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German Pages 320 Year 1998
M A R K U S GRUBER
Freiheitsschutz als ein Zweck des Deliktsrechts
Schriften zur Rechtstheorie Heft 182
Freiheitsschutz als ein Zweck des Deliktsrechts Versuch einer methodengerechten Begründung
Von Markus Gruber
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Gruber, Markus: Freiheitsschutz als ein Zweck des Deliktsrechts : Versuch einer methodengerechten Begründung / von Markus Gruber. - Berlin : Duncker und Humblot, 1998 (Schriften zur Rechtstheorie ; H. 182) Zugl.: München, Univ., Diss., 1996 ISBN 3-428-09005-5
Alle Rechte vorbehalten © 1998 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 3-428-09005-5
Vorwort
Die vorliegende Arbeit versucht einen Spagat. Weder ist sie rein oder zumindest von ihrem Schwerpunkt her methodisch-theoretisch, noch läßt sie sich als ausschließlich oder überwiegend dogmatische bezeichnen. Es geht in ihr nicht nur um die Argumente für einen Zweck Freiheitsschutz, sondern gleichgewichtig auch um das „Wie" der Begründung eines derartigen Zwecks. Wichtig war mir gerade die Verbindung beider Bereiche. Allerdings brachte diese Zielsetzung Schwierigkeiten mit sich. Bei beiden Teilen mußte ich, was die Ausführlichkeit der Darstellung anlangt, Kompromisse eingehen, um den Umfang der Arbeit insgesamt in vorgegebenen Grenzen halten zu können. Manches mag deshalb nicht ausführlich genug dargestellt worden sein. Um beide Anliegen in einer Arbeit verbinden zu können, habe ich als „Demonstrationsobjekt" einen Zweck gewählt, dessen Begründung einen vergleichsweise geringen Aufwand erfordert. Entsprechend geringer sind auch die dogmatischen Auswirkungen. Man darf sich also von einem Zweck Freiheitsschutz, wie er hier untersucht wurde, nicht zu viel erwarten. Zu Einzelheiten der Zielsetzung verweise ich auf die Einleitung. Das Manuskript wurde im Oktober 1995 fertiggestellt. Im Sommersemester 1996 hat die Untersuchung der Juristischen Fakultät der Ludwig-MaximiliansUniversität München als Dissertation vorgelegen. Für die Veröffentlichung wurde bis Mai 1997 erschienene Literatur berücksichtigt. Die neunte, von Würtenberger und Otto bearbeitete und 1997 erschienene Auflage der „Einführung in das juristische Denken" von Engisch fand nicht mehr Verwendung. Herr Professor Dr. Dr. h.c. Wolfgang Fikentscher hat die Arbeit nicht nur betreut; bereits während des Studiums hat er bei mir das Interesse an rechtsmethodischen Fragestellungen geweckt, aus dem die Beschäftigung mit der vorliegenden Problematik erwuchs. Zudem konnte ich von den Anfangen meines Studiums an über lange Zeit an seinem Lehrstuhl arbeiten. Obwohl es ihm immer ein Anliegen war, daß „seine" Doktoranden zügig promovierten, gewährte er während dieser ganzen Zeit großzügig den Freiraum, verschiedenen Interessen nachzugehen und „das" Thema zu finden. Für all seine Hilfestellung und seine Geduld gilt ihm mein besonderer Dank.
Vorwort
6
Mein herzlicher Dank gilt auch Herrn Professor Dr. Lothar Phillips für die Erstattung des Zweitberichts, Frau Karin Mella und Herrn Gregor Hoppe für vielfaltige Unterstützung in den zurückliegenden Jahren. Ich danke auch dem Cusanuswerk, ohne dessen materielle und ideelle Förderung ich diese Arbeit nicht hätte fertigstellen können.
Die Arbeit widme ich Gertrud, Sebastian, Maika und Jakob Gruber.
München, im September 1997
Markus Gruber
Inhaltsverzeichnis
1. Abschnitt Einleitung A. Kurzüberblick über die Themenkomplexe der Arbeit
17
B. Notwendigkeit methodisch-theoretischer Stellungnahme
18
C. Zweckbegründung als Umsetzung methodisch-theoretischer Ergebnisse
24
D. Dogmatisches Anliegen: Zweck Freiheitsschutz
25
E. Ausblick
27 2. Abschnitt Methodischer Teil - Zweck: Begriff und Begründung
A. Kurzüberblick über die Vorgehensweise
28
B. Bestimmung des methodischen Ausgangspunktes
29
I.
Einordnung der Theorieproblematik 29 1. Vergleichbarkeit methodischer Konzeptionen: Begriffe und „Grundbegriffe" 29 2. Anforderungen für die Arbeit hier
Π. Hier zugrundegelegte methodische Konzeptionen
36 37
1. Vorbemerkung - Überblick
37
2. Auswahlkriterien
38
a) herrschend", herkömmlich"
38
aa) Bedeutung von herrschend"
38
bb) Gründe fur die Wahl des Kriteriums herrschend"
40
cc) Gründe für die Wahl des Kriteriums „herkömmlich"
42
dd) herrschende" oder herkömmliche" Methodik
43
b) Ergänzende Auffassungen 3. Hier zugrundegelegte methodische Konzeptionen a) herrschende" oder herkömmliche" Konzeptionen
45 46 46
Inhaltsverzeichnis
g
b) heuere" Ansätze
48
ΠΙ. „Vergleichbarkeit" der zugrundegelegten methodischen Ansätze
48
1. Erfordernis der Vergleichbarkeit oder Kombinierbarkeit
48
2. Nachweis einer Vergleichbarkeit oder Kombinierbarkeit
48
3. Hindernis für Vergleichbarkeit oder Kombinierbarkeit?
51
a) Vorbemerkung
51
b) Entscheidungsfindungs- oder Begründungszusammenhang?
51
c) Konsequenzen einer solchen Unterscheidung
52
d) Terminologische Konsequenzen?
54
IV. Kennzeichnung des hier zugrundegelegten methodischen Konzepts C. Vorbereitung einer Analyse von Zweckargumentation I.
55 56
Versuch einer Klärung des Begriffs Zweck
56
1. Vorbemerkung - Abgrenzung
56
2. Ermittlung eines allgemeinen Sprachgebrauchs
61
Π. Beispiele für die Argumentation mit Zwecken von Normengruppen 1. Vorbemerkung a) Begründung der Auswahl
63 63 64
aa) Auswertung dogmatischer Arbeiten
64
bb) Erörterung von Zwecken des Schadens- und Deliktsrechts
65
cc) Keine Auswertung von Rechtsprechungsbeispielen
66
dd) Keine Beschränkung auf Erörterungen von „Zwecken"
67
b) Sinn einer vorgezogenen Wiedergabe von Beispielen
68
c) Vorgehensweise bei der Darstellung
68
2. Zwecke des Deliktsrechts
70
a) Kötz
70
b) Mertens
77
c) Deutsch
81
d) Lehre vom Normzweck
86
e) Andere
90
3. Zwecke des Schadensrechts a) Vorbemerkung
96 96
Inhaltsverzeichnis b) Schiemann c) Andere ΠΙ. Methodisch-theoretische Ausführungen zu Zwecken: Beispiele
98 101 105
1. Vorbemerkung
105
2. Beispiele
106
a) Fikentscher
106
b) Larenz
108
c) Mittenzwei
112
d) Andere
114
IV. Zusammenfassung D. Analyse von Zweckargumentation I.
9
Darstellung des Argumentationsganges
Π. Analyse der Begriffe des Zwecks und des Mittels
115 117 117 117
1. Vorbemerkung
117
2. Grundstruktur teleologischer Argumentation
120
a) Teleologische Begründung der Interpretation einer Einzelnorm
120
b) Zweckbegründung
123
3. Zweckargumentation als Folgenargumentation
125
a) Vorbemerkung
125
b) Folgenberücksichtigung
126
c) Teleologische Argumentation als Folgenberücksichtigung
129
d) Konsequenzen einer solchen Sichtweise
131
4. Begriffsklärung: „Zwecke", „Zustände", „Ereignisse", „Prinzipien".... 133 5. Konkurrierende Auffassungen von teleologischer Argumentation?
135
6. Zusammenfassung und Ausblick
138
ΠΙ. Objektiv-teleologische Argumentation
140
1. Objektiv-teleologische Argumentation
140
2. Zulässigkeit obj ekti v-teleologischer Argumentation
141
IV. Abgrenzung: Zweck - Auslegungsziel - Auslegungsmethode
143
1. Notwendigkeit einer Abgrenzung
143
2. Trennung von Auslegungszielen und -methoden
144
Inhaltsverzeichnis 3. Rangfolge- statt Auslegungszieldiskussion
148
4. Ergebnis
150
V. Objektive Zwecke und die „Rangfolgediskussion"
151
1. Darstellung der Problematik
151
2. „Rangfolgediskussion" und objektiv-teleologische Argumentation
152
VI. Mögliche und zulässige Inhalte von Zwecken
154
VE. Zwecke von Normengruppen
155
1. Problematik
155
2. Bestimmung von Normengruppen
156
3. ,»Anwendung" von Normengruppen
157
VÜLMöglichkeit und Zulässigkeit mehrerer Zwecke?
158
1. Problematik
158
2. Möglichkeit und Zulässigkeit einer Mehrheit von Zwecken
159
3. Gewichtung von Zwecken im Vorfeld einer Einzelfallentscheidung
161
IX. Orte der Argumentation mit Zwecken
162
1. Argumentationspraxis
162
2. Besonderheiten des hier zugrundegelegten Zweckverständnisses?
165
3. „Verwendungsmöglichkeiten" konkreter Zwecke
166
4. Objektiv-teleologische Argumentation im Schadens- und Deliktsrecht. 166 X. Zusammenfassung von D
168
Begründung von Zweckbehauptungen
168
I.
168
Ziel - Rahmenbedingungen einer Begründung
Π. „de lege lata" als Zulässigkeitsvoraussetzung für Argumente?
172
1. Fragestellung
172
2. Argumentation „de lege ferenda"
173
3. Gesetzesbindung und teleologische Argumentation
175
DI. Rückgriff auf andere canones als Argumente?
176
1. Problematik
176
2. Zweckbegründung und Wortsinngrenze
176
3. Verbundenheit der canones
178
4. „Systematische" Argumente
179
Inhaltsverzeichnis IV. Verfassungsrechtliche ,,Argumente"?
11 181
1. Beispiele verfassungsrechtlicher Zweckbegründung
181
2. Problemstellung
183
3. Grundrechte im Zivilrecht
184
a) Privatrechtswirkung von Grundrechten
184
b) Umfang der Einwirkung von Grundrechten auf das Privatrecht
185
c) Grenzen verfassungskonformer Auslegung
187
4. Doppelte Berücksichtigung verfassungsrechtlicher Anforderungen
191
5. Ergebnis
191
V. „Überpositive" Argumente
192
VI. Regeln und formale Anforderungen einer Begründung
194
F. Zusammenfassung und Ausblick
196
3. Abschnitt Präzisierung der Fragestellung A. Deliktsrecht I.
Vorbemerkung
Π. Tatsächlich vertretene Auffassungen von Deliktsrecht
198 198 199
1. Notwendigkeit von Kriterien zur Inhalts- und Umfangsbestimmung
199
2. Rechtswidrigkeit
200
3. Verschulden
203
4. „Wandlungen des Deliktsrechts" - Bedürfnis nach neuen Kriterien?.... 204 ΠΙ. Hier zugrundegelegte Auffassung von Deliktsrecht 1. Allgemeine Anforderungen an Normengruppen
206
2. Begriffsmerkmale des Deliktsrechts
206
IV. Deliktsrecht als „sinnvoller" Gegenstand einer Untersuchung? Β. Handlungsfreiheit des Einzelnen I.
206
Beispiele von Freiheitsumschreibungen
208 210 210
Π. Hier zugrundegelegtes Verständnis individueller Handlungsfreiheit
212
1. Notwendigkeit und Problematik einer Begriffsbestimmung
212
2. Hier zugrundegelegter Freiheitsbegriff
213
ΙΠ. Allgemeine Handlungsfreiheit iSv Art. 2 IGG - Abgrenzung
216
12
Inhaltsverzeichnis IV. Besondere Freiheiten
218
V. „Freiheitsschutz" zulässiger Inhalt eines gesetzlichen Zwecks?
219
4. Abschnitt Begründung des Zwecks Freiheitsschutz A. Empirischer Teil der Zweckbegründung I.
Vorbemerkung
220 220
Π. Freiheitsschutz und Anwendung des Deliktsrechts
220
ΙΠ. Deliktsrecht und Freiheit als rechtliche Freiheit
221
IV. Deliktsrecht und Freiheit als faktische Freiheit
223
1. Mögliche tatsächliche Beschränkungen von Freiheit
223
2. Deliktsrecht und Freiheitsbeeinträchtigung
225
3. Modifikationen eines faktischen Freiheitsbegriffs erforderlich?
228
4. Einzelne Probleme einer Präventionsargumentation
229
5. Versicherungsschutz als Einwand gegen Präventionswirkungen?
233
a) Einordnung des Einwands
233
b) Argumente gegen diesen Einwand
234
V. Freiheitsbeeinträchtigung durch negatorische Ansprüche
238
VI. Ergebnis
239
B. Normativer Teil der Zweckbegründung I.
Vorbemerkung
Π. Argumente fur einen „Zweck" Freiheitsschutz 1. Tatsächliche Freiheitsbeeinträchtigungen als „Argument"?
239 239 243 243
a) Fragestellung
243
b) Verweis auf allgemeine Folgenargumentation
244
c) Bloße Beeinträchtigung als „Argument"?
245
2. Verfassungsrechtliche Argumente
246
a) Inhaltliche Eingrenzung auf Art. 2 IGG
246
b) Schutz der allgemeinen Handlungsfreiheit durch Art. 2 I GG
249
aa) Allgemeines Freiheitsrecht als Auffangtatbestand
250
bb) Vorbehalt der „verfassungsmäßigen Ordnung"
250
cc) Besondere Beeinträchtigung der Handlungsfreiheit
252
Inhaltsverzeichnis c) Ergebnis 3. Systematische Argumente
13 255 256
a) Vergleich Deliktsrecht mit Vertragsrecht
256
b) Deliktsrecht und Freiheitsschutz
259
aa) Einordnung
259
bb) Absage an die „große Generalklausel"
260
cc) Verschuldensprinzip als deliktsrechtliches Strukturelement.... 263 dd) Weitere Strukturelemente des Deliktsrechts
265
4. „Wandlungen" des Deliktsrechts und Freiheitsschutz
266
5. Allgemein „vernünftige" Argumente
273
a) Vorbemerkung
273
b) Erhaltung von Freiräumen als Mittel zu bestimmten Zwecken
274
c) „EfFizienzkriterium" und Freiheitsschutz
275
ΠΙ. Zusammenfassung von Β
280
5. Abschnitt Anwendungsbeispiele und Abgrenzungen A. Der Zweck Freiheitsschutz in der konkreten Rechtsanwendung I.
Orte der Anwendung
282 282
Π. Zweck Freiheitsschutz im Verhältnis zu anderen Zwecken
283
ΠΙ. Beispiele der Argumentation mit einem Zweck Freiheitsschutz
287
1. Internationales Deliktsrecht
287
2. Freiheitsschutz im Bereich Fahrlässigkeitsprüfung
287
3. Freiheitsschutz und Beweislastumkehr
288
4. Zweck Freiheitsschutz im Rahmen von § 847 BGB
289
5. ,Appellcharakter"
290
B. Abgrenzungen I.
291
Vorbemerkung
291
Π. Abgrenzungen
291
1. Zweck Freiheitsschutz als Möglichkeit der Haftungsbegrenzung
291
2. ,Zweck" Freiheitsschutz und Freiheitsschutz als „Interesse"
292
Inhaltsverzeichnis
14
6. Abschnitt Zusammenfassung und Schlußbemerkung A. Ziele dieser Arbeit und Vorgehensweise I.
Teleologische Argumentation
297 297
Π. Freiheitsschutz als Zweck des Deliktsrechts
298
DI. Einordnung und Abgrenzung dieses Zwecks
300
B. Zusammenfassung der Ergebnisse im einzelnen
300
C. Argumente gegen Kritik an objektiv-teleologischer Argumentation
302
D. Schlußbemerkung
304 Rechtsprechung
305
Literaturverzeichnis
306
Sachregister
313
Abkürzungsverzeichnis
a.
auch
a Α.
anderer Ansicht
aaO.
an anderem Ort
a.E.
am Ende
ARSP
Archiv für Rechts- und Sozialphilosphie
Art.
Artikel
Aufl.
Auflage
Bd.
Band
BGB
Bürgerliches Gesetzbuch
BGH
Bundesgerichtshof
BGHZ
Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Zivilsachen
BReg
Bundesregierung
BVerfG
Bundesverfassungsgericht
BVerfGE
Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts
bzw.
beziehungsweise
d.h.
das heißt
EGBGB
Einfuhrungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch
Einf.
Einführung
etc.
et cetera
f.
folgende Seite
ff.
folgende Seiten
Fn.
Fußnote
Frankfurt a. M.
Frankfurt am Main
FS
Festschrift
GG
Grundgesetz
16
Abküizungsverzeichnis
h.M.
herrschende Meinung
i.V.m.
in Verbindung mit
JZ
Juristenzeitung
Kfz
Kraftfahrzeug
mN.
mit Nachweisen
mwN.
mit weiteren Nachweisen
NJW
Neue Juristische Wochenschi
0.
oben
o.a.
oder ähnlichem
PflVG
Pflichtversicherungsgesetz
ProdHaftG
Produkthaftungsgesetz
Rdn.
Randnummer
Rn.
Randnummer
RVO
Reichsversicherungsordnung
Rz.
Randzeichen
s.
siehe
S.
Seite
s.a.
siehe auch
s.o.
siehe oben
s.u.
siehe unten
u.
unten
u.a.
und andere
UmweltHG
Umwelthaftungsgesetz
U.Ö.
und öfter
usw.
und so weiter
v.H.
vom Hundert
Vorb.
Vorbemerkung
Vorbem.
Vorbemerkung
VVG
Versicherungsvertragsgesetz
z.B.
zum Beispiel
zit.
zitiert
1. Abschnitt
Einleitung Α. Kurzüberblick über die Themenkomplexe der Arbeit Ein Schwerpunkt dieser Arbeit ist die Begründung der Behauptung, Deliktsrecht würde auch den Zweck des Freiheitsschutzes verfolgen. Mit Freiheit ist die allgemeine Handlungsfreiheit gemeint, die durch deliktische Ansprüche eingeschränkt werden kann.1 Dieser Zweck soll nun nicht im Sinne einer Zwecksetzung durch den Gesetzgeber, als „subjektiver", sondern als „objektiver" Zweck begründet werden. Wie dem Titel der Arbeit weiter entnommen werden kann, geht es nicht nur darum, zum Ergebnis zu kommen, daß sich ein solcher Zweck begründen läßt. Es soll der Versuch einer „methodengerechten" Begründung unternommen werden. Dies hat zur Voraussetzung, daß die entsprechenden Anforderungen herausgearbeitet werden. Den dogmatischen"2 1
Es ist an dieser Stelle nur möglich, die Thematik kurz zu skizzieren und die Anliegen der Arbeit deutlich zu machen. Begriffe können also noch nicht näher erklärt werden. Deshalb wird erst einmal ein ungefähres Verständnis beispielsweise davon vorausgesetzt, was unter Deliktsrecht verstanden werden soll. Zu einem solchen vorläufigen „Arbeitsbegriff' s. z.B. Mennicken, Das Ziel der Gesetzesauslegung, Bad Homburg u.a., 1970 (zit.: Mennicken, Ziel), S. 10. Eine ausführlichere Darstellung erfolgt im Fortgang der Arbeit an den geeigneten Stellen. Folglich kann auch nicht jede Behauptung sofort begründet werden. Allerdings sollen, solange dies noch nicht geschehen ist, an den jeweiligen Stellen zum besseren Verständnis zumindest Klarstellungen vorgenommen werden: Die Aussage, eine Norm oder Normengruppe diene einem bestimmten Zweck, wird hier als Behauptung verstanden, die einer Begründung bedarf. Die Begründung kann darin bestehen, daß auf eine Zwecksetzung durch den Gesetzgeber verwiesen wird. Dann handelt es sich um „subjektive Zwecke". Argumentiert man mit solchen Zwecken, dann geschieht dies „subjektiv-teleologisch". Eine solche Begründung kann aber auch mit anderen Argumenten erfolgen. Dann wird ein „objektiver Zweck" begründet. Dementsprechend handelt es sich in diesem Fall um „objektiv-teleologische" Argumentation. Zum Begriff Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, Frankfurt, 3. Aufl. 1996 (zit.: Alexy, Argumentation), S. 296, mwN. Weiter wird hier davon ausgegangen (und später dargelegt), daß allgemeine Handlungsfreiheit im angesprochenen Sinn durch Deliktsrecht beeinträchtigt werden kann. 2 Will man ausdrücken, daß man sich nicht mit methodischen, sondern mit „inhaltlichen" Fragen beschäftigen will, so kommen, sieht man von dem nicht geeigneten Adjektiv „inhaltlich" ab, zwei Möglichkeiten in Betracht. Man kann mit Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. m, Tübingen, 1976 (zit.: Fikentscher, Methoden, Bd. ΙΠ), 2 Gruber
18
1. Abschnitt: Einleitung
Ausführungen haben demzufolge methodische vorauszugehen. Die Diskussion der Anforderungen an eine methodengerechte Zweckbegründung stellt damit einen zweiten Schwerpunkt der Arbeit dar. Hauptanliegen ist aber weder der dogmatische noch der methodische Teil für sich genommen, sondern die Verbindung beider. Es geht weder darum, nur methodisch zu arbeiten, noch ausschließlich darum, zu dem gewünschten Ergebnis zu kommen, sondern beides zu verbinden, beiden Anliegen gerecht zu werden.3 Am Ende der Arbeit wird kurz versucht, darzustellen, in welchen Fällen einem Zweck Freiheitsschutz eine besondere Bedeutung zukommt.
B. Notwendigkeit methodisch-theoretischer4 Stellungnahme Im Rahmen der traditionellen und von der Rechtsprechung praktizierten Methodik kommt der sogenannten objektiv-teleologischen Argumentation, der Argumentation mit objektiven Zwecken, eine große Bedeutung zu. 5 Diese ist
S. 5 von „materielle(m)" Recht sprechen. Allerdings stellt sich bei einem solchen Sprachgebrauch die Assoziation der Abgrenzung zum Kollisionsrecht oder zum Prozeßrecht ein. In Betracht kommt auch die Verwendung des Adjektivs „dogmatisch". Berücksichtigt man, daß die Behauptung, etwas sei Zweck einer Norm, auch damit umschrieben werden kann, daß man sagt, die Anwendung einer Norm soll zu einem bestimmten Zustand fuhren, s. S. 123 f., können die folgenden Ausführungen Alexys auch entsprechend für die Begründung von Zwecken gelten: „Eine weitere Kategorie dogmatischer Sätze bilden die Beschreibungen und Auszeichnungen von Zuständen, deren Herstellung, Beseitigung oder Aufrechterhaltung einzelne Normen oder Gruppen von Normen dienen sollen, sowie die Festlegungen von Vorzugsrelationen zwischen solchen Zuständen", Alexy, Argumentation, S. 319 (kursiv im Text). Die Begründung von Zwecken soll im folgenden als dogmatische Tätigkeit bezeichnet werden. 3 Nun versteht sich das Erfordernis methodengerechter Begründung grundsätzlich von selbst. Eine ernst zunehmende Begründung einer Behauptung liegt nur vor, wenn diese methodisch korrekt erfolgte. Gemeint ist hier, daß vor dem Hintergrund einer grundsätzlichen Kritik an objektiv-teleologischer Argumentation, s. dazu gleich S. 19, dem methodischen Aspekt ein größeres Gewicht beigemessen wird, als dies vonnöten wäre, wenn entsprechende Begründungsanforderungen allgemein anerkannt wären und praktiziert würden. 4 s. zu dieser Terminologie u. 2. Abschn. B. Fn. 5. 5 „Vielfach wird die objektiv-teleologische Methode als die Krone der Auslegungsmittel und das letztlich entscheidende Kriterium angesehen", Deckert, Folgenorientierung in der Rechtsanwendung, München, 1995, S. 45 f. Unter den einzelnen Auslegungsmitteln „gebührt letztlich stets der teleologischen Auslegung der Vorrang, und das wird im praktischen Ergebnis heute auch nahezu allgemein berücksichtigt", Canaris , Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, Berlin, 2. Aufl. 1983 (zit.: Systemdenken), S. 91 Fn. 23. Canaris gibt diesen Hinweis an einer Stelle, an der er die „ A u s l e g u n g aus dem inneren System" als „die Fortsetzung der teleologischen Aus-
Β. Notwendigkeit methodisch-theoretischer Stellungnahme
19
als objektiv-teleologische Auslegung Bestandteil der canones6 der Auslegung. Eine Argumentation mit objektiven Zwecken findet jedoch nicht nur im Rahmen der Auslegung statt.7 Trotz ihrer Bedeutung und der damit zusammenhängenden häufigen Verwendung objektiver Zwecke ist objektiv-teleologische Argumentation nicht unumstritten. Sie wird teilweise grundsätzlich abgelehnt,
legung oder besser nur eine höhere Stufe innerhalb dieser" ansieht, S. 91. Der Vorrang, der der teleologischen Auslegung zukommt, gelte auch fur die „Auslegung aus dem inneren System", S. 91. Auf die Bedeutung einer objektiv verstandenen „teleologischen Auslegungsmethode" verweisen auch Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, München, 1982 (zit.: Koch/Rüßmann, Begründungslehre), S. 169, Engisch, Einfuhrung in das juristische Denken, Stuttgart u.a., 8. Auflage 1983 (zit.: Engisch, Einfuhrung), S. 74, Heinrichs, in: Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, München, 56. Aufl. 1997 (zit.: Palandt-Bearbeiter), Rdn. 38 der Einleitung. Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. IV, Tübingen, 1977 (zit.: Fikentscher, Methoden), S. 364, betont allgemein, ohne zunächst zwischen objektiven oder subjektiven Zwecken zu differenzieren, den Rang der „Auslegung nach dem Zweck des Gesetzes": „Von allen Auslegungskriterien ist, neben der Bestimmung der Wortsinngrenze, der „Gesetzeszweck" der wichtigste". Fikentscher gibt auch eine Erklärung für die „überragende Bedeutung der Zweckauslegung", S. 364. 6 Es finden sich diesbezüglich unterschiedliche Bezeichnungen und Schreibweisen. Alexy, Argumentation, S. 301, bezeichnet die „canones" als ,Argumentformen" Kaufmann, in: Kaufmann/Hassemer, Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, Heidelberg, 6. Aufl. 1994 (zit.: Bearbeiter, in Kaufmann/Hassemer), S. 125 spricht von „ E l e m e n t e n " oder „Modi" der Argumentation, Raisch, Vom Nutzen der überkommenen Auslegungskanones für die praktische Rechtsanwendung, Heidelberg, 1988 (zit.: Raisch, Vom Nutzen), S. 26 und öfter, von „Kanones", Buchwald, Die canones der Auslegung und rationale juristische Begründung, ARSP 79 (1993) (zit.: Buchwald, ARSP 79 (1993), S. 16), S. 16 ff. (kursiv dort), von „canones". Die „ E l e m e n t e " , „Regeln" oder „Formen" der Auslegung, die den „klassischen Hauptelementen" entsprechen, bezeichnet Buchwald dabei als „