
Nach dieser einführenden Erklärung werden die genannten Charakteristika der Caritas in einer doppelten, jeweils drei Stufen umfassenden Reihe von Betrachtungspunkten exemplifiziert. Zu Beginn der einzelnen Andachtsabschnitte ist die anima sponsa aufgefordert, sich in eine hypothetische Szene zu versetzen; 37 ein zweiter, reflektierender Teil veranlaßt den Leser mit der Aufforderung »Bedencke dich« (337,7) oder »examiniere dich« (338,3) zur Selbstprüfung anhand des jeweils imaginierten Geschehens. Wie die sponsa des Hohenliedes übernimmt die andächtige Seele zunächst die Rolle einer Fürstin, der Gott außerordentliche Schönheit und großen Reichtum verliehen hat (336,32; vgl. z.B. Cant.6,12). Der 1.-3.Betrachtungspunkt fordert die pia anima auf, sich zu prüfen, ob sie bereit wäre, um Christi willen auf »alle Schönheit, reichthumb, vnd geschmuck« (338,6 f.) zu verzichten. Diese erste Hälfte der Andacht führt den Gläubigen auf den Weg der Selbstverleugnung und -entäußerung, den der Erlöser mit seiner Mensch37
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»bilde dir für [ . . . ] « (336,32) und entsprechend in allen >Punkten< der Andacht.
werdung beschritt und bis zum Tod am Kreuz weiterging. Aus Liebe zum gekreuzigten sponsus muß sich die pia anima von aller Anhänglichkeit an irdische Güter lösen. Schritt für Schritt macht sich die Gott liebende Seele im Verlauf ihrer Andachtsübung die Haltung des contemptus mundi zu eigen. Mit einem emphatischen Ruf, der den bisherigen Verlauf der Andacht zusammenfaßt und die Distanzierung von den irdischen Dingen bis zum äußersten Grad der Weltverachtung steigert, bekräftigt die >geistliche Tochter< im vierten Übungsabschnitt ihren Entschluß, sich gänzlich von der Welt abzuwenden, um allein dem Gekreuzigten anzugehören: Ja, wan ich die gantze weit in meiner hand hette, vnd sie ein glaß were, wolte ich sie in disem augenblick an den fuß des Creutzes werffen, vnd sie in tausend stuck zerschmetteren ( 3 3 8 , 7 - 1 0 ) .
Während sich die Reflexionen der pia anima in den drei ersten Übungsabschnitten vor allem mit ihrer eigenen Person und mit ihrem Verzicht auf weltliche Pracht und materielle Güter beschäftigten, lenkt der zweite Teil der Andacht ( 4 . - 6 . >PunktEcce homoExercitia spiritualia< intendiert. Die andächtige Seele richtet ihr ganzes Dasein in zunehmendem Maß auf den leidenden Erlöser als dem Zentrum ihrer Existenz aus. Mit dem Wunsch, sich dem himmlischen Bräutigam möglichst vollkommen anzugleichen, erwidert die anima sponsa die Liebe, die den sponsus ans Kreuz führte und dazu bewegte, sein Leben zu opfern. Indem sich die pia anima die Sinnesart Christi, die Haltung vollkommener selbstloser Liebe, zu eigen macht, bereitet sie sich darauf vor, ihm »in eben dergleichen gestalt, als seine allerliebste Braut [ . . . ] in gegenwertiger H. Communion« (338,4 f.) zu begegnen. Den Erlöser wiederzulieben, bedeutet für die Seele, ihm in allen Dingen gleich zu werden, mit ihm zu leiden und zu sterben.38 Nur durch die Angleichung an den leidenden sponsus kann die anima sponsa eins werden mit ihm. Dem Verlangen nach wachsender Verähnlichung mit dem Seelenbräutigam verleiht der fünfte Betrachtungspunkt anschaulichen Ausdruck in der Vorstellung des >induere Christumchristusförmigen< Existenz findet.35 Spee fordert sein Beichtkind auf, sich vorzustellen, es werde »eingekleidet [...] wie eine rechte Braut Christi«
Μ Wolfskehl (1934), S. 11. - Vgl. G T B 8 8 , 1 7 - 1 9 ; 5 0 6 , 3 3 - 3 5 . » Gal. 3,22; Rom. 13,14.
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(338,12 f.) und trage wie Christus zum Spott einen Purpurmantel und die übrigen Leidensattribute, Stricke, Dornenkrone, Rohr und endlich auch das Kreuz (338,14—24). Von der (imaginierten) äußerlichen conformatio schreitet die meditatio passionis fort zur tiefbewegten Anteilnahme des Betrachtenden an der menschlichen Not des Erlösers. Um Christus »desto gleicher« (338,33) zu werden, muß die Gott liebende Seele die Haltung der compassio erwerben, mit dem sponsus »schmertzen, angst, vnd noth« (338,30) erdulden und nach dem Beispiel der Muttergottes beim Anblick des Gekreuzigten ein »schwerd in [...] leib vnd seelen fühlen« (338,35). Möglicherweise erhielt Spee Anregungen zu dieser Übung von einer Passage des >Examen generale candidatorumExamen< soll denjenigen vorgelegt werden, die um Aufnahme in die Gesellschaft Jesu nachsuchen, damit sie selbst und die Ordensleitung die Eignung des Kandidaten für das Leben in der Ordensgemeinschaft feststellen können.41 Die >Constitutiones< sehen vor, daß alle, die in die Societas Jesu eintreten wollen, darüber belehrt werden sollen, daß es den geistlichen Fortschritt sehr fördert, die Freuden der Welt zu meiden und - womöglich - zu verabscheuen, hingegen aber das zu begehren, was Christus begehrte. Der Text fährt fort mit einer Gegenüberstellung von Menschen mit weltlicher Gesinnung und solchen, die Christus nachfolgen. Während die erste Gruppe auf Erden Ehre und Ruhm sucht, verlangt die zweite Kategorie von Personen im Gegenteil danach, das >Kleid Christi< und die Insignien seiner Passion anzulegen, um seinetwillen Unrecht zu erleiden und ihm ähnlich zu werden: mundani homines, qui ea quae mundi sunt sequuntur, diligunt et quaerunt magna cum diligentia honores, famam, magni nominis existimationem in terra [ . . . ] ; sic, qui procedunt in spiritu et serio Christum Dominum nostrum sequuntur, amant et ardenter exoptant quae iis omnino contraria sunt; indui, nimirum, eadem veste ac insignibus Domini sui pro ipsius amore ac reverentia; adeo ut [ . . . ] vellent contumelias, falsa testimonia et iniurias pati, ac stulti haberi et existimari [ . . . ] eo quod exoptant assimilari ac imitari aliquo modo Creatorem ac Dominum nostrum IESVM Christum, eiusque vestibus et insignibus indui. 42
Auch in einer Kommunionandacht des Jesuiten Christian Mayer, dessen >Enchiridion Industriarum< (1634)43 Spee vielleicht gekannt hat, findet sich eine ähnliche Gestaltung des Motivs vom >induere Christi< in Verbindung mit der meditativen Angleichung der andächtigen Seele an den leidenden sponsus. Das Ziel der Kommunion bestimmt Mayer folgendermaßen: 40
ή « 43
>Primum ac generale Examen iis omnibus qui in Societatem Jesu admitti petent proponendumMonumenta Ignatiana, Series tertia, Sancti Ignatii de Loyola Constitutiones Societatis Jesu, Tomus tertius [ . . . ] Rom 1938< (im folgenden abgekürzt als MI, Const.). MI, Const., S. 1. Ebd., S. 28 f. Zu diesem Werk: Oorschot, Kommentarteil zum G T B (1968), S. 631.
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Transformatio in Christum, seu intima cum eo vnio, per seriam vitae eius imitationem per consummatam charitatem, absolutamque nostrae voluntatis, cum diuino eius beneplacito, conformitatem. Ideo enim amantissimus Sponsus animarum nostrarum vult toties a nobis in hoc mystico conuiuio sumi, nobisque intime vniri.44 Wie der Kandidat vor seinem Eintritt in den Jesuitenorden befragt werden soll, ob er das Verlangen hat, Christus in der geschilderten Weise nachzufolgen, so soll der fromme Leser des >Tugendbuches< vor dem leiblichen oder >geistlichen< Empfang der Kommunion seine Gesinnung erforschen und sich in der imitatio des Erlösers üben. Die Opposition von Weltliebe und liebender imitatio des Gottessohnes, die in der zitierten Textpassage des >Examen generale< den zentralen Gedanken darstellt, wird in Kapitel III 10 des >Tugendbuchs< in eine zwei Stufen umfassende Andachtsübung überführt, die den Gläubigen zur Haltung des contemptus mundi erziehen (1.-3. Abschnitt) und ihm damit die Voraussetzung für die Verwirklichung der Nachfolge Christi ( 4 . - 6 . Abschnitt) vermitteln will. Nach traditioneller Auffassung realisiert die Eucharistie das spirituelle Prinzip der imitatio, indem sie den Empfänger zu einem Glied des mystischen Leibes Christi macht. Mit dieser transformatio stellt die Kommunion eine enge Gemeinschaft zwischen Christus und der menschlichen Seele her und läßt so den Gläubigen am Kreuzopfer teilhaben.45 Spee übersetzt die Lehre von der sakramentalen imitatio in ein sinnfälliges, dramatisch bewegtes Andachtsgeschehen, in dessen Verlauf die anima sponsa betrachtend an der Passion des sponsus Christus partizipiert und die sakramentale unio mit dem Seelenbräutigam erfahren darf.
4.4. Die mitleidende Betrachtung des leidenden sponsus in der Passionsandacht Kap. III 34 Wie in Kapitel III 10 empfiehlt Spee auch am Ende des >Tugendbuchs< in Kapitel III 34 die Betrachtung des leidenden Christus als Vorbereitung auf den Empfang der Eucharistie; »sich im leyden Christi vben« (521,21 f.) fördert die »geistliche bereitschafft zur Communion« (521,21), erklärt die Einleitung zu dieser Andacht. Spee teilt seinem Leser in Kapitel III 34 ein »Liebreiches gebett zu J E S U dem gekreutzigten« (522,14) mit, das der Gläubige in der folgenden Woche täglich in der Messe gebrauchen und dabei geistlich oder leiblich kommunizieren soll (521,25-27). Einige Hinweise für die rechte Durchführung der Tugendübung und einen kurzen Uberblick über Inhalt und Aufbau gibt die Vorbemerkung zu diesem Kapitel. Das nachfolgende Gebet ist,»wie der Seelsorger erklärt, « 45
Mayer (1634), S. 573. Adnes (1971), Sp. 1592.
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gemacht zu J E S U dem gecreutzigten, zu seinen fürnehmen glideren, als nemlich zum haupt, zun haaren, zum angesicht, zun äugen, zun wangen, zum mund, zum halß, zun händen, zur brüst, zun füssen, zum gantzen leib (521,31—34).
Bei diesem Prosagebet handelt es sich um eine Betrachtung des Gekreuzigten in der Nachfolge der pseudobernhardinischen >rhythmica oratio ad unum quodlibet membrorum Christi patientis et a cruce pendentisSalven< wie der mystische Seelenweg als Aufwärtsbewegung angelegt sind. 49 Die einzelnen Gebete in der Passionsbetrachtung des >Tugendbuchs< evozieren jeweils mit Hilfe der expressiven Bilder aus dem Hohenlied die frühere Schönheit des sponsus, um ihr unmittelbar darauf das kontrastierende Bild der leidenden Christusfigur gegenüberzustellen. Auf diese Weise bleibt für den Betrachtenden trotz der Entstellung im Leiden etwas von der göttlichen Schönheit des sponsus präsent, und gerade aus der Zusammenschau der Bilder aus dem Hohenlied mit dem Anblick des Leidens resultiert die angespannte, emotionsgeladene Grundhaltung dieser Gebete. « 47
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P L 1 8 4 , 1 3 1 9 - 1 3 2 5 . - V g l . Oorschot (1968), Anmerkung zu G T B 522,14 auf S. 627. 523,2f.: »haar [ . . . ] gelber alß das goltauß Orienten; Cant. 5,11: »Caput ejus aurum optimum«. 523,7—9: »du holtseeliges Angesicht [...], du heller morgenstern, du schöner Mon, du heitere Sonn«; Cant. 6 , 9 : »quasi aurora consurgens, pulchra ut luna, electa ut sol«. 523,37—524,1: »wangen [ . . . ] wie die allerlieblichste lilgen vnd rosen«; Cant. 5,10: »Dilectus meus Candidus et rubicundus«. 524,4—6: »mund [ . . . ] von deme iederzeit als von einem trieffenden hönigsamen die wundersüsse wortt des lebens abgeflossen seind«; Cant. 4,11: »Favus distillans labia tua, sponsa; mel et lac sub lingua tua«. 524,15 f.: »schneeweisser halß meines Herrn J E S U Christi, du helffenbeinere thurn, du schöne marmere Seul«; Cant. 4 , 4 : »Sicut turris David Collum tuum« (vgl. Oorschot (1968), Anm. zu G T B 524,16 auf S. 627); Cant. 7,4: »Collum tuum sicut turris eburnea«. 525,19: »weisse alabasterne bein vnd füß«; Cant. 5,15: »Crura illius columnae marmoreae«. Spee erweitert den Katalog der Körperteile, den er im Hohenlied vorfindet, noch um ein Gebet »Zum Angesicht« (523,6) und »Zum Halß« (524,14) auf zehn Gebetsstationen. >Ad pedes«, >ad genua«, >ad manus«, >ad latusad pectus«, >ad cor«, >ad faciem«.
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Neben dem Hohenlied könnte Spee auch einen Abschnitt aus dem weitverbreiteten >Betbuch< (zuerst 1560) 50 seines Ordensbruders Petrus Canisius als Vorlage benützt haben. Unter den Gebeten, die Canisius in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts gesammelt hatte, findet sich »Eine andächtige Grüßung und Benedeiung zu den hl. Gliedern Christi, so für uns gemartert« (S. 248). Die vierzehn Abschnitte dieses Textes weisen eine ähnliche Reihenfolge auf wie die zehn Gebetsstationen der Speeschen Passionsandacht. 5 1 Die >Grüßungen< des Kanisischen Textes bestehen aus je einem Satz, der die feierliche Anrufung der einzelnen Glieder des Gekreuzigten und eine kurze Schilderung der Leiden umfaßt, die Christus >für uns< erduldet hat. 52 Z u m Schluß erfleht der Beter um der Passion Christi willen den Beistand Gottes in allen inneren und äußeren Notlagen, die den Menschen treffen können. 5 3 50
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Einen Überblick über die verschiedenen Ausgaben dieses Buchs gibt Streicher II (1936), S. 16*-18*, 21 * und 2 7 * - 3 0 * . - Im folgenden wird dieses Gebetbuch nach der von J.B.Reiser (1867) besorgten Ausgabe zitiert. Der Betende grüßt nacheinander Haupt, Gesicht, Augen, Mund und Kehle, Hals und Rücken, Hände und Arme, Brust, Seele, Herz, Knie, Füße, Leib, Blut und zuletzt die ganze »Menschheit Jesu Christi« (S. 250). Ein längeres Zitat aus dem Passionsgebet des Petrus Canisius läßt die Parallelen zum Text des GTB, aber auch die Eigenart der Speeschen Andacht erkennen: »Gegrüßt seist du, heiliges Haupt unsers Seligmachers Jesu Christi, so unter allen Häuptern schön, herrlich Und ehrwürdig, jedoch um unsertwillen mit Dörnern gekrönt, und mit einem Rohr geschlagen ist worden! Gegrüßt seist du, allerlieblichstes Angesicht unsers lieben Herrn Jesu Christi, an dem alle Engel eine Freude haben, jedoch unserthalben verspeiet, und mit Backenstreichen geschlagen worden! Seid gegrüßt, ihr allerliebsten Augen unsers lieben Herrn Jesu Christi, um unsertwillen mit vielen Zähren reichlich übergössen! Gegrüßet seist du, heiligster Mund und süßeste Kehle unsers lieben Herrn Jesu Christi, mit vieler Schmach und Scheltworten beleidigt! Gegrüßet seist du, ο demüthiger Hals und Rücken unsers lieben Herrn Jesu Christi, um unsertwillen hart geschlagen, gegeiselt und zerrissen! Seid gegrüßt ihr würdige Hände und Arme unsers lieben Herrn Jesu Christi, die unsertwillen an dem Kreuze ausgespannt, durchlöchert und ausdehnet. Gegrüßet seist du, allermildeste Brust Jesu Christi, die unsertwillen an dem heiligen Kreuze durchlöchert ist worden. Gegrüßet seist du allerheiligste und edelste Seele unsers lieben Herrn Jesu Christi, um unsertwillen mit des Ritters Speer durchstochen, aus welchem Blut und Wasser zu unserm ewigen Heil geflossen ist. Seid gegrüßt ihr ehrwürdigen Kniee unsers Herrn Jesu Christi, die sich so oft um unsers Heils willen im Gebet gebogen haben [...] Gegrüßt seist du, ο du allerheiligstes und kostbarstes Blut unsers lieben Herrn Jesu Christi, für uns arme elende Sünder, aus seiner heiligen Seiten und von seinem ganzen Leib so reichlich geflossen« (S. 248-250). »Seid gegrüßt, Glieder, Adern, Gebein und die ganze edle zarte Menschheit Jesu Christi, so über drei und dreißig Jahr' mit viel Mühe und Arbeit unser Heil gewirkt hat! Ο gütigster und barmherzigster Herr Jesu Christe, durch dein bitter Leiden 119
Im >Tugendbuch< leitet jeder Gruß eine längere Betrachtung ein, die den Einsatz aller drei Seelenkräfte erfordert. Der Übende soll zunächst »das gebettlein gar langsam [ . . . ] mit dem mund« (521,35f.) lesen, danach den Gehalt des mündlichen Gebets »etwas tieffer mit dem hertzen bedencken, vnd die glieder oder wunden des gecreutzigsten [ . . . ] beschawen« (522,2—4). Während im Gebetstext, den P. Canisius überliefert, jeder Abschnitt die Passion als Leiden »um unseretwillen« kennzeichnet, ersetzt das >Tugendbuch< die kollektive Sicht durch die individuellere Betrachtung des Kreuzopfers als Sterben »vmb meinetwillen« (523,9). Spee lenkt die Aufmerksamkeit des Lesers vor allem auf Christi Liebe zum Menschen als Beweggrund der Passion. Die andächtige Seele betrachtet die Wunden des Erlösers als signa amoris. Beim Anblick des sponsus crucifixus bewegt die Erkenntnis der göttlichen Liebe den Betrachtenden zutiefst: »O vnaußsprechliche lieb, ο vnergründliche, vnermäßliche lieb meines Herren!« (522,19f.). Jede Station der Andacht mündet in affektbetonte Ausrufe, fromme Entschlüsse und Einsichten der pia anima, die durch die Haltung der compassio die göttliche Liebe erwidert und sich selbst zu immer neuen Akten der dritten göttlichen Tugend ermuntert. Oft kleidet Spee die Rede der betrachtenden Seele in die Form einer emphatischen adhortatio, wie z.B. im ersten Andachtsabschnitt: »O du mein hart vnd kaltes hertz! soltestu noch von lieb nicht brennen? soltestu noch vor lauter liebs brunst nicht gar zerschmeltzen?« (522,25-27). Das Mit-Leiden der pia anima gipfelt im Wunsch, aus Liebe zu Christus zu sterben: »O mein JESU, JESU, JESU [ . . . ] lasse mich doch an lauter liebe für dich sterben: dan du ia für mich an lauter liebe bist gestorben« (525,32—34). Das Phänomen der Verkettung von Liebe und Leid bzw. Liebe und Tod erreicht seine extreme Ausprägung in der Vorstellung der unio in morte. Die Sehnsucht nach dem himmlischen Bräutigam ist zugleich Todessehnsucht. 54 Da nur die Auflösung der irdischen Existenz zur unio führt, erfleht die Gott liebende Seele mit bestürzender Radikalität die >Zernichtung< (525,11-13). Während das Kanisische Gebet mit einer allgemeinen Bitte um göttlichen Schutz und Hilfe Schloß, verleiht der letzte Abschnitt der >TugendbuchTugendbuchs< die explizit oder implizit vorgebrachte Mahnung zum geduldigen Leiden zur Kenntnis nehmen; scheint es doch nahezu unausweichlich, daß eine religiös motivierte Erziehung zum Dulden und zur Demut als Instrument der sozialen Beschwichtigung und Disziplinierung mißbraucht wird und dazu beiträgt, auf Unrecht gegründete Herrschaftsverhältnisse zu zementieren. 73 Wer gelernt hat, menschliche Not als unvermeidliches Schicksal und gottgewollte Prüfung hinzunehmen, wird kaum nach den irdischmenschlichen Ursachen von Mißständen suchen und auf deren Beseitigung drängen. Allerdings kann die Stilisierung menschlichen Leidens zum Abbild der Passion Christi ein beträchtliches kritisches Potential freisetzen, wie neuere Forschungen über die Trauerspiele des Andreas Gryphius gezeigt haben. 74 Ahnlich schließt auch Kapitel III 3 des >TugendbuchsCautio Criminalism die der weltlichen und geistlichen Obrigkeit die Augen für die Mißstände in der Rechtspflege öffnen soll, wendet sich Spees Tugendübung an die potentiellen Opfer der damaligen gerichtlichen Praxis. In Spees Erbauungsbuch überwiegt das seelsorgerliche Anliegen des Autors, der seine >geistliche Tochter< im Ernstfall einer Anklage wegen Hexerei vor der Todsünde der Verzweiflung bewahren will. Die praemeditatio futurorum malorum unter Anleitung des Beichtvaters gibt dem Gläubigen überdies Gelegenheit zu einem exercitium der Gleichförmigkeit mit dem Willen Gottes, die einen wesentlichen Bestandteil der Christusnachfolge ausmacht. Im martyrologischen Entwurf, den Spee seiner Andacht zugrunde legt, tritt der Einfluß, den die typologische Bibelexegese noch auf das Denken des 17. Jahrhunderts ausübt, eindrucksvoll zutage. Bemerkenswert ist dieses Kapitel des Speeschen Erbauungsbuches aber auch, weil es erkennen läßt, daß die Frömmigkeit des >TugendbuchesCarolus Stuardus< (S. 117-169) und H.-J. Schings' Aufsatz über >Catharina von Georgien« (S. 170-203).
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frühen Neuzeit erwächst.75 In dem historischen Augenblick, als die überkommenen Ordnungssysteme fragwürdig und zunehmend brüchig werden, findet das gläubige Subjekt in der Unmittelbarkeit zu Gott, in der Nachfolge Christi und in der liebenden Hinwendung zum Seelenbräutigam, einen geistlichen Bezugspunkt, der inmitten einer heillosen Welt Halt gewährt.
4.6. Die Verwirklichung der Nachfolge Christi in den Werken der Nächstenliebe (Kap. III 1 2 - 1 4 und 16) Das >Tugendbuch< zeigt seinem Leser verschiedene Möglichkeiten, wie er die göttliche Liebe, die ihm Christus durch seine Erlösungstat erwiesen hat und täglich neu erweist, erwidern kann. Zeichen des amor divinus sind nicht allein die mitleidende Betrachtung des Leidens Jesu und die geduldige Ergebung in den Willen Gottes, der den Seinen zuweilen schwere Prüfungen auferlegt; auch im Dienst am Nächsten muß sich die Caritas - in der Nachfolge Christi bewähren. In seinen Übungen der Nächstenliebe im dritten Teil des >Tugendbuchs< macht der Seelsorger sein Beichtkind auf die Not der Mitmenschen aufmerksam und gibt praktische Ratschläge, wie der Fromme Bedürftigen durch ein Werk der Barmherzigkeit helfen kann. Kapitel III 12 erklärt ausführlich die Verpflichtung des Christen zur Nächstenliebe, die ihren Ursprung in der Gottesliebe haben muß: weill ich nemblich Gott dem Herren woll will, vnd aber siehe, daß der mensch von diesem meinem geliebten Gott herrühret, vnd gleichsam sein lieb- vnd wertes hündlein, oder thierlein ist: dan da gefeit mir alßbaldt dieses hündlein von des herren wegen, vnd wolte ihm so gern alles gutes thun, als wan ich seinen herren selbst da hette ( 3 4 8 , 4 - 9 ; ähnl. 3 4 7 , 1 3 - 2 7 ) .
Die Zuneigung zum Mitmenschen um seiner selbst willen »hat keinen vbernaturlichen verdienst« (348,33). Nur zu leicht setzt sie den Menschen der Gefahr aus, sich an das Geschöpf zu verlieren. Spee betrachtet nur die Nächstenliebe als verdienstvoll, die aus der Gottesliebe entspringt, »also daß endlich vnd zuletzt diese lieb nicht eigentlich vnd volkommentlich auff dem menschen beruhe, sonder sie gehet gleichsam durch, vnd beruhet auff Gott« (347,32—34). Entsprechend instruiert auch Ignatius den Exerzitanten in den >Regeln für den Dienst der Almosenverteilungc 76 »die Liebe, die mich bewegt und mich das Almosen geben läßt,« muß »aus der Liebe zu Gott unserem Herrn herabsteigen, dergestalt, daß ich in mir spüre, die Liebe, die ich mehr oder weniger 75
76
Zu den politischen, sozialen, ökonomischen und geistigen Aspekten dieser Krise, vgl. Lehmann (1980), S. 105-124, 141-144 und 160-162. Nr. 337f.; MI, Ex., S. 528.
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zu solchen Personen habe, um Gottes willen ist«. Die Werke der Nächstenliebe, die der Gläubige vollbringt, sollen ein Reflex der Wohltaten sein, die er von Gott erfahren hat; die Beweise der Liebe, die wir Christus schulden, werden - stellvertretend - dem bedürftigen Nächsten zuteil. Mit einem Hinweis auf Matth. 25,40 erinnert Spee seine >geistliche Tocht e r daran, daß Gott die Wohltaten, die man einem Mitmenschen erweist, so beurteilt, »alß wan es ihme selbsten geschehe, nach laut der wort Christi: Was ihr einem auß meinen geringsten gethan habt, das habt ihr mir gethan« (348,25—27). Wenn der Gläubige einem notleidenden Menschen einen Dienst erweist, soll er es »vmb Christi willen« (351,34 f.) tun; »dencke dan du dienest Christo selbsten« (357,1 f.), empfiehlt das >TugendbuchTugendbuchsTugendbuch< hervorhebt. Die Bereitschaft, mit dem Nächsten oder sogar stellvertretend für ihn zu leiden, führt den frommen Leser auf den Weg der Nachfolge Christi. Mit der Aufopferung für den Mitmenschen - und sei sie auch nur intendiert - ahmt die andächtige Seele den Opfertod des Erlösers nach und verherrlicht durch diesen Akt der imitatio die göttliche Liebestat. Spees soziales Engagement, sein Mitleid mit den Geschöpfen Gottes, gibt sich damit als Produkt des in der mittelalterlichen Frömmigkeit wurzelnden Konzepts der imitatio Christi bzw. der compassio zu erkennen. Die ursprünglich kontemplative Haltung der compassio wird in die alltägliche Praxis des frommen Laien integriert und verbindet sich mit der ignatianischen Maxime vom >Gott Suchen in allen DingenMystik der TatTugendbuchs< prägt. Wie Ignatius von Loyola, der selbst den neuen Typus des Frommen, den
77
Stierli, Ignatius (1981), S. 13, 97, 106f., 118. - Vgl. M. Schneider (1983), S. 10.
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contemplativus in actione, verkörpert, 78 will auch Spee den Gläubigen zur tätigen, dienenden Caritas erziehen, die zur >innerweltlichen Gottbegegnung< hinführt. 79 Neben den äußeren Werken der Barmherzigkeit umfaßt der Dienst am Nächsten vor allem die apostolische Arbeit für das Seelenheil der Mitmenschen. Als Prototyp der Nachfolge Christi im apostolischen Dienst stellt Spee in Kapitel III 16 Franz Xavier vor, 80 den Ostasienmissionar der Societas Jesu. In einer Andachtsübung, die den Missionseifer des Lesers entfachen möchte, prüft der Seelsorger die Bereitschaft seines Zuhörers, Besitz und Heimat »vmb Christi willen« (364,27) zu verlassen, um eine Missionsreise in »fehre vnbekandte länder« (364,28) anzutreten. Ihre Zustimmung zu einem solchen Vorhaben begründet die andächtige Seele mit dem Hinweis auf den Gottessohn, der in seiner himmlischen Heimat »alle lust vnd frewd, alle herrligkeit vnd glory« (364,31) besaß »vnd dannoch liebet er mich so sehr, daß er alles dis verlassen hat, vnd ist mir nachgelauffen. Warumb soll ich ihn nicht wieder lieben vnd alles gern vmb seinetwillen verlassen?« (364,32—35). Die selbstlose Liebe, die Christus dazu trieb, Mensch zu werden, um im >ellende< verirrte Seelen zu suchen und zu retten - , dieselbe Liebe veranlaßte auch Franz Xavier zu seiner gefährlichen Missionsreise. Wer ihm in der Glaubensverkündung und in der apostolischen Arbeit nacheifern möchte, tritt zugleich die Nachfolge Christi an. Ahnlich veranschaulicht Spee in Kapitel III 12 durch ein Gleichnis die Einheit von Christusnachfolge und Dienst in der Welt, die er als untrennbare Äußerungen der Caritas auffaßt. Wenn ein Hündchen, das uns um seines Herren willen teuer ist, seinem Besitzer davonläuft, sich in einem Wald verirrt und in Gefahr gerät, würden wir es aus Freundschaft zu seinem Herrn suchen und ihm zu Hilfe kommen, erklärt der Seelsorger (350,14-23). Ebenso wird der Gläubige, der Gott wahrhaft liebt, seinen Mitmenschen, die »solche liebe vnd werte hündlein Gottes seind« (350,39—351,1), mit selbstloser Fürsorge begegnen. Durch einen einfachen Substitutionsprozeß verfremdet Spee in dieser Übung der Nächstenliebe die Parabel vom verlorenen Schaf aus Kapitel II 4 und präsentiert seinem Leser eine Parabel vom verlorenen Hündchen, die noch wörtliche Anklänge an ihr pastorales Urbild aufweist. Der pastor bonus berichtet in Kapitel II 4, daß sein königlicher Vater das verlorene Schäfchen unsagbar liebt (131,9f.) und »schier anders nichts mit seinen höfflingen vnd dienern« spricht »als nur von diesem Schäfflein« (131,14f.), nach dem er »alle stund« (131,12) fragt. Falls das Schäfchen zurückkehrt, soll es wieder mit seinem Herrn »an einem tisch auß seinen händen essen« und »in seinen armen " Stierli, Ignatius (1981), S. 110 u. 126. " Ebd., S. 74. β" GTB S. 367f., 13., 14. u. 16. >FragHündleinTugendbuchs< in dem entlaufenen und gesuchten Schäfchen wiedererkennen sollte, ist er im letzten Teil des Speeschen Erbauungsbuchs dazu aufgefordert, sich in die Rolle des Suchenden zu versetzen und den pastor bonus nachzuahmen. Auf die Frage: »was woltestu thun [...]?« (350,20 f.), die der Seelsorger im Anschluß an die vorgetragene Parabel stellt, antwortet seine >geistliche TochterTugendbuchs< schlägt die aufsteigende Bewegung der Gottesliebe im Zeichen der Kreuzesnachfolge um in den Nachvollzug des göttlichen Abstiegs in die Welt, um in ihr als Werkzeug des göttlichen Willens zum Lobpreis des Schöpfers und zum Heil des Menschen zu wirken.81 Mit dieser Hinwendung zum Dienst in der Welt und am Nächsten sind Spees Tugendübungen Ausdruck einer neuzeitlichen Frömmigkeitshaltung, die die Ehre Gottes zunehmend im Heil des Nächsten sucht82 und die Arbeit in der Welt gleichberechtigt neben Gebet und Meditation stellt.83 Spee beschränkt seinen Lehrgang des spirituellen Lebens nicht auf die Vermittlung von Gebetstechniken, die die tägliche Andacht des Frommen bereichern und vertiefen; vielmehr möchte der Verfasser des >Tugendbuchs< den Gläubigen zur Umgestaltung seines Lebens veranlassen. Das ganze Dasein des Christen soll in all seinen Äußerungen ein einziges fortwährendes Gebet 81 82 83
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K. Rahner, Einübung (1970), S. 295. - Vgl. Stierli, Ignatius (1981), S. 120f. Oorschot, Frömmigkeit (1984), S. 167. Stierli, Ignatius (1981), S. 166.
und vom Ideal der Christusnachfolge durchdrungen sein. Spee macht den Benutzer des >Tugendbuchs< mit den unterschiedlichen Formen und Paradigmen der imitatio Christi bekannt, so daß der andächtige Leser unter ihnen den ihm gemäßen Weg der Nachfolge finden kann. Zu den Frömmigkeitsübungen, in denen sich das spirituelle Konzept der imitatio Christi verwirklicht, zählen insbesondere die Haltung der compassio, die vor allem durch die affektbetonte meditatio passionis erzielt wird, der andächtige Empfang der Kommunion, die resignatio des eigenen Willens bis hin zum Extremfall des Martyriums und schließlich auch der Dienst am Nächsten. In Verbindung mit der Liebesthematik des Hohenliedes bildet der Nachfolge-Gedanke in seinen zahlreichen Konkretionen und individuellen Variationen das Zentrum eines oft dramatisch ausgestalteten meditativen Geschehens, das die Gott liebende Seele in einen existentiellen Dialog mit dem sponsus Christus eintreten läßt.
131
5.
Das Prinzip des >laudare magis< und die »Mitteilung von beiden Seiten< als Forderung der Gottesliebe
5.1. Das >kommunikative< Wesen des amor spiritualis als strukturbildendes Moment der Andacht In der >contemplatio ad amorem spiritualem in nobis excitandunK1 am Ende der >Geistlichen Ubungen< nimmt Ignatius den Grundgedanken der laudatio Dei aus dem Exerzitienfundament und den zentralen Gedanken der imitatio Christi auf, um in abschließend gültiger Form den Ertrag des gesamten Übungskurses zusammenzufassen. Seine komprimierte Synthese des Exerzitienprozesses erhebt die dialogische Struktur der vorausgegangenen meditationes über Leben und Sterben des Erlösers zur universalen Betrachtungsweise. Nachdem sich der Retraitant unter dem doppelten Gesichtspunkt >Was hat Christus für mich getan, und was soll ich ihm dagegen geben ?< in das Erlösungswerk vertieft hat, generalisiert die Betrachtung zur Erlangung der Liebe< dieses symmetrische Strukturmodell der ignatianischen Andacht und steigert es zugleich zu höchster psychologischer und pädagogischer Wirksamkeit. Als Ziel seiner Schlußübung nennt Ignatius »eine tiefe Erkenntnis so großer empfangener Wohltaten«, damit der Gläubige »in allem Seine Göttliche Majestät lieben und ihr dienen kann.2 Um dies zu erreichen, soll sich der Exerzitant »Ins Gedächtnis rufen die empfangenen Wohltaten der Schöpfung, der Erlösung und der besonderen Gaben, indem ich mit großer Hingebung (afecto) abwäge, wieviel Gott unser Herr für mich getan hat [.. .]«. 3 Darauf fordert der zweite Schritt der Andacht die Rückbesinnung des Gläubigen auf sich selbst, »indem ich mit vielen Gründen der Vernunft und der Gerechtigkeit erwäge, was ich von meiner Seite Seiner Göttlichen Majestät anbiete und geben muß, nämlich alles, was ich habe, und mich selber damit«. 4 Überwältigt von der Größe der göttlichen Gnadengaben soll der Betrachter den Entschluß fassen, sich selbst vorbehaltlos Gott zu übergeben, um seinen Schöpfer und Erlöser
1
2 3 4
N r . 230—237; MI, Ex., S. 426—432. - Zur Funktion dieser Andacht für den gesamten Exerzitienprozeß vgl. Stierli,Ignatius (1981), S. 118-125. N r . 233; MI, Ex., S. 428. N r . 234; MI, Ex., S. 428 u. 430. N r . 2 3 5 - 2 3 7 ; MI, Ex., S. 430 u. 432.
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mit dem Einsatz der ganzen Persönlichkeit im innerweltlichen Gottes-Dienst zu loben. 5 In der »Parallelität von Empfangen und Hingeben«, 6 die die Beziehung zwischen dem Menschen und seinem göttlichen Gegenüber bestimmt, akzentuiert die Schlußbetrachtung der >Exercitia spiritualia< nochmals das Grundmotiv der Liebe, das den göttlich-menschlichen Dialog trägt und das nach Ablauf der vier Übungswochen als lebensgestaltendes >Gesetz< im Alltag des Frommen, bei der Verwirklichung der Nachfolge Christi, wirksam werden soll. Prägnant formuliert die Vorbemerkung zur >contemplatio de amore< das >Liebes-AxiomExerzitien< zugrunde liegt: Die Liebe besteht in der Mitteilung von beiden Seiten her; das heißt, daß der Liebende dem Geliebten gibt und mitteilt, was er hat, oder von dem, was er hat oder kann, und als Erwiderung ebenso der Geliebte dem Liebenden. 7
Struktur und Gehalt der Betrachtung zur Erlangung der Liebe< führen in den Kernbereich der >TugendbuchExerzitien< thematisiert, kann gleichsam als Quintessenz der >Geistlichen Ubungenkommunikative< Prinzip der liebenden >Mitteilung von beiden Seiten her< Spees Werk, sei es nun in der komplementären Relation von Ruf und Antwort, von Menschwerdung und imitatio Christi oder von passio und compassio. Spee veranschaulicht diese vielgestaltige geistliche communicatio durch das allegorische Rollenspiel zwischen dem sponsus Christus und der anima sponsa, das durch seine ausdrucksstarken Szenen und Bilderfolgen den Leser zu einer persönlich getönten, Denken, Gefühl und Handeln gleichermaßen einbeziehenden Bindung an den göttlichen Dialogpartner einlädt.
5.2. Die dialogische Struktur der >contemplatio de amore< in Kap. 13 und 4 des >Tugendbuchs< Das Kompositionsprinzip der Betrachtung zur Erlangung der Liebe< inspirierte Spee bei der Ausarbeitung seiner Tugendübungen in vielfacher Hinsicht. Außer in den Passionsbetrachtungen und in den Andachten, die den Ruf zur Nachfolge zum Gegenstand haben, variiert Spee in mehreren weiteren Kapi5 6 7
N r . 234; MI, Ex., S. 428 u. 430. Stierli, Ignatius (1981), S. 121. N r . 231; MI, Ex., S. 426.
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teln seines Erbauungsbuches das symmetrische Betrachtungsschema des ignatianischen Vorbildes. So ist z.B. die Andacht über das Credo in Kapitel 13 in jedem ihrer sechs Übungspunkte dem Strukturmodell der >contemplatio de amore< nachgebildet. Die einzelnen Abschnitte des Speeschen exercitiums zur Stärkung des Glaubens bestehen jeweils aus zwei Fragen und zwei Antworten. Die jeweils erste Frage ruft dem Leser durch eine verdeutlichende Paraphrase des CredoTextes einen oder mehrere Artikel des Glaubensbekenntnisses ins Gedächtnis. Diese Erläuterungen zum Credo werden eingeleitet durch einen Appell an das Gedächtnis, das dem rationalen Bereich zugehört: »bistu auch eingedenck was der glaub uns lehret [...]?« (43,20 f.). Mit dieser >Erinnerung< veranlaßt Spee den Leser, sich die von Gott empfangenen Gnadengaben zu vergegenwärtigen und den Glauben an die Heilslehre zu bekennen - »Ja freylich; solt ichs nit gedencken? Ich gedencke es, vnd glaube es warhafftig: will solcher wolthat dieses Vatters in ewigkeit nicht vergessen« (43,28—30), versichert die geistliche Tochter< in ihrer Antwort. Nachdem der erste Teil jedes Übungsabschnitts dem Leser anhand des Symbolums die Erkenntnis der göttlichen Wohltaten vermittelt hat, führt der zweite Teil den Frommen vom >Gedenken< und >Bedenken< der Glaubenswahrheiten zur pia affectio »vmb dieser vrsachen willen« (43,32). Die andächtige Seele bekundet sichtlich bewegt ihre Liebe zu Gott, mit der sie die empfangenen Gnadengaben »beantwortete Ihre emphatisch-verallgemeinernde interrogatio: »Ja freylich, wer wolte ihn deßhalben nicht lieben?« (43,34 u. ö.), hat für den Leser des >Tugendbuchs< appellative Funktion. Mit dem abschließenden Wunsch, Gott noch mehr zu loben, gesteht die pia anima das Unvermögen ein, durch menschliche Leistungen die göttlichen Wohltaten adäquat zu erwidern. Das ignatianische »Wahlmotiv des >magisTugendbuch< beleuchtet die Heilswahrheiten vorwiegend in ihrer Bedeutung >pro meTugendbuch< erinnert die pia anima daran, daß sie »warhafftig eine königliche Tochter« (43,22) ist; Christus wird »dein bruder vnd liebhaber« (45,9) genannt, der »dich also geliebet hat, daß er deinet-wegen gelitten hat« (44,27 f.). Mit seinem Rückgriff auf die biblische Vorstellung der Gotteskindschaft und auf das Motiv der Seelenbrautschaft macht Spee in der Heilsgeschichte die persönliche liebende Hinwendung Gottes zu jeder einzelnen Menschenseele sichtbar. U m dem Benutzer des >Tugendbuchs< das wunderbare Geschenk der göttlichen Gnade eindringlich darzustellen, kleidet Spee seine Credo-Paraphrasen in konzessive Satzgefüge, die dem Leser den Kontrast zwischen der Armseligkeit der menschlichen Existenz und der Fülle göttlichen Erbarmens wirkungsvoll zu Bewußtsein bringen (z.B. 44,25—30). Drei parallel gebaute anaphorische Merksätze am Ende des Prosatextes rufen dem Gläubigen nochmals die göttlichen Wohltaten in Schöpfung, Erlösung und persönlicher Heiligung ins Gedächtnis. 10 Die Betrachtung all dieser Gnadengaben, die Gott dem Menschen zuteil werden läßt, muß den Frommen »vber alle massen verwunderen« (46,31) und zu Freudentränen rühren (46,32 f.). In einem zehnstrophigen Schlußlied resümiert Spee den Ertrag der Übung und wiederholt in poetisch verdichteter Form die wesentlichen Momente des Andachtsgeschehens, das dem Leser den ignatianischen Grundsatz der M i t teilung von beiden Seiten her< als Ideal einer christlichen Lebensgestaltung nahebringen möchte. Der erste Teil dieses Meditationsliedes (Str. 1 — 7) schildert in einem versifizierten Gebet die Empfindungen der andächtigen Seele bei der Betrachtung der göttlichen Wohltaten; die Erkenntnis der Güte Gottes G T B 4 6 , 2 8 - 3 0 . - Vgl. Nr. 234; MI, Ex., S. 428: »Ins Gedächtnis rufen die empfangenen Wohltaten der Schöpfung, der Erlösung und der besonderen Gaben.«
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veranlaßt die Seele in einem zweiten Andachtsschritt zur >Rückbesinnung< auf sich selbst und ihre Gegengabe. Nach einer Einführung, die den Leser mit der Ausgangssituation der Betrachtung vertraut macht (Str. 1 und 2), schildern die folgenden fünf Strophen die tränenreichen Gefühlsausbrüche der pia anima. Spee veranschaulicht die Erfahrung göttlicher »gnad, vnd gunst« (47,3) durch sinnfällige Bilder: Wie der Schnee im Frühling »von süssem Sonnenschein« (47,3) schmilzt, so vergießt der Fromme »zähr ohn zahl« (47,11), wenn er die Wirkung der Gnade verspürt. Mit dem >emblematischen< Genitiv11 »gnaden straal« (47,9) evoziert Spee die traditionsreiche Vorstellung der Gnadensonne und stellt einen sinnbildlichen Bezug zwischen der Schneeschmelze zu Beginn des Frühlings und dem seelischen Geschehen der Gnadenerfahrung her. Vergleiche und Metaphern aus der Natur verdeutlichen die Gemütsbewegung der pia anima. Unaufhörlich rinnen die Freudentränen der Gott liebenden Seele und schwellen zu Bächlein (47,22) oder zu unerschöpflichen »brünnlein« (47,18) an. Die beharrliche, zuweilen hyperbolische descriptio desselben Vorgangs, verbunden mit der Variation des sprachlichen Ausdrucks intensivieren den Eindruck auf Vorstellungsvermögen und Gefühl des Lesers. Spee erhöht die Affektwirkung seiner poetischen Andacht durch das indirekte Amplifikationsverfahren der ratiocinatio.12 Seine bewegte Schilderung der pia affectio läßt mit ihrer quantitativen Steigerung des Tränenstroms bis zum alliterierenden Unzählbarkeitstopos »zähr ohn zal« (47,11) einen Rückschluß zu auf die Größe der göttlichen Gnade, die so außerordentliche Gemütsbewegungen weckt. Überwältigt von der Erkenntnis der göttlichen Güte wünscht die andächtige Seele im zweiten Teil des Gedichts, Gott für das Geschenk der Gnade, das ihr zuteil wurde, eine Gegengabe darzubringen. In der deliberativen Frage des lyrischen Ichs deuten die Wiederholung der Interjektion »Ey« und die anaphorische Verknüpfung eines Verspaares das fassungslose Staunen des Menschen an: E y was soll ich nun widerumb, E y was dem Herren geben? (47,25 f.)
Um Uberfluß und Allgegenwart der göttlichen Gnade, die uns »Vmbzinglet« (47,29), zu illustrieren, greift Spee im zweiten Teil seines Liedes erneut die Wassermetaphorik der vorausgegangenen Strophen auf. Hatte der Dichter die Freudentränen der andächtigen Seele im ersten Teil des Gedichts spielerisch diminuierend als »brünnlein« (47,18) und »wasserbächlein kleine« (47,22) umschrieben, so entwirft er in der Schlußstrophe ein >erhabenes< Bild, um die liebende Fürsorge Gottes für den Menschen sichtbar zu machen: 11 12
Zu diesem Terminus vgl. Schöne (1968), S. 144—147. Z . B . 4 7 , 1 6 : »An zähr mag nie verarmen«; 4 7 , 1 0 : »Starck wollen sie noch fliessen«; 4 7 , 2 1 : »Im lauff noch immer wollen sein«.
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Ein Meer ist seine miltigkeit: D a müßen wir ersauffen (47,35 f.).
Statt die selbstgestellte Frage nach einer angemessenen Gegengabe für die empfangenen Wohltaten zu beantworten, beschwört die pia anima den unermeßlichen Reichtum der Gnade, vor der selbst die höchste menschliche Leistung so gering erscheint wie ein Rinnsal im Vergleich zum Meer. Diese Einsicht, die Spee im Medium der Poesie vermittelt, soll den Gläubigen zur Entscheidung für Christus, zu einem Leben im Dienst und zur größeren Ehre Gottes veranlassen. Die dargestellten Affekte der andächtigen Seele sind in ihrer fast theatralischen Übersteigerung geeignet, den Leser mitzureißen und in ihm ähnliche Gemütsbewegungen und fromme Entschlüsse zu wecken. Auch Kapitel 14 des >Tugendbuchs< läßt einen Bezug zum Strukturprinzip der >de amoreTugendbuchs< soll zunächst einen Artikel des Glaubensbekenntnisses beten und darauf Gott um Erbarmen bitten. Der zweite Teil jedes Betrachtungspunktes paraphrasiert den entsprechenden Artikel des Credos und macht dem Leser die Bedeutung der einzelnen Heilswahrheiten als Wohltaten >pro me< bewußt. »Siehe da, du hast für mich erschaffen Himmel vnd erden«'(48,14; zum 1. Art.), »für mich hastu dein thewres blut vergoßen auß lauter lieb die du zu mir getragen hast« (49,15f.; zum 4. Art.), erkennt der Fromme in seiner meditatio. Ahnlich wie in der vorherigen Übung zieht Spee auch hier das Symbolum mit seinem Katalog von Glaubenssätzen als Leitfaden für die Betrachtung der göttlichen Gaben heran. Nachdem die >cernasTugendbuchs< das Prinzip der Gegenbildlichkeit an das ignatianische Betrachtungsmodell >zur Erlangung der Liebe< heran. Durch ihren antithetischen Bezug zum normativen Entwurf der vorangegangenen Übung gelangt Spees Andacht gleichsam e contrario zur Wirkung. Das Wissen um die eigene Sündhaftigkeit soll den Leser zur Umkehr veranlassen. Mit Gottes Hilfe wird der Übende in Kapitel 14 »mit einer rechtschaffenen waren Contrition oder rew gerühret« (48,26), die nach Spees Ausführungen als Zeichen der vollkommenen Liebe zu Gott beurteilt werden muß. Auch in diesem Kapitel faßt ein Schlußlied13 den Verlauf der Übung zusammen. Die Bitte um Erbarmen, Erinnerung an die göttlichen Wohltaten, Reue über begangene Sünden und ein Gebet um Gnade stellen die wichtigsten Stationen der Andacht dar. Das Lied am Ende des Kapitels gibt diese zentralen Gedanken in einprägsamer, das Gefühl des Gläubigen ansprechender Form wieder. Dabei erhöht der Rückbezug auf den Text der Hl. Schrift, den Spee durch Randbemerkungen belegt, die Beweiskraft seiner Verse und verleiht ihnen über die Dauer der Andachtsübung hinaus allgemeine Gültigkeit. Anregungen für die Ausarbeitung dieses und des folgenden Kapitels, vielleicht auch für Kapitel 13, erhielt Spee einer Randnotiz des Autors auf Seite 48 zufolge von einer Schrift seines Ordensbruders Joannes Polanco mit dem Titel >Methodus ad eos adiuuandos qui moriuntur< (1575). 14 Dieses Buch leitet im fünften Kapitel den Seelsorger an, mit dem Sterbenden, den er betreut, das Credo mit einfachen Zusätzen zu beten, um dadurch spezielle Gebetsintentionen und persönliche Anliegen Gott vorzutragen. Polanco nennt sechs Modifikationen des Credos: »Per modum orationis« (mit den Worten »commendo me tibi«; vgl. GTB Kapitel 15), »per modum oblationis« (»offere me tibi«; vgl. G T B Kap. 15), »per modum obsecrationis« (»miserere mei«; vgl. GTB Kap. 14), per modum actionis gratiarum« (vgl. G T B Kap. 15), »per modum erigendi spem« und »per modum ponderationis«; wobei der Seelsorger bei den beiden zuletzt genannten Gebetsweisen dem Gläubigen die göttlichen Wohltaten ins Gedächtnis rufen und erklären soll (vgl. GTB Kap. 13). 15 Da Polanco dem Geistlichen für die in den beiden letzten Gebetsmodi erforderlichen Erklärungen nur allgemeine Richtlinien gibt, 13 14 15
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»Nit straff mich Herr, in eyfermut« (51,31 ff.). Näheres zu diesem Werk bei Oorschot im Kommentarteil des GTB (1968), S. 587f. Ebd., S. 588. - Vgl. S. 3 7 - 4 2 der >Methodus< (in der Ausgabe Dillingen 1578).
schließt die Anlehnung an die >Methodus< die Orientierung am ignatianischen Andachtsmodell keineswegs aus. Auch die übrigen Credo-Variationen, die Polanco vorschlägt, lassen dem Benutzer oder Bearbeiter noch genügend Raum für die Ausgestaltung und Weiterentwicklung der einzelnen Gebetsmodi, wobei zusätzliche Anregungen durch weitere Quellen und Vorbilder aufgenommen werden können. In Kapitel 15 lehrt Spee im Anschluß an Polanco »Andere Drey Weiß den glauben zu betten« (53,2). Dreimal täglich soll der Benutzer des >Tugendbuchs< das Glaubensbekenntnis mit einem der drei folgenden Zusätze beten: »Ich opffere mich [ . . . ] Ich befehle mich [ . . . ] Ich dancke dir« (53,6 f.). Wie die Wiederholungsübungen in den >Exerzitien< gibt Kapitel 15 des G T B der andächtigen Seele Gelegenheit zur zusammenfassenden Vertiefung und zur Verinnerlichung der in Kapitel 13 und 14 behandelten Übungsgegenstände. Spee verzichtet an dieser Stelle darauf, dem Benutzer seines Werks ausführliche Instruktionen vorzulegen. Da sich der Gläubige bereits in den beiden vorausgegangenen Kapiteln mit dem von Spee bevorzugten zweiteiligen Strukturtyp der Andacht vertraut gemacht hat, dürfte der Übende nun bereits in der Lage sein, das zuvor praktizierte Verfahren in verkürzter und komprimierter Form auf die knappen Gebetsanweisungen in Kapitel 15 zu übertragen. Damit ermöglicht das Übungsprogramm des >Tugendbuchs< dem Frommen, von der oratio vocalis, die an eine vorgegebene Textgrundlage gebunden ist, zur höheren Stufe des freien betrachtenden Gebets zu gelangen und den von Spee gewiesenen Weg zu einer Frömmigkeitspraxis mit persönlichem Gepräge selbständig fortzusetzen.
5.3. Schöpferlob und Naturbetrachtungen in Spees Tugendübungen Die laudatio Dei als Ausdruck dankbarer Gottesliebe und als menschliche Antwort auf die göttlichen Wohltaten durchzieht leitmotivisch das >Tugendbuchje für sichTugendbuch< den Leser lediglich dazu auf, seine Freude am Lob, das Gott dargebracht wird, zu bekunden. 16 Zu Beginn des geistlichen exercitiums in Kapitel III 6 fragt der Beichtvater seine >geistliche Tochterc
"
Kap. III 4; S. 278,33-279,2; Kap. III 5 u. 6. 139
Mein Kind, wan du hörest, daß Gott dein Herr gelobt, vnd gepriesen wird, empfindestu alßdann in deinem hertzen, daß dir solches recht gefalle, daß er also gelobet werde? Wan du nun solches empfindest, ists ein zeichen, daß du Gott liebest (289,18-21).
Jedesmal wenn die andächtige Seele Gottes Lob vernimmt, an den »schönefn] reymen oder Lobsprüch[en]« (290,20 f.) Gefallen findet und ihnen von Herzen zustimmt, vollbringt sie einen Akt der dritten göttlichen Tugend, wie der Beichtvater darlegt.17 Doch schon bald kann sich die Gott liebende Seele nicht mehr mit der bloß affirmativen Zuhörerrolle begnügen. Der amor divinus drängt den Menschen zum aktiven Gotteslob. In mehreren Kapiteln des >Tugendbuchs< stimmt die pia anima selbst geistliche »lobgesäng« (311,21) an und ruft die ganze Schöpfung auf, ins Schöpferlob einzustimmen (z.B. Kapitel III 7f.). Für diese quantitative Steigerung der laudatio Dei zum vielstimmigen, ja universalen Lobpreis, dient insbesondere der 148. Psalm mit seiner topischen Natur- und Mitweltanrufung als Modell. 18 Ein charakteristisches Beispiel für Spees Methode, den biblischen Prototyp der laudatio Dei im Andachtsgeschehen des >Tugendbuchs< zu adaptieren, bietet Kapitel III 7. Zu Beginn seiner Unterweisung weckt der Beichtvater die Aufmerksamkeit seiner Zuhörerin mit einem Ausruf der Verwunderung über Gottes unbegreifliche »milt- vnd gütigkeit« (298,22), um derentwillen ihm die Liebe und der Lobpreis des Menschen gebührt: »O mein Gott, was will ich sagen? solte ich dich nit lieben? solte ich nitt gern gelegenheit suchen von dir zu reden, dich zu loben; dich zu erhöhen?« (298,32—35). Nach dieser einleitenden rhetorischen Frage, die den Appell zum Gotteslob impliziert, lädt Spee seine Zuhörerin ein, mit ihm zusammen in der Nachfolge des biblischen Sängerkönigs David das Schöpfungswerk abzuschreiten (299,9), um die Geschöpfe zum Gotteslob aufzufordern. Auf diesem meditativen Spaziergang nimmt der Seelsorger seine >geistliche Tochter< »bey der hand« (299,11), um ihr mit dem Gestus des Zeigens und Deutens, der ihm eigen ist, die Augen für die Wunder der Schöpfung zu öffnen. Mit der andächtigen Seele wünscht Spee, daß »alle Creaturen nur in lauter seitenspiel verkehret werden« (299,15) und das Lob ihres Herrn anstimmen. Der Verfasser des >Tugendbuchs< betrachtet es als vornehmste Aufgabe des geistlichen Dichters, das Instrument der Schöpfung zu Gottes Ehren und zur Erbauung der Gläubigen zum Klingen zu bringen. Die sieben Etappen der Andachtsübung in Kapitel III 7 (3.—9. Betrachtungspunkt) bestehen jeweils aus einem deskriptiven Teil, in dem die pia anima, geführt von ihrem Seelsorger, Gottes Werke in der Natur bestaunt. 17
ι»
G T B 290,23—25: »Dan so offt du in deinem hertzen fühlen wirst, das dir ein solchs lob gefalle, so offt wirstu auch ein werck der göttlichen liebe vben.« Grosse (1968), S. 1 4 7 - 1 4 9 .
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Dieser Betrachtung folgt im zweiten Teil jedes Andachtsabschnitts die verifizierte Anrufung der Geschöpfe, »mit einhelligem gethön den Namen ihres Schöpffers frölich [zu] loben!« (299,16f.). 19 Sämtliche Stationen dieses Meditationswegs schließen mit der Willensbekundung der pia anima, die wünscht, Gott möge von allen seinen Kreaturen gepriesen werden. In Anlehnung an das Kompositionsschema des 148. Psalms ordnet Spee die Abschnitte seiner Tugendübung in absteigender Reihenfolge an. Stufe um Stufe beleuchtet er alle Bereiche der Schöpfung und ruft die Kreaturen zum Gotteslob - von den Heerscharen der Engel (3. >FragFragFragFragFragFragFragcernasTrutznachtigall< aufgenommen. Z . B . : »gleich einer Crystallinen gefärbten kugeil« (300,25), »nach art einer stoltzen pfauen« (300,27), »gleichsam als in hellen spiegeln« (304,3). Z . B . 3 0 0 , 2 1 - 2 3 : » [ . . . ] den grossen lufft in ihrer [sc. der Himmel] arm gleich auffgefaßt vnd eingeschlossen haben«. Z . B . 302,25f.: »alle himmlische vnd irrdische krafft vnd influenzen, liecht, glantz, hitze, feuchte, dan auch alle stimmen, ton, schall vnd hall, alle art der gerüch [ . . . ] « ; vgl. auch 3 0 3 , 3 4 - 3 0 4 , 1 8 u. 3 0 7 , 2 3 - 3 0 8 , 2 2 (9.>FragTugendbuch< den Instruktionen, die Ignatius von Loyola dem Exerzitanten für die >contemplatio ad amorem spiritualem in nobis excitandum< gibt. Wie der Gläubige, der die Schlußbetrachtung der >Exercitia spiritualia< absolviert, so lernt auch der Benutzer des J u g e n d buchs« zu betrachten, wie Gott um meinetwillen in allen geschaffenen Dingen auf dem Angesicht der Erde arbeitet und sich müht [ . . . ] So zum Beispiel an den Himmelskörpern, Elementen, Pflanzen, Früchten, Tieren usw. 2 8
Spee verbindet die topische Naturanrufung zum Gotteslob aus den Psalmen mit ausgedehnten Naturbetrachtungen, die die Schöpfung als Mittel zur Herzenserhebung und als »Gegenstand physikotheologischer Didaxe« 29 in die Andachtsübungen des >Tugendbuchs< einbeziehen. Eine kleine Sammlung derartiger Naturbetrachtungen in Versform hat der Verfasser in Kapitel III 8 zusammengestellt. Da seine Zuhörerin »in anhören oder lesen der lobgesang [...] eine sonderliche neigung zu Gott« (311,23 f.) empfindet, übergibt ihr der Seelsorger drei Loblieder, die sie täglich aufmerksam lesen oder singen soll (311,23—28). Die für Spees Naturandachten typischen sprachlichen Gestaltungsmittel sind in diesen Versen besonders deutlich ausgeprägt. So schildert ζ. B. das »Lob Gottes auß einer poetischen weitläuffigen [!] beschreibung der frölichen sommer-zeit« (316,25 ff.; vgl. T N Nr. 22), das mit seinen 21 Strophen zu den längsten Liedern des >Tugendbuchs< gehört, mit liebevoller Sorgfalt die Schönheit der sommerlichen Natur. Jede Strophe schließt mit einem Refrain, der durch einen emphatischen Lobruf dem Schöpfer huldigt und für die geschilderten Gaben dankt: Ο Gott, ruff ich von hertzen mein, Gelobet muß der Schöpffer sein!!! (316,35 u.ö.)
Spee entwirft in diesem hymnischen Gesang, der dem deskriptiven Lob der Psalmen nachgebildet ist, ein buntes, bewegtes Bild 30 der neubelebten, geschmückten Natur. Auch unscheinbare Einzelheiten entgehen dem aufmerksamen Beobachter nicht. Apostrophen, Interjektionen und ähnliche stili27
2» 29 30
Die erste descriptio in Abschnitt 3 umfaßt dreizehn Zeilen, die folgenden Beschreibungen bestehen aus 17 (4. >FragFragFragFragFragFrag< endet mit je zwei Strophen, die 6. und 7. >Frag< mit je vier, die 8. mit sechs und die letzte >Frag< mit acht Strophen. N r . 236; MI, Ex., S. 432. Kemper, Spee (1984), S. 102. Vgl. die Ausdrücke der Bewegung in Vers316,28f.; 318,1; 318,11 f. u.ö.
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stische Kunstgriffe 31 steigern die Dynamik der Betrachtung und suggerieren unmittelbare Präsenz der Naturgegenstände. Eine z.T. anthropomorphisierende Darstellung 32 weckt im Leser ein Gefühl der Vertrautheit und Nähe zu den übrigen Geschöpfen. Wie im »Lobgesang der andächtigen Seele auß vnderschiedlichen Psalmen« (311,29 ff.), dessen Kernstück eine anaphorische Reihung von >WerTugendbuchs< und der >Trutznachtigall< soll den Gläubigen zur Erkenntnis der göttlichen Liebe führen und zugleich der Gegenliebe des Menschen dichterisch gesteigerten Ausdruck verleihen. In der Verbindung von Naturbetrachtung zum Zweck der Gotteserkenntnis und Naturanrufung zum Gotteslob wird die Schöpfung zum Medium der >Mitteilung von beiden Seiten herTugendbuchs< zuerst in Kapitel III 11, das in einer längeren theoretischen Einführung die Lehre von den »Signa ex instituto, seu ad placitum« (436,13 f.) darlegt. Durch eine willkürliche » Auffsetzung« (436,22) können wir beliebige Gegenstände »vnserem gefallen nach [...] zu zeichen machen« (436,14 f.); die schöpferische Leistung des Betrachtenden besteht darin, daß er solche Dinge zu spirituellen Bedeutungsträgern erhebt, die »sonsten, ihrer natur nach, keine solche zeichen waren, noch solche bedeutnuß nit hetten« (436,15—17). Die extensive Anwendung der aristotelisch-scholastischen Zeichenlehre33 erlaubt dem Gläubigen, nicht nur die in der Schöpfung vorgefundenen signa naturalia zu entziffern, sondern läßt ihn darüber hinaus auch selbst am Prozeß der Zeichen-Setzung teilhaben. Spee schöpft die kreativen und erbaulichen Möglichkeiten der signa-Lehre aus, er erprobt seinen Scharfsinn zunehmend an alltäglichen, ja banalen Dingen und erschließt so für sein geistliches Übungsprogramm eine Fülle neuer Andachtsgegenstände, die zur Erbauung des Lesers und zur Vervielfältigung der laudatio Dei genutzt werden können. Gerade die Diskrepanz zwischen einem trivialen signum und seiner metaphysischen Deutung läßt einen überraschenden Sinnbezug zwischen der sichtbaren Welt und der verborgenen göttlichen Wahrheit aufleuchten oder stellt einen solchen allererst her. Eine spielerisch-concettistische Anwendungsmöglichkeit geistlicher signa in der täglichen Andacht beschreibt Kapitel III 19 des >Tugendbuchsgeistliche Tochter< die »schöne kunst« (428,6), mit Hilfe einer Uhr »Gott alle Stund zu loben« (427,23). Dieses exercitium der Gottesliebe basiert auf der »Vergleichung eines Vhrwercks, vnd eines frommen andächtigen Menschens« (429,35 f.). Die Uhrenandacht des >Tugendbuchs< beginnt mit einem »fürsatz« (428,34) des Übenden, der einen doppelten Akt der Sinngebung darstellt: Die pia anima ernennt ihr Herz zum »Vhrwercklein Gottes« (428,7) und ihre Uhr zum Erinnerungszeichen, das mit jedem Stundenschlag zum Gotteslob mahnt. Im einleitenden Gebet trägt die andächtige Seele feierlich ihren Entschluß vor, Christus künftig stündlich zu loben: Ο J E S U , ich wolte gern auch disen Tag dein vhrwercklein sein, vnd auff deiner brüst an deinem hertzen hangen, vnd dir gar fleißig alle stunden schlagen. Das hertz solle das Vhrwercklein sein [ . . . ] die vhren [d. h. die Stundenschläge] aber sein das 33
Zur Lehre von den signa vgl. Brinkmann, Zeichenhaftigkeit (1974), S. 2.
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lob G O T T E S : vnd so offt nun mir mein vhrwercklein am halß schlagen wird, so offt will ich auch dir die vhren deines lobs schlagen vnd sprechen: Gelobt sey Gott in ewigkeit! Amen (428,20-27).
Ihren frommen Vorsatz soll die >geistliche Tochter« allmorgendlich beim »stellen« (428,17) ihrer Uhr erneuern und dabei zugleich auch ihr »hertz stellen« (428,18). Der Seelsorger ermuntert seinen Schützling, beim Lobpreis Gottes mit dem Uhrwerk zu wetteifern, dessen Mechanik zuverlässig zu jeder Stunde schlägt, obwohl es »so gantz vnempfindlich ist, vnd keine vernunfft hat« (429,15). Diese Andachtsübung mit Hilfe einer Uhr zeigt exemplarisch, wie einfache, häufig wiederholte Handgriffe und Vorgänge aufgrund der signa-Lehre religiöse Bedeutung erlangen und dem Gläubigen immer wieder Gelegenheit zu frommen Betrachtungen geben können. Wie Ignatius betrachtet Spee das Gotteslob als Sinn und Ziel der menschlichen Existenz. Fast wörtlich gibt er in Kapitel III 19 die prägnante Formulierung des Exerzitienfundamentes wieder, mit der der Ordensstifter von der Bestimmung des Menschen zur laudatio Dei spricht.34 Der »mensch [ . . . ] ist zu deme End erschaffen, daß er Gott lobe« (430,3 f.; vgl. 286,33-35), stellt Spee in Anlehnung an die einleitenden Worte der Geistlichen Übungen« fest. Das >Tugendbuch< veranschaulicht diese Auffassung durch die »Vergleichung« (429,35) des menschlichen Herzens mit einem Uhrwerk, das »zu dem end gemacht [ist], daß es die stunden schlage« (430,2). Durch die stündliche Wiederholung des Gotteslobs, wie sie die Uhrenandacht anregt, eignet sich der Übende auf spielerische Weise den Fundamentalsatz der ignatianischen pietas an. Spee möchte in seinen Lesern eine dauerhafte Haltung der Gottesliebe wecken, die sich im Verlangen äußert, Gott beständig zu preisen. Im Unterschied zu den meisten vorausgegangenen Andachten wird die Tugendübung in Kapitel III 19, ebenso wie ihre Variation durch einen stündlich wechselnden »beygefügten Zusatz« (431,7) in Kapitel III 20, den ganzen Tag über fortgesetzt, so daß die religiöse Pflicht, Gott zu loben, alle profanen Pflichten begleitet. Das Bewußtsein der Gegenwart Gottes soll die andächtige Seele bei allem, was sie tut, leiten und ihr Handeln, Denken und Fühlen bestimmen. Spees Uhrenandacht lehrt mit ihrer Iteration der laudatio Dei den Benutzer des >Tugendbuchsmagis< als drängende Forderung an den Gläubigen bestehen. Dankbare Liebe, die Gott eine 14
Nr. 23; MI, Ex.» S. 250. »Der Mensch ist geschaffen dazu hin, Gott Unseren Herrn zu loben [ . . . ] « .
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Gegengabe für die empfangenen Wohltaten darbringen will, strebt danach, den Schöpfer und Erlöser >je mehr< zu loben. Bereits in Kapitel III 4 flehte die pia anima: Ο Gott, ich bitte dich, vmb deiner vnendlichen herrlichkeit willen, du wollest doch noch heut anfangen, vnd hinfüro die gantze ewigkeit durch, alle augenblick noch tausend-mal mehr herrlichere geister erschaffen, die dich loben mögen
(279,19-23).
In den nachfolgenden Kapiteln des >Tugendbuchs< verbündet sich der Wunsch nach unablässiger Steigerung des Gotteslobs mit Spees barocker Freude am hyperbolischen Ausdruck und spornt die Erfindungsgabe des Verfassers zu immer neuen, kunstvoll und scharfsinnig komponierten Übungen der laudatio Dei an. Da das Verlangen, Gott unaufhörlich zu loben, menschliches Vermögen übersteigt, ersinnt Spee eine Andachtsform, die dem Gläubigen ermöglicht, durch einen logischen Kunstgriff sein Lob ohne »beschwernuß« (435,25) zu vervielfachen. Die Lehre von den signa ex instituto erlaubt dem Übenden, nicht nur stündlich wie in Kapitel III 19, sondern das ganze Leben lang »ohn vnterlaß« (435,15 f.) Gott zu loben. Während in der Uhrenandacht jeder einzelne Lobspruch außer dem »fürsatz« (428,34), der die Bedeutung des Zeichens konstituierte, das mnemotechnische Hilfsmittel des Stundenschlags und eine aktuelle Willensbekundung des Frommen voraussetzte, genügt in den späteren Kapiteln die einmalige »Auffsetzung« (436,22), um das gewählte signum, den Herz- oder Pulsschlag, auf Dauer mit einer geistlichen Bedeutung zu versehen. Kapitel III 21 verleiht dem Akt der spirituellen Sinngebung die Form eines »bündniß« (438,38) der Seele mit Gott, das für die pia anima verpflichtende Kraft besitzt. Sie gelobt Gott, daß von nun an alle vnd iede schlag meines hertzens, vnd Pulßadern, nur lautere ehr- vnd lobzeichen sein sollen, vnd zwischen dir vnd mir eben so vill heissen vnd bedeuten, als dise wort der Englen: Heylig, heylig, Heylig ist der Herr Gott Zebaoth!
(438,40-439,2)
Der Fortschritt dieser Andacht gegenüber allen bisherigen Übungen des Gotteslobs besteht darin, daß sie dem Frommen erlaubt, gewissermaßen automatisch, mit der unwillkürlichen Lebensäußerung seines Herzschlags, auf »eine schöne lüstige weiß [...] Gott den allmechtigen allezeit ohne vnterlaß etlicher massen zu loben« (439,31 f.), selbst wenn der Gläubige »nit alle zeit die gedancken da bey haben kan« (439,39), wie z.B. bei der Arbeit, im Schlaf oder während einer Krankheit (441, 29-40). Mit dieser quantitativen Steigerung des Schöpferlobs hält das Ideal der laus perennis, das mittelalterliche Klostergemeinschaften zu verwirklichen such146
ten,35 in modernisierter Gestalt seinen Einzug in die Laienfrömmigkeit der Barockzeit. Durch ein einfaches Rechenexempel beweist Spee die Vorzüge seiner Übung. Beeindruckende Zahlenreihen sollen den geistlichen Eifer des Lesers beflügeln; »zwischen tag vnd nacht« (438,22) leistet das menschliche Herz, wie der Seelsorger erklärt, bey die fünfftzig- sechtzig, sibentzig, achtzigtausend schlag ordinari [ . . . ] welches gewiß eine grosse zahl ist, vnd wäre ja schad, daß so vill tausend schlag also müssig vnd ohne geistlichen nutzen hingehen solten (438,22—25).
Wie für Ignatius von Loyola so impliziert auch für Spee die Aktivierung des ganzen Menschen zum Gotteslob, daß der Gläubige die geschaffenen Dinge als Mittel gebrauchen muß, um das transzendente Ziel seines Daseins zu erreichen. Wenn Spee in seiner Uhrenandacht eine Errungenschaft der modernen Feinmechanik oder wenn er an anderer Stelle den menschlichen Herzschlag als Instrument des Gotteslobs in die Andacht einbezieht, integriert er auf unterhaltsame und zugleich lehrreiche Weise das Postulat des Exerzitienfundaments in das geistliche Übungsprogramm seines Erbauungsbuches. Sein Rückgriff auf die Lehre der signa ex instituto, die ihm ermöglicht, jede beliebige res in eine res significativa zu verwandeln, setzt konsequent die ignatianische Instrumentalisierung der Welt zum Zweck des Gotteslobs fort. Eine weitere Möglichkeit, die Andachtspraxis des Laien durch geistliche signa zu bereichern, lehrt die »Vbung der gegenwart Gottes« (443,16) in Kapitel III 22, die von einem Werk des spanischen Jesuiten Francisco Arias angeregt wurde. 36 In dieser Tugendübung dient der menschliche Pulsschlag, der zum Lobzeichen ernannt, oder die Unruh einer Uhr, an die ein Zettel mit der Aufschrift »Heylig« geheftet wurde (443,21—445,13), als Lob- und »gedenckzeichen« (445,32). Derartige Signale bewirken, daß die pia anima »zimlich offt gar an Gott gedencke« (443,18 f.) und zum »gedechtnuß Gottes vnd seines lobs desto deutlicher erwecket« (445,12f.) wird. Wenn der Gläubige seinen Pulsschlag fühlt oder die inscriptio auf der zuvor präparierten Uhr erblickt, wird er an seine Pflicht, den Schöpfer zu preisen, erinnert. In müßigen Stunden kann sich die andächtige Seele mit einer solchen Übung »die weil vertreiben, vnd doch zugleich mit guthen gottseeligen gedancken vmbgehen, vnd also Gott für äugen haben« (444,28 f.). Durch weitere Stoßgebete und fromme >Aufsetzungen< lassen sich die in Kapitel III 21 und 22 gezeigten Übungen des Gotteslobs vielfältig variieren, so daß der Benutzer des >Tugendbuchs< an jedem Tag der Woche Gott auf eine andere 35
36
Zur Geschichte der >laus perennisVergiß Gott nicht« (1619 u.ö.). Vgl. zu diesem Werk Oorschot, Kommentarteil des G T B (1968), S. 621.
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Weise loben kann (vgl. Kap. III 23). Als Erinnerungszeichen mit austauschbarer significatio kann der Pulsschlag dem Gläubigen täglich ein anderes Mysterium der Heilsgeschichte ins Gedächtnis rufen (vgl. Kap. III 24). Spee rechtfertigt die Anwendung geistlicher signa in der Andacht mit einem Zitat aus dem Hohenlied. Wenn die pia anima ihrem Herzschlag eine spirituelle Bedeutung gibt, so geschieht was J E S U S der breutigam von seiner braut im hohen-lied Salomonis am 8 Capitel im 6 versieul begeret, da er sie also anredet: Mein geliebte, setze mich als ein zeichen auff dein hertz, als ein zeichen auff deinen arm (446,18-21).
Durch geistliche signa besiegelt die Gott liebende Seele ihr Brautschaftsverhältnis mit dem himmlischen sponsus. Stündlich oder mit jedem Herzschlag wiederholte Akte der laudatio Dei lenken die Gedanken der anima sponsa immer wieder zu ihrem göttlichen Geliebten und nähren ständig den Affekt der Gottesliebe. Auf diese Weise stellt die unwiderstehliche attractio der Caritas eine dauerhafte, innige Verbundenheit des menschlichen Herzens mit Christus her, die schließlich die ganze Existenz des Frommen im Gotteslob aufgehen läßt.
5.5. Die Bilder des sensus internus im Dienst des (poetischen) Gotteslobs Das Verlangen der Gott liebenden Seele, ihren Schöpfer und Erlöser »allezeit vnauffhörlich zu loben« (437,37), läßt sie in schmerzlicher Weise die Begrenztheit der menschlichen Existenz erfahren. Der Tod beendet das vieltausendfache Lob, das das Menschenherz Gott darbringt, solange es schlägt. Doch der amor divinus findet eine Möglichkeit, Gott sogar über den Tod hinaus zu loben. Kapitel III 25 des >Tugendbuchs< macht den Leser mit der Lehre vom Phantasma und von der species intelligibilis vertraut, um von dieser theoretischen Grundlage ausgehend, den Gläubigen in die >Kunst< des immerwährenden Gotteslobs einzuweihen. In Anlehnung an die aristotelische Wahrnehmungs- und Erkenntnistheorie, die von der mittelalterlichen Scholastik rezipiert und an die Gelehrten des 17. Jahrhunderts weitergegeben wurde, lehrt Spee, daß Sinneswahrnehmungen und Vorstellungen dem sensus internus getreue Abbilder des wahrgenommenen oder vorgestellten Gegenstandes einprägen.37 Bei diesem Vorgang der >Einbildung< entstehen »gantz lebhafftige gemähl, oder gestalten, oder biltnußen« (450,17 f.), die »also eigentlich gemelte ding fürbilden, daß kein mahler der gantzen weit sie also schön vnd subtil abmahlen oder ab-controfeyen könne« (450,19-21). Diese imagines haften sowohl in der Phantasie als auch 37
Oorschot, Abhandlung (1968), S. 65f. - Vgl. Kemper, Spee (1984), S. 97f.
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in der Seele »gleich wie ein Bild so du in wachs abtrückest« (451,20) 38 und sind dem Gedächtnis jederzeit verfügbar (451,26—452,2). Während die »bilder der Phantasey« (451,17) vergehen, wenn der Mensch stirbt, bestehen die Bilder der species intelligibilis (451,14) in Ewigkeit, weil sie der unsterblichen Seele eingeprägt sind. Nach dieser Einführung, die dem Laien Entstehung und Funktion der »innerlichen bildnußen« (462,18) darlegt, erklärt Spee, wie der fromme Leser phantasmata und species intelligibiles in den Dienst der laudatio Dei stellen kann. In seiner Anleitung zur Übung des immerwährenden Gotteslobs in Kapitel III 25 fordert das >Tugendbuch< den Gläubigen auf, sich »die vberschwenckliche gutigkeit, barmhertzigkeit, vnd wolthaten Gottes« (453,15 f.) von der Schöpfung bis zur Menschwerdung Jesu, seiner Passion und Auferstehung zu vergegenwärtigen (S. 453 f.); danach soll der Übende sein Herz zum Gotteslob erheben (454,30 f.), wie er es bereits in der Bilderandacht in Kapitel 18 gelernt hat. Spee legt in dieser Betrachtung seiner geistlichen TochterPunctErhebung des Gemüts< durch einen »lobgesang« (454,32) in Anlehnung an den 148. Psalm, werden in der Seele als unauslöschliche Bilder »abgemahlet« (456,13 f.), so daß Gott »dises sein herrliches lob vnd lobspruch in deiner Seelen allezeit ohn vnterlaß in ewigkeit vor seinen äugen sehen vnd lesen« (456,19 f.) kann. Wie in den vorausgegangenen Übungen festigt ein »bündnüß« (456,22) mit Gott die Intention des Gläubigen, seinen Schöpfer allezeit zu verherrlichen (456,21-457,12). Immer wenn der Fromme gute Werke vollbringt, Messe hört, geistliche Bücher liest (460,24—27), sich an Prozessionen oder »Comedien vnd Tragedien« (462,15) ergötzt, werden die empfangenen Eindrücke in seiner Seele verewigt. Mit Hilfe dieses Bildervorrats, der im sensus internus aufbewahrt wird, kann die schöpferische Phantasie »allerhand schöne lüstige Spectacul oder auffzüg« (462,21 f.) inszenieren, indem sie 38 39
Aristoteles, D e anima, 424a 1 7 - 3 4 , hg. v. P. Gohlke (1961), S. 93. Die Übungen zur Standeswahl bleiben in diesem Kapitel des G T B ausgeklammert. Folgende Andachtsgegenstände der Speeschen Tugendübung stimmen mit dem Verlauf der >Exerzitien< überein: die Betrachtung der Menschwerdung ( G T B 4 5 3 . 2 4 - 2 7 ; vgl. Nr. 1 0 2 - 1 0 4 ; MI, Ex., S.322 u. 324), der Geburt Jesu ( G T B 4 5 4 , 1 5 - 1 7 ; vgl. N r . 1 1 0 - 1 1 6 ; MI, Ex., S . 3 2 8 - 3 3 4 ) , seines Lebens ( G T B 4 5 4 . 2 5 - 2 7 ; vgl. Nr. 132-134, 158 u. 161 f.; MI, Ex., S. 342, 344, 364 u. 366), der Passion ( G T B 4 5 4 , 2 5 - 2 7 ; vgl. N r . 1 9 0 - 2 0 8 ; MI, Ex., S. 3 9 2 - 4 0 8 ) und der Auferstehung ( G T B 454,27f.; vgl. Nr. 226; MI, Ex., S. 420-424). Vgl. ferner die »Geheimnisse des Lebens Christi unseres Herrn« im Anhang des Exerzitienbuches ( N r . 2 6 1 - 3 1 2 ; MI, Ex., S . 4 4 8 - 5 1 0 ) mit G T B 4 5 4 , 2 0 - 2 8 .
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auß denen bildnußen, die sie allbereit ihr gantzes leben durch eingenommen hat, widerumb durch deren vilfältige Vermischung vnd zusammenfügung, auch zertrennung, Veränderung, Vermehrung &c newe andere seltzame, manigfaltige, vberauß wunderliche vnd herrliche Vorbildungen ( 4 6 2 , 2 3 - 2 7 )
komponiert, die die menschliche Seele schmücken und Gott verherrlichen. Spees Ausführungen über die gezielte Betätigung der Phantasie zur Förderung des Gebetslebens geben auch wichtige Aufschlüsse über seine Auffassung von Wesen und Funktion des künstlerischen Schaffens. Aus der theoretischen Unterweisung in Kapitel III 25 und aus einigen weiteren verstreuten Bemerkungen über die Rolle der Kunst in der praxis pietatis läßt sich Spees Selbstverständnis als poeta theologus - zumindest in Umrissen - rekonstruieren.40 In Übereinstimmung mit dem Motto des Jesuitenordens, >Omnia ad maiorem Dei gloriaminnerer Bilden, der sich durch Anregungen aus vorbildlichen Kunstwerken und durch die sinnliche Wahrnehmung der Natur ein Leben lang vergrößert. Der Dichter - und Entsprechendes gilt für die Vertreter der übrigen artes kombiniert im Prozeß der schöpferischen imitatio die erinnerten Phantasiebilder auf neue, überraschende Weise. Durch »Veränderung« und »Vermehrung« (462,26), variatio, amplificatio und andere aus der Rhetorik übernommene Gestaltungsverfahren, erhöht und veredelt der Poet seinen Gegenstand ( 4 6 2 , 1 2 - 3 1 ) . Auf diese Weise bietet er dem Gläubigen Gelegenheit, »sich geistlicher weiß zu ergetzen, vnd zu belüstigen« (462,13 f.), und trägt darüber hinaus auch zur spirituellen Sinnerschließung der Welt bei. Vermittelt durch das Medium des Kunstwerks nimmt der Leser die »newefn] Vorbildungen« (462,28) des Dichters auf, die »also bald in der Seelen abgedruckt werden« (461,22) und dort der Vergänglichkeit enthoben sind. Gleichsam als Nebenprodukt seiner religiösen Unterweisung läßt der Seelsorger in den Dialog mit seiner geistlichen Tochter< Anmerkungen zur Produktions- und Wirkungsästhetik einfließen, wobei Spee den Phantasiebildern eine Schlüsselfunktion bei der Entstehung wie bei der Aufnahme eines (sprachlichen) Kunstwerks zuweist. Dadurch erhält die Forderung des »ut pictura poiesis«, die die Dichtungslehre des 17. Jahrhunderts aus der >Ars poetica< des Horaz übernahm,41 für die meditative Lyrik des >Tugendbuchs< und der >Trutznachtigall< außerordentliches Gewicht. Poesie muß sinnfällig sein, um Einbildungskraft und Affekte des Hörers oder Lesers anzusprechen und einen tiefen Eindruck in seiner Seele zu hinterlassen. Spees Dichtungsprogramm, das das poetische Bild als Hilfsmittel der 40 41
Einige Hinweise zu diesem Fragenkomplex gibt Kemper, Spee (1984), S. 98. Wiegmann (1977), S. 15. - Vgl. Horaz, Ars poetica, Vers 361.
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Andacht funktionalisiert, dokumentiert die Tendenz der barocken Frömmigkeit, alle Sinne des Gläubigen anzusprechen, um ihn zur Andacht zu bewegen.42 Die zeitgenössische katholische praxis pietatis stellt Architektur, bildende Kunst, Musik und Dichtung in den Dienst des religiösen Lebens und steigert die Prachtentfaltung des Gottesdienstes zum sakralen >Gesamtkunstwerkje mehr< zu loben, muß die andächtige Seele in Kapitel III 26 die »nichtigkeit all vnseres Gottes-dienst vnd Gottes lob« (465,3) erkennen. Wie im Märchen wird derjenige, der unersättlich >mehr< wünscht und dabei jedes menschliche Maß übersteigt, schließlich in seine Schranken zurückverwiesen. So endet auch der steile Höhenflug des >laudare magis< mit der jähen Selbsterkenntnis, daß der Mensch gegenüber der unendlichen Majestät Gottes »für gantz nichts vnd nichts [...] geschetzt werde« (467,21) und daß daher auch all seine Anstrengungen, Gott zu loben, für »gantz vnd gar pur lauter nichts« (464,32) zu achten sind. Spees kunstvoll gesteigerte Klimax des Gotteslobs schlägt am Ende um in die Einsicht, daß der Mensch aus sich heraus, ohne göttliche Hilfe, nichts vermag. Gerade dieser Akt der Demut bereitet den Gläubigen darauf vor, Gott in der Feier der Messe »ein V N E N D L I C H grosses lob« (464,20) darzubringen. «
Mayer (1971), S. 138-140.
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Die systematische Schulung meditativer Fähigkeiten in den vorausgegangenen Übungen kommt in den letzten Kapiteln des >Tugendbuchs< dem Gläubigen zugute, der andächtig dem Gottesdienst beiwohnen möchte. Die Übungen des Gedächtnisses und der Phantasie erleichtern dem Frommen beim Besuch der Messe die Anamnese des Kreuzopfers; das Training des geistlichen Bilddenkens hilft der andächtigen Seele, die Lehre von der Realpräsenz zu verstehen, und der Gebrauch geistlicher signa in der Privatandacht erhellt dem Benutzer des >Tugendbuchs< den Zeichencharakter des Altarsakraments.43 Spee betrachtet die Meßfeier, der die abschließenden Übungen des >Tugendbuchs< gewidmet sind, als höchste und einzig adäquate Form des Gotteslobs. Unendlich ist dieses Lob, weil »eine vnendliche göttliche person« (475,22), Christus selbst, als Priester und als Opfer zugleich anwesend ist, wie der Seelsorger in Kapitel III 27 erklärt. Gott hat das Meßopfer »im vberfluß seiner Güte« (474,27) gestiftet, damit ihn der endliche Mensch »ehren kann, wie es der »vnendlichen Majestät« (474,23) Gottes gebührt. Damit der Leser »dem ampt der H. Meß andächtig beywohnen könne« (483,26 f.), bietet Kapitel III 29 eine ausführliche Meßerklärung, die Spee wegen ihrer Stoffülle in drei Teile untergliedert hat (484,17—28). Derartige Unterweisungen begegnen recht häufig in der zeitgenössischen Andachtsliteratur,44 und Spee erwähnt selbst, »daß auch sonsten gantze büchlein davon gedruckt seind, wie man andächtig die Meß anhören solle, vnd was bey einem ieden stuck zu betten sey« (483,30-32). Im Laufe des Mittelalters hatte sich die Liturgie zur >Klerusliturgie< entwikkelt.45 Diese Tendenz blieb auch in der nachtridentinischen Zeit unvermindert bestehen. Die Reformdekrete des Konzils hatten das Ziel, das Erbe der mittelalterlichen Frömmigkeit von offenkundigen Mißständen zu befreien. Sie bewirkten auf längere Sicht keine grundsätzliche Neuorientierung, sondern eher eine Erstarrung überkommener Gottesdienstformen. 46 In dezidierter Abgrenzung gegen die protestantische Lehre vom Laienpriestertum betonten die Beschlüsse des Konzils die Bedeutung des Weihepriesters und vergrößerten dadurch die Kluft zwischen dem Geistlichen, dem allein in der Messe eine aktive Rolle zukam, und der Mehrzahl der Gläubigen, die in die Rolle passiver Zuschauer gedrängt wurden.47 Dadurch daß das Konzil Latein als Kultsprache für den vereinheitlichten Meßritus festlegte, mußten sich überdies für viele Gottesdienstbesucher unüberwindliche Verständnisschwierigkeiten erge43
44 45
47
Zur Deutung der Eucharistie als signum ex institutione vgl. Suarez, Opera omnia, hg. v. C.Berton, Bd. 20 (1860), S.20, N r . 4. Feilen (1975), S. 12. Jungmann, Erbe (1960), S. 90. - Vgl. ders., Beten (1969), S. 126. Schrott, Reform (1951), S. 352 f. - Vgl. Jungmann, Missarum (1952), S. 131 u. 186. Jungmann, Beten (1969), S. 139.
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ben.48 Für den Laien, der die feierlichen Zeremonien kaum durchschauen und verstehen konnte, wurde die Messe immer mehr zum heiligen Schauspiel, bei dem er lediglich »in Ehrfurcht anwesend« war. 49 In dieser Situation wurde es erforderlich, dem Gläubigen durch geeignete muttersprachliche Unterweisung den Ablauf des Gottesdienstes zu erklären und ihn zum sinnvollen Mitvollzug der Feier anzuleiten.50 Die Meßanleitung des >Tugendbuchs< erscheint in diesem Kontext als Versuch, dem Leser ein vertieftes Verständnis der Liturgie und eine andächtige Teilnahme am Gottesdienst zu ermöglichen.51 In Übereinstimmung mit den Tendenzen der zeitgenössischen theologischen Praxis trennt auch Spee deutlich zwischen den rituellen Handlungen des Priesters und den gleichzeitigen Gebeten der Gläubigen, die das >Tugendbuch< jeweils in gesonderten Abschnitten bespricht.52 Spee unterweist den Benutzer seines Erbauungsbuchs zuerst, wie er sich in angemessener Weise auf den Besuch der Messe vorbereiten kann.53 Danach erläutert der Geistliche ausführlich die >Dramaturgie< der Messe, Worte und Handlungen des Zelebranten; im Anschluß an diese Erklärungen leitet der Verfasser den Leser oder Hörer zum mündlichen und betrachtenden Gebet an, das die verschiedenen Phasen der Meßfeier begleiten soll.54 Die Andachten zu den einzelnen Teilen des Gottesdienstes lassen wie die anderen Kapitel des >Tugendbuchs< den Einfluß der Exerzitienmethode erkennen. Rationale Belehrung und emotionaler Nachvollzug eines anschaulich vorgestellten Geschehens gehen Hand in Hand und lassen dem Gläubigen die Liturgie zum persönlichen religiösen Erleben werden.55 Alle Kräfte des Menschen werden in die Andacht integriert, selbst die Körperhaltung wird als Instrument zur Intensivierung der pia affectio eingesetzt.56 Wie in einem Brennpunkt konzentriert Spee die wesentlichen Momente des Exerzitiengeschehens in seinem Meßunterricht. Die Andacht, mit der der Fromme nach den Anweisungen in Kapitel III 29 die Meßfeier beglei48
50 51 52
μ * M 54
Schrott, Reform (1951), S. 350. Jungmann, Beten (1969), S. 160. Schrott, Reform (1951), S. 352. Feilen (1975), S. 143. Ebd., S. 69. K a p . I I I 2 8 u . I I I 2 9 , S. 4 8 5 , 5 - 2 9 . Feilen (1975), S. 143. Ebd., S. 143. Ebd., S. 1 4 3 f . - Z . B . : » [ . . . ] soltu dich demütig auff die knie setzen« (486,12); » [ . . . ] Solt deine äugen mit nichten auffschlagen, sondern mit aller demuth [ . . . ] auff die erden sencken« (486,16f.); » [ . . . ] soltu deine äugen vnd gesicht auffrichten« (486,23); » [ . . . ] stehe auff, schlage deine händ zusamen, [ . . . ] « (490,18—20); vgl. auch 487,5f.; 487,30f.; 4 9 2 , 1 3 - 1 6 ; 493,21f.; 4 9 6 , 3 3 - 3 5 usw. 153
tet, umfaßt in nuce die Stationen des spirituellen Weges, den der Exerzitant durchläuft, wenn er die >Geistlichen Übungen< des Ignatius von Loyola absolviert. Die »intention« (485,12f.; vgl. 480,10), Gott »vnendliches lob vnd ehr« (485,18 f.) darzubringen, die der Gläubige vor jedem Besuch des Gottesdiensts erneuern soll, übernimmt in Spees Übung die Funktion des Exerzitienfundaments, das die Bestimmung des Menschen zum Gotteslob in normativer Weise ausspricht.57 Nachdem der Gläubige im ersten Abschnitt der Meßandacht, »Zum Confiteor« (486,10), analog zur via purgativa der ersten Exerzitienwoche mit einem »seufftzenden, zerknirschten hertzen« (486,18) seine Sünden bekannt und den Entschluß zur inneren Umkehr gefaßt hat, betrachtet er in den folgenden Übungsteilen, dem Programm der 2 . - 4 . Exerzitienwoche entsprechend, Leben und Leiden des Erlösers, 58 um sich in der Nachfolge Christi zu üben. Anknüpfend an die mittelalterliche Tradition der rememorativen Allegorese, die seit Amalar von Metz (9. Jahrhundert) in der Deutung der Messe dominierte, faßt Spee die Meßfeier als Darstellung des Leidens Christi auf.59 In Kapitel III 29 des >Tugendbuchs< leitet der Verfasser den Leser dazu an, sich das Kreuzopfer Christi anhand der ignatianischen Andachtsmethode mit Hilfe der circumstantiae mitfühlend zu vergegenwärtigen; die andächtige Seele soll auf diese Weise den Tod ihres Erlösers als Opfer >pro me< begreifen (492,35—493,14). Dabei überführt Spee das zweiteilige symmetrische Andachtsmodell, das in den Passionsbetrachtungen der >Exercitia spiritualia< und in der >contemplatio de amore< besonders prägnante Gestalt annimmt, in den sakralen Rahmen des Gottesdienstes. Der geistliche Autor macht die dialogische Struktur der liebenden >Mitteilung von beiden Seiten her< zum gedanklichen und emotionalen Zentrum seiner Meßandacht. Wie in den übrigen Passionsbetrachtungen des >Tugendbuchs< bindet auch in dieser Andachtsübung die Gestalt des gekreuzigten sponsus alle Gefühlskräfte des Betrachtenden, weckt sein Mitleiden, die Bereitschaft zur imitatio und das Verlangen nach dem Martyrium (493,23-25; 496,32-35). Doch soll die Vertiefung in die Geheimnisse der Passion nicht allein fromme Gemütsregungen hervorbringen, sondern darüber hinaus den Gottesdienstbesucher zur Neugestaltung seines Lebens veranlassen und ihn anspor57 58
»
5
N r . 23; MI, Ex. S. 250. »Zum Gloria in excelsis« (487,11) betrachtet der Übende Menschwerdung und Geburt des Gottessohns, »Zum Evangelio« (490,16) das öffentliche Leben Jesu; mehrere Abschnitte sind dem Gedächtnis der Passion gewidmet, wie die Textpassagen »Zu der Stille oder Canon nach dem Sanctus« (492,27), »Zu der stille nach der Elevation« (496,3), »Zur brechung der hostien« (496,30) und »Zum Agnus Dei« (497,12). Fischer, Anleitung (1984), S. 210. - Vgl. Feilen (1975), S. 75.
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nen, durch fortgesetzte Bemühungen dem Ideal der christlichen Vollkommenheit möglichst nahezukommen. Während der Elevation soll der Gläubige in einer Übung, die den ignatianischen Betrachtungen zur Standeswahl nachgebildet ist, eine existentielle Entscheidung für Christus treffen und sich dem göttlichen Willen vorbehaltlos als Werkzeug zur Verfügung stellen. Spee teilt seiner geistlichen Tochter< ein »geistliches Secretstucklein« (494,3f.) mit, dessen hohe Wirksamkeit er eingangs rühmt. Die beiden Abschnitte seines »Tractätlein[s]« (493,40) sind für zwei verschiedene Adressatenkreise bestimmt. Der erste Teil der Übung wendet sich an solche Leser, »so noch nit in einem gewissen lebens stand seind« (493,28 f.). Diese Personengruppe kann durch Spees Adaptation der ignatianischen Wahlbetrachtung »von Gott erfahren [...], zu welchem stand er sie beruffe« (493,29 f.), indem sie beim Anblick der erhobenen Hostie Gott anruft und durch ein kurzes Gebet ihre Bereitschaft bekundet, dem göttlichen Ruf zu folgen. 60 Der Geistliche empfiehlt seinem Beichtkind, diesen Gebetsruf häufig zu wiederholen, um die Haltung der Indifferenz zu erwerben, die notwendig ist, damit der Gläubige eine Wahl nach Gottes Wohlgefallen treffen kann. Auch der zweite Teil der Übung folgt dem Beispiel des Exerzitienbuches, das eine Abwandlung der Wahlbetrachtungen für die Bedürfnisse verschiedener Zielgruppen vorsieht. Die Instruktionen »Zur Besserung und Neugestaltung des eigenen Lebens und Standes« 61 schreiben vor, daß man denjenigen, die bereits einen unveränderlichen Stand gewählt haben, »an Stelle der Wahl eine Art und Weise vorlege«, wie jeder von ihnen sein eigenes Leben und seinen besonderen Stand bessern und neugestalten (reformar) kann«. Spee nimmt diese Anregung im zweiten Teil seiner Übung auf. Für solche Personen, die »allbereits einen gewissen Geistlichen oder Mittelstand angenommen haben« (493,32—34), ersetzt der Verfasser des >Tugendbuchs< das Gebet des ersten Andachtsteils durch die Erneuerung der bereits geleisteten Gelübde und durch ein Dankgebet für die erhaltene Berufung (493,34—38). Mit dieser Übung, die die allgemein gefaßte Anweisung des Exerzitienbuches in ein ausdrucksstarkes Gebet umsetzt, wird der Gläubige, wie Spee verheißt, »eine vnaußsprechliche standhafftigkeit von Gott gewiß erlangen« (493,34 f.).
Μ G T B 4 9 4 , 1 1 - 1 3 : »O Herr JESU, Christ, was wiltu das ich thunsolle? Bereit ist mein hertz, mein hertz ist bereit.« Die entsprechende Stelle in den Wahlbetrachtungen der >Exerzitien< empfiehlt dem Retraitanten, Gott zu bitten, »Er wolle meinen Willen bewegen und mir das in die Seele legen, was ich in der vorgelegten Sache tun soll« (Nr. 180; MI, Ex. S. 382). - Nahezu wörtliche Übereinstimmungen mit einer Kommunionandacht des Jesuiten Christian Mayer in dessen »Enchiridion Industriarum< (1634), S. 483, lassen ferner an einen Zusammenhang des GTB-Kapitels III 29 mit dem ungefähr gleichzeitig entstandenen Text Mayers denken. Vgl. hierzu Abschnitt 7.2.2.2 dieser Arbeit. « Nr. 189; MI, Ex. S. 388 u. 390.
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Die Erkenntnis der göttlichen Liebe fordert den Menschen zur Gegenliebe heraus und drängt ihn zur oblatio; die Gott liebende Seele möchte die empfangenen Wohltaten dadurch beantworten, daß sie mit dem Einsatz der ganzen Persönlichkeit, mit all ihrem Tun, das Lob ihres Schöpfers und Erlösers verkündet. In der rückhaltlosen Hingabe an den Dienst in der Welt zur größeren Ehre Gottes muß sich die Caritas im Alltag des Gläubigen bewähren. Wie Ignatius möchte Spee seine Schüler zum engagierten Christentum erziehen; er aktiviert seine >geistliche Tochter< gezielt zum innerweltlichen GottesDienst, der ein charakteristisches Kennzeichen der praxisorientierten ignatianischen Frömmigkeit darstellt. Während der Priester die »Epistel oder Lection« (488,6) vorträgt, empfiehlt die Übungsanweisung zu Kapitel III 29 dem Leser, sich vorzustellen, er solle eine Lection anhören in der schulen Christi; vnd alßdan inwendig mit den ohren deines hertzens vnd gedächtnuß fleissig anhören vnd auffmercken was dir die göttliche einsprechung in dein hertz gebe denselben tag für ein sonderbares gutes werck zu verrichten (488,15-19),
erklärt der Seelsorger seinem Beichtkind. Auf diese Weise soll der Übende lernen, bei allem, was er unternimmt, auf den Willen Gottes zu hören. Aus der andächtigen Teilnahme an der Meßfeier erwachsen Vorsätze und Entschlüsse, die im Alltag des Frommen als Handlungsimpulse wirksam werden sollen.62 Um dem Gläubigen Anregungen für seine persönliche praxis pietatis zu geben, stellt Spee in Kapitel III 30 im Anschluß an seine Meßerklärung eine umfangreiche Liste guter Werke zusammen, die dem Leser Beispiele für weitere praktische Tugendübungen geben. Gute Werke und insbesondere die Werke der Nächstenliebe, die im dritten Teil des >Tugendbuchs< eine wichtige Rolle spielen, sind eine von mehreren komplementären Erscheinungsformen der laudatio Dei, die als Fortsetzung des Gottesdienstes in der täglichen innerweltlichen Praxis gewertet werden können. Die letzten Kapitel des >Tugendbuchs< verbindet die Übungen der Nächstenliebe mit dem Gedanken des Gotteslobs, so daß sich beide Themenkreise überkreuzen. Spee verwebt die Andachten, die in einer ansteigenden Reihe dem >magis< des Gotteslobs gewidmet sind, mit einer zweiten Serie von Tugendübungen, die in absteigender Bewegung - von der Gottes- zur Menschenliebe - den descensus der göttlichen Liebe in die Welt nachvollziehen. Die Anleitung zum »andächtigfen] beywohnen« (483,26 f.) der Meßfeier und die nachfolgenden Kommunionandachten des >Tugendbuchs< (Kap. III 31 —35) bilden den Höhepunkt und Schlußstein seines geistlichen Übungsprogramms, 63 wie die Plazierung dieser Kapitel am Ende des Erbauungsbuches « «
Feüen (1975), S. 79. Ebd., S. 59.
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andeutet: Der Besuch der Messe läßt den Menschen - sofern er die heiligen Zeremonien mit der gebotenen devotio verfolgt - seiner Bestimmung gemäß Gott loben. Spee erblickt in der liturgischen Feier den Mittelpunkt des religiösen Lebens und den Schlüssel zum Fortschritt in den drei göttlichen Tugenden; sie unterstützt den Gläubigen bei der Einübung der imitatio Christi und bildet den Rahmen für die sakramentale Begegnung zwischen der Menschenseele und ihrem himmlischen Bräutigam. In der (geistlichen) Kommunion, die den Höhepunkt des Gottesdienstes darstellt, erreicht die andächtige Seele das Ziel ihres spirituellen Weges. Der Empfang der Eucharistie bewirkt eine Transformation des menschlichen Willens bis zur Gleichförmigkeit mit dem Willen Gottes und läßt die pia animadie ersehnte jenseitige unio mit dem sponsus Christus antizipieren.64 In der Meßfeier, die den Gläubigen die gnadenhafte Selbstmitteilung des Erlösers erfahren läßt und die zugleich dem Menschen ermöglicht, Gott für die empfangenen Wohltaten unendliches Lob darzubringen, konkretisiert sich somit die Mitteilung von beiden Seiten herTugendbuchs< ist untrennbar verknüpft mit der Exerzitienfrömmigkeit seines Verfassers, die die Konzeption des Erbauungsbuches tiefgreifend prägt. Wenn Spee den Charakter des Meßopfers als Lobopfer betont und an einigen Stellen von der im 17. Jahrhundert kaum beachteten Beteiligung der Gläubigen an diesem Opfer spricht,65 dann scheint es, daß gerade die Ansätze zu einem modernen Meßverständnis, die sich hier zeigen, ein Resultat der ignatianischen Spiritualität sind.
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Cuttaz (1953), Sp. 1188f. Feilen (1975), S. 9 5 - 9 7 . - V g l . GTB 479,19f. und Fischer, Anleitung (1984), S. 210f., 213 u. 215.
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6.
Die Jesuitenkatechese und das Katechismuswerk des Petrus Canisius als Vorbilder des >Tugendbuchs
WeheKhurtzen begriff Catholischer lehr, dem gemainen Christlichen volck zu nutzlichem underricht [.. .]< (1549)1 vor dem Verfall der Sitten und vor dem Vordringen des Protestantismus. Andere KatechismusAutoren, wie z.B. Georg Wicelius (oder Witzel; 1501-1573) erflehen in ihren Werken gar den Zorn Gottes auf die Häupter von »tyrannischen sewen und Ketzerischen Füchsen«, 2 die im Weinberg des Herrn wühlen und den Schafstall der Kirche beschmutzen oder in Aufruhr versetzen. Auf solche und ähnliche lamentationes stößt man in den Vorreden der katholischen Katechismen, die seit der Mitte des 16. Jahrhunderts erschienen, recht häufig. 3 Derartig besorgte und empörte Stimmen, wie sie sich in den beiden zitierten Beispielen äußern, sind symptomatisch für die gespannte Atmosphäre, die das religiöse Leben im Zeitalter der Glaubensspaltung bestimmt. Mahnungen an Gleichgesinnte und polemische Ausfälle gegen die jeweiligen Gegner gehören zur Tagesordnung. Die Kommentare der beiden Autoren, die stellvertretend für zahlreiche andere, im gleichen Tenor gehaltenen Warnungen angeführt wurden, lassen ahnen, in welchem Maß die Verbreitung der neuen Lehre das katholische 1
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Abgedruckt bei Moufang (1964), S. 317— 364; die eingangs zitierte Passage findet sich ebd., S.319. Vgl. Witzeis >Newer vnd kurtzer Catechismus, das ist Christliche und gewisse Unterrichtung der jungen Christen in katholischer Kirchen [.. .]IrrlehrenHauptartikell Christlicher underrichtung zur gottseligkeit< (1547),6 er schreibe sein Werk U ß hertzlichem mitleyden und erbarmung, so ich zu der Jugent trag, die in disen kläglichen und bösen zeyten durch vilerley ketzerische bücher, welche under dem Titel Catechismi ußgan, und hin und wider verspreyet und verstochen werden, so jämerlich verfiirt wird. 7
Als Antidot gegen die allgemeine Verwirrung in Glaubensdingen empfehlen vorausblickende Seelsorger die gründliche und möglichst frühzeitige religiöse Unterweisung der Jugend, denn, so bemerkt Peter von Soto, arglose Kinderseelen können noch leicht »geformiert werden«, da sie »wie ain glatte Tafel gestalt« sind, in die sich jeder Eindruck tief und dauerhaft einprägt.8 Das geschärfte Bewußtsein für den weit verbreiteten Glaubensnotstand und das neuerwachte religionspädagogische Interesse, das sich seit etwa 1530 in der Produktion zahlreicher Katechismen niederschlug, müssen als Indizien für gravierende Umwälzungen im geistigen und geistlichen Bereich betrachtet werden.9 Im Mittelalter hatte es keine spezielle religiöse Unterweisung für die Jugend gegeben. Eine rudimentäre Erziehung auf diesem Gebiet (z.B. beten lernen) fand in der Familie statt; im übrigen wuchsen die Kinder in das christliche Gemeinschaftsleben hinein, indem sie mit den Erwachsenen den Gottesdienst besuchten und an den Festen des Kirchenjahres teilnahmen.10 Missionspredigten und das Einüben und Abfragen von Credo, Paternoster und Dekalog durch den Geistlichen im Anschluß an den Gottesdienst bildeten die wichtigsten Instrumente der religiösen Volksbelehrung.11 Erst die Wirren der Reformationszeit ließen einen weitergehenden geistlichen Elementarunterricht unter kirchlicher Regie, insbesondere in Form der So im Titel des Katechismus von Johann Dietenberger, >Evangelischer bericht und Christliche Unterweisung der fürnemlichsten stück des waren heyligen Christlichen glaubens, allen Christgläubigen, besonders den eynfeltigen Layen sehr nützlich und zu wissen von nöten [ . . .]Katechismus< belegt diese Entwicklung zur Schriftlichkeit, die in der Frömmigkeit der Folgezeit immer stärker sichtbar wird: Während der Terminus >Katechismus< im Mittelalter für die mündliche (!) Unterweisung in Glaubensdingen verwendet wurde, verstand man darunter seit dem 16. Jahrhundert das Buch, das die elementaren Gegenstände der Religionslehre, Glaubensbekenntnis, Vaterunser, die Zehn Gebote und die Sakramente zusammenfassend darlegt.15 Vorläufer fanden sich bereits unter den mittelalterlichen Credo-, Paternoster- und Dekalogerklärungen, in Beichtspiegeln und ähnlichen Werken.16 Doch erst Luther machte den Katechismus zum geistlichen Hausbuch, zu einem populären Instrument der Glaubensverkündung und der Seelsorge. Seine beiden 1529 in deutscher Sprache erschienenen Katechismen, von denen der größere für Prediger, der kleinere für Hausväter bestimmt war, vermitteln dem Benutzer in klarer, leicht faßbarer Form und in volkstümlicher Diktion das heilsnotwendige Wissen. Ihre Prägnanz und ihr überschaubarer Umfang verschaffte den beiden Schriften große Resonanz. 17 Um 1570 waren bereits ca. 100000 Exemplare der Lutherischen Katechismen in Umlauf. 18 Luthers aufsehenerregender Erfolg löste eine Welle konkurrierender Publikationen aus. 19 Die Katholiken sahen sich durch den vehementen Vor" M
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Schrems (1979), S. 5f. Läpple (1986), S. 86. Jungmann, Katechetik (1965), S. 15 u. 20. Braunsberger (1893), S. 30. - Vgl. Erlinghagen (1972), S. 97. Schrems (1979), S. 6. Erlinghagen (1972), S. 99. - V g l . Läpple (1981), S. 97 u. 101-104. Jungmann, Katechetik (1965), S. 19f. - Vgl. Braunsberger (1893), S. 9. Eine Reihe von Autoren und Titeln nennt Erlinghagen (1972), S. 100 u. 102f.; Thalhofer (1899), S. 5; Läpple (1981), S. 91. - Vgl. ferner die von Moufang (1964) veröffentlichte Auswahl katholischer Katechismen des 16. Jahrhunderts.
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stoß des Protestantismus in die Defensive gedrängt und erkannten die Notwendigkeit, dem gefährlichen >Bestseller< des Reformators ein ähnlich wirkungsvolles Werk entgegenzustellen, das als Kompendium der >rechten< Lehre den katholischen Glauben gegen die Neuerer abgrenzte. Die meisten dieser katechetischen Veröffentlichungen konnten sich jedoch nicht durchsetzen, weil sie wegen ihres großen Umfangs nicht für den Gebrauch im Unterricht geeignet waren oder weil sie ihren Gegenstand nicht klar und stringent genug darlegten.20 Erst dem Jesuiten Petrus Canisius (1521 — 1597) gelang es, ein Lehrbuch - oder vielmehr eine Lehrbuchreihe - für die religiöse Unterweisung zu schreiben, die ähnlichen Einfluß wie Luthers Erfolgswerk erlangte.21
6.2. Die Katechismen des Petrus Canisius - Aufbau, Zielsetzung und Parallelen zum >Tugendbuch< Im Jahr 1552 begann Canisius mit der Arbeit an seinem Katechismuswerk, die er bis zu seinem Tod mit ständigen Verbesserungen und Ergänzungen fortsetzte. Die Kanisischen Katechismen, die sich bald außerordentlicher Beliebtheit erfreuten und noch zu Lebzeiten ihres Verfassers in über 200 Auflagen erschienen,22 zeichnen sich durch sachliche, nüchterne Darstellung und durch eine klare Gliederung ihres Lehrstoffs aus; oft wird ihnen im Gegensatz zu Luthers mitreißender Sprache eine gewisse Trockenheit des Stils bescheinigt.23 Canisius vermeidet jegliche Polemik, vertritt aber in allen kontroversen dogmatischen Fragen (z.B. auf dem Gebiet der Sakraments- und Rechtfertigungslehre) einen dezidiert katholischen Standpunkt. 24 Auch Canisius warnt in einer Vorrede25 wie andere Katechismusautoren vor »falsche[n] propheten und scribenten« und beklagt, daß in diesen bösen Zeiten viele Schriften an die Öffentlichkeit gebracht würden, die unter dem Schein der Frömmigkeit »verfurische und schldliche lehre« verbreiteten, »welche doch durch den gemainen mann nit leichtlich gemerckt und verstanden werden«. 26 Daher mahnt der Verfasser zur Wachsamkeit:
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Jungmann, Katechetik (1965), S. 20. Braunsberger (1893), S. V. Erlinghagen (1972), S.105; Bellinger (1970), S.50. - Vgl. die bibliographischen Angaben in der textkritischen Ausgabe der Kanisischen Katechismen von Streicher, Bd. I (1933), S. 95*—161* u. Bd. II (1936), S. 1 6 * - 3 2 * . Läpple (1981), S. 104-107. Jungmann, Katechetik (1965), S. 21. Im Mitderen Katechismus, Dillingen 1560; vgl. Streicher II (1936), S. 4. Vorrede zum sog. Kleinen Katechismus, Dillingen 1560; vgl. Streicher II (1936), S. 4.
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Sol darumb ein yeder ernstlich vermanet unnd bey seiner seele Seligkeit gewarnet sein, daß er wol zfl unnd umbsehe, was er fur buchlein habe unnd lese, besonder von catechismis und betbuchlein und dergleichen andere mehr. 2 7
Canisius* Sorge gilt vor allem der Jugend, die »bey Zeiten«28 ein religiöses Grundwissen erwerben und fleißig den Katechismus lesen soll, um gegen die Verführung durch ketzerische Lehren gewappnet zu sein. Der Verfasser empfiehlt, sein Buch »von wort zu wort außwendig zulernen und zu aller zeit in hertzen und mund zu haben«, 29 damit die jungen Christen in Gottesfurcht aufwachsen und »die gantze Christenheit in allen Stenden auß sollicher rainen, gesunden lehren gebessert und glückseliger werden« möge. 30 Die Konzeption der Kanisischen Katechismen folgt einem dreifach gestuften Modell der religiösen Wissensvermittlung.31 In drei Katechismusausgaben von unterschiedlichem Umfang, die sich an Lernende verschiedener Altersklassen und Bildungsgrade wenden, paßt der Verfasser den dargebotenen Lehrstoff dem Fassungsvermögen seiner jeweiligen Adressaten an.32 Als erstes erschien 1555 in Wien mit Unterstützung Ferdinands I. Canisius' großer Katechismus in lateinischer Sprache unter dem Titel >Summa Doctrinae Christianae per Quaestiones tradita, et in vsum Christianae pueritiae nunc primum edita [.. .]Catechismus minimusSumma< und ist vornehmlich für den Unterricht von Schulkindern bestimmt. 38 Ebd., S. 4. 2« Ebd., S. 4. » Ebd., S.4. 3° Ebd., S.4. Thalhofer (1899), S. 123. 32 Arens, Seelsorge (1984), S.99f. - Vgl. Läpple (1981), S.107f. und Erlinghagen (1972), S. 104-106. » Abgedruckt bei Streicherl (1933), S. 1 - 7 5 . * Β ahlmann (1884), S.48. - Vgl. Läpple (1981), S. 109. " Erlinghagen (1972), S. 105. Braunsberger (1893), S. 36. 37 Streicherl (1933), S. 159; dort, S. 263-271, ist der lateinische Text wiedergegeben; der Text der deutschen Ausgabe findet sich bei Streicher II (1936), S. 213—232. 38 Β ahlmann (1884), S.48. - Vgl. Braunsberger (1893), S. 106.
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1559 veröffentlichte Canisius schließlich in Köln seinen >Parvus Catechismus catholicorumVon dem Glauben und des Glaubens Artickeln< >Von der Hoffnung und dem »Vatter Unser«« >Von der Liebe und den Zehen Gebotten« >Von den heiligen Sacramenten< >Von warer christlicher Gerechtigkeit«.
Diese fünf Hauptstücke der Katechismen des Petrus Canisius enthalten alles Wissen, das zu »christlicher unnd gründlicher underrichtung«45 gehört und M
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Lateinischer Text bei Streicher I (1933), S. 2 0 9 - 2 6 1 . Streicherll (1936), S. 19. Der deutsche Text ist dort, S. 3 - 8 7 , abgedruckt. Bahlmann (1884), S.48. Streicherll (1936), S.4. Thalhofer (1899), S. 71 f. Bellinger (1970), S. 52. Streicherll (1936), S.4.
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erforderlich ist, um die Seligkeit zu erlangen. »Es hangt doch alles am glauben, hoffnung, lieb, sacramenten und gerechtigkeit, wollen wir sunst immer Gotteskinder und in Christo gerecht und selig werden«, erklärt der Verfasser seinen Schülern und betont, daß es vast gät und nutz, ja auch hoch von n6tten were, daß alle Christen eine summary und innhalt wißten von den yetzt gesagten stucken unnd grundtvestenn der christenlichen lehr und warhait. 4 6
Die Einteilung des >Tugendbuchs< weist auffallende Parallelen zum Aufbau der Kanisischen Katechismen auf.47 Canisius ordnet in Kapitell-III Symbolon, Paternoster und Dekalog den drei göttlichen Tugenden zu. 48 Ahnlich bespricht auch Spee das Credo im ersten Teil des >TugendbuchsTugendbuch< keine signifikante Rolle spielen.49 Stattdessen macht Spee im letzten Teil seines Erbauungsbuches das Doppelgebot der Gottes- und Menschenliebe zum Gegenstand seiner Andachtsübungen. Dieses Liebesgebot bezeichnet Canisius im dritten Kapitel seines Unterrichtswerks als »summa und innhalt aller zehen gebott«. 50 Zu der einleitenden Frage: »Was ist und heist die lieb?« gibt der Verfasser folgende Erläuterung: D i e liebe ist ein gnadenreiche, von G o t eingegoßne tugent, durch welche wir G o t t den herren als das höchst güt umb sein selbs willen, unsern nechsten aber umb Gottes willen recht und christlich lieb haben. 5 1
In Einklang mit den Ausführungen seines Ordensbruders nennt Spee als signum der vollkommenen Liebe, daß wir Gott »von wegen seines fürtrefflichen wesens« (21,31) »als daß allerhöchste gut« (29,31) von ganzem Herzen lieben; und später ergänzt er seine Wesensbestimmung der Caritas im Sinne der Kanisischen Definition: »Zur dritten göttlichen tugent oder Liebe Gottes, gehöret auch die Liebe des nechsten vmb Gotes willen« (345,5). Sakramente und gute Werke, die Canisius im vierten und fünften Kapitel seines Katechis« 47
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Ebd., S . 4 . Oorschot, Abhandlung (1968), S. 100, Anm. 30. Braunsberger (1893), S. 35. D a ß der Gehorsam gegenüber Gottes Geboten zu den Bedingungen der Caritas gehört, deutet Spee in der Einleitung des G T B an, wenn er erklärt: » [ . . . ] und derentwegen [d. h. aus Liebe] halten wir gern, was er [sc. Gott] gebotten, vnd meiden was er verbotten hat« (21,15 f.). Streicherll (1936), S. 54; hier zitiert nach der 3. Aufl. des Mitderen Katechismus, Dillingen 1564. Ebd., S . 4 4 ; ähnlich bezeichnet es Canisius als Grundforderung des mosaischen Gesetzes, »daß wir Gott zum ersten, neben ihm aber und umb seinet willen unsern nechsten, er sey freund oder feind, rechtschaffen liebhaben« (ebd., S. 54).
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mus erörtert, behandelt Spee - allerdings weder vollständig noch systematisch - im Zusammenhang mit der Caritas im letzten Teil des >TugendbuchsTugendbuch< und dem Unterrichtswerk des Petrus Canisius nahelegen, muß wohl stärker, als dies bisher geschah, die >gegenreformatorische< Tendenz des Speeschen Erbauungsbuchs beachtet werden. Für einen Katholiken, der mit dem Kanisischen Lehrbuch vertraut war, dürfte sich das >Tugendbuch< bereits durch den Schlüsselbegriff der göttlichen Tugenden, den das Werk im Titel führt und im Untertitel näher bestimmt, als >rechtgläubige< Schrift empfohlen haben. Da die Katechismen des Petrus Canisius eine beherrschende Stellung in der damaligen katholischen Katechese innehatten, war eine Orientierung an dieser allgemein anerkannten Autorität überdies geeignet, Leser für Spees Werk zu werben, die von dessen geistlichem Übungsprogramm eine Vertiefung und Differenzierung der katechetischen Elementarunterweisung erwarten durften.
6.3. Die frühe Jesuitenkatechese und ihre Affinität zur Methode des >Tugendbuchs< Nach dem Erscheinen des Kanisischen Lehrwerks nahm der katholische Katechismusunterricht beachtlichen Aufschwung. 55 Zu Beginn des 17.JahrhunBellinger (1970), S. 53. Thalhofer (1899), S. 1 3 5 - 1 3 7 ; Bellinger (1970), S. 52. - Vgl. D z . 798. 54 Bellinger (1970), S. 53. 55 Braunsberger (1893), S. 172. 52 53
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derts war der Katechismus des Petrus Canisius in zahlreichen Diözesen als offizielles Lehr- und Lernbuch für die Katechese in Gebrauch. 56 Besonders der Jesuitenorden, der die apostolische Tätigkeit als Schwerpunkt seiner Arbeit betrachtete, entfaltete vielseitige Aktivitäten auf dem Gebiet der Kirchen- und Volkskatechese, die zuweilen erstaunliche Erfolge erzielten und auf längere Sicht das kirchliche Leben entscheidend förderten.57 Gesang, Wettbewerbe, szenische Aufführungen und Prozessionen, die als pädagogische und didaktische Hilfsmittel in der Jesuitenkatechese verwendet wurden, erhöhten die Attraktion der Glaubensverkündung nicht nur bei Kindern und verschafften ihr in weiten Bevölkerungskreisen Resonanz. 58 Oft bildeten die städtischen Jesuitenkollegien die Zentren, von denen aus die Christenlehre eingeführt und im Umland verbreitet wurde. Am Beispiel Triers hat A.Schüller die Entwicklung einer ausgedehnten Volkskatechese unter Leitung der Jesuiten aufgezeigt.59 Seit 1560 gab es eine Niederlassung des Ordens in Trier. Die neu eingerichtete Sonntagskatechese in der Stadt hatte bald so großen Zulauf, daß sie zuweilen den Charakter religiöser Massenveranstaltungen annahm; bis zu tausend erwachsene Hörer sollen allsonntäglich zusammengeströmt sein. Allmählich weiteten die Trierer Jesuiten ihren Wirkungskreis in die umliegenden Dörfer aus. Im 17. Jahrhundert wurden von den rund hundert Jesuiten in der Stadt bis zu vierzig Dorfkatechesen betreut.60 Wohl jedes Mitglied der Societas Jesu war zumindest zeitweilig mit katechetischen Aufgaben betraut.61 In der Kinderkatechese wurden die Patres bei zunehmender Arbeitsbelastung von Laienhelfern unterstützt, die in den Quellen u.a. als »Verhörmeister und Lehrmeisterin« bezeichnet werden.62 Vor allem in Köln waren Devotessen, die als primäre Adressatengruppe des >Tugendbuchs< in Betracht kommen, bei der Vor- und Nachbereitung der sogenannten >Kinderlehre< tätig.63 Ziel des Katechismusunterrichts war in dieser frühen Phase zunächst nicht nur, einem breiten Publikum schon von Kindheit an einen Grundbestand an religiösem Wissen zu vermitteln; vielmehr ist die Glaubenslehre integrierender Bestandteil eines umfassenden religiös-sittlichen Erziehungsprogramms. Erst als im 18. Jahrhundert die Kirchen- von der Schulkatechese abgelöst wurde, gab die religiöse Unterweisung und mit ihr die katechetische Literatur ihre erbauliche Intention auf und beschränkte sich künftig auf eine vorwiegend 5« Ebd., S . 1 8 f . » Erlinghagen (1972), S. 107f. 58 Arens, Seelsorge (1984), S. 101. 5' Schüller (1928), S. 111-119. Ebd., S . U l f . " Erlinghagen (1972), S. 107. « Schreins (1979), S. 35. « Oorschot, Abhandlung (1968), S. 39.
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rationale Form der Wissensvermittlung im Rahmen des schulischen Religionsunterrichts. 64 Canisius und andere Katechismusautoren des 16. Jahrhunderts wollen dem Geistlichen einen Leitfaden für seinen Unterricht und dem Gläubigen eine übersichtliche Zusammenfassung des besprochenen Unterrichtsstoffs bereitstellen, mit dessen Hilfe das Fundament eines gottgefälligen Lebens gelegt werden soll. 65 Die Merksätze des Katechismus geben dem Schüler ein leicht lernbares >Extrakt< der behandelten Gegenstände an die Hand. U m den Katechumenen zu einer wahrhaft christlichen Gesinnung und zu einer sittlichen Praxis zu erziehen, genügt es jedoch nicht, ihn katechetische Formeln memorieren zu lassen und den gelernten Stoff abzufragen. Die doctrina bedarf der Ergänzung durch die praxis movendi, um in einen emotionalen Lernprozeß einzumünden. Es ist daher Aufgabe des Katecheten, das Wissensgerüst des Lehrbuchs mit Leben zu erfüllen, indem er »nicht nur speculative und doctrinaliter, sondern auch practice und moraliter katechisiert«. 66 Er muß den Schüler dazu anleiten, das Gelernte auf seine eigene Situation zu übertragen und im Alltag zu verwirklichen. Seit dem letzten Viertel des 16. Jahrhunderts entstanden zahlreiche Anweisungen für den Geistlichen, in denen die methodischen und didaktischen Richtlinien für den Katechismusunterricht festgelegt sind. 67 Derartige aus der pädagogischen Praxis hervorgegangene Katecheteninstruktionen geben aufschlußreiche Hinweise auf den damaligen modus docendi. Meist sehen die Lehrinstruktionen vor, daß jährlich einmal der ganze >Canisius< durchgearbeitet wird. 68 Daneben sollen die jeweiligen Sonntagsevangelien erklärt werden und ein rudimentärer liturgischer Unterricht stattfinden, so daß die Kinder sinnvoll an der Messe und an den Festen des Kirchenjahres teilnehmen können; außerdem sollen die Christenlehrbesucher gegebenenfalls auch auf den Empfang der Sakramente vorbereitet werden. 69 Im Hinblick auf die allgemeine Verfahrensweise, nach der die >Kinderlehre< zu halten ist, fordern die entsprechenden Anweisungen vom Katecheten die kindgerechte Aufbereitung des Lernpensums in kleinen Schritten, die den Hörer nicht überfordern. Der Stoff soll anschaulich und einprägsam dargeboten und oft wiederholt werden; katechetische Lieder in deutscher Sprache werden empfohlen, damit das Gelernte besser im Gedächtnis haftet. Heiligenlegenden - z . B . aus der Sammlung des Kartäusers Laurentius Surius, auf
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Jungmann, Katechetik (1965), S. 25 f. Thalhofer (1899), S.219f. Schrems (1979), S. 77. - Vgl. Jungmann, Katechetik (1965), S. 6 0 - 6 3 . Schrems (1979), S. 6. Arens, Seelsorge (1984), S. 100. Schrems (1979), S.20f., 28 u. 33.
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dessen Werk sich Spee mehrfach beruft, 70 - können gelegentlich im Unterricht vorgetragen werden, um durch geistliche Exempel beim Hören den Prozeß der Willensbildung zu lenken/ 1 Die meisten Katecheteninstruktionen legen den Ablauf der Christenlehrstunde nach einem ähnlichen Schema fest: Ein Gebet, eventuell ergänzt durch Lieder, eröffnet und schließt den Unterricht; zu Beginn der Stunde wird der Stoff, der in der vorangegangenen Woche besprochen wurde, abgefragt und wiederholt. Im Anschluß daran (oder am Ende der Stunde) tragen zwei Schüler in Form einer disputatio ein Hauptstück aus dem >Canisius< vor. Danach legt der Katechet den Stoff der neuen Lektion dar, gibt die notwendigen Erklärungen und verdeutlicht den Gegenstand durch Gleichnisse, Parabeln o. ä. Darauf folgt die Nutzanwendung für den Schüler, oft in Form einer konkreten Ermahnung. Zum Schluß gibt der Geistliche eine (schriftliche) Zusammenfassung des neu erarbeiteten Stoffs, die bis zur nächsten Woche auswendig gelernt werden soll. 72 Die Präsentation des Lernstoffs in der Jesuitenkatechese läßt sich mit dem methodisch-didaktischen Dreischritt von propositio - explicatio - applicatio beschreiben. 73 Dieses Verfahren schließt sich an die Regeln der mittelalterlichen Homiletik an, die ein christliches Seitenstück der antiken Schulrhetorik darstellt. 74 Nicht zufällig weist daher das Verfahren der Katechese Parallelen zur ignatianischen ars meditandi auf, die ebenfalls an der Methode der Rhetorik geschult ist und in einem analogen Schema von der anschaulichen Darstellung eines geistlichen Gegenstandes zu dessen rationaler Erkenntnis fortschreitet, um diese schließlich zum seelischen Erleben zu steigern. Daß der modus catechizandi, an dessen Entwicklung im 16. Jahrhundert Mitglieder des Jesuitenordens maßgeblich beteiligt waren, darüber hinaus auch unmittelbar vom ignatianischen Denken und von der Frömmigkeit der >Exerzitien< beeinflußt wurde, ist selbstverständlich. Schon J . A . Jungmann hat darauf aufmerksam gemacht, daß ein Jahrgang der katechetischen Unterweisung im Idealfallohne die erschwerenden Bedingungen, die die oft große Zahl von Katechumenen verschiedenen Alters, unregelmäßiger Besuch der Christenlehre, mangelhafte Ausbildung des Katecheten usw. - der Wirksamkeit eines Exerzitienkurses nahekommen könnte. 75 Zuweilen nähern sich die Unterrichtsregeln für den Leiter der Kinderkatechese den Anweisungen, die die Direktorien für den Vollzug der >Geistlichen 7
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G T B S. 87, 500f. u. 5 0 4 - 5 0 7 . - Nähere Angaben zu diesem Werk bei Oorschot, Kommentarteil des G T B (1968), S. 591. Schrems (1979), S. 112. Ebd., S. 1 9 - 2 1 . Schüller (1928), S. 116. - Vgl. Arens, Seelsorge (1984), S. 100. Jungmann, Katechetik (1965), S. 131 f. - Vgl. Läpple (1981), S. 79. Jungmann, Katechetik (1965), S. 61.
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Übungen< geben. So weist ζ. B. eine Katecheteninstruktion im Mainzer Rituale von 1671, die auf eine Kirchenordnung aus dem Jahr 1615 zurückgeht, den Geistlichen an, auch das Gemüt des Schülers anzusprechen und in ihm fromme Affekte, besonders Abscheu vor der Sünde und wahre Liebe zu Gott, zu wecken: Cum explicatione mysteriorum fidei congrui simul affectus rudibus sunt installandi. (IX) U T rüdes ex Catechesi praeter notitiam mysteriorum fidei simul congruos erga res illas, quae fide divinä credendae proponuntur, affectus concipiant, proderit summopere affectus eiusmodi, posteaquam res ipsae sufficienter explicatae fuerint non solum indicare, sed ad eosdem concipiendos et fovendos etiam manuducere quodammodo. Sic Catechista explicatis V. G. peßimis peccati effectibus, simul instillare suis odium et fugam peccati; aut, propositi immensä Dei bonitate, illius amorem in cordibus suorum excitare poterit. 76 Ähnlich fordert auch der >Vnderricht für die Seelsorger vnnd Pfarrherrn deß Stiffts Münster / wie sie den Kindern vnnd andern vnwissenden den Catechismum nützlich furtragen sollen< aus dem Jahr 1613, daß ein recht Lehrer deß Catechismi nit allein dahin gehen sol / daß seine Zuhörer den Catechismum oder die Christliche Lehr wol wissen: sonder daß sie affectionirt oder erlustiget werden zum guten / vnd ein sonderliche innbrünstige liebe tragen / zu dem gecreutzigten vnserm heil; vnd Seligmacher Christo Jesu / auch daß sie erkennen wie sie Gott vber alle ding lieben sollen / mit Verachtung alles wollusts / gewinn / reichthumb / Ehr vnnd Gut / ja daß sie viel lieber alle marter vnnd Torment wollen außstehen / als auffsätziglich Gott mit einer todtsünd erzürnen.77 Die methodischen Gemeinsamkeiten zwischen dem Verfahren der Katechese und dem der >Exercitia spiritualia< erleichterten es Spee, eine Brücke zu schlagen zwischen dem Grundkurs des Glaubens, den das Elementarbuch des Petrus Canisius seinem Benutzer darbietet, und der >Hohen Schule< christlicher Spiritualität, wie sie die ignatianischen >Exerzitien< für eine Elite von Ordensgeistlichen darstellen. A n vielen Stellen des >Tugendbuchs< kommen dem Übenden die pädagogischen und didaktischen Erfahrungen zugute, die der Verfasser in der Katechese gesammelt hat: Besonders in der Verbindung von Belehrung, emotionaler Beeinflussung und unterhaltsam-spielerischen Elementen mit dem Ziel einer Erziehung zum praktizierten Christentum wird in Spees Buch der pädagogische Impetus sichtbar, der die Jesuiten bei ihrer seelsorgerlichen Arbeit 76
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Aus den >Instructiones de recta concionandi, catechizandi, et moribundos atque ad mortem condemnatos iuvandi ratione [.. .]< (Als Anhang beigebunden dem >Rituale sive Agenda ad usum ecclesiarum Metropolitanae Moguntinae et Cathedralium Herbipolensis et Wormatiensis [...]De catechetica parvulorum et rudium instructionesTugendbuchsTugendbuch< ist in der Praxis des Glaubensunterrichts vorgebildet. Während sich in den >Geistlichen Übungen< Gott dem Exerzitanten unmittelbar mitteilen soll, spricht er im >Tugendbuch< durch den Mund des Seelsorgers. Selbst in den Dialogen zwischen dem sponsus crucifixus und der anima sponsa dominiert häufig der Charakter des Lehrgesprächs. Christus spricht zuweilen eher im Ton eines himmlischen Katecheten als in dem des himmlischen Bräutigams. Nicht anders als der Beichtvater belehrt und ermahnt auch er die andächtige Seele, was für den modernen Leser manchmal unfreiwillig komische Effekte hervorbringen mag. 7 9 Einen Hinweis auf die enge Verbindung des >Tugendbuchs< mit der katechetischen Praxis gibt Spee in dem einleitenden Abschnitt »Vom gebrauch dises Buchs« (15,2). In seinen Bemerkungen über ergänzende Verwendungsmöglichkeiten seines Werks empfiehlt der Verfasser dem Seelsorger, der »eine geistliche Lection« (19,19 f.) vorbereiten muß, einzelne Kapitel aus dem >Tugendbuch< mit den Katechismusschülern durchzuarbeiten. Als ein Werk, das sich im Aufbau an die Kanisischen Katechismen anlehnt und Übungen für ein ganzes Jahr enthält, eignet sich das >Tugendbuch< als Ergänzungs- und Begleitbuch für den jährlichen Katechismuskursus. Spee bietet in seinem Erbauungsbuch weiterführende Andachtsübungen, die als Aufbauprogramm für Fortgeschrittene im Anschluß an die Christenlehre die religiöse Unterweisung auf anspruchsvollerem Niveau fortsetzt. Gerade dem Frommen, der seinen >Canisius< bereits gründlich durchgearbeitet hat und schon über ein gesichertes religiöses Anfangswissen verfügt, gibt das >Tugendbuch< mit seinem vielseitigen, an der ignatianischen Andachtsmethode geschulten Übungsprogramm wertvolle Anregungen für sein Gebetsleben. Für Laienhelfer, die dem Geistlichen bei der Durchführung der Kinderkatechese assistieren, wäre
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Zur Rolle des geistlichen Liedes in der Katechese vgl. Arens, Seelsorge (1984), S . l O l f . und 128-132. Z . B . Kap. II 8, besonders S. 166f.
Spees Werk sicherlich ein nützliches Hilfsmittel, dessen Gebrauch nicht nur der privaten Erbauung, sondern auch der katechetischen Arbeit zugute käme.
6.4. Bearbeitungen des Kanisischen Katechismuswerks und ihre Modellfunktion für Spees Erbauungsbuch Im Gefolge des Kanisischen Katechismuswerks erschienen zahlreiche Raubdrucke, Ubersetzungen und Bearbeitungen.80 U.a. wurden Bilderkatechismen,81 gereimte Katechismen82 und oft umfangreiche Katechismuserklärungen gedruckt.83 Canisius selbst versah seine deutschen Katechismen mit einem Gebetsanhang und mit einem kurzen Unterricht über Beicht und Kommunion, um die religiöse Wissensvermittlung durch die praktische Glaubensübung zu ergänzen.84 Diese Gebets->Zugaben< wurden von Canisius nahezu mit jeder Auflage seiner Katechismen erweitert und 1560 in Dillingen erstmals als Gebetbuch zusammen mit dem Mittleren Katechismus herausgegeben als Kurtzer vnderricht vom Catholischen glauben. Gezogen auß dem grossen Catechismo / so auß beuelch der Romischen Kayserlichen Mayestet gestellet. Jtem wie man betten / beychten / vnd zur niessung des heiligen Sacramants des Altars / Catholischer weiß sich beraitten soll. Den einfeltigen Christen / jung vnd alt / zu nutz / hail vnd trost / jetzt newlich außgangen. 85
Spätere Auflagen des Gebetbuchs erschienen in Verbindung mit dem Kleinen Katechismus als >Betbüch und CatechismusBetbuch< beeinflußte Canisius Braunsberger (1893), S. 73, 112 und 137ff. - Vgl. Thalhofer (1899), S. 19. Braunsberger (1893), S. 155—160, mit bibliographischen Angaben. 82 Thalhofer (1899), S. 6 u. 24, mit bibliographischen Angaben, w Ebd., S. 14f. »« Streicherll (1936), S. 2 2 3 - 2 3 2 (Texte). - Vgl. Braunsberger (1893), 148f. und Thalhofer (1899), S.216. 85 Streicherll (1936), S. 19il"f. - Zitate und Seitenangaben im folgenden nach der von J . B . Reiser (1867) besorgten Ausgabe. * Streicherll (1936), S . 2 1 * . 87 Streicherll (1936), S. 31; die Liedtexte sind ebd. auf S. 269—277 wiedergegeben. Vgl. Arens, Seelsorge (1984), S. 101-105. 81
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die katholische Erbauungsliteratur des ausgehenden 16. und des 17. Jahrhunderts.88 Mit seiner Liedersammlung schuf er den neuen Typus eines Gesangbuchs mit katechetischen Intentionen, der sich bald großer Beliebtheit erfreute und viele Nachahmer fand. 89 Als direkte Nachfolger des Kanisischen Katechismus-Gesangbuchs können die zu Beginn des 17. Jahrhunderts entstandenen Jesuitenpsälterlein und ähnlich volkstümliche Liederbücher gelten, zu denen Spee zahlreiche Beiträge lieferte.90 Gleichermaßen bahnbrechend wirkte das Gebetbuch des Petrus Canisius, das eine neue Spezies geistlicher Gebrauchsprosa begründete. Am Erfolg der Kanisischen Christenlehrschriften, besonders aber an der Entwicklung des Katechismus mit Gebetsanhang zum umfangreichen Doppelwerk des >Betbuch und Catechismus< wird die Entstehung des neuzeitlichen »Lehr- und Gebetbuchfs]« sichtbar, das neben einem ausgedehnten Gebetsschatz in verstärktem Maß belehrende Passagen enthält und dezidiert religionspädagogische Ziele verfolgt.91 Vielen geistlichen Autoren der nachtridentinischen Zeit diente das populäre Kanisische >Betbuch< als Vorbild und Quelle. Auch Spee nimmt im >Tugendbuch< mehrmals auf das Katechismuswerk seines Ordensbruders Bezug 92 oder verweist seine >geistliche Tochter< auf Gebete, die Canisius zunächst in den Katechismus-Anhang und später in sein >Betbuch< aufnahm. Ein Uberblick über Inhalt, Aufbau und generelle Konzeption des Kanisischen Gebetbuchs, das als hervorragender Vertreter der gegenreformatorischen Erbauungsliteratur gilt,93 bietet daher Gelegenheit festzustellen, inwieweit Spee im >Tugendbuch< die Tendenzen der zeitgenössischen Gebetsliteratur aufnahm und verarbeitete. Wie bei den meisten Gebetbüchern derselben Entstehungszeit handelt es sich auch beim >Betbuch< des Petrus Canisius um keine originelle Schöpfung, sondern um ein Sammelwerk, das viele Quellen von der Zeit der Kirchenväter bis in die Gegenwart des Verfassers hinein verwertet. Aus der älteren und neueren Gebetsliteratur trägt Canisius zusammen, was ihm besonders gelungen scheint und seinen Intentionen entspricht.94 Dieses Material wird überarbeitet, sprachlich geglättet, neu zusammengestellt und ergänzt. Von seinen zahlreichen Quellen nennt Canisius jedoch nur die anerkannten Autoritäten des Mittelalters. Die Namen eines Augustinus, Chrysostomus, Beda, eines 88 w
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* « » «
Schrott, Gebetbuch (1937), S. 116. Arens, Seelsorge (1984), S. 102—109. - Einen deutlichen Hinweis auf die Verwendung geistlicher Lieder in der Christenlehre gibt der Kleine Katechismus von Canisius, der dem Jesuitenpsälterlein (Köln 1638) beigebunden ist. Arens, Seelsorge (1984), S. 110-133. Schrott, Gebetbuch (1937), S. 242. Z.B. GTB Kap.III27; 478,22-37. Schrott, Gebetbuch (1937), S. 212. Ebd., S. 7.
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Bernhard von Clairvaux, Franziskus oder eines Thomas von Aquin bürgen für den Anschluß an die kirchliche Tradition. 95 Aus der neueren religiösen Literatur gingen neben Texten aus dem Missale und dem Brevier auch Gebete aus den Erbauungsschriften der Kartäuser, aus der >Hortulus animaeNachfolge Christis aus den Gebetbüchern Ludwigs von Granada, Joannes Fabris und anderer Autoren in die Kanisische Sammlung ein.96 Canisius gibt seinem Leser einen klar gegliederten Thesaurus von Gebeten an die Hand, der die gegenreformatorisch-apologetische Zielsetzung seines Katechismus fortsetzt und dem »gläubigen Laien eine praktische Anweisung zu völligem inneren Einleben in das Dogma und die Heiltümer der Mutter Kirche [...] geben« möchte. 97 Nach dem Kalender und dem Katechismus, die zusammen den ersten Teil des Werks ausmachen,98 hat der viel umfangreichere zweite Teil die Aufgabe, das Wissen, das der vorangestellte Katechismus vermittelt, im Gebet zu vertiefen.99 »Allgemeine Gebete eines Christen< (S. 93—96) zur Erweckung der Andacht und die »allgemeine christliche Beicht< (S. 97—99), die Spee in seiner Meßerklärung erwähnt,100 eröffnen die Sammlung. Die zweite Rubrik (S. 99—129) umfaßt Gebete zu den drei göttlichen Personen, paraphrasierende Auslegungen des Paternoster, des Englischen Grußes und des Credo, Gebete über die Zehn Gebote und Bitten für die Obrigkeit. Es folgt eine Gruppe von Gebeten, die den Tageslauf des Christen begleiten sollen (S. 132—156): Morgengebete, darunter das >Te Deum< und das >BenedictusKurze Gebettlein oft zu gebrauchen, und besonders darunter etliche, wan die Uhr schlägt< (S. 141-145) sowie Abendgebete mit einer Gewissenserforschung. Eine Reihe von Dank- und Lobgebeten, besonders solche für den Sonntag, schließt sich an (S. 157—173). Zu dieser Gruppe gehören auch die »Sieben Danksagungen für die hl. sieben Blutvergießungen Christi, wider die sieben Todsünden nutzbar zu sprechen< (S. 171 —173), deren Gebrauch Spee im >Tugendbuch< mehrmals empfiehlt.101 In einem weiteren Kapitel seines Werks sammelt Canisius >Gebete, in der Kirche besonders zu gebrauchen (S. 174-219), darunter mehrere, die die Verehrung des Altarsakraments zum Gegenstand haben; ferner finden sich in dieser Rubrik des Kanisischen >Betbuchs< der Augustinische Psalter, Gebete zur Dreifaltigkeit, die O-Antiphonen und ein Rosenkranz nach Johannes « » " "
Zur Quellenlage vgl. Althaus (1966), S. 90 f. Ebd., S. 90. Ebd., S. 91. S. 1—88 in der Ausgabe Reisers (1867); dort fehlt allerdings der Kirchenkalender. 99 Eine ausführliche Besprechung von Inhalt und Aufbau des >Betbuchs< bietet Schrott, Gebetbuch (1937), S. 2 1 1 - 2 1 7 . κ» G T B Kap. III 29; 486,18. - Vgl. Oorschot, Kommentarteil des G T B (1968), S. 486. 101 G T B Kap. II 21; 256,7 und Kap. III 30; 505,34 u. 507,2. - Vgl. Oorschot, Kommentarteil des G T B (1968), S.605f. 173
Justus Lansperger, der aus fünfzig kurzen Gebeten über das Leben des Erlösers besteht. Den folgenden Abschnitt widmet Canisius Gebeten, die zur Vorbereitung auf die Messe und während des Gottesdienstes zu sprechen sind, um Glaube, Hoffnung und Liebe zu wecken (S. 219 -232). 1 0 2 Ein Gebet, das die Wandlung begleiten soll, leitet über zum folgenden Abschnitt, in dem eine Reihe von Passionsgebeten zusammengestellt sind (S. 232—262). Dieser Teil des >Betbuchs< enthält Tagzeiten vom Leiden Christi, Gebete zum Gekreuzigten und vor einem Kruzifix, die sieben Worte Christi am Kreuz nach Beda, »Ein Gebet, daß der Mensch dem Leben und dem Bildnuß des gekreuzigten Herrn Jesu Christi möge gleichförmig werden< (S. 252-262) und die Begrüßungen der heiligsten Glieder Christi im Leiden< (S. 248—252), die Spee wahrscheinlich als Vorbild für seine Passionsbetrachtung in Kapitel III 34 des >Tugendbuchs< benutzt hat.103 In einem weiteren Abschnitt der Sammlung folgen die deutsche Übersetzung von Vesper und Komplet, das Magnificat, >Der Lobgesang Simeonis< und ein Allgemeines Gebet für die ganze Christenheit (S. 267—279). Gebete zu den Heiligen und zur Muttergottes teilt das nächste Kapitel des >Betbuchs< mit (S. 279—307). Die Berufung auf die Autorität »der vortrefflichen alten Kirchenlehrer, wie sie vor tausend Jahren ihre christliche Andacht zu Gott und Gottes Heiligen gehabt und zum Exempel uns in ihren Schriften hinterlassen haben« (S. 524), hat apologetische Funktion in Bezug auf die Heiligenverehrung der katholischen Kirche. Weiterhin findet der Leser eine Gruppe von precationes »um Vergebung der Sünden, auch in Trübsal und Leiden zu sprechen« (S. 307—326); dazu zählen die sieben Bußpsalmen >wider die sieben TodsündenUnterricht von dem hochwürdigen Sakrament des Altars< (S. 389-409); zahlreiche Gebete, die vor und nach dem Empfang der Eucharistie zu sprechen sind (S. 389-425), ergänzen die Kommunionunterweisung. Ein Anhang bietet eine ausführliche Meßerklärung (S. 433—460), drei Litaneien (S. 461—480), eine illustrierte Kreuzwegandacht (S. 481—516) und eine Übersetzung des >Stabat Mater< (S. 517 f.). Neben den Gebeten zum täglichen Gebrauch räumt der Verfasser vor allem der Meßfeier, der Beicht und dem Altarsakrament breiten Raum ein. Canisius legt besonderen Wert auf das Verständnis der kirchlichen Zeremonien, das für 102
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Vgl. hierzu G T B Kap. III32: »Noch eine andere weiß zur H . Communion: vnd seind werck der dreyen Göttlichen Tugenden, des Glaubens, Hoffnung, vnd der liebe« (514,2 f.); wörtliche Anklänge an den Kanisischen Text lassen sich hier jedoch nicht feststellen. S.o. Abschnitt4.4.
die andächtige Teilnahme am Gottesdienst und für den Empfang der Sakramente notwendig ist. Daher treten auch im zweiten Teil seines Werks die belehrenden Elemente deutlich hervor. Die Meßerklärung des Anhangs, Beicht- und Kommunionunterricht ergänzen die fünf katechetischen Hauptstücke des ersten Teils. Die starke Akzentuierung von Beicht, Messe und Eucharistie im Vergleich zur früheren Gebetsliteratur, vor allem aber die Verbindung von religiöser Unterweisung und Gebet, wird wegweisend für das erbauliche Schrifttum der Folgezeit. 104 Auch im >Tugendbuch< nimmt die religiöse Belehrung einen bedeutenden Raum ein. Spee bemüht sich, sein Werk auf ein festes Glaubensfundament zu stellen. Zu diesem Zweck rekapituliert er in Kapitel I I das Tridentinische Glaubensbekenntnis 105 und verpflichtet seine >geistliche Tochter< durch einen feierlichen »Eyd-schwur« (39,20) auf die Dogmen der katholischen Kirche. An vielen weiteren Stellen seines Andachtsbuches läßt der Seelsorger in zwangloser Weise belehrende Passagen in den Text der Tugendübungen einfließen, indem er seinem Beichtkind ζ. B. die Bedingungen der Rechtfertigung, die Verdienstlichkeit guter Werke oder die Bedeutung der Sakramente erklärt, wenn im Kontext der jeweiligen Andacht Erläuterungen angebracht erscheinen. Wie Canisius und andere zeitgenössische Autoren nimmt auch Spee einen ausführlichen Meßunterricht in sein Erbauungsbuch auf und will den Frommen zum würdigen Empfang der Kommunion anleiten. Das erzieherische Anliegen, das ein Grundmotiv des >Tugendbuchs< ausmacht, dürfte wohl wesentlich vom prägenden Einfluß der Jesuitenkatechese und des Kanisischen Christenlehrwerks geformt sein; hier fand Spee das anerkannte, praktisch erprobte Modell einer religiösen Laienunterweisung, an das er anknüpfen wollte. Allerdings erfährt die didaktische Konzeption dieses Vorbildes in den Speeschen Andachten unübersehbare Wandlungen. Während Canisius bei seinen Hörern und Lesern zunächst die größten Wissenslücken schließen und den ärgsten Glaubensnotstand beheben mußte, kann Spee bereits auf die Vorarbeiten seines Ordensbruders aufbauen und neue Aufgabenfelder in Angriff nehmen. Der Kanisische Katechismus bietet seinem Benutzer ein Kompendium religiöser Lehrsätze, das im >Betbuch< durch eine wohlgeordnete Auswahl von Gebeten ergänzt wird und damit eine ausreichende Basis des Glaubenslebens darstellt. Spee kann sich dagegen nicht mehr damit begnügen, seinem Leser ein Grundwissen in Glaubensdingen zu vermitteln; vielmehr scheint er ein solches bereits vorauszusetzen. Er will über das Fundament des Katechismuswissens hinaus den Benutzer des >Tugendbuchs< zu einer wahrhaft christlichen Lebensgestaltung erziehen und ihn bei seinem Streben nach spiritueller Vervollkommnung unterstützen. Anders als Cani-
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Schrott, Gebetbuch (1937), S.248. Vgl. hierzu Oorschots Anmerkung im Kommentarteil des G T B (1968), S. 586.
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sius, der seinen Leser lehrte, was er glauben und was er beten sollte, zeigt das >Tugendbuch< dem Gläubigen, wie er beten und wie er sich um christliche Vollkommenheit bemühen soll. Dieser Akzentverschiebung entsprechend gilt Spees Aufmerksamkeit besonders der methodischen Unterweisung im betrachtenden Gebet und der Anleitung zu praktischen Übungen der drei göttlichen Tugenden. Das >Tugendbuch< führt den Erziehungsgedanken, den Petrus Canisius rund 70 Jahre zuvor in der Gebetsliteratur heimisch gemacht hatte, mit dem systematisch perfektionierten und verfeinerten Instrumentarium seines an den ignatianischen >Exerzitien< geschulten geistlichen Übungsprogramms fort. Mit seiner gegenüber dem Kanisischen >Betbuch und Catechismus< veränderten, anspruchsvoller gewordenen pädagogischen Zielsetzung spiegelt Spees Andachtsbuch den Übergang von der >Katechismusfrömmigkeit< zur >ExerzitienfrömmigkeitTugendbuch< in einem begrenzten Teilbereich der Frömmigkeitsgeschichte einen Entwicklungsprozeß, der zu Beginn der Neuzeit nahezu alle Bereiche des Geisteslebens erfaßt.
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Näheres zu den von A.Schott geprägten Begriffen der >Katechismus-< und der >Exerzitienfrömmigkeit< findet sich bei Schrott, Gebetbuch (1937), S. 254 und ders., Reform (1951), S.350.
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7.
Weitere Quellen und Anregungen für das >Tugendbuch
Betbuch und Catechismus< entwickelte, muß wohl als typisches Produkt der damaligen religiösen Umbruchs- und Krisensituation aufgefaßt werden. In diesem Gebetbuch treten einerseits moderne religionspädagogische Bestrebungen zutage, die die Entwicklung der Folgezeit nachhaltig beeinflussen, zugleich schließt sich das Werk aber in Form und Inhalt eng an die ältere Gebetsliteratur an und verleiht so dem überlieferten Gebetsgut Kontinuität bis ins 17. und 18. Jahrhundert hinein.1 Die Geschichte des Laiengebetsbuchs, die mit dem >Betbuch< des Petrus Canisius in eine neue Phase eintritt, reicht zurück bis weit ins Mittelalter. Etwa seit dem 9. Jahrhundert entstanden >libelli precumHortulus animaears moriendiZur Geschichte der Gebetbücher< charakterisiert St. Beissel den Inhalt der >Hortuli< folgendermaßen: Fast alle enthalten nach dem Kalender das Offizium der Gottesmutter, Abschnitte aus den Evangelien, nämlich deren Anfänge oder den Text der Leidensgeschichte, die Bußpsalmen und die Allerheiligenlitanei, dann eine lange Reihe von kurzen Gebeten zu der heiligsten Dreifaltigkeit, den göttlichen Personen, Maria und den beliebtesten Heiligen, mit einer Antiphon, einem Versus und seiner Antwort, welche meist den liturgischen Büchern entnommen sind. Es folgen dem Missale entnommene Gebete für die vorzüglichsten Feste des Kirchenjahrs, das Totenoffizium und Sterbegebete. Den Stundenbüchern meist fremde, in die Hortuli aufgenommene Bestandteile sind Gebete beim Aufstehen und Schlafengehen, beim Verlassen des Hauses und beim Betreten der Kirche, dann längere, vielfach Kirchenvätern zugeschriebene Gebete mit Ablässen, Gebete beim Empfang der Sakramente der Buße und des Altars sowie beim Besuche der heiligen Messe, besonders nach der Wandlung. 7
Mit diesem vielseitigen und umfangreichen Stoffangebot, das ansatzweise auch schon belehrende Elemente umfaßt,8 bahnt sich in den >Seelengärtlein< bereits die Entwicklung eines modernen Gebetbuchtyps an, der sich durch eine Akzentuierung didaktischer Momente auszeichnet.9 Wie in den meisten Bereichen des religiösen Lebens setzen die Reformation und die Reformmaßnahmen der katholischen Kirche auch auf dem Gebiet der für erbauliche Zwecke bestimmten Literaturproduktion deutliche Zäsuren. Seit den 40er Jahren des 16. Jahrhunderts geben die Bemühungen des Konzils von Trient um eine Reorganisation des Katholizismus der Frömmigkeit neue Impulse. 10 Die katholischen Gebetbücher, die in der zweiten Jahrhunderthälfte entstehen, drängen zumeist die vorreformatorische Verehrung Marias und der Heiligen zurück und dämmen inflatorische AblaßVersprechungen ein; auch Litaneien, Offizien und ähnliche Andachtsformen treten für die nächsten 5 6 7
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Beissel (1909), S. 40f. u. 169. Schrott, Gebetbuch (1937), S. 4 f. Beissel (1909), S. 175 f. Läpple (1981), S. 72f. Schrott, Gebetbuch (1937), S. 2 f. u. 5. Schrott, Reform (1951), S. 356.
Jahrzehnte in den Hintergrund. Dagegen schließen sich derart >gereinigte< Gebetssammlungen stärker an die Bibel und an die Väterliteratur an, auf deren Autorität man sich oft mit wissenschaftlich exakten Quellenangaben beruft. 11 Auch wenn die katholischen Gebetbücher aus diesem Zeitraum bewußt und geradezu programmatisch die Kontinuität der kirchlichen Überlieferung betonen und altehrwürdige Formen des Gebets fortführen oder wiederbeleben, bahnen sich doch im Schutz eines legitimistischen Traditionalismus Neuerungen an, die für die Religiosität der Folgezeit von weitreichender Bedeutung sind. 12 Mehr als jemals zuvor übernimmt das Gebetbuch nun belehrende Funktionen; seine ausgeprägt dogmatischen Züge wollen zur Abwehr der protestantischen und zur Verteidigung der katholischen Lehre beitragen.13 Die nachtridentinischen Erbauungsbücher spiegeln die Reformbestrebungen des Konzils und dessen Einfluß auf die katholische Frömmigkeit wider.14 Wenn die Gebetbücher des ausgehenden 16.Jahrhunderts Meßerklärungen und -andachten, Beicht- und Kommunionunterweisungen einen bedeutenden Platz einräumen, so reagieren sie damit auf die Dekrete des Konzils, die den Symbolcharakter der Messe, das Verständnis von Beicht, Eucharistie und weitere umstrittene Punkte der kirchlichen Lehre verbindlich festlegten.15 Der Aufschwung der Sakramenten- und insbesondere der Kommunionfrömmigkeit in den Jahrzehnten nach dem Tridentinum regte die Entstehung zahlreicher Andachten und Gebete zu den entsprechenden Gegenständen der devotio an. Einfachere, populäre Gebetsformen wie Rosenkranz, Tagzeiten und Litaneien, die zu Beginn des Reformationszeitalters zurückgedrängt worden waren, gewinnen mit Beginn des 17. Jahrhunderts in der Andachtsliteratur wieder an Bedeutung. Die geistlichen Autoren des Frühbarock stützen sich stärker als ihre Vorläufer auf jüngere Quellen; besonders die Mystiker finden wieder mehr Beachtung.16 Insgesamt löst sich das volkssprachliche Laiengebet der nachtridentinischen Zeit von der vereinheitlichten lateinischen Liturgie und entwickelt eine große Vielfalt von Gebets- und Andachtsformen zum privaten Gebrauch. Die Gebetbücher wachsen zu voluminösen, immer stärker differenzierten Kompendien des geistlichen Lebens an.17 In zunehmendem Maß bestimmt die Ausrichtung auf verschiedene Adressatenkreise die Konzeption der Gebetssammlungen, bis im späteren 17. und im 18. Jahrhundert die Entstehung von 11
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Schrott, Gebetbuch (1937), S. 16, 19 u. 250 f. Ebd., S. 19. Schrott, Reform (1951), S. 350 f. Ebd., S. 350 f. Ebd., S. 351 - 3 5 6 . Schrott, Gebetbuch (1937), S. 251 f. Ebd., S. 228, 251 u. 255 f.
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Berufs- und Standesgebetbüchern den skizzierten Prozeß der Spezialisierung abschließt.18 Mit der neuzeitlichen Entfaltung einer individualistischen Frömmigkeit wandeln sich auch Selbstverständnis und Zielsetzung der Gebetbücher. Sie reihen nicht mehr wie ihre Vorgänger im Mittelalter in der Art einer Anthologie Gebete für verschiedene Anlässe und Feste aneinander, um dem Gläubigen angemessene Worte für sein Gespräch mit Gott zur Verfügung zu stellen; die typischen Vertreter der barocken Gebetsliteratur wollen stattdessen dem christlichen Leser eine systematische Anleitung zum gottgefälligen Leben geben. 19 Die Vermittlung religiöser Kenntnisse, deren Bedeutung schon Petrus Canisius erkannte und in seinem Katechismuswerk hervorhob, soll nun durch eine Einführung in die Methode des Gebets ergänzt werden, um dem Gläubigen den Weg zu einem vertieften Gebetsleben zu weisen.20 Diese Ansätze zur Entstehung einer neuen Spezies der geistlichen Gebrauchsliteratur werden vor allem von Autoren aus dem Jesuitenorden getragen.21 Sie veröffentlichen Handbücher, die Ordensmitgliedern, aber auch frommen Laien - oft handelt es sich dabei um Sodalen und Kongregationisten - bei ihren Bemühungen um spirituellen Fortschritt unterstützen. >ManualiaIndustriae< und >Tesauri< des geistlichen Lebens unterweisen ihre Benutzer künftig in verschiedenen aszetischen Praktiken und in der methodischen Betrachtung nach dem Vorbild der >Exercitia spiritualiaGeistlichen Ubungen< des Ignatius von Loyola eigen ist, 23 wurde von seinen Nachfolgern aufgenommen und an die zeitgenössische Gebetsliteratur weitergegeben, so daß das Exerzitienbuch auf diesem Wege zur Individualisierung der Frömmigkeit beitragen konnte. Im Unterschied zum älteren geistlichen Schrifttum erstreckt sich der didaktische Impetus der Jesuitengebetbücher auch auf die konkrete Lebensführung ihres Lesers. Während die mittelalterlichen Andachtsbücher den Christen auf das jenseitige Leben vorbereiten wollten, wendet die moderne Andachtsliteratur ihre Aufmerksamkeit auf die religiöse und sittliche Bewährung im Diesseits; von nun an wird das Streben nach christlicher Vollkommenheit auch für den Laien verbindlich.24 Zur gleichen Zeit, als der Gewerbefleiß städtischer Mittelschichten materiellen Wohlstand und ein erstarkendes bürgerliches Selbstbewußtsein zeitigte, entdeckte das fromme Individuum den 18 19 2
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Ebd., S. 220 u. 238. Ebd., S. 229. Ebd., S. 252. Althaus (1966), S. 89. Schrott, Gebetbuch (1937), S. 2 2 0 - 2 2 8 u. 253 f. A. Haas, Erklärung der »Geistlichen Übungen< (1981), S. 157. Schrott, Gebetbuch (1937), S. 228 f.
geistlichen FleißIndustriae< und >ManualiaGeistlichen Übungen< unter verschiedenen Gesichtspunkten und mit unterschiedlichem Geschick aus. Oft vereinfachen sie das Verfahren der >Exercitia spiritualiaExerzitien< und bemüht sich, ihn in die tägliche Andacht, in die Gebetspraxis des einzelnen Christen zu überführen. Viele umfangreiche Erbauungsbücher stellen kaum mehr als eine Amplifikation der >Exerzitien< oder eine Übertragung der Exerzitienmethode auf ein breiteres Stoffangebot dar. Nicht selten sind derartige Erweiterungen mit einer Verflachung des ursprünglichen spirituellen Gehalts verbunden,27 doch erlangt das seelsorgerische Anliegen der >Exercitia spiritualia< in diesem Vermittlungsprozeß erstaunliche Breitenwirkung und weckt Kräfte der religiösen Erneuerung in weiten Kreisen der Bevölkerung.28 Ohne ausdrücklich auf das >Tugendbuch< Bezug zu nehmen, erläutert A. Schrott die Eigenart der katholischen Gebetbücher, die den Exerzitiengedanken in der nachtridentinischen Zeit aufnehmen: Letztes Ziel aller Übungen ist immer die >Reform< des Lebens. Darum ist soviel die Rede von der Tugendübung, das Gebetbuch will beten lehren, will im Glauben festigen, will aber insbesondere zur Tugend erziehen. 29
Diese Charakterisierung läßt das >Tugendbuch< geradezu als Exponenten der gegenreformatorischen Erbauungsliteratur erscheinen, die sich auf dem Boden einer >Exerzitienfrömmigkeit< entfaltet. Man kann vermuten, daß Spee schon durch die Wahl des Titels die moderne Konzeption seines Andachtsbuchs zur Geltung bringen wollte. Auch der Untertitel, der damaliger Gewohnheit folgend den Inhalt des >Tugendbuchs< präzisierend beschreibt 30 als »Werck vnd Übung [!] der dreyen Göttlichen Tugenden«, unterstreicht den fortschrittlichen, auf die christliche Praxis bezogenen Charakter des Werks und
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So verdeutscht der Ubersetzer des 1634 erschienenen >Enchiridion Industriarum< von Chr. Mayer den Titel der 1635 in Mainz veröffentlichten Ausgabe. - Vgl. de Backer/Sommervogel V (1960), Sp. 793 f. u. GTB S. 631 u. 648. Schrott, Gebetbuch (1937), S. 228 f. Iparraguirre, Historia (1973), S. 1 1 0 - 1 1 3 u. 476. M.Schneider (1983), S.23.
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Schrott, Gebetbuch (1937), S. 254. Donat (I960), S. 163 u. 167f.
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läßt durch seinen Anklang an den Titel der >Geistlichen Übungen< die Nähe zum Vorbild der >Exerzitien< erkennen. Spees geistliches Übungsbuch hat teil an einem komplexen historischen Entwicklungsprozeß, wie ein Blick auf die oben skizzierten generellen Tendenzen der Erbauungsliteratur im 16. und 17. Jahrhundert zeigt. Wie in anderen Andachtsbüchern derselben Entstehungszeit lassen sich auch im >Tugendbuch< die Wesensmerkmale nachtridentinischer Frömmigkeit nachweisen, als deren konstituierende Kennzeichen A. Schrott einen ausgeprägt lehrhaften, ja dogmatischen Grundzug, die praktische, sittliche Ausrichtung und die ^liturgisches gegenüber früheren Zeiten persönlichere Form genannt hat. 31 Das >Tugendbuch< bietet seinem theologisch nicht oder nur wenig vorgebildeten Benutzer eine hilfreiche Anleitung für den spirituellen Fortschritt; das wichtigste Hilfsmittel der Erziehung zu einer christlichen Lebenshaltung im Zeichen der göttlichen Tugenden erblickt Spee im (betrachtenden) Gebet. Daher legt er, in Ubereinstimmung mit zahlreichen anderen am ignatianischen Andachtsmodell geschulten Autoren, 32 gerade auf die methodische Unterweisung des Gläubigen in der oratio mentalis bzw. in deren Vor- und Ersatzformen großen Wert. Seine differenzierte, durchdachte Lehrmethode, die Ausrichtung der Tugendübungen auf einen speziellen Adressatenkreis und die Betonung der privaten Andacht, die um das Motiv der Seelenbrautschaft zentriert ist, weisen Spees Werk als Wegbereiter einer modernen Frömmigkeit aus. Als weiteres für die Erbauungsliteratur des 17. Jahrhunderts typisches Moment verdient Spees Art und Weise der Quellenbenutzung Beachtung. Ähnlich wie schon Canisius in seinem >Betbuch< betont auch Spee die Bindung seines Werks an die Lehrtradition der katholischen Kirche, indem er sich auf allgemein anerkannte Gewährsmänner beruft. So nennt der Verfasser des >Tugendbuchs< in seinen Quellenangaben eine imposante Reihe von Kirchenvätern und zahlreiche weitere theologische Autoritäten von hohem Rang, auch wenn er diese nicht alle selbst gelesen hat, sondern seine Kenntnisse aus neueren wissenschaftlichen Kompendien bezieht. 33 Daneben erwähnt Spee allerdings auch häufig zeitgenössische Autoren, die für einzelne Kapitel seines Andachtsbuchs Anregungen lieferten. Im folgenden sollen einige dieser Werke, die Spee in unterschiedlichem Maße beeinflußten, vorgestellt und ihre Bedeutung als Quelle des >Tugendbuchs< im einzelnen untersucht werden. Eine Betrachtung des Speeschen Werks im Kontext des gleichzeitig oder wenige Jahre zuvor erschienenen geistlichen Schrifttums dürfte nicht nur Konstanten der frühbarocken Erbauungsliteratur aufzeigen, sondern auch
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Schrott, Reform (1951), S. 49 f. Schrott, Gebetbuch (1937), S. 228. Oorschot, Abhandlung (1968), S. 9 8 - 1 0 0 .
inhaltliche und formale Eigenheiten des >Tugendbuchs< sichtbar machen und die Arbeitsweise seines Autors - zumindest partiell - erhellen.
7.2. Spees Vorbilder aus dem Jesuitenorden 7.2.1. Claudio Aquavivas >Industriae< Eines der ersten von Jesuiten verfaßten Werke, das die Bezeichnung >Industriae< trägt, ist eine kleine Schrift des Ordensgenerals Claudio Aquaviva (1542-1615) 34 mit dem Titel >INDVSTRIAE pro Superioribus ejusdem Societatis ad curandos animae morbos«. 35 In achtzehn Kapiteln bespricht der Verfasser die wichtigsten geistlichen Probleme, die im Ordensleben auftreten können, und nennt die Mittel, die den Oberen der Gemeinschaft zur Verfügung stehen, um schwerwiegende Fehlentwicklungen im spirituellen Leben zu vermeiden oder frühzeitig zu beheben. Die beiden ersten Kapitel erörtern zunächst die persönlichen Eigenschaften, die Männer in leitenden Positionen des Ordens mitbringen müssen. Danach analysiert Aquaviva in den folgenden Kapiteln die >morbi animaeSeelenärzten< der Ordensgemeinschaft behandelt werden müssen (S. 11). Im einzelnen beschäftigen sich die >Industriae< mit dem Problem der Zerstreuung und der >Trockenheit< beim Gebet (Kap. 3 und 6), mit dem Übel erlahmenden geistlichen Eifers (Kap. 4), mit den Gefahren des Ehrgeizes, der Selbst- und Weltliebe (Kap. 7 und 15), mit sinnlichen Neigungen als Quelle der Versuchung (Kap. 8), mit Hypochondrie, Melancholie und übertriebenen Skrupeln (Kap. 12 und 18) sowie mit einer Reihe von Konflikten, die in Bezug auf Gehorsam und Disziplin auftreten können (Kap. 5, 10 f., 13 f. und 16 f.). Der Verfasser beschreibt nacheinander die Symptome, mögliche Ursachen und Heilmittel der einzelnen Übel. Die sorgfältige Diagnose und erfolgreiche Behandlung erfordern den Geist der discretio (S. 16). Ein guter Arzt muß bei der Wahl und Dosierung der remedia Charakter, Seelen- und Geistesverfassung des Patienten berücksichtigen.36 34
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Biographische und bibliographische Angaben bei de Backer/Sommervogel I (1960), Sp. 4 8 0 - 4 9 1 u. Dudon (1937), Sp. 829-834. Zuerst 1600. Von mir wurde die 2. Aufl., Antwerpen 1635, hg. v. Bernard de Angelis, eingesehen; nach dieser Ausgabe wird im folgenden zitiert. - Vgl. zu Aquavivas Werk Schrott, Gebetbuch (1937), S. 220 f., Anm. 32. »perpendat diligenter qualitatem morbi, corporis complexionem, & [ . . . ] conspersionem, id est, an sanguineus & hilaris, an melancholicus & tristis, an cholericus & praeceps, an lentus sit & remissus. Deinde tempus, quo duravit infirmus: tum quae remedia fuerint applicata« (S. 19). 183
Neben der inneren Erneuerung durch die >Exerzitien< (z.B. S. 74, 86 u.ö.) und neben speziellen Gebetsübungen und aszetischen Praktiken, die nach dem Grundsatz contraria contrariis curantTugendbuch< - die Lektüre von Heiligenviten empfohlen, die dem Gläubigen als Vorbild dienen können (S. 44, 46 und 103). 38 Spee bezieht sich in seinen Tugendübungen zwar nicht explizit auf Aquavivas kurzen Ratgeber des geistlichen Lebens, doch war er offensichtlich mit den Praktiken, die die >Industriae< zur Förderung des spirituellen Fortschritts lehren, gründlich vertraut. So lehrt das >Tugendbuch< z.B. dieselben Andachtstechniken, die Aquaviva in Kapitel 3 seines Werks dem Ordensmann empfiehlt, dem »ex naturali [ . . . ] naturae instabilitate« (S. 30 f.) Sammlung und Konzentration im Gebet schwerfallen. Um die Gefahr der Zerstreuung zu vermeiden, soll der von solchen Übeln Betroffene mit Geduld und Ausdauer seine Andachtsübungen fortsetzen (S. 31); zusätzlich empfiehlt ihm Aquaviva häufige Stoßgebete, Bitten um ein geistliches Almosen von Gott und den Heiligen, 39 kurze geistliche Lesungen und die meditatio des Leidens Christi: animandus erit ad tolerantiam, ut magna longanimitate, & constanti studio virtutibus incumbat veris solidisque [ . . . ] & curet in via Divini servitii progressum facere: suppleat frequentioribus & ferventioribus jaculatoriis, paupertatem suam spirituali quadam mendicitate [ . . . ] piissimo Patri, & Deo, Sanctisque omnibus commendans. Lectione sacra non fusa, & longiore utatur, sed brevi, & meditatione atque attentione Domini, gratias agendo, petendo, Proponendo cum confusione imitationem, offerendo illa pro se aeterno Patri: in qua Passionis meditatione ne pie & perseveranter pulsaverit, inveniet proculdubio maximam lucem pro intellectu, & solidam stabilitatem pro intellectu (S. 31).
Im >Tugendbuch< bereitet Spee die einfachen Andachtsübungen, die sich in der Praxis des Ordenslebens an Stelle oder als Vorbereitung der oratio mentalis40 bereits bewährt hatten, für den Gebrauch frommer Laien auf. Er erklärt dem ungeübten Gläubigen die einzelnen Gebetspraktiken, wie Stoßgebete, pia lectio, Bitten um ein geistliches Almosen oder die Betrachtung der Passion und
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Dudon (1937), Sp. 832. Vgl. G T B S. 504, Nr. 44. Näheres zu dieser Übung bei Lercaro (1959), S. 252. Zu den sog. stellvertretenden Betrachtungsformen im einzelnen Lercaro (1959), S. 2 4 8 - 2 6 2 .
zeigt verschiedene Anwendungsmöglichkeiten und Variationen der einzelnen Übungen sorgsam auf. 41 Mit seinen vielfältigen Bemühungen, seine >geistliche Tochter< zu einem vertieften, methodisch fundierten Gebetsleben zu erziehen, leistet Spee einen wichtigen Beitrag zur Ausbildung einer Laienspiritualität, 42 die in ihren Grundzügen auf der Spiritualität des Jesuitenordens basiert, diese jedoch den Anforderungen eines Lebens in der Welt entsprechend vereinfacht und modifiziert und damit auch dem durchschnittlichen Christen einen Weg zur Selbstheiligung außerhalb des Klosterlebens eröffnet.
7.2.2.
Christian Mayers Handbuch des geistlichen Lebens
7.2.2.1. Der Exerzitiengedanke im >Enchiridion Industriarum< Zu den zahlreichen Nachfolgern der >Industriae< Aquavivas zählt das »Enchiridion Industriarum< des Jesuiten Christian Mayer (1584—1634),43 das 1634 in Köln erschien.44 Im Untertitel charakterisiert der Verfasser den Inhalt seines Buchs als »praecipuas vitae piae ac religiosae exercitationes, quae quolibet die occurrunt, perfecte obeundi. Omnibus Christianae perfectionis studiosis accomodatum.« In der Düsseldorfer >TugendbuchExerzitien< - in Christian Mayers »Enchiridion^ 45 Da dieses Werk ein Jahr vor Spees Tod gedruckt wurde, hat er es möglicherweise gekannt und bei der Ausarbeitung des >Tugendbuchs< als Quelle benutzt. Christian Mayer war Novizenmeister in Köln und Trier; 46 sein Handbuch für das religiöse Leben erschien mit Unterstützung des Hermann Mylius, 41
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S. o. Abschnitt 1.4, 2.2 und 4. - Die Bitte um ein geistliches Almosen wird von Spee nur am Rande erwähnt; vgl. 497,31 —34: »halte Christo dem Herren in aller demuth für deine gebrechlichkeiten, oder was du sonsten für ein anligens hast, daß dich beschweret; halte es ihme aber für, gleich wie die arme bettelkinder pflegen, [...]« und ähnlich 513,23—25: »bitte mit nidergeschlagenen äugen gantz instendiglich wie die bettler pflegen; daß er sich deiner erbarme [...]«. Oorschot, Frömmigkeit (1984), S. 169. Biographische und bibliographische Angaben bei de Backer/Sommervogel V (1960), Sp. 793 f. Schrott, Gebetbuch (1937), S. 2 2 4 - 2 2 6 mit Inhaltsübersicht. - Zitiert wird im weiteren Text nach der Ausgabe Köln 1643. Oorschot im Kommentarteil des GTB (1968), S.631 u. 648. - Die entsprechende Übung findet sich bei Mayer, Teil I, Kap. 11, S. 2 4 0 - 2 4 8 . De Backer/Sommervogel V (1960), Sp. 793.
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dessen beide Söhne der Jesuitenpater im Noviziat betreut hatte.47 Mayers >Enchiridion< ist das Resultat der Erfahrungen, die der Verfasser bei der Ausbildung des Ordensnachwuchses sammeln konnte. Das Buch wendet sich an Ordensleute, aber auch an alle anderen Christen, die sich um religiöse und sittliche Vervollkommnung bemühen.44 Der Autor möchte für den andächtigen Leser ein handliches Lehrbuch zusammenstellen, das dem Frommen als Leitfaden zur vita perfectionis dienen kann. 49 Als Ertrag seiner seelsorgerlichen und schriftstellerischen Arbeit legt Mayer ein immerhin 824 OktavSeiten starkes >opusculum< vor, das aszetische und moraltheologische Unterweisungen, Gebete und Betrachtungsstoff mit den notwendigen methodischen Instruktionen enthält. Das >Enchiridion< bietet dem Leser eine »systematische Anleitung, die auf alle religiösen Übungen, aber auch auf alle übrigen menschlichen Handlungen Bezug nimmt.« 50 Mayer gliedert sein Buch in zwei Teile, von denen der erste in 26 Kapiteln Übungen zum täglichen Gebrauch vorstellt, während der neun Kapitel umfassende zweite Teil den Benutzer mit Andachtsübungen bekannt macht, die wöchentlich, monatlich oder jährlich absolviert werden sollen.51 Zu Beginn seines Andachtsbuches gibt der Autor allgemeine Anweisungen, wie geistliche Übungen jeglicher Art und wie die Werke des religiösen Lebens planvoll und mit Gewinn durchzuführen sind. Wie Spee betont Mayer, daß seine Übungen einen aufmerksamen Leser erfordern, dessen Aktivität sich allerdings nicht in der Lektüre erschöpfen darf, sondern zur praktischen Anwendung des Gelesenen übergehen muß. 52 Ständige Übung und Gewöhnung sind nötig, um einen habitus der Tugend zu erwerben.53 Genaue Erklärungen zu den einzelnen >industriae< und die wiederholte Beschäftigung mit demselben Stoff sollen dem Übenden helfen, mit dem Gegenstand seiner Andacht ganz vertraut zu werden und ihn sich fest einzuprägen.54 Vgl. die 2. Seite der von Mylius beigesteuerten Vorrede. - Dazu auch Schrott, Gebetbuch (1937), S. 224. 48 Vorrede des Verfassers, fol. 8V. 4' Ebd., fol. 6V. so Schrott, Gebetbuch (1937), S. 225. 51 Vorrede des Verfassers, fol. 5V. 52 »attentam lectionem, promptamque voluntatem, sed strenuam etiam diuturnamque exercitationem requirunt / consultum erit non multas simul, nec cursim percurrere, sed nunc has, nunc illas, quibus magis egere deprehendis, tractim legere & relegere, lectas accurate expendere, expensasque serio conari eodem tempore non solum memoriae imprimere, sed insuper in praxin redigere« (Vorrede, fol. 7 r ). 53 Vorrede, fol. 8 r . 54 »Atque haec omnia eo consilio, vt facilius memoriae retineri, expeditius ab omnibus capi, & solidius possint exerceri. Vnde necessum fuit, saepiüs eadem eodem pene modo in simili materia repeti, ne quid ad pleniorum cuiusuis lectoris pij, non rerum nouarum & admirandarum cupidi, sed profectus spiritualis auidi instructionem pertinens viderer omisisse: Non enim intendo in hoc pio Enchiridio pascere & 47
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Jede fromme Übung wird eingerahmt von >praeludiaincitamenta< oder >stimuli< vor, die dazu geeignet sind, die rechte Intention und andächtige Affekte des Beters von Zeit zu Zeit zu erneuern (S. 14). U.a. empfiehlt er zu diesem Zweck die Betrachtung und Lektüre von Heiligenleben, deren erbaulichen Wert auch Spee schätzt.55 Wie diese allgemeine Unterweisung Mayers bereits deutlich macht, lehnt sich das >Enchiridion< eng an die ignatianischen >Exerzitien< an, deren Methode der Verfasser so umgestaltet, daß sie auf jede Betätigung des religiösen Lebens angewandt werden können. In den nachfolgenden Kapiteln überträgt Mayer die »industriae generales« (S. 24), die er im ersten Abschnitt seines Buchs erklärte, auf die speziellen Übungen und Werke der Frömmigkeit. Kapitel 2 lehrt den Leser, wie ein frommer Mensch morgens aufstehen und Andacht halten soll. Das nächste Kapitel hat die Verehrung des Altarsakraments zum Gegenstand. Eine längere Passage (Kap. 4—9) unterrichtet den Gläubigen in den verschiedenen Formen des betrachtenden Gebets, deren Charakteristika, Bedingungen, Ziel, mögliche Hindernisse und die Mittel zur Affektlenkung im Gebet. Kapitel 11 erläutert in Anlehnung an die drei Weisen zu beten, die Ignatius im Anhang des Exerzitienbuches anführt, das mündliche Gebet; eine Unterweisung über das Beten des Breviers und anderer mündlicher Gebete (z.B. Rosenkranz und Litaneien) schließt sich an (Kap. 12f.). Danach beschäftigen sich Kapitel 14—18 mit der Vorbereitung und mit der andächtigen Feier der Messe. Auch die Lektüre frommer Bücher (Kap. 19),
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delectare curiosos lectores, sed instruere & inflammare vere pietatis cultores« (Vorrede, fol. 6 r - 6 v ) . »Exemplum Sanctorum triumphantium [ . . . ] tepiditatem tuam suo feruore in tali opere peragendo confundentium. Ad aemulationem sui in cooperando diuinae gratiae, quam tibi quoque similem offert Deus, te prouocantium« (S. 14).
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eine Abhandlung über Bußübungen und über Werke der Barmherzigkeit (Kap. 21) sowie Regeln für eine erbauliche, gottgefällige Gestaltung der Freizeit (Kap. 22 f.) werden berücksichtigt. Anleitungen zur Gewissenserforschung (Kap. 24 f.) und Empfehlungen für abendliche Gebetsübungen (Kap. 26) beschließen den ersten Teil der industriae. Im Anschluß an die Andachtsübungen des ersten Teils, die den Alltag eines Christenmenschen begleiten sollen, beginnt der zweite Teil des >Enchiridion< mit einem ausführlichen Unterricht über die rechte Art zu beichten und Beicht zu hören (Kap. 1 —4). Einen weiteren Abschnitt widmet der Verfasser der Anleitung zu wöchentlich, monatlich oder jährlich zu haltenden Zeiten der inneren Einkehr (Kap. 6 und 9). Außerdem sammelt er verschiedene Übungen, die der Pflege der Tugenden und dem geistlichen Fortschritt dienen (Kap. 7f.). Mayers Handbuch stellt einen erschöpfenden Lehrgang des geistlichen Lebens dar. Der Autor unterteilt die meisten Abschnitte seines Werks in Übungen von verschiedenen Schwierigkeitsgraden, die teils für Anfänger und teils für Fortgeschrittene bestimmt sind. Zuweilen legt Mayer seinen industriae die traditionelle Einteilung des geistlichen Lebens in die drei Phasen der via purgativa, illuminativa und unitiva zugrunde; 56 andere Kapitel bieten zu demselben Andachtsgegenstand kurzgefaßte und ausführlichere Übungstexte, unter denen der Leser je nach Disposition und Neigung wählen kann (S. 766—824). 57 In seiner Vorbemerkung zu den Betrachtungen des zweiten Teils der industriae erklärt Mayer, die ausführlich ausgearbeiteten Betrachtungen seien für jene Gläubigen geeignet, die noch wenig Erfahrung im mentalen Gebet haben; dagegen genügen dem versierteren Beter knappe, stichwortartige Faktengerüste, um ausgedehnte Andachtsübungen durchzuführen (S. 679 f.). Ähnlich hält es auch Spee für notwendig, dem ungeübten Leser durch sorgfältige Aufbereitung des Betrachtungsstoffs, die sich auch auf die sprachliche und stilistische Ausarbeitung des Übungstextes erstreckt, den Eintritt in die vita spiritualis zu erleichtern; jeder Gläubige soll dabei seinen persönlichen Fähigkeiten entsprechend gefördert werden. Beide Autoren, Spee und Mayer, erstellen auf der Basis der ignatianischen Andachtsmethode ein differenziertes, umfangreiches Übungsprogramm, das den Leser in die Technik des betrachtenden Gebets einführt und ihn zu kontinuierlichem Fortschritt auf dem Weg zur christlichen Vollkommenheit anleiten will. Verdeutlichende Amplifikationen des ignatianischen Vorbildes, die auf einen speziellen Adressatenkreis abgestimmt sind, eine klare seelsor* 57
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Z . B . S . 2 1 7 - 2 2 3 , 6 1 2 - 6 1 9 u. 679. »DEinceps tradentur variae meditationes [ . . . ] in singulos octiduani secessus dies distributae: Quam primae prolixiores sunt, minus in ratione meditandi versati conuenientiores: alterae mediocres: postremae breuiores, peritioribus congruentiores.«
gerliche und pädagogische Zielsetzung, große, zuweilen wuchernde Stoffülle und die Nähe zur praxis pietatis zeichnen die Erbauungsbücher beider Jesuiten aus. Die allgemeinen Parallelen in der Konzeption beider Werke machen deutlich, daß das >Tugendbuch< den von Jesuiten verfaßten >Industriae< und >Manualia< nahesteht. Es wäre durchaus denkbar, daß beide Autoren unabhängig voneinander die >Geistlichen Übungen< ihres Ordensgründers bearbeiteten und aufgrund der allen Jesuiten gemeinsamen methodisch-didaktischen Schulung am Vorbild der >Exercitia spiritualia< zu ähnlichen Ergebnissen gelangt sind. Allerdings weist Spees Meßunterricht im dritten Teil des >Tugendbuchs< einige z.T. fast wörtliche Ubereinstimmungen mit den entsprechenden Passagen des >Enchiridion< auf, die auf eine engere Beziehung zwischen beiden Werken schließen lassen.
7.2.2.2. Mayers Meß- und Kommunionandachten und ihre Beziehung zu Spee Neben einer Anleitung für den Priester, wie er sich auf den Gottesdienst vorbereiten und andächtig die Messe zelebrieren soll (Kap. 1 4 - 1 6 ) , enthält der erste Teil des >Enchiridion< einen Meßunterricht für den Gläubigen, der mit innerer Sammlung dem Gottesdienst beiwohnen möchte. Diese Unterweisung umfaßt die beiden Kapitel >De praeparatione ad Missam deuote audiendam< (Kap. 17) und >De praxi deuote audiendi Missam< (Kap. 18). 58 Die Meßandacht in Kapitelle ist wiederum in drei Abschnitte untergliedert und besteht aus einem >Modus pie audiendi sacrum facilior< (§ 1), dem >Modus pie audiendi sacrum accuratior< (§2) und aus der >Praxis spiritualis communionis, quae etiam sacramentali potest accomodari< (§3). Eine ausführliche Anleitung für den Empfang der Kommunion findet sich ferner im zweiten Teil des >Enchiridion< in Kapitel 5 (>De industrijs deuote communicandiEnchiridion< eine anspruchsvollere Meßandacht, die sich enger an den Ablauf des sakralen Geschehens anschließt und zur intensiven Betrachtung der Heilsmysterien anleitet (S. 378 und 384—390). Beide Formen der Andacht erfordern 58
Ahnlich geht auch im G T B der Anleitung »Wie man dem ampt der H . Meß andächtig beywohnen könne« ( 4 8 3 , 1 6 f.; Kap. III 29) ein Kapitel voraus, das eigens der Vorbereitung auf die Messe gewidmet ist (vgl. 4 8 0 , 7 f.).
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eine sorgfältige Vorbereitung und die innere Sammlung des Übenden. Mayer legt großen W e r t darauf, daß der Gläubige vor dem Besuch der Messe die >pia intentio< seiner Teilnahme am Gottesdienst erneuert; mündliche und betrachtende Gebete sind mit der gebührenden Anteilnahme und mit frommen Affekten zu verrichten (S. 379). Spee verzichtet zwar darauf, zwei Meßandachten zur Auswahl zu stellen, doch merkt er in der Einleitung zu Kapitel III 29 des >Tugendbuchs< einschränkend an, die nachfolgenden Betrachtungen seien »nur für die jenige« bestimmt, »so einer guten discretion seind« ( 3 8 4 , 5 f . ) , entsprechen also ungefähr dem Mayerschen >modus accuratiorTugendbuchs< eine »Vbung der gegenwart Gottes« (443,16) vor. »Dise Vbung bestehet in dem, daß man zimlich offt gar an Gott gedencke« (443,18 f.), erklärt der Verfasser. Um dieses Ziel zu erreichen, lehrt Spee seine >geistliche TochterVergiß Gott nicht / Das ist: Kurtzer bericht wie ein fromer Christ / Gott allzeit m6g gegenwertig anschawen. Durch Den Ehrw. P. Franciscum Arias, der Societet IESV Priestern [.. .]Hortuli animaeFrüchteTugendbuchs< von großer Bedeutung sind. In den Kapiteln 8—10 stellt F. Arias eine Reihe von Stoßgebeten zusam65
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Kurze Darstellungen von Leben und Werk dieses Autors geben Guibert, Arias (1937), Sp. 844 f. und de Backer/Sommervogel I (1960), Sp. 540-549. Vorrede, 4. u. 5. S. (nicht paginiert). Vgl. S. 3: »wan er [sc. der Knecht Gottes] dise vbüg / mit Gottes beystand ins werck richte / werd sein will de GSttlichen so ähnlich seyn / daß er alle Tugendt nach gelegenheit / übe: vnd alle furfallede Laster nach notturft vermeiden m6ge.« Lercaro (1959), S. 141.
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men, die er dem mystischen Drei-Wege-Schema entsprechend der via purgativa, illuminativa und unitiva zuordnet. Danach lernt der Leser in den beiden letzten Kapiteln des kleinen Werks die Mittel kennen, mit deren Hilfe »wir dise Gnad / Gott alzeit vor äugen zuhaben / vberkommen mögen« (S. 85). Neben Gebeten um Gottes Gnade (S. 86 f.) empfiehlt F. Arias die tägliche Gewissenserforschung und den Gebrauch von »Merckzeichen« (S. 87), z.B. Tafeln mit biblischen Sprüchen oder bildliche Darstellungen des Lebens Jesu, die an gut sichtbarer Stelle an die Wand gehängt werden (S. 88—90). Auch »ein Fade oder Schnurlein / an den Arm oder Finger gebunde«, dient dem Gläubigen als Gedächtnisstütze, wie der Autor weiter darlegt. Dann so wir Denckring an Fingern tragen / die vns Weltlicher Geschafft erinneren / ists auch billich / dz wir etwas tragen / daß vns solche heilige / vnd vnserer Seelen bequeme Vbung zur gedechtnuß bring. Wir mögen vns auch ein Glockenzeichen zü Wecker setzen: wann wir zuuor bey vns beschliessen / so offt wir diese oder jene Glocken hSren / wSlle wir gedencken / es sey ein himmlischer Bott verhanden / der zu vns sag: Gedenck an Gott [ . . . ] Auff die weiß laßt jhm Gott wollgefallen / dz wir auch schlechte Zeichen gebrauchen / die vns ermundtern / vn an sein Gegenwart zu gedencken anmahnen vnd also jn anruffen / nach jm ein verlangen haben / in seiner Lieb angezundt /zu vollkommener haltung seiner Gebott ein Hertz fassen (S. 8 8 - 9 0 ) .
Die hier empfohlene Übung der Gegenwart Gottes basiert auf der theologischen Lehre von der göttlichen Omnipräsenz und auf der Vorstellung von der >Einwohnung< Gottes in der Seele, die sich im Stand der Gnade befindet.69 Die Wurzeln dieser Andachtsform lassen sich bis in die frühchristliche Zeit zurückverfolgen. Schon die Mönchsväter der ersten christlichen Jahrhunderte, die in die Wüste zogen, um Gott zu dienen, versuchten dem Ideal des immerwährenden Gebets möglichst nahezukommen.70 Aus der Erfahrung, daß es selbst dem frömmsten Anachoreten und dem ausdauerndsten Beter unmöglich ist, die neutestamentliche Forderung des >Betens ohne Unterlaßstatus orationisstatus orationis< erlangte vor allem die Lehre von der >mneme theoüGedenken Gottesmneme theoü< finden sich bei Philo von Alexandrien (1 .Jahrhundert n. Chr.), der stoische und aristotelische Theorien über die Funktion des » Ebd., S. 338. 70 Scherschel (1979), S.22. l.Thess. 5,17. - Vgl. Scherschel (1979), S. 21 f. 72 Scherschel (1979), S. 25 f. 73 Hausherr (1960), S. 156.
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Gedächtnisses aufnahm und weiterentwickelte. Er entdeckte das Gedächtnis, das nach antiker Auffassung die Aufgabe hat, die Phantasiebilder aufzubewahren und ihnen Bestand zu verleihen, als Instrument, um eine dauerhafte Gemeinschaft der Seele mit Gott herzustellen.74 Im 5. Jahrhundert empfahl Markus der Eremit, der Abt eines Klosters in Galatien, die göttlichen Heilstaten immer wieder zu bedenken und in die Seele aufzunehmen. Da die Gottvergessenheit der Ursprung aller Sünde ist, muß sich der Gläubige gegen Versuchungen und Anfechtungen wappnen, indem er unablässig an seinen Schöpfer und Heiland denkt. Wird die dankbare Erinnerung an die göttlichen Wohltaten beständig wachgehalten, dann durchdringt sie schließlich alles Tun des Menschen, macht seinen Willen dem Willen Gottes gleichförmig und zieht die Seele unwiderstehlich zu Gott hin.75 Etwa zur selben Zeit entwirft Diadochus von Photice eine Psychologie der >mneme theoüheilen< Zustand der Seele wiederherzustellen und den Einfluß des Bösen abzuwehren, soll der Fromme stets an Gott denken. Die häufige Anrufung des göttlichen Namens hilft ihm dabei und fördert das Wachstum des Gläubigen in der Caritas. Als besonders wirksames Mittel zur Verwirklichung der >mneme theoü< erwiesen sich das häufige Wiederholen von Gebetsformeln und kurze Gebetsrufe, die schon in der Bibel bezeugt sind 77 und als Urform der orationes iaculatoriae gelten können. Auch mehr als tausend Jahre später ist die Übung der >mneme theoümneme theoü< praktiziert und seinen Leser einlädt, mit Hilfe von >Gedenkzeichen< oder anderen sinnfälligen Signalen sein Denken auf Gott zu richten. Es ist bezeichnend für Spees religionspädagogisches Anliegen wie für seinen Traditionalismus, daß er auch in Passagen des >TugendbuchsmodischeTugend«
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Ebd., S. 157. Scherschel (1979), S. 28. - Vgl. P G 6 5 , 1 0 3 2 C und 1037B (>Ad Nicolauni praecepta animae salutariaTugendbuch< durch verschiedene Andachtspraktiken - durch systematische Schulung des Gedächtnisses und des Willens, durch den gezielten Einsatz von aspirationes und von Bildern der Einbildungskraft - die andächtige Seele in eine habituelle Gemeinschaft mit dem himmlischen sponsus führen und das Wachstum der Gottesliebe fördern.
7.2.4. Roberto Bellarmins >Ascensio mentis< Neben den Kommunion- und Meßandachten, die von der eucharistischen Präsenz Christi durchdrungen sind, und neben den Übungen der Gegenwart Gottes, die nach dem Vorbild des Jesuitenpaters F. Arias die Betätigung der rationalen, imaginativen und affektiven Seelenkräfte umfassen, findet der Benutzer des >Tugendbuchs< auch eine Reihe von Übungen, die ihn die Gegenwart des Schöpfers in den Geschöpfen wahrzunehmen lehren (besonders Kap. III 5—8). Ebenso wie in den Andachten, die dem Gläubigen durch willkürlich gewählte signa die Gegenwart Gottes zu Bewußtsein bringen, setzt Spee auch hier eine traditionsreiche Form des geistlichen exercitiums fort. Unter den frühen Theoretikern der >mneme theoü< vertraten Autoritäten wie Gregor von Nazianz und Basilius der Große die Auffassung, daß die Seele nicht durch die strikte Abkehr von den Kreaturen, sondern vielmehr durch die Betrachtung des Schöpfungswerks ihren Weg zu Gott findet.78 Allerdings mußte Spee nicht die griechischen Kirchenväter studieren, um Vorbilder für diese Art der Andacht zu finden. Auch die >Exercitia spiritualia< leiten den Retraitanten in der >contemplatio de amore< dazu an, zu »betrachten, wie Gott in den Geschöpfen wohnt, in den Elementen, indem er ihnen Dasein gibt«, 79 und dem ignatianischen Motto vom >Gott Suchen in allen Dingen< liegen analoge Vorstellungen von der quasi materiellen Gegenwart Gottes in der Schöpfung zugrunde. 80 Der italienische Jesuit Robert Bellarmin (1542—1590)81 stellt diesen Gedanken ins Zentrum seiner aszetischen Schrift >De ascensione mentis in Deum per scalas rerum creatarumMemoriale Christianae vitae< und im >Paradisvs precvm, ex R . P . F . Lvdovici Granatensis spiritvalibvs opvscvlis aliorumque sanctorum Patrum, & Illustrium cum veterum, tum recentium Scriptorum concinnatus [.. .]euphuistischen< Stil, in der praktisch-aszetischen Ausrichtung seiner Mystik und in der profunden Menschenkenntnis, die in seiner Methode der Meditation sichtbar wird. 105 Luis de Granadas >MemorialeBücher< eingeteilt und bietet auf rund 860 Seiten eine Summe all dessen, was zur Vervollkommnung des Gläubigen in der vita spiritualis beiträgt. 107 Von der inneren Umkehr führt dieses Werk seinen Leser über die verschiedenen Stufen des religiösen Lebens bis in die mystischen Bezirke des status perfectionis. Michael ab Isselt charakterisiert das Programm des >Memoriale< folgendermaßen: hominem, a primis Christianae disciplinae rudimentis incipies, per diuersos pietatis gradus ad culmen & fastigium huius vitae perfectionis, & ad finem atque beatitudinem, quae in hac via potest haberi, qua & illa coelestis excipit, inoffenso pede adducit, vt perfectum formet faciatque Christianü. 108
Ziel des Werks - und hierin erweist sich eine Affinität zur ignatianischen Spiritualität - ist die Erziehung des Lesers zum vollkommenen christlichen Leben durch die Unterweisung im Gebet und durch die Schulung des Willens.109 Eine größere Anzahl von orationes und meditationes, die der Verfasser in die einzelnen Kapitel des >Memoriale< aufgenommen hat, macht sein Handbuch zu einem praktischen Hilfsmittel für das Gebetsleben. Nach der Gegenüberstellung der Höllenstrafen und der himmlischen Seligkeit im ersten Buch belehren die beiden folgenden Abteilungen den Leser über den Gebrauch der kirchlichen Gnadenmittel Beicht (2. Buch) und Kommunion (3. Buch); die drei von Spee empfohlenen Gebete zur Erweckung der Reue sind Bestandteil des Beichtunterrichts im zweiten Buch (S. 88-101). Im vierten Buch sammelt der Verfasser Regeln für ein gottgefälliges Leben in der Nachfolge Christi. Buch 5 und 6 unterweisen den Gläubigen im mündlichen und im betrachtenden Gebet. Eine Abhandlung über den amor Divinus, den Inbegriff christlicher Vollkommenheit, beschließt die Unterweisung (7. Buch). Im Unterschied zum >MemorialeTrutznachtigall< als poetisches Gestaltungsmittel von großer Aussagekraft und nahezu unerschöpflichen Entwicklungsmöglichkeiten. 7.3.4.2. Die Formen des Laiengebets bei Muntzius Georg Muntzius bevorzugt in seinen beiden deutschsprachigen Erbauungsbüchern einen allegorischen Andachtstypus, der der Methode mittelalterlicher Bibelexegeten und insbesondere den allegorisch-assoziativen Bildkombinationen der bernhardinischen Passions- und Brautmystik verpflichtet ist. Der Dominikaner wendet das allegorische Deutungsverfahren auf eine Vielzahl von Gegenständen und Situationen an, die dadurch in einen signifikanten Bezug zur Passion und zur Erlösungstat Christi treten. So betrachtet der fromme Leser z.B. am Fest Mariae Lichtmeß in Anlehnung an Cant. 2,14 und 4,1 die »20. Eigenschafften einer Turteltauben«, 159 deren Aufzählung Anlaß zu Reflexionen über das geistliche Leben gibt. Auch eine längere Betrachtung über »Zehen Herbergen / wie ein jede heist / vnnd was fur ein Tafel vor jeder herauß hangt / in auff vnd absteigung des Myrrhenbergs Salomonis« 160 wurde von einem Motiv des Hohenliedes inspiriert (Cant. 4,6). Weitere Beispiele für dieses Andachtsverfahren finden sich u. a. in dem Abschnitt »[...] wie Jesus einer Seel offenbahret / das heilig Creutz sey ein Klosterlein«, 161 in der Unterweisung »Wie ein Mensch Geistlicher weiß sein Seel sol zieren mit Geitstlichen kleideren«162 oder in der Betrachtung »Was ein Christen mensch für ein Beth vnd Schlafkammer sol haben«. 163 In derartigen Gebetstexten veranschaulicht die allegorische Rahmensituation abstrakte Andachtsgegenstände durch sinnfällige Bilder und erleichtert so dem Leser das Verständnis komplexer theologischer und aszetischer Lehren. Des weiteren erfüllen die allegorischen Konstrukte im >Gilgenstock< und im >Berckwerck< die Aufgabe einer Gedächtnisstütze, die dem Betenden durch eine Serie von zusammengehörigen oder >gezählten< Konkreta hilft, sich die ι " >BerckwerckMerckpünctleinMerckpünctlein< durch einige elementare metrische Regeln für den Gebrauch der gebundenen Rede. Im Gedicht sind nur alternierende Versmaße zugelassen; Wort- und Versakzent müssen zusammenfallen (TN S. 11,22-12,44), 34 um >zierlich< und >lieblichTrutznachtigall< recht häufig sind, 39 war auf beiden Seiten nicht erwünscht. 40 Stellte das Luther31
Dyck, Ticht-kunst (1969), S. 84 u. 1 1 1 . T N S. 328, 18 f. (Straßburger Handschrift). Μ Lausberg (1973) §460 u. 4 6 3 - 5 2 7 . - Vgl. Schaub, Trutz-Nachtigall (1985), S. 123. Μ Rosenfeld, Stimme (1958), S. 215 f. 35 TN S. 1 1 , 3 ; 1 2 , 3 5 ; 3 2 8 , 1 6 u. 18. Schaub, Trutz-Nachtigall (1985), S. 123 f. 37 Szyrocky (1979), S. 119. 38 Schaub, Trutz-Nachtigall (1985), S. 125. 39 Oorschot, Nachwort zur TN (1985), S. 535 - 537. 40 Breuer, Literatur (1979), S. 56 u. 98.
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deutsch und die Opitzsche Poetik für die Dichter der protestantischen Territorien die verbindliche Grundlage ihres Werks dar, so erfüllte in den katholischen Gebieten die oberdeutsche Schriftsprache, die Sprache der Gegenreformation, eine analoge Abgrenzungsfunktion. 41 Im Gegensatz zur protestantischen Norm erlaubte das sogenannte oberdeutsche Literaturprogramm«42 dem Dichter freie Versfüllung, Synkopierung und die Apokope des >lutherischen< End-e sowie den Gebrauch von Fremdwörtern; Besonderheiten in der Syntax, der Semantik und im Lautstand geben dieser Sprache ihr eigentümliches, bei Vergleichen mit der sächsisch-meißnischen Literatursprache oft als altertümlich mißverstandenes Gepräge.43 Spees partielle Annäherung an die protestantische Sprache und Poetik mußte vielen Glaubensgenossen und besonders seinen Ordensbrüdern als bedenklicher Schritt in die Nähe des gegnerischen Lagers erscheinen. Ein solches Verdachtsmoment mußte um so schwerer wiegen, als Spee sich durch sein Eintreten gegen die unmenschliche Praxis der Hexenprozesse in der >Cautio Criminalis< zahlreiche Feinde gemacht hatte und seine Stellung im Orden daher bereits äußerst gefährdet war.44 Unter diesen Umständen konnte Spees unorthodoxe Weise, sprachliche Normen zu handhaben, die tatsächlich mehr als >nur< die Sprache reglementierten, dazu beitragen, daß das Mißtrauen gegen ihn, der ohnehin als unbequemer Außenseiter der Ordensgemeinschaft galt, noch weiter wuchs.45 Möglicherweise war sein fortschrittliches Dichtungsprogramm, das durch eine ausgesprochen maßvolle, konziliante Haltung konfessionelle Schranken zu überbrücken sucht, mit dafür verantwortlich, daß Spees poetisches Werk nicht mehr zu Lebzeiten, sondern erst vierzehn Jahre nach dem Tod des Dichters gedruckt wurde.46 8.1.2. Thematik und Aufbau Schon das Eingangsgedicht der >TrutznachtigallTrutznachtigall< an die Darbietungsformen an, die er für die Prosaandachten des >Tugendbuchs< verwendet hat. Viele Gedichte der >Trutznachtigall< erinnern an die >Seelendramen< des Exerzitienprozesses und können als versifizierte Übungen der affektiven Imagination aufgefaßt werden. Spees Liederbuch gliedert sich in drei größere zusammenhängende Gedichtgruppen. Der erste Hauptteil der >Trutznachtigall< (Nr. 2—19) hat den Weg des Menschen zu Gott zum Gegenstand. Er besteht aus einer Reihe von Sponsaliedern (Nr. 2—10) und aus einer heterogenen Gruppe von Gedichten (Nr. 12—19), in der Büß- und Trostlieder überwiegen. Das Lied Nr. 11 verbindet durch seine Hauptfigur, die liebende Büßerin Magdalena, beide Themenkreise. Dieser erste Teil des Liederbuchs schildert im Sponsazyklus die Sehnsucht der »gespons JESV« (2; 2) nach ihrem Geliebten und weist dem Leser in der zweiten Gedichtgruppe den Weg, wie er zum göttlichen Bräutigam gelangen kann: Mit der Liebe zu Gott als treibender Kraft kann der Gläubige nur über Buße (Nr. 12 und 15 f.), Gebet (Nr. 14), Bereitschaft zum Leiden (Nr. 17) und Absage an die nichtigen Freuden der Welt (Nr. 13 und 17) den ersehnten Seelenbräutigam finden. Zur Illustration dieses spirituellen Weges schließt der erste Hauptteil mit dem Beispiel des Jesuitenmissionars Franz Xavier (Nr. 19), den die Liebe zu Gott sogar übers Meer und in den Märtyrertod führte. Der zweite Hauptteil der Liedersammlung (Nr. 20-32) ist ganz dem Lob Gottes gewidmet. Er will eine »Anleitung zur erkandnuß vnd Liebe deß Schöpffers auß den Geschöpffen« (21,1—3) sein. Das Lob, zu dem hier in zuweilen euphorischer Stimmung aufgefordert wird, ist der Dank für das Schöpfungswerk und entspringt der Liebe zu dem, der es aus Liebe geschaffen hat, aber unsichtbar und unbegreifbar bleibt.48 Dieser doppelte Bezug zur Gottesliebe, der das ignatianische Grundmotiv der liebenden >Mitteilung von beiden Seiten her< anklingen läßt, ist wohl auch der Grund dafür, daß Spee die Laudes in die Mitte der >Trutznachtigall< piaziert hat, dorthin, wo der menschliche Weg nach >oben< und der göttliche Weg nach >unten< (dem der Schlußteil des Liederbuchs gewidmet ist) sich kreuzen. Als komplementäre, korrespondierende Bewegung zum >Aufstieg< der Seele im ersten Teil der >Trutznachtigall< zeigt der dritte Teil den (Leidens-) Weg, den Gott von Liebe getrieben zum Menschen hin beschreitet. Diese letzte Liedergruppe schildert die Menschwerdung Gottes von der Geburt Jesu bis zur Auferstehung mit der Passion als Schwerpunkt. Mit der symmetrischen Anordnung des Anfangs- und Schlußteils der >Trutznachtigall< ahmt Spee das dialogische Andachtsmodell nach, das den >Exercitia spiritualia< zugrunde liegt. Im Gliederungsschema dieses geistlichen Liederbuchs gewinnt die Struk-
48
Hankamer (1964), S. 165 u. 254.
236
tur des Exerzitiengeschehens, das im Wechselspiel von göttlichem >Ruf< und menschlicher >Antwort< fortschreitet, poetisch gesteigerten Ausdruck. Dabei ordnet Spee Eingang und Schluß der >Trutznachtigall< nach dem Prinzip des hysteron proteron einander zu, so daß die Aufmerksamkeit des Lesers Schritt für Schritt vom menschlichen >Echo< auf dessen göttliche Ursache, den >Ruf< des Seelenbräutigams und die Erlösungstat des Heilands, gelenkt wird. Der Charakter des Leben-Jesu-Zyklus (Nr. 33—51), der den Rezipienten zur andächtigen Anteilnahme an den Mysterien der Heilsgeschichte einlädt, wird von der Schäferverkleidung und zunehmender Verrätselung des Geschehens geprägt. Auf diese Weise werden dem Leser verschiedene Wesenszüge des Gottessohns vor Augen geführt; die andächtige Seele betrachtet Christus nacheinander als Jesuskind (Nr. 33—36), als Guten Hirten (Nr. 37), als verliebten Schäfer Daphnis (Nr. 40f., 44 f., 47f.) und als Schmerzensmann (Nr. 42 f. und 46); dabei lernt sie die Person ihres himmlischen Bräutigams, der sie zur Erwiderung seiner Liebe auffordert, immer besser kennen. Beim Fortschreiten durch die Gedichte der >Trutznachtigall< wird Spees poetisches Rätselspiel zusehends komplizierter durch die Einführung einer Rahmenhandlung (Nr. 39—41 und 45), »doppelte Verblümung«49 und durch eine Steigerung der Bildlichkeit 50 »mitt vnterschiedlichen Gleichnüssen« (48; 3 f.), bis es im Fronleichnamsgedicht Nr. 51 gipfelt. Dort löst der Dichter in der Erklärung der Eucharistie das >Rätsel< auf und verheißt der Gott liebenden Seele die unio sacramentalis, die gnadenhafte Selbstmitteilung des sponsus Christus in der Kommunion. Als gemeinsamen Hintergrund der verschiedenen Liedgruppen zeichnet Spee mit großer Sorgfalt eine durch und durch beseelte, idyllische Natur. In immer neuen Variationen kombiniert er die Elemente des locus amoenus:51 Lichter Wald52 oder einzelne Schatten spendende Bäume, deren Laub von einem angenehmen Lufthauch bewegt wird (1; 28—35,8; 29—36), eine blumengeschmückte Wiese (8; 86 f., 18; 23 f.), dazu ein murmelnder Bach oder ein kühlender Brunnen 53 laden zur Rast ein; bevölkert wird dieser liebliche Platz von Hirten mit ihren Herden (1; 68— 75) und von zwitschernden Vögeln. 54 Der Hinweis auf den »schöne[n] Frühling« (4; 13)55 unterstreicht den freundlichen Charakter dieses poetischen Ortes. Spee erweitert das traditionelle
« μ
Jacobsen (1954), S. 157. - Ζ. B. Nr. 47. Cysarz (1937), S. 32. 51 Rener, Arcadia (1974), S. 967 f. 52 Z.B. 1; 56—59, 4; 150, 8; 12 u. 86, 20; 8 und 49; 10. 53 Z.B. 8; 10—20; 17; 14f„ 18;28f. u. 32f., 50;66 - 73. * Z.B. 1; 12—21, 8 ; 6 - 8 u. 3 7 - 4 2 , 17; 12, 18;26f. u. 30f., 20; 1 0 - 2 6 , 21; 1 2 4 - 1 5 1 , 50; 2 6 - 2 9 . 55 Ähnlich auch Nr. 8; 3 f.: »Zum Anfang der Sommerzeit«; ferner 8; 85, 11; 16—23, 1 7 ; 6 - 2 9 , 1 8 ; 15f., 2 2 ; 6 u . ö .
237
Inventar des locus amoenus um die Morgenröte, 56 die wie der Frühling einen hoffnungsvollen Neubeginn signalisiert. Längere Überleitungen, die eines oder mehrere Gedichte umfassen können, schaffen fließende Übergänge zwischen den drei Teilen des Liederbuchs. 57 Gezielte Verklammerungen durch Vor- und Rückgriffe 58 und motivische Anklänge knüpfen ein ganzes N e t z von Querverbindungen. Motive, die zunächst nur eine untergeordnete Funktion erfüllen, kehren in einem späteren Gedicht als tragendes Element wieder, 59 während zuvor zentrale Motive an den Rand rücken. Auf diese Weise werden versteckte Beziehungen zwischen den verschiedenen Themenkreisen angelegt, die oft überraschende Analogien aufdecken; 60 bekannten Motiven wird eine neue Bedeutung abgewonnen, die zum vertieften Verständnis der dargestellten Gegenstände beiträgt. Die Beschränkung auf wenige Themenkreise, die das Liederbuch auf immer neuen Wegen durchschreitet und kunstvoll variiert, kommt seiner Verwendung in geistlichen Betrachtungen entgegen. Ähnlich wie die Wiederholungsübungen der >Exerzitien< trägt dieses Verfahren dazu bei, daß sich die evozierten Bilder dem sensus internus des Lesers tief und dauerhaft einprägen, und erleichtert damit dem Gläubigen den emotionalen Zugang zu den behandelten Themen. Diese Wirkung wird durch die Bildung von Gedichtpaaren nach formalen und inhaltlichen Gesichtspunkten unterstützt. So enthält die >Trutznachtigall< z.B. zwei Echogedichte, ( N r . 4 f . ) , zwei Trostgedichte (Nr. 9 f.), zwei Büß- (Nr. 15 f.) und zwei Trostlieder (Nr. 17 f.), zwei Laudes in Form von pastoralen Wettgesängen (Nr. 30 f.), zwei Lobgesänge mit Kehrreimen (Nr. 21 f.) und zwei Gleichnisgedichte (Nr. 48 f.). Hier wird der Leser zum Vergleichen und damit zur eingehenden Beschäftigung mit dem Stoff angeregt; zugleich liefern diese Gedichte Beispiele dichterischen Erfindungsreichtums. Spee erreicht durch verschiedene, sich gegenseitig ergänzende Techniken, daß die Themenbereiche, die er in der >Trutznachtigall< aufgreift, nicht beziehungslos neben- und nacheinander stehen, sondern sich gewissermaßen 56
Garber (1974), S. 103.-Zur Morgenröte in den Natureingängen der TN (Nr. 1—3,7, 10 f., 16, 20, 31, 47, 51) Näheres bei Nowak (1954), S.31. 57 So leiten z.B. drei Laudes in Eklogenform (Nr. 30—32) zum bukolischen Schlußteil der TN über; Lied Nr. 20, »Die gespons JESV lobet Gott bey dem gesang der Vögelein«, verbindet den ersten mit dem zweiten Teil des Liederbuchs. 58 Schon im ersten Teil weisen Nr. 9—11 auf die Passion (Teil3) hin; im zweiten Teil greift Nr. 32 auf die erste Gruppe der Sponsalieder zurück; im Schlußteil knüpfen Nr. 43 und 46 an den ersten, Nr. 50 f. an den zweiten Teil an. 5 ' Z.B. der Mond in Nr. 9, 38 und 39. 60 An George Herberts geistlicher Liedersammlung >The Temple< (1633) beobachtet L.Martz (1954), S.296, ein ähnliches Phänomen: »one poem marks another, and both make a motion towards a third, which may lie some ten or twenty leaves away. But the reader strikes a chord, and understands the destiny thus offered.« 238
durchdringen und eine artistisch verwobene Einheit bilden. Die Sehnsucht der Seele nach dem himmlischen Bräutigam, Buße, Gotteslob, die Menschwerdung Christi und sein Kreuzopfer gehören für Spee untrennbar zusammen; sie sind jeweils Erscheinungsformen des amor divinus, der alle anderen Beziehungen absorbiert. Alle anderen Themen, Gotteslob und Schäferthematik, sind diesem zentralen Gegenstand der >Trutznachtigall< untergeordnet und gehen letztlich in ihm auf. Der Dichter spielt bewußt mit dem Begriff >Liebe< und zeigt seine verschiedenen Aspekte und die Entwicklung von der eher selbstgenügsamen Sehnsucht und rastlosen Liebespein der sponsa zur dankbaren kindlichen Liebe der Geschöpfe gegenüber ihrem Schöpfer. 61 Ihre höchste Vollendung findet sie im Opfertod Jesu, dem Leiden aus Liebe, das die andächtige Seele zur Nachfolge in der Caritas Christi aufruft (43;410—449).
8.2.
Spee und der Petrarkismus
8.2.1. Die religiöse Umdeutung der weltlichen Liebesmetaphorik in der geistlichen Emblematik Wie die mittelalterliche Mystik die Bilder des Minnesangs umdeutete auf das Verhältnis zwischen Christus und der Seele, so eignete sich die sogenannte zweite Mystik des 17. Jahrhunderts die Sprache des Petrarkismus an, um das Motiv der Seelenbrautschaft poetisch zu gestalten.62 Für die Rezeption der petrarkistischen Formensprache in der geistlichen Liebesdichtung der >Trutznachtigall< kommt den zeitgenössischen Emblembüchern eine wichtige Vermittlerfunktion zu. Hier fand Spee eine komplizierte, seit der Antike weiterentwickelte Liebesmetaphorik vor, die sich gleichermaßen für die allegorische Darstellung des amor carnalis und des amor spiritualis eignete.63 Zu Beginn des 17. Jahrhunderts gab der Niederländer Otto van Veen (Vaenius) mit seinen beiden Emblemsammlungen >Amorum Emblemata< (1608) und >Amoris Divini Emblemata< (1615) 64 der geistlichen Bildsprache neue Impulse: Er identifizierte die bildliche Darstellung zweier gleicher, sich gegenseitig mit Liebespfeilen verwundender (weltlicher) Cupidines in der Neubearbeitung seines Emblembuchs mit dem geistlichen Paar Christus und anima, das wir aus der Hohelied-Allegorese kennen. Damit okkupierte Vaenius weltliche Motive für den religiösen Bereich, wie es vor ihm die Vertreter der mittelalterlichen Jesusminne getan hatten.65 61
« 63
μ 65
Browning, Poetry (1971), S. 51. Windfuhr (1966), S. 228. Jacobsen (1954), S. 36—51 und passim. Ebd., S. 48 u. 54. Ebd., S.49, 54 und 33 f., Abb. 17 u. 18.
239
Ähnliche Umdeutungen wurden in den folgenden Jahren häufig vorgenommen,64 besonders auch von Jesuiten, die als Vorkämpfer der Gegenreformation an belehrenden und zugleich erbaulichen Texten und an der einprägsamen Ergänzung von Wort und Bild interessiert sein mußten.67 Hermann Hugos >Pia Desideria< (1624), die wichtige ikonographische und thematische Anregungen für die >Trutznachtigall< bereitstellten, zählen zu den prominentesten Vertretern dieser Werkgruppe.68 Das Trierer Autograph des Liederbuchs, in dem der Dichter bei jedem Gedicht Raum für Illustrationen ausgespart hat, läßt darauf schließen, daß Spee die >Trutznachtigall< als emblematisch-poetisches Andachtsbuch in der Nachfolge dieses populären Vorbildes konzipiert hat.69
8.2.2. Petrarkismus und geistlicher Petrarkismus Konstituierendes Merkmal des Petrarkismus - sowohl seiner emblematischen als auch seiner rein literarischen Spielarten - ist die kunstvoll-)witzige* Kombination eines Motivbestandes zumeist antiken Ursprungs, der über das poetische Werk Petrarcas Eingang in die volkssprachliche und neulateinische Dichtung fand.70 Die Nachahmer des >Canzoniere< entwickelten in ihrer Liebeslyrik eine stark stilisierte, rhetorisch durchgeformte Sprache mit einer ausgeprägten Vorliebe für erlesene Metaphern, hyperbolische Ausdrucksweise und scharfsinnige Pointen.71 Die petrarkistische Liebeskonzeption ist bestimmt von der starren Rollenverteilung zwischen dem klagenden, hoffnungslos werbenden Mann und der unerbittlich abweisenden, zum göttlichen Wesen erhobenen Frau.72 Ihr antinomisches Verhältnis wird im Anschluß an Ovid und andere lateinische Poeten als >Krieg< dargestellt.73 Der unglückliche Liebende ist seiner grausamtugendhaften >Feindin< rettungslos ausgeliefert und beklagt mit beachtlicher Ausdauer seine Verstrickung in eine leidvolle Liebe, aus der es kein Entrinnen gibt.74 Seine fast unbegrenzten schöpferischen Möglichkeiten, die rund dreihundert Jahre lang die europäische Liebesdichtung prägten,75 erwachsen dem Petrarkismus nicht zuletzt aus der Flexibilität, mit der er die skizzierte Liebes« Ebd., S. 58. f Praz (1964), S. 195. ω Eikel (1956), S. 92-94. « Schaub, Trutz-Nachtigall (1985), S. 131-133. 70 Hoffmeister, Petrarkismus (1973), S. 38 f. 71 Pyritz, Liebeslyrik (1963), S. 147. 72 Hoffmeister, Lyrik (1973), S. 25 f. 73 Lewis (1953), S. 6. -"• Pyritz, Liebeslyrik (1963), S. 136 f. " Hoffmeister, Lyrik (1973), S. 6. - Vgl. Pyritz, Petrarca (1962), S. 54 f.
240
situation gestaltet. Der Grundbestand petrarkistischer Motive und Klischees gibt dem einzelnen Dichter zahllose individuelle Variationsmöglichkeiten und läßt ihm genügend Spiel-raum für scharfsinnige Gedankenverbindungen und für die neuartige, überraschende Anordnung des tradierten Motivbestands. 76 Auch die Distanzierung von der vorgegebenen Liebessituation und ihre ironische Umkehrung im Antipetrarkismus sprengt noch nicht den Rahmen der petrarkistischen Kombinationskunst. 77 Das gleiche gilt für den geistlichen Petrarkismus, der als Kontrafaktur zur weltlichen Liebeslyrik deren Motivkanon übernimmt und mit mystischen Vorstellungen verbindet.7* Die Poeten der Jesusminne übertragen die Formeln der weltlichen Dichtung auf den geistlichen Bereich und bedienen sich unbefangen, mit spielerischem Ernst, der konventionellen Bilder und Schemata des Petrarkismus, um die Beziehung zwischen Gott und der menschlichen Seele gleichnishaft zu verdeutlichen.79 8.2.3. Der petrarkistische Liebesbegriff als Grundlage der >Trutznachtigall< Beispielhaft zeigt die >Trutznachtigall< die reichen Modifikationsmöglichkeiten der petrarkistischen Motivik. Nicht nur die Gedichte, in denen die >Gespons< Jesu als Hauptfigur auftritt, sind der Sprache des Petrarkismus verpflichtet; die Hirten, die Gott loben (32; 187-203) und dem Kind in der Krippe huldigen (34; 45-61), sind ebenso wie die anima sponsa, wie Magdalena (11 ;32-34), Franz Xavier (19; 18) und die geistliche Nachtigall (1; 4 4 - 5 1 ) von bittersüßer Liebe gequält, und auch Daphnis-Christus leidet aus Liebe (40; 33 f.). Seit Sappho wurde der eros glykypikros immer wieder besungen. 80 Die geistliche Lyrik übernimmt diesen oxymorischen Liebesbegriff. Ebenso wie die petrarkistische Sehnsucht nach der unerreichbaren Geliebten wird die göttliche Liebe als quälender und zugleich süßer Schmerz empfunden, der nach paradoxem Ausdruck verlangt. Immer wieder stößt der Leser auf Formeln wie »BitterSüsse(n) glut« (11; 221), »Mit kühlem brand verwund« (11; 219) oder auf den emphatischen Ausruf Ο süssigkeit in peinen! Ο pein in Süßigkeit! (10; 148 f.), 81
der durch die Polarität seiner Bestandteile und durch seinen parallelen Bau in Verbindung mit Anapher und Chiasmus bzw. Antimetabole nachdrücklich auf der unauflöslichen Union von Liebe und Leid beharrt. 74 77 78
" » 81
Hoffmeister, Petrarkismus (1973), S. 50. Hoffmeister, Antipetrarkismus (1972), S. 30. Hoffmeister, Petrarkismus (1973), S. 47. Warncke (1969), S. 226 f. Jacobsen (1954), S. 71. Mit leichter Variation auch in 3; 31 f.
241
Wenn sich die religiöse Liebesdichtung auch den Ton der petrarkistischen Liebesklage vollkommen zu eigen macht, so haben doch die Jünger der göttlichen Liebe gegenüber den Anhängern der weltlichen zwei Vorteile: Sie werden wiedergeliebt und können auf die Erfüllung ihrer Sehnsucht hoffen wenn auch nicht mehr in diesem Leben. Diese Vorstellung führt dazu, daß Liebe und Tod einander aufs äußerste angenähert werden.82 Zwei der stärksten Naturgewalten werden untrennbar miteinander verbunden, ihre Wesenszüge und Attribute zuweilen vertauscht. So schießt z.B. der personifizierte Tod ebenso wie der Cupido divinus mit Pfeilen (11; 104—111). Der Tod gewinnt erotische Bedeutung83 und ordnet sich ganz dem Absolutheitsanspruch der göttlichen Liebe unter. Die Liebe Gottes hat ihn besiegt, er wird als gewaltig, aber nicht mehr als schrecklich empfunden.84 Wie der vergeblich Liebende im weltlichen Gedicht 85 begrüßt auch die sponsa den Tod als Befreier von ihrer Pein. Doch anders als jener erwartet die pia anima im Tod die Erfüllung ihrer Liebe und betrachtet ihn als Tor zur ewigen Seligkeit86 und zur unio mit dem himmlischen Bräutigam.87 Die Erwartung ewiger jenseitiger Freuden in seiner Nähe entwertet sowohl das Leben als auch den Tod. Beide verlieren ihre Macht über die sponsa; sie entsagt allem Irdischen und lebt schon auf Erden nur dem sponsus Christus. 88
8.2.4. Die Übertragung der petrarkistischen Liebessituation auf Spees ältere Sponsalieder Auf eindrucksvolle Weise macht Spee sich Sprache und Haltung des Petrarkismus für seine religiös-didaktische Zielsetzung zunutze. Im zweiten Teil des >Tugendbuchs< betont Spee die Notwendigkeit für eine Gott liebende Seele, sich allmählich von der Welt ab- und Gott allein zuzuwenden (GTB 192,39—193,10). Um den langwierigen und zuweilen schmerzlichen Prozeß der Weltabkehr zu fördern, schiebt Spee im sechzehnten Kapitel eine Reihe von Gedichten ein (GTB S. 2 2 0 - 2 4 8 ) - darunter die später als Nr. 3—8 in die >Trutznachtigall< aufgenommenen Lieder die »etliche liebreiche begierden zu Gott [ . . . ] erwecken« (GTB 220,3 f.) und »zu einer geistlichen ergetzlichkeit« (GTB 220,6) gelesen werden sollen. Spee stellt dem Leser, der sich in der Tugend der Hoffnung zu üben beabsichtigt, das Verhalten einer «2 Wentzlaff-Eggebert, Tod (1931), S. 125. - Vgl. auch T N 2; 5 5 - 5 8 . «J Aries (1977), S. 385. Μ Rehm (1967), S. 60 u. 96. 85 Beckmann (1960), S. 72. 8« Wentzlaff-Eggebert, Tod (1931), S.20 u. 122. - Vgl. T N 2 ; 4 3 - 5 0 , 5; 102-109, 46; 1 0 0 - 1 0 5 . 87 Seidel (1973), S. 101. 88 Wentzlaff-Eggebert, Mystik (1969), S. 1 4 . - V g l . TN 10; 154f„ 6 ; 4 - l l .
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»weltlichefn] gesponß« (GTB 199,4) als nachahmenswertes Beispiel vor Augen. Um die Liebe zur Welt und ihren Geschöpfen zu verdrängen, nimmt der amor spiritualis die Sprache seines weltlichen Rivalen an. In dem Lied »O Venus Kind, du blinder knab« (GTB 197,33 ff.) veranschaulicht Spee die Zielsetzung seiner geistlichen Kontrafakturen mit dem Bild der Waffenübergabe: Cupido muß zum Zeichen seiner Niederlage Pfeil und Bogen dem Christusknaben ausliefern; die weltliche Liebeslyrik wird mit ihren eigenen Waffen geschlagen.89 Diesem Programm entsprechend zeigen die Lieder N r . 3—8 der >Trutznachtigall< die anima sponsa in der klagenden Haltung, die sie mit ihren Leidensgenossen im weltlichen Lied teilt. Sie verleiht ihrem Liebesschmerz in einer Uberfülle von Seufzern und Tränen Ausdruck. 90 In den Liebesklagen und sehnsüchtigen Seufzern der sponsa erblickt Spee »die eigenschafften einer volkommenen begierlichen liebe eigentlich abgemahlet« (GTB 220,8 f.). Die hyperbolischen Leidensbekundungen dieser Sponsalieder offenbaren durch ihre expressive Bildlichkeit »Der Liebe macht«." Wie die weltlichen Poeten verdeutlicht Spee seelische Vorgänge durch sinnlich wahrnehmbare Phänomene. 92 So umschreibt er z.B. die Wirkung des amor divinus durch eine vielfältig variierte Flammenmetaphorik, deren sich schon das Hohelied (Cant. 8,6), aber ebenso auch die lateinische Liebesdichtung bedient. 93 Die göttliche Liebe verwundet ihre Opfer mit Liebespfeilen; 94 durch die einseitige Angriffshaltung des amor divinus nimmt die militia Veneris mehr und mehr die Züge einer venatio amoris an.95 Sogar wenn die sponsa in die Wüste, den O r t der Gottesferne, flieht, wird sie unfehlbar aufgespürt (7;42—53). Es bleibt nur die bedingungslose Kapitulation: »Geb gantz mich vberwunden« (7; 79). In Abgrenzung gegen die weltliche Liebesdichtung, deren militärische Metaphorik sie jedoch keineswegs verschmäht, verkündet die sponsa: Die Lieb ohn Wehr, vnd Waffen Mich hatt genommen ein (6; 4 f.).
Der Mensch wird von der göttlichen Liebe in seiner ganzen Existenz betroffen. Ihre Macht übersteigt das Vorstellungsvermögen der sponsa Christi (7; 76 f.). 89
Jacobsen (1954), S. 13. Ό Z.B. T N 4 ; 15.62.64, 5;25, 7; 12f., 8; 7 9 - 8 4 . 91 Register des Erstdrucks, T N S. 295. « Pyritz, Liebeslyrik (1963), S. 216. w Jacobsen (1954), S. 1 2 5 - 1 2 7 . - Z.B. T N 3 ; 2 3 - 3 0 u. 4 3 - 5 0 , 4; 16, 6; 16, 7;26f., 10;20—27 u. 146f., 3 3 ; 2 8 - 3 5 u.ö. 94 Jacobsen (1954), S. 93, mit einem Hinweis auf Cant. 4,9, »vulnerasti cor meum«, als mögliches Vorbild. - Vgl. T N 3; 37, 5; 104 f., 7; 4 6 - 4 9 . 95 Jacobsen (1954), S. 52.
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Es bleibt kein Raum für andere Gedanken oder Gefühle, die Seele geht völlig in ihrer Sehnsucht auf. Ihre gänzliche Ausrichtung auf den himmlischen Geliebten führt in ihrer äußersten Konsequenz zu der Feststellung: Bin lauter dein, Vnd gar nitt mein (7; 96).
Stürzt der Selbstverlust die weltlichen Petrarkisten in tiefe Verzweiflung,96 so erblickt die sponsa im Gegensatz dazu in der gewaltigen Wirkung der göttlichen Liebe die Chance der Befreiung von der Last ihres irdischen Daseins. Der amor spiritualis eröffnet ihr die Möglichkeit, an der göttlichen Unendlichkeit teilzuhaben. Deshalb bittet sie: Nim vollends hinn All meine Sinn, Nim alles weg zur stunden (7; 94 ff.).
Die von der Gott liebenden Seele freudig begrüßte >Entselbstung< veranschaulicht Spee mit dem petrarkistischen Motiv des geraubten oder fliehenden Herzens. 97 Das Herz der sponsa droht zu zerbrechen oder zu schmelzen.98 Um die Wirkung der göttlichen Liebe zu demonstrieren, präsentiert Spee einen Abriß der ovidischen Liebespathologie;99 auch das Hohelied kennt ein ähnliches Motiv der Liebeskrankheit.100 Schlaf-,101 kraft-,102 rast-103 und sogar sprachlos,104 verzehrt sich die anima sponsa in unaufhörlichen Qualen105 und ist dem Tod nahe.106 Durch die eindringliche Schilderung seiner Leiden versucht der Liebende in der petrarkistischen Lyrik, die von ihm verehrte, erbarmungslose Dame zu erweichen. Die anima sponsa bedient sich einer ähnlichen Strategie und versichert, daß das Erscheinen des sponsus Christus sie von aller »pein, vnd peen« (8; 97), die die Trennung von ihm verursacht, befreien könnte.107 In den Sponsaliedern aus dem >Tugendbuch< gelingt es der Gott liebenden Seele nicht, die unermeßliche Ferne, die sie von dem himmlischen Bräutigam trennt, zu überwinden. Auch diese Distanzhaltung entspricht dem Konsens der weltlichen Liebesdichtung, die den Gegenstand ihrer Verehrung zum * '7
Pyritz, Liebeslyrik (1963), S. 192. - Vgl. Hoffmeister, Lyrik (1973), S. 27. Pyritz, Liebeslyrik (1963), S. 53. - Ζ. B. T N 7; 22 f. u. 90. 98 TN7;34—37 u. 56f.; GTB227,3f. - Für das Motiv des schmelzenden Herzens verweist Jacobsen (1954), S. 115 auf Cant. 5,6 als biblisches Vorbild. " Schrötter (1908), S. 62-64. - Pyritz, Liebeslyrik (1963), S. 232. m Cant. 2,5 und 5,8. - Jacobsen (1954), S. 131 f. Vgl. auch T N 6; 13 u. 91 und 7; 60. «ι T N 7; 10 u. 20. >°2 T N 7 ; 19—21,11;231. 103 T N 3; 13 f., 7; 40 u. 75; besonders auch Lied Nr. 6. 104 T N 5 ; 1 0 9 , 7 ; 5 5 u . 99-101. 105 T N 3 ; 15 u. 35, 6; 12-19 u. 68-75, 7; 17, 8; 49f. u. 55-57. IM TN7;28—33 u. 101. T N 8 ; 5 3 - 6 0 u . 97-100.
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himmlischen Wesen erhebt.' 08 Daß die Liebesklage der sponsa zuweilen die Züge eines Gebets annimmt, ergibt sich folgerichtig aus der spiritualisierenden Haltung des Petrarkismus, dessen quasi-religiöse Huldigung sich für eine geistliche Umdeutung geradezu anbietet. Mit Worten, die an die Psalmen anklingen, fleht die sponsa zum sponsus.109 In Anlehnung an Psalm 42,4110 nennt der Dichter Tränen das tägliche Brot der anima sponsa, wobei er den Wortlaut des Psalms - und das ist typisch für Spees dem Barockstil gemäße Adaption biblischer Vorlagen - in die klangvolle Adnominatio »Von zähren muß ich zehren« (6; 90) umformt. Besonders eindringlich bedient sich Lied Nr. 7 des Gebetstones. 1,1 Der Liedeingang (7; 6-11) erinnert mit seiner Anrufung Gottes (7; 6 ff.) an die Eingangsformeln der Psalmen.112 Die Liebesklage der sponsa ist nicht nur an der Sprache des Petrarkismus, sondern auch an der eindringlichen Diktion des Psalmisten geschult.113 Wortwiederholungen (7; 8 u. 10), die Verkürzung der Strophen im Vergleich zu anderen Liedern der >Trutznachtigall< und Binnenreime bzw. die Halbierung der sonst in Spees Gedichten vorherrschenden Verslänge114 steigern das Pathos und unterstreichen die emotionale Erschütterung in diesem Gebetslied. Hier gewinnt der hyperbolisch-panegyrische Gestus des Petrarkismus eine neue Bedeutungsdimension, denn der sponsus ist tatsächlich >nicht von dieser WeltschönTugendbuchs< ( 2 2 4 , 3 2 - 2 2 7 , 1 6 ) den Versuch eines Schönheitslobs in Anlehnung an Cant6,9, »[...] quasi aurora consurgens, pulchra ut luna, electa ut sol«. 116 Was er aber schließlich beschreibt, ist nicht die Schönheit des sponsus, sondern ihre unwiderstehliche Anziehungskraft auf die sponsa: Schön ist die Sonn, schön ist der Mon, Auch schön der Morgen-sterne: Doch schaw ich dich, Ο Gottes Sohn, Noch tausend-mahl so gerne (GTB 2 2 6 , 9 - 1 2 ) .
Der Bezug auf die Gestirne als Vergleichsgegenstände deutet bereits an, daß Spee nach petrarkistischem Vorbild die Liebe der Seele zum sponsus Christus in kosmische Zusammenhänge einordnet. Diese Vorstellung der Gleichordnung von menschlichen Empfindungen und Naturvorgängen ist im Mikrokosmos-Makrokosmos-Gedanken der neuplatonischen Renaissancephilosophie vorgeprägt.117 In der petrarkistischen Dichtung äußert sich die enge Wechselbeziehung zwischen großer und kleiner Welt oft als Kontrastverhältnis. So bevorzugt auch die geistliche sponsa den locus amoenus als Liebesklageort (z.B. T N 4 ; 5 - 1 4 ) . 1 1 8 Ringsum »Schwebt alles fast in lüsten« (8;48), wie das Lied Nr. 8 durch eine Häufung von Beispielen in den Strophen 1—5 zeigt, einzig die Gott liebende Seele muß sich fern von ihrem himmlischen Bräutigam quälen (8; 39—68) und wendet sich schließlich von der Schönheit der Frühlingsnatur ab, die nicht zu trösten vermag. In Lied Nr. 6 belegt die Gespons Jesu mit je einem Beispiel aus dem Bereich der Luft, des Wassers und der Erde (Str. 5—8) ihre Behauptung: So schwind ich nichtes finde, Das nitt auch höret auff (6; 44 f.).
Nur die stetig Schmerzen verursachende Jesusminne durchbricht dieses >Naturgesetzmneme theoü< aufgefaßt werden können. 121 In Gedicht Nr. 5 der >Trutznachtigall< (1. Strophe) versucht die sponsa in einer anaphorisch verketteten Reihung von Fragen, den sponsus förmlich herbeizuzwingen. Sogar die Nachtigall (7; 10—17) und die übrigen Waldvögel müssen der anima sponsa ihre Stimmen leihen (GTB230,13—32) und in ihr »lieb-geschrey« (GTB230,11) einstimmen. Gelegentlich wird ihr Rufen nach Jesus allerdings beinahe zum Selbstzweck. So fordert sie das Echo zum Ballspiel mit Jesu Namen auf ( T N 4 ; 135-140) und wünscht, »Biß zu dem grab« (TN 4; 147) oder gar »Vnendlich« (4; 155) auf diese Weise zu spielen. Die Gestaltung des Echo- und Rufmotivs in den älteren Gedichten des Sponsazyklus charakterisiert vielleicht am deutlichsten die Eigenart dieser aus dem >Tugendbuch< in die >Trutznachtigall< übernommenen Lieder: In ihrer Liebesklage wird die sponsa immer wieder auf sich selbst zurückgeworfen. 122 Sie kreist - auch darin ganz dem Petrarkismus verpflichtet - unentwegt um ihr Leid, letztlich also um ihre eigene Person. Die Zergliederung ihrer Gefühle in qualvoller Introspektion ist nicht ganz frei von narzißtischer Selbstbespiegelung. Gerade diese Selbstbezogenheit, mit der die sponsa ihre Klage zelebriert, nennt Spee ein Merkmal des amor concupiscentiae (GTB 26,22—27,3), dem die Übungen im zweiten Teil des >Tugendbuchs< gelten. In den älteren Sponsaliedern konvergiert die Wesensbestimmung der zweiten göttlichen Tugend mit der petrarkistischen Liebeskonzeption. Mit dieser geschickten Verbindung verfolgen Spees geistliche Liebeslieder den zweifachen Wirkungszweck von >prodesse< und >delectareTrutznachtigall< wird die Einseitigkeit des Leidens, das die Sponsalieder aus dem >Tugendbuch< prägt, überwunden; die >monologische< Struktur des petrarkistischen Liebesbegriffs wird vom >dialogischen< Konzept der spirituellen Liebe als >Mitteilung von beiden Seiten her< überlagert. Dieser veränderten Grundkonstellation entsprechend hat sich auch die Haltung der sponsa gegenüber den >TugendbuchTugendbuchs< zu didaktischen Zwekken die Parallelität von amor carnalis und amor spiritualis hervorhob, grenzt er in den jüngeren Sponsaliedern die Jesusminne gegen die unerfüllte Liebe der weltlichen Petrarkisten ab. Diese Abkehr von der petrarkistischen Klagehaltung bedeutet freilich nicht generell die Uberwindung des Petrarkismus. Spee erblickt in der weltlichen Dichtung zugleich das Vorbild und den Gegenpol seiner geistlichen Lieder. Im zunehmend freieren Spiel mit dem vorgefundenen Motivbestand und im Spannungsfeld zwischen dem petrarkistischen Konzept der klagenden Liebe und dem Liebespreis des Hohenliedes entfaltet Spee die Bildlichkeit seiner jüngeren Sponsalieder.
124
Hoffmeister, Petrarkismus (1973), S. 46 erläutert diese Angleichung am Beispiel von T N Nr. 2.
248
8.3.2.
Lied Nr. 2 als programmatische Absage an die petrarkistische Klagehaltung
8.3.2.1. Metrum, Aufbau und >meditative< Struktur Das Lied T N Nr. 2, das »Ein Liebgesang der gespons JESV« überschrieben ist, besteht aus sieben Strophen zu je acht Versen. Es handelt sich dabei um dreiund vierhebige Jamben mit abwechselnd stumpfem und klingendem Ausgang; die Gedichtzeilen sind daher abwechselnd ungefugt und gefugt. Der gleichmäßig bewegte, vorwärtsdrängende Charakter des alternierenden Versmaßes unterstreicht zusammen mit den kurzen syntaktischen Einheiten des Zeilenstils und asyndetischer Reihung der Sätze die zuweilen geradezu atemlose Unruhe der sponsa. Den schlichten achtzeiligen Strophen, die in der >Trutznachtigall< dominieren, liegt eine verdoppelte Volksliedstrophe zugrunde.125 Häufig fallen deutliche Sinnabschnitte auf die Strophenmitte. Diese Zweigliedrigkeit der Strophe wird vom Reimschema noch betont; Kreuzreime fassen die Verse jeweils zu Vierergruppen zusammen. Im Unterschied zu den älteren Sponsaliedern, die z.T. schon durch ihren Titel als Liebesklagen ausgewiesen sind,126 thematisiert Lied Nr. 2 der >Trutznachtigall< die Erfahrung der göttlichen Gnade, die der andächtigen Seele zuteil wird. Dabei deutet Spee im Medium des Gedichts ein spirituelles Geschehen an, das in einigen wesentlichen Punkten mit den Meditationserfahrungen des Exerzitanten übereinstimmt. Eine kurze Einleitung (2; 3 —12) ist der Erkenntnis und dem Lobpreis der göttlichen Gnade gewidmet, die jedem menschlichen Bemühen um Rechtfertigung vorausgeht. Danach beschreibt der längere mittlere Gedichtteil (2; 1 3 - 4 6 ) die Wirkung der Gnade, die den Affekt der Gottesliebe - veranschaulicht durch die Tränen der anima sponsa - weckt und bis zu fast unerträglicher Intensität steigert. Der >dialogischekommunikative< Bezug von göttlichem Gnadenerweis und menschlicher Liebesbekundung stiftet endlich die ersehnte Gemeinschaft zwischen sponsus und sponsa, die Spee im dritten Teil des Gedichts (2; 47—58) zur Liebesbegegnung stilisiert. Den emphatischen Abschluß bildet die Weltabsage der Gott liebenden Seele, die hinfort allein Christus angehören möchte. Ein ähnliches Schema bestimmt den Verlauf des Exerzitiengeschehens und tritt besonders prägnant in der >Contemplatio ad amorem spiritualem in nobis excitandum< in Erscheinung. 127 Dort provoziert die Erkenntnis der göttlichen 125
126
127
Müller (1925), S. 41. - Die von Spee in der T N verwendeten Strophenformen lassen sich auf drei Typen, zwei jambische und einen trochäischen, reduzieren. Vgl. hierzu auch Schönenberg (1911), S. 5 4 - 5 8 und Gentner (1965), S. 181. Vgl. T N N r . 6: »Anders liebgesang der gespons JESV, darin Sie ihre vnruh beklaget«. Nr. 2 3 0 - 2 3 7 ; MI, Ex., S. 4 2 6 - 4 3 2 .
249
Gnadengaben die pia affectio des Betrachtenden und veranlaßt ihn endlich zu lebensentscheidenden Entschlüssen und Vorsätzen. Die strukturellen Übereinstimmungen mit dem ignatianischen Andachtsmodell lassen erkennen, daß sich Spee in seinen späteren Sponsaliedern nicht mehr wie in den früher entstandenen darauf beschränkt, dem petrarkistischen Motivschatz eine geistliche Bedeutung zu unterlegen, vielmehr geht er nun dazu über, das petrarkistische >Material< dem ignatianischen Betrachtungsschema entsprechend anzuordnen und in eine meditative Gedichtstruktur zu überführen. Wie Spee bei dieser komplexeren Form der Kontrafaktur aus dem Motivbestand der zeitgenössischen Liebeslyrik poetische Andachten komponiert und wie er dabei eine ihm eigentümliche, unverwechselbare Spielart des geistlichen Petrarkismus schafft, soll im folgenden die Analyse der dichterischen Gestaltungsmittel in Lied Nr. 2 der >Trutznachtigall< aufzuzeigen versuchen.
8.3.2.2. Sprachliche Gestaltung und Gehalt In den einleitenden Versen dieses ersten Sponsaliedes kombiniert Spee die Motive des Natureingangs mit Elementen des petrarkistischen Schönheitslobs. Wie so häufig in der >Trutznachtigall< beginnt das Gedicht mit dem poetischen Bild der Morgenröte (2; 3). Doch bereits der zweite Vers signalisiert, daß dieses Bild ebenso wie die weiteren aufgezählten Naturgegenstände keine Autonomie für sich beanspruchen kann, sondern lediglich als Vergleichsgegenstand zu betrachten ist.128 Parallel zu diesem ersten Verspaar setzt die erste Strophe noch dreimal zum Vergleich an. Der verglichene Gegenstand, dessen Schönheit die Morgenröte, den Frühling, das Brustgefieder des Schwans und den Glanz der Sonne übertrifft, wird noch verschwiegen. Dadurch daß Spee diese letzte für den Vergleich notwendige Information hinauszögert, läßt er den Spannungsbogen der ersten Strophe kontinuierlich ansteigen und auf die folgende Strophe hinübergreifen.129 Am Ende der strophenfüllenden asyndetischen Bildreihung bereitet die Tonverlagerung auf den Vergleichspartikeln (in 2; 10 »Nie 50« statt wie zuvor »nie so«) auf die Enthüllung des Gegenstandes vor, die auf zwei Verse zusammengedrängt zu Beginn der zweiten Strophe stattfindet. Der Beispiele häufende, den Schluß der Versgruppe (2; 3-12) betonende Vergleich erinnert an das Summationsschema, das sich in der Dichtung der Barockzeit, besonders auch im petrarkistischen Schönheitslob großer Beliebtheit erfreute.130 Die zeitgenössische Dichtungstheorie legt die Regeln des Konklusionsschemas genau fest: Hoffmeister, Petrarkismus (1973), S. 46. Schönenberg (1911), S. 59. "ο Curtius (1969), S.29. - Beckmann (1960), S. 114-116.
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Zierlich ist es / wann die Endreimen wiederholet / was zuvor gesagt worden [ . . . ] Hier ist zu mercken / daß die Wiederholung in der Ordnung geschehen muß / in welcher die Wörter Anfangs gesetzet worden [.. ,]. 131
In Spees Versen fehlt die hier geforderte Korrespondenz. Außer »Stirn« (2; 3) findet kein Begriff der ersten Strophe in der >Summation< der zweiten Strophe eine Entsprechung. Zwischen den beiden Bereichen des Vergleichs besteht nur ein sehr lockerer Zusammenhang, das tertium comparationis ist nicht eindeutig bestimmbar. Die Uberbietung lobt, ohne ein anschauliches Bild zu zeichnen. Das Abstraktum »gnad« (2; 12) hebt den Vergleich vollends über die Dingwelt hinaus, an deren Gegenständen er sich entwickelte. Mit diesem pointierten Schluß des Vergleichs täuscht Spee die Erwartung, die der Leser aus der weltlichen Dichtung an die >Trutznachtigall< heranträgt, und verleiht der schematischen Schönheitsbeschreibung eine geistliche Dimension. Mit der Erwähnung der Augenpfeile (2; 13 f.) als Initiatoren der göttlichen Liebe beginnt eine hyperbolische Leidensschilderung (2; 15—22), wie sie Spee in den älteren Sponsaliedern mehrfach variiert. Ihre Tränen vergleicht die anima sponsa in zwei parallel gebauten Sätzen mit orientalischen Kostbarkeiten, Perlen und Rosenwasser (2; 19—22). Die Vorstellung, daß Perlen ein Sinnbild für Tränen sind, läßt sich bis in die Antike zurückverfolgen; 132 der etwas entlegene Vergleich der Tränen mit Rosenwasser impliziert eine Anspielung auf die Feuer-Wasser-Antithetik, die Spee in den folgenden Versen in der Gegenüberstellung von »hitz« (2; 24) und »thränen« (2; 22) weiter entfaltet (2; 23—34): Rosenwasser wird durch Destillation gewonnen (2; 21: »wolgebrendt«), und auch die Tränen der Gespons Jesu sind das Produkt eines Läuterungsprozesses durch die Glut des amor spiritualis. 133 In der zweiten Hälfte der dritten Strophe identifiziert die sponsa Jesus mit der Figur des Cupido divinus. 134 Seine doppelte Funktion als sponsus und als Verkörperung der Jesusminne bewirkt, daß Cupido-Jesus ebenso wie die anima sponsa in Liebesflammen steht. Die andächtige Seele ruft ihn an und bittet ihn, seine »heisse[n] Flüttig« (2; 25) in ihrer Tränenflut zu kühlen. Seine Nähe würde die sponsa unfehlbar »zu kohlen« (2; 32) brennen, wenn nicht ihre Tränen die unerträgliche Glut milderten. Daher fordert sie »Cupido rein« (2; 23) auf: Drumb nur auß thränen mitt verstand Dir flechte Zaum, vnd Zügel (2; 29 f.).
Hinter diesem Concetto wird ein anschauliches Bild sichtbar, wenn man die »thränen« (2; 29) mit dem Perlenvergleich der vorigen Strophe in Beziehung 131
133
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Harsdörffer, Poetischer Trichter I (1650), 5. Stunde, S. 90, § 16. Rommel (1930), Sp. 1702. Vgl. die Embleme bei Henkel/Schöne (1967), Sp. 1406: Amor am Schmelzofen mit Destillierapparat; ferner Praz (1964), S. 88 Abb. 25 und S. 92 Abb. 29. Hoffmeister, Petrarkismus (1973), S. 46.
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setzt. Die Vorstellung von »Zaum, vnd Zügel« (2; 30), die aus Tränenperlen geflochten sind, berührt sich mit der Binde- und Pretiosenmotivik der petrarkistischen Dichtung. 135 Dort wirken Schmuckstücke als Liebesfessel für einen oder beide Partner. In einem >TugendbuchTugendbuchZährenzaum< des jüngeren Liedes der Aspekt des Bindens in den Vordergrund. Dieses Bindemotiv modifiziert und intensiviert die folgende Strophe des Gedichts T N Nr. 2. Zu Beginn der fünften Strophe ruft die sponsa Hände und Arme ihres Geliebten an, um sie als >Verbündete< ihres Werbens zu gewinnen. Nach dem Vorbild des petrarkistischen Schönheitslobes nennt sie Jesu Arme und Hände in schmeichelndem Ton, den die Alliteration noch unterstreicht, »Schwesterlein der Schwanen« (2; 36). Bisher hatte die Gott liebende Seele gewünscht, den Cupido divinus, dessen Glut zu »starck« (2; 26) und »Zu scharpff« (2; 27) brannte, durch ihre Tränen zu zügeln und zu binden. In der zweiten Hälfte ihres Lieds ermuntert sie umgekehrt die Arme und Hände des himmlischen Bräutigams mit dem emphatischen Ruf: »Starck hefftet mich an seine brüst« 135
Pyritz, Liebeslyrik (1963), S. 121 und 174-176. - Vielleicht liegt in Spees Gedicht auch eine Reminiszenz an Cant. 1,11 (Vers 1,10 der Vulgata) vor: »Wir wollen dir goldene Kettchen machen mit kleinen silbernen Kugeln.« Vgl. z . B . : G T B 2 2 5 , 2 0 : Das Herz der sponsa »ligt in heissen kolen« und T N 2; 32: »Nit bren mich gar zu kohlen«; G T B 2 2 6 , 9 - 1 2 und T N 2; 3 - 1 0 : Die götdiche Schönheit übertrifft die Naturschönheit; G T B 227,9—12: Ach mögt ich dich an meine brüst Mit meinen armen binden! Das brechte mir gewünschten lust, Vnd ruh noch war zu finden. TN2;47—52: Ο süsse Brust! Ο freud, vnd lust! Hast endlich mich gezogen:
Η
137
Alhie nun will ich rasten lind, Auff J E S V brüst gebunden. Bevor die Dominikaner die Benutzung des Rosenkranzes als Gebetsschnur einführten, diente er als weltliches Liebessymbol. - Vgl. hierzu Ross (1956), S. 81. Pyritz, Liebeslyrik (1963), S. 178.
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(2; 39), dem die schwebende Betonung am Versbeginn Nachdruck verleiht. Statt wie zuvor um Mäßigung zu bitten, fordert die sponsa nun: »Vmbfasset mich nitt lind, noch leis« (2;37). 139 Voll Zuversicht blickt die sponsa in der zweiten Hälfte ihres Lieds der Begegnung mit dem sponsus entgegen. Sie vertraut darauf, daß sie das Herz Jesu mit ihren Tränen erweichen kann, selbst wenn es wie das Herz der unnahbaren Geliebten in der petrarkistischen Dichtung »von Steinen« (2; 48) wäre.140 Nach einer letzten ungeduldigen Anrufung des Seelenbräutigams, in der die sponsa beteuert, aus Liebe sterben zu müssen (2; 43—46), falls ihr Flehen nicht erhört werde, bricht in der Mitte der sechsten Strophe das Liebeswerben der pia anima plötzlich ab und schlägt unvermittelt um in die Jubelrufe der Seele, die »endlich« (2; 48) am Herzen Jesu ruhen darf. Jesu Nähe verwandelt »All pein, vnd schmertz« (2;49) in »freud, vnd lust« (2;47). Dieses antithetische Hendiadyoin-Paar bezeichnet nachdrücklich den jähen Stimmungsumschwung der sponsa und ihre gänzliche Verwandlung durch die Gegenwart des sponsus Christus. Aus dem Hohenlied übernimmt Spee die Vorstellung, daß der sponsus die sponsa zu sich zieht. 141 Auch das Motiv der Umarmung, das als Metapher für die unio bei den mittelalterlichen Mystikern häufig wiederkehrt, hat dort seinen Ursprung. 142 Daß die andächtige Seele »Auff J E S V brüst gebunden« (2; 52) ruht, 143 korrespondiert mit dem Bindemotiv der ersten Gedichthälfte, in der die Tränen der sponsa Cupido-Jesus >binden< sollten. Jesu liebendes »miltes Hertz« (2; 49) und die menschlichen Liebestränen ermöglichen in ihrem Zusammenwirken die Annäherung von sponsus und sponsa. Voraussetzung und zugleich Ausdruck der unio ist das wechselseitige >BindenZährenzügels< und des >Bindens mit Armen< andeuten. Die eingangs gepriesene »gnad« (2; 12) des sponsus erscheint vom Ende des Gedichts her betrachtet schon als Verheißung der unio. Beim Versuch, sie zu beschreiben, endet das Lied in einer paradoxen Verstrickung, deren äußerster Grad mit dem »tod im Leben schweben« (2; 58) des Schlußverses erreicht ist. Hier scheint sich die Vorstellung der mors mystica mit der Leben-Tod139
140 141
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Dagegen liest man noch in der Straßburger und in der Pariser Handschrift: »Vmfasset mich nur lind, vnd leiß«. Erst die etwas jüngere Trierer Handschrift kehrt den Sinn dieses Verses fast ins Gegenteil um. Ahnlich steigert Spee in der späteren Überarbeitung auch den Ausdruck der beiden folgenden Verse (vgl. T N S. 337). Zu diesem Topos: Pyritz, Liebeslyrik (1963), S. 214. Cant. 1 , 4 : »Zieh mich dir nach, [ . . . ] « (Vers 1,3 in der Vulgata). Vgl. T N 2 ; 48: »Hast endlich mich gezogen:« - Näheres über dieses mystische Motiv bei Lüers (1926), S. 308. Nach Cant. 2 , 6 . - Lüers (1926), S. 276. Möglicherweise ließ sich Spee hier auch durch Cant. 8 , 6 , »Lege mich wie ein Siegel auf dein H e r z [ . . . ] « , inspirieren. >Binden< als Metapher für die unio ist belegt bei Berger, Unio (1935), S. 50.
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Antithetik der petrarkistischen Dichtung zu berühren. Doch während in der petrarkistischen Liebeslyrik die Formel >lebend tot< einen höchst unerquicklichen Zustand des Liebenden bezeichnet, 145 umschreibt sie in Spees Gedicht die Liebeserfüllung und einen >gehobenen< Zustand der Seele, der sie von aller irdischen Last befreit. In der coincidentia oppositorum deutet sich die unbeschreibliche Berührung des göttlichen und des menschlichen Seinsbereiches an. 146 Mit der Verbindung sonst unvereinbarer Gegensätze in einem mystischen Schweben 147 läßt Spee das Gedicht ausklingen; die monotone Vokalisierung des Schlagreims am Gedichtende (e-e-e-e) vollzieht lautmalend diesen Schwebezustand nach. Daß Spee mit diesem Gedicht, das das jenseitige Ziel der Gott suchenden Seele antizipiert, den Sponsazyklus eröffnet, bleibt nicht ohne Einfluß auf die Rezeption der nachfolgenden sechs Gedichte, in denen die Begegnung von sponsus und sponsa ausgespart bleibt. Diese Lieder haben an der hoffnungsvollen Perspektive des Eingangsgedichtes teil. Ihr zentrales Thema, die schmerzliche Sehnsucht der Seele nach dem himmlischen Bräutigam wird durch den Ausblick auf die meditative Begegnung mit Christus bzw. auf die jenseitige unio nur um so deutlicher einer Vorbereitungs- und Bewährungszeit zugeordnet, die die pia anima bestehen muß. Dieser Eindruck verstärkt sich dadurch, daß die beiden Gedichte am Schluß des Sponsazyklus ebenfalls die Begegnung von sponsus und sponsa gestalten. Indem Spee am Ende des Gedichts T N N r . 2 das Erlebnis der unio förmlich in die Liebesklage hereinbrechen läßt, weist er darauf hin, daß die petrarkistische »Autonomie des Schmerzes« 1 4 8 durch die »gnad« (2; 12) des sponsus gebrochen ist. Mit der Betonung dieser »gnad«, die die Distanz zwischen sponsus und sponsa überbrückt, tritt die geistliche Liebesdichtung der >Trutznachtigall< ganz entschieden in Opposition zur Konzeption der unerfüllten Liebe im weltlichen Petrarkismus.
8.3.3.
Das Traum- und das Suchmotiv in den Gedichten N r . 9 und 10
8.3.3.1. Inhalt und Aufbau Die Lieder N r . 9 und 10, die den Sponsazyklus der >Trutznachtigall< abrunden, zeichnen sich durch eine Häufung von Motiven aus dem Hohenlied aus, 149 die Spee eng mit dem Passionsgeschehen verflicht, wie das für die sogenannte 1« Pyritz, Liebeslyrik (1963), S. 230. Lüers (1926), S. 107. κ? Ebd., S.251 (>swebenTrutznachtigall< entspricht der von Spee bevorzugte Natureingang mit Schilderung der Ausgangssituation: morgendliche Suche der sponsa und Rast im Feld, die mit einem Traumerlebnis verbunden ist (10; 4—15). In dem nun folgenden Geschehen lassen sich drei Abschnitte unterscheiden: Der Seelenbräutigam tritt zur sponsa, beschießt sie mit Liebespfeilen und flieht vor ihr (10; 16—43). Die nächsten zehn Strophen (10; 44—123) heben sich schon durch die Dialogform von den übrigen Teilen des Gedichts ab. Nach dem Vorbild in Kapitel 3 und 5 des Hohenliedes bittet die sponsa die »Töchter [ . . . ] Von Sion« (10; 44 f.) um Hilfe bei ihrer Suche. Diese weisen ihr den Weg zu ihrem Geliebten. Im Zentrum dieses mittleren Teils steht das Lob der Schönheit Christi (10;68—99), das erotisch gefärbte Bilder aus dem Hohenlied (besonders aus Cant. 5,10—16) mit Anspielungen auf die Passion und mit panegyrischen Elementen verbindet. Umrahmt wird dieser >Steckbrief< von dem symmetrisch angeordneten Frageund-Antwort-Spiel zwischen der sponsa und den Töchtern Zions. Im dritten Abschnitt des Gedichts (10; 124—143) gelangt die Suche der Gott liebenden Seele zu ihrem Ziel. Am »Creutzweeg« (10; 124) findet die Gespons Jesu ihren Geliebten und sinkt ohnmächtig in seine Arme. Erst als er sie küßt und »An seine PurpurSeit« (2; 143) legt, erwacht sie. Der Schluß und zweite Teil des Rahmens (10; 144—155) greift das Lagerungsmotiv der Eingangsverse auf: Die sponsa will nun ewig an Jesu Seite ruhen und entsagt der Welt. Wie in Lied Nr. 10 das Such- und Traummotiv des Hohenliedes zu einer Betrachtung des Gekreuzigten führten, so verbinden sich in T N Nr. 9 dieselben Motive mit der Darstellung von Christi Not und Gefangennahme im Garten Gethsemane. Als Gegenstück zum Bild der Morgensonne in Lied Nr. 10 beginnt T N Nr. 9 mit einem nächtlichen Natureingang (Strophe 1 und 2), in dem der Mond nach antikem Vorbild 151 auf pleonastisch-anschaulichem
«ο Vgl. >Gilgenstockelokutionelle Ausarbeitung< seiner geistlichen Lieder verraten die Schulung an der Methode der >Exercitia spiritualiaTrutznachtigallBefragung< der Natur zum Olberg, wo sie Christus findet. Ausführlicher als in diesem Traumgedicht schildert Spee in Lied Nr. 10 die schrittweise meditative Annäherung der Seele an Christus, die durch räumliche Bilder veranschaulicht wird. >52 Nowak (1954), S. 228. TN9;4—11 und 10;4—15.
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Christus entzündet in der andächtigen Seele die Flamme der göttlichen Liebe, die die anima sponsa zur rastlosen Suche nach dem fliehenden Geliebten treibt. Diese Suche ist dem mystischen Drei-Wege-Schema entsprechend aufgebaut und endet am Kreuz, wo der himmlische Bräutigam sein Gespons erwartet. Im Mittelpunkt beider Traumgedichte steht die lebhafte Vergegenwärtigung einer Passionsszene nach dem Schema persona - dicta - opera. Wie Ignatius und die Direktorien fordern, versetzt sich die andächtige Seele an den Schauplatz der dramatischen Handlung. Hier verfolgt sie aus unmittelbarer Nähe, mit der Anteilnahme der Liebenden, das Schicksal ihres Geliebten und wird dabei selbst immer stärker in das dargestellte und imaginierte Geschehen verstrickt. Spee lädt den Leser ein, bei seiner versifizierten Leidensbetrachtung die Rolle der sponsa aus dem Hohenlied zu übernehmen, und fördert damit die gefühlsbetonte, subjektivierende Aktualisierung der Passionsgeschichte; zunehmende emotionale Spannung und der Wunsch nach Gemeinschaft mit dem leidenden sponsus bestimmen die Atmosphäre des Gedichtpaares. Wie im Vorbild der ignatianischen Andachten in der dritten Exerzitienwoche weckt auch in Spees Gedichten die Betrachtung der Passion die pia affectio der andächtigen Seele, die in einer existenziellen Entscheidung für den sponsus Christus, im Entschluß zur Leidensnachfolge und zur Weltabkehr mündet und schließlich durch die Umarmung der Liebenden besiegelt wird.
8.3.3.2. Das Traummotiv Die spezifische Unscharfe - oder vielleicht auch die extreme Hellsicht, die dem Traum zu eigen ist, verleiht den Gedichten Nr. 9 und 10 der >Trutznachtigall< ihre eigentümliche Atmosphäre, in der die Liebessituation des Hohenliedes und das Passionsgeschehen eine spannungsvolle Synthese eingehen. Bis in die Raumgestaltung hinein bestimmt die Dialektik von Idylle und Passion dieses Gedichtpaar. Der Garten Gethsemane erscheint als hortus conclusus oder locus amoenus, der für die Begegnung der Liebenden wie geschaffen ist, und doch wird er zum Schauplatz größten menschlichen Jammers. Das Geschehen »Am Oel-bekandten Berch« (9; 53) rückt in einen neuen Sinnzusammenhang, wie die auffällige Tmesis ahnen läßt. Ähnlich verbinden sich auch Schönheitslob und Leidensschilderung zu einem traumhaft-unwirklichen und dabei außerordentlich bedeutungsvollen Bild. Auch der Petrarkismus verwendet gelegentlich das Traummotiv, 154 meist, um das geträumte Scheinglück mit dem realen Unglück des Liebenden zu kontrastieren. In der >Trutznachtigall< bilden Traum und Wachen dagegen eine Einheit; die Grenze zwischen beiden verwischt sich zuweilen. Traumschilderungen bieten Spee die Möglichkeit, Schlüsselerlebnisse des Andachtslebens, 154
Pyritz, Liebeslyrik (1963), S. 180.
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die dem ganzen Dasein des Gläubigen eine neue Richtung zu geben vermögen, mit der erforderlichen poetischen Lizenz >in Szene zu setzenvergessenhöheres< Erwachen folgt ihm. Er stellt für die andächtige Seele eine einschneidende spirituelle Erfahrung dar, die ihre Suche nach dem sponsus Christus und die Begegnung mit ihm initiiert.
8.3.3.3. Das Suchmotiv in Lied N r . 10 Zu den Motiven, die die Erbauungsliteratur bevorzugt aus dem >Lied der Lieder< entlehnte, zählt das Suchmotiv in Cant. 3,1 - 4 und 5,6 b.156 Da auch die weltliche Dichtung häufig das Motiv der Trennung Liebender und die Suche nach dem verlorenen Partner oder die intensivere Variante von Flucht und Verfolgung aufgreift, 157 können der geistlichen Dichtung durch diese Parallele zahlreiche Anregungen für die Ausgestaltung des Suchmotivs zufließen. Besonders eindrucksvoll variiert Spee dieses Motiv in Lied N r . 10 der >TrutznachtigallErleuchtung< wird ihr durch die Töchter Zions zuteil; der »Creutzweg« (10; 121), den die pia anima schließlich betritt, erhält die Funktion der via unitiva. In dem klar gegliederten Gedicht äußert sich bis in unscheinbare Einzelheiten hinein die gänzliche Ausrichtung der andächtigen Seele auf die Begegnung mit dem sponsus; das ganze Gedicht strebt förmlich auf dieses Ziel zu. Bereits der Natureingang verweist mehrfach auf den himmlischen Bräutigam. So nimmt Spee in die Beschreibung der Sonne in der ersten halben Strophe Attribute auf, die auch den sponsus Christus auszeichnen. Der anfänglich '5' Seidel (1973), S. 188. 157 Neveux, Spee (1964), S. 421. 's« Eikel (1956), S. 79.
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verborgene »brand« (10; 6) der Sonne deutet auf den von Christus verursachten »Hertzenbrand« (10; 47), ihr »purperschoos« (10; 7) auf Christi »PurpurSeit« (10; 143). Beide Motive, das des Feuers und die Farbe Rot bzw. ihre königliche Variante Purpur beherrschen alle wichtigen Stellen des Liedes und werden vor allem in Zusammenhang mit der Schilderung des Seelenbräutigams leitmotivisch wiederholt.159 Feuer als Bild für die Liebe zu Christus und Rot, die Farbe des Feuers als Zeichen für sein Blut und für seinen Erlösertod, gehören untrennbar zusammen. Der Hinweis auf den Traum der sponsa und auf das Erscheinen des sponsus bezeichnet in Strophe 2 den Beginn des mystischen Wegs. In einem detaillierten Bild vom geistlichen Minneschießen beschreibt Spee, wie der göttliche Geliebte in der Seele verzehrende Liebesglut entfacht, die die sponsa nicht mehr ruhen läßt, bis sie den sponsus Christus am Kreuz wiedergefunden hat. Wie die Geliebte petrarkistischer Dichter versprühen die Augen des Seelenbräutigams Blitze (10;20f.). 160 Spee häuft weitere Umschreibungen: »Straalen« (10; 23), Pfeile (10; 24) und »Flämlein« (10; 30) treffen die andächtige Seele »Mitt bittersüssem fewr« (10; 27) der Jesusminne. Auch für die Augen, die so ungewöhnliche Leistungen vollbringen, variiert der Ausdruck. Das fast naive, durch das nachgestellte Adjektivattribut und die Verkleinerungsform volksliedhaft klingende »äuglein thewr« (10; 25) weicht dem Concetto »gläserbogen« (10; 28) und der spielerischen Metapher »Fensterlein« (10; 31). Schon die dreifache Wiederholung des gleichen Vorgangs gibt diesen Versen eine Atmosphäre der Spannung und Ungeduld. Verben der Bewegung, die als Reimwörter am Ende der Verse eine Klimax bilden,161 steigern die Dynamik des Geschehens und intensivieren die evozierten Bilder. Nachdem der sponsus Christus so heftiges Liebesverlangen in der anima sponsa geweckt hat, flieht er unvermutet vor ihr. Selbst in dieser Situation kann die andächtige Seele wie die Geliebte in den Hoheliedversen 2,8 f. die Bewunderung für >ihren< Jesus kaum unterdrücken (10; 40—43). Wenn sie ihn mit einem »Hirschenkind« (10; 43) vergleicht, charakterisiert sie damit zugleich ihre Suche nach Christus als venatio amoris. Mit der Anrufung der Töchter Zions in Strophe 6 tritt die sponsa in die zweite Phase ihres mystischen Aufstiegs, die via illuminativa, ein. Zu Beginn dieses Abschnitts klagt die Gespons Jesu den Töchtern von Zion ihren Schmerz über die vergebliche Suche nach dem Geliebten. Charakteristisch für Spee ist dabei die spannungsreiche Kombination »tod« - »Lieb« und Tränen 159
160 161
»Straelen voller hitz« (10; 23); »Mitt bittersüssem fewr« (10; 27); »süsse Flämlein« (10; 30); »Morgenrot« (10; 76); »wänglein rot« (10; 79); »Corall, vnd purpurSeyden« (10;84); »Die schöne Rosenfarb« (10;87); vgl. auch 10;88f., 94, 99, 106, 113, 117 u.ö. Pyritz, Liebeslyrik (1963), S. 69 f. »zihlen« (10;20), »fielen« (10;22), »loffen« (10;24), »getroffen« (10; 26).
260
(»weine«) - »Hertzenbrand« (10; 46 f.). Hier zeigt sich die Wirkung der Liebespfeile, mit denen Christus das Herz der anima sponsa in Brand gesetzt hat: Sie ist bereit, ihm an jeden Ort zu folgen, um wieder in seiner Nähe zu sein (10; 57—59). Doch bevor die Töchter von Zion ihr den Weg weisen können, fordern sie eine Beschreibung des Geliebten (10; 60 f.), 162 die ihnen die sponsa voller Enthusiasmus gewährt. Alliterationen, 163 Lautmalerei und Gleichklang der Vokale 164 sorgen für einen dem Gegenstand der Betrachtung angemessenen sprachlichen Schmuck. Während die erste der Beschreibungsstrophen (10; 68—75) wie der Hoheliedvers 5,13 den Geliebten mit verschiedenen Wohlgerüchen in Verbindung bringt, sind die übrigen drei Strophen seiner optischen Erscheinung gewidmet. Das idealisierende Schönheitslob läßt ihn in statuarischer Schönheit erstarren. Nach dem Muster petrarkistischer Überbietung zeigt der Dichter, daß die göttliche Schönheit alle irdische übertrifft. Selbst die erhabensten Naturerscheinungen und die kostbarsten Stoffe können einem Vergleich mit dem Seelenbräutigam nicht standhalten. Ihre Schönheit ist höchstens ein schwacher Abglanz der göttlichen; Sonne und Mond haben ihren Glanz, Purpurseide und Korallen ihre Röte von ihm (10; 8 0 - 8 2 ) , der alle Schönheit auf sich vereint.165 Farben sind ein wichtiger Bestandteil des typisierenden petrarkistischen Schönheitslobs. Spee konzentriert sich auf den Kontrast >rot - weißweißemrot und weiße Wackernagel (1872), S. 156 f. und Eikel (1956), S. 51 f. 167 C a n t . 5 , 1 0 . ; vgl. auch Jes. 1,18. 168 Jacobsen (1954), S. 142. 162
143
261
samen Tod. 169 Besonders eindringlich wirken diese Fragen nicht allein durch die insistierende Nennung von Rot und Weiß und deren Bedeutungsverschiebung, sondern auch dadurch, daß die Töchter von Zion die Äußerungen der sponsa fast wörtlich wiederholen. So werden in der zweiten Hälfte der 13. Strophe die Aussagesätze der ersten Hälfte der vorigen Strophe lediglich in Fragesätze umgeformt. Im zweiten Teil ihrer Rede weisen die Töchter Zions der sponsa den Weg ins rote »kelterhauß« (10; 113), zum Kreuz. Dieses änigmatische Bild ist biblischer Herkunft. Das Motiv des Keltertreters aus Jesaja63,2f. wurde im Mittelalter als Präfiguration des leidenden Erlösers und als Hinweis auf die Eucharistie gedeutet.170 Im Bild der mystischen Kelter konnte Christus als Keltertreter und als gekelterte Traube interpretiert werden.171 Eine Verbindung zwischen diesem Motivkomplex und dem Hohenlied stellte bereits im 3. Jahrhunden der Kirchenlehrer Hippolyt her. 172 Auch das Motiv des fons vitae, auf das Spee in den Versen 10; 114 f. anspielt, ist bereits in den Schriften der Kirchenväter vorgeformt. 173 Zu seinen biblischen Grundlagen zählt u. a. der »puteus aquarum viventium« des Hohenliedes.174 Dieses geistliche Brunnenmotiv, das Spee auch in den Titelzeichnungen des >TugendbuchsTrutznachtigall< verwertet, zählt zu den populärsten Bildern des mittelalterlichen Erbauungsschrifttums. Wie im Motiv der Kelter und des Brunnens, so erweist sich auch im Bild der Rosen die Kontinuität der mittelalterlichen Tradition. Seit Bernhard von Clairvaux gehört die Rose zu den zentralen Motiven der Passionsmystik.176 In diesem Uberlieferungsstrang gilt die Rose nicht nur als Leidens-, sondern wie schon seit der Antike zugleich auch als Liebessymbol. 177 Mit diesem traditionsbefrachteten Motivbestand zeichnet Spee ein eindringliches, aber auch verklärendes Bild des sterbenden Erlösers. Die gesuchten und zugleich expressiven Umschreibungen für die Wunden Christi wie die »Brünnlein«- (10; 114) und »röselein«-Concetti (10; 117) lassen sein Leiden kaum mehr als ein irdisches erscheinen. Mit dieser Technik balanciert Spee auf 169
170
172 173 174 175 176
'77
Aktive Tätigkeitsverben beleben die Szene; vgl. z . B . »gefarbet« (10; 92), »verarbet« (10; 94), statt eher >farblosem< »Jst« (10; 101) und »Thut [ . . . ] tragen« (10; 102). Thomas (1936), S. 8 u. 5. - Vgl. Jacobsen (1954), S. 103 Abb. 49, Emblem des >pressoir mystiqueVitis mysticaliegen< (10; 146), »rasten« (10; 152) und »leinen« (10; 150) in den beiden letzten Strophen deuten diese Beruhigung an. Wie in Gedicht Nr. 2 der >Trutznachtigall< eröffnet sich auch Oppel (1911), S. 47. - Vgl. Jacobsen (1954), S. 159. Rosenfeld, Studien (1963), S. 170 f. Cant. 1 , 3 . - Vgl. Meloni (1975), S. 8. 263
hier im Spannungsfeld extremer, unvereinbarer Begriffe, zwischen »süssigkeit« und »pein« (10; 148 f.), ein für die Sprache letztlich unzugänglicher Bereich der Gotteserfahrung. In den Schlußversen des Liedes Nr. 10, in denen sich die anima sponsa gänzlich von der Welt ab- und Christus zuwendet, scheint die Polarität von Traum und Wachen gänzlich aufgehoben zu sein. Es entsteht ein eigenartiger Schwebezustand, eine traumhafte >ÜberrealitätWiedergeburtTugendbuch< und zu den >Exerzitien< Die Liedergruppe TN Nr. 12—19 vereint recht unterschiedliche Themen: Auf die »Ermahnung zur Büß an den Sünder [...]« (12; 1 f.) folgt das VanitasGedicht »Conterfey des Menschlichen Lebens« (13; 1 f.). Zur inneren Sammlung des Lesers soll »Das Vatter Vnser poetisch auffgesetzt« (14; 1 f.) beitragen, dem sich zwei Büß- und zwei Trostlieder (Nr. 15 f. und 17 f.) anschließen. Den Abschluß dieser Gruppe von Gedichten bildet der »Poetisch gesang von dem H. Francisco Xauier [...]« (19; 1 f.). Das Eingreifen der göttlichen Gnade, das Spee im Wirken des Ostasienmissionars exemplarisch verwirklicht sieht (GTB368,5—9), verbindet das Xavier-Lied, das scheinbar aus dem thematischen Rahmen der >Trutznachtigall< fällt, mit den Büß- und Trostliedern,1 die ebenfalls das Vertrauen auf die Gnade Gottes - einen der Grundpfeiler der Speeschen Theologie2 - stärken sollen. Das Vanitas-Lied TN Nr. 13 sowie die Büß- und Trostlieder der >Trutznachtigall< gehören zu der Gruppe der älteren Lieder, die Spee ursprünglich für das >Tugendbuch< gedichtet hatte.3 Das poetische Gleichnis von der »eitelkeit des menschlichen lebens« (GTB182,20 f.) entnahm der Dichter Kapitel II 9 des >TugendbuchsTugendbuchsTrutznachtigall< gehörten ursprünglich in Kapitel II 8 des >Tugendbuchs< zu einer Übung zur Festigung des Gottvertrauens »in einer sehr grossen betrübnuß vnd betrangnuß 1 2 3
Auch im Sponsazyklus spielt die Gnade eine wichtige Rolle; vgl. T N Nr. 2; 12. Oorschot, Abhandlung (1968), S. 51 u. 54 f. Die versifizierte Fassung des Vaterunsers (TN Nr. 14) ist lediglich in der Pariser GTB-Handschrift überliefert (GTB S. 546f.); eine frühe Fassung des Xavier-Liedes (TN Nr. 19) findet sich in GTB Kap. III 16.
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deß hertzens« (GTB 162,17 f.). Spee vertraut vor allem auf die tröstliche Wirkung, die von der Betrachtung des Leidens Christi ausgeht. In der >Trutznachtigall< schließen sich die Gedichte aus den verschiedenen Kapiteln des >Tugendbuchs< zu einer fortlaufenden seelischen Entwicklungsreihe zusammen, wie sie in den Betrachtungen der ersten und bis zum Beginn der zweiten Exerzitienwoche vorgezeichnet ist. Nacheinander macht Spee den Bußruf an die gottvergessene Seele (TN Nr. 12), die Vergänglichkeit des Menschen (TN N r . 13), die innere Umkehr des Sünders (TN N r . 15 f.), seine gnädige Wiederaufnahme durch Gott, den Trost in der Nähe des Gekreuzigten (TN Nr. 17 f.) und die Nachfolge Christi, die der Heilige Franz Xavier beispielhaft praktiziert hat, zum Gegenstand seiner meditativen Lyrik. Im Bußruf, der den zweiten Gedichtzyklus der >Trutznachtigall< eröffnet, formt Spee, ähnlich wie er es bereits in einigen Prosa-Andachten des >Tugendbuchs< getan hat, den >Ruf des KönigsRuf< des himmlischen Fürsten durch den Ruf eines weltlichen Königs veranschaulicht, der seine Gefolgsleute zum Feldzug sammelt, so übersetzt Spee den göttlichen >Ruf< in die konventionelle Bildersprache der zeitgenössischen Liebesdichtung, wobei er sich durch den Rückgriff auf das beliebte Motiv der militia Veneris der von Ignatius im Exerzitienbuch gewählten Kriegs- und Kampfesmetaphorik wieder annähert. Dem Vanitas-Motiv, das in der Sündenbetrachtung der ersten Exerzitienwoche anklingt, wenn der Übende »um Erkenntnis der Welt« bittet, »damit ich mit Abscheu die weltlichen und eitlen Dinge von mir entferne«, 5 widmet Spee das Gleichnisgedicht »Conterfey des Menschlichen Lebens« (13; 1 f.). Durch das alttestamentarische Bild von der Blume, die rasch aufblüht und ebenso rasch verwelkt, 6 veranschaulicht Spee die Eitelkeit aller irdischen Schönheit und insbesondere die Todverfallenheit des Menschen. Sein Gleichnisgedicht begründet implizit den vorausgegangenen Ruf zur Umkehr und verleiht ihm >sub specie mortis< Nachdruck. Die zentralen Themen der ersten Exerzitienwoche, die Erkenntnis der eigenen Sündhaftigkeit, die Erweckung von Reueschmerz und Beschämung über die begangenen Verfehlungen und den Entschluß zur Besserung greift Spee in den beiden Bußliedern T N Nr. 15 und 16 auf, die sich in einigen Passagen deutlich an die ignatianische Sündenbetrachtung 7 anlehnen. Beide Gesänge sind Ausdruck tiefster Zerknirschung des reumütigen Sünders, der Gott um Gnade und Vergebung bittet. Wie sich der Exerzitant in der ersten Woche der >Geistlichen Übungen< »alle Sünden des Lebens ins Gedächtnis 4
s ' 7
GTB Kap. II 4, II 11 und III 11. - Vgl. Nr. 91-100; MI, Ex., S. 314-322. Nr. 63; MI, Ex., S.292. Hiob 14,1 f.; Ps. 90,5f.; 102,12; 103,15; Jes.40,6f. Nr. 4 5 - 6 1 ; MI, Ex., S. 274-290.
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rufen« und ihre Häßlichkeit im einzelnen erwägen soll,8 so unternimmt auch das lyrische Ich in Spees Bußliedern eine negative Bestandsaufnahme seines bisherigen Lebens: Ο Gott wan Jch mein Laster all Mitt ziffer solt befangen, Weit schrittens vber zihl, vnd zahl (16; 11-13).
Im dritten und vierten >Punkt< der ignatianischen Sündenbetrachtung besinnt sich der Übende auf seine Nichtswürdigkeit und stellt ihr Weisheit, Allmacht und Güte der göttlichen Majestät gegenüber, gegen die er sich vergangen hat.9 Ahnlich ruft sich der bußfertige Sünder in Spees Gedicht Gottes väterliche »Güt, vnd Milte« (16; 52) ins Gedächtnis und gelangt zur schmerzlichen Selbsterkenntnis: Bins nimmer werth, Mich Lufft, vnd Erd Jn ihrem Schoos ertragen (16; 87 f.).
Dieselbe Einsicht gewinnt auch der Exerzitant im fünften >Punkt< der Sündenbetrachtung, wenn er >beim nachdenklichen Durchgehen durch alle Geschöpfe« staunend erkennt, »wie sie mich am Leben gelassen und in ihm erhalten haben«,10 obgleich er solche Fürsorge keineswegs verdient hat. Auch der Dialog zwischen dem verlorenen Sohn und seinem gütigen Vater in den Strophen 13—16 des Liedes Nr. 16 der >Trutznachtigall< findet seine Entsprechung im Exerzitienbuch. Er ist offenkundig den ignatianischen Zwiegesprächen, besonders dem »Gespräch der Barmherzigkeit«, das der Übende am Ende der Sündenbetrachtung durchführen soll, nachgebildet.11 Wenn Ignatius in den >Zusätzen< zu den Übungen der ersten Exerzitienwoche empfiehlt, nicht an Dinge zu denken, »die Gefallen und Freude erwekken«,12 und wenn sogar der Raum, in dem sich der Exerzitant aufhält, verdunkelt werden soll, um Sündenschmerz und Reue zu steigern,13 so findet sich in den Natureingängen der Speeschen Bußlieder ein Reflex dieser wohlgezielten Affektlenkung. In der >Trutznachtigall< beklagt der Sünder seine Missetaten in nächtlicher Finsternis und fordert die Gestirne auf, sich zu verdunkeln.14 Für die »Christliche Seel« (17; 1), die ihre »trawrigkeit« (17; 2 f.) überwunden hat, bietet dagegen eine amoene, sympathierende Frühlingslandschaft im hellen Sonnenschein einen adäquaten Aufenthaltsort.15 » ' " »
Nr. 56 f.; MI, Ex., S. 284 u. 286. Nr. 58 f.; MI, Ex., S. 286 u. 288. Nr. 60; MI, Ex., S. 288. Nr. 61; MI, Ex., S. 288 u. 290. Nr. 78; MI, Ex., S. 304. » Nr. 79; MI, Ex., S. 304. " T N Nr. 15, Str. 12-15, Nr. 16; 7 - 1 0 . is TN Nr. 17, Str. 1 - 4 u. 11; T N Nr. 18, Str. 1 - 5 .
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Im jähen Wechsel zwischen der Trostlosigkeit des reumütigen Sünders und der Erfahrung geistlicher Tröstung zeichnet sich ein spiritueller Prozeß ab, wie er ähnlich auch beim Vollzug der >Exerzitien< stattfindet. Wie in den Geistlichen Ubungen< folgt auch in den Liedern der >Trutznachtigall< auf die innere Umkehr des bußfertigen Sünders die liebende Hinwendung der Seele zum Gekreuzigten. 16 Spee will - den Intentionen der ignatianischen >Exerzitien< gemäß - den frommen Leser zur Neuordnung seines Lebens veranlassen, die im wesentlichen in der Einübung der Nachfolge Christi bestehen soll. In der >Trutznachtigall< gibt das Gedicht von Franz Xavier, der als Vorbild einer >christusförmigen< Existenz dienen kann, dem Gläubigen eine Orientierungshilfe für die angestrebte Umgestaltung seines Lebens. Das exemplum des heroischen Missionars leitet über zu dem umfangreichen Leben-Jesu-Zyklus im letzten Teil des Liederbuchs, der dem Leser vorwiegend durch die affektbetonte Betrachtung der Passion die Gestalt des sponsus Christus nahebringen und die Gott liebende Seele zur imitatio ihres Erlösers führen möchte. Die Sponsalieder der >Trutznachtigall< und gleichermaßen auch die Gruppe der Büß- und Trostgedichte lassen erkennen, in wie hohem Maß das Andachtsverfahren der >Exercitia spiritualia< Spees dichterisches Werk beeinflußt hat. Durch geschickte Adaption der ignatianischen Betrachtungsmethode gewinnt der poeta theologus entscheidende Anregungen für die ansprechende, das Gemüt des Lesers bewegende Darbietung geistlicher Themen. Spee macht sich auf vielfältige Weise die schöpferischen Möglichkeiten einer modernen >rhetorisierten< Meditationstechnik zunutze und steigert mit ihrer Hilfe nicht nur die andachtsfördernde Wirkung seiner Lieder, sondern auch deren ästhetischen Reiz.
9.2. Die Umdeutung des petrarkistischen Motivbestands in den Bußliedern (Nr. 12 und 15 f.) In den Bußliedern der >Trutznachtigall< zeichnet sich eine Inversion der Figurenkonstellation ab, die dem Sponsazyklus zugrunde liegt. Nicht mehr die Seele fleht inständig zu ihrem unerreichbaren Geliebten, sondern umgekehrt weist nun der Sünder das Angebot der göttlichen Gnade ebenso ab, wie die Geliebte im petrarkistischen Liebesgedicht den werbenden Mann. In der »Ermahnung zur Büß an den Sünder daß er die Burg seines Hertzens Christo einräume« (12; 1 —3) greift Spee das Motiv der Herzensburg auf, das die weltliche Dichtung häufig in Zusammenhang mit der ovidischen LiebeKrieg-Allegorie verwendet. Eine geistliche Transformation dieses Motivs, wie
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T N Nr. 17, Str. 5 - 9 und Nr. 18, Str. 6 - 1 0 .
sie etwa Teresa von Avila vornahm,17 kann sich auf die Türklage des Hohenliedes18 und eventuell auch auf die Festungsmetapher in Cant. 8,8 berufen. Spee verbindet das poetische Bild vom Castrum amoris19 mit dem geistlichen Rufmotiv, das den Exerzitanten beim Vollzug der >Geistlichen Übungen< zur Nachfolge Christi lädt. Anders als seine weltlichen Dichter-Kollegen, die das Herz der spröden Geliebten zur >Kapitulation< auffordern, appelliert Spee an den Sünder und ruft ihn zur Ubergabe der Herzensburg an Christus auf. (Strophe 1 - 3 ) . Fast wörtlich übernimmt das Bußlied T N Nr. 12 in der mittleren seiner fünf Strophen den Ruf des Liebenden aus Cant. 5,2: »Tu mir auf, liebe Freundin«; die emphatische Epizeuxis »Thu auff, thu auff,« (12;20) unterstreicht in der >Trutznachtigall< die Dringlichkeit einer Entscheidung für den himmlischen Bräutigam. Um ihrem Aufruf Nachdruck zu verleihen, weist die zweite Strophe, indem sie auf die Thematik des folgenden Vanitas-Lieds vorausgreift, den Sünder auf die Sinnlosigkeit seines Widerstandes hin. Mit ihrem ersten und mit ihrem letzten Wort beharrt diese Strophe auf dem vernichtenden Urteil »Vergebens« (12; 12 u. 19). Unweigerlich ist die Herzensburg wie alles Irdische der Vergänglichkeit preisgegeben. Während der göttliche sponsus »an deinem hertzen still vnd sanfft anklopffete« (GTB 344,25 f.) und freundlich um Einlaß bittet, erobert der Tod, der hier an die Stelle des Cupido carnalis tritt, die vermeintlich >feste Burg< unerbittlich mit seinen metonymisch »bleichen pfeilen« (12; 31). Auch Ignatius von Loyola verwendet im Exerzitienbuch das Motiv der Festung in einem ähnlichen Kontext. In der vierzehnten Regel >zur Unterscheidung der Geister< vergleicht der Autor den Versucher mit einem kriegerischen »Anführer, der das, was er haben will, besiegt und ausplündert«; und weiter erklärt Ignatius: Denn wie ein Hauptmann oder Heerführer erst sein Lager aufschlägt und die Stärke oder den Zustand einer Burg ausspäht und sie dann an der schwächsten Stelle angreift, auf die gleiche Weise schleicht auch der Feind der menschlichen Natur umher und belauert ringsum alle unsere Tugenden, [...] und wo er uns schwächer und hilfsbedürftiger zu unserem ewigen Heil hin findet, dort schlägt er gegen uns los und trachtet, uns zu überwältigen.20
In Anlehnung an die Wahlbetrachtungen der >Geistlichen Übungen< fordert Spees Bußlied den Leser auf, dem göttlichen Ruf zu folgen. Die Gewißheit des Todes und die Ungewißheit der Todesstunde drängen zur raschen Entscheidung. Wie die weltliche Liebesdichtung mit ihrem >Carpe diem< angesichts der
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Martz (1954), S. 248. ι» Cant. 5 , 2 - 6 . - Vgl. Jacobsen (1954), S. 116. 19 Vgl. die emblematischen Varianten dieses Motivs bei Henkel/Schöne (1967), Sp. 1763 und Jacobsen (1954), S. 55-63 Abb. 32-35. Μ Nr. 327; MI, Ex., S. 526. 273
flüchtigen Lebenszeit zum Liebesgenuß aufruft, 21 mahnt das Gedicht Nr. 12 der >Trutznachtigall< zur rechtzeitigen Buße, ehe der Tod dem Sünder die Umkehr für immer verwehrt. Denn, wen der zeitliche Tod unvorbereitet, nicht »in gnadenzeit« (12; 32) ereilt, der erleidet den ewigen Tod. Der Sünder errichtet sich in seiner Herzensburg selbst den Kerker, in dem ihn »der sünden bande(n)« (12; 25) festhalten und von der göttlichen Gnade trennen. Unter dem veränderten Blickwinkel der Bußlieder erscheint die Trennung von Gott nicht mehr dadurch verursacht, daß sich der göttliche sponsus nach petrarkistischem Muster der sich in Sehnsucht verzehrenden Seele entzieht; vielmehr erweist sich die Trennung des Sünders von Gott als selbstverschuldetes Verlassen der angebotenen Gemeinschaft, als Flucht des verlorenen Sohns »ins wilde« (15; 74), den locus terribilis der Gottesferne.22 Während zuvor die sponsa beständig rief und Christus suchte, kehrt sich nun das Ruf- und Suchmotiv um, die Seele muß bekennen: Wan rieffest Mir, Lieff Ich von Dir; [·••] Wan suchtest Mich, Hab flohen Dich (16; 63-65).
Die Anrede des Sünders als »verlohren Sohn« (12; 24 und 15; 75) deutet einen Paradigmawechsel gegenüber den Sponsaliedern an. Spee verdeutlicht in den Bußliedern die Beziehung zwischen Gottheit und Menschenseele nicht mehr ausschließlich durch die Vorstellung der Seelenbrautschaft; er übernimmt das Modell der Gotteskindschaft, wie es in der Bibel u.a. das Gleichnis vom verlorenen Sohn in Luk. 15,11-32 vorzeichnet. Doch schimmert durch den Bußruf »Kehr wider, ο verlohren Sohn« (12;24) noch unverkennbar das »revertere, revertere Sulamitis!« des Hohenliedes (Cant. 6,12) hindurch, das in der traditionellen Hohelied-Exegese auf die innere >Umkehr< des Sünders bezogen wurde.23 Im verzeihenden Vater des verlorenen Sohns verkörpert sich die Caritas wie im sponsus Christus und wie im letzten Teil der >Trutznachtigall< in der Figur des pastor bonus, der sein verlorenes Schäfchen sucht.24 Sie alle sind auswechselbare Größen in einem Rollenspiel, das den >Dialog< zwischen Gott und der menschlichen Seele durch immer neue poetische Bilder beleuchtet. Gerade in 21
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Vgl. ζ. B. Opitzens Lied (1624), »Ach Liebste laß vns eilen« (abgedruckt bei Wagenknecht (1976), S. 56). Zum locus terribilis vgl. Garber (1974), S. 240—242. - Mit einer ähnlichen Chiffre illustriert das Sponsalied TN Nr. 7 (Str. 10) die vergebliche Flucht vor der Liebe Gottes. Gentner (1965), S. 108. - Z.B. Alanus ab Insulis in PL210, 972A. Im GTB veranschaulicht Spee die Beziehung zwischen Gott und Mensch nacheinander durch das Beispiel mütterlicher und ehelicher Liebe (S. 406—408). Im GTB 132,12 nimmt auch der pastor bonus den Ruf »Kehre wider« auf.
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ihrer Austauschbarkeit enthüllen die wechselnden Rollen, in denen Gott und Mensch hier einander begegnen, das Ungenügen menschlicher Begriffe und Denkkategorien, gemessen an ihrem Redegegenstand.25 Durch den ständigen Rückgriff auf die petrarkistischen Motive der Sponsalieder stellt Spee Verbindungen her zwischen den Bußliedern der >Trutznachtigall< und den religiösen Liebesgedichten, die sein Liederbuch eröffnen. Spee gestaltet die Sehnsucht des Sünders nach Gnade mit den gleichen Motiven wie die Sehnsucht der Gespons Jesu nach dem Seelenbräutigam; der Schmerz des reumütigen Menschen und die Liebespein der Gott liebenden Seele treten in ein Analogieverhältnis, beide sind als komplementäre Erscheinungsformen des amor divinus aufzufassen. Begünstigt wird die Verpflanzung der petrarkistischen Motivik auf den Boden der Bußgedichte dadurch, daß Spee bereits in den Sponsaliedern die Sprache der petrarkistischen Liebesklage mit Anklängen an die Psalmen durchsetzt. Damit sind die Weichen für die Übernahme petrarkistischer Motive in den Kontext von Buße und Reue gestellt. In Anlehnung an Psalm42,4 (Ps.41 der Vulgata)26 beteuert die büßende Seele: Mein Speiß, vnd Tranck mir sollen sein Die zähr so werd vergiessen (15; 117f.),
und die liebeskranke sponsa klagt in T N Nr. 6 ganz ähnlich: Die thranen mich ernehren, Seind meine speiß, vnd tranck (6; 88f.).
Auch wenn die büßende Seele beschließt: »Nur seufftzen wil, vnd wainen« (16; 22), gleicht sie darin der sponsa. Wie die Liebe zum sponsus Christus beansprucht auch die Buße den ganzen Menschen 27 und veranlaßt ihn zur Weltabkehr. 28 Die Büß- und Trostlieder setzen wie die Sponsagedichte Natur und Mensch miteinander in Beziehung. Einen angemessenen Rahmen für die Klage über ihre Schuld findet die Seele in der »braune[n] Nacht« (15; 3 und 16; 7). 29 Sie ruft Mond und Sterne als Zeugen an (15; 9 - 2 6 ) und fordert sie auf, mit ihr zu trauern (15; 91 —110). Umgekehrt freut sich die Seele in der Frühlingsnatur, daß ihr die Sünden vergeben sind (TN Nr. 17 und 18). Das Echo soll die Sündenklage wie den Ruf nach dem sponsus vervielfachen.30 Wie die göttliche Liebesflamme (3; 3—10) so quält auch das Gewissen die Seele bei Tag und Nacht und läßt sie keine Ruhe finden (16; 3 — 10). Sie verbringt ihr Leben in Eikel (1956), S. 33. Vgl. Oorschot im Kommentarteil des GTB (1968), S. 610 (zu GTB 331,31). TN 15; 105f. u. 1 2 3 - 1 2 6 ; vgl. im Sponsazyklus 8 ; 6 1 - 6 4 . 2« TN 15; 1 2 7 - 1 3 0 u. T N Nr. 15, Str. 14; vgl. im Sponsazyklus Lied Nr. 8, Str. 11. » Garber (1974), S. 2 4 0 - 2 4 6 u. 259 f. 30 TN 15; 129f.; vgl. im Sponsazyklus Lied Nr.4, Str. 1 7 - 2 0 . 25 26
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»stätem leid« (15; 125). Die Gewissensqualen des Sünders äußern sich mit ähnlichen Symptomen wie die Liebespein der anima sponsa. Sein Herz ist krank und verwundet (15; 119), es wird von Reueschmerzen »gespalten« (15;30) oder geschmolzen (15;57f.). Doch nicht nur der Sünder selbst leidet unter seiner Schuld, auch Gottes »trewes hertz« (16; 56) wird gequält. Die Seele muß gestehen: Fast alle stund Jchs hab verwund, Ο wee, wer hats gezehlet! (16; 57 f.)
Dieses Herz bleibt auch für die Reue des Sünders nicht unempfindlich. Zuversichtlich kann der verlorene Sohn seiner Rückkehr zum verzeihenden Vater entgegensehen: Da wurd alßbald, Mitt gnadenspalt Dein hertz in stück zerbrechen (15; 65f.).
Wenn der Sünder mit seinen Tränen selbst Steine zu erweichen hofft (15; 135-138), wieviel eher muß er dann den gütigen Vatergott rühren, derein »weiches Hertz« (16;80; vgl. GTB498, lf.) sein eigen nennt. Er verspricht dem verlorenen Sohn: Ach kind, mein hertz ob deiner büß Jst schon für lieb zerschmoltzen (16; 105 f.).
Das Bild des >weichen< Herzens weist zurück auf den sponsus Christus, dessen »miltes Hertz« (2; 49) die sponsa in Lied Nr. 2 preist und mit ihren Tränen erweicht (2; 40—42). Auch wenn der Vater seinem heimkehrenden Sohn entgegengeht und mit seiner Umarmung symbolisch die Gotteskindschaft bekräftigt (16; 91—97), schließt dieses Bild an den Motivbestand der Sponsalieder an. 31 Durch die doppelte Einbindung ganzer Bildfelder in die religiösen Liebeslieder des Sponsazyklus und in die Bußlieder stellen sich beide Gedichtgruppen als Einheit dar. Indem Spee Motive aus ihrem bisherigen Kontext herauslöst und in einem neuen Sinnzusammenhang >zitiertTugendbuchs< explizit darlegt (z.B. Kap. III 9), setzt er in seinen Liedern mit Hilfe der vielfältigen motivischen Übereinstimmungen poetisch um. Im letzten Teil der >Trutznachtigall< führt Spee dieses dichterische Verfahren fort, so daß die verschiedenen Themenkreise durch bedeutungsvolle Anspielungen und Verweisungen miteinander in enger Beziehung stehen.
31
T N 5 ; 6 - 1 1 ; vgl. im Sponsazyklus Lied Nr. 2, Str. 5 und 2; 47-52.
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9.3.
Spees Trostgedicht TN Nr. 18
9.3.1. Thematik, Aufbau und Metrum Das Lied Nr. 18 der >Trutznachtigall< schildert den »Jubel einer Christlichen Seelen nach vberwundener Trawrigkeit« (18; 1—3) vor dem Hintergrund der Frühlingsnatur. Zwei Sinnbilder des göttlichen Trostes beherrschen das Gedicht: Die Uberwindung der winterlichen Kälte und die Belebung der Natur durch die Kraft der Sonne stehen in den ersten vier Strophen im Vordergrund; die Strophen 5—10 wenden sich dem Bereich des Mikrokosmos zu und parallelisieren das Bild der Honig sammelnden Bienen mit der Erfahrung des Trostes, den die Seele im Kuß des Gekreuzigten findet. Spees Gedicht paraphrasiert kunstvoll die Kreuzesandacht der pia anima, wie sie im Titelkupfer der >Trutznachtigall< bildlich dargestellt ist und die die Ausgangssituation vieler >TugendbuchTugendbuchNatureingang< doch ihr Bild und stellt damit zugleich eine metaphorische Verbindung zwischen dem Begriff des Trosts und der Sonne her. Die Vertauschung von Konkretem und Abstraktem reduziert aus Spees Perspektive müßte man wohl sagen: erhebt - die Sonne zum sinnfälligen Zeichen des göttlichen Einwirkens auf die Seele. Auch das folgende Verspaar unterstreicht durch seine überbietende Litotes den Zeichencharakter der Naturerscheinungen. Die Dingwelt wird mit spiritueller Bedeutung aufgeladen, und gleichzeitig macht dieses poetische Verfahren die Erfahrung des Trostes »scheinbar« (18;4), d.h. der sinnlichen Wahrnehmung zugänglich, sichtbar. Spee verleiht seelischen Vorgängen bildhaften Ausdruck und kommt darin den Bedürfnissen seiner Zeitgenossen entgegen, die den >Augenschein< suchten und für die >Augenlust< in hohem Maß empfänglich waren. Mit der Verwandlung, die »so reines Liecht« (18; 7) vom Himmel verursacht, beschäftigen sich die folgenden Verse. »Endlich« (18; 6) ist die Seele von der Last ihrer Trauer befreit. Spee läßt die polaren Begriffe »Traurigkeit« und »Frölichkeit« im Anfangsreim der Zeilen 18 und 19 aufeinanderstoßen, um den übergangslosen Wechsel der extremen Stimmungen wiederzugeben und um die Wirkung der geistlichen consolatio zu verdeutlichen. Mit einer dreifach gestuften Klimax von Imperativen34 schüttelt die Seele »Angst, vnd Schmertzen« (18; 10), die sie peinigten, ab. Die Anthropomorphisierung der freudigen wie der traurigen Stimmungen durch ausdrucksstarke verba movendi,35 die geminatio »Weichet, weichet« (18; 10) und die drastische Verbalmetapher »erstochen« (18; 18) beleben die emphatische Diktion dieser Verse. In den beiden ersten Strophen des Trostgedichts kommen weniger die sichtbaren Veränderungen, die die Frühlingssonne in der Natur bewirkt, als die unsichtbaren in der Seele selbst zum Ausdruck. Die pia anima begreift die Verwandlung der Natur im Frühling als Sinnbild und Bestätigung ihrer eigenen Erneuerung. Wie sie durch den göttlichen Trost ihre Lebensfreude zurückgewonnen hat, so »lacht« (18; 15) die Natur wieder, nachdem die Sonne die winterliche Kälte »gebrochen« (18; 16) hat. Nicht das Naturerlebnis, sondern die Erfahrung eines >Seelenfrühlings< ist der Ursprung dieses Liedes.
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»Weichet, weichet« (18; 10), »Euch hinaussen trollt« (18; 12), »Flieget hinn« (18; 13). »Euch hinaussen trollt« (18; 12), »Weichet« (18; 10), »Flieget hinn« (18; 13), »kommen lauffen« (18; 14).
Unter dieser Voraussetzung kann die Freude der andächtigen Seele keine Freude an der Natur um ihrer selbst willen sein,36 sondern sie erwächst primär aus dem Erlebnis des geistlichen Trostes. In der verweisenden Funktion, die die Natur in diesem Gedicht erfüllt und die darüber hinaus für die Naturauffassung des 17. Jahrhunderts charakteristisch ist, wird das Erbe der mittelalterlichen allegorischen Weltdeutung wirksam. Die traditionelle Naturallegorese deutete den Frühling als Sinnbild der geistlichen Erneuerung.37 Zum Stichwort >Hiems< notiert Alanus ab Insulis: »Dicitur tentatio sive gelicidium infidelitatis; unde in Cant.: Hiems transiit.«38 Dieselbe Stelle des Hohenliedes, Kapitel 2, Vers 10-14, interpretiert Spee im >Tugendbuch< ebenfalls nach dem sensus tropologicus:39 Ich läse auff einem Sontag das hohe lied Salomonis, vnd wie ich kam zum spruch der da sagt; Der sommer seye kommen, vnd die stimm der Turteldauben habe sich in vnseren landen hören lassen, betrachtet ich den spruch, vnd befände so vill, daß, wann die Seel anfahet zu seufftzen wie ein Turteldaub, so grünen in vns die blumen der lieb vnd andacht; dahero dan nicht wunder ist, das etliche kalt sein wie der winter, dan es ligt auff ihnen das gefroren eyß der sünden (GTB387,32—388,2; Nr. 21).
Die Schilderungen einer idealisierten, geschmückten Natur im Hohenlied bilden die Grundlage für die zahlreichen Gartenallegorien der mittelalterlichen Erbauungsliteratur.40 >SeelengärtleinTrutznachtigall< (S. 9) stellt bereits eine Verbindung zu dieser Literaturgattung her. Auch die Naturdarstellung in TN Nr. 18 zeigt den Einfluß des Hohenliedes.42 Wie die andächtige Seele in Spees Trostgedicht (18; 14-16) freuen sich die Liebenden in Cant. 2,11, daß der Winter vorüber ist. Die Aufforderung: »Komm, mein Freund, laß uns aufs Feld hinausgehen,« aus Cant. 7,12 (Vers 11 der Vulgata) formt Spee um zur Spaziergangsformel, mit der die zeitgenössische Schäferdichtung häufig den Leser an den Schauplatz ihrer 36
Schmidtke, Erbauungsliteratur (1982), S. 357. Schings (1966), S. 99. - Ζ. B. Eucherius von Lyon, PL 50,741A: »Ver vitae renovatio, vel per baptismum vel per resurrectionem.« Ahnlich Hrabanus Maurus, PL 111, 302 D-303 A. 38 PL210, 810C. - Vgl. Eucherius von Lyon, PL50, 740D: »Glacies durities peccatorum.« Ahnlich Hrabanus Maurus, PL111,327C und Hieronymus Lauretus, >Sylva allegoriarums S. 526 (>HyemsTrutznachtigall< fast durchweg die Trennung zwischen menschlichem Ich und göttlichem Du aufrechterhalten bleibt. 44 Für die Naturbilder in den Strophen 3 und 4 des Trostgedichts könnte die Aufzählung von Naturelementen in Cant. 2,11 —13 als Vorbild gedient haben. 45 Diese beiden Strophen bestehen im wesentlichen aus zwei anaphorischen Reihungen, in denen Spee amöne Naturelemente zu einem bunten, lebhaften Bild summiert. Indem die Seele, die in ähnlicher Weise wie die Natur verwandelt wurde, dem sponsus Christus die Schönheit der Frühlingsnatur zeigt, 46 weist sie zugleich auf die Veränderung in ihrem eigenen Innern hin. Bedingt durch ihre eigene Erneuerung bestaunt die anima sponsa den Frühling als zweites Schöpfungswunder. Der Anblick der neubelebten und verschönten Natur spiegelt und steigert die Empfindungen des frommen Betrachters. Alles bewegt und freut sich.47 Auch Anspielungen auf die antike Dichtung fließen mit ein; Spee übernimmt von den lateinischen Autoren das Motiv der >lachenden< Wiesen (18; 24),48 die zum Lustwandeln einladen. Wie im weltlichen Liebeslied der locus amoenus mit seinen mannigfachen Annehmlichkeiten menschliches Liebesglück abrundet, 49 so bereiten auch in Spees Trostgedicht die idealisierte Natur und der Frühling als Liebeszeit schlechthin 50 auf die (meditative) Begegnung von sponsus und sponsa vor (Strophe 6). Allerdings beschließt diese Begegnung nicht, wie zu erwarten wäre, den Spaziergang der andächtigen Seele, sondern er findet in einem unbestimmten, in der Erinnerung fast zeitlos gewordenen »Newlich« (18; 44) statt.
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Zum Spaziergangsmotiv vgl. Nowak (1954), S. 45 f. und 50. - Schmidtke, Erbauungsliteratur, (1982), S. 350, verweist auf Parallelen in der Erbauungsliteratur und in der mittelalterlichen Minneallegorie. So weit ich sehe, gebraucht außer der pia anima in T N Nr. 18 nur noch Maria in ihrer Totenklage um Daphnis-Christus die l.Pers. PI. (44; 130—133). Besonders in Cant. 2,12, »Die Blumen sind aufgegangen im Lande, der Lenz ist herbeigekommen, und die Turteltaube läßt sich hören in unserm Lande«, für den Blumenschmuck in T N 18; 22 f. und für den Vogelgesang in 18; 30. »Schaw« (18;28.30.32.34). Zu diesem Eindruck tragen vor allem die anthropomorphisierenden und dynamischen Verben bei: »sich [ . . . ] zieren« (18;22), »Wiesen lachen« (18; 20), »Brünnlein springen« (18; 28). Rener, Arcadia (1974), S. 968. Garber (1974), S. 190-192. Pyritz, Liebeslyrik (1963), S. 234.
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9.3.3. Spees Trostgedicht in der Nachfolge des secundischen Kußgedichts In der Bilderreihe der Strophen 3 und 4 bilden die Bienen, die im Frühling ihre Sammeltätigkeit wieder aufnehmen, den Abschluß (18; 34 f.). Die beiden Verse, die sich den Honig sammelnden Bienen zuwenden, geben den rastlosen Eifer der Insekten durch eine asyndetische Prädikatreihung wieder; die drei Verben »hausen,/ Rauben, klauben« (18; 34 f.) beleben durch Assonanz und Schlagreim die Klangwirkung des Verspaares. Dieses letzte Bild der Naturbeschreibung leitet mit einer Anspielung auf Theokrits >Honigdieb< (19. Idylle)51 über zur interpretatio christiana des (Bienen-)Kußmotivs. Gleich mit den ersten Worten seiner Bienenapostrophe relativiert Spee seine Beschreibung der »ernstlich« (18; 34) arbeitenden Bienen durch die Behauptung »Ledig fahret Ihr nach hauß« (18; 37). Obwohl der Augenschein (18; 34: »Schaw«) und alle Erfahrung des Lesers dagegen spricht, tadelt Spee die Bienen als Müßiggänger. Seine befremdliche vituperatio der sprichwörtlich fleißigen Tiere bedarf einer Begründung. Weshalb die andächtige Seele und mit ihr der Dichter meint, die Bienen tadeln zu müssen, lassen die folgenden Verse ahnen. In ihnen ermahnt die anima sponsa die Bienen, nur an Jesu Lippen zu saugen, weil so viel und so guter Honig wie dort sonst nirgends zu finden sei (18; 38—43). Mit demselben Argument versuchen auch die weltlichen Dichter, die Bienen zur Geliebten zu locken, deren Vorzüge die Honigsüße aller Blüten weit übertreffen. Die Biene gehört zu den beliebtesten Motiven der erotischen Lyrik. Anakreon und Theokrit verfaßten Bienengedichte; in den Epigrammen der >Anthologia Graeca< finden sich die Bienenpostrophe und der spielerische Vergleich der Geliebten mit einer Blume. 52 Der Neulateiner Johannes Secundus (1511 — 1536) verband im BasiumXIX die Bienenapostrophe mit dem Kußmotiv. 53 Er fand unter den Poeten des 16. und 17. Jahrhunderts zahlreiche Nachahmer, die diese beiden Motive immer wieder kunstvoll variierten.54 Eine geistliche Umdeutung des (Bienen-)Kußmotivs wird durch die Bildlichkeit des Hohenliedes begünstigt. Aus dem Bildfeld Biene - Blume - Honig - Kuß, das die weltliche Liebeslyrik vielfach kombiniert, wird man nur die Bienenmetapher vergeblich im >Lied der Lieder< suchen. Das Blumenmotiv kehrt im Canticum an mehreren Stellen wieder.55 Eine Verbindung mit dem Bienenkußmotiv liegt z. B. in Cant. 5,13 nahe, wo die sponsa ihren Geliebten 51 T N 18,38: »stehlet«; ähnlich T N 18; 34 f. Μ Rener, Opitz (1973), S. 69. - Z . B . AP V, 163 und IX, 563. 53 Rener, Opitz (1973), S. 68. M Pyritz, Liebeslyrik (1963), S. 3 3 - 3 5 und Rener, Opitz (1973), S. 70 - 73. - Einen Überblick über das Bienen- und das Kußmotiv geben N o w a k (1954), S. 100—114 und Eikel (1956), S. 192-194. 55 Cant. 2 , 1 f.: »Ich bin eine Blume in Saron und eine Lilie im Tal. Wie eine Lilie unter den Dornen, so ist meine Freundin unter den Mädchen.«
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lobt: »Seine Lippen sind wie Lilien [...]«. An anderen Stellen preist sie die Küsse und den >süßen< Mund des sponsus (Cant. 1,1 und 5,6), und er erwidert dieses Lob: »Von deinen Lippen, meine Braut, träufelt Honigseim« (Cant. 4,11). In der Metaphorik der spirituellen Bibelauslegung wurden diese Bilder als Hinweis auf die reichlich strömende Süße des Gottesworts aufgefaßt.56 Auch im >Tugendbuch< grüßt die meditierende Seele mit deutlichem Anklang an Cant. 4,11 den Mund ihres »Herrn JESU Christi, von deme iederzeit als von einem trieffenden hönigsamen die wundersüsse wortt des lebens abgeflossen seind« (524,4-6; vgl. GTB 68,37f.). Während hier das Motiv der Honigsüße ganz in den Traditionszusammenhang der christlichen spirituellen Schriftexegese eingebunden ist, gelingt Spee in T N Nr. 18 der Anschluß dieser Metapher an die zeitgenössische weltliche Lyrik, wie sie die Kußgedichte in der Nachfolge des Johannes Secundus repräsentieren. Parallelen zum Modell, das der Neulateiner mit seinem Basium XIX gab, verrät insbesondere der Aufbau der fünften Strophe in Spees Trostgedicht. Das Basium XIX des Johannes Secundus weist ein dreiteiliges Bauschema auf:57 In der Anrede an die Bienen betrachtet der Dichter die natürliche Beschäftigung der Bienen und fragt verwundert:»[...] quid adhuc thyma cana rosasque [...] Lingitis?« (Vers 1—3). Hierauf folgt die Einladung, statt aus gewöhnlichen Blumen an den Lippen der Geliebten Honig zu saugen (Vers 4-12). Den Schlußteil beherrscht die eifersüchtige Ermahnung der Bienen, Rivalen von der Geliebten des Dichters fernzuhalten (Vers 13—22). Dem secundischen Gedichttyp liegt die Struktur des Überbietungsschemas zugrunde. Auf eine kunstlose Aussage reduziert lautet sein Grundgedanke: Die Küsse der Geliebten sind süßer als Honig. Aus dieser Erkenntnis schließt der Dichter concettistisch, die Bienen sollten statt auf Blüten an den Lippen seiner Schönen Honig saugen. Spees Kontrafaktur übernimmt aus dem Bauschema des Basium XIX die Form der Apostrophe und die invitatio (Strophe 5 und 8—10). In seiner geistlichen Umformung der Bienenapostrophe äußert er nicht nur wie der Neulateiner sein Erstaunen über die gewöhnliche Aktivität der Bienen, er bescheinigt ihnen kurzerhand die Sinnlosigkeit ihres Sammlerfleißes (18; 36 f.). Diese paradoxe Zuspitzung weckt die Aufmerksamkeit des Lesers für die folgende geistliche Auswertung des Kußmotivs. In Analogie zum Bienenkußmotiv der vorausgehenden Strophen schildert die Strophe 6, wie der >süße< Kuß des Gekreuzigten die »bitterkeit« (18;45) der anima sponsa in lauter Freude verwandelt. Ebenso plötzlich wie im Gedichteingang die Sonne 54 57
Spitz (1972), S. 89 u. 91 f. - Z.B. Alanus ab Insulis, PL210, 7 8 6 D - 7 8 7 A . Rener, Opitz (1973), S. 69. - Im folgenden zitiert nach der von G. Ellinger (1899) besorgten Ausgabe der >Basia< (S. 15 f.).
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als Sinnbild des göttlichen Trosts »durch die wolcken bricht« (18; 5), weicht die niedergeschlagene Stimmung der sponsa »lauter Lüsten« (18; 55). Christus ist für die traurige Seele der geistliche Fels, aus dem der »Brunn, vnd Bach der süssigkeit« (18; 51) quillt. An mehreren Stellen der Bibel begegnet das Bild des Felsens, aus dem süßes Wasser oder Honig rinnt. 58 Eine Entsprechung zur Verwandlung der Seele in T N Nr. 18 schildert Exod. 15,22—25: Als das Volk Israel bei seinem Zug durch die Wüste zu einer ungenießbaren Felsenquelle gelangt, verwandelt Mose das bittere Wasser durch ein Holz in süßes. In diesem Holz erblickten die mittelalterlichen Bibelexegeten das Vor-Bild des Kreuzes, das das strenge Gesetz des Alten Bundes durch die >süße< Gnade des Neuen ablöst. 59 Auch die Gott liebende Seele in Spees Gedicht vertauscht, als sie den Gekreuzigten küßt, ihre »bitterkeit« (18; 45) mit der göttlichen »süssigkeit« (18; 51). Im raschen Wechsel ihrer vier Verspaare bringt Strophe 7 den unvermittelten Umschwung von tiefster Niedergeschlagenheit zu einer geradezu euphorischen Gemütslage zum Ausdruck. Erst der letzte Vers dieser Strophe nennt den einzigartigen Vorzug des himmlischen Bräutigams, der den Kuß des sponsus süßer als Honig schmecken läßt: Seine Lippen spenden der sponsa neues Leben (18;58f.). Die geistliche Umdeutung des (Bienen-)Kußmotivs bewirkt für die Metapher der Honigsüße eine entscheidende Bedeutungsverschiebung gegenüber dem profanen Vorbild. Zum Topos der honigsüßen Lippen tritt als dessen Gegenpol der Topos vom >bitteren< Leiden Jesu. 60 Im Spannungsfeld der antithetischen Metaphern erfährt die andächtige Seele den Trost, den sie beim Gekreuzigten findet, als paradoxes Geschehen. In der Begegnung von sponsus und sponsa wird die Erfahrung des eros glykypikros in ihre beiden polaren Bestandteile dissoziiert: Dem sponsus fällt der >bitteresüße< Anteil zu. Die »süssigkeit« (18; 51) ihres Geliebten vermag die pia anima von trostloser »bitterkeit« (18; 45) zu befreien. Doch die »süssigkeit«, mit der Christus der »halber tod[en]« (18;57) sponsa das Leben wiederschenkt, hat ihren Ursprung in seinem >bitteren< Leiden und Sterben. Christi Tod wird für die Seele zum Quell des Lebens. Damit hat Spee das scharfsinnige Kompliment des weltlichen Kußgedichts zur Darstellung einer individuellen Heilserfahrung umgeformt. Die Parallelisierung der Honig saugenden Bienen mit der andächtigen Seele, die aus Jesu Lippen »leben sogen« (18; 58) hat, begründet indirekt die 58 Wasser aus dem Felsen: Exod. 17,6; N u m . 2 0 , 8 - 1 1 ; Deut.8,15; Jes.48,21; Ne. 9,15; Ps. 78,20; Ps. 105,42; 1. Kor. 10,4. Honig aus dem Felsen: Deut. 32,13; Ps. 81,17. » Spitz (1972), S. 154. 60 Zell (1970), S. 178. - Vgl. Hieronymus Lauretus, >Sylva allegoriarumAmaritudo, AmarisDulcedo, Dulcis, Suavisgeistliche Süße< und Leben können sie nur beim sponsus Christus finden. Wie die Blume in Lied Nr. 13 betrachtet Spee auch die Bienen als »Conterfey des Menschlichen lebens« ( 1 3 ; l f . ) und ihren fehlgeleiteten Sammeleifer als Exempel der irdischen Eitelkeit, die den Menschen vom göttlichen Ziel seines Daseins abzulenken droht. Nachdem Spee durch das Analogieverfahren der vorausgegangenen Strophen den Irrtum der Bienen >bewiesen< hat, lädt er sie in Strophe 8 erneut ein, an den Lippen des Gekreuzigten Honig zu »Rauben« (18; 67). Den lockenden Ton dieser Aufforderung verstärkt der Dichter durch euphonische Kunstgriffe wie Alliteration61 und Schlagreim.62 Bei dieser zweiten Apostrophe in den Strophen 8 — 10 dehnt die anima sponsa das Lob der Honiglippen auf Augen und Stirn ihres Geliebten aus, von denen »thränen silberweis« (18; 73) und »root Corallen« (18; 74) fallen. Dieselbe traditionelle >schöne< Farbkombination von Rot und Weiß, mit der Spee hier Blut und Tränen des Erlösers umschreibt, läßt sich auch im Pflanzenkatalog des Basium X I X nachweisen. In den Versen 8 und 9 nimmt der Dichter das Bild der weißen Narzissen und der roten Hyazinthen 63 zu Hilfe, um die Schönheit der Geliebten zu preisen: Narcißi ueris illa madent lachrymis, Oebaliique madent iuuenis fragrante cruore. 6 4
Die Farbqualität beider Blüten veranschaulicht Johannes Secundus metaphorisch als Tränen und Blut. Diese Farbmetaphern verdichten sich in Spees Gedicht zu konkreten Tränen und Blutstropfen, aus denen die Bienen stärkenden Honig zubereiten sollen (18; 76). Wie das weltliche Gedicht zuweilen den Kuß der Geliebten als Arznei bezeichnet,65 so spendet hier der leidende sponsus heilkräftigen Honig. Das Arznei-Motiv des weltlichen Liebeslieds verbindet sich mit dem biblischen Bild von Gott bzw. Christus als Arzt. 66 Wenn in der Schlußstrophe des Trostgedichts die Bienen dazu aufgefordert werden, süße Arznei zuzubereiten, darf man diese adhortatio vielleicht auch als Hinweis auf Spees Programm als poeta theologus verstehen. Im Rückgriff auf Senecas berühmtes Bienengleichnis betrachtete die Poetik des 17. Jahrhun-
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»besser Blumen« (18;65), »wollen waidlich« (18;66). »Rauben, klauben« (18; 67). Rener, Opitz (1973), S. 69. Die Formel >rot und weiß< wiederholt sich in Vers 1 (»thyma cana, rosasque«) und in Vers 5 (»Illa rosas spirant omneis, thymaque omnia sola«). Praz (1964), S. 85. - Vgl. Schöberl (1972), S. 33. U . a . nach Exod. 15,26. - Vgl. Wolfskehl (1934), S. 150, Anm. 157 und Spitz (1972), S. 154.
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derts die Biene als Sinnbild dichterischer imitatio.67 Diesem Vorbild folgt Spee, wenn er mit >bienengleicher< Sorgfalt seine literarischen Muster auswählt und geistlich umdeutet, um gemäß dem Horazischen »utile dulci«68 seine Leser durch »Süsse Vers« (40; 16) zu belehren. 9.3.4. Beziehungen zur Bildersprache der Mystik In der engen Bindung des (Bienen-)Kußmotivs an das Bild der leidenden Christusfigur wird in Lied Nr. 18 der >Trutznachtigall< eine Verschränkung der erotischen Motivik aus dem weltlichen Kußgedicht mit der Bildlichkeit der Passionsmystik sichtbar. Die zentralen Motive des Trostgedichts, die Spee aus dem secundischen Gedichtmodell übernimmt - Biene, Kuß, Honigsüße und Blume - , wurzeln zugleich auch in der Tradition der christlichen Bildsprache. Im mystischen Schrifttum des Mittelalters begegnet häufig die Vorstellung, daß die Seele aus Christi Wunden süßen Saft trinkt oder saugt.69 Bernhard von Clairvaux stellt in seiner 61. Predigt über das Hohelied (zu Cant. 2,15 f.) eine Beziehung her zwischen den fünf Wunden Christi und dem geistlichen Felsen, von dem auch die sponsa in TN Nr. 18 spricht: »Foderunt manus et pedes, latusque lancea perforaverunt: et per has rimas licet mihi sugere mel de petra, oleumque de saxo durissimo«.70 Spee verbindet im >Tugendbuch< die Vorstellung vom Saugen der Honigsüße mit dem mystischen Bild der Rosenwunden, das er auch in Gedicht Nr. 10 aufgreift:71 Ο ihr schöne wunden der Liebe, ο ihr purpurfarbe rosen, lasset mich ansetzen meinen mund vnd saugen auß euch den süssen safft der liebe (GTB 522,34—36).
Es liegt nahe, dieses Saugen einerseits als Kuß der Wunden zu deuten; andererseits läßt das Motiv der Wundenrosen auch eine Parallelisierung mit dem Honigsammeln der Bienen zu.72 Eine derartige Verknüpfung liegt u.a. auch deshalb nahe, weil die Seele seit der Antike als Biene dargestellt wird.73 Bei den mittelalterlichen Mystikern versinnbildlicht die Biene die meditierende Seele, die sich ins Leiden Jesu versenkt.74 In diesen Traditionszusammenhang läßt sich auch Schefflers >Psyche< einordnen, die zu Christus fleht:
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Stackelberg (1956), S. 275. Ars Poetica, Vers 343. Gnädinger (1973), S. 110 f., mit einem Hinweis auf die Parallelen bei Spee im GTB S. 2 0 4 , 4 - 6 und 4 0 6 , 2 1 - 2 3 . PL 183, 1072C; mit Bezug auf Deut. 32,13. Gnädinger (1973), S. 111. Ebd., S. 111. Waser (1978), Sp. 3221. Stackelberg (1956), S. 279. - Ζ. B. in der >Vitis mysticaHeiligen Seelenlust< zugehört.77 Es ist charakteristisch für Spees Verfahren der Kontrafaktur, daß er sich nicht darauf beschränkt, die Motive des secundischen Kußgedichts auf das Modell der Seelenbrautschaft zu übertragen, er stellt darüber hinaus durch das Verfahren der allegorischen Allegorese vielfältige Verbindungen zur tradierten Bildlichkeit der Passionsmystik und zum Gedankengut der zeitgenössischen und spätmittelalterlichen Erbauungsliteratur her. Bei der Umformung von Motiven aus der weltlichen Dichtung aktiviert Spee in einzelnen Motiven und ganzen Motivfeldern ein mystisch-meditatives Bedeutungspotential, das die Metaphern der weltlichen Dichtung zurückbindet an die geistliche Bildersprache. Die so entstandenen Interferenzen zwischen den Bildern der weltlichen und denen der geistlichen Poesie stiften sinnreiche Beziehungen zwischen beiden Bereichen und bringen die affektbetonten und ausdrucksstarken Bilder der >Trutznachtigall< hervor. Aus dieser Bindung an den doppelten Bezugsrahmen der weltlichen und der geistlichen Tradition bezieht Spee die fruchtbarsten Impulse für sein dichterisches Schaffen.
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>Die Psyche begehrt ein Bienlein auf den Wunden Jesu zu seinTeutschen Rede-bind- und Dicht-Kunsfc. 1 Seine grundsätzlichen Bemerkungen über den Ursprung der Dichtkunst, die er »eine Tochter der ersten güldenen Zeit« 2 nennt, geben die in seinem Jahrhundert allgemein anerkannte Auffassung wieder, die Schäferdichtung sei das Urbild und der Keim aller Poesie.3 In einem systematisch durchgeführten Altersbeweis 4 legt Birken dar, daß schon lange vor den heidnischen Griechen und Römern die »heilige[n] Hirten Jacob und Mose«, 5 David und Salomo Hirtenlieder dichteten. Durch diesen Kunstgriff wird dem vorchristlichen Erbe, von dem der poeta christianus zehrt, eine Rechtfertigung zuteil.6 Ein wenig von dem himmlischen Glanz, der die biblische nobilitas litteraria erleuchtete, darf auch die moderne Schäferdichtung noch genießen. Birkens Ausführungen zufolge kommt ihr die ehrenvolle Aufgabe zu, die Poesie zu ihrer endzeitlichen Vollendung zu führen: Es scheinet / die Zeit / die nun bald in die Ewigkeit sol verwandlet werden / kehre mit ihrem Ende / wie eine im Zirkel geschlungene Schlange / in ihren Ursprung zurücke. Sie h6ret auf mit diesem Thun / wie sie angefangen / und macht die jetzige Poeten zu Schäfern. 7
Wenn auch andere Dichtungstheoretiker die antiken Autoren nachsichtiger beurteilen als Birken, der sie als Plagiatoren zu entlarven sucht,8 läßt sich doch an seiner Argumentation, gerade weil sie einen betont >christlichen< Standpunkt vertritt, das für die Dichtung des 17. Jahrhunderts charakteristische Spannungsverhältnis zwischen antiker Uberlieferung und der Bindung an die 1
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Vorrede, 1. S. (nicht paginiert).
>ZuschriftZuschriftrettenCanciones entre el Alma y el Esposo< vor. 16 In seinem Gedicht >El pastorcico< überträgt er die schäferliche Liebesklage der weltlichen Dichtung auf die Figur des gekreuzigten pastor bonus, die er mit dem sponsus des Hohenliedes identifiziert. Wie E. Eikel nachgewiesen hat, begründete er damit die Gattung der religiösen Schäferdichtung, die mit ihrer charakteristischen Wechselbeziehung zwischen
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Böschenstein-Schäfer (1967), S. 24. - Vgl. Breuer, Philotheus (1969), S. 42. Eikel (1956), S. 13 u. 4 6 - 5 1 . Wolfskehl (1934), S. 102. - Vgl. Mähl (1965), S. 112. Eikel (1956), S. 22. - Vgl. Schmid (1976), S. 110 f. Joh. 10, besonders Vers 1 1 . - Eine Zusammenstellung der entsprechenden Bibelstellen gibt Garber (1974), S. 22f. Eikel (1956), S . 2 4 f . u . 27. Goebel (1914), S. 60 f. Eikel (1956), S. 40 f.
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arkadischem Schäfertum und christlicher Glaubenshaltung die Gedichte der >Trutznachtigall< prägt.17
10.2. Spees Pastor-bonus-Gedicht (TN Nr. 37) und seine Vorstufe im >Tugendbuch< Einen ersten Schritt auf das Gebiet der religiösen Schäferlyrik wagt Spee schon in einem seiner frühsten Gedichte, das seit 1632 in Gesangbüchern des Franziskaner· und Jesuitenordens erschien.18 Eine stilistisch und metrisch geglättete Fassung mit dem Titel »Der Euangelisch Guter Hirt sucht das Verlohren Schäfflein« ( 3 7 ; l - 3 ) ging als Gedicht Nr. 37 in die >Trutznachtigall< ein, während die ältere Version und die Prosafassung der Parabel vom Guten Hirten im >Tugendbuch< blieben (Kap. II 4). 19 Die beiden Versionen des Pastor-bonus-Gedichts geben in der Form eines Monologs die Klage des Guten Hirten über den Verlust seines Schafs wieder. Bis zum Tod am »Creutzbaum« (GTB138,20; T N 37; 62) sucht er sein Schäfchen und ruft es zur Rückkehr. Die ältere Fassung des Liedes, die im >Tugendbuch< den Abschluß einer Übung der Hoffnung bildet (GTB S. 137 f.), ist offenkundig der ignatianischen Betrachtung vom >Ruf des Königs< nachgebildet. Fünf der sieben Strophen münden in den emphatischen Ruf des Hirten nach dem verlorenen Schaf. Seinen eindringlich mahnenden Ton verdankt diese Version des Pastor-bonus-Gedichts hauptsächlich den wiederholten Appellen des Hirten an das flüchtige Schaf. Das räumliche Fortschreiten des Suchenden findet demgegenüber nur beiläufig Interesse. In der >Trutznachtigall< nimmt die Suche des Guten Hirten dynamischere Züge an als in der älteren Liedfassung. Während der Hirt im >TugendbuchTrutznachtigall< die beiden an das Schäflein gerichteten Apostrophen den Beginn der Suche und ihr Ende am Kreuzbaum (Strophe 1 und 37; 76—79). Nach den Strophen 1 - 3 , die dem Leser den suchenden Hirten vorstellen, beschreiben die weiteren sieben Strophen dieses Gedichts den Weg, den der Gute Hirte auf der Suche nach seinem Schaf beschreitet. Für die Schilderung dieses leidvollen Wegs, der den Hirten zum Kreuz führt, erweitert Spee die Zweitfassung seines Lieds gegenüber der früheren Version um drei Strophen. 20
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Ebd., S. 7 4 - 8 2 , 8 7 - 9 1 und passim. Rosenfeld, Stimme (1958), S. 157. - Vgl. die Anmerkung im Kommentarteil der T N (1985), S.414. S.o. Abschnitt3.2. Str. 4—7 in T N N r . 37 kann man als Erweiterung der 4. und 5. Str. in der früheren Fassung auffassen, Str. 8 und 9 amplifizieren die 6. Str. des GTB-Liedes.
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Schon die Eingangsstrophen, in denen der Hirt seine Trauer über den Verlust des Schäfchens zum Ausdruck bringt, lehnen sich deutlich an den Motivbestand der Sponsalieder an. Tränen und »seufftzen vngezehlet« (37; 12) begleiten die einsame Klage des pastor bonus (Strophe 2) wie die der anima sponsa. Im Unterschied zur Parabel im >TugendbuchTrutznachtigall< nur kurz den väterlichen Auftrag (Strophe 3). Demgegenüber gewinnt die Liebe des pastor bonus zum verlorenen Schaf als treibende Kraft bei seiner Suche an Bedeutung. Mit der ermunternden repetitio »Wolan, wolan« (37; 28) beginnt in der vierten Strophe die Schilderung des Wegs zum Kreuz. Dieser Weg besteht wie die via mystica der sponsa in Lied Nr. 10 aus drei Abschnitten. Auch das Suchmotiv aus diesem Sponsalied kehrt im Pastor-bonus-Gedicht wieder, doch die Rollen des Flehenden und des Fliehenden sind jetzt vertauscht. In Lied Nr. 10 floh der sponsus Christus wie ein »Hirschenkind« (10; 43) vor der sponsa, in Nr. 37 entzieht sich das Schaf dem liebenden Hirten. Zuweilen nimmt die Suche nach dem »wüllen Wilpret« (37; 23) die Züge einer Jagd, der venatio amoris, an. Besonders die zahlreichen dynamischen Verben22 und die Häufung von Interjektionen und Ortsadverbien23 verleihen der erregten Suche nach dem flüchtigen Schaf lebhaften Ausdruck. Auf seinem Weg zum Kalvarienberg gelangt der pastor bonus in einen »BirckenWald« (37; 29) und zu einer Dornenhecke (37; 44), den beiden ersten Stationen seines Leidensweges. Beide Male glaubt der Schäfer, er habe das Versteck seines Tiers aufgespürt und werde das Schäfchen bald finden (Strophe 4 und 6), doch beide Male täuscht ihn seine Hoffnung (Strophe 5 und 7). Überdies verletzen ihn die »Birckengerten« (37; 39) und das Dornengestrüpp (37; 56—59). Die Klage des Hirten über die »pein, vnd quaalen« (37; 40), die ihm die Suche nach seinem Schäfchen verursacht, klingt fast wörtlich an die Liebesklage der sponsa an;24 »fewr, vnd hitz« (37; 59), die der verwundete pastor bonus leidet, korrespondieren mit dem »fewr, vnd hertzenbrand« (6; 17) der sponsa. Trotz der zweifachen schmerzlichen Erfahrung schöpft der Hirt beim Anblick des Kreuzbaums erneut die Hoffnung, sein Schäfchen zu finden (Strophe 8). Von den Strapazen des Wegs erschöpft, ruft er an den 21
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GTB 130,33-35; 131,2f., 22f., 31 f. Seine eigene »große lieb« (133,11) erwähnt der Hirt erst an zweiter Stelle. »ertappen« (37; 32), »entspring« (37; 33), »entschnappen« (37; 34), »entwischt« (37; 41), »schleichen sanfft hinein« (37; 51), »nach zu streben« (37; 66), »fang« (37; 67). Im GTB-Lied dominieren demgegenüber die Ausdrücke des Rufens (GTB 137,13.22.31; 138,6.14.24.34). »O wee« (37; 36); »Ach aber, ach [...] Ach aber nein, ach nein« (37; 52 f.); »Ey dorten doch, dort oben« (37;60); in Str. 6 verbunden mit Alliteration: »Doch dort [ . . . ] Da dennoch duncket [...] Da [ . . . ] Dort [...] da, da drinnen Da [...]«. Z.B. 3; 15: »O wee der quaal, vnd peinen!« Ahnl. 3; 35.
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Kreuzbaum gelehnt ein letztes Mal nach dem geliebten Schäfchen, das er noch sterbend mit offenen Armen erwartet (Strophe 9). Diese ausdrucksstarke Geste erscheint als wortlose Fortsetzung und äußerste Steigerung des Rufs zur Umkehr. In den letzten Strophen des Gedichts (8.—10.) verwandelt sich das Bild des suchenden Hirten in das des Gekreuzigten. Der Weg des pastor bonus endet am »Creutzbaum« (37; 62) auf der »Schedelstatt« (37; 61). Hier stirbt er mit ausgebreiteten Armen, die seine Bereitschaft bekunden, dem Schäfchen, das den Tod seines Hirten verursacht hat, zu verzeihen. Das Gedicht schließt mit einer Paraphrase des letzten der sieben Worte Christi am Kreuz (37; 8 0 - 8 3 ; vgl. Luk.23,46). Zusammen mit dem Ruf nach dem verlorenen Schaf in der ersten Strophe umrahmt diese Anrufung des Vaters die Suche des Hirten. Der Kreuzweg des Sohnes vermittelt im Gedicht wie im christlichen Dogma zwischen beiden Angeredeten. Mit dem Rückgriff auf den Wortlaut der biblischen Passionsgeschichte vollendet Spee die Verwandlung der pastoralen Szene in eine Passionsdarstellung. Spätestens an dieser Stelle muß der Leser erkennen, daß ihm der Ruf zur Rückkehr und das Angebot der Vergebung gelten.25 Nachdem die Strophen 4—8 das Schwanken des Hirten zwischen Hoffnung und Enttäuschung nachzeichneten, lassen die beiden Schlußstrophen offen, ob seine Bemühung auch ein drittes Mal und damit endgültig scheitert. Die Entscheidung darüber überläßt Spee dem Leser. Rückblickend enthüllt sich ihm die leidvolle Suche des pastor bonus im Birkenwald und in der Dornenhecke als verrätselte Darstellung der Geißelung und Dornenkrönung Christi. Der Weg des suchenden Hirten bekommt eine zweifache Bedeutung: Die Stationen der Suche sind zugleich auch Stationen der Passion; der »Jrrweg« (37; 19) seines Schäfchens wird für den Guten Hirten zum Leidensweg. Auch in der älteren Fassung des Gedichts stößt der Schäfer bei seiner Suche auf ein Hindernis in Gestalt einer »Stauden dick« (GTB138,2). Bei ihrem Anblick faßt der Hirt den Entschluß: »will ruffen starck zum wald hinein« (GTB 138,6) - und wandert nach einem erneuten Appell an das verlorene Schaf unbehelligt weiter. Erst in der >Trutznachtigall< verweist der Weg des suchenden pastor bonus bis in Einzelheiten hinein auf die Passion Christi, so daß das Gedicht vom Guten Hirten als geistliches Vexierbild, als schäferlich verkleidete Passionsbetrachtung gelesen werden kann. Wie die Suche der sponsa nach dem Geliebten in T N Nr. 10 endet auch die des pastor bonus nach seinem Schützling am Kreuz. Beide Wege ergänzen sich ebenso wie die Sehnsucht der Gespons Jesu nach der Umarmung des sponsus in T N Nr. 2 (Strophe 5) und die Bereitschaft des Guten Hirten, sein Schäfchen mit offenen Armen zu empfangen (37; 76 f.). Suche und Liebespein der anima 25
Zu einer ähnlichen Erkenntnis führt Juans de la Cruz Gedicht >E1 pastorcicoTrutznachtigall< vor.
10.3. Der Daphnis-Mythos als Brücke zwischen dem Hirtengleichnis des N T und dem Hohenlied Zumindest in einer Kurzfassung schildern die meisten Passionseklogen der >Trutznachtigall< die Suche des Guten Hirten nach seinem Schaf.26 Dabei formt Spee das Handlungsgerüst der Parabel den Forderungen der Versekloge entsprechend um, die charakteristischen Elemente der Schäferdichtung gewinnen zusehends an Bedeutung. Eine erste richtungsweisende Veränderung in diesem Adaptionsprozeß betrifft den Guten Hirten selbst, den Spee in seinen Eklogen, den Konventionen der Schäferdichtung entsprechend, 27 unter dem Namen und »vnder der person eines Hirten, Daphnis genandt« (39; 6—8) auftreten läßt. Diese >Maske< ist mehr als eine willkürliche poetische Arabeske oder ein Zugeständnis an den Epochenstil. 28 In der Verbindung des mythischen Hirten mit dem neutestamentlichen pastor bonus und mit der Hirtentravestie des Hohenliedes 29 setzt die >Trutznachtigall< neue Akzente auf das Christusbild und damit auf das ganze Heilsgeschehen. Gerade in der Verkleidung des arkadischen Hirten tritt 26
T N 39; 18 - 20 u. Str. 15; Lied 40, Str. 4 - 1 2 ; Lied 44, Str. 4 f.; 45; 153 - 1 6 0 ; 48; 2 7 - 44. Breuer, Philotheus (1969), S. 51. 28 Von dieser Annahme geht z.B. W.Nowak (1954), S. 197, aus und bemängelt »die übertrieben süßliche pastorale Übertünchung.« Für Spee bleibe »das grell leuchtende Modekleid eben ausschließlich zeitnotwendiges Kostüm«. 2' Eikel (1956), S. 177.
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das Wesen der Christusgestalt, wie Spee sie versteht, am unverhülltesten zutage. Zu den Eigenheiten der schäferlichen Verkleidung gehört, daß sie keine bloß oberflächliche, scheinhafte Kostümierung darstellt, sondern eine partielle Verwandlung der Akteure bewirkt. 30 Bei diesem Rollenspiel verweist die Verkleidung be-zeichnend auf den Verkleideten.31 Mit dem Schäfernamen Daphnis überträgt Spee eine Abbreviatur der Mythen, die sich um diese Hirtenfigur ranken, auf Christus in seiner doppelten Funktion als Guter Hirte und als Seelenbräutigam. Daphnis war der sagenhaften Überlieferung zufolge Hirt, Jäger und Sänger. Seine Schönheit und seine Begabung machten ihn zum Liebling der Götter und Menschen. 32 Er galt als Erfinder des bukolischen Gesangs, zu dessen bevorzugten Themen das traurige Schicksal des Sänger-Hirten gehört. 33 Von Daphnis' frühem Tod erzählt der Mythos, seine Geliebte, eine Nymphe, habe ihn mit Blindheit bestraft, weil er ihr untreu geworden sei. Als er auf der Suche nach ihr hilflos umherirrte, stürzte er von einem Felsen zu Tode. 54 Einen anderen Uberlieferungsstrang repräsentiert Theokrits erste Idylle. 35 Nach dieser Version habe sich Daphnis gerühmt, er könne der Macht des Liebesgottes widerstehen. Aphrodite rächte sich an ihm, indem sie unüberwindliche Liebe zu einem nicht erreichbaren Mädchen in ihm weckte. Er bekämpfte sie vergeblich und starb schließlich an seinem Liebesschmerz. 36 Schon im Pastor-bonus-Gedicht T N Nr. 37 gaben die Anklänge an die Sprache und Motivik der Sponsalieder zu erkennen, daß Spee die Figur des suchenden Hirten als Märtyrer der Liebe auffaßt. Die Identifizierung des pastor bonus mit dem frühverstorbenen Daphnis, den sich die Hirtendichtung zum Archetyp des unglücklich Liebenden erwählte, bringt diese Konzeption der Hirtenfigur noch prägnanter zum Ausdruck. In der Ekloge Nr. 40 der >Trutznachtigall< deutet der Sänger Damon Daphnis' Suche nach dem entlaufenen Schaf und die Gefangennahme des Hirten ohne zu zögern als Folge seiner blinden Liebe: Daphnis war von Lieb bethöret, Liebe führet Jhn ins Leyd (40; 33f.). 37
J» Ι 32 33 Μ 35 3' 37
Ebd., S. 89. - Vgl. Jolles (1932), S. 288 f. Jolles (1932), S. 285. Stoll (1978), Sp. 956. Knaack (1901), Sp. 2141. Schnur (1976), Sp. 50. V e r s 6 4 - 1 4 2 ; ergänzend 7. Idylle, Vers72-77. Stoll (1978), Sp. 958 f. Ähnlich auchTN40;71f., 8 7 - 9 0 , 1 0 5 f . und 44; 3 4 - 3 7 .
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Durch seine Verbindung der Liebes- und Leidensthematik unterstützt der Daphnis-Mythos in seiner christlichen Umformung die Interpretation des Leidens Christi als Liebestat. Die Motivparallelen des Mythos zur tödlich endenden Suche des pastor bonus nach seinem verlorenen Schaf in TN Nr. 37 und zur Suche der anima sponsa nach ihrem Geliebten vermitteln zwischen den Bildern der Brautmystik und dem Passionsgeschehen und ermöglichen die Aktualisierung religiöser Inhalte im Medium der zeitgenössischen Schäferdichtung.
10.4. Die Umformung des Hirtengleichnisses in der Ekloge Nr. 40 Ein Vergleich des Pastor-bonus-Liedes mit Gedicht Nr. 40 der >Trutznachtigalladvocatus diaboli«, der dem Guten Hirten davon abrät, das verlorene Schaf zu suchen.
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Durch die Inversion des Suchmotivs stehen beide Episoden in engem Zusammenhang. Unvermittelt kommt in Strophe 13 die Suche nach dem verlorenen Schäfchen zum Stillstand, als »Lieb, vnd Leyden« (40; 105) den Hirten zu töten drohen. Eine Schar Soldaten zieht heran, die ihrerseits den Guten Hirten suchen. Damons Beschreibung der Soldaten, die in blinder Wut, »ohn verstand, vnd Sinn« (40; 144) ihr unrühmliches Werk zu Ende bringen, steht im schroffsten Gegensatz zum Bild des pastor bonus, der blind vor Liebe (40; 87 f. und 90) und aus Sorge um das Schäfchen »Schier ohn Sinn, vnd ohn gedancken« (40; 75) umherirrte.39 Spee bettet Damons Lied in einen pastoralen Rahmen ein (Strophe 1 f. und 24), der das Suchmotiv der Binnenhandlung durch die glückliche Rückkehr eines Verirrten ergänzt. Zu Beginn und am Ende der Ekloge meldet sich ein Erzähler zu Wort, der sich als Zuhörer des Hirten Damon vorstellt. Wie Vergils Hirten ritzt er das Lied auf »eine grüne Rinden« (40; 20), 40 um es für den Leser aufzubewahren. Die Umstände, unter denen der Erzähler Damons Gesang lauscht, sind höchst interessant. Weil er »die Sonn zu weit vermeydet« (40; 8), verirrt er sich im Wald (40; 9) und wird von Damons Lied »auff rechte baan« (40; 13) zurückgeführt. In der christlichen Bildsprache nehmen die drei Grundbestandteile dieser kleinen Szene einen festen Platz ein. Die Sonne gehört zu den ältesten, in vorchristlicher Zeit wurzelnden Christusbildern; 41 dunkler Wald gilt in dieser Überlieferung als Ort der Gottesferne, 42 und der Weg gehört zu den menschlichen Ursymbolen überhaupt. Aus diesen traditions- und beziehungsreichen Bildelementen komponiert Spee eine idyllische Szene, die über sein Selbstverständnis als Dichter und Geistlicher Aufschluß gibt. Dichten ist für Spee seelsorgerische Arbeit. Durch »Süsse Vers« (40; 16) können verirrte Seelen auf den rechten Weg zurückfinden. Dieser Eklogeneingang übernimmt eine zweifache Funktion. Mit der Figur des Erzählers, der Damons Lied hörte und es weitergibt, entwirft Spee das Idealbild seines Lesers, der geistlichen Nutzen aus der >Trutznachtigall< ziehen und die christliche Botschaft der Speeschen Gedichte auch anderen mitteilen soll. Zugleich haben die einleitenden Verse dieser Ekloge die Aufgabe, das Interesse des Hörers zu wecken. Diesem Zweck dient der Hinweis auf die rettende Wirkung der folgenden Verse, die Berufung auf einen berühmten Gewährsmann (40; 7) und die Versicherung, der Zuhörer habe über dem vorgetragenen Lied die Zeit und seine Pflichten vergessen (40; 16f.). Eine 39
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Eine ähnliche kontrastierende Doppelung des Suchmotivs nimmt Spee in T N Nr. 9 vor. 5. Ekloge, Vers 13f. - Zum Motiv des Rindenritzens: Nowak (1954), S. 1 1 7 - 1 2 4 . Jons (1966), S. 226. - Ζ . B. Alanus ab Insulis, >Liber in distinctionum theologicaliumWir müssen aufhören, weil es Abend wird«44 zu einem raschen Ende. 10.4.2. Die geistliche Auswertung panegyrischer Motive Mit der Verschiebung vom Monolog des suchenden pastor bonus zum Monolog (oder Dialog) über ihn dringen die für die Schäferdichtung typischen panegyrischen Züge45 in die Lieder der >Trutznachtigall< ein. Spee allegorisiert die traditionellen Lobestopoi und überträgt ihnen geistliche Bedeutung. Nach dem rhetorischen Schema des Personenlobs46 rühmt die Ekloge TN Nr. 40 zunächst Daphnis' edle Abstammung und Gesinnung (40;26—28). In Daphnis-Christus erreicht das arkadische Schäfertum seine höchste Vollendung. Er »War der best, vnd schönest Hirt« (40; 29). In ihm treffen sich die Güte des pastor bonus und das antike Ideal der Kalokagathie - beides in vollkommenster Ausprägung, wie die beiden Superlative erkennen lassen. Es versteht sich fast von selbst, daß der beste Hirt auch »die beste Schäfflein« (40; 167) betreut. Spee hebt hervor, daß sich der Gute Hirte Daphnis anders als der >Mietling< aus der Gleichnisrede Jesu (Joh. 10,10—14), auf den die correctio in der fünften Strophe (40; 41—44) anspielt, seinen Schafen besonders eng verbunden fühlt. Neidlos lobt Damon Daphnis' Herde, deren vortrefflicher Zustand die Fürsorge und die glückliche Hand ihres Hirten bezeugt. Wenn Damon das reine Weiß bewundert, das Daphnis' Schafherde auszeichnet,47 ist dieses Lob sicher auch im Hinblick auf die christliche Farbsymbolik als Hinweis auf die Sündenvergebung zu verstehen. Ein Widerschein von Daphnis' Schönheit fällt auf seine Herde, für die Spee immer neue poetische Umschreibungen findet.48 Hier überträgt der Dichter den Grundgedanken der Laudes, daß der Abglanz der göttlichen Herrlichkeit die Geschöpfe schön und liebenswert macht, in seine Eklogendichtung. Aber auch in Vergils fünfter Ekloge bringt Daphnis' Grabschrift eine ähnliche Beziehung zwischen « « « « 47
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Ebd., S. 26. Curaus (1969), S. 100. Garber (1974), S. 13. Lausberg (1973), §245. »Chrystallen rein« (40;46), »SilberSchaaren« (40;47), »wie die Schwanen weis« (40; 168). »schönen SilberSchaaren« (40; 47), »schönen Wüllen rott« (40; 48), »Weiß, vnd reine WüllenZunfft!« (45; 109).
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Hirt und Herde zum Ausdruck: »Schön war die Herde, gehütet von mir, noch schöner ich selber«. 49 Daphnis' Ehrenname »aller Hirten Gott« (40; 50) kann sowohl auf die göttliche Abstammung des mythischen Daphnis und dessen Apotheose 50 als auch auf Christi göttliches Wesen bezogen werden. Kein irdisch-menschlicher Vergleich wird dem erhabenen Rang des Gelobten gerecht. Analog zur kosmischen Hyperbolik im petrarkistischen Schönheitslob erhebt Damon mit der >Cedat nuncTrutznachtigallMetamorphosen< (XI, 44-46) führen ebenfalls Vögel die Schar derer an, die den Sänger Orpheus beweinen, und Moschos ruft in seiner >Klage um Bionniveus< beilegten.83 Auf Plato geht die weitverbreitete Auffassung zurück, der Schwan singe nur kurz vor seinem Tod in Erwartung himmlischer Freuden mit der herrlichsten Stimme. Aufgrund dieser wunderbaren Gesangsbegabung wurde der
«ο Steier (1927), Sp. 1859 u. 1862. «' Hg. u. übersetzt von H . Beckby (1975), S. 2 8 4 - 2 9 1 . 82 Beckby (1975), S. 63. - In der T N droht Daphnis ebenfalls zu »zerschmeltzen« (40; 81). Auch Magdalenas Tränen vergleicht Spee mit schmelzendem Schnee (11; 16—31). 8J Eikel (1956), S. 133 und Gossen (1921), Sp. 784. Ζ. B. Vergil, Aen., VII, 699; Georg., II, 199. - Ovid, Met., X I V , 428—432, verbindet das Motiv des Schmelzens aus Leid mit dem des Schwanengesangs: Canens singt wie ein Schwan und zerschmilzt in Tränen.
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Schwan schon in der Antike als Symbol des Dichters betrachtet.84 In der christlichen Bildsprache galt der poetische Vogel als Sinnbild der Passion Christi.85 Auch Haiton weiß, was der Schwanengesang zu bedeuten hat: Werdens nimmer machen lang, Heben ihre letzte Stimmen (45; 68 f.).
Auf das bewegte Bild der sterbenden Schwäne folgt eine ruhigere Strophe (45; 72 — 79), die die Laudatio im zweiten Teil des Trauergesangs präludiert. Nach dieser Zäsur ruft Haiton erneut zur Klage auf. Diesmal gilt seine Aufforderung der ganzen Natur (45; 81 -88), deren belebte und unbelebte Elemente er in einer anaphorischen Reihung anredet. In einem mächtigen Crescendo soll die ganze Schöpfung in die Klage um Daphnis einstimmen, wie in den vorausgegangenen Liedern der »Reyen« (4; 154) zum Lob Gottes alle Geschöpfe ohne Unterschied verband.
10.6.2. Die laudatio funebris auf Daphnis Im zweiten Teil des Trauergesangs, dem Kernstück der Ekloge, würdigen Damon und Haiton den Forderungen der Totenklage entsprechend den Verstorbenen.86 Sie ergreifen dabei zugleich die Möglichkeit, sich wehmütig zurückblickend in die Erinnerung an glückliche Tage zu flüchten. Beim Anblick der Habe, die Daphnis zurückließ, fragen sich seine Gefährten bang, wer seinen Platz einnehmen soll (45; 90 -97). 87 Daß niemand dazu imstande ist, wissen sie nur zu gut. In seinen Musikinstrumenten ist gleichsam noch ein Stück von Daphnis präsent. Wenn die Hirten sie betrachten, wird die Lücke, die Daphnis hinterließ, nur um so schmerzlicher spürbar. Seine Instrumente sind Relikte einer glücklichen, unwiederbringlichen Vergangenheit in einer trostlosen Gegenwart und werden von den Hirten als Reliquien betrachtet. Daß Daphnis nun keine »schöne[n] Körbelein« (45; 102) mehr basteln wird, bedauern die beiden trauernden Hirten genauso sehr wie die Tatsache, daß er keine Kranken mehr heilen wird (45; 103—106). Die verklärende Distanz, in die Daphnis-Christus durch seinen frühen Tod entrückt ist, macht für seine Gefährten die kleinen Arbeiten, mit denen er sich in Mußestunden beschäftigte, ebenso kostbar und liebevoller Erinnerung würdig wie die Wunderheilungen, die der Verstorbene vollbrachte. 84
Gossen (1921), Sp. 785 u. 788 f. - Beispiele aus der Emblematik bei Henkel/Schöne (1967), Sp. 814-817. 85 Lipffert (1976), S. 42. - Belege bei Schmidtke, Tierinterpretation I (1968), S. 405. « Rener, Georgic (1972), S. 122. ν Ähnlich TN Nr. 41 Str. 16 f. - Vgl. Moschos, >Klage um BionMetamorphosen< (XI, 44—49) und Bions Adonisklage93 zählen, als auch in der Kasualdichtung kehrt der Topos von der Beweinung des Verstorbenen durch die Natur wieder.94 Die einzelnen Elemente der trauernden Natur sind austauschbar und können durch Motive aus anderen Totenklagen ergänzt werden. In der von Spee gestalteten Sonderform des Topos, als >Mitempfindung der Natur bei Höhepunkten des HeilsgeschehensKlage um BionFastenzeit< in 45; 175—196 nach Vergil, 5.Ekloge, Vers 25. 307
Verstorbenen durch die Natur ein düsteres Gemälde der Natur, die aus Mitgefühl für Daphnis-Christus stirbt. Die universale Totenklage mündet in Grabesstille. Tödliche Trauer fällt als »TodtenWetter« (45; 209) auf die Schöpfung. Hinter den Bildern, die Spee aus der antiken Dichtung übernommen hat, scheint in ihrer geistlichen Umformung der Gedanke der compassio auf. Bis hierher betrachteten und beschrieben die beiden Hirten wie Außenstehende das große Sterben ringsum. Mit dem am Strophen- und Versanfang wiederholten Imperativ »Schaw«104 rufen sie die Imaginationskraft des Lesers auf, sich die klagende und sterbende Natur in ihren Einzelheiten zu vergegenwärtigen. Erst in den letzten Strophen ihres Gesangs bringen Damon und Haiton ihre eigene Trauer zum Ausdruck. Wie die anima sponsa bezeichnet Haiton seine Tränen als tägliche »Speiß, vnd Tranck« (45;248; vgl. 6; 88—91). Sogar seine Klagelieder »ersauffen« (45; 249) in Tränen. Vor dem Übermaß des Schmerzes versagt die Kunst. Beide Hirten gelangen zu der Erkenntnis, daß ihre Klage sinnlos ist, und wollen ihre Musikinstrumente zerschlagen (45; 252—255 und 261 —264). Die einzige adäquate Reaktion auf ihr unsägliches Leid ist das Verstummen. Doch selbst die emphatische Aposiopese der Hirten verlangt eine kunstvolle Vorbereitung, die paradoxerweise den Eklogenschluß um mehrere Strophen hinauszögert. Mit dem Schlußtopos >Wir müssen aufhören, weil es Abend wird< beendet Damon in der drittletzten Strophe der Ekloge seinen Gesang. Haiton wendet die Worte seines Gefährten in einen düsteren Orakelspruch. Sein ahnungsvoller Satz: »Schwartze stunden fallen ein« (45; 268) weist über das Einbrechen der physischen Nacht hinaus auf die innere >FinsternisTrutznachtigallTrutznachtigall< Spee setzt die Strukturmerkmale der Eklogendichtung als andachtsförderndes Mittel ein, das den Hörer zur liebenden Anteilnahme an der Person des leidenden Erlösers bewegen soll. Die Gedichte Nr. 47—49 der >Trutznachtigall< entwickeln aus der allegorischen Komponente, die der Schäferdichtung eigentümlich ist, 107 eine planvolle Auslegung der arkadischen Welt auf die Heilsgeschichte hin. Wie die Laudes im mittleren Teil des Liederbuchs suchen auch die Gleichnisgedichte am Ende der >TrutznachtigallTrutznachtigall< auch in hoffnungsvollem Grün (48; 50). Wie das Bild der fruchttragenden Palme verweist auch das nachfolgende vom »Weinhauß [ . . . ] zum Roten Lämmelein« (48; 56—58) auf die Passion und auf die Eucharistie. Das Schild dieser Herberge zeigt - als Emblem im Emblem - »Daphnis in der Kelter sein« (48; 60). In der folgenden Strophengruppe (48; 63 — 107) variieren die beiden Hirten das Motiv der Wundenrosen, das Spee bereits in Lied Nr. 10 gestaltete.116 An die Rosenembleme schließt sich assoziativ ein Dornenemblem (48; 90—107). Rühmten die Hirten zuvor die Schönheit und den süßen Duft der Rosen, die Daphnis-Christus brach, so erinnern sie sich nun daran, daß sich der Gute Hirte Daphnis eine Dornenlast aufbürdete, um seine Schafe vor den gefährlichen Stacheln zu bewahren (48; 90—98). In Christi »gedörnter BlumenCron« (48; 105) findet die Antithetik von Rosen und Dornen, Erlösung und Leiden sinnfällig Ausdruck. Die Dornenkrone schmückt Daphnis-Christus wie eine Märtyrerkrone als »EhrenCrantz« (48; 103). 117 Im letzten Teil der Ekloge kleiden Damon und Haiton das Mysterium von Kreuzestod und Auferstehung in eine Reihe von paradoxen Bildern und Rätselfragen (48; 171—224). U.a. spielt Spee hier auf die typologische Deutung des Roten Meeres an; der Auffassung mittelalterlicher Bibelexegeten zufolge weist der Zug des Volks Israel durch das Rote Meer voraus auf die Erlösung durch Christi Blut und die Taufe. 118 Aus diesem typologischen Bezug leitet der gelehrte Hirt Haiton ein scharfsinniges >Concept< ab: Daph113
114 115
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Jons (1966), S.203. - Vgl. Hieronymus Lauretus, >Sylva allegoriarumFonsVitis mystica< Cant. 7,8: »Palma porro arbor victoriam significans, altitudinem crucis optime significat, spem de supernis habendam, non ad infima deprimendam [ . . . ] Quod autem ait [sc. sponsus Christus], Ascendam in palmam, a parte crucis totum crucem significat. Et bene per palmam in qua titulus signum redemptionis, quae fructus crucis est, invenitur« (PL 184, 733 AB). Vgl. hierzu auch Hieronymus Lauretus, >Sylva allegoriarumAscendere [.. ,]Fructus[.. ,]Palma [.. .]Gleichnisse< nicht mehr wie in Lied Nr. 48 einer eingangs formulierten significatio zugeordnet; stattdessen transponiert Haiton den Gesang seines Gefährten Strophe für Strophe in den geistlichen Bereich, so daß unmittelbar auf jede verbalisierte pictura ihre spirituelle Deutung folgt. Der Titel des Gedichts kündigt bereits an, daß der Wechselgesang Damons und Haitons exemplarisch das Verfahren der geistlichen Kontrafaktur durchführen wird; Spee verheißt einen Hirtengesang, vber das Creutz, vnd Aufferstehung Christi, darinn was der eine Hirt Damon genand von seinem vorhaben vorspielet, der ander Haiton genand, alweg auff das Geistliche nachdeutet (49; 1—8).
Anders als die vorausgegangene Ekloge bewegt sich die Motivik dieses Gedichts in einem relativ homogenen Bildfeld. Spee nimmt hier überwiegend Szenen aus dem Hirtenleben und die Tageszeiten zum Gegenstand der allegorischen Auslegung. Damons Lied entwirft in seinem Natureingang ein Bild des anbrechenden Sommers (49; 35—42), das Haiton als Sinnbild der Erneuerung des Menschen durch die Buße auslegt (49; 44-51). Ähnlich wie in Lied Nr. 18 wirkt auch in dieser Allegorisierung der Frühlingsnatur die Praxis der mittelalterlichen Naturexegese nach.120 Die Vögel, die auf Bäumen rasten, deutet Haiton als Gleichnis des Seelenvogels, der am Kreuzbaum Ruhe findet (49; 52—69). Damons Lob des Hirtenlebens hält Haiton seinen Lobpreis eines frommen Lebens zu Füßen des Gekreuzigten entgegen, der Stadtflucht der weltlichen Schäfer entspricht in der geistlichen Dichtung die Weltflucht zum Kreuz hin >de Rubro mariSylva allegoriarumMare [.. .]Sylva allegoriarumNoxSylva allegoriarum«, S.655f. (>Mane [.. .]Trutznachtigall< soll dem Leser sowohl intellektuelles Vergnügen bereiten als auch - gemäß dem ignatianischen Grundsatz vom >Gott Suchen in allen Dingen< - zur Andacht und zur Gotteserkenntnis führen.
10.8. Arkadien als Ort sehnsuchtsvoller Erinnerung Wenn Spee die Höhepunkte der Heilsgeschichte in die ganz vom Seelischen bestimmte Landschaft Arkadiens verlegt, teilt sich ihnen der Stimmungsgehalt dieses Raums mit. Die Umsetzung des Passionsgeschehens in pastorale Szenen kleidet nicht nur vertraute biblische Geschichten in modische Formen, sie will dem Leser auch einen persönlichen, von der pia affectio getragenen Zugang zu den Glaubensinhalten eröffnen und das Gebetsleben des frommen Laien durch affektrhetorisch wirksame Andachtslieder von z.T. hohem künstlerischem Rang bereichern. Daphnis'-Christi magische Wirkung auf die Natur, ihre Bezauberung, wenn er erschien und ihr Sterben aus Schmerz über seinen Tod, weisen den Sänger-Hirten als Mittelpunkt und Lebenszentrum Arkadiens aus. Die zahlreichen mythologischen Motive, die Spee in den Trauergesängen um Daphnis als Lobesattribute anhäuft, schließen sich zum Bild eines vollkommenen, glückseligen Daseins zusammen, das an den Menschheitstraum vom Goldenen Zeitalter erinnert, als >ewiger< Frühling herrschte, die Erde bereitwillig Nahrung spendete und die Menschen sorglos und friedlich, in Einklang mit der Natur und in der Nähe der Götter lebten.126
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Z . B . in den Eingangsstrophen der Lieder Nr. 18, 40, 44. Ovid, Met., I, 89—112. - Zur aetas-aurea-Motivik im einzelnen Garber (1974), S.214f. 313
In ihren Trauergesängen idealisieren die Hirten Daphnis-Christus zum Repräsentanten und Schöpfer eines paradiesischen Weltzustandes, der mit dem Tod des Sänger-Hirten unwiederbringlich verloren ist.127 Daphnis'-Christi Gegenwart machte das Wetter freundlich (45; 133 f.), die Erde erfreute die Menschen mit Blumen und die Tiere mit süßem Gras (45; 135 -142), Sorge und Krankheit verschwanden durch die wunderbare Kraft des Hirten (45; 110-120). Die arkadischen Schäfer lebten wie im Goldenen Zeitalter in Götternähe, denn unter ihnen weilte als ihr »Mittgespan« (45; 156) der göttliche Hirt Daphnis-Christus. Damon und Haiton und ähnlich auch der Bach Cedron pflegen die Erinnerung an diese Zeit als ihren kostbarsten Besitz. Nach Daphnis'-Christi Tod dürfen seine Gefährten nicht einmal mehr ein Ehernes Zeitalter erhoffen, nur noch »Schwartze stunden« (45; 68) erwarten sie. Mit der Erinnerung an Daphnis-Christus retten die arkadischen Hirten der >Trutznachtigall< einen fernen Abglanz der glücklichen Vergangenheit in ihre Gegenwart hinüber. Das Spannungsverhältnis zwischen dem erinnerten Glück und der glücklosen Gegenwart verleiht den Passionseklogen der >Trutznachtigall< ihren charakteristischen wehmütigen Grundton. Erinnerung und Sehnsucht formen Spees Schäferwelt und verklären sie in mildem Licht. Seit Vergil Arkadien als poetische Landschaft entdeckte, gehören diese beiden Faktoren zu den konstituierenden Merkmalen der bukolischen Dichtung.128 Vergil war es auch, der zuerst Elemente der aetas-aureaMotivik in Theokrits Hirtenwelt einschmolz und sie zu einem Wunschraum zwischen Traum und Wirklichkeit stilisierte.129 Seine Hirten finden in Arkadien ein zeitentrücktes Refugium in einer unheilvollen, zerrissenen Welt.130 Das traumhaft verschwebende Land der Hirten und Poeten ist ganz von den Empfindungen seiner Bewohner durchdrungen. Die beseelte, mit Sympathie begabte Natur spiegelt die Seelenlage der Hirten wider und teilt mit ihnen Freude und Trauer.131 Spee unterstreicht dieses harmonische Verhältnis zwischen dem menschlichen Bereich und dem Naturgeschehen dadurch, daß er die Naturdinge anthropomorphisiert. Der Dichter personifiziert den Mond und den Bach Cedron und führt sie als Hirten in die Rahmenhandlung der Eklogen Nr. 39 und 41 ein. Ihr Schäferberuf betont nicht zuletzt auch ihre enge Verbundenheit 127
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In der Weihnachtsekloge TN Nr. 33 entwirft Spee die Vision eines eschatologischen Goldenen Zeitalters in Anlehnung an Vergils 4. Ekloge und an J e s a j a l l , 6 f . als Ergänzung zur rückwärts gerichteten Sehnsucht der trauernden Hirten in den Passionseklogen. - Vgl. Eikel (1956), S. 180. Böschenstein-Schäfer (1967), S. 11. - Vgl. Snell (1976), S. 22. Böschenstein-Schäfer (1967), S. 11. Garber (1974), S. 83 f., 96 und passim, Grosse (1968), S. 36 und 142.
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mit dem Guten Hirten Daphnis, an dessen Schicksal sie regen Anteil nehmen. Mit der Figur des Mondhirten dehnt Spee die Hirtenwelt sogar in den Makrokosmos aus, so daß sich schließlich auf allen Ebenen des dreistöckigen Weltgebäudes die Schäferthematik wiederholt. In der ganzen Schöpfung treten dem Betrachter Schattenbilder des pastor bonus entgegen, die ihn an den göttlichen Hirten erinnern sollen. In Spees pastoralen Bearbeitungen der Passionsgeschichte im letzten Teil der >Trutznachtigall< gewinnt in zunehmendem Maß die gefühlsbetonte Perspektive der arkadischen Schäfer an Bedeutung. Der Dichter hat in seinem Liederbuch den Passionseklogen das Pastor-bonus-Gedicht T N Nr. 37 und den »Trawrgesang von der Noth Christi am Oelberg in dem Garten« (38; 1—3) vorangestellt. Das Olberg-Lied und die Erstfassung des Pastor-bonusGedichts gehören beide zur Gruppe der älteren Lieder, die aus dem >Tugendbuch< in die >Trutznachtigall< gelangten (GTB S. 137 f. und 171 — 173). In diesen zwei Gedichten gestaltet Spee von Texten des Neuen Testaments ausgehend einen Monolog der leidenden Christusfigur. Die nachfolgenden Gedichte, in denen sich Spee die Eklogenform aneignet, nehmen jeweils auf das Handlungsgerüst der beiden früheren Lieder Bezug, transformieren es schrittweise und lösen sich zusehends von deren biblischer Grundlage. So greift die Mondekloge T N Nr. 39 auf die Thematik des vorausgehenden Lieds zurück und präsentiert die Not Christi in schäferlicher Überformung. Die Ekloge Nr. 40 verbindet Daphnis'-Christi Suche nach dem verlorenen Schaf mit der Schilderung seiner Gefangennahme im Garten Gethsemane. Doch bereits in der Cedronekloge (Nr. 41) verschwindet dieses Geschehen fast gänzlich aus dem Blickfeld; sie konzentriert sich im wesentlichen auf die Schilderung des personifizierten Baches Cedron im Gedichteingang (Strophe 1 - 7 ) und auf dessen Lob des Sängerhirten (Strophe 8-17). Während in der Ekloge Nr. 39 die Ölbergszene und ihre Schilderung durch den Mond noch synchron ablaufen, besingt der Bach Cedron nicht die Schrecken der Gegenwart, sondern er versetzt sich und den Leser zurück in die Zeit vor Daphnis' Gefangennahme. Nur wenige Verse, die Spee einem übergeordneten Erzähler zuweist, beziehen sich unmittelbar auf das Passionsgeschehen (41; 8—11, 40—47 und 58 f.). Seine Erwähnung dient lediglich als Anlaß, den Bach Cedron auf seinem Rückzug ins Reich der verklärenden Erinnerung zu begleiten. In gleicher Weise wie die Gethsemane-Szene entschwindet auch die Suche des Hirten nach dem verlorenen Schaf allmählich aus Spees Eklogen. Während er diese Suche in T N Nr. 40 noch ausführlich paraphrasiert132 und dabei den biblischen Stoff der Eklogenform anpaßt, widmet er in T N Nr. 45 nur noch 132
Ca. 9 von 24 Strophen beschreiben in T N N r . 40 die Suche nach dem verlorenen Schaf. Sieben Strophen entfallen auf die Schilderung der Gefangennahme, die übrigen auf Daphnis'-Christi L o b und auf die Rahmenhandlung.
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eine von dreißig Strophen dieser Begebenheit. Das biblisch-pastorale Kernstück, das den Zugang zur Schäferdichtung eröffnete, kann nur noch den Stellenwert einer Episode beanspruchen. Andere, vor allem mythologische und panegyrische Motive gewinnen statt dessen an Bedeutung. Insgesamt tritt die Nacherzählung der biblischen Fakten in den Hintergrund zugunsten einer wehmütig glorifizierenden Erinnerung der Hirten an Daphnis-Christus, über dessen jammervolles Schicksal sie trauern. Es ist bezeichnend, daß in den Passionseklogen der >Trutznachtigall< Daphnis-Christus nicht selbst in Erscheinung tritt. Anders als in den Liedern Nr. 37 und 38 schiebt Spee zwischen das Leiden Christi und den Leser die Lieder der arkadischen Hirten. Dabei verlagert sich der Schwerpunkt der Passionsgeschichte allmählich vom äußeren Geschehen nach innen, auf die Gefühle der klagenden Hirten, die ihre bittersüße Stimmung kultivieren und in der trauernden Natur das Echo ihrer Seelenlage finden. Nicht Ereignisse, sondern Empfindungen dominieren; das äußere Geschehen löst sich nahezu in Gefühl auf. Die sehnsuchtsvolle Erinnerung der Arkadier weist den Weg zur Verinnerlichung. Mit dieser starken Akzentuierung des emotionalen Erlebens ergänzen Spees geistliche Schäfergedichte, in denen die Hirten mitfühlend auf Daphnis'Christi Leben und Leiden zurückblicken, die erbaulichen Intentionen der versifizierten, am ignatianischen Andachtsmodell geschulten Passionsbetrachtungen, die der Dichter ebenfalls in den Schlußteil seines Liederbuchs aufgenommen hat.
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11.
Spees Programm der compassio in der >Trutznachtigall
Trutznachtigall< zeigt, daß die Interpreten des Liederbuchs zumeist ganz im Bann des älteren Ölbergliedes stehen, dessen »herzandringende Einsinnigkeit« und »Seelentiefe«1 ausgiebig gewürdigt werden. Demgegenüber wird Spee für seine Mondekloge zuweilen herbe Kritik zuteil. Man erblickt in dem Gedicht eine fast schon würdelose »Konzession an den Zeitgeschmack« 2 oder bescheinigt dem Dichter gar »zuckersüße Kindereien und schmachtende Geschmacklosigkeiten der verschiedensten Art«. 3 Solche ablehnenden Urteile basieren auf der problematischen Auffassung, die Umformung und Erweiterung der Gethsemaneszene zu einer Passionsekloge verunstalte und verzerre lediglich die schlicht gefaßte Aussage des älteren Gedichts durch »Pastoral verschnörkeltes Beiwerk«. 4 Daß der pastorale Rahmen dieses Gedichts dem Leser jedoch mehr bieten will als überflüssige >SchnörkelWiderschein< des Passionsgeschehens. Im Verlauf der Ekloge nimmt sein Mitleid immer mehr den Charakter einer unwillkürlichen imitatio Christi an. Schon das Auftreten des Mondes als Sternenhirt deutet die enge Relation zwischen ihm und dem Hirten Daphnis-Christus als seinem Vorbild an. Spee unterstreicht das Zusammenwirken von Leid und Mitleid wirkungsvoll durch den räumlichen Rahmen der Ekloge. Der Dichter verleiht Daphnis'Christi bemitleidenswerter Situation dadurch sinnfälligen Ausdruck, daß er seinen Aufenthaltsort als Kontrastbild zu den idyllischen Himmelsauen (39; 26 f.) zeichnet. Daphnis' Verlassenheit in Kälte und Nacht (Strophe 5 f.) des locus terribilis9 korrespondiert mit seiner inneren »Pein, vnd Marter« (39; 48) und steigert deren erdrückende Macht. Mit seinem Kommentar beweist der Mond, daß er Daphnis' Not und dessen Wunsch, »in MutterSchooß« (39; 49) zu liegen, nachempfinden kann. Zugleich führt der Sternenhirt dem Leser die Diskrepanz zwischen diesem Wunsch und Daphnis' tatsächlicher Not und Einsamkeit - »Er dem Felsen ligt in armen« (39; 50) - vor Augen. Dabei steigert die Anthropomorphisierung des Felsens die Kontrastwirkung der entworfenen Bilder und den Gefühlsgehalt der beschriebenen Szene. Für die weitere Schilderung des leidenden Daphnis-Christus bedient sich der Mond der gleichen Terminologie, mit der Spee im ersten Teil der >Trutznachtigall< die Liebespein der anima sponsa beschrieb.10 Daphnis' jammervoller Anblick könnte Steine zu Tränen rühren (39; 37), sein Herz droht zu zerbrechen (39; 92), er vergießt Ströme von Tränen (Strophe 7-9) und beantwortet die Fragen nach der Ursache seines Leids mit beredtem Seufzen 7
Fricke (1933), S. 39. Beispiele bei Henkel/Schöne (1967), Sp. 30-37; vgl. besonders das Mondemblem auf S. 30 (Christus als Licht der Welt) mit dem Motto: »CUNCTA REFUNDIT [sc. luna]«. - Hieronymus Lauretus, >Sylva allegoriarumLunamneme theoüTugendbuch< spricht diese didaktische Funktion, die Spee den Himmelserscheinungen zuweist, in prägnanter Weise aus: ietzt gehet es mir erst zu hertzen, vnd es wurtzlet tieff bey mir, warumb mit JESU Sonn vnd Mond ihren schein verlieren, ihr glory vnd zierd ablegen. Vnterweisen wollen sie vns, sie wollen vns vnterweisen, daß auch wir alle frewden ablegen sollen (394, 12-16).
11.1.3. Das Aphrodite-Adonis-Motiv Während sich die Rahmenhandlung der Mondekloge ganz auf die Mitleidsbekundungen der Gestirne konzentriert, schildert Spee als Gegengewicht hierzu in der Binnenhandlung die Reaktion der Erde auf Daphnis'-Christi »dopple Thränen« (39; 64). Der Dichter greift einen Vers des Neuen Testaments auf und gestaltet ihn zu einer ausdrucksstarken Szene aus. Im Lukasevangelium, Kapitel 22,44b, heißt es von Christi Todesnot im Garten Gethsemane: »Es war aber sein Schweiß wie Blutstropfen, die fielen auf die Erde.« In der poetischen Umschreibung der Tränen und Blutstropfen als »Weisse Peril, Corallen root« (39; 65) entfaltet das chiastische Metaphernpaar den Farbkontrast >rot-weißTrutznachtigall< leitmotivartig durchzieht. Die traditionelle Schönheitsformel wird hier auf das Leiden Daphnis'-Christi übertragen. In seinen Tränen und blutigen Schweißtropfen konzentriert sich quasi die entäußerte Schönheit des sponsus Christus. Wie in der Schönheitsbeschreibung weltlicher Liebeslieder intensivieren Pretiosen als Träger der Farbqualitäten den optischen Eindruck.15 Indem Spee kostbare Gegenstände in die Leidensschilderung einbezieht, verdeutlicht er damit zugleich die Kostbarkeit der Tränen und des Bluts, die Christus für die Erlösung der Menschheit vergießt. Überdies eröffnet sowohl die Perlen- als auch die Korallenmetapher emblematische Bezüge. In der Naturallegorese des Mittelalters galten Korallen als Sinnbild der Auferstehung.16 Diese Deutung beruht auf der Beobachtung, daß die Koralle erst an Land, wenn sie abgestor-
" is "
Ebd., Sp. 3165f. Schöberl (1972), S. 31-41. Daly, Strukturen (1973), S. 215. 321
ben ist, hart und dauerhaft wird.17 Ganz ähnlich erklärten die antiken Schriftsteller auch die Entstehung der Perle. 18 Wie mehrmals in der >Trutznachtigall< intensiviert Spee auch im Fall der Tränen, die Daphnis-Christus vergießt, die Ausdruckskraft seines dichterischen Bildes durch eine Quantitätsvorstellung (39; 72 f.). Daß Daphnis' Tränen ungezählt bleiben, hat seine Ursache nicht nur in Spees Vorliebe für den >Unzählbarkeitstoposecloga< - möglicherweise aus Rücksicht auf die kirchlich gebundene Tradition der Marienklage. Als wichtigste Grundlage der mittelalterlichen Marienklage gilt der Ü b e r depassione Christi et doloribus etplanctibus Matris eiusSylva allegoriarumBestiaBezauberung< schildert Dan. 6.
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Bußliedern mit dem Bild des >weichenEntschließungTrutznachtigall< nicht mehr »Eine Christliche Seel« (46; 1), sondern ihr Herz den Verlauf der Andacht bestimmt, mag als Assimilation an den Gegenstand der Verehrung, das Herz Jesu, aufgefaßt werden; in ähnlicher Weise konzentriert sich im >Tugendbuch< die Vorstellung der unio passionalis auf die Vereinigung des Herzens Jesu mit dem Menschenherzen. 94 Darüber hinaus wirkt in der Darstellung des menschlichen Herzens als vogelähnliches Wesen die Hohelied-Allegorese als bildschöpfende Kraft. Bernhard von Clairvaux und vor ihm Gregor der Große 95 bezogen die »Taube in den Felsklüften« aus Cant. 2,14 auf die Versenkung der Seele in die Passion und insbesondere auf ihre Betrachtung der Seitenwunde Christi. 96 Außer in Lied Nr. 46 greift Spee noch mehrmals auf dieses Motiv oder auf verwandte mystische Bilder zurück. In T N Nr. 17 übernimmt die liebende Nach Langen (1968), S. 171, geht die Metapher des >Herzensschreins< auf Cant. 1,3 (Vers 1,4 der Vulgata) zurück; für den »HertzenKast« in Spees Gedicht gilt wohl das gleiche. »i Sauser (1965), Sp. 907f. - Vgl. Jacobsen (1954), S. 150. « Bouvier (1929), Sp. 1086. - Vgl. Spamer (1980), S. 61. 93 Richstätter, Herz (1924), S. 317. - Auch der Wunsch der sponsa in T N Nr. 2, »Auff JESV brüst gebunden« (2; 52) zu ruhen und zu sterben, verweist auf den Traditionszusammenhang der Herz-Jesu-Verehrung (vgl. Richstätter, Christusfrömmigkeit (1949), S. 446 f.). M Z.B. GTB Kap. II 14 (>6 FragSuper Cantica Canticorum exposition PL 79, 799 CD. * Z.B. in Bernhards von Clairvaux 61. Hohelied-Predigt, PL 183, 1070-1074. - Dort findet sich bereits das Motiv der Schutzsuche vor der Bedrohung durch Raubvögel (PL 183,1071 D). 90
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Büßerin Magdalena die Rolle einer »Taube in den Felsklüften« (Strophe 5). Eine Nachtigall, die in einem Bildstock nistet, dient im >Tugendbuch< als Vorbild für die andächtige Seele, die in Christi Seitenwunde »ruhen« und sich »ein nästlein machen« (389,2) will. An einer anderen Stelle seines Andachtsbuches identifiziert Spee wie in T N Nr. 46 das menschliche Herz mit dem Seelenvogel; die mystisch gefärbte Bildlichkeit der Wundenverehrung nähert sich dem petrarkistischen Motiv des entflohenen Herzens an,97 wenn die sponsa ausruft: »O J E S U , mein hertz ist mir entflogen. Ach suche es bey deinem hertzen in deinen Wunden. Da lasse es doch immer wohnen« ( G T B 201,16 f.). 98 Hier zeichnet sich - wenn auch im äußerst begrenzten Rahmen eines einzelnen Motivs - die für Spees Werk spezifische Synthese von spätmittelalterlicher Frömmigkeit und humanistischer Gelehrtendichtung ab. 11.3.3. Die Liebe-Leid-Thematik im Spannungsfeld zwischen weltlicher und geistlicher Dichtung Liebe und Leid verbinden sich in der Passion Christi ebenso unlösbar miteinander wie in den Liebesklagen der anima sponsa. Spee verleiht der petrarkistischen Grundantinomie, die den Tenor vor allem der älteren Sponsalieder bestimmt, spirituelle Bedeutung. Das Leid, das die Gespons Jesu empfindet, ist nicht mehr das fruchtlose Schmachten des hoffnungslos Liebenden, sondern die imitatio des göttlichen Bräutigams aus Liebe zu ihm und das andächtige Versenken in seine Wunden. Mit den folgenden Worten des Gekreuzigten könnte auch die Gott liebende Seele ihre Erfahrung des eros glykypikros charakterisieren: Ο lieb, ο lieb, wir kräncket mich die grosse lieb? wie eine süsse marter ist die lieb? nichts peinlichers ist als dise süssigkeit; nichts süssers ist als dise pein ( G T B 408,8-10)."
Das vom Cupido divinus verwundete Herz der sponsa findet eine Entsprechung in den vulnera caritatis des sponsus crucifixus; das Bild der Liebesfesseln, die die pia anima als »süsses band« (TN 7; 28) spürt, wiederholt sich in den sichtbaren vincula amoris, die den sponsus Christus ans Kreuz binden (43; 432 f.). 100 Eine ähnlich spannungsreiche Wechselbeziehug zwischen weltlichen und geistlichen Motiven ist in der Dichtung des 17. Jahrhunderts vielfach zu beobachten. Geistliche Kontrafakturen fordern profane >Gegenangriffe< heraus und Jacobsen (1954), S. 94 u. 108. Vgl. im Sponsazyklus folgenden Vers: »Mein hertz von Mir, Weicht gar zu Dir« (7; 22). " Vgl. in den Sponsaliedern T N 10; 148f.; ähnl. äußert sich auch der pastor bonus in G T B 133,20-23. loo Vgl. in der >Vitis mystica< Cap. IV, >De vinculis nostrae Vitis, id est de variis vinculis et poenisLied< (1624), Vers 38; zit. nach Wagenknecht (1976), S. 57f. - Vgl. auch Paul Flemings Sonett >Er verwundert sich seiner Glückseeligkeit< (1642), Vers 13-15 und Johann Thomas' >Als ihm Lisille den Baronius verehrete< (1665), Vers 47—49; beide bei Wagenknecht (1976), S. 122f. u. 258f. 105 Oorschot, Magdalenenlied (1974), S. 107.
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Zusammenfassung
Im >TugendbuchTugendbuch< seinem Benutzer eine abwechslungsreiche, individuelle Gestaltung der täglichen Privatandacht nach dem Prinzip der discretio. Alle natürlichen Fähigkeiten des Menschen, Gedächtnis, Phantasie, Intellekt und Affekte werden ins Gebet integriert; auch unterhaltsame und spielerische Elemente, die dazu geeignet sind, Interesse und Aufmerksamkeit des Gläubigen wachzuhalten und die der Gefahr der Uberanstrengung vorbeugen, sind ein wichtiger Bestandteil von Spees Übungsbuch, das alle Daseinsbereiche, auch Arbeit und Spiel, ins Gebet einbezieht und dem Alltag des Laien mit seinen zahlreichen profanen Pflichten einen geistlichen Mittelpunkt, ja religiöse Weihe verleihen möchte. Mit der Unterweisung im methodischen Gebet, die der Seelsorger seiner >geistlichen Tochter< im >Tugendbuch< erteilt, unternimmt Spee eine Adaptation des Exerzitienprozesses im Rahmen eines Erbauungsbuches; zur Erklärung seiner Tugendübungen greift der Verfasser mehrfach auf die Kommentare und Erläuterungen zum ignatianischen Andachtsverfahren zurück, wie sie in den zeitgenössischen Direktorien vorliegen. Die wichtigsten Etappen des 339
Exerzitienprozesses kehren - frei bearbeitet und zuweilen erheblich >verfremdet< - im >Tugendbuch< wieder: Von der Umkehr des Sünders und seiner bewußten Entscheidung für Gott schreitet der Gläubige fort zur Einübung in die Nachfolge Christi anhand der Betrachtung des Erlösungswerkes; wie Ignatius von Loyola möchte Spee den Übenden zur Verwirklichung der Christusnachfolge im Alltag durch den Dienst in der Welt >zur größeren Ehre Gottes< anleiten. Darüber hinaus erweist sich in Spees Erbauungsbuch an vielen Einzelheiten der prägende Einfluß der Exerzitienmethode. Die ignatianische Funktionalisierung der Rhetorik im Dienst der christlichen Seelenführung bildet eine wesentliche Grundlage für das geistliche Übungsprogramm des >TugendbuchsZubereitung des Schauplatzesim Parteiinteresse< (ζ. B. in den vier amplifizierenden Übungstypen des Exerzitienbuchs) bringt Spee wie vor ihm Ignatius von Loyola den Gegenstand der Andacht zur höchsten psychologischen Wirksamkeit. Spees schöpferische Umgestaltung und Weiterentwicklung des ignatianischen Vorbildes verbindet eine fortschrittliche, auf größtmögliche Effizienz abgestimmte Andachtsmethode mit der gefühlsbetonten Bildlichkeit des Hohenliedes und deren traditioneller allegorischer Exegese. Der Verfasser macht das Brautschaftsmotiv der mittelalterlichen Hohelied-Auslegung zum Zentrum eines meditativen Rollenspiels zwischen der anima sponsa und dem sponsus Christus, um auf diese Weise den Gläubigen zu einem subjektivierenden Verständnis der Heilsgeschichte anzuregen und dem Übenden den Weg zu einer ihm gemäßen praxis pietatis zu weisen. Die entscheidende Phase der >Geistlichen ÜbungenAntwort< - den Entschluß zur liebenden imitatio des Erlösers - zum Gegenstand der Andacht haben. In der Parabel vom verlorenen Schäfchen (Kap. II 4) verschmilzt im Ruf des pastor bonus nach seinem geliebten Schaf die ignatianische Betrachtung vom >Ruf des Königs< mit dem >revertereGilgenstock< des Dominikanerpaters G. Muntzius zu finden ist, soll den Leser zur inneren Umkehr veranlassen. Kapitel II 11 und III 11 des >Tugendbuchs< veranschaulichen den göttlichen Ruf zur Nachfolge durch die Liebeswerbung des sponsus Christus, der sein Gespons zur Weltabkehr auffordert. Spee verbindet das Klopfan-Motiv des Hohenliedes mit der Türklage der weltlichen Liebeslyrik (Kap. III 11); im Lied > 0 Venus Kind« (Kap. II 11) schafft der Verfasser mit dem mythologischen Inventar der zeitgenössi340
sehen Dichtung eine poetische Entsprechung zur antithetisch strukturierten >Besinnung von zwei Bannern< des Exerzitienbuches. Auch den Passionsandachten des >Tugendbuchs< liegt das dialogische Schema von >Ruf und Antwort* zugrunde, das Spee aus den ignatianischen >Exerzitien< übernahm. In der symmetrischen Entsprechung von passio und compassio verwirklicht sich die >Mitteilung von beiden Seiten herpro me< soll der Fromme eine persönliche, sein ganzes Dasein ergreifende Beziehung zum Heilsgeschehen herstellen, die Größe der göttlichen Liebe ermessen und diese Liebe in einem Leben der Christusnachfolge erwidern. Das Verlangen nach passionaler Angleichung an den himmlischen sponsus disponiert die andächtige Seele für die unio sacramentalis, die eine geistliche transformatio des Kommunikanten bewirkt und damit das spirituelle Konzept der imitatio zu seiner Vollendung führt. Die Vorstellung des >induere ChristumExamen generale< der Societas Jesu aufgegriffen wird, unterstützt den Gläubigen in Kapitel III 10 bei einer Übung der Selbstverleugnung und der meditativen Verähnlichung mit dem leidenden Christus. In Kapitel III 34, das vermutlich einem Passionsgebet des Petrus Canisius nachgebildet ist und in der Tradition der pseudobernhardinischen >Salven< steht, weckt das Bild des gekreuzigten Erlösers, dem die frühere Schönheit des sponsus Christus gegenübergestellt wird, die pia affectio des Betrachtenden. Verschiedene Konkretionen der imitatio Christi, von der sequela über die geduldige Ergebung in den göttlichen Willen bis zur quasi mimetischen Leidensnachfolge des Martyriums, dem Spee auch die unschuldigen Opfer der Hexenverfolgungen zurechnet, lernt der Übende in Kapitel III 3 des >Tugendbuchs< kennen; auch diese Andacht wurde wohl teilweise vom >Examen generale< beeinflußt, das die Christusnachfolge als zeitlos gültiges Modell christlicher Lebensgestaltung propagiert. Danach überträgt Spee in den Kapiteln III 12-14 und 16 die Forderung der compassio auf den Umgang mit notleidenden Mitmenschen. Die weltzugewandte Frömmigkeit des >Tugendbuchs< und das 341
erstaunlich modern anmutende soziale Engagement seines Verfassers erweisen sich somit als Ausläufer der mittelalterlichen Passionsfrömmigkeit. Gerade in diesen Andachten gelingt es Spee, das Programm der Christusnachfolge, das er mit der Liebesthematik des Hohenliedes verknüpft, in die christliche Praxis des frommen Laien hineinzutragen, dessen Leben zum fortwährenden Gebet und Gottes-Dienst, zu einem existentiellen Dialog mit Gott umgestaltet werden soll. In zahlreichen weiteren Übungen des >Tugendbuchs< wird das >kommunikative< Wesen des amor spiritualis als strukturbildendes Moment der Andacht wirksam. Die >geistliche Tochter< betet in Kapitel 1 3 - 5 das Glaubensbekenntnis mit >Zusätzen< oder in paraphrasierter Form, um seine Bedeutung >pro me< zu erfassen; dabei erkennt die pia anima die Größe der göttlichen Wohltaten und >beantwortet< sie mit wachsender Gottesliebe, die sich im Wunsch, Gott >je mehr< zu loben, manifestiert. Leitmotivisch durchzieht die laudatio Dei als menschliche Antwort auf die göttlichen Liebestaten das Übungsprogramm des >Tugendbuchsmagis laudare< zu einer quantitativen Steigerung des Lobpreises, die in ein universales Lob nach dem Vorbild des 148. Psalmes mündet (Kap. III 7f.). In weiteren Übungen wird nicht allein die Natur als Instrument zur Erkenntnis und zum Lob Gottes eingesetzt, sondern auch willkürlich gewählte Zeichen, die mit spiritueller Bedeutung versehen werden können, wie Spee in Anlehnung an die aristotelisch-scholastische signa-Lehre darlegt. Der Schlag einer Uhr dient in Kapitel III 19 als Erinnerungszeichen zum stündlichen Gotteslob; Kapitel III 21 verleiht dem Pulsschlag die Funktion eines unwillkürlichen lebenslangen Lobes >ohne UnterlaßTugendbuchsliebende Mitteilung von beiden Seiten herGeistlichen Übungen< gelten kann. 342
Neben den >Exercitia spiritualia< war es die Katechismusfrömmigkeit des ausgehenden 16. Jahrhunderts, der Spees Erbauungsbuch wichtige Anregungen verdankt. Die religiöse Krise der Reformationszeit ließ eine elementare Unterweisung breiterer Bevölkerungskreise in Glaubensdingen dringend notwendig erscheinen; mit dem neu erwachten Interesse an der >Christenlehre< wurde in zunehmendem Maß das Buch als Instrument der Glaubensverkündung entdeckt. Zu den populärsten geistlichen Unterrichtswerken zählen die Katechismen des Petrus Canisius, die, auf das Fassungsvermögen unterschiedlicher Altersstufen abgestimmt und in vorbildlich klarer Sprache abgefaßt, ihrem Leser ein übersichtlich gegliedertes Grundwissen bieten. Die Kanisischen Lehrbücher regten zahlreiche Bearbeitungen und Werke mit vergleichbarer lehrhafter Tendenz an; unter ihnen sind vor allem das Katechismusgesangbuch und das >Betbuch< desselben Autors zu nennen, in denen einige für das >Tugendbuch< charakteristische Merkmale bereits vorgeprägt sind und die einem geistlichen Unterrichts- und Erbauungsbuch wie der Speeschen Schrift den Weg bereiten. Im übrigen scheint sich Spee im Aufbau des >Tugendbuchs< unmittelbar an die Kanisischen Katechismen anzulehnen, die wie jenes Credo, Paternoster und die Zehn Gebote den drei göttlichen Tugenden zuordnen. Spee baut das Modell einer religiösen Laienunterweisung, das Canisius in seinen Katechismen entwirft, mit Hilfe der hochentwickelten ignatianischen Gebetsmethode zu einem weiterführenden, außerordentlich anpassungsfähigen geistlichen Übungsprogramm aus, das den Gläubigen bei seinem Streben nach christlicher Vollkommenheit durch gezielte Unterweisung wirkungsvoll unterstützt. Der ausgeprägt religionspädagogische Impetus des >Tugendbuchs< wurzelt nicht zuletzt in der Jesuitenkatechese, deren Methode - wenn auch in stark vereinfachter Form - zahlreiche Berührungspunkte mit dem ignatianischen Übungsverfahren aufweist. Bei ihrer Christenlehrtätigkeit beschränkten sich die Jesuiten nicht auf die rationale Wissensvermittlung, sondern beabsichtigten darüber hinaus eine tiefgreifende emotionale Beeinflussung, eine umfassende religiöse und sittliche Erziehung ihrer Schüler, wobei auch spielerische Elemente, Lieder, Exempel usw., die auch Spees Andachtsübungen bereichern, Verwendung fanden. Ferner lassen sich im >Tugendbuch< einige für die nachtridentinische Erbauungsliteratur charakteristische Kennzeichen nachweisen: Die Betonung der Didaxe, Praxisnähe, aliturgische Form, die Akzentuierung personaler, ja subjektiver Momente in der Andacht und das bewußte Anknüpfen an die kirchliche Tradition verbinden Spees Werk mit der zeitgenössischen katholischen Gebetsliteratur, von der er zahlreiche Anregungen erhielt. Besonders nahe steht Spees Erbauungsbuch einer relativ neuen Spezies des geistlichen Schrifttums, die vornehmlich von Mitgliedern des Jesuitenordens - darunter Cl. Aquaviva und Ch. Mayer - unter dem Titel >Industriae< oder >Manuale< veröffentlicht wurde. Diese oft umfangreichen, in lateinischer Sprache abge343
faßten Handbücher des spirituellen Lebens popularisieren den Exerzitiengedanken und bringen ihn in allen Bereichen der praxis pietatis zur Geltung. Mit ihren Übungen der >mneme theoü< beeinflußten zwei weitere Autoren aus der Societas Iesu Spees Tugendübungen: F. Arias lehrt eine Übung der Gegenwart Gottes mit Hilfe von Erinnerungszeichen, Stoßgebeten und häufig wiederholter Seufzer, die das ganze Dasein des Gläubigen in ein (virtuelles) >Beten ohne Unterlaß< verwandeln soll. Kardinal R. Bellarmin führt in der >Ascensio mentis< den Frommen durch die Betrachtung der Natur zur Erkenntnis und zur Liebe Gottes. Einige weitere einfache Gebetsübungen des >Tugendbuchs< (Kap. I 3-5) entstanden in Anlehnung an J . Polancos Sterbebüchlein. Unter den Autoren, die nicht dem Jesuitenorden angehörten, scheint Spee solche Vorbilder zu bevorzugen, die den Leser durch eine bildhafte, mitreißende Sprache zu gewinnen vermögen; zu dieser Quellengruppe zählen der für seine Eloquenz berühmte Dominikaner Ludwig von Granada und der Benediktiner Ludwig von Blois, durch dessen Trostschrift Spee mit Taulerschen Texten in Berührung kam. Vor allem aber waren es die Schriften des Franziskaners Bartholomaeus Saluthius und des Dominikaners Georg Muntzius, deren affektbetonte Passionsandachten Spee inspirierten; die kurzen, scharfsinnig e s Betrachtungen dieser Schriftsteller, ihre allegorischen Andachtstexte und ihre Gebete in Gesprächs- oder Gedichtform wurden mehrfach ins >Tugendbuch< übernommen. Diese und eine Reihe weiterer Quellen verarbeitet Spee zu einem vielgestaltigen geistlichen Übungsprogramm, das ehemals monastische Andachtsformen einem theologisch kaum vorgebildeten Rezipientenkreis zugänglich macht und ihm so den Weg zu einer vertieften Laienfrömmigkeit weist. Die produktive Aneignung der unterschiedlichsten Textsorten, die für die Entstehung des >Tugendbuchs< von grundlegender Bedeutung ist, bestimmt auch Spees Auseinandersetzung mit der weltlichen Dichtung in der >Trutznachtigalk Auch hier entfalten die >meditativen< Präsentationsformen, die der Verfasser bereits bei der Adaption der Exerzitienmethode im >Tugendbuch< übernommen hat, affektrhetorische Wirksamkeit. Das Motiv der Seelenbrautschaft, das in den Speeschen Tugendübungen vielfach das >dramatische< Gerüst der Andacht bereitstellte, rückt nun als Basis für die geistliche Umdeutung der weltlichen Liebesdichtung ins Zentrum des geistlichen Liederbuchs. Zu den wichtigsten Grundlagen der >Trutznachtigall< gehört zunächst die religiöse Kontrafaktur des Petrarkismus. In den älteren Sponsaliedern überträgt Spee die petrarkistische Liebessituation auf die Beziehung zwischen Christus und der menschlichen Seele, die in der traditionellen HoheliedAuslegung durch das Brautschaftsmotiv veranschaulicht wird. Wie in der weltlichen Dichtung der Liebende vergeblich um eine abwesende, als göttliches Wesen gepriesene Frau wirbt und sich in bittersüßer Liebe verzehrt, so quält das Verlangen nach dem himmlischen Bräutigam die anima sponsa. Ihre 344
hyperbolische Liebesklage, die Spee mit dem petrarkistischen Formelschatz gestaltet, soll die Macht der Jesusminne demonstrieren und ist Ausdruck des egozentrischen amor concupiscentiae. Die neueren Sponsalieder und das Magdalenenlied überwinden die für die petrarkistische Liebeskonzeption charakteristische Einseitigkeit der Liebesbeziehung. Jetzt wirbt die sponsa nicht mehr vergeblich, der sponsus ist nicht mehr unerreichbar fern. Im Unterschied zu den Sponsaliedern aus dem >Tugendbuch< deutet Spee in diesen Gedichten die unio mit dem Seelenbräutigam an. Liebespreis löst die bis dahin dominierende Liebesklage ab. Das Suchund das Traummotiv aus dem Hohenlied bereiten die Begegnung von sponsus und sponsa vor. Spee gestaltet das Suchmotiv, das in der >Trutznachtigall< eine zentrale Rolle spielt, als dreiteilige via mystica (Lied Nr. 10 und 11). Die Gedichte Nr. 9-11 verbinden die Suche nach dem göttlichen Geliebten mit der meditatio passionis. Spee bezieht die unio-mystica-Formeln, die z.T. schon die mittelalterliche Mystik in ähnlicher Weise aus dem Hohenlied ableitete, in die Sprache der petrarkistischen Liebeslyrik ein und beschreibt die unio als coincidentia oppositorum von Leben und Tod, Süßigkeit und Schmerz, als reziprokes Binden, Umarmung, Kuß, Rast an der Seite des himmlischen Bräutigams und als Erkennen des sponsus Christus durch einen göttlichen Funken, den er in der menschlichen Seele entfacht. In den Bußliedern findet eine weitere Inversion der petrarkistischen Liebessituation statt. Die Seele des Sünders, dem der göttliche Ruf zur Umkehr gilt, übernimmt die Rolle der umworbenen und abweisenden Geliebten; die Suche nach dem himmlischen sponsus verkehrt sich zur Flucht des verlorenen Sohns vor der göttlichen Gnade. Spee gestaltet den Reueschmerz des Sünders analog zur Liebespein der sponsa Christi und gleicht die Sündenklage der bußfertigen Seele der petrarkistischen Liebesklage an. Die Buße veranschaulicht der Dichter als >Umkehr< und Rückkehr des verlorenen Sohns. Anders als die hartherzige Geliebte im weltlichen Gedicht weist ihn sein Vater, der ein mitfühlendes, >weiches< Herz besitzt, nicht ab, sondern schließt ihn zum Zeichen der Vergebung in die Arme. Diese Modifikation der petrarkistischen Motivik ergänzt Spee in seinem Trostgedicht TN Nr. 18 durch die geistliche Umdeutung des (Bienen-)Kußmotivs aus dem Basium XIX des Johannes Secundus. Spee schafft eine Synthese aus der erotischen Bildersprache des Kußgedichts und der Metaphorik der Blut- und Wundenmystik: Der >süße< Kuß des Gekreuzigten spendet Trost und neues Leben, sein Blut und seine Tränen verarbeiten die Bienen zu heilsamem Honig. Einen weiteren Grundpfeiler der >Trutznachtigall< bildet die geistliche Schäferdichtung. Mit dem Gedicht vom Guten Hirten, der sein verlorenes Schäfchen sucht (Lied Nr. 37), erschließt sich Spee die Gattung der religiösen Schäferdichtung. Die Klage des suchenden Hirten nimmt Züge der petrarkistischen Liebesklage an und weist dieselbe triadische Struktur auf wie die Suche 345
der anima sponsa nach dem sponsus Christus und wie Magdalenas Suche nach dem Auferstandenen in den Liedern Nr. 10 und 11. In den nachfolgenden Passionseklogen identifiziert Spee den pastor bonus mit der Figur des mythischen Hirten Daphnis, der aus Liebe starb. Dabei findet eine Metamorphose des neutestamentlichen Guten Hirten zum arkadischen Schäfer statt. Die Sängerhirten in Spees geistlichem Arkadien übertragen in ihren Trauergesängen eine ganze Reihe mythologischer Motive als Lobesattribute auf DaphnisChristus. Spee macht die panegyrische Komponente der bukolischen Dichtung der Verherrlichung des Erlösers dienstbar. Daphnis-Christus bezauberte als >alter Orpheus< die Natur, die Erde huldigte ihm wie der Liebesgöttin mit Blumenschmuck. Auch die Schilderung von Daphnis'-Christi Tod rundet Spee durch mythologische Elemente ab, z.B. durch Anleihen beim Aktäonund beim Adonis-Mythos. Die Totenklage um Daphnis-Christus in der >Trutznachtigall< (Lied Nr. 45) entlehnt Motive aus mehreren antiken Vorbildern, wie der Klage um Orpheus in Ovids >MetamorphosenTrutznachtigall< ein gefühlsbetontes, idealisiertes Bild von Daphnis-Christus, das die subjektive Vertiefung in das Passionsgeschehen und das Mitgefühl des Lesers herausfordert. Die Sympathie der Natur, die von Daphnis-Christus bezaubert wurde, die um ihn trauert und von seinem Tod zutiefst erschüttert wurde, dient als Leitbild. In der Mondekloge führt Spee seinem Leser exemplarisch die vorbildliche Anteilnahme des Sternenhirten und die Dankbarkeit des Erdbodens vor Augen. Auch in der Marienklage akzentuiert der Dichter besonders die mitfühlende Erinnerung an Daphnis'-Christi Leiden und Sterben. Spee interpretiert Maria als das Urbild der sponsa Christi, die die Gemeinschaft mit Christus im Leiden und Mitleiden sucht. Auch die Passionsbetrachtung T N Nr. 46, die wie die übrigen Passionsgedichte der >Trutznachtigall< Spees Schulung an der Exerzitienmethode verrät, macht die Gemeinschaft der Gott liebenden Seele mit dem sponsus crucifixus zum Gegenstand der Andacht. Die mit-leidende Vergegenwärtigung des Gekreuzigten führt über einen dreifach gegliederten mystischen Seelenweg zur Seitenwunde des sponsus Christus, dem sichtbaren Zeichen seiner Liebe, wo das menschliche Herz in der Nähe des Herzens Jesu eine Zuflucht zu finden hofft. Die Liebe-Leid-Thematik des Petrarkismus schließt in der >Trutznachtigall< an die mystisch geprägte compassio-Frömmigkeit an und geht in ihr auf. Die unbefangene, ja sorglos-naive Umdeutung der weltlichen erotischen Dichtung in Spees Werk setzt eine jahrhundertealte Tradition der »schöpferische[n] Begegnung mit dem Hohenlied« 1 in einer Form fort, die den Bedürfnissen des zeitgenössischen Publikums und der religiös-didaktischen Zielset1
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Ohly, Hohelied-Studien (1958), S. 306.
zung des Verfassers und seines Ordens entspricht. Spees Allegorisierung der schäferlichen und nichtschäferlichen Liebeslyrik in seinen geistlichen Liebesliedern ist Ausdruck einer christlich-spirituellen Weltauffassung, wie sie sich besonders in den Laudes und Gleichnisgedichten, aber auch in der allgemeinen Konzeption des >Tugendbuchs< und der >Trutznachtigall< ausspricht. In Spees Werk vermag diese Weltsicht noch einmal alle schöpferischen Kräfte zu binden, wie es in der Zukunft, in der der dichtende wie der lesende Mensch die Gewißheit seines transzendenten Bezugs in zunehmendem Maß verliert, nicht mehr möglich ist.
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Literaturverzeichnis
a) Abkürzungen ADB
AP CC
DS
DTC
DVjS Dz.
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b) Quellen Aus technischen Gründen sind in vorliegender Arbeit beim Zitieren lateinischer Quellentexte die Ligaturen as und oe in der Form >ae< bzw. >oe< wiedergegeben; die Kürzungen für >perpro< und für >-que< wurden aufgelöst, offensichtliche Versehen des Setzers stillschweigend berichtigt. Zu den im Quellenverzeichnis aufgeführten Drucken des 16. und 17. Jahrhunderts werden im folgenden jeweils Herkunftsbibliothek und Signatur der eingesehenen Ausgaben in eckigen Klammern am Ende der einzelnen Eintragungen angegeben. Angelus Silesius [d.i. Johann Scheffler]: Sämtliche poetische Werke. In drei Bänden. Hg. und eingeleitet von Hans Ludwig Held. Bd. 2: Jugend- und Gelegenheitsgedichte, Heilige Seelenlust oder geistliche Hirten-Lieder. München 1949. Anthologia Graeca. Griech.-dt. hg. v. Hermann Beckby. 4 Bde., München 1957f. R.P. CLAVDII AQVAVIVAE SOCIETATIS IESV PRAEPOSITI GENERALIS INDVSTRIAE Pro Superioribus ejusdem Societatis ad curandos animae morbos. [Hg. v. Bernardus de Angelis] ANTVERPIAE [ . . . ] 1635. [UB Heidelberg: Q 71038, 1. Ex.], Vergiß Gott nicht / Das ist: Kurtzer bericht wie ein fromer Christ / Gott allzeit mSg
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gegenwertig anschawen Durch Den Ehrw. P. Franciscum Arias, der Societet IESV Priestern Neben Heilsamer Lehr vnd Betrachtung der geistlichen Haußmagt / Sampt einer vnderweisung / wie man sich taglich verhalten soll. Gedruckt zu Cällen [...] 1619. [UB Münster i.W.: 1 Ε 7718], Aristoteles: Die Lehrschriften. Hg., übertragen und in ihrer Entstehung erläutert von Paul Gohlke. Bd. 9(,1): Über die Seele. 3. Aufl., Paderborn 1961. Bd. 9(,2): Kleine Schriften zur Seelenkunde. 2. Aufl., Paderborn 1953. D E ASCENSIONE MENTIS IN DEVM PER SCALAS RERVM CREATARVM. OPVSCVLVM ROBERTI CARDINALIS BELLARMINI, e Societate IESV. Editio ab ipso Autore recognita. COLONIAE. Sumptibus Bernardi Gualtheri. [...] 1618. Cum priuil. Caesar. Maiest. speciali. [UB Tübingen: Gg 470]. ROBERTI BELLARMINI S.R.E. Cardinalis, e Societ. Jesu, Lesens-wurdiger TRACTAT Von dem Auffsteigen der Seele zu GOTT / Durch die Leitern derer GeschSpffe. In welchem gar schon gezeiget wird / Die Natur und Eigenschafft derer Geschopffen GOttes / und wie durch derselben geistliche Betrachtung / die Seele deß Menschen zu der Vereinigung mit GOtt gelangen kan. Wegen seiner Vortrefflichund Nutz- barkeit auß dem Lateinischen in das Teutsche ubersetzet. Cum Approbatione. Costanz [...] 1730.1 [UB Heidelberg: Waldberg 2589], Die Schriften des Honigfließenden Lehrers Bernhard von Clairvaux. Nach der Übertragung von Agnes Wolters hg. v. der Abtei Mehrerau von Eberhard Friedrich. Bd. 5 u. 6, Wittlich 1937 f. Die Bibel oder die ganze Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments nach der Ubersetzung Martin Luthers. Hg. von der Württembergischen Bibelanstalt Stuttgart. Stuttgart 1968. Biblia Sacra. Juxta Vulgatam Clementinam. Hg. von Mitgliedern der theologischen Fakultät und des Seminars St. Sulpitius Rom, Turin, Paris 1956. Birken, Sigmund von: Teutsche Rede-bind- und Dicht-Kunst / oder Kurze Anweisung zur Teutschen Poesy / mit Geistlichen Exempeln: [...] Hildesheim und New York 1973 (Nachdruck der Ausgabe Nürnberg 1679). Blois, Ludwig von: CONSOLATIO PVSILLANIMIVM EX SCRIPTIS SANCTORVM E X PARACLESII DIVINA E X SACRIS LITTERIS DE PROMPTA. S. 369-418 in: VENERABILIS PATRIS D. LVDOVICI BLOSII MONASTERII LAETIENSIS ORDINIS S. BENEDICTI IN HANNONIA ABBATIS OPERA CVRA ET STVDIO R.D. ANTONII DE WINGHE ABBATIS ET MONACHORVM EIVSDEM MONASTERII AVCTA ORNATA ILLVSTRATA. ANTVERPIAE [ . . . ] 1632. CVM PRIVILEGIIS CAESAREO ET DVORVM REGVM. [UB Heidelberg: Q 9212 ML]. S. Petri Cantsii doctoris ecclesiae Catechismi latini et germanici. Hg. von Friedrich Streicher (Societatis Iesu selecti scriptores a patribus societatis eiusdem editi, II). Pars prima: Catechismi latini. München und Rom 1933. Pars secunda: Catechismi germanici. München und Rom 1936. Gebetbuch des sei. Petrus Canisius S. J. Theol. nebst dessen kurzer Erklärung der Hauptwahrheiten des katholischen Glaubens. (Originaltext in neuerer Orthographie) Hg. für Geistliche und Laien von Joh. Bapt. Reiser. Regensburg und New York 1867. Cysarz, Herbert (Hg.): Barocklyrik. Bd. 1 und 2 (Deutsche Literatur. Sammlung Uterarischer Kunst-und Kulturdenkmäler in Entwicklungsreihen). Leipzig 1937. Denzinger, Heinrich und Adolf Schönmetzer (Hg.): Enchiridion Symbolorum, defiIm Original rot gedruckte Textteile werden im folgenden mit Unterstreichung gekennzeichnet. 350
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