Freiheit und Wiederholung. Politisches Handeln ohne Zukunft [1. ed.] 9783770560219, 9783846760215


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German Pages VI, 236 [243] Year 2018

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Table of contents :
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Titel
Impressum
Inhalt
A. Handeln, Wiederholen, und das Problem des Neuen. Einleitung
Zukunftsoffenheit, Freiheit, Souveränität: Voraussetzungen
Wiederholen und Wiederholt werden: Ausgangspunkte und Aufbau dieser Arbeit
B. Das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce. Karl Marx
Kraft und Krisen des Kapitalismus
Kapitalbewegung als „perpetuum mobile“
Automatisches Subjekt und Ökonomische Charaktermasken
„Nach der Tragödie kommt die Farce“: Vom Kapital zum Achtzehnten Brumaire
Handlung und Geschichte
Kostümierte Wiederholung I (1789–1814): Tragödie
Kostümierte Wiederholung II (1848–51): Farce
Das Ende der kostümierten Wiederholung
Gestaltlose Wiederholung: Die Soziale Revolution des 19. Jahrhunderts
Von Marx zu Freud
C. Wiederholungszwang und die Ausweitung des Möglichkeitsbereichs. Sigmund Freud
„Repetitionszwang“ und Verdrängung: Anfänge und Grundlagen
Wiederholen und Übertragen
Modifikation durch / von Wiederholung
Wiederholung als Kontrollverlust im alltäglichen Erleben
Wiederholungszwang, Trauma, und Bemächtigung
Entstellte Geschichte: Der Mann Moses
Gesellschaftliche Transformation mit Freud 1: Quellen der Tradition
Gesellschaftliche Transformation mit Freud 2: Creatio ex nihilo oder gradueller Wandel?
Von Freud zu Nietzsche
D. Das Neue in der Ewigen Wiederkunft des Gleichen. Friedrich Nietzsche
Herkunft der Wiederkunft: Antike und Kräftelehre
Das grösste Schwergewicht
Incipit Zarathustra
Leben jenseits von Kirche und Staat
Ewige Wiederkunft und die Auseinandersetzung mit Moral und Nihilismus
Ewige Wiederkunft in Liedern
„Der Gedanke einer Möglichkeit“ – zur Geltung der ewigen Wiederkunft
Freiheit schaffen: Spiel und Zufall
Wege und Umwege des Schaffens
Von Nietzsche zu Kierkegaard
E. Freiheit Wiederholen. Sören Kierkegaard
Wiederholung und die philosophische Tradition
Die Wiederholung als Problem der Freiheit
„Teleologische Suspension des Ethischen“ durch den Ritter des Glaubens
Gewissheit der Unmöglichkeit: Hiobs Wiederholung
Geschwätziges Schweigen
Klagen, Zaudern, Tun, Widerrufen
Wiederholen Ohne Gott
Die Ausnahme im Widerstreit mit dem Allgemeinen
Von Kierkegaard zum Schluss
F. Das Tun der Wiederholung. Schluss
Wiederholung/en: Eine Typologie
Gehinkt wie gesprungen: Handlungsweisen
Danksagung
Literaturverzeichnis
Register
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Freiheit und Wiederholung. Politisches Handeln ohne Zukunft [1. ed.]
 9783770560219, 9783846760215

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Freiheit und Wiederholung

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Birte Löschenkohl

Freiheit und Wiederholung Politisches Handeln ohne Zukunft

Wilhelm Fink

Umschlagabbildung: Eugène Delacroix, La Liberté guidant le peuple (1830) Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

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Diese Publikation geht hervor aus dem DFG-geförderten Exzellenzcluster „Die Herausbildung normativer Ordnungen“ an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig. © 2018 Wilhelm Fink Verlag, ein Imprint der Brill Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland) Internet: www.fink.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Herstellung: Brill Deutschland GmbH, Paderborn ISBN 978-3-7705-6021-9 (paperback) ISBN 978-3-8467-6021-5 (e-book)

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Inhalt A

Handeln, Wiederholen, und das Problem des Neuen  1 Einleitung Zukunftsoffenheit, Freiheit, Souveränität: Voraussetzungen  4 Wiederholen und Wiederholt werden: Ausgangspunkte und Aufbau dieser Arbeit  11

B

Das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce  19 Karl Marx Kraft und Krisen des Kapitalismus  22 Kapitalbewegung als „perpetuum mobile“  28 Automatisches Subjekt und Ökonomische Charaktermasken  34 „Nach der Tragödie kommt die Farce“: Vom Kapital zum Achtzehnten Brumaire  39 Handlung und Geschichte  42 Kostümierte Wiederholung I (1789–1814): Tragödie  45 Kostümierte Wiederholung II (1848–51): Farce  49 Das Ende der kostümierten Wiederholung  53 Gestaltlose Wiederholung: Die Soziale Revolution des 19. Jahrhunderts  56 Von Marx zu Freud  62

C

Wiederholungszwang und die Ausweitung des Möglichkeitsbereichs  65 Sigmund Freud „Repetitionszwang“ und Verdrängung: Anfänge und Grundlagen  69 Wiederholen und Übertragen  72 Modifikation durch / von Wiederholung  75 Wiederholung als Kontrollverlust im alltäglichen Erleben  79 Wiederholungszwang, Trauma, und Bemächtigung  84 Entstellte Geschichte: Der Mann Moses  88 Gesellschaftliche Transformation mit Freud 1: Quellen der Tradition  95 Gesellschaftliche Transformation mit Freud 2: Creatio ex nihilo oder gradueller Wandel?  99 Von Freud zu Nietzsche  105

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vi

Inhalt

D

Das Neue in der Ewigen Wiederkunft des Gleichen  109 Friedrich Nietzsche Herkunft der Wiederkunft: Antike und Kräftelehre  111 Das grösste Schwergewicht  115 Incipit Zarathustra  119 Leben jenseits von Kirche und Staat  125 Ewige Wiederkunft und die Auseinandersetzung mit Moral und Nihilismus 132 Ewige Wiederkunft in Liedern  137 „Der Gedanke einer Möglichkeit“ – zur Geltung der ewigen Wiederkunft  142 Freiheit schaffen: Spiel und Zufall  146 Wege und Umwege des Schaffens  151 Von Nietzsche zu Kierkegaard  155

E

Freiheit Wiederholen  159 Sören Kierkegaard Wiederholung und die philosophische Tradition  163 Die Wiederholung als Problem der Freiheit  168 „Teleologische Suspension des Ethischen“ durch den Ritter des Glaubens  173 Gewissheit der Unmöglichkeit: Hiobs Wiederholung  177 Geschwätziges Schweigen  181 Klagen, Zaudern, Tun, Widerrufen  186 Wiederholen Ohne Gott  190 Die Ausnahme im Widerstreit mit dem Allgemeinen  194 Von Kierkegaard zum Schluss  199

F

Das Tun der Wiederholung  205 Schluss Wiederholung/en: Eine Typologie  206 Gehinkt wie gesprungen: Handlungsweisen  215 Danksagung  221 Literaturverzeichnis  223 Register  233

A.

Handeln, Wiederholen, und das Problem des Neuen

All of old. Nothing else ever. Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better.1

Samuel Beckett, Worstward Ho

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Freiheit und Wiederholung, 9783770560219, 2018

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Einleitung

Was tun, wenn man nicht handeln kann? – So ließe sich das grundlegende Problem formulieren, vor dessen Hintergrund sich die vorliegende Arbeit mit dem Begriff der Wiederholung beschäftigt. „Nicht handeln können“ meint hier zweierlei: Zum einen, als Handelnde vor ein praktisches Problem gestellt zu sein, das nicht (ohne weiteres) lösbar ist. Zum anderen meint es, etwas auf eine Weise tun zu müssen, die sich nicht mit unseren gängigen Vorstellungen davon deckt, was es bedeutet, zu handeln. Es geht also um die Verbindung eines praktischen und eines begrifflichen Problems. Wenn wir handeln, setzen wir dazu an, ein bestimmtes Vorhaben zu verwirklichen – zumeist, indem wir durch praktische Tätigkeit etwas an unserer Umwelt und/oder uns selbst verändern. Oft sind die Vorhaben, die Handelnde zu realisieren versuchen, ganz problemlos erreichbar, zumal wenn es sich dabei um alltägliches handelt  – z.B. das Streichen einer Wand. Wir wissen bei solchen Vorhaben, was wir tun müssen und wie wir es tun können. Und selbst wenn dabei Komplikationen auftreten, führen diese normalerweise nicht zu dem Eindruck, nicht handeln zu können. Es gibt aber auch Situationen, in denen Handeln nicht ohne weiteres möglich ist, oder sogar ganz unmöglich wird. Ein Bereich, in dem dies regelmäßig der Fall ist, ist derjenige der Politik. Hier kann selbst ein konkretes Vorhaben in relativ überschaubarem Rahmen, wie z.B. ein Ausbau von Kita-Plätzen, unmöglich werden, denn politisches Handeln ist zum Erreichen eines bestimmten Ziels immer auf andere angewiesen, die wiederum ihre Unterstützung versagen oder ein Vorhaben aktiv blockieren können. Besonders aber, wenn Handelnde dazu ansetzen, grundlegende Veränderungen zu erwirken – wenn die angestrebten Veränderungen also nicht innerhalb einer bestehenden politischen Ordnung verbleiben, sondern diese Ordnung selbst 1 Samuel Beckett, Worstward Ho, S. 89. © Wilhelm Fink Verlag, 2018 | doi:10.30965/9783770560219_002

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Freiheit und Wiederholung, 9783770560219, 2018

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Handeln, Wiederholen, und das Problem des Neuen

betreffen – wird Handeln zum Problem. Wie wäre zum Beispiel ein Handeln zu konzipieren, das binäre Geschlechternormen oder kapitalistische Wirtschaftsformen zu überwinden oder politische Entscheidungsprozesse radikal zu demokratisieren ansetzt? In solchen und anderen Vorhaben, die jeweils radikale Änderungen und Neuanfänge darstellen, sind Handelnde nicht nur auf andere angewiesen, sie handeln zudem auf ein mehr oder weniger unbestimmtes Ziel hin – d.h. sie wissen in gewisser Hinsicht nicht, was sie tun, da sie auf grundlegend Neues und damit notwendig Unbekanntes hinwirken. Mit dem Ausmaß von solchen Vorhaben, die auf tiefgreifenden Veränderungen im Gefüge der Politik beruhen, wird die Aussicht auf erfolgreiches Handeln zunehmend unwahrscheinlicher. Zugleich ist allerdings die Möglichkeit, nicht nur innerhalb von bestehenden Ordnungen und Normen zu handeln, sondern diese auch verändern zu können, ein konstitutives Element von Politik. Wenn wir als Menschen unser Gemeinwesen tatsächlich kollektiv gestalten – und auf dieser Annahme beruhen ja die meisten Konzeptionen von Politik – dann sollten wir auch dazu in der Lage sein, es umgestalten und verändern zu können. Wenn alle grundlegenden Änderungsversuche aussichtslos scheinen, wie kann dann noch an der Vorstellung von Gesellschaft als einem „politisch zu gestaltenden Projekt“ festgehalten werden?2 Dem so skizzierten Problem, was tun (bzw. genauer: wie tätig sein), wenn man nicht handeln kann, widmet sich dies Buch über eine Lektüre von Karl Marx, Sigmund Freud, Friedrich Nietzsche, und Sören Kierkegaard, die dies Problem jeweils über den Begriff der Wiederholung verhandeln. Die Fragen, die sie sich dabei stellen, sind in gewisser Hinsicht völlig verschieden; gleiches gilt für die Kontexte, in denen sie diese Fragen zu beantworten versuchen. Extrem verkürzt könnte man ihre jeweiligen Projekte wie folgt zusammenfassen: Marx treibt die Frage um, wie Kommunismus werden kann, wo Kapitalismus ist; Freud will wissen, ob und wie ich über meine Handlungen verfügen kann, wenn diese von unbewussten Motiven geprägt sind; Nietzsches Frage gilt der Möglichkeit vom Schaffen neuer Werte in Anbetracht von Konformität und „ewiger Wiederkunft“; und Kierkegaard beschäftigt sich mit der Frage, wie das Unmögliche, was aus dem Rahmen des allgemein-menschlichen herausfällt, dennoch möglich werden kann. So heterogen diese Ansätze auch sind, kann in ihnen dennoch ein gemeinsames Interesse ausgemacht werden: alle vier skizzieren Überlegungen zu einem Handeln, was eine gegebene Ordnung, die sich verfestigt und gegenüber unserem Tun verselbstständigt hat, zu überschreiten, unterwandern, oder anderweitig zu verändern sucht. Die bestehenden Ordnungen, die es zu verändern gilt, werden dabei als repetitiv beschrieben; 2 Hartmut Rosa, Beschleunigung, S. 437.

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Einleitung

sie weisen eine Wiederholungsstruktur auf, durch die sie sich gegenüber unserer Einflussnahme stabilisieren. Der Herrschaft solcher Ordnungen wiederum, so die Diagnose weiter, können sich Handelnde nicht einfach ohne weiteres entziehen oder entgegenstellen. Da also kein direkter Weg aus bestehenden Ordnungen heraus zur Verfügung steht, nimmt befreiendes und schöpferisches Handeln bei den hier berücksichtigten Autoren selbst die Gestalt einer Wiederholung an – eine variierende und öffnende Wiederholung, die ihre Beschränkungen annimmt und dabei zugleich abwendet und umgestaltet. Nur einer der vier Autoren, die ich in den folgenden Kapiteln diskutiere, nämlich Karl Marx, verortet seine Überlegungen zur Wiederholung explizit im Kontext von Politik. Die spezifischen Probleme, mit denen Handelnde bzw. unser Handlungsverständnis im Bereich des Politischen konfrontiert sind, stellen so vor allem den Rahmen dar, der die hier angestellten Überlegungen zu Handeln und Wiederholung relevant werden lässt.3 Ich verstehe die folgenden Ausführungen insofern als Grundlagenarbeit, die in einem zweiten Schritt konkret mit Blick auf kollektives Handeln im Bereich des Politischen ausgebaut werden müsste. Meine Hoffnung wäre dabei, dass die Ausführungen von Marx, Freud, Nietzsche, und Kierkegaard Anregungen insbesondere dazu geben können, wie mithilfe einer Neukonzeption von Handeln einem Gefühl von Ohnmacht und Unvermögen bei Handelnden entgegengewirkt werden kann, das oft zu Politikverdrossenheit führt: Wenn wir davon ausgehen, dass die politische und soziale Ordnung unserer Welt in vieler Hinsicht dürftig ist, dass sich unsere Welt aber zugleich gegenüber allen Versuchen, sie zu einem lebenswerteren Ort für alle umzugestalten, hartnäckig verwehrt, dann stehen sich der Anspruch Handelnder, ihre Welt zu verändern und Neues zu schaffen, und die Eigenart des Gegebenen, im status quo zu verharren – frei nach Karl Marx: es kehrt stets nur „die ganze alte Scheiße“ wieder4 – zunächst unvermittelbar gegenüber. Wie eine solche potentiell lähmende Entgegensetzung von Veränderungsansprüchen gegenüber einer unveränderbaren Welt, und von ineffektivem Handeln gegenüber übermächtigen Ordnungen überwunden werden kann, dazu können Marx, Freud, Nietzsche und Kierkegaard erste Anhaltspunkte geben. In ihren Überlegungen zur Wiederholung nehmen sie jeweils Handlungsaporien in den Blick, die sich aus der Kluft zwischen einer bestehenden Ordnung, die sich hartnäckig gegen Veränderung verwehrt, und 3 Da bei Marx ein direkter Bezug zur Politik auszumachen ist, können seine Überlegungen zur Wiederholung Aufschluss dazu geben, wie sich auch die Überlegungen der anderen Autoren zu Handeln und Wiederholung in diesem Bereich verorten lassen mögen – wo also eine Weiterentwicklung dieses Zusammenhangs ansetzen könnte. 4 Karl Marx, Die deutsche Ideologie, MEW 3, S. 35.

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Handeln, Wiederholen, und das Problem des Neuen

dem Anspruch Handelnder, Neues hervorzubringen, ergibt. Obschon alle vier Autoren die Tragweite solcher Aporien nicht herunterspielen, machen sie zugleich Vorschläge dazu, wo dennoch Handlungsspielraum zu verorten ist, indem sie unser Handlungsverständnis selbst erweitern. Sie vermögen es damit, Handeln so zu denken, dass es weder realitätsfernem Optimismus anheimfällt,5 noch angesichts der Unveränderbarkeit der Welt resigniert und kapituliert. Ein entscheidender Impuls dazu ist bei allen vieren in einer Umorientierung gegenüber dem Scheitern unserer Handlungsversuche auszumachen: anstatt in Anbetracht unseres Unvermögens, unsere Pläne zu verwirklichen, zu verzweifeln, können in ihren Überlegungen jeweils Beiträge zu einer Theorie produktiven Scheiterns ausgemacht werden, in der Zufälle, Umwege, Missgriffe, Stolpern und Verfehlungen als konstitutive Elemente im Hervorbringen von Neuem anerkannt werden. Einleitend will ich auf den folgenden Seiten zunächst aus verschiedenen Richtungen umreißen, warum und inwiefern Handeln zum Problem werden kann. Daraufhin stelle ich einige Ausgangspunkte sowie den Aufbau des Buchs vor und skizziere, inwiefern die Beschäftigung mit dem Begriff der Wiederholung sowohl zum Verständnis der umrissenen Probleme, als auch zu deren Lösung durch eine Modifikation unseres Handlungsverständnisses beitragen kann. Zukunftsoffenheit, Freiheit, Souveränität: Voraussetzungen Eine Handlung wird gewöhnlich als intentionale Tätigkeit verstanden, in deren Vollzug ein (souveränes/vernünftiges) Subjekt die von ihm gesetzten Zwecke verwirklicht. Handeln will etwas, und will zumeist etwas Bestimmtes: ein Ziel erreichen, den Zustand von etwas (oder den eigenen Zustand) ändern. Wir gehen dabei grundsätzlich davon aus, dass wir zur Verwirklichung unseres Vorhabens unser Können anwenden, und unser Wissen und unsere Erfahrung in dieser Anwendung mobilisieren. Handeln ist insofern von unseren Intentionen abhängig, und von den spezifischen Fähigkeiten und Kapazitäten, die uns als Handelnden zukommen. Da Handlungen in ihrem Tun darauf abzielen, eine Veränderung von Selbst und/oder Welt herbeizuführen, kann zudem nur dann gehandelt werden, wenn ein „Anders-sein-können“ gegeben ist, wenn es

5 Ein Optimismus, der selbst wiederum geradezu prädestiniert dazu ist, in der Praxis in Resignation und Aufgabe umzuschlagen – wenn man feststellt, dass es eben doch nicht so einfach ist, wie ursprünglich angenommen.

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Einleitung

also einen bestimmten Horizont von realisierbaren Möglichkeiten gibt.6 Dass die Dinge anders sein können, ist dann eine Handlungsvoraussetzung. Es ist zum einen die Voraussetzung dafür, dass Handlungen gelingen können, zugleich aber auch dafür, sie überhaupt in Angriff zu nehmen, d.h. zum Handeln motiviert zu werden.7 Ein solches Handlungsverständnis ist absolut angemessen, um viele Handlungen des alltäglichen Lebens zu beschreiben – immer dann, wenn wir Handeln als die routinierte Anwendung eines praktischen Vermögens Handelnder im Rahmen eines gegebenen Möglichkeitsbereichs verstehen können. Wenn ich beispielsweise möchte, dass der Raum in dem ich arbeite heller ist, dann kann ich dies Vorhaben verwirklichen, indem ich die Schreibtischlampe anschalte. Das wiederum ist etwas, von dem die meisten Menschen wissen, wie es zu tun ist, und zudem über das nötige Können verfügen, um es zu tun. Die Veränderung, die ich mit dieser Handlung hervorbringe – einen Lichtschalter umlegen, um den Raum zu erleuchten – ist eine, die sich im Rahmen des Möglichen befindet.8 Indem ich handle, wiederhole ich hier existierende Praxisvollzüge – es ist dies ein Handeln, was zuvor eingeübte und bereits beherrschte Fähigkeiten anwendet. Handeln bezieht sich dann auf etwas, was wir im Rahmen dessen, wie Dinge gewöhnlich getan werden, tatsächlich problemlos tun können. Es gibt zahlreiche Gründe dafür, dass politisches Handeln grundsätzlich immer zu komplex und prekär ist, um mit einem solchen Handlungsverständnis adäquat erfasst zu werden. Wenn wir im Bereich der Politik handeln, wie eingangs bereits angedeutet, dann tun wir das immer mit und/oder gegen andere Handelnde. Hinzu kommen alle möglichen anderen Faktoren, wie etwa Gesetze, Institutionen, Moral, Tradition, Ökonomie – also die gesamte Bandbreite von Ordnungen, die sich als Resultate von bereits vergangenen Handlungen in irgendeiner Form sedimentiert und verfestigt haben und überdauern. Zufälle und unbeabsichtigte Seiteneffekte spielen im Bereich der Politik aufgrund der Komplexität von Handlungen eine ungleich größere Rolle und müssen berücksichtigt werden; ebenso die Tatsache, dass das, was politisches Handeln zu tun ansetzt, so gut wie nie in ein paar Sekunden erreichbar ist, im Gegensatz zum 6 Rüdiger Bubner, Geschichtsprozesse und Handlungsnormen, S. 39. Eine allgemeine Darstellung von Handlungen als einem ‚tätigen Vollzug, der Ziel und Akt zusammenführt‘, an der ich mich hier generell orientiert habe, findet sich dort auf S. 223ff. 7 Als reine Handlungsmotivation, d.h. ohne Rücksicht auf das tatsächliche Gelingen einer Handlung, reicht auch allein die Vorstellung hin, dass eine Offenheit für die beabsichtigten Veränderungen besteht – sie muss dann nicht in Wirklichkeit gegeben sein. 8 Es sei denn, ich bin obdachlos, konnte meine Rechnungen nicht bezahlen und mein Strom wurde abgeschaltet, oder ich lebe an einem Ort, an dem es keine Elektrizität gibt, usw.

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Handeln, Wiederholen, und das Problem des Neuen

Betätigen eines Lichtschalters, und meist auch nicht in ein paar Tagen, wie etwa beim Streichen eines Zauns. Unsere Vorhaben erstrecken sich hier über einen ungleich längeren Zeitraum: Wochen, Monate, Jahre, Jahrzehnte, oder mehr. All dies sind zugleich Gründe dafür, Handelnde im Bereich der Politik nicht als souverän zu verstehen. Dass wir überhaupt auf die Idee kommen, Handelnde als souverän zu konzipieren, hat Hannah Arendt zufolge mit einem Bedeutungswandel zu tun, den der Begriff der Freiheit von der Antike zur Gegenwart durchgemacht hat. Bei Arendt fallen Freiheit und Handeln stets zusammen.9 Freiheit wurde ursprünglich – in der griechischen Polis etwa – als etwas verstanden, was man nur im „Handeln und Verkehr mit anderen“ erfährt und verwirklicht, als Freiheit der politischen Gestaltung menschlichen Zusammenlebens; hier, im Bereich der Politik, verortet auch Arendt die eigentliche Bedeutung von Freiheit.10 Der Freiheitsbegriff wurde jedoch zunehmend aus dem Bereich des politischen Handelns ins Innere des Menschen verlegt: er wurde nun als eine „Mitgift der menschlichen Natur“, also ein Vermögen verstanden.11 Wenn aber Freiheit vor allem in einem inneren Vermögen verortet wird, dem unser „Wollen“ entspringt, dann ist entsprechend „das Ideal des Freiseins [...] nicht mehr die Virtuosität des Mit-anderen-zusammen-Handelns sein, das Ideal wurde vielmehr die Souveränität, die Unabhängigkeit von allen anderen und gegebenenfalls das Sich-Durchsetzen gegen sie.“12 In Anbetracht der Tatsache, dass politisches Handeln tatsächlich nie souverän sein kann, kann diese Auffassung wiederum dazu führen, dass Freiheit nur jenseits von Politik möglich scheint. Zudem hat Michel Foucault die Souveränität unseres Handelns nicht nur infrage gestellt, insofern wir im Bereich der Politik immer mit anderen zusammen handeln, sondern hat den Begriff menschlicher Souveränität und freier Zwecksetzung einer noch grundlegenderen Revision unterzogen:13 Wenn Subjekte erst durch bestehende Machtstrukturen überhaupt hervorgebracht werden, dann wird die Vorstellung einer souverän bestimmten politischen Veränderung gemäß rational bestimmter normativer Ziele zusätzlich verkompliziert. Während wir beim an- und ausschalten einer Lampe also durchaus von souveränen Akteuren ausgehen können, scheint es unangemessen und

9 10 11 12 13

„Solange man handelt, ist man frei, nicht vorher und nicht nachher, weil Handeln und Freiheit ein und dasselbe sind.“ Hannah Arendt, „Freiheit und Politik“, S. 454. Ibid., S. 457. Ibid., S. 449. Ibid., S. 457. Vgl. exemplarisch Michel Foucault, Sexualität und Wahrheit I-III, Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 1987ff.

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Einleitung

unverantwortlich, diese Voraussetzung für ein Verständnis politischen Handelns zugrunde zu legen. Aufgrund der nicht-Souveränität von Handelnden und der Komplexität und Langwierigkeit von Handlungsprozessen ist politisches Handeln also immer schon potentiell problematisch und anfällig fürs Scheitern. Dennoch ist beispielsweise im parteipolitischen Rahmen Handeln wenn auch schwierig, so doch innerhalb der gegebenen Grenzen möglich – in diesem Sinne lässt sich Politik dann als ‚Kunst des Möglichen‘ bezeichnen, wie es Otto von Bismarck formulierte. Ein solches Handeln bleibt allerdings, zugespitzt (oder auch böswillig) formuliert, oftmals auf Routine, Kalkül und Verwaltung des Gegebenen beschränkt. Zudem kann selbst etwas, das im Bereich des Möglichen liegt, aus unterschiedlichen Gründen unerreichbar werden. Besonders ein solches Handeln allerdings, was nicht Veränderungen innerhalb einer bestehenden Ordnung hervorbringen will, sondern diese Ordnung selbst verändern will, stellt sich als zutiefst problematisch heraus. Handeln richtet sich hier auf das Unmögliche: Etwas, das den von einer bestehenden Ordnung umgrenzten Möglichkeitsbereich und damit auch die Möglichkeit zum Handeln im geläufigen Sinne überschreitet. Entsprechend wird Politik dann zur „Kunst des Unmöglichen“, da sie die „Parameter dessen, was in der existierenden Konstellation als ‚möglich‘ betrachtet wird“, zu verändern ansetzt, so Žižek.14 Gerade auf der Möglichkeit, das Unmögliche und Undenkbare zu tun, beruht jedoch zugleich unsere Freiheit. Denn die Freiheit der Politik meint nicht die Freiheit der Wahl zwischen bereits vorgegebenen Möglichkeiten, sondern die Freiheit des Hervorbringens, „die Freiheit, etwas in die Wirklichkeit zu rufen, das es noch nicht gab, das nicht vorgegeben ist, auch nicht für die Einbildungskraft, und zwar deshalb, weil es als Gegebenes noch gar nicht bekannt ist.“15 So verstanden ist politisches Handeln, was das Gegebene überschreiten und Neues hervorbringen will, wiederum in besonderem Maße davon abhängig, dass die Welt tatsächlich veränderbar ist. Wenn ein „Anders-sein-Können“ generell eine Voraussetzung für (erfolgreiches) Handeln ist, so gilt dies insbesondere von Handlungen, die grundlegendes zu ändern ansetzen. Als Handlungen, die wesentlich geschichtlich sind, d.h. die sich über lange Zeiträume erstrecken und sich dabei mit überlieferten Ordnungen auseinandersetzen müssen, die sich aus früheren Handlungszusammenhängen ergeben haben, muss auch das Anders-sein-Können politischen Handelns geschichtlich verstanden werden. Entsprechend kann die Bedingung der Veränderbarkeit, des Anderssein-Könnens hier in die Bedingung der Zukunftsoffenheit übersetzt werden. 14 15

Slavoj Žižek, Die Tücke des Subjekts, S. 274. Hannah Arendt, „Freiheit und Politik“, S. 454.

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Handeln, Wiederholen, und das Problem des Neuen

Handeln ist dann in hohem Maße von dem ihm zugrundeliegenden Verständnis von Zukunftsoffenheit abhängig sowie von der Erfahrung der Weise, in der sich Dinge verändern. Von diesem Verständnis und dieser Erfahrung hängt ab, ob zukünftige Entwicklungen als veränderbar und entwicklungsoffen vorgestellt werden–was also in Zukunft erwartet werden darf. Politisches Handeln benötigt zumindest die Vorstellung von Zukunftsoffenheit. Die Aufgabe, Narrative zu entwickeln, die die Vorstellung von Veränderbarkeit und Zukunftsoffenheit der Welt plausibel erscheinen lassen, fiel traditionell der Geschichtsphilosophie zu, eine Disziplin, die von der Aufklärung bis Hegel Konjunktur hatte. Die Frage, die sie zu beantworten suchte, war, ob die Welt so beschaffen sei, dass der (moralische) Fortschritt der Menschheit angenommen werden dürfe: Hat die Geschichte einen Sinn? Und befindet sich die Welt in einer steten Entwicklung zum Besseren hin? Schaue man einfach auf die Weltgeschichte, so etwa Kant, biete sich zunächst der Anblick eines heillosen Durcheinanders. Nirgendwo planen die Menschen ihre Geschichte gemäß vernünftiger Ziele. Diese Einsicht müsse jeden Philosophen in Verlegenheit bringen, so Kant, wüsste er nicht eine „Naturabsicht“ im Hintergrund wirken, die das Geschehen trotz aller Schwierigkeit in die richtige Richtung dirigiert und durch die planlosen Handlungen der Menschen hindurch das Gute durchsetzt.16 Es scheint den Menschen dann zwar unmöglich, bei der Gestaltung und vor allem Verbesserung ihrer Gesellschaft und ihrer selbst nach einem Plan zu verfahren, trotzdem ist die Entwicklung zum Guten durch einen in sich vernünftigen Geschichtsprozess garantiert. Das Handeln der Menschen kann sich auf die Naturabsicht verlassen. Die Geschichtsphilosophie versuchte sich also an der Planung des nicht Planbaren, sie sucht einen Sinn im zunächst sinnlos scheinenden. Ähnliche Figuren des Vertrauens in Fortschritt und allgemeine Besserung finden sich z.B. bei Adam Smith im Bild der „unsichtbaren Hand“, und bei Hegel im Motiv der „List der Vernunft“.17 Während erstere dafür sorgen soll, dass in der Nationalökonomie Akteure gleichzeitig mit ihrem Profitstreben unwissend auch wachsenden Wohlstand für die unteren Schichten der Gesellschaft durchsetzen, soll letztere dazu führen, dass sich in der Entwicklung und Entfaltung der Geschichte hinter dem Rücken der einzelnen Akteure, trotz deren oft beschränkter Ziele, Vernunft, Freiheit, etc. durchsetzen. Kant, Smith, und Hegel diagnostizieren zunächst ungünstig scheinende Voraussetzungen – ökonomischer, moralischer, politischer und anthropologischer Art – und meinen dann doch eine sich durch all diese Widrigkeiten 16 17

Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, S. 8. Adam Smith, The Wealth of Nations, S. 477; G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 49. Vgl. auch Heinz Dieter Kittsteiner, Listen der Vernunft.

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Einleitung

durchsetzende Tendenz zur allmählichen Besserung und Vervollkommnung erkennen zu können, der Beschränktheit menschlichen Handelns zum Trotz. Den diagnostizierten Aporien der Vernunft, der Freiheit, der Ökonomie, wird mit der Gewissheit darüber, alles werde sich letztlich doch zum Guten wenden, so ihre Schärfe genommen. Gegen eine so geartete Konzeption der Zukünftigkeit des Handelns sind sowohl empirische als auch philosophische Einwände vorzubringen. Die Welt wird zunehmend so erfahren, dass sich zwar alles beschleunigt und tatsächlich in einer beständigen und beinahe automatisch erscheinenden Umwälzung und Erneuerung befindet, dass diese stete Änderung allerdings keineswegs entwicklungsoffen ist und in der beschleunigter Wandel keinesfalls mit einer stetigen gesellschaftlichen Besserung einhergeht. Dringend benötigte „Geschichtszeichen“18, die ein Festhalten an den Figuren des Fortschritts vertretbar scheinen lassen könnten, bleiben aus. Hartmut Rosa hat die „paradoxale Grundstruktur der Zeit in der Moderne“ vielmehr dahingehend charakterisiert, dass gleichzeitig mit der Beschleunigung sozialen Wandels eine „Erstarrung der sozialen Entwicklung“ einhergehe.19 „Aus akzelerationsspezifischen Gründen“, so Rosa, „wird die Wahrnehmung des Endes der Geschichte und der Wiederkehr des Immergleichen in der Spätmoderne gegenüber der Perzeption tiefschürfenden Wandels sogar dominant. Die Gesellschaft verliert damit ihren Charakter als politisch zu gestaltendes Projekt; sie hat, so scheint es, ihre utopischen Energien und Sinnressourcen erschöpft.“20 Von der Vorstellung, die gesellschaftliche Entwicklung befinde sich in einer linearen Bewegung auf einem zunehmend beschleunigtem Weg der stetigen Besserung und Perfektionierung, findet so ein Wandel statt, indem diese Entwicklung nun zwar als beschleunigt, dabei aber zugleich als repetitiv und in sich geschlossen erlebt wird. Geschichte läuft als quasi-automatischer, unverfügbarer Prozess ab. Wenn sich etwas wiederholt, so lässt sich in diesem Zusammenhang vorläufig sagen, dann verändert es sich und bleibt dennoch gleich. Mit dem Erfahrungsraum („Es ist immer wieder dasselbe, wenn auch fortwährend erneuert“) schrumpft auch der Erwartungshorizont („Es wird sich folglich auch in Zukunft nicht mehr viel daran ändern lassen“), da sich aus der Repetitivität gesellschaftlicher Prozesse teils nicht einmal mehr moderate Handlungsperspektiven im 18 19 20

Vgl. Heinz Dieter Kittsteiner, „Kants Theorie des Geschichtszeichens“. Hartmut Rosa, Beschleunigung, S. 42; vgl. auch ibid., S. 152 ff. Hartmut Rosa, Beschleunigung, S. 437. Walter Benjamin macht in diesem Zusammenhang eine ähnliche Beobachtung: Er geht davon aus, dass die im späten 19. Jahrhundert zu beobachtende zunehmende Popularität der Idee einer „ewigen Wiederkunft“ mit einem verlorenen Vertrauen in Fortschrittsnarrative zusammenhänge. Siehe z.B. Walter Benjamin, „Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus“, S. 677.

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Freiheit und Wiederholung, 9783770560219, 2018

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Handeln, Wiederholen, und das Problem des Neuen

Sinne eines Anders-sein-könnens ableiten lassen.21 Fortschrittsnarrative sind die vielleicht fundamentalsten Narrative, deren Verlust politisches Handeln verkraften muss, da sie für die Perspektive auf Zukunftsoffenheit und das „Anders-sein-können“ einstanden. Scheint eine solche nicht mehr gegeben, resultiert daraus oft eine Vorstellung von Alternativlosigkeit.22 Ganz abgesehen davon jedoch, ob tatsächlich Fortschritt in der Welt ausgemacht werden kann, lassen sich mindestens zwei philosophische Einwände gegen die Verlagerung der Freiheit zur Veränderung vom Handeln in die Geschichte formulieren. Erstens, so formuliert Arendt, ersetzt damit der Geschichtsbegriff die Politik. Arendt befürchtet, dass die Gleichsetzung von Geschichte und Freiheit zu einer Unterordnung des Menschen unter die Dynamik der Geschichte selbst führt: menschliche Freiheit muss gemäß dieser Logik „der historischen Entwicklung geopfert werden“, die nun als eigentlicher Sitz von Freiheit verstanden wird.23 Selbst wenn dem jedoch nicht so wäre, lässt sich zudem einwenden, dass die Vorstellung eines teleologischen und kontinuierlichen Fortschritts eine Begrenzung des Möglichkeitssinns Handelnder darstellt. Mit der Annahme eines Anders-sein-könnens wird das Jetzt (in optimierter Form) in die Zukunft projiziert: eben dadurch aber wird von vornherein der Möglichkeitsraum, der Spielraum für Veränderung beschränkt. Was ich in Zukunft verwirklichen kann, ist dann nur eine Variation oder vollere Entwicklung dessen, was bereits ist. Die Zukünftigkeit des Handelns verbleibt so im Bereich des Möglichen; das Unmögliche aber – und damit Veränderung im starken Sinne, „Anfangen-Können“, die Möglichkeit eines Neubeginns – wird ausgeschlossen.24 Was wir jetzt schon tun können, kann keinen Neuanfang konstituieren. Wenn sich aber unser Gemeinwesen als grundsätzlich vorgegeben anstatt gestaltbar herausstellt, geht damit zugleich politische Freiheit verloren. 21 22

23 24

Vgl. Reinhart Koselleck: „Erfahrungsraum und Erwartungshorizont – zwei historische Kategorien“, in: Ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 1979. „Alternativlosigkeit“ wurde von der Gesellschaft für deutsche Sprache zum Unwort des Jahres 2010 gekürt. „Alternativlos: Das Wort suggeriert sachlich unangemessen, dass es bei einem Entscheidungsprozess von vorn-herein keine Alternativen und damit auch keine Notwendigkeit der Diskusion [sic] und Argumentation gebe. Behauptungen dieser Art sind 2010 zu oft aufgestellt worden, sie drohen, die Politik-Verdrossenheit in der Bevölkerung zu verstärken.“ Zit. nach http://www.unwortdesjahres.net/index.php?id=35 (Zuletzt aufgerufen am 21. Dezember 2017). Hannah Arendt, Was ist Politik?, S. 42f. Ibid., S. 49ff.

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Wiederholen und Wiederholt werden: Ausgangspunkte und Aufbau dieser Arbeit Die Vorstellung einer quasi-automatischen Entwicklung der Menschheit zum Besseren und die Annahme von souverän und frei handelnden Subjekten scheinen zunehmend unplausibel; zudem sind sie dem Entwurf eines Handelns, was auf Veränderung und Neubeginn abzielt, ohnehin unangemessen. Die Frage ist dann allerdings, wie Handeln in Anbetracht einer Welt konzipieren werden kann, die sich weder als vernünftig oder gar als ‚beste aller möglichen Welten‘, noch als (ohne weiteres) veränderbar herausstellt. Wie kann ich als Handelnde auf eine grundlegende Veränderung des Bestehenden hinwirken, wenn meine Imaginationskraft von den gesellschaftlichen Strukturen, die ich verändern will, hervorgebracht, und mein Handeln durch eben diese Strukturen beschränkt wird? Was bleibt unter dieser Voraussetzung noch zu tun, außer – so ja bereits Kants Befürchtung in seiner Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht – in (philosophische) Verlegenheit oder gar Verzweiflung zu geraten? Soll eine solche Verzweiflung vermieden werden, scheint es unvermeidlich, über den Charakter von Praxisvollzügen umzudenken: Die Möglichkeit, Änderungen herbeizuführen, muss dann anders als durch ein souveränes Subjekt bestimmt und anders als auf Teleologie beruhend begriffen werden. Obwohl die Kritik an geschichtsphilosophischen Konzeptionen von (selbsttätigem) Fortschritt verbreitet ist, und obwohl die Einsicht, dass wir in unserem Handeln nicht vorwiegend als souverän und rational verstanden werden können (wenn auch Uneinigkeit darüber besteht, zu welchem Grad dies der Fall ist) nicht mehr kontrovers ist, scheinen kaum konzeptuelle Alternativen verfügbar.25 Mein Vorschlag ist nun, das Potential der Wiederholung für die Entwicklung einer solchen konzeptuellen Alternative zu erkunden; und obschon sie in den folgenden Kapiteln nur am Rande, wenn überhaupt, Erwähnung finden, 25

Vgl. Wendy Browns Diagnose: „I do not argue that the constitutive narratives of modernity are behind us, nor that they have been superseded by other narratives. Rather, in casting certain critical features of modern regimes as troubled yet persistent, I suggest that their troubled condition has significant political implications for contemporary practices of political justice. For example, while many have lost confidence in a historiography bound to a notion of progress or to any other purpose, we have coined no political substitute for progressive understandings of where we have come from and where we are going. Similarly, while both sovereignty and right have suffered severe erosions of their naturalistic epistemological and ontological bases in modernity, we have not replaced them as sources of political agency and sites of justice claims.“ Wendy Brown, Politics out of History, S. 3.

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Handeln, Wiederholen, und das Problem des Neuen

will ich an dieser Stelle zumindest kurz auf einige Bemerkungen zur Wiederholung in den subjektkritischen und machtanalytischen Ansätzen von Michel Foucault und Judith Butler eingehen, die mich u.a. zu diesem Versuch angeregt haben.26 Beide haben Ansätze dazu entwickelt, Subjekte als nicht-souverän zu denken, als verortet in und hervorgebracht durch diejenigen Machtbeziehungen, die sie zu verändern ansetzen. Dabei haben beide den so verstandenen Subjekten dennoch Praktiken der Freiheit und Befreiung zugeschrieben. Und sie haben dies verschiedentlich mit Rückgriff auf den Begriff der Wiederholung getan, den sie sowohl mit Macht als auch mit Widerstand verbinden. Bei Foucault findet sich der Begriff der Wiederholung in Sexualität und Wahrheit I zunächst als Beschreibung derjenigen Weise, in der sich Machtbeziehungen zu Herrschaftsverhältnissen verfestigen können. Macht wird von Foucault grundsätzlich als ein Verhältnis beschreiben, was alle menschlichen Beziehungen durchzieht, und was immer dynamisch und reversibel ist. Er grenzt seinen eigenen Machtbegriff von demjenigen ab, der dem alltäglichen Verständnis und Gebrauch dieses Begriffs entspricht.

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Der Zusammenhang von Handlung und Wiederholung im Bereich des Politischen ist bisher nicht umfassend untersucht worden; bei Butler und Foucault taucht er zwar wiederholt auf, wird jedoch nicht zu einer zusammenhängenden Perspektive ausgebaut. Derjenige Autor, bei dem man einen solchen Ansatz vermuten könnte – Gilles Deleuze – hat sich in Differenz und Wiederholung wiederum aus einem anders gelagerten Interesse heraus mit der Wiederholung beschäftigt. Deleuze geht es in seinem Buch vor allem um eine Kritik der Repräsentation. Im Rahmen dieser Kritik argumentiert er, dass Wiederholung nie auf die Seite der Repräsentation und Identität fallen könne, sondern immer Differenz bedeute. Regelmäßigkeit, Gesetze, Sittlichkeit, Normen, etc. werden bei Deleuze explizit aus dem Begriff der Wiederholung ausgeschlossen. Mit diesem Begriff der Wiederholung kann sich Deleuze zurecht auf Kierkegaard berufen. Allerdings kann mit einem Verständnis der Wiederholung, was diese allein als Differenz versteht und als immer bereits Identitäts-zersetzend, kein politisch interessanter Begriff der Wiederholung entwickelt werden. Wenn alles immer schon Differenz ist, dann lassen sich Widerstände gegen den Vorrang von Identität, Repräsentation, Macht, Ordnung und Norm nur schwerlich in den Blick bekommen. Selbst wenn in jeder Ordnung, wie mit Foucault und Butler angedeutet, immer die Möglichkeit eines anders-wiederholens und somit von Freiheit angelegt ist, so heißt dies nicht, dass es keine sich über stete Wiederholung verfestigende Machtbeziehungen gibt. Wenn der Begriff der Wiederholung für politisches Handeln fruchtbar gemacht werden soll, dann muss er also dazu in der Lage sein, die Wirkung von Machtstrukturen und Gewohnheiten und deren Verschränkung mit und Beschränkung von Widerstand und Befreiung in den Blick zu bekommen; hierfür ist es wiederum notwendig, zwischen Wiederholungen zu unterscheiden, die etwas Bestehendes wiederholen bzw. darauf hinwirken, dass es wiederholt werde, und auf der anderen Seite zwischen Wiederholungen, die eben diese Ordnungen unterlaufen wollen.

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Nicht weil sie alles umfaßt, sondern weil sie von überall kommt, ist die Macht überall. Und ‚die‘ Macht mit ihrer Beständigkeit, Wiederholung, Trägheit und Selbsterzeugung ist nur der Gesamteffekt all dieser Beweglichkeiten, die Verkettung, die sich auf die Beweglichkeiten stützt und sie wiederum festzumachen sucht.27 Macht ist für Foucault also eine Dynamik beweglicher Beziehungen; wo sie jedoch beständig wird, sich wiederholt und scheinbar selbst erzeugt, da tritt sie uns als „die“ Macht entgegen, die ein Geflecht von eigentlich dynamischen Verhältnissen „festzumachen sucht“. Überall wo Machtverhältnisse herrschen, so Foucault, ist allerdings auch Widerstand präsent – selbst da, wo sich Machtverhältnisse verfestigt haben.28 Widerstand wird von Foucault, analog zu Machtverhältnissen, grundlegend als dezentral gedacht. In seinen späteren Schriften führt er seine Überlegungen zum Widerstandspotential näher aus, indem er sich antiken Praktiken der ästhetischen Lebenskunst widmet, die er als Praktiken der Freiheit versteht. Er besteht dort darauf, dass es Machtbeziehungen überhaupt „nur in dem Maße geben“ kann, „in dem die Subjekte frei sind.“ Machtbeziehungen setzen dazu an, das „Verhalten eines anderen zu lenken“, was wiederum nur dann sinnvoll ist, wenn dieser andere ein gewisses Maß an Freiheit hat, sein eigenes Verhalten zu bestimmen, auf das eingewirkt wird.29 Dennoch gibt es auch „Herrschaftszustände“, in denen sich Machtbeziehungen in solchem Maße „verfestigt“ haben, „dass sie auf Dauer asymmetrisch sind und der Spielraum der Freiheit äußerst beschränkt ist.“30 Während Foucaults Ausführungen zur Sorge um sich als Widerstandspraktik von ihm zwar als eine Wiederholung und Aktualisierung der Antike verstanden wird, ist der spezifische Beitrag der Wiederholung zur Wirkung dieser Freiheitspraktiken nicht auf Anhieb deutlich.31 Anders ist dies bei Judith Butlers Unbehagen der Geschlechter – dort wird Wiederholung selbst explizit als politische Praxis konzipiert. Butler weist zunächst wie Foucault darauf hin, dass Subjekte zwar der normativen Ordnung, innerhalb derer ihre Identität Ausdruck finden soll, nicht vorgängig sind. Geschlechtsidentität kann nie frei und unabhängig von bestehenden Geschlechternormen herausgebildet und ausgedrückt werden. Dennoch, so Butler, sind Subjekte nicht vollständig durch vorgängige Normen determiniert, sondern werden durch diese ‚nur‘ konstituiert – die Macht von 27 28 29 30 31

Michel Foucault, Sexualität und Wahrheit, Bd. 1, S. 94. Ibid., S. 96. Michel Foucault, „Die Ethik der Sorge um sich als Praxis der Freiheit“, S. 267. Ibid., S. 268. Eine gute Diskussion, auch mit Blick auf den Status von Foucaults Heidegger-Rezeption, findet sich in Michael Schwartz, „Repetition and Ethics in Late Foucault“, S. 113–132.

Handeln, Wiederholen, und das Problem des Neuen

Normen ist keine absolute Beherrschung. Da die Konstitution des Subjekts einen Prozess darstellt, der über den Modus der Wiederholung operiert, ist kritischer Widerstand auch für scheinbar ganz in die sie bestimmenden Machtstrukturen verwickelten Subjekte durchaus möglich.32 Widerstand beschreibt Butler als ein ‚anders-wiederholen‘ von Normen, z.B. durch eine parodierende Überzeichnung, die sich so von den sie konstituierenden Zuschreibungen befreien und Machtverhältnisse der Zuschreibung umkehren kann. Wenn „jede Bezeichnung am Horizont des Wiederholungszwangs“ steht, so Butler, dann muss unsere „‚Handlungsmöglichkeit‘“ – bei Butler in Anführungsstrichen, wohl um auf die notwendige Verkomplizierung des Begriffs der Handlung hinzuweisen – in der Möglichkeit verortet werden, „diese Wiederholung zu variieren.“33 Butlers Beispiel hierfür ist Drag, verstanden als die performative Wiederholung und parodierende Aufführung von Gender-Normen.34 Dabei bemerkt Butler, dass eine solche Wiederholung nie unkompliziert ist: Die Verfahren der Parodie können zur Wiederherstellung und Festigung der Unterscheidung zwischen einer privilegierten, natürlichen Geschlechter-Konfiguration (gender configuration) und einer Konfiguration dienen, die als abgeleitet, phantasmatisch und mimetisch – gleichsam als mißglückte Kopie – erscheinen. Zweifellos wurde die Parodie eingesetzt, um eine Politik der Verzweiflung zu fördern, die die scheinbar unvermeidliche Ausschließung der marginalen Geschlechtsidentitäten aus dem Gebiet des Natürlichen und Realen bestätigt. Dennoch ist dies Scheitern, ‚real‘ zu werden und das ‚Natürliche‘ zu verkörpern, meiner Ansicht nach eine konstitutive Verfehlung aller Inszenierungen der Geschlechtsidentität, weil diese ontologischen Orte grundsätzlich unbewohnbar sind. Von daher das subversive Gelächter im Pastiche-Effekt jener parodistischen Verfahren, die das Original, das Authentische und das Reale selbst als Effekt darstellen. Ein Verlust der Geschlechter-Normen (gender norms) hätte den Effekt, die Geschlechter-Konfigurationen zu verviefältigen, die substantivische Identität zu destabilisieren und die naturalisierten Erzählungen der Zwangsheterosexualität ihrer zentralen

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Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, S. 213 Ibid. Butler bezieht in dem hierfür relevanten Kapitel, „Von der Parodie zur Politik“, vor allem auf Sigmund Freud. Eine andere, zentrale Quelle für ihren Ansatz zur Politik des Performativen sind Jacques Derridas Ausführungen zur Iterabilität in dessen Aufsatz „Signatur, Ereignis, Kontext“, in dem dieser den Wiederholungsbegriff bzw. den Begriff der Iterabilität mit der Sprechakttheorie zusammendenkt bzw. gegen einige Annahmen Austins in Stellung bringt. Mit diesem Aufsatz hat Derrida die nachfolgenden Diskussionen um die Wiederholung maßgeblich geprägt.

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Protagonisten: ‚Mann‘ und ‚Frau‘ zu berauben. Die parodistische Wiederholung der Geschlechtsidentität deckt zudem die Illusion der geschlechtlich bestimmten Identität (gender identity) auf, die als unergründliche Tiefe und innere Substanz erscheint.35 Zwei Punkte lassen sich bis hierher festhalten. Zum einen, dass der Wiederholung eine doppelte Bedeutung zukommt: sie bezeichnet einen Modus der Festsetzung von Machtbeziehung als Herrschaftsbeziehungen und Normen, ebenso wie einen Modus politischen Handelns, der auf die Verschiebung von Machtverhältnissen zielt und als Praxis der Freiheit verstanden werden kann. Zum anderen weist Butlers Beschreibung der Strategie parodistischer Politik deutlich darauf hin, dass die Wiederholung als Praxisform nicht immer befreiend ist: ihr kann ein konservativer wie auch ein öffnender Charakter zukommen. Ausgehend von diesen Überlegungen unterscheide auch ich im Folgenden stabilisierende, formgebende, normierende Wiederholungen von befreienden und Ordnungen unterlaufenden Wiederholungen; dabei soll zugleich die Verschränkung von beiden herausgearbeitet werden. In dieser Verschränkung, so die hier vertretene These, liegt das spezifische Potential der Wiederholung, hier ist der Beitrag begründet, den sie zu unserem Verständnis politischen Handelns leisten kann: Die Wiederholung vermag es, Widerstand ohne externen, von der Macht getrennten Ort bzw. Quelle des Widerstandes und ohne Vorstellung von Fortschritt oder immer bereits bestehender Veränderbarkeit auszukommen. Sie vermag es damit, Widerstand und Veränderung als auch unter eminent ungünstigen Umständen möglich zu konzipieren. Zugespitzt formuliert geht es im Folgenden also um die Frage, ob und wie ohne Zukunft bzw. ohne als erreichbar vorgestelltes Ziel, und ohne souveränes Subjekt (noch) gehandelt werden kann, und wie ein solches Handeln dann konzipiert werden müsste. Ich schlage in dieser Hinsicht nun vor, Handlungen einerseits als Wiederholungen und zugleich als unter dem Einfluss von Wiederholungen stehend zu denken. Was eine Wiederholung ist, ist zunächst allgemein bekannt: wenn etwas noch mal passiert, auftaucht oder gemacht wird; wenn etwas parallel existiert oder zurückkehrt. Wiederholung ist ein Verhältnis zeitlicher und/oder räumlicher Art. Wenn sich etwas wiederholt, muss es in einem starken Ähnlichkeitsverhältnis mit dem Original oder der vorhergegangenen Wiederholung bestehen; beide müssen sich gleichen, sonst wären sie nicht als Wiederholungen erkennbar. Zugleich müssen sie aber in bestimmter Hinsicht voneinander unterschieden sein, denn sonst handelte es sich um das Gleiche und nicht um eine Wiederholung. In diesem Verhältnis offenbart sich bereits die grundlegende Paradoxie der Wiederholung: Das Gleiche 35

Ibid., S. 214f.

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Handeln, Wiederholen, und das Problem des Neuen

als Anderes zu sein. Als zeitliches Verhältnis gibt Wiederholung eine bestimmte Struktur vor: die eines Rückgangs, der nach vorn orientiert ist. Wiederholung bedeutet dann vorläufig, dass etwas, das war (oder auch nur etwas, was einmal möglich war, aber nie wirklich wurde), erneut aufgenommen wird, wiederholt wird oder wiederkehrt. Die Wiederholung ist nicht identisch mit dem Vorhergegangenen, ihr wohnt eine Differenz inne. Sonst wäre kein ‚wieder‘ auszumachen, sondern ein ‚noch immer‘. Dennoch muss die Wiederholung etwas sein, was dem Vorhergegangenen in solchem Maße ähnelt, dass es zugleich als in wesentlichen Zügen identisch erkannt werden kann. Dass in einer Wiederholung etwas entweder noch mal passiert / sich ereignet oder aber noch mal getan wird, weist bereits auf den entscheidenden Aspekt hin, der die Wiederholung für die Frage nach der Möglichkeit von Handlungen, die sich auf Veränderungen im starken Sinne richten, unter der Bedingung zunehmender sozialer und politischer Erstarrung zentral werden lässt. Wiederholung zerfällt in einen aktiven und einen passiven, in einen erhaltenden und einen erneuernden Aspekt. Beide sind (in unterschiedlichem Mischverhältnis) immer in ihr enthalten, und beide können ineinander umschlagen: die Trennung insbesondere zwischen Aktivität und Passivität ist häufig nicht klar auszumachen. Damit aber kommt ihr das Potential zu, aus einer erlittenen Wiederholungsbewegung – wie etwa einer in sich kreisenden gesellschaftlichen Entwicklung – einen Weg zu Handlungsmöglichkeiten zu weisen, ohne dass für ein solches Handeln eine bereits vorhandene Veränderbarkeit vonnöten wäre. Entsprechend zerfällt auch bei den hier diskutierten Autoren die Beschäftigung mit der Wiederholung ganz grob in zwei Aspekte,  die miteinander verbunden sind: einerseits eine als übermächtig und schicksalhaft erfahrene, unkontrollierbare Wiederholung, die Handelnden von außen zustößt oder sie von innen dazu antreibt, in einer bestimmten Weise zu handeln, und sie so in ihrem Handeln einschränkt; andererseits wird Wiederholung als (mehr oder weniger) aktives und/oder bewusstes Tun verstanden, als Wiederholung mit Blick auf die Modifikation, das Unterlaufen, Überbieten oder Zersetzen von den Handelnden zustoßenden und/oder sie bestimmenden Wiederholungsbewegungen, indem diese Wiederholungen anders wiederholt werden. Eben diese Spannung zwischen verschiedenen Arten und Wirkweisen der Wiederholung will ich nun anhand der Eigenheiten und Implikationen der jeweiligen Wiederholungsbegriffe bei Marx, Freud, Nietzsche und Kierkegaard herausarbeiten. Ihre Überlegungen zum Handeln und insbesondere zu den Schwierigkeiten, mit denen sich Handelnde konfrontiert sehen, entwickeln alle vier im Neunzehnten Jahrhundert – zu einem Zeitpunkt, da der starke Fortschrittsbegriff von Geschichts- und Bildungsphilosophie in verschiedener Hinsicht brüchig zu werden beginnt, der seinerseits die Veränderbarkeit und Verbesserbarkeit der Welt verbürgen sollte. Sie alle

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Einleitung

distanzieren sich (mehr oder weniger explizit) von der Hegelschen Tradition, und ganz allgemein von der Vorstellung einer unaufhaltsamen Durchsetzung von Freiheit und Rationalität in der Welt; auf ihre eigene Weise stehen sie der Konzeption von Menschen als souveränen Akteuren kritisch gegenüber. In ihren Ausführungen zur Wiederholung zeichnet sich jeweils ein tiefgreifender Konflikt ab zwischen einer gegebenen Ordnung – sei sie psychisch, gesellschaftlich, ökonomisch, kulturell oder kosmologisch gedacht – und dem Neuen bzw. Unmöglichen, was hervorzubringen den Handelnden durch eben diese Ordnung erschwert wird. Die einzelnen Kapitel sind in sich geschlossen und können separat gelesen werden; am Ende jedes Kapitels findet sich jeweils ein Abschnitt, der im Übergang zum nächsten Kapitel noch einmal einige Aspekte der vorangegangenen Diskussion kurz aufnimmt, ohne dabei allerdings eine Zusammenfassung zu geben. Das erste Kapitel ist Karl Marx gewidmet, der die Wiederholung zum einen im Kapital als eine repetitive Bewegung beschreibt, die das Kapital aus sich selbst heraussetzt. Auf gesellschaftlicher und ökonomischer Ebene entsteht so der Eindruck einer mehr oder weniger unendlichen Kreisbewegung. Andererseits konzipiert Marx im Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte die Wiederholung als Modus kollektiven Handelns und gesellschaftlicher Umwälzungen. Marx zeigt dort, warum sich Akteure im Bereich des Politischen, wenn sie tatsächlich Neues hervorbringen wollen, nicht auf herkömmliche Handlungskonzeptionen verlassen können. Sigmund Freuds Konzept des Wiederholungszwangs bezeichnet grundlegend ein Element psychischer Erkrankung, stellt sich zugleich aber als Mittel zur Genesung heraus, also als potentiell befreiend. Deutlich wird in Freuds Darstellung zum Wiederholungszwang, dass aus der Wiederholung kein ‚bewusstwerden‘, kein Wissen und Beherrschen führt, sondern nur der Durchgang durch die Wiederholung – dass man aus dem Wiederholungszwang eben nur qua Wiederholung herauskommt. Freuds Überlegungen erlauben in erster Linie Aufschlüsse über die psychischen Dispositionen von Handelnden, deren eigene Handlungen ihnen selbst oft fremd sind und deren Zwecke und Motivationen sich als durch unbewusst wirkende Wiederholungszwänge bestimmt herausstellen. In Friedrich Nietzsches Zarathustra wird das Motiv der Wiederholung als „ewige Wiederkunft des Gleichen“ verhandelt. Deren Darstellung zerfällt wiederum in zwei Perspektiven: Zum einen in die Annahme einer schicksalhaften Perpetuierung, und zum anderen in den Aspekt eines diese Wiederkunft affirmierenden und durch sie motivierten Schaffens des Neuen. Nietzsche geht es also ganz explizit um das Hervorbringen von Neuem. Die spezifischen Eigenschaften derjenigen Handlungsweise, die ein solches Hervorbringen des Neuen erfordert, findet sich bei ihm ausführlicher dargelegt als bei Marx oder Freud; wichtig ist hier vor allem der konzeptionelle Übergang vom Handeln zum Schaffen, den

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Handeln, Wiederholen, und das Problem des Neuen

Nietzsche einführt. Sören Kierkegaard fällt aus dieser Reihe insofern heraus, als er Wiederholung ausdrücklich nur unter dem Gesichtspunkt der Freiheit und als freie Handlung denken will. Dennoch muss sich auch bei ihm Wiederholung zunächst mit dem „Allgemeinen“, d.h. mit gesellschaftlichen, sittlichen Verhältnissen, mit bestehenden Ordnungen auseinandersetzen, und muss sich zu einem bestimmten Grad von diesen lossagen. Kierkegaard beschäftigt sich mit der Wiederholung als Freiheitshandlung; zudem tritt bei ihm der Charakter der Unmöglichkeit, die im Hintergrund auch bei den anderen Autoren präsent ist, explizit ins Zentrum der Überlegungen. In seiner Auseinandersetzung stellt Kierkegaard die entscheidende Frage: Wie kann auf etwas hin gehandelt werden, was nicht im Bereich des Möglichen liegt, was also innerhalb der gegebenen Rahmenbedingungen un-möglich ist und damit auch kein Handlungsziel im herkömmlichen Sinne sein kann? Das Schlusskapitel unternimmt schließlich den Versuch, aus den vier Kapiteln übergreifende Überlegungen zur Wiederholung und zum Handeln zu kristallisieren. Die unterschiedlichen Wiederholungsbegriffe von Marx, Freud, Nietzsche, und Kierkegaard lassen über ihre jeweiligen Beschreibungen von Handlungsvollzügen als Wiederholungen und als unter dem Einfluss von Wiederholungszwängen stehend strukturell Aufschlüsse darüber zu, wie sich Handeln anders denken lässt, als es gewöhnlich gedacht wird. Damit können sie im Hinblick auf die Frage nach Handlungen, die auf etwas abzielen, was die gegenwärtige Ordnung überschreitet, unser Handlungsverständnis erweitern und ergänzen. Zuallererst weisen die als Wiederholungen beschriebenen Handlungsvollzüge einen Weg, wie Handeln ohne Zukunftsgewissheit und unter der Perspektive (scheinbar) geschlossener Entwicklungen zu denken ist. Handlungsvollzüge sind bei den hier berücksichtigten Autoren weder teleologisch noch kontinuierlich gedacht, sie basieren also nicht auf Fortschrittsnarrativen. Sie machen zudem Vorschläge, wie Widerstand, der sich einem ungleich stärkeren Gegner gegenübersieht, und wie Ziellosigkeit von Handelnden und das wiederholte Verfehlen von angestrebten Zielen anders denn als Scheitern, das zur Aufgabe führt, zu denken wären – ja, sie stellen heraus, inwiefern Zufälle und Verfehlungen ein notwendiges Element im Hervorbringen des Neuen sind. Ferner kommen sie ohne souveräne, der Praxis vorgängige Subjekte aus; Subjektivität wird hier gemeinsam mit Praxis herausgebildet, und umgekehrt. Wo teleologisch-zielgerichtete und souverän bestimmte Handlungsmöglichkeiten verstellt sind, kann die Wiederholung so einen Weg weisen, indem sie dazu auffordert, Handlungen anders zu denken und anders zu vollziehen. Die Wiederholung bringt damit zahlreiche Annahmen über das Handeln durcheinander; sie bringt dieses Durcheinander aber zugleich auch auf einen Begriff.

B.

Das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce

Der kontinuierliche Kreislauf der zwei entgegengesetzten Warenmetamorphosen oder der flüssige Umschlag von Verkauf und Kauf erscheint im rastlosen Umlauf des Geldes oder seiner Funktion als perpetuum mobile der Zirkulation.36 Karl Marx, Das Kapital

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Karl Marx

Während Freud ein Konzept des „Wiederholungszwangs“ einführt, Nietzsche die Idee einer „ewigen Wiederkunft des Gleichen“, und Kierkegaard ein ganzes Buch mit dem Titel Die Wiederholung verfasst, entwickelt Marx keinen eigenen Begriff oder gar eine Theorie der Wiederholung. Dennoch durchzieht das Motiv der Wiederholung sein Werk an entscheidenden Stellen, wie ich im Folgenden zeigen werde. Seine Beschäftigung mit der Wiederholung ist für die vorliegende Studie in zweierlei Hinsicht richtungsweisend: Erstens ist Marx im Vergleich zu Freud, Nietzsche, und Kierkegaard ein dezidiert politischer Denker, und noch dazu ein Denker politischer Praxis. Die Bereiche, in denen er Wiederholungen diagnostiziert, und ob und inwiefern er sie als problematisch oder als begrüßenswert einschätzt, sind daher aufschlussreich für die Verortung der Wiederholung vis-à-vis politischen Handelns. Zweitens diskutiert Marx Probleme politischer Praxis vor dem Hintergrund einer expliziten Absetzung von Hegel und dessen Geschichtsphilosophie – auch wenn er dieser zugleich in bestimmter Weise verpflichtet bleibt. Marx’ Verständnis des Fortschritts, der Richtung historischer Entwicklung in ihrer Verwobenheit mit menschlicher Praxis, ist gerade in seiner Vielschichtigkeit und Ambivalenz interessant. Wenn in der Einleitung grundlegend festgehalten wurde, dass die Wiederholung als zwischen Beschränkung und Ermöglichung von Freiheit verortet verstanden werden soll, so lässt sich dieser paradoxe Doppelsinn, und zugleich dessen Bedeutsamkeit für Fragen der Freiheit und Befreiung, jedenfalls mit großer Deutlichkeit in Marx’ Schriften ausmachen. Als politischer Denker ist Marx bekanntlich untrennbar mit dem Kommunismus verbunden, der ihm Handlungs- und Geschichtsziel ist. In seinen Schriften kommt es ihm, wie er u.a. in der berühmten 11. Feuerbach-These in 36

Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1, MEW 23, S. 144.

© Wilhelm Fink Verlag, 2018 | doi:10.30965/9783770560219_003

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Das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce

aller Deutlichkeit herausstellt, letztlich nicht auf die Interpretation, sondern auf die Veränderung der Welt an.37 Marx schreibt stets mit Blick auf die Praxis politischen Handelns und gesellschaftlicher Transformation, die er als eine Bewegung der Befreiung versteht – der Befreiung von kapitalistischen Besitz- und Ausbeutungsverhältnissen, Klassenhierarchien, Unterdrückung, Entfremdung und allem, was der Entfaltung des Menschen hinderlich ist. Den Prozess, mit dessen Hilfe sich die Menschen von diesen Problemen befreien sollen, bezeichnet er als Kommunismus. Marx versteht Kommunismus gerade nicht als ein Programm, was für die Zukunft entworfen werden kann, sondern als Praxis. Den Kommunismus, der ihm Fluchtpunkt politischen Handelns ist, beschreibt er also nie in Gestalt einer positiven Utopie. Es finden sich Bemerkungen dazu, was durch den Kommunismus überwunden wird, und vereinzelt auch Andeutungen dazu, wie man sich z.B. alternative Besitz- oder Produktionsverhältnisse vorstellen könnte. Doch eine ausformulierte Utopie fehlt. Der Kommunismus, und damit das Ziel aller Befreiungsbewegungen im Marxschen Sinne, ist „nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben [wird]“ und lässt sich deshalb am treffendsten als bewegliches Ziel beschreiben: als „Bewegung“, die „den jetzigen Zustand aufhebt.“ (MEW 3, 35) Als solche ergeben sich ihre Bedingungen „aus der jetzt bestehenden Voraussetzung“, d.h. aus den gesellschaftlichen Verhältnissen, die die Handlungsvoraussetzungen politischer Praxis bilden. (ibid.) Insofern Kommunismus ein Handlungsziel darstellen kann, wäre dies Ziel demnach konstitutiv unbestimmt bzw. nicht dauerhaft feststellbar: es muss sich mit den jeweiligen Verhältnissen verändern. Was zu tun ist, ändert sich mit den historischen Voraussetzungen. Entsprechend hat Marx den Großteil seiner theoretischen Energie darauf verwendet, die „bestehenden Voraussetzungen“ seiner Zeit zu analysieren. Was aber sind die Voraussetzungen, die der Kommunismus aufheben soll? Insbesondere in seinen frühen Schriften, und prominent im Kommunistischen Manifest, scheint Marx zuversichtlich, dass der Kapitalismus selbst die Bedingungen und Voraussetzungen schafft, aus denen heraus das Proletariat beinahe mühelos die Macht ergreifen und den Kapitalismus überwinden kann. Oft wird Marx daher in die Reihe der Fortschrittsdenker eingeordnet, die Zukunft für offen halten, die in ihr ein Anders-sein-können ausmachen, und die darüber hinaus davon ausgehen, dass sich aus jenem Können ein Sollen, damit aber aus der Möglichkeit zum Anderssein eine Wahrscheinlichkeit, eine Erwartbarkeit des Neuen ergebe. Marx’ vordergründiges Vertrauen in den Fortschritt erweist sich bei näherem Hinsehen allerdings als gebrochen: Es sind 37

Karl Marx, Thesen über Feuerbach, MEW 3, S. 7, These 11.

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in Marx’ Schriften mehrere, sich überlagernde Handlungs- und Geschichtskonzeptionen auszumachen.38 Die dem Kapitalismus eigene Dynamik, die die Voraussetzung für auf Befreiung zielendes Handeln bestimmt, kann mit Marx grundlegend in zwei Weisen beschrieben werden: auf der einen Seite betont Marx die Eigenschaft des Kapitalismus, alles zu revolutionieren und Neues hervorzubringen, damit aber auch seine eigene Abschaffung vorzubereiten. Auf der anderen Seite erscheint im Kapital die dem Kapitalismus eigene Dynamik allerdings als in sich geschlossene, sich selbst überbietende und dabei verewigende Wiederholungsbewegung, die keinerlei Anstalten macht, sich selbst abzuschaffen.39 Wenn dies jedoch die „bestehenden Voraussetzungen“ für politisches Handeln sind, dann scheint die Wahrscheinlichkeit, dass der Kommunismus erfolgreich sein wird – der im Kapital übrigens als „Verein freier Menschen“ (MEW 23, 92) bezeichnet wird, und dessen Darstellung nur etwa eine halbe Seite im Gesamtwerk einnimmt  – um einiges geringer. Kommunismus als ‚Handlungsziel‘ ist unbestimmt, d.h. es ist nie eindeutig, was zu tun ist. Im Kapital stellt sich zudem heraus, dass der Kapitalismus auf seine eigene Verewigung qua Wiederholung ausgelegt ist, so dass er aus sich heraus keine historische Dynamik generiert, die die Möglichkeit bieten würde, an der Vorstellung von Fortschritt und Zukunftsoffenheit festzuhalten. Wenn aber der Kapitalismus nicht mehr bei seiner eigenen Abschaffung mithilft, dann verkompliziert sich die Aussicht auf Erfolg für Handelnde. Kommunismus nicht nur als ein unbestimmtes, gestaltloses Ziel zu verstehen, sondern darüber hinaus die erschwerten Bedingungen darzustellen, unter denen es die bestehenden Voraussetzungen zu überwinden gilt, schließt Vertrauen in ein unkompliziertes, unambivalent gedachtes Revolutionsmodell aus. Die Freiheit dazu, das Neue hervorzubringen, die Frage menschlicher Freiheit, ist bei Marx eine Frage der radikalen politischen und ökonomischen Umwälzung; deren Bedingungen, deren Möglichkeiten und Schwierigkeiten, und damit der Charakter dieser Bewegung, ergibt sich aus den spezifischen Umständen, die sie zu einem gegebenen Zeitpunkt vorfindet. Wenn diese Voraussetzung nun als sich selbst perpetuierende Wiederholungsbewegung verstanden werden muss, dann muss dies Auswirkungen auf die Frage der Befreiung bei Marx haben. In der Tat konzipiert Marx auch revolutionäre Praxisvollzüge im Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte gerade im Rückgriff auf den Begriff der 38 39

Vgl. Heinz Dieter Kittsteiner, Listen der Vernunft, S. 117ff. Es ist hier eine deutliche Verschiebung zwischen früheren und späteren Schriften auszumachen. Ob es sich dabei allerdings tatsächlich um einen Bruch handelt, wie von Althusser angenommen, diskutiert z.B. Peter Osborne, How to read Marx, S. 55.

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Wiederholung. Analog zur sich selbst verewigenden Wiederholung der Kapitalbewegung macht er im revolutionären Handeln verschiedene Weisen des wiederholens aus, die revolutionäres Bestreben verunmöglichen und letztlich auf die Perpetuierung des Gegebenen hinwirken. Zudem stellt er aber gerade auch wirklich revolutionäre Praxisformen, die dazu in der Lage sein sollen, den Kapitalismus zu überwinden, als eine bestimmte Form der Wiederholung dar. So wird bei Marx neben dem beschränkenden auch das befreiende Potential der Wiederholung deutlich; Wiederholung erweist sich ihm auch als Ermöglichung zur Freiheit. Als doppeldeutige birgt die Wiederholung zwar Fallstricke in sich und läuft in verschiedener Hinsicht in Gefahr, sich ihrerseits als Beschränkung der Veränderungsmöglichkeit zu erweisen. Dennoch ist sie zugleich die einzig gangbare Option, um einen Weg aus der Übermacht der beständigen Selbstwiederholung des Kapitalismus zu weisen: Mit der Wiederholung (politischen Widerstands) gegen die Wiederholung (des Kapitals). Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

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Kraft und Krisen des Kapitalismus Marx hatte seine Arbeit zunächst ganz im Sinne einer Hegelschen „List der Vernunft“ daraufhin ausgerichtet, im Kapitalismus die Tendenz zur Herbeiführung seines eigenen Zusammenbruchs und damit seiner revolutionären Überwindung im Zusammenspiel von Krise und Intervention des Proletariats auszumachen. Insbesondere den frühen Schriften – prominent im Kommunistischen Manifest (1848) – legt er einen deutlich linearen Zeitpfeil zugrunde, der in Richtung Kommunismus weist. Ökonomie und Politik sind hier eng ineinander verschränkt, und politisches Handeln scheint oftmals wenig mehr als eine Ableitung bestimmter Dynamiken der Produktionsweise zu sein. Das ist aber auch gut so, so die Diagnose weiter, denn der Kapitalismus hilft mit, sich selbst aufzuheben, und schafft dabei noch die Produktionsmittel, die nur noch kommunistisch umgewendet und angeeignet werden müssen. Der Kapitalismus greift dem handelnden Proletariat unter die Arme. Diese hoffnungsvolle, ja optimistische Fortschrittskonzeption basiert vor allem auf einer Bewunderung der unglaublichen transformativen Kraft, die der Kapitalismus im Vergleich zu vorherigen Wirtschaftsformen zeigt. Diese transformative Kraft, von Marx und Engels im Kommunistischen Manifest geradezu euphorisch beschrieben, ist zunächst vor allem destruktiv: sie zerstört all diejenigen gesellschaftlichen und ökonomischen Ordnungen, die bisher stabil und unveränderbar schien. Während die Existenzweise aller „früheren industriellen Klassen“ durch Stabilität und die „[u]nveränderte Beibehaltung der alten Produktionsweise“ geprägt war, ist der Kapitalismus

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von einer „ununterbrochene[n] Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände“ gekennzeichnet. (MEW 4, 463) Als „willenloser Träger“ der Industrie (MEW 4, 474) spielt die Bourgeoisie eine „höchst revolutionäre Rolle“, indem sie die „feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse“, alle bisherigen sicheren Bindungen zwischen den Menschen auflöst; es bleibt nur die „bare Zahlung“, die sie miteinander verbindet. (MEW 4, 464) Anstelle der Verhüllung der Ausbeutung von Arbeitern mit „religiösen und politischen Illusionen“ hat die Bourgeoisie „offene, unverschämte, direkte, dürre Ausbeutung“ gesetzt. (MEW 4, 465) Mit der Zerstörung von früheren gesellschaftlichen Verhältnissen tritt somit der Klassengegensatz erstmals klar und deutlich hervor; der Kapitalismus scheint geradezu aufklärerische Wirkung zu haben.

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Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisepoche vor allen anderen aus. Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen. Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Überall muß sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen. (MEW 4, 465) Die Bourgeoisie ist in ihrem Tun und Wirken revolutionär, da sie nicht existieren kann, „ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren“  – im Kapitalismus tritt der Impuls zur steten Neuerung in den Vordergrund. (MEW 4, 465)40 Die Entwicklung der Produktion „revolutionierte der Dampf und die Maschinerie“, aus den Manufakturen wurde die „moderne große Industrie“, die Hand in Hand mit der Entstehung und Ausweitung des Weltmarkts geht, den Kapitalismus also als sich tendenziell auf die gesamte Welt ausbreitende und sie umspannende Wirtschaftsform etabliert. (MEW 4, 463) Hieraus entstand die „unermeßliche Entwicklung“ der Transport- und Kommunikationsmittel zur Erschließung ferner Märkte, die wiederum auf die Industrie zurückwirkt und deren Entwicklung beschleunigt. 40

Vgl. Heinz Dieter Kittsteiner, „Ist das Zeitalter der Revolutionen beendet?“, S. 436.

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Die transformative Kraft des Kapitalismus geht mit einer zunehmenden Beschleunigung einher. In immer kürzeren Abständen wird aus der Negation des Alten Neues geschaffen, die Welt einer rastlosen Logik des Neuen unterworfen.41 Alles ist in Bewegung, im Fluss, und jede noch so radikale Änderung und Entwicklung scheint möglich: Mit der exponentiell zunehmenden Beschleunigung und Radikalität von Umwälzungen sind so unzählige Neuerungen und vormals undenkbare Entwicklungen bereits erfahrbar geworden, dass auch der Möglichkeitssinn, die Erwartungshaltung gegenüber den noch anstehenden Veränderungen sich mit der Entwicklung und Entfaltung der kapitalistischen Dynamik ausweitet.42 Aus dieser Bewegung radikaler Transformation heraus entspringend, und analog zu ihr gedacht, konzipiert Marx seine Vorstellung von der proletarischen Revolution: als Zusammenspiel von politischer Aktion und einer kapitalistischen Dynamik, die die Revolution nicht nur als möglich, sondern geradezu unumgänglich erscheinen lässt. Wie die feudalen Eigentumsverhältnisse sich einst den Produktivkräften des Feudalismus unangemessen zeigten, diese „hemmten anstatt sie zu fördern“ und so den Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus zeitigten, so macht Marx nun im Kapitalismus eine ähnliche Unfähigkeit aus, den durch ihn hervorgebrachten Produktivkräften zu genügen. (MEW 4, 467) Als Gegenspieler des Proletariats befördert die Bourgeoisie unwissend und unwillentlich die revolutionäre Aufhebung des Kapitalismus, da sie die Produktivkräfte des Kapitalismus in ihrer Entfaltung hemmt. Marx bezeichnet die Bourgeoisie in diesem Sinne als „Hexenmeister, der die unterirdischen Gewalten nicht mehr zu beherrschen vermag, die er heraufbeschwor.“ (ibid.) Dass die Bourgeoisie den Gewalten des Kapitalismus nicht mehr gerecht werden kann, macht Marx vor allem an dessen Krisenhaftigkeit fest. Aus den ständigen Umwälzungen resultiert auch eine zunehmende Krisenanfälligkeit des Kapitalismus; und jede Maßnahme der Bourgeoisie, diese Krisen abzuwenden, bereitet nur größere Krisen vor. Das neue Problem, das sich stellt, ist die „Epidemie der Überproduktion“, in der ein „Zuviel“ an produzierten Lebensmitteln zu „Hungersnot“ und der Vernichtung von Handel und Industrie führt. (MEW 4, 468) Die Bourgeoisie reagiert auf Überproduktion durch „erzwungene Vernichtung einer Masse von Produktivkräften“, Expansion und „Eroberung neuer Märkte“, sowie verstärkte Ausbeutung der 41 42

Vgl. Peter Osborne, The Politics of Time. Modernity and Avant-Garde, London/New York (Verso) 1995. Vgl. Reinhart Koselleck, „‚Erfahrungsraum‘ und ‚Erwartungshorizont‘ – zwei historische Kategorien“, S. 367f.

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bestehenden Märkte – dadurch also, so fasst Marx zusammen, dass sie „allseitigere und gewaltigere Krisen vorbereitet und die Mittel, den Krisen vorzubeugen, vermindert.“ (ibid.) Der Kapitalismus ist entsprechend zunehmend krisenanfällig und unkontrollierbar; zudem hat die Bourgeoisie mit ihm allerdings „nicht nur die Waffen geschmiedet, die ihr den Tod bringen; sie hat auch die Männer gezeugt, die diese Waffen führen werden – die modernen Arbeiter, die Proletarier.“ (ibid.) Mit der Entwicklung der Dynamik des Kapitalismus und dessen zunehmender Anfälligkeit für Krisen, so Marx, haben sich auch die Klassengegensätze verändert, vereinfacht und tendenziell auf zwei einander entgegengesetzte Lager reduziert – auf der einen Seite die herrschende und besitzende Bourgeoisie, auf der anderen Seite das beherrschte und besitzlose Proletariat. Dank dieser Vereinfachung, die den Grundkonflikt kapitalistischer Gesellschaftsformationen deutlich hervortreten lässt, und mithilfe moderner Kommunikationsmittel – ebenfalls ein Produkt der kapitaleigenen Dynamik – vereinen sich die Proletarier und ihre Kämpfe zunehmend, um schließlich mit gemeinsamer Kraft der kommunistischen Revolution zum Sieg zu verhelfen. Der Kapitalismus selbst befördert aus sich heraus seine eigene Aufhebung, das Proletariat wiederum ist im entscheidenden Augenblick einer Krise souverän dazu in der Lage, diese Aufhebung auch durchzuführen. Es ist dem hilflosen „Hexenmeister“, der Bourgeoisie, überlegen43: Das Proletariat weiß nicht nur, was zu tun ist, es ist auch dazu in der Lage, entsprechend zu handeln, da die historische Dynamik, die der Kapitalismus aus sich heraus hervorbringt, ihm behilflich ist. Hier zeigt sich deutlich, dass Marx’ frühe Konzeption politischen Handelns auf einem starken Fortschrittsgedanken basiert: Mit der Entwicklung der großen Industrie wird also unter den Füßen der Bourgeoisie die Grundlage selbst weggezogen, worauf sie produziert und die Produkte sich aneignet. Sie produziert vor allem ihre eigenen Totengräber. Ihr Untergang und der Sieg des Proletariats sind gleich unvermeidlich. (MEW 4, 474)

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Im Gegensatz zur Bourgeoisie weiß das Proletariat, was zu tun ist. Das wiederum hat mit dem von Marx aufgemachten Zusammenhang zwischen Befreiung der Menschheit und Selbstaufhebung des Proletariats zutun, demzufolge es dem Proletariat strukturell eingeschrieben ist, eine besondere Befähigung zur Praxis radikaler Befreiung zu haben – bzw. kann Befreiung für das Proletariat überhaupt nur in der eigenen Selbstaufhebung als Klasse liegen, und zugleich ist die Aufhebung der Klassengesellschaft Grundlage allgemein-menschlicher Befreiung. Vgl. Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, MEW 1, S. 390f.

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Peter Osborne weist zurecht darauf hin, dass die siegesgewisse Sprache, die Marx und Engels hier an den Tag legen, auch der Tatsache geschuldet ist, dass es sich hier um ein Manifest handelt, also um eine literarische Gattung, die qua euphorisierend-kraftvoller Sprache performativ das von ihr Behauptete hervorbringen will.44 Dennoch entspricht diese Charakterisierung einem grundlegenden Vertrauen in das Gelingen der Revolution, die Marx im Frühjahr 1848, am Vorabend der europäischen Revolutionen, gehegt hat. Da sich dies revolutionäre Vertrauen auf die Dynamik des Kapitals selbst stützt, ist das „Gelingen des Nachweises“, so Heinz Dieter Kittsteiner, „dass die krisenhafte Verwertung des Kapitals wirklich den Boden für eine künftige Gesellschaft bereitet“, von zentraler Wichtigkeit für Marx’ Vorhaben.45 Dem Proletariat kann die ihm im Manifest zugedachte Aufgabe einer Machtübernahme und Umwälzung alles Bestehenden nur dann gelingen, wenn es das Kapital selbst auf seiner Seite weiß. Als Zeichen dafür, dass die finale Krise unmittelbar bevorsteht, stehen für Marx entsprechend zunächst die wiederholt und immer heftiger auftretenden Wirtschaftskrisen seiner Zeit, die dem Proletariat sein Revolutionsmoment schaffen sollen. In der Konzeption von Krisen lässt sich zugleich ein erstes Wiederholungsmotiv bei Marx ausmachen: die periodische Wiederholung einer ökonomisch-politischen Konstellation der Krise. Ihr ist zunächst, wie erwähnt, scheinbar eine Steigerungslogik eingeschrieben, eine zunehmende Zuspitzung die zum Zusammenbruch führen soll. Bis mindestens in die fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts hängt Marx zweifelsfrei der Vorstellung eines Zusammenhangs von Krise und Revolution an.46 Eine Revolution sei zwar „nur in den Perioden möglich, wo diese beiden Faktoren, die modernen Produktivkräfte und die bürgerlichen Produktionsformen, miteinander in Widerspruch geraten“, sie sei dafür „aber auch ebenso sicher wie diese.“47 Mit dem Völkerfrühling in weiten Teilen Europas scheint um 1848 der revolutionäre Moment zunächst gekommen – die von Marx und Engels antizipierte Revolution scheitert aber in ganz Europa schnell. Die Bedeutung dieser Enttäuschung für Marx’ weitere theoretische Arbeit sollte nicht unterschätzt werden.48 Seine Einschätzung der sich wiederholenden Wirtschaftskrisen ändert sich entsprechend in den späteren Schriften. Nach den gescheiterten europäischen Revolutionsversuchen konzentriert sich Marx vorwiegend auf die Entwicklung einer Theorie 44 45 46 47 48

Vgl. Peter Osborne, How to read Marx, S. 88. Heinz Dieter Kittsteiner, Listen der Vernunft, S. 121. Vgl. auch Michael Heinrich, Die Wissenschaft vom Wert, S. 346. Karl Marx/Friedrich Engels, Revue. Mai bis Oktober [1850], MEW 7, S. 440 Vgl. Hauke Brunkhorst, „Kommentar“, S. 138.

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des Kapitalismus. Er setzt also an, die Handlungsvoraussetzungen, mit denen das Proletariat es zu tun bekommt, genauer zu verstehen. Krisen scheinen ihm nun vor allem ein integraler Teil der Dynamik von Wirtschaftsprozessen zu sein, die aufgrund der Vermittlung von Warentausch über den Markt (anstatt direktem Tausch) potentiell immer im Ungleichgewicht sind. „Nichts kann alberner sein als das Dogma, die Warenzirkulation bedinge ein notwendiges Gleichgewicht der Verkäufe“, so Marx; zwar kann niemand „verkaufen, ohne dass ein andrer kauft. Aber keiner braucht unmittelbar zu kaufen, weil er selbst verkauft hat. Die Zirkulation sprengt die zeitlichen, örtlichen und individuellen Schranken des Produktentausches ebendadurch, daß sie die hier vorhandne unmittelbare Identität zwischen dem Austausch des eignen und dem Eintausch des fremden Arbeitsprodukts in den Gegensatz von Verkauf und Kauf spaltet.“ (MEW 23, 127) Kauf und Verkauf sind zwar aufeinander verwiesen, doch so wesentlich die Einheit dieser Sphären für den Verlauf des Verwertungsprozesses auch ist, so ist „ebenso wesentlich die Trennung derselben und ihre Verselbstständigung gegeneinander.“49 Diese Verselbstständigung findet insbesondere im Zuge des Geld- und Kreditsystems statt, das es erlaubt, jenseits des direkten Austauschs von Waren auf einen zeitversetzten An- und Verkauf von Waren, Aktien, und Schulden zu spekulieren. In dieser Verselbstständigung liegt der Keim der Krise; zugleich allerdings ist sie es, die stets die Einheit der disparaten einzelnen Momente gewaltsam wiederherstellt. „Die Krise manifestiert also die Einheit der gegeneinander verselbstständigten Momente. Es fände keine Krise statt ohne diese innere Einheit der scheinbar gegeneinander Gleichgültigen.“50 Hier wird deutlich, dass Marx den Kapitalismus durchweg als eine widerspruchsvolle Bewegung und daher als krisenhaft versteht. (vgl. MEW 23, 28) Allerdings erscheinen Krisen nun weniger im Hinblick auf den unvermeidlich und unmittelbar bevorstehendem Zusammenbruch des Kapitalismus, als vielmehr mit Bezug auf die Wiederherstellung des fragilen Zusammenhangs und Gleichgewichts zwischen Produktion, Kauf und Verkauf. Krisen sind demzufolge „momentane gewaltsame Lösungen der vorhandnen Widersprüche, gewaltsame Eruptionen, die das gestörte Gleichgewicht für den Augenblick wiederherstellen.“51 Dass Krisen ein Gleichgewicht immer nur ‚momentan‘ und ‚für den Augenblick‘ wiederherstellen, heißt nicht bereits, dass diese Entwicklung notwendig auf eine finale Krise hinsteuert. Es heißt nur, dass der Kapitalismus krisenanfällig ist, ja, dass es Teil seiner ‚Natur‘ ist, sich in Krisen von überschüssigem 49 50 51

Karl Marx, Theorien über den Mehrwert. Zweiter Teil, MEW 26.2, S. 501. Ibid. Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Dritter Band, MEW 25, S. 259.

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Ballast zu befreien und verlorene Gleichgewichte wieder auszubalancieren, die dann in absehbarer Zeit erneut aus dem Gleichgewicht geraten werden. Es scheint demnach, dass Krisen sich zwar periodisch wiederholen, dabei aber zur Stabilität der kapitalistischen Dynamik beitragen, anstatt auf einen finalen Zusammenbruch hinzuarbeiten, in dem die Revolution bequem einsetzen kann. Die krisenhafte Entwicklung des Kapitalismus weist insofern nicht mehr über diesen hinaus, sondern der Kapitalismus stellt sich als in einer Wiederholungsschleife gefangen heraus; die zuversichtliche Teleologie des Manifests tritt in den Hintergrund.52 Peter Osborne schreibt über die Zeitlichkeit von Wirtschaftskrisen, ihr zyklischer Charakter generiere das Gefühl einer Wiederholung, was dem Vertrauen in sich ergebende Möglichkeiten für Veränderung wiederspreche.53 Der zunächst angenommene Zusammenhang zwischen Krise und der Möglichkeit gesellschaftlicher Umwälzungen wird damit revidiert. Anstatt als eindeutiges Zeichen von Zukunftsoffenheit lesbar zu werden und einen gangbaren Weg für Revolutionäre zu bedeuten – anstatt also eine Handlungsmöglichkeit zu eröffnen – scheint die Krise nun nichts mehr nach sich zu ziehen, als die Wiederherstellung der Stabilität der gegebenen Ordnung und die Vorbereitung zur erneuten Krise. So verschließt sich die Möglichkeit, Krisen ohne weiteres als progressiv zu verstehen. Kapitalbewegung als „perpetuum mobile“ Im Kapital tritt die starke Fortschrittskonzeption des Kommunistischen Manifests insgesamt deutlich in den Hintergrund. Sie macht einer Beschäftigung mit derjenigen Wiederholungsbewegung Platz, die den Kapitalismus innerlich antreibt und strukturiert, und die dieser zugleich aus sich selbst heraus hervorbringt. Diese quasi selbsttätig ablaufende Wiederholungsbewegung des Kapitalismus stellt sich dann als strukturelle Handlungsbeschränkung heraus, die eine Beschränkung der Möglichkeit gesellschaftlichen Wandels und Befreiung nach sich zieht und den zuvor nur als unbestimmt verstandenen Kommunismus als unmöglich erscheinen lässt. 52 53

Die Abwesenheit von Krisen wiederum, so stellt Engels in einem 1886 verfassten Vorwort zum Kapital heraus, macht uns „im Sumpf der Verzweiflung einer dauernden und chronischen Depression“ leben. (MEW 23, 40) Peter Osborne, „A Sudden Topicality. Marx, Nietzsche and the politics of crisis“, S. 24. Verfechter der Theorie einer krisengestützten Revolutionstheorie bei Marx berufen sich häufig auf dessen „Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate“, aus dem sie eine Art „Gesetz des notwendigen Falls des Kapitalismus“ herauslesen zu können meinen. Diese Ableitung ist von Michael Heinrich in einer Argumentation widerlegt worden, der ich hier nicht folgen kann; vgl. Michael Heinrich, Kritik der politischen Ökonomie, S. 171ff.

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Jacques Derrida zufolge ist „die Figur des Kreises“ tatsächlich „zentral für den gesamten ökonomischen Bereich: zirkulärer Austausch, Zirkulation der Güter, Produkte oder Waren, Geldumlauf, Schuldentilgung und Abschreibung (Amortisation), Ersetzbarkeit der Gebrauchs- und Tauschwerte. Dieses Motiv der Zirkulation legt den Gedanken nahe, daß das Gesetz der Ökonomie die – zirkuläre – Rückkehr zum Ausgangspunkt, zum Ursprung oder auch zum Haus ist.“54 Es ließen sich zu dieser Aufzählung mit Blick auf den Kapitalismus umstandslos die Monotonie des Arbeitstags, die Gleichförmigkeit der Massenproduktion und die sich zyklisch wiederholenden Krisen hinzufügen. Insofern aber die Kapitalbewegung bei Marx sozusagen die spezifische Kreisfigur des Kapitalismus darstellt, muss herausgestellt werden, dass hier nicht nur eine „Rückkehr zum Ausgangspunkt“ stattfindet. Wenn auch zum gleichen Ursprung zurückgekehrt wird, so ist dieser Rückkehr zugleich quantitative Steigerung eingeschrieben. Mit jeder Rückkehr zum „Haus“ wird ein weiteres (mehr oder weniger hohes) Stockwerk auf dies Haus gebaut, das seinerseits zugleich den neuen (alten) Ausgangspunkt darstellt. Denn im Kapitalismus geht es im Tausch darum, Gewinn zu machen, d.h. im Verlauf einer Umschlagsperiode einen zur Ausgangssumme hinzukommenden Mehrwert hervorzubringen. Diese Kreisbewegung – dieses ‚Gesetz‘ – fasst Marx in seiner berühmten Formel des Kapitals zusammen, G-W-G′ (Geld-Ware-Mehr Geld). Er entwickelt diese Formel aus zwei anderen Formeln: W-G-W (Ware-Geld-Ware) und G-W-G. In der Zirkulation W-G-W stellt eine beliebige Ware, beispielsweise die Ware Arbeitskraft, den Ausgangspunkt dar. Diese Ware wird gegen Geld getauscht  – es wird für Lohn gearbeitet –, um eine andere Ware, die benötigt wird, zu erwerben, z.B. Lebensmittel. Dabei handelt es sich also um eine Bewegung, in der zu Anfang und Ende des Tausches jeweils qualitativ unterschiedliche Dinge stehen, und der Tausch zur „Befriedigung von Bedürfnissen“ vorgenommen wird. (MEW 23, 164) Insofern ist diese Bewegung nicht kreisförmig, sondern trägt ein natürliches Ende in sich eingeschrieben: getauscht wird mit Blick auf einen der Zirkulation äußerlichen Zweck. In der nächsten Formel kehrt sich die Tauschkette W-G-W um. Am Beginn der Beziehung von Ware und Geld steht dann das Geld, die Tauschkette lautet nun G-W-G. Diese Bewegung – Waren zu kaufen, um sie zum selben Preis wieder zu verkaufen – hat allerdings noch keinen erkennbaren Vorteil oder Sinn, da an Anfang und Ende jeweils qualitativ wie auch quantitativ gleiches steht. Im Unterschied zu Waren, die in allen möglichen Formen daherkommen, kann sich Geld nur quantitativ von sich selbst unterscheiden, nicht aber qualitativ. Wenn ich für 100 Euro einen Stuhl kaufe, nur um ihn dann für 100 Euro wieder zu verkaufen, dann hat sich an meiner Ausgangslage nichts geändert. Eine Tauschbewegung, 54

Jacques Derrida, Falschgeld, S. 16.

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die im Besitz von Geld ihren Ausgang und ihr Ende hat, ist daher (zumindest aus Sicht des Geldbesitzers) nur sinnvoll, wenn diese Bewegung ein mehr desselben hervorbringt. Entsprechend ist der Kapitalbewegung eine quantitative Steigerung eingeschrieben. Diese Steigerung wird eben durch den Strich bezeichnet, der für das ‚Mehr‘ steht, den Mehrwert, der am Ende einer Umschlagsperiode entstanden sein soll. G-W-G′ also – Geld wird zu mehr Geld, wobei dies mehr Geld wiederum zum Ausgangspunkt der neuen Umschlagsperiode wird. Kapital ist eine sich in ihrer Wiederholung quantitativ steigernde Zirkulation des qualitativ Gleichen.55 In dieser Zirkulation scheint Mehrwert zunächst ganz unvermittelt und aus dem Nirgendwo aufzutauchen; dem Wert selbst scheint die „okkulte Qualität“ zuzukommen, „Wert zu setzen, weil er Wert ist“. (MEW 23, 169) Wenn wir von Äquivalenttausch als Voraussetzung ökonomischer Transaktionen ausgehen, wie Marx es tut, dann wird schnell deutlich, dass Mehrwert innerhalb der Sphäre der Zirkulation nur durch ‚Betrug‘ entstehen kann indem ich etwas teurer wieder verkaufe, als ich es gekauft habe.56 Die Zirkulationssphäre scheidet demzufolge als Quelle des Mehrwerts aus. Marx geht vielmehr davon aus, dass das Vermögen, Mehrwert zu produzieren, allein menschlicher Arbeitskraft zukommt. Diese ist dazu in der Lage, in einer gegebenen Zeitspanne mehr Wert zu produzieren als ihrem eigenen Wert und damit dem Lohn, der für sie gezahlt wird, entspricht. Der Wert der Ware Arbeitskraft bemisst sich aus den Kosten, die für ihre Reproduktion anfallen, also dafür, dass ein Arbeiter nicht nur am Leben bleibt, sondern arbeitsfähig. Diese Kosten wiederum sind historisch variabel: sie können nur Essen und eine Unterkunft beinhalten, sie können aber auch die Kosten einer Krankenversicherung, eines Eigenheims oder ähnliches einschließen. Der Wert von Arbeitskraft variiert entsprechend 55

56

Marx entwickelt die „allgemeine Formel des Kapitals“ im 4. Kapitel des Kapital; siehe MEW 23, S. 161ff. So etwa die folgende Darstellung auf S. 164f.: Die Formel „scheint auf den ersten Blick inhaltslos, weil tautologisch. Beide Extreme haben dieselbe ökonomische Form. Sie sind beide Geld, also keine Qualitativ unterschiedne Gebrauchswerte, denn Geld ist eben die verwandelte Gestalt der Waren, worin ihre besondren Gebrauchswerte ausgelöscht sind. [...] Eine Geldsumme kann sich von der andren Geldsumme überhaupt nur durch ihre Größe unterscheiden. [...] Die vollständige Form dieses Prozesses ist daher G–W–G′, wobei G′=G+∆G, d.h. gleich der ursprünglich vorgeschossenen Geldsumme plus einem Inkrement.“ In der Praxis findet oft tatsächlich kein Äquivalenttausch statt, es wird z.B. die Ware Arbeitskraft unter ihrem Wert verkauft, d.h. für weniger als es kostet, sie zu reproduzieren. (Wir sehen das überall: Menschen müssen zwei oder drei Jobs bewältigen, um über die Runden zu kommen.) Marx setzt Äquivalenttausch als theoretische Grundlage voraus, um zu zeigen, dass selbst dann noch eine Ausbeutung der Ware Arbeitskraft (und damit des Arbeiters) stattfindet.

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Karl Marx

stark. Arbeit schafft Mehrwert, indem sie die gegebenen Rohstoffe verarbeitet, und der Wert des aus diesem Prozess entstandenen Produkts schließlich die zuvor durch den Kapitalisten verausgabte Wertmenge – d.h. Rohmaterialien und Produktionsmittel (z.B. Maschinen) plus dem verausgabten Arbeitslohn – übersteigt. So kann Marx zufolge das Prinzip der Tauschäquivalenz gewahrt werden, dabei aber zugleich das investierte Geld mit jedem Umschlag wachsen und dem Investor Mehrwert einbringen. Hier liegt auch der Grund dafür, dass jede Form von Lohnarbeit zugleich Ausbeutung ist, ganz abgesehen davon, wie hoch der Lohn sein mag, der für sie gezahlt wird: den Überschuss, den Mehrwert, den Arbeiter produzieren, eignet sich stets der Kapitalist an.57 Wichtig ist ferner, dass dieser Mehrwert zwar seine Quelle in der Arbeitskraft hat, dass die im Arbeitsprozess hergestellten Arbeitsprodukte allerdings zunächst noch als Werte auf dem Markt realisiert (d.h. verkauft) werden müssen. Mehrwert kann zwar nur außerhalb der Zirkulationssphäre entspringen, er kann sich jedoch nur innerhalb der Zirkulationssphäre realisieren. Er „muß zugleich in ihr und nicht in ihr entspringen.“ (MEW 23, 180) Insofern kommt der Kapitalbewegung tatsächlich eine „okkulte“ Qualität zu: denn erscheinen tut Mehrwert immer erst innerhalb der Zirkulation. Als Quelle des Mehrwerts und damit Voraussetzung der Kapitalbewegung ist die freie Verfügbarkeit der Ware Arbeitskraft auf dem Markt unabdingbar; diese wiederum basiert auf einer spezifischen, dem Kapitalismus eigenen Form von ‚Freiheit‘: „Zur Verwandlung von Geld in Kapital muß der Geldbesitzer also den freien Arbeiter auf dem Warenmarkt vorfinden, frei in dem Doppelsinn, daß er als freie Person über seine Arbeitskraft als seine Ware verfügt, daß er andrerseits andre Waren nicht zu verkaufen hat, los und ledig, frei ist von allen zur Verwirklichung seiner Arbeitskraft nötigen Sachen.“ (MEW 23, 183) Die kapitalistische Produktionsweise beruht auf zwei fundamentalen Voraussetzungen: Zum einen auf der Abschaffung der Leibeigenschaft – denn ein Leibeigener kann die eigene Arbeitskraft nicht als Ware anbieten und verkaufen. In diesem Sinne befreit die Aufhebung des Feudalismus Arbeiter 57

Hier liegt aber zugleich der Grund dafür, dass es sich dabei, innerhalb des Logik des Kapitalismus betrachtet, nicht um Betrug handelt: Denn die Arbeiter werden ja tatsächlich für den Wert ihrer Arbeitskraft bezahlt. Das ist zumindest die Annahme, die dem Austausch zugrunde liegt. „Der Geldbesitzer hat den Tageswert der Arbeitskraft gezahlt; ihm gehört daher ihr Gebrauch während des Tages, die tagelange Arbeit. Der Umstand, daß die tägliche Erhaltung der Arbeitskraft nur einen halben Arbeitstag kostet, obgleich die Arbeitskraft einen ganzen Tag wirken, arbeiten kann, daß daher der Wert, den ihr Gebrauch während eines Tags schafft, doppelt so groß ist als ihr eigner Tageswert, ist ein besondres Glück für den Käufer, aber durchaus kein Unrecht gegen den Verkäufer.“ (MEW 23, 208)

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Das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce

tatsächlich – sie sind frei dazu, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, wem sie wollen. Zum anderen besteht die Freiheit, auf der Kapitalismus beruht, jedoch darauf, dass Arbeiter ‚frei‘ von Landbesitz und anderen Erwerbsquellen sind, die es ihnen ermöglichen würden, die eigene Arbeitskraft nicht zu verkaufen, sondern selber zu produzieren. Die Freiheit des Arbeiters ist es demnach, die ‚freie Wahl‘ zu haben, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, oder zu verhungern – denn sie sind frei von allen Besitztümern, die ihnen das Überleben anderweitig sichern könnten. Da aber die „Natur [...] nicht auf der einen Seite Geld- oder Warenbesitzer und auf der andren bloße Besitzer der eignen Arbeitskräfte“ schafft, muss dies Verhältnis erst hergestellt werden. (ibid.) Dies geschieht, so Marx, in einem Prozess der Enteignung und der Umwandlung von Gemeinland in Privatbesitz, den er als „ursprüngliche Akkumulation“ bezeichnet. (MEW 23, 741ff.) Der historische Prozess ursprünglicher Akkumulation, der die Frage beantwortet, warum einige erstmals mehr Besitz akkumuliert haben, ein Großteil der Menschheit jedoch nichts besitzt – wie Kapitalismus also seinen Ausgang nehmen konnte –, ist im Diskurs der politischen Ökonomie von einer mythischen Erzählung überdeckt, die anstelle der gewaltsamen Enteignung eine natürliche Disposition zu Fleiß (Kapitalisten) oder Faulheit (Arbeiter) als Ursprung setzt. (MEW 23, 741) So wird Kapitalismus auf die Natur des Menschen zurückgeführt, als dieser entspringend und entsprechend. Das ist insofern entscheidend, als die Vorstellung einer Naturwüchsigkeit bzw. Geschichtslosigkeit des Kapitalismus (es scheint, die Existenz von Arbeitern und Kapitalisten sei natürlich), gekoppelt mit der verborgenen Quelle des Mehrwerts in der Arbeitskraft (es scheint, Geld bringe Geld aus sich selbst hervor), zur Erscheinungsweise der Kapitalbewegung als eigentätig und unveränderlich führt. Zu dieser scheinbaren Selbsttätigkeit der Wertbewegung kommt die Abwesenheit eines ‚natürlichen‘ Endpunkts in der Akkumulation von Kapital hinzu. Wie eingangs erwähnt hat eine Zirkulation von Waren, die auf Bedürfnisbefriedigung der Tauschenden zielt (W-G-W), einen „außerhalb der Zirkulation liegenden Zweck“58: das Ende des Tauschakts ist immer mitgedacht. Ich verkaufe meine Arbeitskraft (W), um vom Lohn (G) meine Miete (W) bezahlen zu können; damit ist der Tauschakt an sein natürliches Ende gelangt. Ich verkaufe, um zu kaufen. Dies ist in der Kapitalbewegung anders. Hier ist keine Befriedigung von Bedürfnissen und auch nicht der „einzelne Gewinn“ Zweck der Tauschhandlung, „sondern nur die rastlose Bewegung des Gewinnens.“ (MEW 23, 167f.) Während im ersten Beispiel Geld verausgabt wird, um für die eigene Bedürfnisbefriedigung benötigte Waren zu erhalten, wird es in der 58

Michael Heinrich, Kritik der politischen Ökonomie, S. 84.

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Kapitalbewegung nur vorgeschossen, um am Ende mehr Geld zu haben. Ich kaufe Waren, um sie wieder zu verkaufen und dadurch Mehrwert zu erhalten. Mit jeder Umschlagsperiode wächst der Mehrwert; das muss er nicht nur, damit die Tauschhandlung dem Geldbesitzer sinnvoll erscheint, sondern auch, um in der Konkurrenz auf dem Weltmarkt bestehen zu können. Nur wenn Mehrwert generiert wird, lässt sich von „Kapital“ im eigentlichen Sinne sprechen: als sich selbst verwertendem Wert, d.h. als Wert, der scheinbar aus sich selbst heraus neuen Wert zeugt, und der zugleich – da sein Ziel nur in einem „Mehr“ seiner selbst besteht, da er also kein externes Ziel verfolgt, sondern nur sich selbst will – in eine rastlose Selbstbewegung übergeht. Das Ende jedes einzelnen Kreislaufs, worin sich der Kauf für den Verkauf vollzieht, bildet daher von selbst den Anfang eines neuen Kreislaufs. Die einfache Warenzirkulation – der Verkauf für den Kauf – dient zum Mittel für einen außerhalb der Zirkulation liegenden Endzweck, die Aneignung von Gebrauchswerten, die Befriedigung von Bedürfnissen. Die Zirkulation des Geldes als Kapital ist dagegen Selbstzweck, denn die Verwertung des Werts existiert nur innerhalb dieser stets erneuerten Bewegung. Die Bewegung des Kapitals ist daher maßlos. (MEW 23, 167) Marx bringt bezüglich der Dynamik, die er aus dieser Wertbewegung erwachsen sieht, den Vergleich eines „perpetuum mobile“ an, also einer physikalischen Maschine, die sich aus eigener, nie versiegender Kraft ewig in Bewegung erhält. (MEW 23, 144) Verstanden als eine Bewegung ohne Anfang und Ende, eine Bewegung der beständigen Metamorphose, scheint die Kapitalbewegung in der Tat eine Art „perpetuum mobile“ zu sein. Ist dieser Kreislauf einmal in Gang gesetzt, erhält er sich auf unbestimmte Zeit und aus eigener Kraft.59 So geriert sich das Kapital als immer schon dagewesen: Die Frage nach Anfang oder Ende der Kapitalbewegung ist in diesem Sinne nicht mehr zu stellen, sie ist verstellt. Wertförmige, kapitalistische Verhältnisse erscheinen als naturgegeben, als eine Art zweiter Natur. Es ist der Form der Kapitalbewegung eingetragen, kein Maß und kein Ende zu haben; sie kann sich nur in beständiger Bewegung erhalten, das Ziel ihrer spezifischen Form des Warentausches liegt nur in der Vermehrung ihrer selbst. Sie ist sich selbst zugleich Ursprung und Ziel. Das hat Auswirkungen für die Erfahrung historischer Zeit im Kapitalismus, so Werner Hamacher: 59

Im Gleichnis vom Kapitalismus als „perpetuum mobile“ ist zugleich eine ironische Spitze eingebaut – denn bei diesem Apparat handelt es sich nach den Erkenntnissen der Physik um eine unmögliche Konstruktion.

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Das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce

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Die Zeit des Kapitals [...] dehnt das Ende der Geschichte zur toten Ewigkeit. Es gibt in der Kapitalzeit kein Jetzt, das nicht mit einem anderen Jetzt gleichzeitig sein könnte, keines, das nicht auf seine Wiederkehr in einem anderen gespannt wäre, keines das nicht selbst schon unter dem Gesetz der Wiederkehr stünde und als bloßer Revenant eines anderen Jetzt erschiene.60 Als eine Bewegung, die sich verewigt und dabei die Perspektive auf eine qualitative Veränderung ihrer selbst verschließt – denn nichts anderes meint ja die Rede vom „Ende der Geschichte“61, wie auch vom „perpetuum mobile“ – verschleiert der Kapitalismus so zugleich die Tatsache, dass es sich auch bei ihm um eine historisch spezifische Gesellschaftsform handelt, und dass es unwahrscheinlich ist, dass sie als historisch gewordene von ewiger Dauer ist. Dennoch dürfte bisher deutlich geworden sein, dass in der Kapitalbewegung selbst zunächst keine inhärente Tendenz dazu ausgemacht werden kann, mit der sie (jenseits von einer quantitativen Selbststeigerung) über sich hinausweist – sie ist im Gegenteil als ewiger Kreislauf konzipiert. Automatisches Subjekt und Ökonomische Charaktermasken Marx zufolge erscheint der Kapitalismus also als „perpetuum mobile“ oder „sich selbst verwertender Wert“, als ein selbsttätiger Kreislauf. Diese Diagnose wiederum hat weitreichende Konsequenzen für die spezifische Umdeutung, die Subjektivität, Autonomie, und Handlungsfreiheit im Rahmen von Marx’ Kapitalanalyse erfahren. So erscheint die „Totalität des Prozesses“, in dem Waren gegen Waren getauscht werden, „als ein objektiver Zusammenhang, der naturwüchsig entsteht; zwar aus dem Aufeinanderwirken der bewußten Individuen hervorgeht, aber weder in ihrem Bewußtsein liegt, noch als Ganzes unter sie subsumiert wird. Ihr eigenes Aufeinanderstoßen produziert [den Menschen, BL] eine über ihnen stehende fremde gesellschaftliche Macht.“ (Gr, 111) Die Form dieser Macht, die zwar aus menschlichen Handlungen hervorgegangen ist, sich ihnen aber als fremde entgegenstellt, liegt zunächst in der Warenform selbst begründet, die Gegenständen eine scheinbare Autonomie 60 61

Werner Hamacher, „Schuldgeschichte. Benjamins Skizze Kapitalismus als Religion“, S. 93. Dabei sei darauf hingewiesen, dass die Idee eines Endes der Geschichte, ganz wie auch die Vorstellung vom Kapitalismus als letzter, sich selbst perpetuierender Entwicklungsstufe, keineswegs bedeuten will, dass ‚nichts mehr passiert‘, sondern nur, dass nichts grundlegend neues mehr passiert – dass alles, was sich erneuert, zugleich nicht über den Rahmen des Bestehenden hinausgeht.

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von ihren Produzenten verleiht. Diese „geheimnisvolle“ Wirkung der Warenform besteht

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einfach darin, daß sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eignen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften der Dinge zurückspiegelt, daher auch das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit als ein außer ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen. (MEW 23, 86) Dass der Wert nicht in seiner Eigenschaft als Ausdruck eines gesellschaftlichen Verhältnisses wahrgenommen wird, sondern als dinghaft und einer Ware natürlich zukommend erscheint, hängt damit zusammen, dass er nicht bewusst hervorgebracht wird. Dass Menschen durch ihre Handlungen dies Verhältnis von ‚Sachzwängen‘ herstellen, indem sie sich auf ihre Arbeitsprodukte als Waren beziehen, ist ihnen nicht bewusst: „Sie wissen das nicht, aber sie tun es.“ (MEW 23, 88) Wert wird von Marx als bestimmtes „Quantum vergegenständlichter gesellschaftlicher Arbeit“ definiert. (MEW 23, 172) Wert entsteht also aus Arbeit – genauer, aus „gesellschaftlicher“ Arbeit, d.h. Arbeit, die dem gesellschaftlichen Durchschnitt von Produktivität entspricht.62 Doch allein dadurch, dass ich etwas in einem Arbeitsprozess herstelle, der sich auf einen Vergleich unabhängig voneinander betriebener Arbeiten bezieht, kommt ihm umgekehrt noch nicht Wert zu; wie im vorigen Abschnitt erwähnt, realisiert sich Wert erst in der Zirkulation, wenn also eine Ware gekauft wird. Da Waren in ihrer Eigenschaft als Werte erst dann, wenn sie auf dem Markt angeboten und verkauft werden, auch in ihrer Wertförmigkeit sichtbar werden – denn hier wird schließlich Geld für sie gezahlt – scheint es so, als komme den Waren ihr Wert natürlicherweise zu. Etwa in derselben Weise, wie eine Ware grün sein kann, schwer oder eckig: als materielle Eigenschaft eines Dings. So scheint Warentausch, und damit die Verwertung von Wert, auf einer natürlichen Eigenschaft der Dinge zu beruhen, 62

Wenn in einer Gesellschaft durchschnittlich vier Stunden für die Produktion eines Stuhls benötigt werden, dann ist der Stuhl derjenigen, die sieben Stunden dazu braucht, nicht mehr wert als ein anderer Stuhl, obwohl ein größeres Quantum Arbeitszeit in ihn eingegangen ist. Die tatsächlich verausgabte Arbeit aber gilt eben nur bis zur Grenze von vier Stunden als gesellschaftliche Arbeitszeit, und nur gesellschaftliche Arbeitszeit ist wertbildend. Andersherum kann ich aber, wenn ich den Stuhl in drei statt vier Stunden herstellen kann, einen Extraprofit machen, da ich weniger als die gesellschaftlich notwendige Arbeitskraft investiere, jedoch der volle Betrag in die Wertbildung des Stuhls eingeht. So ist hier zugleich ein Steigerungs- und Beschleunigungspotential eingeschrieben.

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Das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce

beide, Ware und Geld, nur als verschiedene Existenzweisen des Werts selbst, das Geld seine allgemeine, die Ware seine besondere, sozusagen nur verkleidete Existenzweise. Er geht beständig aus der einen Form in die andre über, ohne sich in dieser Bewegung zu verlieren, und verwandelt sich so in ein automatisches Subjekt. (MEW 23, 168f.)

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genauer: auf einem Verhältnis der Dinge zueinander – anstatt dass die Grundlage dieses Tauschs in einer spezifischen Form der Produktion, basierend auf arbeitsteiliger Lohnarbeit einer besitzlosen Klasse von Menschen und damit als gesellschaftliches Verhältnis erkennbar würde. In der Zirkulation von Wert als Kapital fungieren dann

Was will Marx mit der Rede vom Wert als „automatischem Subjekt“ zum Ausdruck bringen? Während sich bezüglich der einfachen Tauschhandlung W-G-W durchaus sagen lässt, dass die Tauschenden selbst handelnde Subjekte sind – denn sie tauschen mit der Absicht, etwas für ihren eigenen Gebrauch zu erwerben – so kehrt sich dies Verhältnis in der Kapitalbewegung um. Das Kapital selbst wird sozusagen zum handelnden Subjekt dieser Bewegung: Es ist seiner eigenen Struktur eingetragen, dass es nur in Bewegung bestehen kann, einer Bewegung der Steigerung und Vermehrung. Die Macht der Wertbewegung in ihrer Erscheinung als automatisches Subjekt (bzw. in der Konkurrenz der vielen automatischen Subjekte/Kapitale auf dem Weltmarkt) führt zu einer Dynamik, in der die handelnden Menschen schließlich nur noch als „Personifikationen der ökonomischen Verhältnisse“ (MEW 23, 100) auftreten. Wenn bereits in der Warenform selbst deren scheinbare Verselbstständigung gegenüber ihren Produzenten angelegt ist, so wird diese Verselbstständigung in der Vermittlung von Privatarbeiten / einzelnen Kapitalen auf dem Weltmarkt derart gesteigert, dass sich der Prozess insgesamt tatsächlich als unverfügbar, selbsttätig, und der Einflussnahme durch Menschen entzogen darstellt. Menschen sind Anhängsel der Kapitalbewegung und ihr unterworfen, nicht umgekehrt: sie werden, hyperbolisch ausgedrückt, zu Objekten des automatischen Subjekts – es scheint ihnen ihre Subjektivität, ihre Autonomie und Handlungsmacht genommen. Marx spricht entsprechend von einer „Warenseele“ (MEW 23, 97), die sich in den Handlungen von Kapitalisten Geltung verschafft, und von Menschen insgesamt als „ökonomischen Charaktermasken“: sie werden zu „Personifikationen der ökonomischen Verhältnisse [...], als deren Träger sie sich gegenübertreten.“ (MEW 23, 100) Damit wird im Kapital die von Marx im Kommunistischen Manifest behauptete natürliche Rolle der Arbeiterklasse als revolutionärer Kraft zweifelhaft. Der Kapitalismus stellt sich nicht zuvorderst

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als ‚aufklärerisch‘ und entzaubernd dar, indem er die Klassenverhältnisse vereinfacht, wie noch im Manifest angenommen. Ebenso sind Kapitalisten letztlich nur „personifiziertes, mit Willen und Bewußtsein begabtes Kapital.“ (MEW 23, 167) Das Kapital selbst verlangt nach Mehrwert, nach seiner eigenen Vermehrung, die seine Existenzvoraussetzung ist. Auch Kapitalisten sind damit im Grunde Handlanger des automatischen Subjekts selbst – und das auch nur, weil sich die Waren nicht selber zu Markte tragen können. (MEW 23, 209) Marx’ Kapitalist ist insofern Teil der sich zu einem Großteil außerhalb seines Einflussbereichs vollziehenden Bewegung des kapitalistischen Weltmarkts. Das heißt selbstverständlich nicht, dass einzelnen Akteuren auf dem Weltmarkt keine Verantwortung für ihre Handlungen zukommt. Es heißt aber, dass die alleinige Kritik an einzelnen Akteuren zu kurz greift, da auch die Waren und das Geld selbst im Kapitalismus zu eigenständigen Akteuren werden, indem die Struktur der bestehenden Ordnung die Wiederholung bestimmter Handlungen fordert: seine Arbeitskraft zu verkaufen, sein Kapital zu reinvestieren, Profit zu erwirtschaften. In der Logik dieser Verkehrung werden sowohl Arbeiter als auch kapitalistische Unternehmer zum Objekt des sich selbst verwertenden Werts; der Wert wiederum wird in seinem Bewegungsablauf zum eigentlichen Akteur der Weltgeschichte, die lediglich in endlos wiederholten Kapitalverwertungsumschlägen besteht, in Expansion und Akkumulation, in immergleichen Innovationen.63 Das „automatische Subjekt“ ist bei Marx überindividuell angelegt wie Hegels „Weltgeist“ – nur setzt der Kapitalismus nicht qua „List der Vernunft“ die Entwicklung der Freiheit hinter dem Rücken der Subjekte durch, sondern eine Steigerung des Profits. Marx zufolge stellt sich der Hegelsche Weltgeist schlussendlich als Weltmarkt heraus. (MEW 3, 37) Es stellt sich dann die Frage, wie sich einer selbsttätigen Bewegung, die sich scheinbar unabhängig von den in ihr tätigen Akteuren bewegt, entgegengestellt werden kann. Eine Bewegung, die niemand erschaffen hat und die entsprechend auch nicht unter der Kontrolle handelnder Akteure zu stehen scheint und die menschliche Handlungen in vielen Bereichen präformiert, scheint zunächst kaum Handlungsansätze für Widerstand zu bieten. Zwar soll die Rede vom automatischen Subjekt nicht bedeuten, dass Menschen nur willenlose Marionetten in der Mühle des „perpetuum mobile“ der Kapitalbewegung sind. Sie stellt aber in aller Deutlichkeit 63

Zu der mit der Entstehung der Rede von „Der Geschichte“ einhergehende Subjekt / Objekt Umkehrung – die Geschichte arbeitet unabhängig von den Geschichtssubjekten, die dadurch gewissermaßen zum Objekt dieser Geschichte werden – vergleiche Reinhart Kosellecks Artikel „Fortschritt“ und „Geschichte“, in: Geschichtliche Grundbegriffe: Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hg. v. Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck, Bd. 2, Stuttgart, 2004.

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deren Macht heraus – das Ausmaß, mit dem sie gesellschaftliche Verhältnisse durchdringt, und die Kraft, mit der sie das tut. Die Übermacht des Kapitalismus beruht in der Macht der Wiederholung: Ökonomische Prozesse kreisen scheinbar selbsttätig und unberührt von dem Willen und Handeln der von diesem Prozess abhängigen Menschen. In der bisherigen Diskussion zeigt sich insbesondere zweierlei: Zum einen, dass die Ausbeutungsstruktur, die dem Kapitalismus eigen ist, bereits in ihren Grundlagen – in der gesellschaftlichen Organisation von Arbeit, die Wert hervorbringt – angelegt, also kein einfach innerhalb der gegebenen Rahmenbedingungen zu lösendes Problem ist (wie etwa: höhere Löhne, bessere Arbeitsbedingungen), und dass daher Veränderung in dem Sinne, wie Marx sie vorsah, eine radikale Transformation der gesamten Gesellschaft bedeuten müsste.64 So wird die ungeheuerliche Aufgabe deutlich, die sich derjenigen Bewegung stellt, die den Kapitalismus aufzuheben ansetzt. Zum anderen stellt sich heraus, dass eine eben solche Aufhebung aus Perspektive der sich selbst verewigenden Dynamik des Bestehenden als geradezu unmöglich verstanden werden muss. Der Kapitalismus hilft nicht bei seiner eigenen Überwindung mit, sondern ist vor allem auf seine eigene Perpetuierung und Verselbstständigung ausgelegt. Der Umlauf von Kapital ist ein sich selbst verewigender Prozess, der von niemandem bewusst hervorgebracht oder gesteuert wird, bezüglich dessen also auch nicht einfach so ‚umgehandelt‘ werden kann. Vielmehr stellt er sich als eine den einzelnen Handlungen vorgängige, diese hervorbringende Bewegung dar – und somit zugleich als eine den Handelnden gegenüberstehende und übermächtige Wiederholungsbewegung. Der Kreislauf des Werts stellt so in der Tat eine Art Gesetz der Ökonomie dar, wie von Derrida nahegelegt. Genaugenommen handelt es sich dabei zwar nicht um ein Gesetz, sondern um eine Regelmäßigkeit.65 Diese Regelmäßigkeit wird allerdings als eine Art unveränderliches Naturgesetz erfahren. Der Kapitalismus zeigt sich als Macht der Wiederholung, der die Handlungsmöglichkeiten der in ihm lebenden Menschen prägt und lenkt. Damit lässt er ein Handeln, was ihn aufheben will, scheinbar unmöglich werden: Innerhalb des Kapitalismus ist ein großer Handlungs- und Innovationsspielraum vorhanden; doch aus dieser Bewegung heraus scheint der Weg verstellt. Unter Berücksichtigung 64

65

Das heißt nicht, dass etwa der Kampf um mehr Lohn sinnlos wäre, und dass durch solche Verhandlungen nicht etwas verändert und auch verbessert werden könnte, was eine konkrete Verbesserung bedeuten kann. Es heißt aber, dass Ausbeutung ein Strukturmerkmal des Kapitalismus ist, das Marx zufolge auf der Produktion für einen Markt beruht, die in der Produktionsweise nach „doppelt freien Arbeitern“ verlangt. Dies Verhältnis ist in der Arbeits- Wert- und Warenform des Kapitalismus selbst impliziert. Vgl. Raymond Geuss, „A Metaphysics of Right“, S. 47f.

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dieser Voraussetzungen, und darauf will ich in dieser kursorischen Lektüre des Kapitals hinaus, muss damit Befreiung, d.h. bei Marx Kommunismus, keinesfalls als „unvermeidlich“ (MEW 4, 474) sondern vielmehr als unmöglich bezeichnet werden; alles scheint der Macht der Wiederholung unterworfen. Wenn Marx also an seinem Vorhaben festhält, einen Weg aus dem Kapitalismus heraus zu denken, dann muss diese Diagnose der Handlungsvoraussetzungen Konsequenzen für seine Konzeption von Praxisvollzügen haben, die auf die Aufhebung des Kapitalismus gerichtet sind. Die Frage, die entsprechend in der weiteren Lektüre von Marx gestellt werden soll, ist, wie unter der Bedingung einer sich selbst verewigenden und menschliche Handlungen überformenden Struktur ein befreiendes oder gar freies Handeln überhaupt gedacht werden kann, und welche spezifischen Qualitäten ein solches Handeln auszeichnet.

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„Nach der Tragödie kommt die Farce“: Vom Kapital zum Achtzehnten Brumaire Die Macht der Wiederholung, die sich in der Kapitalbewegung manifestiert, fordert also bestimmte Handlungsweisen, und schränkt andere ein. Jede Form des Widerstands, deren Handlungsabsicht letztlich in der Überwindung des Kapitalismus liegt, steht nach Marx’ Analyse einem so ungleich mächtigeren Gegner gegenüber, dass Widerstand beinahe aussichtslos erscheint. Doch auch die Kapitalbewegung, die Menschen als fremde Macht gegenübertritt, ist eine Struktur kollektiver Praxisvollzüge; zwar scheint sie unveränderbar, dennoch beruht sie letztlich auf dem Tun von Menschen. Im Achtzehnten Brumaire nun widmet Marx sich eben diesem menschlichen Tun. Die scheinbar selbsttätige Dynamik der Ökonomie wird hier mit der kapriziösen (wenn auch auf erstere angewiesenen) Dynamik politischen Handelns ergänzt. Gegenstand der Diskussion im Achtzehnten Brumaire ist die gescheiterte Revolution von 1848 in Frankreich, unter die 1852 mit dem Staatsstreich Louis Bonapartes ein Schlusstrich gezogen wird. Es geht Marx sowohl generell um die Frage, wie wir tätig sind, wenn wir revolutionieren, als auch darum, spezifische Gründe für das Scheitern der 1848 Revolution zu bestimmen.66 Was den Achtzehnten Brumaire im Zusammenhang der Frage nach Freiheit und Wiederholung relevant werden lässt ist erstens, dass Marx aus seiner Reflektion über eine historisch spezifische, gescheiterte Revolution theoretische Schlüsse darüber zieht, wie

66

Marx’ Schrift ist Hauke Brunkhorst zufolge „einer der wichtigsten Texte zur Theorie und Geschichte moderner Revolutionen“ überhaupt. Hauke Brunkhorst, „Kommentar“, S. 137.

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demnach eine ‚gelingende‘ Revolution verfahren müsste; eine politische Praxis also, deren Ziel sich unter der Voraussetzung, dass der Kapitalismus als selbsttätige Wiederholungsschleife verstanden werden muss, als unmöglich herausstellt. Zweitens formuliert Marx eben diese theoretischen Überlegungen im Hinblick auf die Wiederholung. Als Handelnde stehen wir stets in einem sozialen und historischen Zusammenhang mit anderen Handelnden, sowohl mit Handelnden der Gegenwart als auch der Vergangenheit. Marx beschreibt diesen Zusammenhang als Wiederholung; politisches Handeln befinden sich Marx zufolge somit grundsätzlich im Bannkreis der Wiederholung. Auf den ersten, theoretisch dichten Seiten des Brumaires unterscheidet Marx drei verschiedene Weisen, in denen wir in unserem Handeln wiederholen. Diese drei Wiederholungen unterscheiden sich allerdings erheblich in ihrer Wirkungsweise: Marx zufolge können Wiederholungen moderate gesellschaftliche Fortschritte herbeiführen, Rückschritte etablieren, oder aber radikale gesellschaftliche Transformation erwirken. Diese letzte Wiederholungsbewegung, von Marx als „soziale Revolution des 19. Jahrhunderts“ bezeichnet, konzipiert er als eine Praxisform, die einem Vorhaben angemessen ist, dessen Gelingen aller Wahrscheinlichkeit nach ausgeschlossen werden kann.67 Diese Wiederholungsform ist mit Blick auf die Frage der vorliegenden Studie daher von besonderem Interesse. Die den Text einleitenden theoretischen Reflexionen über Chancen und Probleme der Revolution entwickelt Marx nicht nur mit Blick auf ihr Verhältnis zur Wiederholung, sondern auch unter steter Bezugnahme auf Begriffe aus dem Bereich des Theaters. Bezugnahmen auf Theater und Literatur ziehen sich zwar durch Marx’ gesamtes Werk, sind aber im Achtzehnten Brumaire besonders prominent: Der Text selbst liest sich stellenweise wie ein Bühnenstück; Kostüme werden geliehen, Charaktere dargestellt, Phrasen rezitiert und Geschichte auf der Bühne aufgeführt, mal die Weltgeschichte als Komödie, mal die Komödie als Weltgeschichte ausgefasst.68 Im Hinblick auf literarische Gattungen unterscheidet Marx die drei von ihm aufgemachten Wiederholungsweisen folgendermaßen: Die gemäßigt-progressive Revolution beschreibt er als Tragödie; die Konterrevolution als Farce. Die „soziale Revolution des 19. Jahrhunderts“ wiederum, die für eine radikale Transformation des Gegebenen steht, ist zwar von Elementen des Komischen durchzogen, ihr kommt aber interessanterweise (noch) keine eigentliche, bestimmbare Form zu. Marx bezeichnet sie als „Poesie [...] aus der Zukunft“. (MEW 8, 117) 67 68

Hier ist dies die Aufhebung des Kapitalismus. Vgl. Hauke Brunkhorst, „Kommentar“, S. 144.

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Der Achtzehnte Brumaire beginnt mit Hegel, genauer, mit dessen Bemerkung „daß alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen.” (MEW 8, 115) Durch ihre Wiederholung, so Hegel, können historische Ereignisse „im Darfürhalten der Menschen sanktioniert“ werden – „Durch die Wiederholung wird das, was im Anfang nur als zufällig und möglich erschien, zu einem Wirklichen und Bestätigten.“69 Bestimmte Ereignisse, so Hegel in seiner Philosophie der Weltgeschichte, müssen zum zweiten Mal geschehen, damit ihr Ergebnis sich als nicht nur zufällig eingetreten erweist (oder gar als ein Versehen, ein willkürlicher Ausrutscher), sondern als notwendig. Nur als notwendiges Ereignis wiederum kann es auch allgemeine Anerkennung und Akzeptanz finden. Die Vernunft in der Geschichte, die Entfaltung und Verwirklichung von Freiheit, setzt sich Hegel zufolge allmählich durch. Aufgabe der Wiederholung ist es, uns diesen kontinuierlichen Fortschritt erkennen und verstehen zu lassen. Marx’ Kritik und sein eigener Ausgangspunkt setzt hier an: Hegel habe zwar bemerkt, dass sich alles zweimal ereignen müsse, habe aber „vergessen hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.“ (MEW 8, 115) Für Marx ist nicht jede Wiederholung begrüßenswert; und letztlich kann Freiheit, wie sich herausstellen wird, nur mithilfe eines Bruchs in der Hegelschen Kontinuität gedacht werden. Dass es sich bei der Wiederholung unter Umständen auch um eine Farce handeln kann, die der Tragödie folgt, hat Marx zuerst bei Heinrich Heine lesen können; hier liegt die zweite Quelle des Grundgedankens des Achtzehnten Brumaires:70 „Ihr meint, wir könnten jetzt nach Hause gehn? Bei Leibe! es wird noch ein Stück aufgeführt. Nach der Tragödie kommt die Farce.“71 Heine hatte diese Formel in Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland im Rahmen seiner spöttischen Kritik an Kant aufgestellt. Kant wiederum hatte in seiner Kritik der reinen Vernunft die zeitgenössischen Gottesbeweise kritisiert und argumentiert, dass die Existenz Gottes nicht bewiesen werden könne. Diese radikale Beschränkung des Denkens über und mit Gott durch Kants theoretische Philosophie war für einige – darunter auch Kants Diener Lampe  – eine Tragödie. In seiner Kritik der praktischen Vernunft, so Heine, wiederholt Kant darum seine Beschäftigung mit dem Gottesbeweis „und zeigt, daß er nicht blos ein großer Philosoph, sondern auch ein guter Mensch ist, und er überlegt, und halb gutmüthig und halb ironisch spricht er: ‚der alte Lampe

69 70 71

G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 380. Vgl. Paul-Laurent Assoun, Marx et la répétition historique, S. 71f. Heinrich Heine, „Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland“, S. 201.

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muß einen Gott haben, sonst kann der arme Mensch nicht glücklich seyn – der Mensch soll aber auf der Welt glücklich seyn – das sagt die praktische Vernunft – meinetwegen – so mag auch die praktische Vernunft die Existenz Gottes verbürgen‘.“72 So lässt Kant Heine zufolge „den Leichnam des Deismus” wiederauferstehen und verwandelt damit zugleich die Tragödie, die sich für Kants Diener Lampe aus dem Verlust Gottes ergeben hatte, in eine Farce. Die Farce ist hier nicht darin auszumachen, dass Kant seine Beschäftigung mit dem Gottesbeweis wiederholt, sondern wie, unter welchen Vorzeichen bzw. zu welchem Zweck: Die Wiederholung als Revision wird hier zur Regression in althergebrachte, zuvor aus eigenen Kräften überwundene Denkformen; Gott wird wiedereingeführt, um in praktischer Absicht für die Sicherung der Moral zu sorgen. Dieser Effekt der Wiederholung ist eins der Probleme, denen sich Marx im Achtzehnten Brumaire widmet: Die Wiederholung läuft stets Gefahr, zu einer Farce zu werden, bereits erreichte Fortschritte rückgängig zu machen oder ein bestehendes Defizit im Leerlauf zu stabilisieren. Das Verhältnis der Menschen zu ihrer Geschichte erweist sich in dem Moment, in dem sie über eine gegebene Ordnung hinausgehen und mit ihr brechen wollen, neues schaffen wollen, als eminent problematisch. Hegel hatte es sich mit seiner Konzeption geschichtlicher Entwicklung zu einfach gemacht. Handlung und Geschichte Grundlegend für Marx’ Verständnis revolutionären Handelns im Achtzehnten Brumaire ist seine Aufmerksamkeit dafür, wie Handeln von vorgefundenen Gegebenheiten geprägt wird, und dass ein wichtiger Aspekt hierbei unser Verhältnis zur Vergangenheit ist. Unsere Geschichte und gegenwärtige gesellschaftliche Ordnung bestimmen die Voraussetzungen, unter denen überhaupt irgendetwas getan werden kann. Sie bieten zugleich Möglichkeiten für Handlungen und zeigen menschlichem Tun Grenzen auf, sowohl konkretmateriell, als auch die menschliche Imaginationskraft betreffend. Handelnde können demnach nie ohne weiteres frei etwas ganz Neues beginnen, sich neu entwerfen – so die Bestandsaufnahme zu Beginn des Achtzehnten Brumaires: Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. (MEW 8, 115) 72

Ibid., S. 201f.

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Die Freiheit zum ‚Machen‘ der Geschichte, zur zweckgeleiteten Handlung, die die Geschichte in eine andere Richtung lenkt, Neues hervorbringt bzw. ihr eine insgesamt neue Gestalt gibt, wird also beschränkt durch die vorangegangene und vorgefundene Tradition, die Hintergrund und Voraussetzung jeder Handlung darstellt. Dass menschliches Handeln in einem historischen und gesellschaftlichen Zusammenhang verortet ist, mag zunächst keine sehr kontroverse Feststellung sein – auch wenn sie oft zu wenig Beachtung in unserer Konzeption politischen Handelns findet. Interessant ist allerdings der Modus der Verbindung, der Marx zufolge zwischen dem Überlieferten und den heutigen Menschen, den Handelnden besteht: „Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden“, so Marx. (MEW 8, 115) Was sagt uns diese Formulierung über mögliche Probleme, die sich aus dem fortwährenden Wirken der Geschichte ergeben? Ein Alp ist ein Dämon, ein Elf, dessen bekannteste Eigenschaft es ist, Alpträume hervorzurufen.73 Wenn nun die Vergangenheit „wie ein Alp“ auf den Handelnden lastet, schränkt sie diese entsprechend in ihrer Handlungsfreiheit ein: ähnlich wie der Alp die Träume der Schlafenden hervorruft, bestimmt die Vergangenheit den Handlungsraum der Menschen, indem er auf ihre Vorstellungskraft einwirkt. Letztere befinden sich nicht nur in einem unvermeidlichen Zusammenhang mit der Vergangenheit, finden in ihr nicht nur ihre Ausgangsvoraussetzungen vor; sie werden durch diese Vergangenheit unwillentlich und unwissentlich geprägt und in ihrem Tun beeinflusst, in ihrer Bewegung beschränkt. Dabei ist der direkte körperliche Zugang wichtig, den der Alp als Verbindungmodus von Tradition und Handelnden suggeriert: Ein Alp setzt sich auf den Brustkorb Schlafender und lässt ihnen das Atmen schwer werden („Alpdruck“) – in manchen Überlieferungen steckt er den Schlafenden seine Zunge in den Rachen, beengt sie also nicht nur von außen sondern dringt in sie ein. Dies Vorgehen ermöglicht dem Alp einen unmittelbaren Zugang zu unseren Körpern, unseren Leben, unserer Existenz – er bestimmt unsere Imagination. Ein Alp ruft Alpträume hervor. Auf die Tradition übertragen heißt das bei Marx nicht nur, dass ein Handeln aus ganz „freien Stücken“ unmöglich ist, sondern dass darüber hinaus die Tradition, unsere Geschichte, in Form überlieferter, vorgefertigter Stücke wiederkehrt, als Stücke, die sich genau im Moment der Handlungsunfähigkeit an die Stelle bisheriger Intentionen setzen und auf ihre eigene ‚Wiederaufführung‘ drängen. Dieser Effekt der Tradition wiegt besonders in solchen Momenten schwer auf 73

Dabei ist interessant, dass Träume, und besonders Alpträume, tatsächlich häufig einen repetitiven Charakter aufweisen. Hier gilt, was Freud für die zwanghafte Wiederholung von Kriegstraumata in Träumen sagt: wir wiederholen so lang, bis wir einen Weg gefunden haben, mit der Vergangenheit umzugehen und uns von ihr zu verabschieden.

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Handelnden, wenn sie versuchen, etwas neues zu tun. In Marx’ Beispiel ist das eine gesellschaftliche Transformation, die Kapitalismus aufhebt und in einen kommunistischen „Verein freier Menschen“ umorganisiert. Wie sich aus seiner Analyse des Kapitalismus ergab, ist Kommunismus als Handlungsziel unter gegebenen Umständen eine Unmöglichkeit, und muss als praxisgeleitete Bewegung der Aufhebung ohne konkrete Utopie zugleich als radikal unbestimmt verstanden werden. Auf ein solches Handlungsziel hinzuwirken, was im strengen Sinne kein Handlungsziel sein kann, verkompliziert unser Verhältnis zur Intentionalität – ein konkretes sinnstiftendes Narrativ, wie es vom Alp der Tradition vorgegeben wird, kann insofern eine willkommene Erleichterung angesichts der Unsicherheit und Aussichtslosigkeit der eigenen Handlungen bieten, wie ich im Folgenden zeigen werde. Eben diese Erleichterung jedoch ist es, die dazu führt, dass Handelnde es nicht vermögen, sich von der Vergangenheit zu verabschieden. Es besteht also die Gefahr, dass Menschen nicht nur ihre eigene Geschichte nicht losgelöst von ihrer Vergangenheit machen können, sondern darüber hinaus, wenn sie einen Schritt aus der bisherigen Ordnung heraus tun wollen, stattdessen dazu neigen, ihre eigene Vergangenheit erneut aufzuführen. Tatsächlich gilt für alle bisher dagewesenen Revolutionen, so Marx, dass ihre Akteure, „wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, […] ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste“ heraufbeschworen.74 In dem Moment, in dem die Revolutionäre das Neue in Angriff nehmen wollen, stellt sich demzufolge eine fundamentale Unsicherheit ein, ein Zurückscheuen angesichts der Unbestimmtheit desjenigen, was sie hervorbringen wollen. In der Wiederholung von konkreten Elementen (Sprache, Kostüme, Symbole, Habitus etc.) vergangener Revolutionen suchen sie deshalb eine Rückversicherung: Was in der Vergangenheit bereits einmal möglich war und funktioniert hat – die revolutionäre Umwälzung – scheint den Revolutionären in ihren Verkleidungen wiederholbar. Das Schaffen des „noch nicht Dagewesenen“, des Neuen, verliert über diese Art der Wiederholung zwar seinen Schrecken. Gerade durch diese Wirkung kann die Wiederholung allerdings das Neue zugleich verunmöglichen, indem sie zur Unterbietung der eigenen Ziele, zur Erhaltung des status quo führt oder gar in Rückschritt mündet. Die im Achtzehnten Brumaire unterschiedenen Arten der Wiederholung, die jeweils Ansätze zu einer Theorie der bürgerlichen Revolution, der Konterrevolution und der kommunistischen bzw. sozialen Revolution bieten, werden 74

Dabei leihen sie sich von ihnen „Namen, Schlachtparole, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neue Weltgeschichtsszene aufzuführen.“ (MEW 8, 115)

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nicht nur anhand literarischer Gattungen unterschieden, sondern auch anhand ihres Umgangs mit Geschichte. Ihre unterschiedlichen Umgangsweisen mit Tradition und ihre jeweiligen Modi der Transformation sind Thema der nachfolgenden Überlegungen. Marx unterscheidet grundsätzlich zwischen „kostümierten“ und „unkostümierten“ Wiederholungen, d.h. zwischen Wiederholungen, die konkrete Ereignisse der Geschichte wiederholen, und solchen, die dies nicht tun. Für den dritten Typus der Revolution, die nicht-kostümierte „soziale Revolution des 19. Jahrhunderts“, nennt Marx kein historisches Beispiel, denn sie hat bisher nicht stattgefunden, bzw. befindet sie sich derzeit im Werden. Zugleich kann diese Form politischer Praxis nicht mehr auf Wiederholungen konkreter Konstellationen oder Ideen zurückgreifen. Sie ist als diejenige Wiederholung konzipiert, die aus dem Bannkreis der Vergangenheit auszubrechen vermag, die also keine vom Alp der Tradition geprägte Entwicklung, keine Fortführung der vorgefundenen Reihe von Begebenheiten mehr sein soll. Die „Toten ihre Toten begraben“ zu lassen und sich dem Druck der Tradition zu entsagen (MEW 8, 117) – ein spezifischer Umgang mit und Loslösung von der Vergangenheit – ist Voraussetzung für das Erreichen eines Handlungsziels, was sich als unmöglich herausgestellt hat. Die ersten beiden Wiederholungstypen wiederum beschreibt Marx als „kostümiert“, da sich in ihnen deutlich Rückgriffe auf die Symboliken früherer, vergangener Revolutionen ausmachen lassen. Hier lastet die Tradition tatsächlich wie ein Alp auf den Revolutionären, wenn auch in unterschiedlicher Weise und mit unterschiedlicher Wirkung. Sowohl die Französische Revolution als auch die Februarrevolution werden von Marx als kostümiert beschrieben: Während die Französische Revolution die Römische Republik zitierte, gerierte sich die Februarrevolution als Französische Revolution. Allerdings gehen beide auf ganz verschiedene Weise mit diesen Kostümen um, d.h. mit ihrem jeweiligen Bezug zur / Zitation der Vergangenheit. Der entscheidende Unterschied zwischen beiden „weltgeschichtlichen Totenbeschwörungen“ liegt Marx zufolge darin, dass die Französische Revolution mithilfe ihrer kostümierten Wiederholung die „Aufgabe ihrer Zeit“ vollbrachte, während dies bei den Ereignissen von 1848 nicht der Fall war. (MEW 8, 115f.) Entsprechend nimmt die kostümierte Wiederholung im ersten Fall die Form einer Tragödie an, im zweiten Fall stellt sie sich jedoch als Farce dar. Kostümierte Wiederholung I (1789–1814): Tragödie Das Modell der kostümierten Wiederholung als Tragödie entwickelt Marx am Beispiel der Französischen Revolution, in deren Verlauf verschiedene Akteure bzw. Gruppen mit unterschiedlichen Interessen aktiv waren. Gemeinsam

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waren ihnen Ziele wie die Aufhebung der Feudalherrschaft, die Einführung von Menschen- und Bürgerrechten und von Gewaltenteilung – diese Ziele konnten allerdings sowohl im Rahmen einer konstitutionellen Monarchie als auch einer demokratischen Republik nach Rousseau’schem Entwurf vorgestellt werden. Es vereinten sich in der Französischen Revolution also unterschiedlich radikale Strömungen (bzw. lösten sich gegenseitig ab), die zwar einen gemeinsamen Gegner in Ludwig XVI, aber nicht immer gemeinsame Ziele hatten. Im Verlauf der Revolution folgte auf den Sturm auf die Bastille und die Erklärung der Menschenrechte 1789 zunächst eine Phase der konstitutionellen Monarchie, dann – als Reaktion auf die drohende Konterrevolution – die Gründung der ersten Französischen Republik. In verschiedenen Stufen wird jeweils die gegenwärtige durch die nächst progressivere abgelöst und aufgehoben – die „Herrschaft der Konstitutionellen“ durch die der Girondins, die der Girondins wiederum durch die der Jakobiner. Sobald sie die Revolution so weit geführt haben, wie sie können, „wird sie von dem kühneren Verbündeten, der hinter ihr steht, beiseite geschoben und auf die Guillotine geschickt. Die Revolution bewegt sich so in aufsteigender Linie“ (MEW 8, 135). Es handelt sich um eine Entwicklung, die zunächst von zahlreichen, unerwartet großen und schnell aufeinanderfolgenden Erfolgen gekennzeichnet ist, die den Enthusiasmus der Revolutionäre befeuern. Bürgerliche Revolutionen, wie die des achtzehnten Jahrhunderts, stürmen rascher von Erfolg zu Erfolg, ihre dramatischen Effekte überbieten sich, Menschen und Dinge scheinen in Feuerbrillanten gefaßt, die Ekstase ist der Geist jedes Tages; aber sie sind kurzlebig, bald haben sie ihren Höhepunkt erreicht, und ein langer Katzenjammer erfaßt die Gesellschaft, ehe sie die Resultate ihrer Drang- und Sturmperiode nüchtern sich aneignen lernt. (MEW 8, 118) Die Französische Revolution hatte sich den Ideen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit verschrieben. Die Realisierung dieser Ideen wäre einem radikalen Neuanfang gleichgekommen – um sich also dies Ziel als erreichbares vorzustellen, suchte sie Inspiration und Rückversicherung in den Kostümen und Parolen der Römischen Republik, als deren Wiederholung sie sich verkleidete. Die eigentliche Errungenschaft der Französischen Revolution war es jedoch, so Marx, „den feudalen Boden in Stücke“ geschlagen und „die feudalen Köpfe, die darauf gewachsen waren“, abgemäht zu haben; Napoleon wiederum schaffte „im Innern von Frankreich die Bedingungen, worunter erst die freie Konkurrenz entwickelt“ und die Produktivkräfte entfesselt werden konnten,

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ebenso wie er im restlichen Europa die Abschaffung des Feudalismus beförderte. (MEW 8, 116) Als Endpunkt und (retrospektiv) eigentliches Ziel dieser Entwicklung setzt sich demnach ein weitaus gemäßigteres als das zunächst angestrebte durch: die bürgerliche Gesellschaft. Die in politischer Hinsicht wechselhaften und betriebsamen revolutionären Aktivitäten wurde durch Napoleon zugleich stabilisiert und beendet bzw. transformiert: Auf die „römische Republik“ folgt die Verkleidung als „römisches Kaisertum“ (MEW 8, 115); auf die Phase der „Feuerbrillanten“ die des „Katzenjammers“ und der „nüchternen Aneignung“. (MEW 8, 118) Anstatt des proklamierten Ziels realisiert sich durch die Handlungen der Revolutionäre hindurch, ihnen zunächst unbewusst, ein anderes Ziel. War dieses neue, unbewusste Ziel – die Abschaffung des Feudalismus und die Durchsetzung der bürgerlichen Gesellschaft – erst einmal erreicht, „verschwanden die vorsündflutlichen Kolosse und mit ihnen das wieder auferstandene Römertum“ unverzüglich. Alles fand sich „ganz absorbiert in die Produktion des Reichtums und in den friedlichen Kampf der Konkurrenz“, so dass die Phrasen und Kostüme, derer sich zuvor bedient wurde, schlicht vergessen wurden. Die Revolutionäre „vollbrachten in dem römischen Kostüme und mit römischen Phrasen die Aufgabe ihrer Zeit, die Entfesselung und Herstellung der modernen bürgerlichen Gesellschaft.“ (MEW 8, 115f.) Die radikalen Losungen der Französischen Revolution – Liberté, Égalité, Fraternité – wurden in Gestalt von „Freiheit, Gleichheit, Eigentum, und Bentham“ in der Sphäre der Zirkulation des Kapitals verwirklicht. (MEW 23, 189) Freiheit wird also vom noblen Ideal zur banal-bösen „doppelten Freiheit“ des Arbeiters, frei von feudalen Machtverhältnissen, aber eben auch frei von Besitz, der ihm materielle Unabhängigkeit verleihen würde. Die bürgerliche Gesellschaft selbst ist Marx zufolge grundsätzlich unheroisch und nüchtern. Da aber die französische Gesellschaft vor 1789 noch weit davon entfernt war, bürgerlich zu sein, hatte es zu ihrer Umformung in eine bürgerliche Gesellschaft dennoch des Heroismus bedurft. Die Akteure mussten durch die Selbsttäuschung über den Charakter ihrer eigenen Taten eine heroische Haltung zu ihrem Vorhaben entwickeln, „um den bürgerlich beschränkten Inhalt ihrer Kämpfe [vor] sich selbst [...] verbergen und ihre Leidenschaft auf der Höhe der großen geschichtlichen Tragödie zu halten.“ (MEW 8, 116) Allein für die beschränkten Ergebnisse, die die Französische Revolution letztlich hervorgebracht hat – so lässt sich diese Passage wohl verstehen – hätte es kaum einen Revolutionär auf die Barrikaden getrieben. Hierzu brauchte es den Glanz vergangener Epochen, die Vorstellung einer neuen römischen Republik. Durch die imaginierte Wiederholung alter Kämpfe und mit geborgten Kostümen, mit denen sich die Revolutionäre ihre Kämpfe zu „verherrlichen“ und „übertreiben“ wussten, erledigten sie vielmehr unwissentlich und unwillentlich, was zu

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vollbringen Marx zufolge an der Zeit war – „hier ging die Phrase über den Inhalt“ hinaus. (MEW 8, 117) Der Versuch, die Ideale von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu verwirklichen, scheitert zwar tragisch, aber zugleich auch notwendig – erst durch dies Scheitern hindurch wird sozusagen qua „List der Vernunft“ die bürgerliche Gesellschaft gegenüber dem Feudalismus durchgesetzt. Inwiefern entspricht diese Entwicklung nun der Form einer Tragödie? Mit Hegel kann das Thema der Tragödie als das „Göttliche in seiner weltlichen Realität“ beschrieben werden: das „Sittliche“.75 Sittlichkeit wiederum ist bei Hegel die sich in der Welt verwirklichende Idee von Freiheit.76 Im tragischen Konflikt, so Hegel, stehen sich zwei Formen der Sittlichkeit gegenüber, die beide berechtigt sind und deren Konfrontation deshalb notwendig zu einem Konflikt führen muss. Das „ewig Substantielle“, die bestehende Ordnung, soll aus diesem Konflikt „in versöhnender Weise siegend“ hervorgehen, „indem es von der streitenden Individualität nur die falsche Einseitigkeit abstreift, das Positive aber, was sie gewollt, in seiner nicht mehr zwiespältigen, affirmativen Vermittlung als das zu Erhaltende darstellt.“77 Die Tragödie besteht also aus einem Konflikt zweier berechtigter sittlicher Ansprüche, von denen der herrschende den Sieg davonträgt, dies aber qua Versöhnung tut, indem Teile der besiegten Konfliktpartei übernommen werden. Wenn also der sittliche Gehalt des Konflikts im obigen Beispiel in der Durchsetzung der bürgerlichen Gesellschaft lag, so sind die höheren oder radikaleren sittlichen Forderungen nach Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und nach einer Republik im Laufe der Entwicklung des Konflikts bis zu Napoleon entsprechend als „falsche Einseitigkeiten“ abgestreift worden. Vom konkreten Beispiel der Französischen Revolution gelöst, sieht das sich hier ergebende Handlungs-Wiederholungs-Modell etwa so aus: Die Akteure bringen in ihrem Handeln ein zwar schwieriges, aber durchaus erreichbares Ziel zustande; eine Veränderung, die an der Zeit ist. Dieser eigentliche, beschränkte Inhalt ihrer Handlungen ist ihnen selbst jedoch nicht bewusst – durch die Überzeichnung dieses Inhalts mithilfe der Wiederholung

75 76

77

G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III, S. 522. „Die Sittlichkeit ist die Idee der Freiheit, als das lebendige Gute, das in dem Selbstbewußtsein sein Wissen, Wollen und durch dessen Handeln seine Wirklichkeit, so wie dieses an dem sittlichen Sein seine an und für sich seiende Grundlage und bewegenden Zweck hat, – der zur vorhandenen Welt und zur Natur des Selbstbewußtseins gewordene Begriff der Freiheit.“ G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, §142, S. 292 G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III, S. 527.

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historischer Phrasen und Kostüme gewinnen sie den zur Erreichung dieses beschränkten Ziels nötigen Enthusiasmus. Diese überzeichneten und imaginierten Ziele werden mit der Etablierung der gemäßigten Ergebnisse der Bewegung nach und nach aufgegeben, die Wiederholung weicht der nüchternen Aneignung desjenigen Anteils, der realisiert werden konnte. Das ursprüngliche Ziel wird hier also nicht aufgegeben, um eine grundsätzlich andere Richtung einzuschlagen, sondern um eine Versöhnungsbewegung möglich zu machen, indem das ursprüngliche Handlungsziel abgeschwächt und in die gegebene Ordnung integrierbar gemacht wird. Mit der Vergangenheit wird nicht gebrochen, sondern sie wird in veränderter Form weitergeschrieben. Marx beschreibt die Rolle der Wiederholung hier auch als Übersetzung: Indem die aktuellen Ereignisse der Französischen Revolution in diejenigen der Römischen Republik übersetzt werden, wird den Akteuren der Französischen Revolution ihr eigenes Handeln verständlich und lesbar. Die Wiederholung als Übersetzung in bereits Bekanntes ermöglicht hier die Aneignung einer neuen Sprache, das Erlernen einer neuen Ordnung. Die Wiederholung ist in dieser Bewegung zwar beschränkend, insofern sie eine Rückbindung an die Tradition bedeutet und in eine Vermittlung und Versöhnung mit der gegebenen Ordnung mündet. Dennoch ermöglicht sie zugleich die Durchsetzung einer zumindest moderaten, vermittelten Neuerung. Kostümierte Wiederholung II (1848–51): Farce Die Französische Revolution wiederholte also, ist aber ihre geborgten Kostüme und Phrasen rechtzeitig losgeworden, um ihren eigenen („bürgerlich beschränkten“) Inhalten zu erlauben, sich aus dieser Wiederholung heraus zu entwickeln. Die Wiederholung von Elementen der Römischen Republik half ihr, sich inspirieren und motivieren zu lassen und den für die anstehende Umwälzung notwendigen Heroismus zu generieren. Die Totenerweckungen in jenen Revolutionen diente also dazu, die neuen Kämpfe zu verherrlichen, nicht die alten zu parodieren, die gegebene Aufgabe in der Phantasie zu übertreiben, nicht vor ihrer Lösung in der Wirklichkeit zurückzuflüchten, den Geist der Revolution wiederzufinden, nicht ihr Gespenst umgehen zu lassen. (MEW 8, 116) Der Februarrevolution von 1848 gelingt Marx zufolge dieser produktive Umgang nicht, vielmehr wirkt sich ihr Rückgriff auf die Wiederholung fatal aus. Damit, dass sie die Französische Revolution wiederholt – von Marx wird diese

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Wiederholung als „Parodie“ bezeichnet – erweckt sie eben gerade nicht ihren eigenen revolutionären Geist und setzt nicht ihre eigenen revolutionären Inhalte durch. Vielmehr verselbstständigt sich mit dieser Wiederholung das Gespenst Napoleons, sein Neffe Bonaparte. Damit ist die Revolution von 1848 Marx’ Beispiel dafür, dass der Wiederholung eine konservative Wirkung zukommen kann, in der die Vergangenheit wiederbelebt wird. Die Revolution als Form des Neuen, so fasst es Alenka Zupančič, dient hier nur dazu, „den selben bürgerlichen Inhalt erfolgreich zu perpetuieren.“78 Erklärtes Ziel der Februarrevolution war zunächst die Wiederherstellung der 1792 ausgerufenen Republik. Mit dem Sturz des Bürgerkönigs sollte nicht nur über die Monarchie und das Kaisertum hinausgegangen werden, sondern auch die „Finanzaristokratie“ entmachtet und die Restauration des Adels verhindert werden. (MEW 8, 120) Obschon nicht annähernd so radikal wie ihr Vorbild, könnte die Februarrevolution dennoch zunächst als eine zwar limitierte, aber durchaus geglückte Wiederholung erscheinen: zurück zu den sozialen und demokratischen Ideen der ersten Republik, damit also zurück zu den höheren, radikaleren Zielen, die in der Konsolidierungsphase der Französischen Revolution gegen gemäßigtere eingetauscht worden waren. Allerdings, und hierin liegt grundsätzlich der Umschlag von der Tragödie in die Farce begründet, entspricht ein solches Zurück zum Ausgangspunkt der ersten Republik nicht der Aufgabe, die sich der Gegenwart stellt. Aufgabe der Zeit um 1848 ist Marx zufolge nicht die Verbesserung sondern vielmehr die Überwindung der bürgerlichen Gesellschaft – Voraussetzung dafür, dass „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ tatsächlich existieren können. Die „Bürgerliche Monarchie“ wurde 1848 durch eine Allianz aus Proletariat und Bourgeoisie gestürzt, und nach dem Niederschlagen der Juni-Insurrektion des Proletariats die Zweite Republik ausgerufen – damit wurde bewusst die Ausrufung der Ersten Republik durch die Französische Revolution wiederholt. Bereits hier lässt sich klar erkennen, dass nicht nur die Phrasen, sondern auch die Inhalte geborgt werden: Man will zurück zur Französischen Revolution und zur Republik, anstatt Neues zu schaffen. Die revolutionären Handlungen verlieren hier ihre „produktive Eigenschaft, Neues hervorzubringen,“ so Brunkhorst.79 Damit aber verliert die Revolution ihr revolutionäres Potential, das Vermögen, gesellschaftliche Veränderungen hervorzubringen, und stellt sich letztlich als Konterrevolution heraus. Deutlicher noch wird dies mit dem anschließenden Staatsstreich 1851, der Ernennung Louis Napoleons zum Kaiser der Franzosen und der Errichtung des Zweiten Kaiserreichs als Nachfolger der 78 79

Alenka Zupančič, The odd one in, S. 151. Hauke Brunkhorst, „Kommentar“, S. 213.

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Am 2. Dezember wird die Februarrevolution eskamotiert durch die Volte eines falschen Spielers, und was umgeworfen scheint, ist nicht mehr die Monarchie, es sind die liberalen Konzessionen, die ihr durch jahrhundertlange Kämpfe abgetrotzt waren. Statt daß die Gesellschaft selbst sich einen neuen Inhalt erobert hätte, scheint nur der Staat zu seiner ältesten Form zurückgekehrt, zur unverschämt einfachen Herrschaft von Säbel und von Kutte. (MEW 8, 118)

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Zweiten Republik – und ihm selbst als Wiederholung Napoleon Bonapartes. Anstatt in heroischer Überformung unbewusst auf die eigenen, gemäßigtprogressiven aber der Zeit angemessenen Ziele hin zu handeln, wird eine Farce aufgeführt, die in Stagnation und Rückschritt führt.

Unter der Herrschaft von Louis Napoleon wurden nicht die „eigentlichen Ziele“ der Revolution von 1848 etabliert – denn diese Revolution hätte nach Marx ja bereits eine kommunistische sein sollen –, sondern im Gegenteil der Rückfall der Gesellschaft noch hinter die meisten Errungenschaften der Französischen Revolution durchgesetzt. Anstatt sich in „aufsteigender Linie“ zu bewegen, so scheint es, hat sich mit Bonaparte entsprechend eine absteigende oder zumindest stagnierende Linie etabliert. Während der Schritt von der Republik zum Kaiserreich im Falle der Französischen Revolution tragisch war, ist in der Februarrevolution und der Wiederholung des Onkels durch den Neffen lediglich noch eine Farce auszumachen. Es sind vor allem drei Elemente, die Bonapartes coup de tête und seine nachfolgende Herrschaft als Farce erkennbar werden lassen: Die Abwesenheit von substantiellen Inhalten, die sich überstürzenden Ereignisse, und die Verwechslung, um die sich die Handlung konstituiert.80 In der Wiederholung von 1848-1851 findet sich keine Übertreibung von Inhalten, sondern es herrscht eine fundamentale Inhaltsleere vor. Aus dieser Inhaltsleere heraus, die bestenfalls auf einen zuvor bereits einmal erreichten Entwicklungspunkt hätte zurückführen können, gelang schließlich Louis Bonaparte der Staatsstreich und 1851 die Wiedereinführung des Kaiserreichs, womit er Frankreich „in eine verstorbene Epoche zurückversetzt.“ (MEW 8, 117) ‚Verwechselt‘ werden hier natürlich Onkel und Neffe, Napoleon und Bonaparte. Louis Bonaparte wird von Marx als „ernsthafter Hanswurst“ bezeichnet, der „nicht mehr die Weltgeschichte als eine Komödie, sondern seine Komödie als Weltgeschichte“

80

Zur Charakterisierung der Farce siehe Ute Drechsler, Die ‚absurde Farce‘ bei Beckett, Pinter und Ionesco, S. 21.

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verstand. (MEW 8, 161) Was Bonaparte so erfolgreich werden lässt, ist, dass er seine Rolle als Schauspieler und Regisseur beherrscht. Die Geschichte scheint ihm ein zu inszenierendes Theaterstück, für das er ohne zu zögern „Londoner Lakaien in französische Uniform“ steckt und durch „1000 Lumpenkerls“ das Volk spielen lässt „wie Klaus Zettel den Löwen“.81 (ibid.) In der Aufführung seiner Farce spielt er selbst seinen Onkel; mit dem zunehmenden Erfolg seiner Inszenierung aber, so Marx, beginnt er selbst, seine „Komödie als Weltgeschichte“ zu verstehen, sie also für bare Münze zu nehmen. Das geschichtliche Handeln wird so in „Pseudoaktivität“ verwandelt.82 Schlag auf Schlag ereignen sich die Dinge und laufen doch ins Leere, so dass es der „frechen Übertreibung“ durch die siegreichen Parteien bedarf, um dies Geschehen „überhaupt als Ereignisse passieren“ zu lassen. (MEW 8, 122) Allerdings macht Marx dennoch zwei progressive Elemente in dieser Stagnation aus: Zunächst zeigt sich im Verlauf der Juni-Insurrektion deutlich, dass Proletariat und Bourgeoisie tatsächlich verschiedene Ziele haben. Darüber hinaus wird Bonaparte in dem Moment, in dem er sich nicht mehr als Schauspieler und Imitator Napoleons sieht, sondern seine Rolle als Kaiser „im Ernste nimmt und mit der napoleonischen Maske den wirklichen Napoleon vorzustellen meint“, selbst „das Opfer seiner eignen Weltanschauung“. (MEW 8, 161) Indem er die Aufführung seiner Farce mit der Weltgeschichte verwechselt, indem er sich als rechtmäßigen Kaiser sieht anstatt als einen, der den Kaiser spielt, lässt er auch Napoleon selbst noch retroaktiv zu einer Karikatur werden. (MEW 8, 117) Bereits Napoleon verkörperte für Marx als Oberhaupt des Staates immer schon einen klaren Gegensatz zur Gesellschaft. Erst in der Wiederholung von Napoleons Kaisertum durch Bonaparte jedoch tritt dieser „Gegensatz der Staatsgewalt zur Gesellschaft“ in aller Deutlichkeit hervor – „die Parodie des Imperialismus war notwendig, um die Masse der französischen Nation von der Wucht der Tradition zu befreien“. (MEW 8, 203) Bonapartes Farce erlaubt es also zumindest, hinter die Fassade der bürgerlichen Gesellschaft zu blicken und ermöglicht so endlich ein „heiteres“ Scheiden von der Vergangenheit, anstatt weiterhin von dieser bestimmt zu werden.83 Auf diesem Gedankengang beruht der erwartungsvolle Schlusssatz des Achtzehnten Brumaire: „Aber 81

82 83

Klaus Zettel (im Original Nick Bottom) drängt sich in Shakespeares Sommernachtstraum (1. Aufzug, 2. Szene) in den Vordergrund und möchte am liebsten alle Rollen gleichzeitig übernehmen, da er sie angeblich alle hervorragen spielen könne; so auch den Löwen: „Let me play the lion too. I will roar, that I will do any man‘s heart good to hear me. I will roar, that I will make the Duke say: ‚Let him roar again; let him roar ahgain!‘“ (William Shakespeare, A Midsummer Night‘s Dream, S. 23) Hauke Brunkhorst, „Kommentar“, S. 211 Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, MEW 1, S. 382.

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wenn der Kaisermantel endlich auf die Schultern des Louis Bonaparte fällt, wird das eherne Standbild Napoleons von der Höhe der Vendôme-Säule herabstürzen.“ (MEW 8, 207) Durch die Wiederholung Napoleons wird dessen Wirkungsmacht zugleich gebrochen. Hier scheint einerseits ein latentes progressives Potential der Farce bzw. ein Übergang zur befreienden Wiederholung durch. Andererseits hat sich unter Bonaparte der Staat „verselbstständigt“ und „befestigt“. Entsprechend wächst zwar die Gewissheit über den Charakter der anstehenden Aufgabe: den Gegensatz von Staatsmacht und Gesellschaft aufzuheben und die bürgerliche Gesellschaft zu überwinden. Gleichzeitig mit der zunehmenden Deutlichkeit der Aufgabe aber stellt sich deren Ziel zugleich als zunehmend unerreichbar heraus. (MEW 8, 197) Das Ende der kostümierten Wiederholung Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

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In seinem Kommentar zum Achtzehnten Brumaire schlägt Hauke Brunkhorst vor, die nun noch ausstehende dritte Form der Wiederholung – die „Soziale Revolution des 19. Jahrhunderts“ – als „ernsthafte Komödie“ zu verstehen, die zwischen Brechtschem Lehrstück und Hegelscher Komödientheorie zu verorten sei.84 Entsprechend meint Brunkhorst, dass in Marx’ Ausführungen nur die Farce, der Rückschritt, aus dem Hegelschen Schema herausfalle. Die kommunistische Revolution aber sei eine Wiederaufnahme dieses Schemas, hier schließe Marx an Hegel und dessen Vorstellung einer kontinuierlichen Fortschrittsgeschichte an. Tatsächlich handelt es sich bei der sozialen Revolution allerdings nicht um eine Bewegung, die im Modus der Vermittlung vorgeht, noch um eine Lernmethode, wie ich im Folgenden zeigen werde; auch folgt sie keinem dramaturgischen Plan. Zwar ist sie von Elementen des Komischen durchzogen, aber gerade als Komödie – insofern sie eine ist – bricht sie aus dem Hegelschen Schema aus. Hingegen lässt sich die Farce Bonapartes zumindest aus Marx’ eigener Perspektive durchaus in die Vorstellung eines kontinuierlichen Fortschritts integrieren. Ich will kurz diesen Prozess der Ablösung von Hegel skizzieren. Die Tragödie der Französischen Revolution war, dass sie nicht bei ihren radikalen Zielen angekommen ist. Man kann ihre Entwicklung aber als zumindest graduellen Fortschritt begreifen, denn die Durchsetzung von Freiheit hat in bestimmter Hinsicht durchaus stattgefunden – etwa mit der Abschaffung der Leibeigenschaft. Wenn man nun Bonapartes Farce als Wiederholung von Napoleons Tragödie versteht, so lässt sie sich aus Hegelscher Perspektive 84

Hauke Brunkhorst, „Kommentar“, S. 211.

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Das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce

tatsächlich kaum in eine Fortschrittsgeschichte einordnen. In Bonapartes Fall bestätigt die Wiederholung keinesfalls die allmähliche Entwicklung der Freiheit, die mit der Französischen Revolution eingeführt worden war, sondern scheint hinter diese zurückzugehen. Aus Marx’ eigener Perspektive jedoch, d.h. mit Blick auf den Kommunismus und dessen Überwindung der bürgerlichen Gesellschaft, bietet sich eine andere Perspektive. Bonapartes Wiederholung bestätigt, dass die Verwirklichung von „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ nicht nur zufällig, sondern notwendig an der Dynamik des Kapitalismus und dem politischen Willen zur Aufrechterhaltung bestehender oder vergangener Herrschaftsverhältnisse gescheitert ist. Was bestätigt wird, ist also nicht die graduelle Durchsetzung von Vernunft und Freiheit in der Welt, sondern vielmehr die Beschränktheit der gegenwärtigen gesellschaftlichen Ordnung.85 Der sich in der bisherigen Fortschrittsgeschichte verwirklichende „Weltgeist“ hat sich Marx zufolge zuletzt als „Weltmarkt“ herausgestellt; er setzt allein die beschränkte und beschränkende Freiheit der Konkurrenz durch und produziert mehr „doppelt freie“ Arbeiter, nicht aber Freiheit und Vernunft im eigentlichen Sinne. (MEW 3, 37) Bonapartes Farce kann aus Marx’ Perspektive somit durchaus als Teil einer Fortschrittsgeschichte verstanden werden. Mit ihm bekommen die Revolutionäre die anstehenden Aufgaben schärfer in den Blick als je zuvor. Zugleich stellt Bonapartes Wiederholung auch den Endpunkt der bisherigen Fortschrittsgeschichte dar. Die Durchsetzung von Freiheit kann nun nicht mehr als kontinuierlich, sondern nur noch als grundlegende Veränderung, als Bruch mit dem Gegebenen verstanden werden. Mit dem kostümierten Wiederholen und dem Erborgen von Heroismus und Enthusiasmus muss deshalb aufgehört werden. Die Farce hat so als Teil der Fortschrittsgeschichte zugleich bis an die Grenze der Fortschrittsgeschichte geführt, und deutlich werden lassen, dass von nun an mit einer auf Vermittlung und Versöhnung basierenden Bewegung aus dieser kein Weg mehr herausführt. Sie bestätigt mit dem wiederholten Scheitern der Realisierung von Freiheit, dass Freiheit innerhalb der gegebenen Ordnung eine Unmöglichkeit ist, bestätigt also auf politischer Ebene, was sich auch aus Marx’ Kapitalanalyse für die Ökonomie ergab. Was aus der Kontinuität der politischen und ökonomischen Beherrschung jetzt allein noch herausführen 85

Hegel selbst zeigt sich stellenweise besorgt, dass die Produktion von unbändigem Selbstinteresse einerseits und Armut andererseits (die wiederum „Pöbel“ hervorbringt und somit den gesellschaftlichen Zusammenhang gefährdet) möglicherweise ein systemimmanenter Fehler der kommerziellen Gesellschaft sein könnte und dass dieser die volle Verwirklichung der Freiheit verhindern könnte. Vgl. G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 243-246, S. 389ff.

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Karl Marx

Die soziale Revolution des neunzehnten Jahrhunderts kann ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit schöpfen, sondern nur aus der Zukunft. Sie kann nicht mit sich selbst beginnen, bevor sie allen Aberglauben an die Vergangenheit abgestreift hat. Die früheren Revolutionen bedurften der weltgeschichtlichen Rückerinnerungen, um sich über ihren eigenen Inhalt zu betäuben. Die Revolution des neunzehnten Jahrhunderts muß die Toten ihre Toten begraben lassen, um bei ihrem eigenen Inhalt anzukommen. Dort ging die Phrase über den Inhalt, hier geht der Inhalt über die Phrase hinaus. (MEW 8, 117)

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kann, so Marx, wäre eine Revolution, die ganz anders strukturiert sein müsste als die kostümierten Wiederholungen, und bei der endlich „der Inhalt über die Phrase hinaus“ gehen soll:

Im Vergleich zu den Beispielen kostümierter Wiederholung wird hier deutlich, dass eine so grundlegende Veränderung, wie Marx sie anstrebt, nicht mehr auf tradierte Vorbilder zurückgreifen kann. Selbst die Möglichkeit für eine Wiederholung vom Typus der Französischen Revolution ist für sie verstellt: „weltgeschichtliche Rückerinnerungen“ können ihr nicht helfen, um bei ihrem „eigentlichen Inhalt“ anzukommen. Bisherige Revolutionen haben sich noch in eine Reihe mit den vorherigen historischen Siegern, mit den Mächtigen der Geschichte, einreihen können. Auch wenn die Zerschlagung des Feudalismus und die Durchsetzung der bürgerlichen Gesellschaft zweifelsohne ein bedeutendes historisches Novum war, bleibt doch eines stets konstant: Stets gibt es verschiedene Klassen, von denen einige herrschen und andere beherrscht werden, einige besitzen und andere besitzlos sind. Die Aufgabe, die sich dem neunzehnten Jahrhundert stellt, ist Marx zufolge die Herbeiführung der klassenlosen Gesellschaft, die wirkliche Realisierung von Freiheit. Damit aber kann sich eine solche Revolution nicht mehr auf die Tradition siegreicher Revolutionen beziehen, die Klassen- Machtund Besitzverhältnisse verschoben, nie jedoch aufgehoben haben. Was die „soziale Revolution“ zu schaffen im Begriff ist, muss etwas noch nie Dagewesenes sein, etwas Neues, was nicht aus Kontinuität mit der bisherigen Entwicklung entstehen kann und sich damit außerhalb des Möglichkeitsbereichs jeder produktiven Totenbeschwörung und jeder kostümierten Wiederholung befindet. Was aber bedeutet es konkret, sich nicht über den eigenen Inhalt zu „betäuben“, diesen vielmehr über die alten „Phrasen“ hinausgehen zu lassen und so „Poesie“ aus der „Zukunft“ zu schöpfen?

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Das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce

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Gestaltlose Wiederholung: Die Soziale Revolution des 19. Jahrhunderts Die bisherigen Versuche, das Neue zu schaffen, waren also durch die ihnen eigene Form der Wiederholung beschränkt worden. Wiederholt wurde dort, um sich Mut zu machen, sich zu euphorisieren und sich über den „eigentlichen Inhalt“ der eigenen Handlungen zu betäuben – entweder weil dieser Inhalt zu neu und überwältigend war, oder aber weil er zu nichtig war, um als Handlungsmotivation zu fungieren. Die „soziale Revolution“ soll sich nun von dieser Art der Wiederholung freisagen und sich so über ihren „eigentlichen Inhalt“ klarwerden. Ihr Inhalt aber, ihre Handlungsziele, sind ungleich radikaler als diejenigen der Französischen Revolution. Kommunismus hatte sich mit Marx, wie oben herausgestellt, als zugleich unbestimmt (da als ‚Bewegung‘ charakterisiert, die die gegebene Gesellschaftsformation aufhebt, nicht jedoch als ausgestaltete Utopie) und unmöglich herausgestellt (da den Bereich der Möglichkeiten, die die gegebene Ordnung vorsieht, überschreitend). Im Achtzehnten Brumaire bezeichnet Marx das Handlungsziel der Sozialen Revolution entsprechend als eine „unbestimmte Ungeheuerlichkeit“ (MEW 8, 118). Gerade diese Unbestimmtheit ihrer Ziele sollen die Revolutionäre im Auge behalten, um den fundamentalen Fehler zu vermeiden, den Marx in der Revolution von 1848 ausmacht: dort wurde das „Verständnis der Gegenwart über der tatlosen Verhimmelung der Zukunft“ verloren; das „selbstgefällige Siegesgekläffe“, dem sich durch das unkritisch auf die Gegenwart übertragene Schwelgen in Rückerinnerungen an die Größe Napoleons ergangen wurde, mündete in die Konterrevolution. (MEW 8, 119) Der geliehene Heroismus bisheriger Revolutionen wird in Kritik umgewandelt: Euphorie und Optimismus könnte dazu führen, ihre Aufgabe vorzeitig für erledigt zu erklären, sich also wieder über den Inhalt der eigenen Handlungen zu betäuben. Herbert Marcuse zitiert eine Ansprache vor der Londoner Zentralbehörde von 1850, in der Marx auf die notwendige Langsamkeit der Revolution hinweist. Es müsse ein langwieriger Prozess sein, vielleicht 15, vielleicht 50 Jahre dauern, so Marx in dieser Ansprache, denn es reiche nicht aus, lediglich „die Verhältnisse zu ändern“: auch die Revolutionäre selbst, auch die Handelnden müssen im Verlauf der Revolution verändert werden. Es sei unsinnig zu meinen, man könne von heute auf morgen „zur Herrschaft kommen“, ohne die notwendige transformative Arbeit geleistet zu haben.86 Ohne von welthistorischen Wiederholungen geborgte Euphorie allerdings, und mit unverstelltem Blick auf Marx’ Analyse des Kapitalismus als des Gegners, den es zu überwinden gilt, scheint dies ein hoffnungsloses Unterfangen. Marcuse kommentiert das wie folgt: „Das 86

Marx zitiert nach Herbert Marcuse, „Nachwort“, S. 147f.

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Bewußtsein der Niederlage, selbst der Verzweiflung, gehört zur Wahrheit der Theorie und ihrer Hoffnung.“87 Während das Ziel unbestimmt bleiben muss, soll zugleich die Gegenwart, die Bedingungen, gegen die sich die Revolutionäre richten, erkannt und kritisiert werden. In dieser Hinsicht geht die „soziale Revolution“ nüchterner und reflektierter vor als bisherige Revolutionen. In Anbetracht des übermächtigen Gegners und der anstehenden Aufgabe, in Anbetracht der Unbestimmtheit und Unmöglichkeit des angestrebten Ziels und des zu erwartenden Scheiterns stellt sich das Unterfangen der Revolution als „Donquichoterie“ heraus. (Gr, 77) So hatte Marx selbst die Situation charakterisiert, in der der Kapitalismus nicht bereits in sich die Bedingungen zu seiner eigenen Überwindung trägt. Widerstandsversuche scheinen dann ein lächerliches Vorhaben zu sein, das von vorneherein zum Scheitern verurteilt ist. In Zupančičs Worten kann man das Unterfangen der sozialen Revolution daher als „a stubborn attempt to do something against all odds“ verstehen: Aufgrund seines repetitiven Charakters verlässt das Handeln hier den Bereich des heroischen und „enters a territory closer to the comic – not because it keeps failing, but because it keeps insisting.“88 Wenden wir uns nun also dieser Handlungsform der Revolution zu – und der Frage, was für eine Art der Wiederholung hier vorliegen kann, in Anbetracht der Tatsache dass Marx insistiert, dass die soziale Revolution nicht mehr wiederholen soll. Dass sie sich über Größe und Ungewissheit ihrer Ziele im klaren ist, führt zu einem spezifischen Bewegungsmuster dieser Revolution. Weil die notwendige Unbestimmtheit des Inhalts ihrer eigenen Kämpfe ihnen bewusst ist, schrecken die Revolutionäre zugleich vor ihrer Aufgabe zurück und bewegen sich so in einem diskontinuierlichen vor und zurück anstatt in grader Vorwärtsentwicklung: Proletarische Revolutionen [...] kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem eigenen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen, verhöhnen grausam-gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche, scheinen ihren Gegner nur niederzuwerfen, damit er neue Kräfte aus der Erde sauge und sich riesenhafter ihnen gegenüber wieder aufrichte, schrecken stets von neuem zurück vor der unbestimmten Ungeheuerlichkeit ihrer eignen Zwecke, bis die Situation geschaffen ist, die jede Umkehr unmöglich macht, und die Verhältnisse selbst rufen: Hic Rhodus, hic salta! Hier ist die Rose, hier tanze! (MEW 8, 118)

87 88

Ibid. Alenka Zupančič, The Odd one in, S. 154.

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Das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce

Auch die soziale Revolution führt Wiederholungen durch – allerdings handelt es sich hier um Wiederholungen ganz anderer Art. Sie wiederholt sich selbst. Sie kommt auf das „scheinbar Vollbrachte“ zurück, das, was bereits hinter ihr zu liegen scheint, und beginnt es erneut. Anstatt also historische Erfolge anderer Bewegungen zu wiederholen, wiederholt sie nur ihre eigenen, gescheiterten Versuche. Was wiederholt wird, sind „Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten“, also Etappen des Verfehlens. Es sind Momente der eigenen Schwäche, die wiederholt werden, um ihnen möglicherweise einen anderen Ausgang zu geben. Mit Sicherheit sind solche Wiederholungen nicht dazu geeignet, sich bei ihnen euphorischen Heroismus zu borgen. Der entscheidende Unterschied zwischen bisherigen Revolutionen und der Revolution in ihrer neuen, radikaleren Form, liegt nicht darin, dass sich die proletarische Revolution von der Vergangenheit losgesagt hätte. Sie hat zwar ihren „Aberglauben“ an die Macht der Tradition abgelegt, ihr Handeln ist jedoch trotzdem kein Handeln aus vollkommen „freien Stücken,“ sondern findet nach wie vor unter den eben „vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen“ statt. (MEW 8, 115) Wie jede andere Form des Handelns handelt auch die soziale Revolution aus bestimmten historisch-politisch-ökonomischen Umständen heraus, und nicht aus einem Vakuum. Der Unterschied in ihrem Verhältnis zur Tradition liegt vielmehr in der humorvollen Wiederholung nicht der historisch siegreichen, sondern der verlierenden Kräfte. Es wird also eine andere Art Tradition wiederholt, auf eine andere Tradition zurückgegriffen. Nur aus der Wiederholung der verlierenden Kräfte kann sich etwas so radikal Neues ergeben, wie Marx es für die proletarische Revolution fordert. Der Grund hierfür liegt darin, dass in der Wiederholung der verlierenden Kräfte nichts Bestimmtes, Positives, einmal Gewesenes wiederholt wird. Es handelt sich also nicht um eine Wiederholung, die das Neue mit Bestehendem vermittelt (Französische Revolution), oder die in Gefahr laufen könnte, das Neue zugunsten der Vergangenheit bzw. der Perpetuierung der Gegenwart aufzugeben (Februarrevolution) und das Alte wiederzubeleben (Staatsstreich Louis Napoleon). Vielmehr handelt es sich um die Wiederholung einer nicht verwirklichten Möglichkeit, einer verpassten oder missglückten Gelegenheit. Es ist damit zugleich die Wiederholung einer Unmöglichkeit. Diese Wiederholung kann deshalb nicht kostümiert sein, kann sich keine Phrasen leihen, weil sie keine Tradition wiederholt, die schon einmal verwirklicht war, die an einem bestimmten Punkt in der Weltgeschichte bereits eine konkrete, positive Gestalt angenommen hatte. Die Tradition, die hier wiederholt wird, konstituiert sich im Kreisen um die Unmöglichkeit ihrer eigenen Realisierung. Auf eine solche Tradition kann sich daher nicht positiv bezogen werden – sie kann strenggenommen nicht imitiert werden – es kann sich einzig in spöttischer

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Selbstabwendung auf sie bezogen werden. Damit, dass das eigene Handeln immer wieder als ungenügend und der Aufgabe unangemessen verpönt und wiederrufen wird, ist das kritisch-bewusste Element dieser Wiederholung benannt. Es besteht im Wissen darum, dass das eigene Handeln dem Vorhaben unangemessen ist, ja dass es dem eigenen Vorhaben unangemessen sein muss: die radikale Neuheit und Unbestimmtheit des angestrebten Handlungsziels erlaubt es nicht, Parameter angemessenen Handelns überhaupt zu bestimmen. Die auf diese Widerrufung hin vollzogene Handlung selbst ist daher zu einem guten Anteil weder kontrollierbar, noch planbar: sie handelt zwar aus einem Bewusstsein über die gegebenen Umstände heraus, aber nicht auf bewusst wählbare Umstände hinzu. Entsprechend kann die soziale Revolution nicht nach einem Plan vorgehen, wenn sie eine wirklich grundlegende Veränderung herbeiführen will.89 Brunkhorsts Charakterisierung der sozialen Revolution als eine Entwicklung, in der die „Akteure aus ihren Tragödien und durch sie lernen, ihre Geschichte fortan mit Willen und Bewußtsein zu machen“, muss zumindest relativiert werden.90 Zunächst einmal handelt es sich bei den Wiederholungen hier nicht um einen Lernprozess im herkömmlichen Sinne, also um den Erwerb von Kenntnissen und Fähigkeiten, die ein bestimmtes Können hervorbringen, das dann angewendet werden kann. Ob Geschichte mit „Willen und Bewusstsein“ „gemacht“ werden kann (und ob das überhaupt wünschenswert wäre), wenn der Kapitalismus aufgehoben ist, sei dahingestellt. Was aber den Prozess der Transformation selbst betrifft, wie Marx ihn hier andeutet, so ist nach allem bisher gesagten klar, dass die Revolution nicht willentlich und kontrolliert „gemacht“ werden kann. Was sich in den Wiederholungen der Revolution manifestiert, ist keine stufenweise und zunehmend gekonnte Annäherung an ein Ziel, sondern eine Zuspitzung der Unmöglichkeit der gegenwärtigen Situation, die sich aus dem wiederholten Scheitern und dem Anblick der Absurdität des Unterfangens, des sich zunehmend „riesenhafter“ aufbauenden Gegners, ergibt. Das Potential von Wille und Bewusstsein liegt in der Fähigkeit, den gesellschaftlichen status quo zu analysieren und kritisieren, die eigene Unvollkommenheit in den bisherigen Versuchen, diesen zu überwinden, zu erkennen, und dennoch die Wiederholung eben dieses Versuchs zu fordern, weil die Überwindung der Gegenwart dringend erforderlich ist. Den eigentlichen Moment revolutionären Umschlags wiederum, den hypothetischen Moment, an dem die alte Ordnung tatsächlich überwunden wird, beschreibt Marx als eine plötzliche und unkontrollierte Bewegung, die aus der 89 90

Brunkhorst spricht von einem „dramaturgischen Plan der sozialistischen Komödie“. Hauke Brunkhorst, „Kommentar“, S. 211. Hauke Brunkhorst, „Kommentar“, S. 198.

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bisherigen Kontinuität ausbricht: als einen Sprung. Der Gang der Revolution bewegt sich nicht nur in einem abwechselnden vor und zurück der Wiederholung, einem Innehalten und Selbstverhöhnen – irgendwann muss noch ein gewaltiger Sprung erfolgen: „Hic Rhodus, hic salta. Hier ist die Rose, hier tanze“, fordert der revolutionäre Moment bei Marx. In dieser von Äsop entwendeten Formel scheint durch, dass der entscheidende transformative Sprung im gegebenen Moment von den Umständen selbst eingefordert werden wird, und dass es ein Sprung sein wird, mit dem keiner gerechnet hatte. Äsops prahlerischer Fünfkämpfer war schließlich nicht für seine großartigen Sprünge bekannt, sondern vielmehr für sein Unvermögen. Wenn es aber doch gelingt, den imaginierten, vom Fünfkämpfer auf das entfernte Rhodos projizierten gewaltigen Sprung im hier und jetzt zu vollziehen, dann geschieht es entgegen alle Erwartungen – diejenige des Fünfkämpfers selbst eingeschlossen. Zugleich nimmt Marx mit seiner Formulierung deutlich auf Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts Bezug.91 Hegel setzt dort bekanntlich auseinander, der Philosophie müsse es darum zutun sein, die Wirklichkeit, das Gegebene „zu begreifen und darzustellen“, nicht aber, normative Bestimmungen für die Zukunft zu entwickeln.92 Diese Position vertritt auch Marx. Es ist nicht Aufgabe der Philosophie, die Zukunft zu erdichten, ebenso wie Marx es nicht als seine Aufgabe sieht, Rezepte für die „Garküche der Zukunft“ zu schreiben. (MEW 23, 25) Allerdings folgert für Marx gerade aus dem Begreifen und Darstellen der Gegenwart die Notwendigkeit, diese zu überwinden – und nicht in einer vermittelnden Aufhebung, sondern durch einen Sprung. Hegel besteht darauf, es sei „ebenso töricht zu wähnen, irgendeine Philosophie gehe über ihre gegenwärtige Welt hinaus, als, ein Individuum überspringe seine Zeit, springe über Rhodos hinaus.“93 Marx stimmt Hegel zu, beharrt aber darauf, dass zwar nichts übersprungen werden kann, dass aber dennoch gesprungen werden muss – wenn die Zeit einen Ausbruch aus der kontinuierlichen, auf Versöhnung basierenden Entwicklungslinie verlangt. Nur aus dem wiederholten Scheitern, so Marx, kann sich – vielleicht – irgendwann der Moment zum Sprung ergeben. Herbeigezwungen werden kann dieser Moment nicht, nicht einmal im strengen Sinne durch Handlungen systematisch herbeigeführt. Wenn überhaupt, so ereignet sich ein Sprung nur aus der Wiederholung von Verfehlungen heraus. Wenn jene revolutionäre Situation da ist, die „jede Umkehr unmöglich macht“, dann (und erst dann) ist in dieser Situation 91 92 93

Vgl. Gunnar Hindrichs, „Ein Wort des Äsop bei Hegel und Marx“, zur unterschiedlichen Verwendung der Äsopischen Fabel bei beiden. G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 26. Ibid.

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allerdings kein Platz mehr für Versöhnung. Es ist dann vielmehr ein Sprung ins Ungewisse geboten, in eben diejenige „unbestimmte Ungeheuerlichkeit“, vor der zuvor wiederholt zurückgeschreckt wurde, in der Wirklichkeit realisiert wird. Erst in diesem Sprung ins Ungewisse entsteht schließlich das Neue – die Poesie der Zukunft. Dass diese Ziele ihre „Poesie“ erst aus der Zukunft schöpfen können, verdeutlicht, dass die Revolutionäre noch kein Wissen davon haben und auch nicht haben können, was ihr Ziel ist bzw. sein wird. Ihr Ziel wird im Verlauf der Bewegung überhaupt erst hervorgebracht. Ging es bisher in Revolutionen, die Wiederholungen produktiv einzusetzen vermochten, darum, sich eine neue Sprache lernend anzueignen, um schließlich die Muttersprache zu vergessen, so muss in diesem Fall die neue Sprache und die neue Poesie überhaupt erst geschaffen werden. Die Übersetzung in überliefertes Vokabular, in die uns derzeitig geläufige Sprache, ist kein gangbarer Weg für diese Form der Revolution. Marx hat deshalb eine andere Weise gefunden, die Revolution zu denken. Eine so grundlegende Transformation, wie nötig wäre, scheint ihm nicht mehr plötzlich möglich, als Ergebnis einer einzigen, großen, heroischen Revolution, die sich auf die Dynamik des Kapitalismus selbst stützen kann.94 Sie kann nicht von heute auf morgen geschehen – allerdings kann sie sich ebenso wenig evolutionär entwickeln und aus einer kontinuierlichen Schrittfolge ergeben, denn sie soll mit der bisherigen Kontinuität im Geschichtsverlauf brechen. Anstatt die bisherige Geschichte von Klassenkämpfen weiterzuführen, sollen Klassengegensätze aufgehoben werden. Beide Forderungen sind in Marx’ Darstellung der Selbst-Wiederholung der „sozialen Revolution“ im Achtzehnten Brumaire berücksichtigt. Sie nimmt sich Zeit, bildet sich aber nicht ein, sich auf dem Weg graduellen Fortschritts zu befinden – im Gegenteil, ihren Gegner stellt sie sich als monströs und übermächtig vor, und sie bewegt sich in einer zaudernden, sich selbst verwerfenden und hinter erreichtes zurückwerfenden Stolperbewegung voran.95

94 95

Marx hatte zunächst nahegelegt, die Revolution könne nur als Aktion aller Völker „auf einmal und gleichzeitig“ geschehen; Vgl. MEW 3, 35f. Somit finden sich hier innerhalb Marx’ Denken Elemente die über seine eigene Annahme hinausgehen, die Klassen-, Produktions- und Machtverhältnisse würden sich zunehmend vereinfachen und in zwei Lager aufspalten – wovon heute mit Sicherheit nicht mehr ausgegangen werden kann. Auch und gerade im dezentralisierten, globalisierten Kapitalismus des 21. Jahrhunderts ist Marx’ Konzeption der Revolution als zaudernder Wiederholungsbewegung relevant. Im Gegensatz zu der einen, großen Revolution ist diese nämlich durchaus als verschränkte und versetzte Bewegung von sich an verschiedenen Orten formierenden Widerständen denkbar.

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Von Marx zu Freud Marx hat die Kapitalbewegung als einen sich selbst perpetuierenden Kreislauf dargestellt. In seiner steten Wiederholung erscheint das Kapital als unveränderbar und naturwüchsig, ohne Anfang und Ende. Aus einer solchen Kreisbewegung führt kein direkter Weg heraus: das Kapital arbeitet weder eigentätig darauf hin, sich abzuschaffen, noch kann es qua heroischem sichentgegenstellen durchbrochen werden. Hier wird deutlich, dass sich Marx vom starken, optimistischen Fortschrittsbegriff der Geschichtsphilosophie verabschiedet; zugleich zeigt sich deutlich die Macht, die von der Wiederholung als übergeordnete Struktur und Ordnung ausgeht. Die Macht der Wiederholung besteht darin, dass die Kapitalbewegung nicht nur nach ihrer Wiederholung verlangt, sondern sich scheinbar unabhängig von und unbeeinflussbar durch menschliches Tun selbst wiederholt. Auch menschliche Geschichte bzw. Tradition ist bei Marx durch Wiederholungen strukturiert, und droht so, auf einer bestimmten Entwicklungsstufe steckenzubleiben. In dieser Hinsicht spricht Marx vom „Alp der Vergangenheit“, der Gegenwart und Zukunft die Wiederholung bestimmter überlieferter Formen aufdrängt, bestimmte Kostüme, die ihre Bewegungsfreiheit beschränken. Geschichte ist also nicht nur selbst eine Art von Ordnung, von der eine Macht ausgeht. Sie wirkt zudem als Wiederholungszwang, der sich symptomartig insbesondere dort zeigt, wo wir aktiv versuchen, aus einer bisherigen Gesellschaftsordnung auszubrechen. Marx macht allerdings eine doppelte Symptomatik im Kapitalismus aus: drängt einerseits die Vergangenheit auf ihre eigene Wiederholung und Fortschreibung, so taucht andererseits wiederholt das „Gespenst des Kommunismus“ auf (MEW 4, 461).96 Der Kommunismus sucht die bürgerliche Gesellschaft heim, ohne selbst in ihr Gestalt annehmen zu können: würde er sich von einem Gespenst in eine konkrete Gestalt wandeln, dann bedeutete dies zugleich die radikale Transformation der Welt. Bis dahin aber manifestiert es sich als Symptom von etwas, was die gegebene Ordnung stört, ohne dabei als nie gewesenes und stets zukünftiges selbst eine bestimmte Form zu haben. Der Kommunismus als Gespenst, bzw. als formlos-unbestimmtes Handlungsziel, lässt die Aufgabe der Aufhebung des Kapitalismus zu einer „unbestimmten Ungeheuerlichkeit“ werden. Um wiederum in Anbetracht eines solch unerreichbar scheinenden Handlungsziels und innerhalb einer als übermächtig erfahrenen Wiederholung des Kapitals politisches Handeln denken zu können, hat Marx auch Handlungen als durch Wiederholungen strukturiert konzipiert: Zunächst einerseits als tragische Wiederholung, die eine Verschiebung 96

Vgl. Jacques Derrida, Marx’ Gespenster.

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innerhalb der Wiederholungsstruktur des Kapitalismus herbeiführt, und andererseits als Farce, deren Wiederholungen im Gegensatz zur Festigung des Kapitalismus beitragen. Beide wiederholen Vergangenes und stehen somit im Bann des „Alps der Vergangenheit“. Im Gegensatz hierzu bezieht sich die „soziale Revolution des 19. Jahrhunderts“ in ihren Wiederholungen auf eine gestaltlose Reihe von Verfehlungen, sie wiederholt also nichts konkretes und Gewesenes. Damit kann sich durch ihre Wiederholung eine Verschiebung in der Wiederholungsstruktur des Kapitalismus ergeben, aus der heraus sich das Unmögliche ereignen und das „Gespenst des Kommunismus“ eine Gestalt annehmen kann. Dieser letzte Schritt bzw. Sprung, der aus der bisherigen kontinuierlichen Entwicklung herausführt, ist bei Marx selbst nicht ausführlich dargelegt, kann aber mithilfe von Nietzsches und Kierkegaards Überlegungen zum Schaffen bzw. zur Wiederholung des Unmöglichen später ergänzt werden. Zumindest wird aber bereits deutlich, dass Marx zufolge für ‚erfolgreiches‘ politisches Handeln ein Bewusstsein darüber wichtig ist, dass das eigene Vorhaben unmöglich und daher zum Scheitern verurteilt ist – und dass sich Erfolg bei einem solchen Vorhaben überhaupt erst aus Verfehlungen ergeben kann. Im nun folgenden Kapitel wiederum wird Freud der Diskussion von Freiheit, Handlung, und Wiederholung zunächst zwei grundlegende Ergänzungen hinzufügen: Zum einen Überlegungen zu psychischen und affektiven Dispositionen Handelnder, und zum anderen eine nuancierte Betrachtung davon, wie beschränkende und befreiende Wiederholungen zusammenhängen. Wo sich bei Marx Kapitalbewegung/Geschichte auf der einen Seite, und Handeln/ Kommunismus auf der anderen Seite zunächst als entgegengesetzt zeigen, vermag es Freud, die innere Verwobenheit von schließenden und öffnenden Wiederholungen herauszustellen.

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C.

Wiederholungszwang und die Ausweitung des Möglichkeitsbereichs

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Sigmund Freud Wir verwundern uns über diese ‚ewige Wiederkehr des Gleichen‘ nur wenig, wenn es sich um ein aktives Verhalten des Betreffenden handelt, und wenn wir den sich gleichbleibenden Charakterzug seines Wesens auffinden, der sich in der Wiederholung der nämlichen Ereignisse äußern muß. Weit stärker wirken jene Fälle auf uns, bei denen die Person etwas passiv zu erleben scheint, worauf ihr ein Einfluß nicht zusteht, während sie doch immer nur die Wiederholung desselben Schicksals erlebt.97 Sigmund Freud, Jenseits des Lustprinzips

Der Wiederholungszwang ist ein ebenso zentrales wie schwieriges Konzept in Freuds Schriften.98 Methodische Schwierigkeiten für die Analyse und Darstellung bereitet dabei zum Beispiel die wiederholte Revision und Adaption dieses Konzepts in verschiedenen Kontexten. Freud entwickelt seine Theorie des Wiederholungszwangs vor allem in Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten (1914) als praxisgeleitete klinische Überlegungen, und dann in Jenseits des Lustprinzips (1920), einer metapsychologischen Schrift. Dem Wiederholungszwang kommt eine zentrale Rolle in Freuds später Schrift Der Mann Moses und die monotheistische Religion (1938) zu, in der Freud eine spekulative Theorie der Entwicklung von Kultur und Geschichte entwirft. Wiederholungszwang taucht bei Freud zudem in seinen kulturtheoretischen Überlegungen in Das Unheimliche (1920) auf. Freuds Darstellung des Wiederholungszwangs ändert sich also in Wechselwirkung mit dem jeweiligen Kontext, in dem er analysiert wird, was vor allem der praxisgebundenen Entwicklung von Freuds Theorie geschuldet ist: er entwickelt seine Überlegungen zum Wiederholungszwang vor allem aus der Beobachtung zwanghafter Wiederholungen bestimmter 97 98

Sigmund Freud, Jenseits des Lustprinzips, S. 21. Später wird der Wiederholungszwang bei Jacques Lacan in Les quatre concepts fondamentaux de la psychanalyse als eine der vier ‚Grundbegriffe‘ der Psychoanalyse behandelt; Udo Hock bezeichnet ihn als „Gelenkstelle“ im gesamten Freudschen Denken. Udo Hock, Das Unbewusste Denken, S. 130.

© Wilhelm Fink Verlag, 2018 | doi:10.30965/9783770560219_004

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Wiederholungszwang und Möglichkeitsbereich

Erlebnisse, Verhaltensmuster und Handlungen, die sich scheinbar außerhalb der Kontrolle der von ihnen betroffenen Personen vollziehen. Doch nicht nur Freuds eigene Methode, auch eine seiner theoretischen Grundannahmen besteht in einer solchen wechselseitigen Konstitution. Freud versteht das Subjekt als durch seine soziale Umgebung konstituiert. Somit wird deutlich, dass Handelnde für Freud nicht als souveräne Subjekte gedacht werden können; insbesondere dann nicht, wenn in den Blick genommen wird, inwiefern Handeln im Bannkreis von Wiederholungszwängen steht. Weitere entscheidende Aspekte, die Freud zur Diskussion von Freiheit und Wiederholung beiträgt, sind zum einen in seinen Reflexionen zur Wirkung von Wiederholungszwängen auszumachen, zum anderen in seiner Darstellung der Verwobenheit von Erkenntnisurteil und Affekt in der Praxis der Befreiung. Hatte Freud in früheren Schriften die Souveränität des Subjekts mit seiner Theorie unbewusster Motivationen ohnehin bereits unterlaufen – Freud selbst spricht von einer „narzisstischen Kränkung“99, die er dem Ich zugefügt habe – so ist das Subjekt im Falle auftretender Wiederholungszwänge zeitweise sogar gänzlich entmachtet. Einerseits entspringen seine Handlungsmotivationen nicht dem Bewusstsein und der Vernunft; darüber hinaus aber wird selbst noch dort, wo das Entscheiden für oder wider eine Handlung ein bewusstes Entscheiden ist, und Zwecksetzen autonom begründet scheint, von unbewussten Impulsen geprägt – zeitweise scheint die Kontrolle den bewussten Instanzen sogar vollständig entzogen. So tritt bei einem Wiederholungszwang zwanghaftes Ausagieren an die Stelle von Handlungen. Diese Wiederholungen sind insofern eher als Automatismus denn als Handlung zu bezeichnen, da sie nicht bewusst steuerbar sind und keiner bewusst formulierbaren Absicht des Ichs entspringen. Vielmehr scheinen sie von einer fremden Macht bestimmt zu werden, die trotz ihrer Fremdheit innerhalb ihrer eigenen Psyche zu verorten ist. Der verborgene Handlungsantrieb führt dazu, dass eine Distanz zwischen dem Subjekt und seinen Handlungen bzw. den Ergebnissen seiner Handlungen entstehen kann. Sie scheinen sich durch ihn und unabhängig von ihm zu vollziehen. Wiederholungszwänge gründen Freud zufolge in etwas, was nicht sein kann oder darf: sie entspringen aus Elementen, die verdrängt wurden, weil sie bestimmten Forderungen der Ordnung des Ich oder Über-Ich widersprechen. Wiederholung wird bei Freud also zunächst vor allem mit Zwang in Verbindung gebracht – als Wiederholungszwang, der in psychischen Vorgängen als Reaktion auf Repression aktiv ist. Als symptomatische Manifestation von etwas, das aus der herrschenden Ordnung verdrängt wurde, deutet sich jedoch bereits an, dass Wiederholungszwänge zugleich 99

Sigmund Freud, Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse, GW XII, S. 6f.

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eine Tendenz dazu aufweisen, bestehende Ordnungen zu unterlaufen und zu stören – und sie potentiell zu ändern: Würde dem Verdrängten ein Platz innerhalb der Ordnung eingeräumt, so bedeutete dies zugleich eine Transformation dieser Ordnung. Judith Butler wirft in Psyche der Macht die Frage auf, wo widerständiges Potential verorten werden kann, wenn Subjekte nicht mehr als souverän gedacht werden. Wenn Subjekte durch eben die Macht hervorgebracht werden, die es zu verändern gilt – woher kann dann noch der Impuls zur Veränderung stammen? Diese Frage stellt sie insbesondere mit Blick auf Foucaults Theorie der Seele als normierendem „Gefängnis“ des Körpers, gegen den sie den Freudschen Begriff der Psyche mobilisiert. Anders als der Begriff des Subjekts schließt derjenige der Psyche das Unbewusste ein: „Die Psyche ist das, was der Verregelmäßigung entgeht, die Foucault den normalisierenden Diskursen zuschreibt.“100 Hier kann so ein Gegenpol der Macht situiert werden, der dem Subjekt die Möglichkeit gibt, sich gegen die Macht zu wenden. Dabei warnt Butler jedoch vor einer „romantisierten Vorstellung vom Unbewußten als notwendigem Widerstand“ – nicht alles, was der Reglementierung durch die Ordnung von Ich und Über-Ich entgeht, ist widerständig, und schon gar nicht notwendig progressiv.101 Geht man aber davon aus, dass im Unbewussten zumindest potentiell widerständige Kräfte auszumachen sind, dann müssen auch die im Unbewussten wirkenden Wiederholungszwängen hinzugezählt werden, die wiederholt verdrängte Elemente gegen die Ordnung, aus der sie ausgeschlossen sind, in Stellung bringen. Wiederholungszwänge sind also nicht einzig auf Zwang zu reduzieren, sondern können auch befreiendes Potential haben. Vor diesem Hintergrund sind auch die mehrfachen Bestimmungen von Relevanz, die Freud dem Wiederholungszwang zukommen lässt: Er ist dasjenige, was sich in der psychischen Realität – z.B. als Schicksalsneurose – als unerklärliche „Erkrankung“ auswirkt, dabei aber zugleich als Symptom Spuren zur Ursache des Konflikts legt, die als Brüche in der bestehenden Ordnung sichtbar werden. Zugleich kann der Wiederholungszwang auch ein Zwischenreich zwischen Krankheit und Genesung darstellen, indem er innerhalb der Analyse einen Weg aus dem Konflikt heraus aufzeigt: der Wiederholungszwang kann scheinbar nur durch Wiederholung aufgelöst, gemildert und erkannt werden. Es gibt keinen direkten intellektuellen Zugang zu ihm. Er ist Krankheit, Symptom und Mittel der Genesung in einem, und oszilliert damit zwischen Automatismus und Freiheit. Als Element der psychoanalytischen Theorie ist der Wiederholungszwang in der psychoanalytischen Praxis verortet. Diese wiederum ist darauf 100 101

Judith Butler, Psyche der Macht, S. 83. Ibid., S. 84.

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Wiederholungszwang und Möglichkeitsbereich

ausgelegt, Menschen von ihren Symptomen zu befreien, oder diese zumindest zu lindern und handhabbar zu machen. In der Analyse werden die Mitteilungen des Analysanden interpretiert, die dieser im Rahmen der Analyse produziert. Die klassische Psychoanalyse lädt den Analysanden zur freien und unstrukturierten Mitteilung seiner Gedanken ein. Der so hervorgebrachte Text (einschließlich physischer, motorischer, und mimischer Äußerungen) wird vom Analytiker interpretiert. Wichtig ist hierbei, dass es oftmals gerade Inkohärenzen, Stockungen, Lücken, oder eben Wiederholungen in diesem Text sind, die Hinweise auf verdrängte Inhalte geben können  – denn sie können auf Zensuren durch Ich und Über-Ich hinweisen, also auf verdrängte Inhalte. Die Psychoanalyse ist damit eine Interpretationstechnik; sie ist insbesondere eine Methode, um sich den Auslassungen und Inkohärenzen eines Texts anzunähern, die die interpretierende Konstruktion von verdrängten und unbewussten Inhalten erlaubt. Dieser andere Text, der über Auslassungen mitgeteilt wird, ist seinem Autor selbst verborgen, soll ihm aber in der Psychoanalyse, wenn auch nur in Teilen, zu Bewusstsein gebracht werden. Gelingt eine solche Integration dieses anderen Texts, nimmt der Autor ihn als Autor an, so wird er sich häufig gezwungen sehen, sein Selbstbild zu ändern. Misslingt eine Integration in das bestehende Selbstbild, so kann das entweder zu Erfolglosigkeit der Analyse führen, oder aber zu einem radikalen Bruch mit der Erzählung, die der Analysand bisher von sich selbst hatte. Hier wird erneut deutlich, dass das Subjekt bei Freud keine der Praxis vorgängige Instanz ist, sondern beide in einem Wechselverhältnis stehen – und es sollte zugleich deutlich geworden sein, inwiefern die Psychoanalyse in ihrer Praxis auf Veränderung und Befreiung angelegt ist. Als Interpretationsansatz zur Konstruktion eines nicht willentlich mitgeteilten Texts geht die Relevanz der Psychoanalyse über die Anwendung in der Therapie hinaus – so etwa in Der Mann Moses und die monotheistische Religion, wo Freud diesen Ansatz zur Rekonstruktion von verdrängten Elementen in der Geschichte anwendet. Der analysierte Text ist hier der Geschichtstext, in dem Freud (analog zum Text, den der Analysand hervorbringt) insbesondere an den Auslassungen und Inkohärenzen interessiert ist. Freud überträgt aber nicht nur die Arbeitsweise der Analyse auf die Geschichte, er stellt zudem heraus, dass das Unbewusste selbst kollektive Inhalte enthält. Diese wiederum erlauben es in bestimmter Hinsicht, so Freud, die Entwicklung und Ereignisse in menschlichen Kollektiven analog zum Tun einzelner Individuen zu behandeln. So überträgt Freud auch seine Überlegungen zum Wiederholungszwang auf die Entwicklung von Geschichte. In Der Mann Moses und die monotheistische Religion eröffnen sich daher mögliche Antworten auf die Frage, welche Bedeutung dem Wiederholungszwang in kollektivem Handeln zukommen

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kann. Freud untersucht dort die Wirkung von Wiederholungszwängen auf die Entwicklung von Geschichte, ohne dabei Ansätze zur kollektiven Befreiung von Wiederholungszwängen zu entwickeln. Wenn wir aber seine eigene Übertragung von psychoanalytischer Praxis auf kollektive Zusammenhänge weiterdenken, ist es durchaus möglich, mit Freud auch für Kollektive eine Praxis der Transformation und Befreiung zu konzipieren.

Die erste Erwähnung der Idee eines Wiederholungszwangs, den Freud zu dieser Zeit noch „Repetitionszwang“ nennt, erfolgt beiläufig bereits am 17.12.1896 in einem Brief an Wilhelm Fliess:

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„Repetitionszwang“ und Verdrängung: Anfänge und Grundlagen

Die Aufklärung für die Phase des ‚Clownism[us]‘ im Charcotschen Anfallschema liegt in den Perversionen der Verführer, die offenbar selbst im Repetitionszwang nach ihrer Jugend ihre Befriedigung unter den tollsten Bocksprüngen, Purzelbäumen, und Grimassen verfolgen. Dazu der Clownism[us] der Bubenhysterie, die Tiernachahmung und Zirkusszenen, die sich aus der Verwebung von Jugendspielen in der Kinderstube mit sexuellen Szenen erklären.102 Als „Clownismus“ bezeichnet der französische Neurologe Jean Martin Charcot eine Phase im von ihm entwickelten Anfallsschema der Hysterie; sie zeichnet sich, so Udo Hock, „durch absonderlichste Körperverrenkungen aus, die in ihrer Übermäßigkeit und Unzweckmäßigkeit an die Bewegungen eines Clowns erinnern“.103 Freuds Deutung dieser Phase zufolge zeigt sich dabei, dass die Hysteriker ein auf „Perversionen“ gegründetes Verhaltensschema aus ihrer Jugend wiederholen; das wiederum tun sie nicht aus freien Stücken, sondern mit einer im Rahmen des Anfallsschemas liegenden Zwanghaftigkeit: dem „Repetitionszwang“. Obschon sich die Hysteriker von ihren „Perversionen“ zu distanzieren versuchen, schaffen diese sich in hysterischen Anfällen gewaltsam Ausdruck. Die Verrenkungen, die in der Phase des Clownismus zu beobachten sind, interpretiert Freud als eine zwanghafte Wiederholung von sexuell konnotierten Jugendspielen. Warum aber werden ehemals lustvolle Jugendspiele zu „Perversionen“, die es zu meiden gilt? Und inwiefern liegt diese Umdeutung der Entwicklung von Wiederholungszwängen zugrunde? 102 103

Sigmund Freud, Briefe an Wilhelm Fließ 1887 – 1904, S. 229. Udo Hock, Das Unbewusste Denken, S. 19f. (Anm.).

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Um Freuds Beobachtung des Repetitionszwangs verständlich zu machen, will ich zunächst in aller Kürze einige seiner Überlegungen zur Struktur des psychischen Apparats und zum Mechanismus der Verdrängung skizzieren. Freud geht davon aus, dass Menschen zugleich unbewusst-triebhafte und bewusste Wesen sind, und dass sich ihre Handlungen im Spannungsfeld dieser Kräfte entwickeln. Bis zum Verfassen von Jenseits des Lustprinzips – auf diesen Bruch komme ich später noch zurück – hat Freud Triebe als somatisch und der Psyche äußerlich verstanden. Die Psyche selbst war für Freud vor allem auf die Stabilität und Abwesenheit von Konflikten ausgerichtet; Freud nennt das das „Lustprinzip“.104 Bestimmte Triebe bzw. durch Triebe motivierte Handlungen können die Psyche ins Ungleichgewicht bringen und so Unlust erzeugen. Dem Bewusstsein oder „Ich“ kommt daher die Aufgabe zu, zwischen verschiedenen Bedürfnissen, Trieben, Ängsten, und Anforderungen zu verhandeln, um einen möglichst reizarmen und somit lustvollen Zustand zu sichern. Dabei muss einerseits gesichert sein, dass Triebe und Wünsche, die für Freud meist sexueller Natur sind oder mit dieser verbunden, sich zumindest zum Teil äußern und verwirklichen können, um Unlust aufgrund von aufgestauter psychischer Energie zu vermeiden. Zum anderen muss Unlust vermieden werden, indem triebhaftes Verhalten sich nur in kulturell und sozial sanktionierter Form äußert. Freud versteht die menschliche Psyche als von sozialen Faktoren geprägt und strukturiert. Das trifft schon auf die frühste Ausbildung der Psyche zu, insbesondere aber auf die Entwicklung der Fähigkeit, Normen zu internalisieren und ein „Über-Ich“ auszubilden.105 Ein einmal ausgesprochenes Verbot muss so nicht wiederholt ausgesprochen werden, sondern wird Teil des psychischen Apparats und gibt dem Ich Anweisungen, welche triebhaften Begehren zulässig sind, und welche nicht. Impulse, die im Konflikt mit den internalisierten Verboten und Geboten des Ich sind, werden ins Unbewusste verdrängt. Ebenso können Fälle, in denen solchen konfliktbeladenen Impulsen in der Vergangenheit stattgegeben wurde, aus dem Bewusstsein verdrängt werden. Verdrängung versteht Freud nicht als eine bewusste Entscheidung des Subjekts, sondern als einen unbewusst ablaufenden Prozess, der sich gewissermaßen automatisch in Reaktion auf internalisierte Verbote vollzieht. Doch es ist nicht nur die 104 105

Sigmund Freud, „Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens“, GW VIII, S. 231. Im Zusammenhang von Freuds frühen Schriften vom Über-Ich zu sprechen ist historisch nicht korrekt, da er diesen Begriff erst nach 1920 einführt. Dennoch erkennt er bereits vor 1920 dasselbe Phänomen – soziale und kulturelle Reglementierung von menschlichem Verhalten, zunächst durch die Eltern, dann durch die Gesellschaft – als eminent bedeutsam für die Entwicklung der Psyche.

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normierende Wirkung des Über-Ich, sondern auch die Wirkung eines ursprünglich Verdrängten, das zu fortdauernder Verdrängung führt. Die sogenannte „Urverdrängung“ ist „eine erste Phase der Verdrängung, die darin besteht, daß der psychischen (Vorstellungs-)Repräsentanz des Triebes die Übernahme ins Bewußte versagt wird“, so Freud.106 Mit welcher Vorstellung auch immer sich ein Trieb verbunden haben mag, er wird von nun an diese Vorstellung fixiert. Jeder nachfolgende „psychische Abkömmling“ dieser Vorstellung, oder was auch immer „in assoziative Beziehung“ mit ihr gelangen mag, wird fortan verdrängt. Freud beschreibt das so, dass diese Urverdrängung eine „anziehende“ Wirkung auf jene Vorstellungen hat: es reicht nicht, dass das Bewusstsein sie abstößt, sondern sie müssen auch im Unbewussten aufgenommen werden. Dass die Verdrängung ein fortdauernder und sich wiederholender Prozess ist, liegt daran, dass wir sie uns Freud zufolge

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[...] nicht wie ein einmaliges Geschehen mit Dauererfolg vorstellen, etwa wie wenn man etwas Lebendes erschlagen hat, was von da an tot ist; sondern die Verdrängung erfordert einen anhaltenden Kraftaufwand, mit dessen Unterlassung ihr Erfolg in Frage gestellt wäre, so daß ein neuerlicher Verdrängungsakt notwendig würde.107 Um nun zum Beispiel des ‚Clownismus‘ zurückkehren, ergibt sich folgendes Bild: In den sexuell gefärbten Jugendspielen, die Freud zitiert, hatte sich zunächst ein Trieb Geltung verschafft. Die Vorstellung, mit der dieser sich verbunden hatte, wurde nachfolgend jedoch verdrängt, da sie in Konflikt mit bestimmten sexuellen Normen geraten sind. Die Spiele werden fortan unterlassen. Verdrängung, wie erwähnt, ist aber kein einmaliger und dauerhafter Prozess, und ein Trieb, der sich nicht manifestieren darf, hört deshalb nicht zu drängen auf. Die Bocksprünge und Grimassen, die die Hysteriker hier durchführen, mögen deshalb als Jugendspiele in verstellter Form verstanden werden: diesen Spielen unähnlich genug, fallen sie zunächst nicht der Verdrängung zum Opfer; dennoch scheinen sie der verdrängten Vorstellungsrepräsentanz ähnlich genug, um mit dem Verdrängten in Verbindung zu stehen und so potentiell lustvoll sein können. Der „Repetitionszwang“ mag demnach als Symptom eines verfehlten Verdrängungsvorgangs verstanden werden. Freuds frühes Beispiel ist insofern aufschlussreich, als es verdeutlicht, dass das Verdrängte, was sich über den Repetitionszwang Ausdruck verschafft, vor seiner Verdrängung keineswegs an sich unlustvoll war. Es zeigt also auf, dass der Wiederholungszwang 106 107

Sigmund Freud, „Die Verdrängung“, GW X, S. 250. Ibid., S. 253.

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aus einem Konflikt mit den (internalisierten) Normen und Regeln, der errichteten Ordnung entspringt. Dem Verdrängten, das wiederholt wird, musste nicht aufgrund seiner an sich Unlust erzeugenden Wirkung das Ausagieren verwehrt werden, sondern es fiel der Beschränkung sexueller Triebe durch Ich und Über-Ich zum Opfer. Die „Befriedigungslust“, die Freud grundsätzlich dem stattgeben einer Triebregung zuschreibt, wurde so „in Unlust verwandelt“.108 Wiederholen und Übertragen In dem Aufsatz Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten wird der Wiederholungszwang mit Blick auf die psychoanalytische Praxis analysiert. Wie sich im Titel ankündigt, setzt Freud dort die Konzepte von Erinnerung und Wiederholung in Beziehung zueinander. Die Grundannahme ist hierbei, dass der Wiederholungszwang dort auftritt, wo ein Widerstand des Ich dazu führt, dass etwas nicht erinnert werden kann. Im Untertitel der Schrift stellt Freud wiederum heraus, dass es sich bei den nachfolgenden Ausführungen um „Ratschläge zur psychoanalytischen Technik“ handelt. Mit zunehmender Aufmerksamkeit für die Wiederholung scheint Freud eine grundlegende Änderung der therapeutischen Strategie ratsam. Der Aufsatz beginnt mit einer Rekapitulation der beiden bisherigen Hauptstrategien der Psychoanalyse: Hypnose und freie Assoziation. Beiden war gemeinsam, dass sie letztlich die psychische Erkrankung durch Erinnerung heilen sollten – entweder, indem das ursprüngliche Moment der Symptombildung mithilfe der Hypnose in der Erinnerung reproduziert wird, oder indem die freie Assoziation des Patienten vom Analytiker so gekonnt gedeutet wird, dass es ihm zu „erraten“ möglich wird, was der Patient „zu erinnern versagte“. (EWD, 126) Mit seinen Überlegungen zum Wiederholungszwang ändert sich Freuds Einstellung zur Analyse, wie ich im Folgenden zeigen werde. Wenn wir aber die Psychoanalyse im weitesten Sinne als Methode der Befreiung von zu repressiven Normen und schädlichen Verhaltensmustern verstehen, dann lässt sich somit sagen, dass der Wiederholungszwang Freud zufolge einen neuen Modus der Befreiung fordert. Dieser wiederum stellt sich als praxisgebunden und kollektiv heraus, anstatt wie bisher allein auf dem interpretativen Expertenwissen des Analytikers zu beruhen. Bevor ich mich jedoch dieser neuen analytischen Strategie näher zuwende, will ich zunächst grundlegend klären, wie Freud in diesem Aufsatz den Wiederholungszwang beschreibt. Ausagieren und Erinnern stehen für ihn grundsätzlich als „zwei Möglichkeiten, wie die Vergangenheit sich in der Gegenwart aktualisieren kann,“109 miteinander in Beziehung. Der Wiederholungszwang 108 109

Ibid., S. 248. Jean Laplanche/ J.B. Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, S. 46.

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bedient sich des Ausagierens. Anstatt zu erinnern, „reproduziert“ der Analysierte das Vergessene oder Verdrängte „als Tat“; „er wiederholt es, ohne natürlich zu wissen, daß er es wiederholt.“ (EWD, 129) Die Wiederholung zeigt sich also anstelle eines verdrängten Elements, dem durch den Widerstand des Ichs der Eintritt ins Bewusstsein in Form einer Erinnerung verwehrt wird. Zugleich aber gelingt es dem Ich nicht gänzlich, den störenden Impuls ins Unbewusste abzuschieben und zu entsorgen. Wie im vorhergehenden Abschnitt dargelegt, bleibt was auch immer der Verdrängung zum Opfer gefallen ist in seinem Drängen aktiv. Es strebt danach, sich im Handeln und/oder im Bewusstsein zu verwirklichen. Da es sich jedoch nicht direkt äußern kann, verschafft es sich stattdessen über die Wiederholung indirekt Geltung. Die Voraussetzung für eine solche Wiederholung liegt in einem Mechanismus, den Freud „Übertragung“ nennt. Übertragungen sind „Neuauflagen“ bzw. „Nachbildungen“ der verdrängten Vorstellungsrepräsentanz eines Triebes mittels einer „für die Gattung charakteristischen Ersetzung einer früheren Person“ durch eine andere Person.110 Person(en), die Teil des verdrängten Elements sind/waren – oft ein Elternteil – werden in der Übertragung durch eine andere Person, die dem Analysanden nahesteht, ersetzt. Erst in der und durch die Übertragung kann wiederholt und ausagiert werden; sie ist damit von zentraler Bedeutung für den Wiederholungszwang. Das Verdrängte kann nur in der Übertragung, nur in auf ein anderes Gebiet verschobener Form wiederholt werden, da dem Verdrängten der direkte Weg ins Bewusstsein versperrt ist. Es muss sich darum eine leicht veränderte Form geben und den Weg an den Blockierungen des Ichs vorbei bahnen, die Freud an anderer Stelle „Verdrängungsnarben“ nennt. (MM, 235) Dort, wo die Verdrängung einst stattfand, hat sich ein resistenter Schutz gegen den erneuten Eintritt oder die erneute Überschreitung durch den Trieb gebildet. Nur indem der Gehalt also verdichtet, verschoben, entstellt, übertragen wird, kann er sich äußern. Das verdeutlicht aber auch, dass nicht ein bestimmtes Ereignis in genauer Kopie wiederholt wird, sondern der sich um die verdrängte Triebregung spannende Konflikt. Die Wiederholung setzt sich mittels der Übertragung an die Stelle der direkten Begegnung mit dem Verdrängten, die letztlich eine Erinnerung wäre; was aber nicht erinnert werden kann, muss in der Übertragung auf den Therapeuten oder in der alltäglichen Welt des Analysanden wiederholt werden. Innerhalb der Analyse ist dies eine Übertragung auf den Analytiker, der dann in den Wiederholungszwang miteinbezogen wird – der Analysand weist ihm unbewusst einen bestimmten Platz innerhalb des Wiederholungsszenarios zu und der Analytiker wird als Träger unbewusster Vorstellungen des Analysanden 110

Sigmund Freud, Bruchstücke einer Hysterie-Analyse, GW V, S. 279.

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Wiederholungszwang und Möglichkeitsbereich

tatsächlicher Teil des Wiederholungszwangs: Freud bezeichnet die Übertragung als ein „Stück Wiederholung“ (EWD, 130), und somit nicht als Vorbereitung zur Wiederholung, sondern bereits als Teil der Wiederholung selbst. Den Vorgang der Wiederholung selbst beschreibt Freud wie folgt: der Analysand wiederhole, „was sich aus den Quellen seines Verdrängten bereits in seinem offenkundigen Wesen durchgesetzt hat, seine Hemmungen und unbrauchbaren Einstellungen, seine pathologischen Charakterzüge.“ (EWD, 131) Es wird also, um das noch einmal zu betonen, kein vergangenes Ereignis wiederaufgeführt, sondern es wird der bestehende Konflikt wiederholt, um den sich der Verdrängungsmechanismus aufspannt, und zwar in der Weise, in der dieser Konflikt den Charakter des Analysanden geprägt hat. Das Verdrängte hat das Wesen des Analysanden geprägt, indem es sich nicht gezeigt hat, sich nicht zeigen durfte – und so Ausdruck auf anderen Gebieten und in der Übertragung gefunden hat. Damit hat es eine gewisse Macht über den Analysanden gewonnen: dessen Handeln ist nicht unter seiner bewussten Kontrolle, sondern entfaltet sich mehr oder weniger häufig und mehr oder weniger intensiv aus Wiederholungszwängen heraus, die ihm selbst nicht bewusst sind: ihr auslösender Konflikt ist verdrängt. Als Beispiele für Wiederholungszwänge führt Freud Fälle an, in denen sich der Analysand nicht erinnert, dass er trotzig und ungläubig gegen die Autorität der Eltern gewesen sei, sondern er benimmt sich in solcher Weise gegen den Arzt. Er erinnert sich nicht, daß er in seiner infantilen Sexualforschung rat- und hilflos stecken geblieben ist, sondern er bringt einen Haufen verworrener Träume und Einfälle vor, jammert, daß ihm nichts gelinge, und stellt es als sein Schicksal hin, niemals eine Unternehmung zu Ende zu führen. (EWD, 129) Wiederholungszwänge treten natürlich nicht nur innerhalb der Analyse auf, sondern in anderen zwischenmenschlichen Beziehungen, in denen sich eine Möglichkeit der Übertragung ausmachen lässt. Auch im alltäglichen Leben agiert der Analysand unbewusst und unter dem Einfluss des Wiederholungszwangs. So „zum Beispiel wenn er während der Kur ein Liebesobjekt wählt, eine Aufgabe auf sich nimmt, eine Unternehmung eingeht.“ (EWD, 130) Freud betont, dass Analysanden soweit wie möglich davon abgehalten werden sollten, während der Analyse wichtige Entscheidungen zu treffen, z.B. einen Lebenspartner zu wählen, da die Aktivität des Wiederholungszwangs durch die Bemühungen, ihn in der Kur zugänglich zu machen, noch verstärkt wird. Dem Wiederholungszwang wird in der Therapie Raum gemacht, er muss von etwas,

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dem der Analysand Verachtung entgegenbringt, zu einem „würdigen Gegner“ werden. (EWD, 132) Darüber, dass die Beschäftigung mit den Symptomen zu deren zeitweiser Verstärkung führen kann, so Freud, kann man den Analysanden mit der Erkenntnis trösten, „daß dies nur notwendige, aber vorübergehende Verschlechterungen sind und daß man keinen Feind umbringen kann, der abwesend oder nicht nahe genug ist.“ (EWD, 132) Die neue Strategie der Analyse ist also, den „Feind“ einzuladen, ihn nahe genug an den Analysanden heranzulassen, um sich ihm dann bemächtigen zu können. Die Krankheit soll nicht mehr als „historische Angelegenheit“ betrachtet werden, an die es sich zu erinnern gilt, sondern sie muss als eine „aktuelle Macht“ verstanden werden, von der es sich allmählich zu befreien gilt. Modifikation durch / von Wiederholung Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

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Obwohl sich Wiederholungszwänge auch innerhalb der Analyse auf zwanghafte, unbewusste und unkontrollierbare Weise äußern, also selbst Teil der Krankheit sind, haben sie Freud zufolge das Potential dazu, über die Krankheit hinauszuweisen: sie sind ein „Zwischenreich“ zwischen Krankheit und Leben. (EWD, 135) Mit einer geglückten Übertragung auf den Analytiker wird der bestehende Konflikt in eine „Übertragungsneurose“ überführt, also in eine Version der bestehenden Neurose, die qua Übertragung spezifisch an die Therapiesituation adaptiert ist. Die Übertragungsneurose ist der Arbeit des Analytikers dann zugänglich, da er in den Wiederholungszwang integriert wird. Er wird Teil der Krankheit, und kann so versuchen, aus der Erfahrung des Wiederholungszwangs gemeinsam mit dem Analysanden ein neues Verständnis des Konflikts zu entwickeln. Die Wiederholung kann dort aufzeigen, an welchen Stellen verdrängt und der Weg zur Erinnerung verstellt wird, indem mittels der Wiederholung in der Analyse eine entstellte Wiederkehr dieser verdrängten Triebrepräsentanzen inszeniert wird. Da der Weg zur Erinnerung versperrt ist, wird über die Übertragung versucht, den Wiederholungszwang handhabbar zu machen: Wir machen ihn unschädlich, ja vielmehr nutzbar, indem wir ihm sein Recht einräumen, ihn auf einem bestimmten Gebiete gewähren lassen. Wir eröffnen ihm die Übertragung als den Tummelplatz, auf dem ihm gestattet wird, sich in fast völliger Freiheit zu entfalten, und auferlegt ist, uns alles vorzuführen, was sich an pathogenen Trieben im Seelenleben des Analysierten verborgen hat. (EWD, 129)

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In der Übertragung auf den Analytiker, an dem in der Wiederholung Konflikte ausagiert statt erinnert werden, treten psychische Widerstände gegen das Erinnern deutlich hervor. Damit werden sie potentiell benennbar, dem Analysanden bewusst, dem Handeln zugänglich – und so ihr Zwangscharakter zumindest geschwächt. Die Übertragung bestehender Konflikte auf den Analytiker geht dabei nicht immer komplikationsfrei vor sich, wie Freud betont: „Das Wiederholenlassen während der analytischen Behandlung nach der neueren Technik heißt ein Stück realen Lebens heraufbeschwören und kann darum nicht in allen Fällen harmlos und unbedenklich sein.“ (EWD, 132f.) Im Heraufbeschwören der Wiederholung wird die Analyse zugleich der Gefahr des Scheiterns ausgesetzt, denn es ist nicht voraussehbar, ob sich die Wiederholung kontrollieren lassen wird. Freud führt hierfür das Beispiel einer ehemaligen Patientin an, deren Neurose sich darin äußerte, dass sie nachts wiederholt ihr Haus und ihren Mann verließ, um „irgendwohin zu flüchten“, ohne sich über Grund und Motivation dieses Flüchtens bewusst zu sein. In der Therapie zeigte diese Patientin bereits von Anfang an eine „gut ausgebildete“ Übertragung auf ihren Analytiker Freud. Diese steigerte sich allerdings „in unheimlich rascher Weise,“ so dass die Patientin nach nur einer Woche wiederum geflüchtet war, diesmal von Freud und der Therapiesituation. Sie war, so Freud, von ihm „durchgegangen“ und die Therapie damit erfolglos beendet. (EWD, 134) Der Wiederholungszwang kann sich demnach auch in der Analyse als nicht zähmbar herausstellen, wenn die Übertragung, die notwendige Voraussetzung für das Gelingen der Analyse ist, zu stark ausgebildet ist. Entscheidend ist aber, dass die Gefahr einer zu starken Übertragung in Kauf genommen werden muss, da sich der Wiederholungszwang als unzugänglich für einen Zugriff von außen erweist; er kann nicht anders als im Durchgang durch die Wiederholung behandelt werden. Wie eingangs bemerkt, stellt Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten eine Innovation der psychoanalytischen Technik dar. Zu Anfang seiner Arbeit als Analytiker hatte Freud seinen Patienten schlicht mitgeteilt, worin der bestehende Konflikt bestehe. So im Fall von Dora, einer seiner bekanntesten Patientinnen, bei der Freuds Traumdeutung zu einem Abbruch der Analyse ihrerseits beigetragen hatte. Wo Freud meinte, dem Problem auf die Spur gekommen zu sein, blieb Dora unbeeindruckt: „Als ich nach Schluß der zweiten Sitzung meiner Befriedigung über das Erreichte Ausdruck gab, antwortete sie geringschätzig: Was ist denn da viel herausgekommen?“111 Dass Freuds eigene Interpretation ihn selbst so zufriedenstellte 111

Sigmund Freud, Bruchstücke einer Hysterie-Analyse, GW V, S. 267.

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und ihm als Erfolg erschien, machte einen befremdlichen Eindruck auf Dora – in ihrem Empfinden hatte sich schließlich nichts geändert. Die nächste Sitzung mit Freud eröffnete sie mit der Ansage, dies sei zugleich ihre letzte Sitzung, und die Analyse somit beendet. Selbst, wenn der Analysand mit der ihm zugetragenen Diagnose des Analytikers einverstanden ist, sie also nachvollziehen, verstehen, und annehmen kann, reicht dies oft nicht aus, um eine Befreiung von Symptomen zu erreichen. Denn auch wenn der Analysand, wie Jonathan Lear schreibt, durch die Akzeptanz der Mitteilung des Analytikers ein angemessenes Verständnis über die eigenen unbewussten Motivationen entwickelt, so kann ein solches Verständnis noch nicht den benötigten therapeutischen Effekt haben, weil es nicht mit der psychischen Aktivität verbunden ist, die es zu benennen sucht.112 So mag es sein, dass Dora Freuds Interpretation annimmt, aber dennoch feststellt, dass dabei nicht „viel herausgekommen“ sei. In seinem Nachwort zu Doras Analyse stellt Freud fest, dass er ihrer Übertragung nicht genug Beachtung geschenkt hatte. Insbesondere habe er es nicht für wichtig genug genommen, dass Dora ihn zunächst mit ihrem Vater, dann jedoch mit Herrn K. identifiziert habe – also mit dem Mann, an dem sich Doras Konflikt manifestierte. Freud zufolge rächte sich Dora an ihm „wie sie sich an Herrn K. rächen wollte“, und zwar indem sie ihn verließ, „wie sie sich von [Herrn K.] getäuscht und verlassen glaubte.“113 Dora „agierte“, so Freud, anstatt ihre Erinnerungen und Phantasien zu reproduzieren.114 Auf dies Problem, das sich aus der bisherigen Strategie der Analyse ergibt, reagiert der in Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten entwickelte neue Ansatz, indem Analytiker und Analysand gemeinsam den Konflikt wiederholen und innerhalb der Analyse über die Übertragung zum Leben erwecken. Der Analysand gewinnt so die Möglichkeit, die fraglichen Symptome nicht als Realität, sondern als Symptome zu erfahren, anstatt nur von ihnen durch den Arzt berichtet zu bekommen, wie es bei Dora der Fall war. Um diese Verbindung zwischen der Aktivität des Wiederholungszwangs und seiner Benennung herzustellen, muss der Wiederholungszwang im Rahmen der Analyse mittels Übertragung durchlebt werden. Lear illustriert diesen methodologischen Wechsel und damit die Potentiale, die in Übertragung und Wiederholung liegen, indem er veranschaulicht, wie Doras Analyse sich hätte entwickeln können, hätte Freud diese Strategie in ihrem Falle angewendet:

112 113 114

„[T]his belief cannot make the right kind of therapeutic difference – because it does not connect with the mental activity it purports to name.“ Jonathan Lear, Freud, S. 135f. Sigmund Freud, Bruchstücke einer Hysterie-Analyse, GW V, S. 283. Ibid.

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In the actual Dora case, the analysis broke down over the transference. But in this imagined scenario, Dora experiences a different kind of breakdown: a breakdown in her ability to experience reality unproblematically in certain ways. As she is trying to describe Freud in Herr-K-like ways – or, as she is experiencing Freud in Herr-K-like ways – she also experiences that there is something about her experience that doesn‘t ring true. This experience of breakdown in one’s standard modes of interpretation makes it possible for the analysand to recognize her own transference.115 Wenn es Dora in diesem hypothetischen Szenario also möglich wird, eine Diskordanz in ihrer Wahrnehmung von Freud als Herr K. wahrzunehmen, dann bedeutet das, dass sie zugleich Abstand zu sich selbst gewinnt, zu ihrem Erleben und ihrem Tun. Damit gewinnt sie die Möglichkeit, aus kritischer Distanz die Gründe dafür zu befragen, warum sie Situationen oder Beziehungen in einer bestimmten Weise erfährt und ihnen gegenüber bestimmte Handlungsmuster wiederholt. Die Erfahrung davon, dass die eigene Wahrnehmung von bestimmten Situationen oder Personen auf eine bestimmte Weise präformiert ist, ist innerhalb der Analyse möglich, indem die Übertragungsneurose hier vom Analytiker erkannt und, so Freud, ‚gehandhabt‘ werden kann.116 Wenn dieser Prozess gelingt, so stellt Lear heraus, dann handelt es sich bei ihm weniger um eine intellektuelle Übung als vielmehr um eine emotional lebendige Situation, die Analysand und Analytiker gemeinsam durcharbeiten.117 Den Wiederholungszwang in einer solchen realen und doch nicht realen Situation wie der Analyse zu durchleben, kann zu einer Änderung in der Wahrnehmung führen (‚Freud ist wie Herr K. und zugleich nicht wie Herr K.‘), die wiederum zu einer Wahrnehmung von den psychischen Widerständen führen kann, die Erfahrungen auf eine bestimmte Art filtern (‚Ich erlebe Freud wie Herrn K., obwohl er anders als Herr K. ist‘). Eine solche Erfahrung machen zu können, ändert die Struktur des Bewusstseins: Sobald wir auch nur ahnen, dass unser gewöhnliches Handeln und Erleben nicht so mit der Wirklichkeit korrespondiert, wie wir zuvor unhinterfragt angenommen hatten, erleben wir die unheimliche Wirkung davon, etwas zu tun und doch nicht zu handeln bzw. in unserem Handeln nicht frei zu sein, sondern von einer bis dato unerkannten fremden Macht in unserem Inneren gesteuert zu werden. Die gesamte analytische Situation bekommt so eine gewisse Ähnlichkeit mit einer Inszenierung im Theater. Zentral ist, so Lear, dass der Analysand den 115 116 117

Jonathan Lear, Freud, S. 140. „Das Hauptmittel aber, den Wiederholungszwang des Patienten zu bändigen und ihn zu einem Motiv fürs Erinnern umzuschaffen, liegt in der Handhabung der Übertragung.“ (EWD, 134) Jonathan Lear, Freud, S. 140.

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Analytiker in den Wiederholungszwang integriert und ihn so erlebt, dass er eine bestimmte Position einnimmt, einen bestimmten Charakter gewinnt, der die Wiederholung möglich macht. Diese Erfahrung muss zunächst vollkommen real sein: man ist ein bestimmter Charakter, kein Schauspieler einer Rolle der weiß, dass er einen bestimmten Charakter spielt und mit einem weiteren Schauspieler in einer ebensolchen Rolle interagiert. Da der Wiederholungszwang zwar ein tatsächlicher und kein gespielter ist, aber innerhalb der analytischen Situation stattfindet – sie ist der „Tummelplatz“, die Bühne für den Wiederholungszwang – ist in dieser Situation zugleich die Möglichkeit gegeben, stellenweise eine gewisse Distanz vom Geschehen einzunehmen. Es wird so möglich, zugleich eine Handlung zu vollziehen bzw. einen Wiederholungszwang auszuagieren, und dabei zu erfahren, dass der Analytiker eben doch nur der Analytiker ist, der in einer bestimmten Weise erlebt und in ein Narrativ eingebaut wird, das dem Wiederholungszwang geschuldet ist. Nur in der gemeinsamen Aufführung der Wiederholung durch Analysand und Therapeut kann hier im Perspektivenwechsel zwischen ausagieren und Beobachtung, im Vollzug der Wiederholung eine Modifikation im Erleben derselben erreicht werden. Was auch immer verantwortlich für die Auslösung des Wiederholungszwangs ist, kann nicht erinnert werden, es kann nur durchlebt, in der Wiederholung als Konfrontation mit dem wirklichen Leben erfahren werden. Es muss deshalb der Wiederholungszwang gegen sich selbst gewendet werden; das wiederum ist eine Frage der Technik wie auch „eine der Zeit: der Zeit, die verstreicht, bis der Patient selbst die verdrängten Triebregungen aufgefunden hat, die er zunächst agiert. Zeit des Durcharbeitens heißt das bei Freud, temps pour comprendre bei Lacan.“118 In Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten lässt sich demnach deutlich erkennen, dass der einschränkende, zwanghafte Charakter von Wiederholungen Hand in Hand mit ihren befreienden Eigenschaften geht. Befreiendes Handeln kann, wie sich gezeigt hat, nur aus einer direkt mit dem Wiederholungszwang verschränkten Bewegung entstehen: Als eine performative Wiederholung des Wiederholungszwangs, die diesen dabei zugleich modifiziert. Wiederholung als Kontrollverlust im alltäglichen Erleben Ich will nun das Gebiet der im engeren Sinne klinischen Betrachtungsweise des Wiederholungszwangs verlassen, um zur dessen Entwicklung in Freuds kulturtheoretischen und metapsychologischen Schriften überzugehen. In seiner Schrift über Das Unheimliche, verfasst parallel zu Jenseits des Lustprinzips 118

Udo Hock, Das Unbewusste Denken, S. 171.

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(auf das ich in Kürze zu sprechen werden komme) aber ein Jahr früher publiziert, wird die „unbeabsichtigte Wiederkehr“ bzw. „Wiederholung“ bestimmter Elemente als Schlüsselelement der Hervorrufung des Unheimlichen bezeichnet. (U, 249f.) Etwas wirkt unheimlich auf uns, so Freud, insofern es an einen „inneren Wiederholungszwang“ erinnert, also an Wiederholungszwänge im eigentlichen, psychologischen Sinne – Freud verweist hier spezifisch auf seine Ausführungen in Jenseits des Lustprinzips. (U, 251) Bei dem Aufsatz zum Unheimlichen handelt es sich also um eine Arbeit, die nur indirekt für das Thema der Wiederholung relevant ist, nämlich insofern das Unheimliche uns etwas über die Wirkungsweise von Wiederholungszwängen zu sagen vermag: das unerwartete Wiederauftauchen von bestimmten Elementen oder Situationen führt zu einer Diskordanz in der eigenen Erfahrung, wird als Verlust von Kontrolle und damit als bedrohlich erfahren; hier hat das Unheimliche seinen Ursprung. Die unheimliche Wirkung, die Wiederholungen auf uns ausüben können, beschreibt Freud anhand von mehreren Beispielen. So schildert er seine eigene Begegnung mit einem Viertel, in das er beim Flanieren durch eine italienische Kleinstadt unabsichtlich gerät, und in dem Prostituierte ihre Dienste anbieten. Sobald er sich über den Charakter der Straße bewusst wird – „Es waren nur geschminkte Frauen an den Fenstern der kleinen Häuser zu sehen“ – beeilt er sich, „die enge Straße durch die nächste Einbiegung zu verlassen“. (U, 249) Von dieser Begegnung peinlich berührt, spaziert er weiter ziellos durch die Stadt, gerät dabei nach kurzer Zeit abermals in dieselbe Straße. Er verlässt sie nun um so überstürzter, da er sich sicher ist, bereits einiges Aufsehen erregt zu haben. Freuds „eilige Entfernung“ führt allerdings dazu, dass er „auf einem neuen Umwege zum drittenmal dahingeriet“, woraufhin ihn ein Gefühl ergreift, dass er „nur als unheimlich bezeichnen kann“. (U, 249) Dass er auf seinen Spaziergängen unabsichtlich stets wieder in genau dasjenige Viertel gelangt, das er zu vermeiden versucht, wird ihm unheimlich. Freud führt weitere Beispiele für den Zusammenhang von Wiederholung und Unheimlichem an: Zum Beispiel, wenn man sich im Hochwald, etwa vom Nebel überrascht, verirrt hat und nun trotz aller Bemühungen, einen markierten oder bekannten Weg zu finden, wiederholt zu der einen, durch eine bestimmte Formation gekennzeichneten Stelle zurückkommt. Oder wenn man im unbekannten, dunklen Zimmer wandert, um die Tür oder den Lichtschalter aufzusuchen und dabei zum xtenmal mit demselben Möbelstück zusammenstößt, eine Situation, die Mark Twain allerdings durch

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groteske Übertreibung in eine unwiderstehlich komische umgewandelt hat. (U, 260)119 In allen drei Beispielen, in der Kleinstadt, im Wald und im dunklen Zimmer, kehren durch Zufall Situationen, Orte und Begegnungen wieder, denen gemeinsam ist, über ihre Wiederholung ein Muster zu konstituieren. Eine bestimmte Handlung bzw. Ereignis wird wiederholt, ohne dass eine Intention oder ein Grund für diese Wiederholung ersichtlich ist. Zugleich ist die Wiederholung unerwünscht und suggeriert so das Steckenbleiben in einer unangenehmen oder bedrohlichen Situation. Entscheidend für das Gefühl des Unheimlichen ist demnach die in unbeabsichtigten Wiederholungen erfahrene Hilflosigkeit, Unverfügbarkeit und Unkontrollierbarkeit – die Wiederholung raubt Handlungsspielraum – sowie das Unvermögen, die Herkunft der Wiederholungen zu verstehen. Die Parallele zu psychischen Wiederholungszwängen ist unübersehbar: dort wie hier wird etwas, was wir wiederholt tun, als etwas erfahren, was uns unkontrollierbar von außen zustößt. Eine weitere Dimension dieser Parallele lässt sich in Freuds Bemerkungen zur Bedeutung des Wortes „Unheimlich“ ausmachen. In seinen Überlegungen zur Etymologie stellt Freud zunächst heraus, dass dem ‚heimlichen‘ eine Doppelbedeutung zukommt: etwas ist heimlich im Sinne von vertraut und „zum Haus gehörend“; aber zugleich bezeichnen wir als ‚heimlich‘ Dinge oder Aktionen, die wir vor anderen oder vor uns selbst verstecken und verborgen halten, die nicht gesehen werden dürfen. Dem Wort „heimlich“ kommt eine innere Ambivalenz zu, so Freud, die schließlich mit dem Wort „unheimlich“ zusammenfällt: „Unheimlich ist irgendwie eine Art von heimlich.“ (U, 237) Die Doppelbedeutung von heimlich ließe sich auf psychische Wiederholungszwänge in Analogie zum Unbewussten übertragen: Wiederholungszwänge werden uns unheimlich, weil und insofern sich in ihnen manifestiert, was versteckt bzw. verdrängt ist, aber dennoch Teil unseres Selbst ist (insofern vertraut und zum ‚Haus‘ gehörend). Die zwei Bedeutungen des Heimlichen fallen auch in der Manifestation des Wiederholungszwangs in gewisser Weise zusammen. Dies lässt darauf schließen, dass auch vom eigentlichen, inneren Wiederholungszwang eine unheimliche (Freud sagt: dämonische) Wirkung ausgeht, dass er dem Menschen genauso unwillkürlich, unkontrollierbar, äußerlich und unheimlich wie in den von Freud angeführten Beispielen gegenübertritt. In diesem Zusammenhang lässt sich zudem Freuds Bezugnahme auf Jentsch anführen, der herausstellt, dass das Unheimliche seine Wurzel darin 119

Zur Bedeutung der Wiederholung für das Komische vgl. Alenka Zupančič, The Odd one in.

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haben könne, dass entweder Zweifel darüber aufkommen, ob ein lebloser Gegenstand „nicht etwa beseelt sei“, oder wenn ein eigentlich „beseelt“ gewusster Vorgang plötzlich den Anschein eines automatischen oder mechanischen Prozesses erweckt, wie es etwa in „Äußerungen des Wahnsinns“ der Fall sei. (U, 237) Wenn also die Handlungen eines Menschen, von denen grundsätzlich angenommen wird, dass sie seinen bewussten Intentionen entspringen, plötzlich einen mechanischen und automatischen Charakter annehmen, geht von ihnen eine unheimliche Wirkung aus. Etwas wird getan, ohne der Tat einen (beseelten) Täter zuschreiben zu können. Das Unheimliche bietet damit eine sinnfällige Beleuchtung charakteristischer emotionaler Reaktionen an, die in der Konfrontation mit und dem Erleben von Wiederholungen auftreten: eine Fremdheit im eigenen Erleben und Handeln, das sich dem Handelnden einerseits als äußerlich gegenüberstellt, dessen Verbundenheit mit und Entspringen aus dem eigenen Innenleben jedoch andererseits zugleich zumindest vage gespürt wird. Ähnlich wie im Aufsatz zum Unheimlichen, finden auch in Jenseits des Lustprinzips Phänomene des Alltagslebens Beachtung. Wie Freud dort zeigt, finden wir uns nicht nur in Fällen psychischer Erkrankungen mit Wiederholungszwängen konfrontiert, etwa bei Neurotikern oder Hysterikern. Vielmehr strukturieren Wiederholungszwänge auch Teile des Lebens von ansonsten unauffälligen und funktionsfähigen (psychisch ‚gesunden‘) Menschen. Diese äußern sich beispielsweise in zwischenmenschlichen Beziehungen, die stets nach demselben Muster ablaufen und so den Charakter eines die betroffene Person „verfolgenden Schicksals,“ eines „dämonischen Zuges in ihrem Erleben“ annehmen. (JdL, 20) Auch hier, im Falle von zwischenmenschlichen Beziehungen, können Wiederholungen entsprechend als in gewisser Hinsicht ‚unheimlich‘ bezeichnet werden. Der Zwang, der sich in ihnen äußert, so Freud, „ist vom Wiederholungszwang der Neurotiker nicht verschieden“, auch wenn bei diesen Personen die Zeichen eines „durch Symptombildung erledigten neurotischen Konflikts“ fehlten. (Ibid.) Freud illustriert dies anhand von mehreren Beispielen von „Personen, bei denen jede menschliche Beziehung den gleichen Ausgang nimmt:“ Wohltäter, die von jedem ihrer Schützlinge nach einiger Zeit im Groll verlassen werden, so verschieden diese sonst auch sein mögen, denen also bestimmt scheint, alle Bitterkeit des Undankes auszukosten; Männer, bei denen jede Freundschaft den Ausgang nimmt, daß der Freund sie verrät; andere, die es unbestimmt oft in ihrem Leben wiederholen, eine andere Person zur großen Autorität für sich oder auch für die Öffentlichkeit zu erheben, und diese Autorität dann nach abgemessener Zeit selbst

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stürzen, um sie durch eine neue zu ersetzen; Liebende, bei denen jedes zärtliche Verhältnis zum Weibe dieselben Phasen durchmacht und zum gleichen Ende führt usw. (JdL, 20f.) In allen vier genannten Beispielen manifestiert sich der Wiederholungszwang als Beziehungsmuster, das in seiner scheinbar unerklärbaren Wiederkunft im Leben der Betroffenen so als „Schicksalszwang“ erscheint. (JdL, 22) Die Personen, von denen Freud hier spricht, führen bewusst-unbewusste Wiederholungen durch: Sie handeln immer wieder nach demselben Muster, bringen ihre Beziehungen immer wieder an strukturell vergleichbare Punkte, ohne dass ihnen der Weg zum Ergebnis bewusst wäre. Sie handeln, und doch bleibt ihre Handlungsmotivation ihnen unbewusst. Mehr noch, dass es überhaupt sie selbst sind, die diese Situationen hervorbringen, ist ihnen nicht bewusst; es stellt sich beim Erleben dieser Vorkommnisse vielmehr das dämonisches Gefühl davon ein, dass es sich hier um das Wirken einer schicksalhaften Macht handeln müsse. Die Reaktion auf die Phänomene des Wiederholungszwangs ist nicht ‚Jetzt habe ich es schon wieder getan‘, oder noch besser, ein antizipierendes ‚Jetzt tue ich es erneut‘, sondern: ‚Jetzt ist es mir schon wieder passiert‘.120 Die Wiederholung wird retrospektiv als eine mir zugestoßene erkannt und in die Genealogie der Ereignisse aufgenommen. Wie und warum diese Wiederholung zustande gekommen ist, liegt außerhalb der Verfügbarkeit des Bewusstseins; dadurch gewinnen die Wiederholungen ihren „triebhaften“ oder „dämonischen“ Charakter, ihre unheimliche Wirkung. (JdL, 36) Wenn die Wiederkehr bestimmter Beziehungskonstellationen im Leben einer Person nicht auf feststellbare Verhaltensweisen zurückgeführt werden kann – auf bestimmte klar ersichtliche Charakterzüge etwa – wenn sie also passiv „immer nur die Wiederholung desselben Schicksals“ zu erleben scheint, dann geht von einer solchen „ewige[n] Wiederkehr des Gleichen“ eine besonders gewichtige Wirkung aus. (JdL, 21) Dass Wiederholungszwänge auch im alltäglichen Leben auftreten, lässt sie zum einen als integralen Teil oder Aspekt der menschlichen Psyche erscheinen. Der Wiederholungszwang rückt hier in die Nähe eines universalen psychologischen Mechanismus wie etwa die Verdrängung, die zwar Teil einer psychischen Erkrankung sein kann, aber auch unabhängig von Erkrankungen und Neurosen als psychischer Mechanismus existiert. Damit ist zum anderen auch eine weitreichende Diagnose über menschliches Handeln gestellt: Dieses scheint generell dazu zu tendieren, durch den Einfluss von Wiederholungszwängen von der Vergangenheit beherrscht zu werden. Ihr eigenes Handeln 120

Udo Hock, Das unbewußte Denken, S. 196.

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Wiederholungszwang und Möglichkeitsbereich

wird den Handelnden unheimlich und zugleich fremd, weil sie sich nicht als intentional Handelnde wahrnehmen können, und sich ihnen dabei eine Rückkehr des „Altbekannten“, ihrer Vergangenheit, als „Schicksal“ gegenüberstellt.

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Wiederholungszwang, Trauma, und Bemächtigung Die entscheidende Neuerung, die Freud in Jenseits des Lustprinzips einführt, ist seine Abkehr von der Annahme, dass Wiederholungszwänge mit der Herrschaft des Lustprinzips vereinbar seien.121 Er wendet sich hier Wiederholungszwängen zu, die allein unter Maßgabe von Lustprinzip und Realitätsprinzip unverständlich bleiben: die Wiederholung von Elementen, deren Wiederauftauchen nicht nur infolge eines Verdrängungsprozesses unlustvoll ist, sondern die von Anfang an kein Potential der Lustgewinnung hatten. Ein bekanntes Beispiel hierfür ist das Fort–Da–Spiel, das Freud an einem Kind beobachtet hatte. Das Kind hatte die Angewohnheit, wiederholt „alle kleinen Gegenstände, deren es habhaft wurde“, unter dem Ausruf „o–o–o–o“ weit von sich zu schleudern, bis sie seinem Blickfeld entschwanden, in einer Zimmerecke oder unterm Bett. (JdL, 12) Dieser Ausruf, so Freud, war „keine Interjektion“ sondern bedeutete „Fort“. (ibid.) Das Spiel existierte noch in einer zweiten Form, die darin bestand, ein an einem Faden befestigtes Objekt von sich zu schleudern und nach kurzer Zeit wieder zu sich zurückzuholen: Das Kind hatte eine Holzspule, die mit einem Bindfaden umwickelt war. Es fiel ihm nie ein, sie zum Beispiel am Boden hinter sich herzuziehen, also Wagen mit ihr zu spielen, sondern es warf die am Faden gehaltene Spule mit großem Geschick über den Rand seines verhängten Bettchens, so daß sie darin verschwand, sagte dazu sein bedeutungsvolles o–o–o–o und zog dann die Spule am Faden wieder aus dem Bett heraus, begrüßte aber deren Erscheinen jetzt mit einem freudigen „Da“. Das war also das komplette Spiel, Verschwinden und Wiederkommen, wovon man zumeist nur den ersten Akt zu sehen bekam, und dieser wurde für sich allein unermüdlich als Spiel wiederholt, obwohl die größere Lust unzweifelhaft dem zweiten Akt anhing. (JdL, 12f.) Den Schlüssel zu diesen unermüdlich wiederholten Spielen sieht Freud in der Mutter des Kindes, die den Jungen häufig für mehrere Stunden allein ließ. 121

Eine hervorragende Interpretation von Jenseits des Lustprinzips, sowie eine Verortung der Schrift in der kritischen Theorie, findet sich in Benjamin Y. Fong, Death and mastery.

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Die vom Kind weggeschleuderten Objekte stehen in dem Spiel für die Mutter, und ihr Verschwinden aus dem Blickfeld entsprechend für die Abwesenheit der Mutter. Freud zufolge „entschädigte“ sich das Kind mit der eigenständigen in-Szene-Setzung des Verschwindens und Wiederkommens der Mutter für die „große kulturelle Leistung,“ die es für ein eineinhalbjähriges Kind bedeutet, die Mutter widerstands- und protestlos gehen zu lassen und damit erheblichen Triebverzicht zu üben. (JdL, 13) Freud stellt in seiner Deutung heraus, dass die zweite Version des Spiels – die Spule, die weggeschleudert und zurückgeholt wird – der psychoanalytischen Deutung unter Festhalten am Lustprinzip wenig Probleme bereitet. Das Kind spielt das von ihm wiederholt erfahrene Szenario des Weggehens der Mutter durch, kann in seinem Spiel jedoch frei über die Rückkehr der Spule/Mutter verfügen und so den lustvollen Augenblick des Wiedersehens („Da“) nach Belieben herbeiführen. Zwar ist der erste Teil des Spiels (Weggehen) mit Unlust verbunden ist, doch der zweite, lustvolle Teil (Wiederkommen) ist ohne den ersten Teil nicht möglich. Unklar bleibt dennoch, so Freud, warum das Spiel häufiger in der ersten Version (Fortgehen ohne Wiederkommen) wiederholt wurde als in der zweiten. Freud legt deshalb einen Bezug zum „Bemächtigungstrieb“ nahe, der „sich davon unabhängig macht, ob die Erinnerung an sich lustvoll war oder nicht“ – eine Bemächtigung des Kindes über einen ihm offenbar Unlust bereitenden, aber von ihm stets passiv und widerstandslos hingenommenen Vorgang. (JdL, 14) In der Übertragung der unlustvollen Situation auf das symbolische Spiel gelingt es dem Kind, sich des Vorgangs in der Wiederholung zu bemächtigen: Es schleudert die Mutter aktiv von sich weg, bestimmt damit selbst den sonst außerhalb seiner Macht liegenden Zeitpunkt, zu dem die Mutter es verlässt, und gewinnt so im Spiel die Kontrolle über die Situation. Dennoch bleibt auch hier unklar, warum die unlustvolle Variante (ohne Rückkehr von Objekt/Mutter) im Spiel des Kindes häufiger wiederholt wird. Wirklich schlüssig kann das Fort–Da–Spiel Freud zufolge nicht erklärt werden, solange an der Herrschaft des Lustprinzips festgehalten wird. Es sind zwar immer auch Elemente im Wiederholungszwang auszumachen, die der Lustgewinnung und Reizminimierung dienen – wie z.B. die Bemächtigung über An- und Abwesenheit der Mutter – dennoch schlägt Freud vor, über den Wiederholungszwang umzudenken: dieser stehe nicht unter der Herrschaft des Lustprinzips, sondern ist „ursprünglicher, elementarer, triebhafter als das von ihm zur Seite geschobene Lustprinzip.“ (JdL, 22) Die neue Einsicht in Jenseits des Lustprinzips ist also, „daß der Wiederholungszwang auch solche Erlebnisse der Vergangenheit wiederbringt, die keine Lustmöglichkeit enthalten, die auch damals nicht Befriedigungen, selbst nicht von seither verdrängten Triebregungen, gewesen sein können.“ (JdL, 18)

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Wiederholungszwang und Möglichkeitsbereich

Das Fort–Da–Spiel und die oben beschriebenen Fälle von ‚Schicksalszwängen‘ weisen bereits deutlich in diese Richtung: die wiederholten Schicksalsschläge scheinen weder einen erkennbaren Lustgewinn zu ermöglichen, noch durch ihre Wiederholungen eine andere, stärkere Unlust für den Organismus zu vermeiden. Ausschlaggebend für die Modifikation der theoretischen Grundannahmen über den Wiederholungszwang war für Freud jedoch die Beobachtung von sogenannten traumatischen Neurosen, die nach „schweren mechanischen Erschütterungen, Eisenbahnzusammenstößen und anderen, mit Lebensgefahr verbundenen Unfällen“ (JdL, 9) entstehen; nach dem Ersten Weltkrieg traten solche Neurosen in gehäufter Form bei Rückkehrern aus dem Krieg auf. In diesen Beispielen wird durch den Wiederholungszwang keine ursprünglich lustvolle, dann verdrängte Triebrepräsentanz in entstellter Form aus den Tiefen des Unbewussten hervorgeholt und wiederholt. Vielmehr lässt sich hier oft beobachten, dass das Traumleben „den Kranken immer wieder in die Situation seines Unfalles zurückführt, aus der er mit neuem Schrecken erwacht.“ (JdL, 10) Normalerweise, so Freud, stellen Träume ein wichtiges Medium der Wunscherfüllung dar – in ihnen können wir uns Dinge erlauben, die wir uns im Wachen nicht erlauben können, ohne negative Konsequenzen davonzutragen, und von denen wir oft nicht einmal wissen, dass wir sie wollen. In diesen Träumen jedoch kann keine Wunscherfüllung ausgemacht werden. Sie können auch nicht mit einer „Fixierung“ an das Trauma erklärt werden, denn zumeist sei bei den Betroffenen im Wachen keine Beschäftigung mit dem Vorfall auszumachen. (JdL, 10f.) Grundlage dieser Wiederholungszwänge ist, wie die Bezeichnung „traumatische Neurose“ bereits nahelegt, das Trauma. Ein Trauma kommt dadurch zustande, dass ein Reiz, der die bestehende psychische Ordnung bedroht, die betreffende Person unvorbereitet trifft – als „Schreck“, der in Anbetracht einer Gefahr eintritt, auf die man nicht vorbereitet war und von der man überrascht wird. Es bleibt in diesem Fall keine Gelegenheit zur Verarbeitung und ggf. Verdrängung, weil der ankommende Reiz in solchem Maße ‚zu viel‘ und zersetzend ist, dass er nie bewusst erlebt wird – er kann also auch nicht verdrängt werden. (JdL, 19) Freud verdeutlicht dies, indem er den Organismus mit einem „lebenden Bläschen“ vergleicht, das sich durch Reizschutz vor dem ihn umgebenden Milieu schützt. Ein Trauma entsteht dann, wenn der Reizschutz durchbrochen wird und sich eine „Überschwemmung des seelischen Apparates mit großen Reizmengen“ ergibt. (JdL, 29) Ein Trauma entsteht aus einer Intensität, einem ‚zu viel‘ das plötzlich eintritt und vom psychischen Apparat nicht gebunden werden kann. Das Trauma bezeichnet so ein „NichtAbreagieren der Erfahrung, die wie ein Fremdkörper im Psychischen verbleibt“.122 122

Jean Laplanche/ J.B. Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, S. 515.

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Genauer handelt es sich um die Erfahrung der Unmöglichkeit von Erfahrung, die aus dem ‚zu viel‘ von Reizen resultiert. Was sich ereignet, kann nicht erfahren werden, d.h. es kann keinen Zugang, keine Verbindung zu unserem Bewusstsein erlangen.123 Das Trauma ist insofern, wie alles, was vom Bewusstsein abgetrennt ist, sprachlos. Seine Sprachlosigkeit ist aber anders strukturiert als diejenige einer verdrängten Triebrepräsentanz. Während letztere zunächst durchaus bewusst oder zumindest vorbewusst ist (was bedeutet, dass sie so strukturiert ist, dass sie dem Bewusstsein zugänglich ist, wenn auch nicht momentan bewusst), und dann mithilfe der Verdrängung unbewusst wird, war das Trauma dem Bewusstsein von Anfang an nie zugänglich. Deshalb ist auch der Wiederholungszwang hier anders strukturiert; zunächst einmal bringt er im Gegensatz zum Wiederholungszwang der auf Verdrängung basiert etwas per se Unlustvolles zurück. Zudem kann er aber als Versuch verstanden werden, eine nicht erfahrene Erfahrung nachträglich zu erfahren und bewusst werden zu lassen, indem mit dem Wiederholungszwang die „Reizbewältigung unter Angstentwicklung“ nachgeholt wird. (JdL, 32) Beim Trauma handelt es sich also um etwas, was dem Bewusstsein nie zugänglich war und es nicht sein konnte. Es handelt sich um einen reinen Einbruch in bzw. einen Durchschlag durch das Bewusstsein, und folglich um etwas, was diesem so fremd ist, dass es nicht einmal in konkretem Widerspruch zu ihm stehen kann – z.B. im Widerspruch gegen die psychische Ordnung des Ich-Ideal und/oder eine bestimmte Sexualmoral, wie es eingangs im Beispiel des ‚Clownismus‘ wohl der Fall war. Inwiefern bezeichnet Freud den Wiederholungszwang nun als „ursprünglicher“ als das Lustprinzip, das er „zur Seite schiebt“? Wie eingangs in diesem Kapitel erwähnt, bezeichnet Freud mit „Lustprinzip“ das Streben des psychischen Apparates nach Lustgewinn bzw. Unlustvermeidung, die letztlich durch psychische Stabilität und Reizvermeidung/-verminderung zu erreichen sind. Wenn nun das Trauma als durchbrechen des Reizschutzes und als nicht kontrollierbare Reizüberflutung verstanden wird, dann weist dies darauf hin, warum das Lustprinzip Freud zufolge in der Erklärung von psychischen Reaktionen auf Traumata nicht hinreicht. Ein traumatischer Einbruch in die psychische Ordnung wird „gewiß eine großartige Störung im Energiebetrieb des Organismus hervorrufen und alle Abwehrmittel in Bewegung setzen“ – 123

In diesem Zusammenhang ist die von Freud beiläufig erwähnte Bemerkung aufschlussreich, es sei häufig der Fall, dass es zur Entwicklung einer traumatischen Neurose komme, wenn in der entsprechenden Situation keine physische Verletzung davongetragen wurde. (JdL, 10) Freud unterscheidet hier zwischen Schreck, Furcht und Angst; die beiden letzteren sind Vorbereitungen auf eine anstehende Gefahr und schützen vor Entwicklung eines Traumas. Es lässt sich also annehmen, dass die Verletzung eine Möglichkeit zur Verarbeitung bietet, ebenso wie der Schreck.

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Aber das Lustprinzip ist dabei zunächst außer Kraft gesetzt. Die Überschwemmung des seelischen Apparates mit großen Reizmengen ist nicht mehr hintanzuhalten; es ergibt sich vielmehr eine andere Aufgabe, den Reiz zu bewältigen, die hereingebrochenen Reizmengen psychisch zu binden, um sie dann der Erledigung zuzuführen. (JdL, 29) Wenn der seelische Apparat also mit zu großen Reizmengen konfrontiert ist, ist das Lustprinzip, dessen Prinzip auf Reizverminderung durch Zensur beruht, machtlos. Hier ist nun die Aufgabe des Wiederholungszwangs, diese Reizmengen durch wiederholtes Vorlegen in irgendeiner Weise zu binden, und so den gewöhnlichen Funktionen des seelischen Apparates zugänglich zu machen. Ob Freud die Bezeichnung „Wiederholungszwang“ fortan allein solchen psychischen Phänomenen vorbehalten will, die diese archaische Funktion der Bindung und somit potentiell Bemächtigung jenseits der Aktivität des Lustprinzips aufweisen, ist nicht klar. Dass die 1920 in Jenseits des Lustprinzips entwickelte Konzeption des Wiederholungszwangs von der früheren unterschieden ist, sollte jedoch deutlich geworden sein: Bei der frühen Konzeption handelt es sich um das zwanghaft wiederholte Auftauchen eines verdrängten innerpsychischen Konflikts, wobei dieser Konflikt zumeist aus der Unvereinbarkeit des Ziels einer bestimmten Triebregung mit der psychischen Ordnung resultiert. Hier liegt also die Befriedigung einer Lustquelle (Triebregung) mit der Befriedigung einer anderen, übergeordneten Lustquelle im Konflikt: der Einheit und Reizvermeidung des Ich. Beide Lustquellen sind dem Lustprinzip unterstellt, aber nicht miteinander vereinbar. Die späte Konzeption versteht den Wiederholungszwang als dasjenige Prinzip, was ungebundene psychische Energie, die der Herrschaft des Lustprinzips entzogen ist, in zwanghafter Wiederholung überhaupt erst zu binden sucht, um so die Möglichkeit einer „Erledigung“ und ggf. Verdrängung herbeizuführen. Entstellte Geschichte: Der Mann Moses Die folgenden Abschnitte in diesem Kapitel basieren auf einer selektiven Lektüre von Freuds später Schrift Der Mann Moses und die monotheistische Religion (1939). In ihnen soll zunächst aufgezeigt werden, wie Freud selbst sein Konzept der Verdrängung im Individuum auf das Kollektiv sowie den Wiederholungszwang auf kollektives, historisch situiertes Handeln überträgt. Darauf aufbauend finden sich Überlegungen zur Übersetzung von Freuds Theorie der Genesis monotheistischer Religion in eine allgemeinere

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Theorie gesellschaftlicher Transformation. Damit beschränke mich auf das Herausarbeiten der strukturellen Parallele, die Freud zwischen dem psychischen Leben von Individuen und dem kollektiven Leben anstellt, und die ihm erlaubt, in der Geschichte eine „Wiederkehr des Verdrängten“ auszumachen. (MM, 240f.) Ich setze mich also nicht oder nur am Rande und zur Illustration mit Freuds vordergründigem Anliegen in der Schrift auseinander: die Genese des Monotheismus zu erklären und Überlegungen dazu anzustellen, „wie das jüdische Volk die Eigenschaften erworben hat, die es kennzeichnen“ (MM, 246), und wodurch es sich den „unsterblichen Haß“ zugezogen hat, der in Deutschland und im Europa der späten 30er Jahre wütet, in dem Freud seine Schrift verfasst hat.124 Freuds teils abwegige Spekulationen zum Mord am Urvater, der wiederum im Mord an Moses wiederholt wird, werden von mir nicht evaluiert, sondern lediglich herangezogen, um das ihnen zugrundeliegende Modell gesellschaftlicher Veränderung herauszuarbeiten. Freuds Überlegungen in Der Mann Moses nehmen ein Thema aus Totem und Tabu (1912) erneut auf: seine Hypothese vom „Mord am Urvater“ als grundlegendem zivilisatorischem Ereignis, das von uneingeschränkter Machtherrschaft zu gesellschaftlichen Regeln und Normen und sozialer Kooperation führte. Freud nimmt an, dass Menschen in Urzeiten zunächst in Horden lebten, in denen das männliche Oberhaupt – der Urvater – absolute Gewalt über seine Horde hatte. „[A]lle weiblichen Wesen waren sein Eigentum“, und seine Söhne, wenn sie die Eifersucht des Vaters erregten, wurden von ihm kastriert oder aus der Horde ausgestoßen. (MM, 187) Die ausgestoßenen jungen Männer, so Freud, hegten jeweils den Wunsch, den übermächtigen Urvater zu töten, um seinen Platz einzunehmen. Um dies Ziel zu erreichen, taten sie sich zusammen, töteten und verspeisten den Urvater nach damaligem Brauch. Da sie sich aber zusammentun mussten, um den Mord zu vollziehen, waren sie zur Kooperation und nachfolgend zur Zügelung ihrer eigenen Aggressionstriebe gezwungen. Hier handelt es sich um ein Gründungsparadox: Die Beschränkung von Aggressionen und Machtstreben einzelner, sowie die allmähliche Implementierung von gesellschaftlichen Normen und Regeln, die zur Kooperation befähigen und Gesellschaft gründen, beruht selbst auf einem Akt der Aggression und des Machtstrebens. Der Gründungsakt ist insofern mit den durch ihn initiierten Normen im Konflikt: innerhalb der neu gegründeten Ordnung ist (Vater)mord nicht mehr zulässig. So fällt dieser Vorfall fortan der Verdrängung zum Opfer. 124

Freud in einem Brief an Arnold Zweig vom 30. September 1934; zitiert nach: Jan Assmann, „Der Mann Moses und die monotheistische Religion“, S. 183.

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Freud legt bezüglich der Wirkung dieser neuen Ordnung einen Vergleich mit Verdrängungsvorgängen nahe, wie sie für die Herausbildung des Ich in der frühkindlichen Entwicklung konstitutiv sind: In der Ausdifferenzierung des Ich vom Es wird „ein Teil der Inhalte des Es vom Ich aufgenommen und in den vorbewußten Zustand gehoben, ein anderer Teil wird von dieser Übersetzung nicht betroffen und bleibt als das eigentlich Unbewußte im Es zurück.“ (MM, 203) Aus dem so konstituierten Ich werden dann im weiteren Verlauf seiner Entwicklung „gewisse psychische Eindrücke und Vorgänge [...] durch einen Abwehrprozeß ausgeschlossen“, sie werden durch diesen Ausschluss unbewusst und somit Teil des Es – also verdrängt. (ibid.) Analog dazu lässt sich der Mord am Urvater verstehen: Während Gewalt und Kannibalismus in den Urhorden Freud zufolge durchaus üblich ist, müssen beide aus der mit dem Mord unwillentlich errichteten gesellschaftlichen Ordnung, die auf Kooperation beruht, ausgeschlossen werden. Das „Es“ – hier: Gewalt, die zwischenmenschliche Verhältnisse regelt – wird so vom „Ich“ – hier: einer auf Normen und Regeln beruhenden Ordnung – ausgeschlossen. Damit wird auch der Status vom Mord am Urvater als ‚Urverdrängung‘ deutlich: der Mord konstituiert das Feld dessen, was fortan der Verdrängung zum Opfer fallen muss, da es die Kohärenz der Ordnung bedroht. Der ‚Mord am Urvater‘ als Element, das aus der durch ihn errichteten Ordnung verdrängt wird, strukturiert als Verdrängtes also die nachfolgende Entwicklung der Geschichte. Dies jedoch nicht nur, indem er eine normative Ordnung begründet, die eine kohärente Geschichtsschreibung verlangt, aus der dieser Mord ausgeschlossen werden muss, sondern zudem als eine Art Wiederholungszwang, der eben dieses kohärente Narrativ bedroht: „Nachdem das Ensemble von Brüderklan, Mutterrecht, Exogamie und Totemismus eingerichtet war, setzte eine Entwicklung ein, die als langsame ‚Wiederkehr des Verdrängten‘ zu beschreiben ist.“ (MM, 240f.) Diese Wiederkehr des Verdrängten, so Freud, drückt sich im Monotheismus aus. Im Monotheismus, der eine Vaterreligion ist, kehrt der Urvater der Urhorde in entstellter Form zurück: von nun an gibt Gott die Gesetze, er entscheidet über Leben und Tod – und dies insbesondere im Alten Testament in einer launischen und unberechenbaren Weise, nicht unähnlich seinem getöteten urgeschichtlichen Vorläufer. Er nimmt eine noch potenzierte Position der Allmacht ein, wie sie einst der Urvater innehatte. (MM, 191) Die Macht, die der Monotheismus über die Massen ausübt, beruht auf einem ‚historischen Wiederholungszwang‘: kurz gesagt ist Freuds Annahme, dass der Monotheismus seine Wirkung entfalten kann, indem der Mord am Urvater mit dem Mord an Moses und später an Jesus wiederholt wird. Insbesondere ist es der uneingestandene Mord an Moses durch die Israeliten, auf dem Freud entgegen wissenschaftlichem Konsensus besteht, dem

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hier eine Schlüsselrolle zukommt. Gott (Urvater) hat sich die Israeliten als sein Volk (Lieblingssohn) auserwählt, sendet ihnen einen Befreier aus der Sklaverei in Ägypten, und dennoch wollen sie seine Gesetze nicht anerkennen, rebellieren gegen sein Wort, und morden letztlich, so Freud, seinen irdischen Repräsentanten Moses – ganz wie die Söhne sich damals zusammengetan hatten, um den Urvater zu ermorden. Aufgrund der Wichtigkeit des ursprünglichen Mordes am Urvater sowie dessen Wiederholung wird das Ereignis zu einer „archaische[n] Erbschaft“, einer Spur im Unbewussten, die auch auf nachfolgende Generationen vererbt wird, und so die Basis einer Akzeptanz von religiösen Phänomenen ausmacht. (MM, 208) Diese Erbschaft wird wiederum aktiv, gelangt also „aus ihrem unbewußten Zustand im Es zum Bewußtsein, wenn auch verändert und entstellt,“ mithilfe der „Erweckung der vergessenen Erinnerungsspur durch eine rezente reale Wiederholung des Ereignisses“, wie es der „Mord an Moses“ und der „vermeintliche Justizmord“ an Jesus gewesen seien. (ibid.) Mit der Annahme eines unbewussten Fortwirkens und zwanghaften Wiederholens von traumatischen (Ur)Ereignissen in der Geschichte, so Freud, „haben wir die Kluft zwischen Individual- und Massenpsychologie überbrückt, können die Völker behandeln wie den einzelnen Neurotiker.“ (MM, 207) Wie das Ich bestrebt ist, eine möglichst konfliktfreie und kohärente Ordnung herzustellen, indem es bestimmte Elemente aus der psychischen Ordnung verdrängt, so wirkt auch in der gesellschaftlichen Ordnung ein Verlangen nach Kohärenz, das sich unter anderem in der Geschichtsschreibung wiederspiegelt: Bezüglich bestimmter Elemente der Geschichte, so Freud, gebe es „gute Motive“, die Erinnerung an sie zu verdrängen und ihnen einen Platz in der Geschichtsschreibung zu versagen. (MM, 172) So leistet die jeweilige Struktur gesellschaftlicher Ordnung einen wichtigen Beitrag dazu, dass diese Elemente in der Geschichte keinen Platz finden und sich nur als unbewusste „archaische Erbschaft“ erhalten können. Die jeweils herrschenden historischen Kräfte entscheiden über den Eingang oder die Verwehrung eines Eingangs in den Geschichtstext; sie strukturieren das geschichtliche Narrativ und errichten damit zugleich einen Ausschlussmechanismus gegenüber solchen Ereignissen, die dieses Narrativ bedrohen. In jedem Geschichtstext sind daher, so Freud, „auffällige Lücken, störende Wiederholungen, greifbare Widersprüche“ auszumachen: „Anzeichen, die uns Dinge verraten, deren Mitteilung nicht beabsichtigt war.“ (MM, 144) So findet, um bei Freuds Beispiel zu bleiben, in der Bibel zwar der Mord an Moses keine Erwähnung; doch der Konflikt zwischen Moses und seinem auserwählten Volk ist unverkennbar. In den offiziellen Geschichts- bzw. Bibeltext eingelassen finden sich also Indizien, aus denen sich das Ausgelassene unter Umständen rekonstruieren lässt. Das erfordert zwar einigen Aufwand, ist aber durchaus möglich, denn, so Freud: „Es ist bei der

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Entstellung eines Textes ähnlich wie bei einem Mord. Die Schwierigkeit liegt nicht in der Ausführung der Tat, sondern in der Beseitigung ihrer Spuren.“ (MM, 144) Das Auslassen bestimmter Details aus dem Geschichtstext ist durchaus nicht so schwierig wie die spurlose Überdeckung der dadurch erzeugten Leerstelle, so dass keine sichtbare Lücke oder Vernarbung übrigbleibt. Das Verdrängte der Geschichte ist also rekonstruierbar, „[e]s wird nur nicht immer leicht sein, es zu erkennen“ (MM, 144), denn es ist nur in einer in mehrfacher Hinsicht entstellten Form präsent: sowohl in seiner Erscheinung verändert, verkleidet, als auch, so Freud, an andere Stellen verschoben, ent-stellt: Man möchte dem Wort ‚Entstellung‘ den Doppelsinn verleihen, auf den es Anspruch hat, obwohl es heute keinen Gebrauch mehr davon macht. Es sollte nicht nur bedeuten: in seiner Erscheinung verändern, sondern auch: an eine andere Stelle bringen, anderswohin verschieben. Somit dürfen wir in vielen Fällen von Textentstellung darauf rechnen, das Unterdrückte und Verleugnete doch irgendwo versteckt zu finden, wenn auch abgeändert und aus dem Zusammenhang gerissen. Es wird nur nicht immer leicht sein, es zu erkennen. (MM, 144) Die Analogie zu Verdrängungsvorgängen einzelner Individuen sowie der psychoanalytischen Praxis, die diese Verdrängungsvorgänge zu lesen versucht, ist unverkennbar. Wie in den Äußerungen des Analysanden, so macht sich auch im Geschichtstext das Verdrängte in entstellter Form und durch Auslassungen bemerkbar. Das „Unterdrückte und Verleugnete“ der Geschichte überlebt Freud zufolge als „archaischen Erbschaft“, wie oben erwähnt. Freud bezeichnet diesen Modus der Erhaltung auch als „Tradition“; die Tradition versteht er als „Ergänzung und zugleich [als] Widerspruch zur Geschichtsschreibung.“ (MM, 172) Die notwendig entstellenden Tendenzen der Geschichtsschreibung – notwendig, weil sie eine bestimmte Ordnung herstellen oder perpetuieren – werden demnach durch die heimliche Weitergabe von für die offizielle Geschichtsschreibung potentiell bedrohlichen Inhalten ergänzt. Diese Tradition, so Freud, kann allerdings nicht als lediglich ‚ungeschriebene‘ oder ‚inoffizielle‘ Geschichte verstanden werden, die mündlich oder in kleinen Kreisen schriftlich weitergegeben wird. Diesen Aspekt der Traditionen gibt es zwar durchaus auch: Freud zitiert Sellin, der behauptet, dass „die Tradition vom Mord an Moses in Priesterkreisen immer vorhanden [war], bis sie schließlich ihren schriftlichen Ausdruck fand“. (MM, 200) Aber Freud ist skeptisch gegenüber der Annahme, dass ein solches ‚Geheimwissen‘ der Priester ausreicht, um das Wesen der

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Tradition zu verstehen – es lässt sich einem solchen „Wissen von Wenigen“ kaum „die Macht zuschreiben, die Massen so nachhaltig zu ergreifen, wenn es zu ihrer Kenntnis kommt“, so Freud. (ibid.) Freud nimmt an, dass das jüdische Volk Moses getötet und sich dann von der durch Moses eingeführten Religion abgewandt hatte, um fortan einen anderen Gott zu verehren – die Erinnerung an die „Mosesreligion“ und den Mord an Moses wurde hierzu verdrängt. (MM, 174) Dass es daraufhin möglich sein sollte, „den Gott Jahve in den mosaischen Gott zu verwandeln und die vor langen Jahrhunderten eingesetzte und dann verlassene Religion des Moses wieder zum Leben zu erwecken“, verlange nach mehr als nur einem Geheimwissen: es müsse von einer „Art von Erinnerung“ im „Seelenleben“ des gesamten jüdischen Volkes ausgegangen werden, so Freud. (ibid.) Bei der Tradition handle es sich „um etwas Vergangenes, Verschollenes, Überwundenes im Völkerleben“, das Freud „dem Verdrängten im Seelenleben des Einzelnen“ gleichstellt. (MM, 241) Wo und in welcher Form diese Tradition bestehen bleibt, nachdem sie einmal der Verdrängung zum Opfer fällt, so Freud, ist eine Frage, die sich beim Individuum nicht stellt, denn dort ist sie „durch die Existenz der Erinnerungsspuren des Vergangenen im Unbewußten erledigt.“ (MM, 200) Eine frühkindliche Erinnerung etwa, die der Verdrängung zum Opfer fällt, ist zwar unbewusst, aber nicht verloren. Und wie zuvor in diesem Kapitel bezüglich des Wiederholungszwangs dargelegt, kann solch ein verdrängter Inhalt trotzdem die Handlungen und das Erleben des Individuums entscheidend prägen. Freud behauptet nun, „die Übereinstimmung zwischen dem Individuum und der Masse ist in diesem Punkt eine fast vollkommene“ – in der Masse wie beim Individuum „bleibt der Eindruck der Vergangenheit in unbewußten Erinnerungsspuren vorhanden.“ (MM, 201) Doch auch ererbte, phylogenetische Inhalte – also solche Inhalte, die nicht auf eine persönliche Erfahrung des Kindes zurückzuführen sind – prägen die psychische Entwicklung des Individuums, so Freud. (MM, 204) Er führt „Dispositionen, wie sie allen Lebewesen eigen sind“ – Freuds Beispiel ist hier Sprachsymbolik in der menschlichen Entwicklung – auf phylogenetisch ererbten Inhalte zurück. (MM, 205) Freud bezeichnet es nun als „unvermeidliche Kühnheit“, eine der biologischen Vererbung analoge phylogenetische Erbschaft im Unbewussten des menschlichen Kollektivs anzunehmen (MM, 207), da nur eine solche dazu in der Lage ist, die fortdauernde Präsenz des Urvater-Mordes – weit vor jeder Geschichtsschreibung und zu weit entfernt selbst für eine mündliche Weitergabe – zu erklären. (Ibid.) Freud nimmt also an, dass die „psychischen Niederschläge jener Urzeit“, in der die Menschen ihren Urvater ermordet hatten, seither „Erbgut“ geworden sind und nun jeweils lediglich der „Erweckung“ bedürfen, um wirksam zu werden. (MM, 241) Das im Individuum verortete

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Unbewusste selbst beherbergt also immer auch kollektive Inhalte, ererbt aus der Urgeschichte der Menschheit. Ähnlich wie das von einzelnen Individuen Verdrängte ihnen wiederkehren kann und sie in ihrem Handeln beeinflusst, beeinflusst der verdrängte Mord am Urvater die Menschheit in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Und ähnlich wie solche verdrängten Inhalte sich bei Individuen nach einer Latenzphase plötzlich in ausgeprägten Neurosen manifestieren können, so hört auch das Verdrängte der Geschichte niemals zu wirken auf, wenn auch nur „aus dem Hintergrund“ und in entstellter Form. (MM, 174) In seiner Latenzphase gewinnt das Verdrängte an Wirkungsmacht, anstatt (wie eine Erinnerung) mit der Zeit zu verblassen. Solche unbewussten Traditionen werden „im Laufe der Jahrhunderte immer mächtiger“ und schließlich sogar „stark genug [...], um das Denken und Handeln des Volkes entscheidend zu beeinflussen.“ (MM, 173) Es ist das Wirken einer solchen unbewussten Tradition, die es ermöglichte, die zwischendurch verschüttete Mosesreligion wiederzubeleben. Die historische Durchschlagskraft eines verdrängten Ereignisses lässt sich Freud zufolge also nicht unter Bezug auf ein ‚Geheimwissen‘ erklären. Was Freud als „Tradition“ bezeichnet, ist mehr als nur eine Art marginaler und marginalisierter Gegengeschichte, die neben der offiziellen Geschichte am Rande daherläuft. Vielmehr, so Freud, müsse etwas diesem geheimen Wissen der Priester analoges zugleich auch in der Masse vorhanden sein, etwas, „was dem Wissen der Wenigen irgendwie verwandt ist und ihm entgegenkommt, wenn es geäußert wird.“ (MM, 200) Die Wiederkehr des Verdrängten mag also durchaus durch die Weitergabe eines geheimen oder widerständigen Wissens aktiviert werden, das schließlich offenbart wird. Doch bleibt eine solche Mitteilung wirkungslos, wenn sie nicht auf bestimmte unbewusste Inhalte in der Masse trifft, die ihr erst Macht verleihen. Das Verhältnis von Wissen bzw. Mitteilung einerseits, und Unbewusstem/ Verdrängtem in der Tradition andererseits, kann wiederum mit der psychoanalytischen Praxis analog gesetzt werden. Wie die Priester ihr Geheimwissen zu einem bestimmten Zeitpunkt öffentlich machen, so teilt auch die Analytikerin in Freuds Modell der psychoanalytischen Behandlung ihr Wissen bzw. ihre Interpretation dem Analysanden zu einem gewählten Zeitpunkt mit. Und in beiden Fällen muss eine solche Mitteilung erfolglos bleiben, wenn es der Masse bzw. dem Analysanden nicht möglich ist, sie mit der Wahrnehmung verdrängter Inhalte des eigenen Unbewussten zu verbinden. Mit der darauffolgenden Manifestation des Verdrängten, was sich bisher nur in unerklärlichen Wiederholungszwängen gezeigt hatte, muss dann eine erhebliche Transformation der Struktur des Ich bzw. der Gesellschaft einhergehen. Mit seinem Moses-Buch hat Freud also tatsächlich nicht nur sein Konzept vom Unbewussten

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Sigmund Freud

und von der Wiederkehr des Verdrängten auf die Geschichte übertragen, sondern, so meine ich, er bietet uns auch eine Möglichkeit, die psychoanalytische Praxis als Modell gesellschaftlicher Transformation zu lesen.

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Gesellschaftliche Transformation mit Freud 1: Quellen der Tradition Mit Freud lassen sich weder die Handlungen einzelner Individuen, noch kollektive Handlungen, die Geschichte konstituieren, als kontrollierte Prozesse verstehen, die einer bewusst gewählten Intention folgen. Handeln verläuft stets zumindest teilweise unbewusst. Geschichte entwickelt sich Freud zufolge entlang eines Widerstreits von repräsentierbaren Elementen, die im Geschichtstext als eine möglichst kohärente Erzählung niedergeschrieben sind (oder zumindest sein könnten, ohne dessen Ordnung grundsätzlich in Frage zu stellen), und verdrängten Elementen, die in entstellter Form wiederholt werden und an die Oberfläche drängen. Die verdrängten Elemente suchen nach Aufnahme im Geschichtstext; dies kann aber nur in entstellter Form gelingen, oder indem das offizielle Narrativ selbst geändert wird. Derrida nimmt dies Problem auf, wenn er schreibt, dass mit Freud in Der Mann Moses die Tradition nicht als Zeugnis der Vergangenheit verstanden werden sollte, sondern vielmehr als eine „Frage der Zukunft“.125 Das aus der Geschichte Ausgeschlossene zeigt in seinem Wiederkehren deutlich, dass es sich beim Verdrängten nicht um Vergangenes und Erledigtes handelt, sondern um eine aktuell wirksame Kraft, die in der Tat das Potential aufweist, die Gestalt der Zukunft zu beeinflussen. Das Andere der Geschichte, das, was der herrschenden Ordnung widerspricht, wird also bei Freud analog zum Verdrängten gedacht. Damit kann weiterhin festgestellt werden, dass die verdrängten Elemente der Geschichte, als Teil des Unbewussten, sich sowohl jenseits der chronologischen Ordnung und spezifischen Zeitlichkeit der bewussten Ordnung befinden, als auch unzugänglich, unbenennbar und undarstellbar wie alle Inhalte des Unbewussten sind. Dem Verdrängten kommt keine klar umreißbare Gestalt zu. Wenn Der Mann Moses als Theorie gesellschaftlicher Transformation gelesen wird, heißt das, dass somit die Idee einer konkreten, formulierbaren Utopie versperrt ist. Im Folgenden will ich der Frage nachgehen, ob Freuds Modell einer geschichtsmächtigen Wiederkehr des Verdrängten auf andere Zusammenhänge übertragen werden kann – muss der Mord am Urvater als singulär in seiner Eigenschaft verstanden werden, archaische Erbschaft zu begründen? 125

Jacques Derrida, Dem Archiv verschrieben, S. 65.

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Eine Einschränkung der Übertragbarkeit dieses Modells auf andere Kontexte und Konflikte ist darin auszumachen, dass Freud nahelegt, unbewusste Traditionen wie die vom Mord am Urvater könnten nur aus Zeiten vor Beginn der Geschichtsschreibung herrühren. (MM, 175) Dass nur Ereignisse aus der Vorgeschichte der Menschheit eine archaische Erbschaft bzw. Tradition begründen können, in der möglicherweise transformative Potentiale auszumachen wären, stellt bereits eine Einschränkung in der Generalisierbarkeit von Freuds Modell dar. Freud behandelt mit dem Mord am Urvater ein bestimmtes prähistorisches Ereignis, von dem er behauptet, dass es die Grundlage für gesellschaftliche Ordnung, Kultur und Zivilisation überhaupt darstellt, und dem eine entsprechend wichtige Stellung zukommt.126 Erst mit dem Urvater-Mord wird eine Situation hergestellt, in der wir unsere Begehren, Aggressionen und Impulse zu kontrollieren lernen müssen, da Gewaltherrschaft nun (allmählich) durch politische Herrschaft ersetzt wird. Und erst mit der nun zunehmenden Einschränkung von Trieben, notwendig um gesellschaftliche Normen nicht zu verletzen, entsteht Kultur als Ersatzhandlung bzw. Möglichkeit der Sublimation von Trieben. Es handelt sich beim Mord am Urvater Freuds Ausführungen zufolge also um das fundamentalste Ereignis der Menschheitsgeschichte; insofern kann die Verdrängung dieses Mordes mit vollem Recht als „Urverdrängung“ bezeichnet werden. Als solche konstituiert sie das Feld des Verdrängten, bestimmt, was fortan verdrängt werden muss. Die Urverdrängung ist ein „hypothetischer Vorgang“, sie „wird vor allem von ihren Wirkungen her postuliert“127, so Laplanche/Pontalis. Der Bedarf für eine solche Hypothese entsteht dadurch, dass Freud annimmt, Vorstellungen können nur verdrängt werden, wenn sie von bereits unbewussten, verdrängten Inhalten angezogen werden. Damit aber entsteht die Notwendigkeit der Konstruktion eines Einsatzpunktes, eines Ur-sprungs, des vorgängigen, für alle stattfindende Verdrängung konstitutiven Sprungs in die Verdrängung – und ein solcher ist eben der Mord am Urvater. Alenka Zupančič stellt diesen Vorgang wie folgt dar: The ‚primarily repressed‘ marker or representative of the drive is something that has never been conscious, and has never been part of any subjective experience, but constitutes its ground. The logic of repression by association is the logic of what Freud calls repression proper, whereas primary repression is precisely not a repression in this sense. In it 126 127

Freud bezeichnet die „verbrecherische Tat“ des Mordes am Urvater an anderer Stelle explizit als den Anfangspunkt von „sozialen Organisationen“, „sittlichen Einschränkungen“, und „Religion“. Sigmund Freud, Totem und Tabu, GW IX, S. 172. Jean Laplanche/ J.B. Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, S. 578.

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the causality is turned upside-down: it is not that we repress a signifier because of a traumatic experience related to it, rather, it is because this signifier is repressed that we can experience something as traumatic (not simply as painful, frustrating, and so on), and repress it. In other words, at some fundamental level the cause of repression is repression.128 Freud nennt diesen Vorgang eine Fixierung; „die betreffende Repräsentanz bleibt von da an unveränderlich bestehen und der Trieb an sie gebunden.“129 Mit dieser Fixierung ist der Punkt bezeichnet, um den sich alle folgenden, „eigentlichen“ Verdrängungen gruppieren und dasselbe Schicksal erleiden wie das Urverdrängte: Verdrängung. Alle „eigentliche Verdrängung“ ist demnach immer „ein Nachdrängen“, durch die Urverdrängung initiiert.130 Die Urverdrängung bezeichnet damit einen nicht weiter spezifizierbaren Einsatzpunkt, mit dem zugleich das Feld des Unbewussten strukturiert wird – sie bestimmt, was im Folgenden der Verdrängung zum Opfer fallen muss – und mit dem die psychische Ordnung errichtet wird. Analog hierzu wird mit dem „Mord am Urvater“ wiederum die gesellschaftliche Ordnung errichtet, indem bestimmte Spielarten menschlichen Verhaltens aus dem Feld dessen, was innerhalb einer Gruppe möglich ist, ausgeschlossen werden und das Feld der Verdrängung konstituieren. Wenn aber der Mord am Urvater tatsächlich einer „Urverdrängung“ gleicht, indem er gesellschaftliche Kooperation überhaupt begründet, so stellt sich in der Tat die Frage, ob dies Ereignis nicht als singulär verstanden werden muss. Ist die Reichweite von Freuds Modell demzufolge auf Phänomene beschränkt, die aus diesem Mord entspringen – also auf Konflikte, die aus grundlegendem kollektivem Triebverzicht resultieren, sowie auf das spezifische Problem des Monotheismus, in dem der Vater wiederkehrt? Dass Freud selbst sein Modell nicht auf diesen einen Inhalt beschränkt, sondern auch auf andere Bereiche überträgt, zeigt sich deutlich in seinem Exkurs zu den homerischen Epen in Der Mann Moses. Dort spekuliert Freud, das von Homer verarbeitete Material stamme aus der „Vorgeschichte“ des griechischen Volkes, in der es „eine Zeit von äußerem Glanz und kultureller Blüte erlebt [hatte, BL], die in einer historischen Katastrophe untergegangen ist und von der sich in diesen Sagen eine dunkle Tradition erhalten hat.“ (MM, 174) Das Material aus dieser Zeit ist also, wie auch die Existenz des Urvaters und dessen Mord, nur als „dunkle und unvollständige Tradition“ erhalten geblieben. (MM, 175) Mit diesem Vergleich 128 129 130

Alenka Zupančič, The Odd one in, S. 165 (Hervorhebung von mir). Sigmund Freud, Die Verdrängung, GW X, S. 250. Ibid.

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lassen sich drei Wesenszüge von Freuds Modell präzisieren: (i) Freud hält an dem Ursprung der Tradition in weit entlegenen, vorhistorischen Zeiten fest. Er untermalt diesen Punkt in seinem Exkurs noch, indem er die fehlende Neubildung von Volksepen darauf zurückführt, dass „für alle späteren Begebenheiten [...] die Geschichtsschreibung an die Stelle der Tradition getreten“ sei. (MM, 175) (ii) Freud geht zwar durchweg von prähistorischen Quellen aus, beschränkt sein Modell aber keinesfalls auf den Mord am Urvater. Eine Tradition bzw. archaische Erbschaft kann auch aus anderen Quellen stammen. (iii) Der Inhalt des Verdrängten und der Grund für dessen Verdrängung müssen nicht zusammenfallen. Im Falle des Mordes am Urvater fallen beide zusammen – für Menschen konstitutive Aggressionen, die zugleich gesellschaftlich unverträglich sind, werden in Reaktion auf den Mord unakzeptabel und damit verdrängt. Bei der vergangenen „kulturellen Blüte“ der Griechen jedoch muss der Fall anders liegen. Der Grund für die Verdrängung, die diese Zeit nur in Form einer „dunklen Tradition“ überleben lässt, muss vielmehr in der „Katastrophe“ gesucht werden, die diese für die Griechen ruhmreiche Zeit beendet hat. Diese Katastrophe mag entweder überwältigend oder plötzlich eingetreten sein, etwa in Form einer unvorhergesehenen Invasion oder eines Krieges; oder sie mag eine schleichende Entwicklung gewesen sein, über die man sich erst im Nachhinein bewusst wurde und die daher keine Möglichkeit mehr zur Korrektur bot. In ihrer Folge jedenfalls wurde die Katastrophe selbst und all das, was diese Katastrophe zerstört hat, verdrängt und ins Unbewusste abgeschoben. Aus Freuds Ausführungen zum Mord am Urvater geht deutlich hervor, dass die diesem Ereignis folgende Verdrängung und Tradition einen besonderen Stellwert hat. Sie gründet Ordnung als Ordnung überhaupt, und scheidet sie von ihrem Gegenüber, den für diese Ordnung bedrohlichen Elementen menschlichen Verhaltens. Dies Andere wird fortan ausgeschlossen und verdrängt – oder bestraft, falls es ihm doch gelingen sollte, sich zu äußern. Die gänzliche Auflösung dieser Verdrängung käme damit der Auflösung einer funktionierenden Gesellschaft gleich, die ohne Verbote oder zumindest Richtlinien für menschliches Verhalten kaum auskommen kann. Zusätzlich zu diesem Ereignis, dass wir durchaus mit dem Status einer „Urverdrängung“ vergleichen können, ist es jedoch möglich, dass weitere Elemente aus der menschlichen Vorgeschichte eine archaische Erbschaft angetreten haben. Mit ihnen wären jeweils Ereignisse bezeichnet, die die weitere gesellschaftliche Entwicklung in bestimmter Hinsicht grundlegend strukturieren. Im Gegensatz zum Fall des Urvater-Mordes muss es bei anderen Verdrängungen, die eine archaische Erbschaft antreten, nicht unbedingt der Fall sein, dass das Verdrängte menschlichem Zusammenleben abträglich ist, wie im Beispiel der von Freud zitierten glanzvollen griechischen Vorgeschichte deutlich wird: diese wird verdrängt,

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Sigmund Freud

Gesellschaftliche Transformation mit Freud 2: Creatio ex nihilo oder gradueller Wandel? Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Freiheit und Wiederholung, 9783770560219, 2018

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weil ihr Verlust zu schmerzhaft ist; als „dunkle Tradition“ mag sie dann ein Verlangen nach der Wiederholung dieses Glanzes begründen, die zugleich den Stoff für Homers Epen bildet. Während eine Wiederholung dieser Glanzperiode eine Veränderung von Gesellschaft mit sich brächte, würde sie diese damit jedoch nicht im Fundament zersetzen. Während also Freuds verdrängter Urvater-Mord Gesellschaft überhaupt begründet, so können wir zusätzlich die Existenz anderer Verdrängungen annehmen, die dieser „Urverdrängung“ untergeordnet sind und der von ihr hervorgebrachten Ordnung jeweils einen spezifischen Charakter verleihen, die jedoch modifizierbar sind, ohne damit – überspitzt formuliert – zu einer Rückkehr zur Urhorde zu führen.

Abschließend will ich nun einige Überlegungen dazu anstellen, ob und wie sich Freuds Modell geschichtlicher Entwicklung kraft Wiederkehr von verdrängten archaischen Inhalten für eine Theorie gesellschaftlichen Wandels und Befreiung adaptieren ließe. Um eine mögliche Weise aufzeigen, in der sich Freuds Moses-Modell als ein Modell kollektiver Befreiung adaptieren ließe, übersetze ich Freuds Modell zunächst in Marx’ politisches Projekt, das ich im vorherigen Kapitel als eine Befreiungsbewegung charakterisiert habe, die auf Wiederholungen basiert. Darauf folgend wende ich mich dann Slavoj Žižek und Jonathan Lear zu, um mit deren Überlegungen zur Transformation bei Freud zwei konkurrierende Modelle gesellschaftlichen Wandels zu unterscheiden. Zunächst aber zur Übertragung des Freud’schen Modells auf Marx’ Überlegungen zur Klassengesellschaft und zur kommunistischen Revolution. Geschichte ist für Marx bekanntlich immer eine „Geschichte von Klassenkämpfen“. (MEW 4, 462) Klassenkämpfe wiederholen sich also, wie Marx im Kommunistischen Manifest und auch im Achtzehnten Brumaire herausstellt, und strukturieren so die Entwicklung der Geschichte. Der entscheidende Konflikt, der diesen Kämpfen zugrunde liegt, ist die Spaltung der Menschheit in eine Klasse, die die Produktionsmittel besitzen, und eine andere Klasse, die nichts besitzt als ihre Arbeitskraft. Anstatt des Mordes an einer Vaterfigur wiederholt sich hier der Konflikt zwischen zwei Klassen, wobei die besitzende Klasse bisher, und tatsächlich seit Beginn der Geschichtsschreibung, die Oberhand behält. Wenn die Klasse der Besitzlosen sich in einem dieser wiederholten Kämpfe tatsächlich durchsetzen würde, würde das Marx zufolge einer radikalen gesellschaftlichen Transformation gleichkommen: Marx antizipiert eine klassenlose Gesellschaft, in der sich die Produktionsmittel in Kollektivbesitz

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befinden und gemeinschaftlich verwaltet werden. Wie mag nun, mit Freud als Leser von Marx, eine „Tradition“ oder „archaische Erbschaft“ verstanden werden, die diesen Wiederholungen zugrunde liegt? Marx’ Spekulationen dazu, wie es ursprünglich zu einer Spaltung in zwei Klassen kam, die Entfremdung begründen, sind zurückhaltend. Entsprechend ist es schwierig, in Marx ein dem Mord am Urvater oder der „Katastrophe“ der Griechen analoges Ereignis auszumachen, das fortan verdrängt wird und dabei zugleich die gesellschaftliche Ordnung anhand von zwei antagonistischen Klassen organisiert. Engels spricht zwar in einem Vorwort zum Manifest 1883 von der „Auflösung des uralten Gemeinbesitzes an Grund und Boden“, die der von Klassenkämpfen strukturierten Gesellschaft vorangeht. (MEW 4, 577) Er notiert weiterhin in einer Fußnote, dass sich die Aussage, Geschichte sei immer eine Geschichte von Klassenkämpfen, lediglich auf die „schriftlich überlieferte Geschichte“ beziehe, und suggeriert, dass diese erst mit dem Ende des „ursprünglichen Gemeinwesens“ einsetzt, das die „Vorgeschichte der Gesellschaft“ kennzeichnet. (MEW 4, 462) Um den Sprung in die Klassengesellschaft und damit den Einsatz der sich wiederholt manifestierenden archaischen Erbschaft in einem fortan verdrängten, konkreten Ereignis zu verorten, kann hier eine Idee von Rousseau mobilisiert werden: Rousseau hatte im Rahmen seiner (explizit spekulativen) Urgeschichte der Menschen und ihres Zusammenlebens in seinem Zweiten Diskurs schließlich ein Ereignis isoliert, das ihm zufolge den entscheidenden Wendepunkt im Übergang zu einer von Ungleichheit charakterisierten Welt markierte. „Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und auf den Gedanken kam zu sagen ‚Dies ist mein‘ und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben,“ so Rousseau, war zugleich derjenige, der Ungleichheit zwischen den Menschen – mit Marx: die Klassengesellschaft – im eigentlichen Sinne begründete.131 Dass „die Früchte allen gehören“, aber „die Erde niemandem gehört,“ wird infolge dieser ersten Besitznahme vergessen.132 Dies Ereignis, ebenso hypothetisch wie der Urvatermord, könnte damit als verdrängte „Katastrophe“ der Menschheit (und nicht nur der Griechen) bezeichnet werden; in allen Klassenkämpfen, so ließe sich dann mit Freud sagen, kehrt das verdrängte Wissen darum, dass die Früchte der Erde allen gehört, in entstellter und fragmentarischer Form zurück. Damit wäre dieser Konflikt weniger grundlegend als derjenige, der aus dem Urvater-Mord resultiert, und der Gesellschaft

131 132

Jean-Jacques Rousseau, Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, S. 74. Ibid.

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als solche gründet; bei ihm handelt es sich um einen Konflikt, der sich erst mit bzw. nach der Formation von Gesellschaft entwickelt haben kann. Mit dieser Skizze einer Möglichkeit, Freuds Modell der Wiederkehr des Verdrängten in der Geschichte als Modell gesellschaftlicher Transformation zu adaptieren, will ich nun zur Frage übergehen, wie mit Freud weiter der Charakter eines solchen Wandels verstanden werden mag. Dafür wende ich mich zunächst Slavoj Žižeks Adaption des Wiederholungszwangs als Revolutionsmodell zu. Die Wiederkehr des Verdrängten bezeichnet er als die „Symptome“ vergangener, gescheiterter Revolutionsversuche, „forgotten, excluded from the frame of the reigning historical tradition“.133 Ganz wie in Freuds Modell konstituieren für Žižek also vergessene und aus der Geschichtsschreibung ausgeschlossene Elemente eine Tradition, indem sie gleich einem psychischen Wiederholungszwang als Symptome äußern, die die Kontinuität des offiziellen Narratives zu zersetzen droht. Entsprechend werden in einer ‚wirklichen‘ (d.h. für Žižek: einer ‚gelingenden‘) Revolution eben diese Symptome „entfaltet“ und „erlöst“, was bedeutet, dass die vorangegangenen wiederholten Versuche des Vergessenen und Ausgeschlossenen, in die offizielle Ordnung einer Gesellschaft aufgenommen zu werden, erfolgreich sind. Die Revolution ist für Žižek aus der kontinuierlichen historischen Entwicklung ausgenommen. Sie ist vielmehr der Moment, in dem the texture of previous history, that of the winners, is annihilated, and when, retroactively, through the success of the revolution, each abortive act, each slip, each past failed attempt which functioned in the reigning Text as an empty and meaningless trace, will be ‚redeemed‘, will receive its signification. In this sense, revolution is strictly a creationist act, a radical intrusion of the ‚death drive‘: erasure of the reigning Text, creation ex nihilo of a new Text by means of which the stifled past ‚will have been‘.134 Žižeks Betonung der retroaktiven Wirkung der Revolution ist hilfreich. Was er herausstellt, ist, dass eine Tradition im Grunde erst von einer bereits gelungenen gesellschaftlichen Umwälzung her erkennbar wird. Solange sie sich noch nicht durchgesetzt hat, d.h. solange sie sich nur in entstellter Form als Symptom eines Verdrängten zeigen kann, bleibt sie unverständlich. Wie auch in der Psychoanalyse die Fähigkeit, die eigenen Symptome als Symptome wahrzunehmen, als gleichzeitig mit einer Änderung in der Struktur des Ich verstanden werden muss, so ist die Fähigkeit, eine Tradition als Tradition lesbar 133 134

Slavoj Žižek, The Sublime object of ideology, S. 141. Ibid., S. 143f. (Hervorhebungen von mir).

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Wiederholungszwang und Möglichkeitsbereich

werden zu lassen, nur gleichzeitig mit einer Änderung der Gesellschaftsstruktur möglich. In Žižeks Worten wird die Tradition durch ihre Wiederholung in der erfolgreichen Revolution ‚gewesen sein‘, wodurch sie im eigentlichen Sinne das wird, was sie bereits war (aber nicht sein konnte).135 Was bis dahin eine unlesbare Spur in der bestehenden Ordnung war, kann dann eine neue Ordnung initiieren. Problematisch ist allerdings seine Auffassung, die Revolution müsse damit den bisherigen Text auslöschen und sei ein kreationistischer Akt, eine „creation ex nihilo“. Die politischen Probleme, die sich aus einer so verstandenen Revolution ergeben, sind offensichtlich. Die Auslöschung der Vergangenheit qua Setzung einer neuen Ordnung trägt deutlich totalitäre Züge. Wenn auch davon ausgegangen werden kann, dass es nicht möglich ist, zwischenmenschliche Machtverhältnisse in Gänze aufzulösen, so ließe sich dennoch fragen, ob nicht anstatt einer einfachen Ersetzung der bisherigen durch eine neue Ordnung das Augenmerk darauf liegen müsste, die Machtausübung, den Zwangscharakter dieser Ordnung insgesamt zu verringern – mit Foucault ließe sich das als eine Umwandlung von (asymmetrischen) Herrschaftsverhältnissen in (umkehrbare) Machtverhältnisse verstehen.136 Mit Blick auf die bisherigen Ausführungen zum Wiederholungszwang können aber noch weitere Einwände hervorgebracht werden: Zunächst einmal ist eine Revolution dieser Art, als creation ex nihilo, nur denkbar, wenn von einer einzigen Verdrängung ausgegangen wird, die eine Tradition begründet. Nur so kann im Moment der Einsetzung eines neuen Textes von einer Auslöschung der gesamten bisherigen Geschichte ausgegangen werden. Wenn wir aber davon ausgehen, dass mehrere Verdrängungen jeweils in bestimmter Weise eine Ordnung prägen, wenn gesellschaftliche Ordnung also als in einem Spannungsfeld verschiedener archaischer Erinnerungsspuren konstituiert verstanden werden muss, dann verkompliziert sich dies Bild. Dass eine einzige Tradition, die sich nun durchsetzt, dem Auslöschen der gesamten bisherigen Ordnung gleichkommt, scheint dann nicht mehr plausibel. Vor allem aber muss entschieden darauf hingewiesen werden, dass die unbewusste, verdrängte Tradition, die nun als herrschende eingesetzt werden soll, nur als Kehrseite der bisherigen herrschenden Ordnung existiert, durch die sie verdrängt wird. Unbewusstes und Bewusstes, die Wiederkehr des Verdrängten und die Ordnung, in der sich das Verdrängte Geltung verschaffen will, sind so eng miteinander verschränkt, dass eine Auslöschung des einen

135 136

Ibid., S. 141. Vgl. Michel Foucault, „Die Ethik der Sorge um sich als Praxis der Freiheit“, S. 267f.

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Teils auch eine Auslöschung des anderen Teils bedeuten würde.137 „Ex nihilo“ neues zu schaffen ist nicht möglich, denn die unbewusste Tradition ist als Unmöglichkeit in die bestehende Ordnung eingelassen. Sie ist zwar innerhalb der bestehenden Ordnung eine unmögliche Tradition – ohne diese Ordnung wäre sie jedoch nicht einmal mehr eine Unmöglichkeit, sie könnte also auch nicht mehr zur Möglichkeit und damit nicht wirklich werden. Es scheint mir deshalb angemessener, den Moment, in dem sich die Tradition emanzipiert und intelligibel wird, mit Jonathan Lear als einen Bruch zu verstehen, der innerhalb der Ordnung vor sich geht, dabei jedoch den Bereich dessen, was möglich ist – vorgeschrieben von eben jener Ordnung – entscheidend verändert. Mit Jenseits des Lustprinzips und den dort entwickelten Überlegungen zum Wiederholungszwang, so Lear, ergibt sich die Notwendigkeit, eine Alternative zu der Vorstellung zu finden, ein Bruch müsse aus einer äußerlichen Unterbrechung herrühren. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

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What we need to grasp is not another place but a peculiar kind of possibility: the possibility of disrupting the field of possibilities. This possibility seems almost paradoxical, since in any attempt to describe the field of possibilities, it gets left out. It is precisely that which disrupts the field, and thus is experienced as coming from ‚outside‘ or ‚beyond‘. Ironically, when it comes to human living, the field of possibilities is not a field. Or, to put it less paradoxically: any purported field of possibilities is always a somewhat restricting fantasy of what is possible in human life.138 Was Lear hier beschreibt, ist ein immanenter Bruch, der das gegebene Feld von Möglichkeiten unterläuft und somit verändert. Veränderung kommt nicht dadurch zustande, dass ein Ereignis die Ordnung von außen her unterbricht und so in ihrer Struktur verändert, sondern indem eine innerhalb dieser Ordnung angelegte Möglichkeit ergriffen wird: die Möglichkeit, den Bereich des derzeit Möglichen zu verändern. Was Lear betont, ist, dass der Bereich dessen, was möglich ist, kein streng begrenztes Feld darstellt. Im Gegensatz etwa zu dem, was im Bereich der Physik möglich ist, ist weder der Bereich der menschlichen Psyche, noch derjenige menschlichen Zusammenlebens darauf beschränkt, was heute als Möglichkeit anerkannt ist. Die den Bereich des Menschlichen strukturierende Ordnungen, und damit das Feld dessen, was möglich bzw. unmöglich ist, können geändert werden. Dass es sich bei dem Bereich des Möglichen lediglich um 137 138

Vgl. Richard J. Bernstein, Freud und das Vermächtnis des Moses, S. 99. Jonathan Lear, Happiness, Death, and the Remainder of Life, S. 161.

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Wiederholungszwang und Möglichkeitsbereich

eine restriktive Phantasie handelt, ist wiederum nur eingeschränkt plausibel. Vielleicht trifft es mit Bezug auf die menschliche Psyche zu; sicher jedoch ist das, was menschlichem Zusammenleben eine bestimmte Form und eine bestimmte Einschränkung gibt, nicht nur Phantasie, sondern mit realen Machtverhältnissen verbunden, die eine bestimmte Grenze des Möglichen durchsetzen. Eine wichtige Einsicht jedoch, die sich hier andeutet, betrifft die potentielle Instabilität selbst noch der restriktivsten Ordnung. Denn wenn deren Wirkungskraft mehr als bloße Phantasie ist, so ist doch die Erkenntnis zentral dass die Effektivität der Ordnung selbst nicht nur von der Wiederkehr des Verdrängten bedroht wird, sondern dass sie zudem selbst darauf angewiesen ist, wiederholt zu werden. Jede Ordnung selbst, so Freud, ist „eine Art Wiederholungszwang, die durch einmalige Einrichtung entscheidet, wann, wo und wie etwas getan werden soll, so daß man in jedem gleichen Falle Zögern und Schwanken erspart.“139 Von der Ordnung geht also ein Wiederholungszwang aus, der uns Handlungsanweisungen gibt: so und nicht anders wird in einer bestimmten Situation gehandelt. Da Menschen von Natur aus einen „Hang zur Nachlässigkeit, Unregelmäßigkeit und Unzuverlässigkeit“ an den Tag legen, so Freud, müssen sie erst „mühselig“ zur Ordnung erzogen werden.140 Eine Ordnung ist deshalb nichts in sich statisches. Sie ist darauf angewiesen, dass ihren Handlungsanweisungen folgegeleistet wird. Sie ist in ständiger Gefahr, von den Wiederholungen der verdrängten Konflikte unterlaufen zu werden, und muss deshalb fortwährend auf ihre eigene Wiederholung und damit Wiedereinsetzung hinwirken, um ihre Destabilisierung zu vermeiden. Das öffnet wiederum ihre scheinbar geschlossene Struktur und bietet so Angriffsfläche und Einsatzpunkte für Transformation. Die Entwicklungen von Gesellschaften zeigen sich damit als durch Wiederholungen beschränkt, sie werden aber durch diese Wiederholungen zugleich geöffnet. Entweder wird also durch ihre Wiederholung der gegebenen Ordnung folgegeleistet; was aber dieser Ordnung widerspricht, wird verdrängt. Als Verdrängtes kann es dann seinerseits nur über Wiederholungen auf eine Integration in die Ordnung auf einen Platz in der Ordnung beharren. Würde ihm dieser Platz wiederum eingeräumt, so würde das die Ordnung selbst umstrukturieren. Eine andere Möglichkeit, in Opposition zur dominanten Ordnung zu treten, als über Wiederholungen, gibt es für die unbewusste Tradition nicht: sie kann nicht als externer Gegner verstanden werden.

139 140

Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur, GW XIV, S. 452. Ibid.

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Die Durchsetzung des Verdrängten als Teil der Ordnung erfolgt Lear zufolge also nicht als Akt der Setzung ex nihilo, die die bisherige Ordnung ersetzt, sondern ereignet sich aus einem Prozess der Wiederholung heraus. Sie löscht damit die bisherige Ordnung nicht aus, sondern gestaltet diese von innen heraus um. Eine so verstandene Transformation gründet zugleich in der Ordnung und der von ihr ausgeschlossenen unbewussten Tradition. Sie kann nur aus beiden zugleich stammen, denn es gibt kein Außen, das einen Wandel der Ordnung hervorbringen kann; bzw. das Andere der Ordnung ist immer auch durch diese bestimmt. Die unbewusste Tradition für sich ist sprach- und wirkungslos, insofern sie sich nicht symptomatisch in der gegebenen Ordnung zeigt. Die gegebene Ordnung wiederum kann allein aus sich heraus nichts, als sich selbst bzw. den Bereich des von ihr als möglich umgrenzten zu wiederholen. Als Unterbrechung der Ordnung, die aus einem Zwischenbereich zwischen Ordnung und unbewusster Tradition herrührt – dort, wo beide sich berühren – ist der Moment der Transformation als Ereignis zu verstehen. Mit der Abkehr von der Vorstellung eines Akts der Ersetzung wird auch deutlich, dass die sich ereignende Transformation entweder mehr oder weniger grundlegende Änderungen in der Ordnung mit sich bringen kann. Es kann sich bei einer Ausweitung des Möglichkeitsbereichs um Verschiebungen innerhalb einer Ordnung handeln – Verschiebungen der Machtverhältnisse bzw. des Zwangscharakters einer Ordnung – oder um eine Verringerung des Zwangscharakters, der insgesamt von dieser Ordnung ausgeht. Wenn es sich um eine sehr weitreichende Änderung in der Ordnung handelt, dann mag diese Transformation tatsächlich einer Ersetzung der bisherigen Ordnung gleichen, d.h. eine neue Ordnung begründen. Wichtig ist aber, dass eine solche neue Ordnung nicht ex nihilo hergestellt werden kann, und dass sie die bisherige Ordnung umformt, anstatt sie auszulöschen. Von Freud zu Nietzsche Freuds grundlegende Einsicht ist, dass wir in unserem Handeln keinesfalls souverän sind, dass das allerdings nicht gleichbedeutend damit ist, dass wir unserem ‚Schicksal‘ hilflos ausgeliefert sind. Psychische und gesellschaftliche Ordnungen strukturieren unser Handeln, indem sie uns Muster vorgeben, zu deren Wiederholung wir in unserem Tun stets aufgerufen sind. Diese Ordnungen sind Freud zufolge zu einem gewissen Grad unabkömmlich: die Reglementierung unseres Verhaltens ist eine Grundvoraussetzung für Kooperation und Geselligkeit. Psychische und gesellschaftliche Ordnungen fordern jedoch nicht nur bestimmtes Verhalten ein, sondern schließen zugleich andere Handlungsweisen

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Wiederholungszwang und Möglichkeitsbereich

aus. Das wiederum kann zu Wiederholungszwängen führen, in denen sich Konflikte, die sich innerhalb dieser Ordnung nicht zeigen können oder dürfen, Geltung verschaffen. Mit Blick auf solche Wiederholungszwänge, die auf Verdrängungen basieren, hat sich herausgestellt, dass sie gleichursprünglich mit den sie verdrängenden Ordnungen sind. In der frühkindlichen Entwicklung kann dies eine Spielform von Sexualität sein, die gesellschaftlichen Vorgaben der Sittlichkeit zum Opfer fällt – gleichzeitig mit dem Einsatz der Ordnung, die bestimmte Lüste verbietet und verdrängt, kann dann aus dem fortan verdrängten Begehren ein Wiederholungszwang entstehen. In den Äußerungen dieser Wiederholungszwänge wiederum hat sich bei Freud deutlich herausgestellt, inwiefern wir oftmals Dinge tun, ohne bewusst zu handeln. Unsere eigenen Taten können sich uns so als fremd gegenüberstellen, da wir uns nicht als ihre Autoren verstehen können. Wiederholungszwänge rufen daher oftmals ein Gefühl von Kontrollverlust, Unverfügbarkeit und Hilflosigkeit hervor – ein Gedanke, der auch im folgenden Kapitel bei Nietzsche wiederaufgenommen wird. Auch in menschlichen Kollektiven macht Freud solche Wiederholungszwänge aus, und dort haben sie einen ähnlichen Effekt auf uns. Freud versteht gesellschaftliche Ordnung insgesamt als durch den Mord am Urvater begründet, der dabei zugleich einen Wiederholungszwang konstituiert: der getötete Urvater kehrt als Gott des Monotheismus wieder. In der Übertragung auf Marx lässt sich das wiederum mit der Einführung von Privateigentum und Lohnarbeit vergleichen, die gesellschaftliche Ordnung als in zwei Klassen aufgeteilt begründet: Besitzende und Besitzlose. So wäre dann Klassenkampf als auf einem Wiederholungszwang basierend denkbar, der ein verdrängtes Verlangen nach einer klassenlosen Gesellschaft wiederholt vorlegt. Bezüglich dieser Wiederholungszwänge, die individuelles und kollektives Handeln prägen, lässt sich bei Freud zudem ein performatives Element ausmachen, das zugleich den Weg zur Befreiung weist: So wird im Rahmen der psychoanalytischen Behandlung der Wiederholungszwang wiederholt, um ihn potentiell modifizieren zu können. Insbesondere bezüglich des Verhältnisses zwischen Wissen und Affekt ist Freuds Ansatz einer Wiederholung des Wiederholungszwangs aufschlussreich. Es zeigt sich dort nämlich in großer Deutlichkeit, dass Wissen und Expertise zur Befreiung nicht ausreichend sind. Die Interpretation eines Wiederholungszwangs, die der Analytiker entwickelt hat und die theoretisch zu einer Befreiung von diesem Zwang führen sollte, kann praktisch nur erfolgreich sein, wenn sie erstens aus der Praxis entwickelt wird, und wenn sie zweitens Hand in Hand mit einer Änderung im Erleben des Analysanden geht. Darum muss der Wiederholungszwang dazu gebracht werden, sich im Kontext der Therapie konkret zu äußern – er muss wiederholt werden – um eine Möglichkeit zum

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Durcharbeiten zu bieten. Eine ähnliche Dynamik findet sich im Verhältnis vom Geheimwissen der Priester und der archaischen Erbschaft: das Wissen der Priester kann nur dann wirkungsmächtig werden, wenn es eine diesem Wissen analoge affektive Disposition in der Masse aktivieren kann. Auch hier müssen Wissen und Affekt, bewusste und unbewusste Elemente zusammenkommen, damit Veränderung möglich wird. Wir können uns mit Freud also weder als Herren im eigenen Haus verstehen – wir sind nicht in Kontrolle über unsere Handlungen –, noch sind wir dazu in der Lage, die Entwicklung kollektiver Praxiszusammenhänge souverän zu bestimmen. Zugleich sind wir jedoch nicht machtlos: wenn wir diesen Kontrollverlust annehmen und uns auf die Unverfügbarkeit bestimmter Prozesse einlassen, dann eröffnet sich mit Freud die Möglichkeit, diese wiederholend zu öffnen und abzuwenden. Befreiung als einen Prozess zu entwerfen, der nicht gänzlich unter unserer Kontrolle steht, bringt Risiken mit sich. Wird einem Wiederholungszwang in der psychoanalytischen Therapie erlaubt, sich zu zeigen, dann birgt dies immer das Risiko, dass er sich auch in der Analysesituation als nicht kontrollierbar zeigt und die Behandlung möglicherweise zu einem plötzlichen Ende kommt. In der Übertragung auf kollektive Befreiungsprozesse zeigt sich ein noch gewichtigeres Risiko: wenn Befreiung als Praxisvollzug mit unbewussten und unkontrollierbaren Elementen verstanden wird, dessen Endergebnis wir nicht absehen können, dann stellt sich die Frage danach, wie wir die Wünschbarkeit dessen, was sich in diesem Prozess durchsetzt, garantieren können. Was Freud als „unbewusste Traditionen“ bezeichnet, ist nicht per se einer gegebenen Ordnung vorzuziehen. Bezüglich bestimmter Elemente gibt es sicher gute Gründe, ihnen die Etablierung innerhalb oder die Ersetzung von herrschenden Ordnungen zu versagen. Mit Freud lässt sich in dieser Hinsicht zum einen anführen, dass sich in der Figur des Analytikers bzw. in den Priestern mit ihrem Geheimwissen, die jeweils integrale Bestandteile im Prozess der Befreiung sind, Elemente rationaler Reflektion ausmachen lassen, die es erlauben, Befreiungsbewegungen nicht als rein intuitive und unbewusste Ereignisse zu denken, das sich jedem Maßstab der Bewertung entzieht. Es ist also durchaus ein Element der Kritik und des Urteilens auszumachen. Zudem ist das Risiko, das sich aus dem Einbezug unbewusster Elemente ergibt, Freud zufolge schlicht unvermeidbar: Befreiung kann nur dann gelingen, wenn sie sich auf nicht kontrollierbare Elemente einlässt, ein Stück weit also Kontrolle aufgibt. Nietzsche wird zu einer ähnlichen Diagnose kommen, indem er die entscheidende Rolle von Zufällen im Prozess schöpferischen Tätigseins herausstellt.

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D.

Das Neue in der Ewigen Wiederkunft des Gleichen Friedrich Nietzsche Die Frage bei allem, was du thun willst: ‚ist es so, daß ich es unzählige Male thun will?‘ ist das größte Schwergewicht.141

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Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente

Wie bereits Marx und Freud, so denkt auch Nietzsche menschliche Handlungsvoraussetzungen mithilfe des Begriffs der Wiederholung. Und auch Nietzsche stellt sich die Wiederholung – bei ihm als „ewige Wiederkunft“ bezeichnet – als ein Begriff dar, mithilfe dessen ein gewisses „steckenbleiben“ in der Gegenwart und eine Komplikation von Handlungsmöglichkeiten gefasst werden kann. Um diese Spannung herauszustellen, widme ich mich in diesem Kapitel hauptsächlich Nietzsches Also sprach Zarathustra (1883-1885). Nietzsches eigenen Angaben in Ecce Homo zufolge ist der „Ewige-Wiederkunfts-Gedanke“ nämlich die „Grundconception“ des Zarathustra. (EH, 335) Der Gedanke der ewigen Wiederkunft verstellt zunächst die Perspektive auf eine Veränderung unserer Welt, indem er behauptet, dass alles, was überhaupt möglich und denkbar ist, bereits unzählige Male da war und geschehen ist. Die Welt und alles in ihr wird als in einer Wiederholungsschleife begriffen gedacht, die zunächst außerhalb jedes menschlichen Einflussbereichs zu liegen scheint.142 Allerdings wird zugleich mit der ewigen Wiederkunft auch der sogenannte „Übermensch“ eingeführt, der Sinnbild für den schöpferisch tätigen Menschen ist, der stets über sich hinauswirkt und Neues – neue Werte – schafft. Als Überwinder überlieferter Traditionen und als Schaffender steht der Übermensch für Nietzsches Wunsch nach Veränderung und seine Abneigung gegen das unhinterfragte befolgen von Regeln, die er als Konformismus versteht. Unter Maßgabe der ewigen Wiederkunft allerdings stellt sich die Frage, wie man überhaupt schaffen kann, wie Traditionen überwinden, wenn doch alles in Ewigkeit wiederkehrt. Im Zarathustra stehen sich so zwei zunächst absolut diametral entgegengesetzte Prinzipien gegenüber: die ewige Wiederkunft des Gleichen und der Übermensch; das Ewiggleiche und der Schaffende, der 141 142

Friedrich Nietzsche, N 1880-1882, 11 [143]. Miguel Skirl, „Ewige Wiederkunft“, S. 222.

© Wilhelm Fink Verlag, 2018 | doi:10.30965/9783770560219_005

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Das Neue in der Ewigen Wiederkunft des Gleichen

Neues hervorbringt. Der Übermensch soll derjenige sein, der zugleich die ewige Wiederkunft des Gleichen anzunehmen und zu bejahen, zu wollen vermag, und gleichzeitig sich selbst und seine Welt zu verändern in der Lage ist. Diese zwei zentralen Figuren, Übermensch und ewige Wiederkunft, sind also einander zunächst scheinbar widersprechende Elemente, die Nietzsche dennoch aufs engste miteinander verschränkt: Die Notwendigkeit, den Übermenschen zu konzipieren, ergibt sich allererst aus dem Gedanken der ewigen Wiederkunft. Zugleich braucht die ewige Wiederkunft den Übermenschen, ohne den sie nicht erträglich ist. Nun zeigt sich hier das grundlegende Paradox auf: Inwiefern kann ein Schaffender, der von der ewigen Wiederkunft des Gleichen überzeugt ist, zugleich ernsthaft daransetzen, Neues zu schaffen, da doch alles, was in der Welt wird, nur die endlose Wiederholung von bereits Dagewesenem ist? In seinen Notizbüchern datiert Nietzsche den Gedanken der ewigen Wiederkunft auf das Jahr 1881;143 noch im selben Jahr findet sich der erste Entwurf einer Schrift, die diesen Gedanken ausformulieren soll. Sie trägt die Überschrift „Die Wiederkunft des Gleichen“ und ist in fünf Punkte gegliedert. Im letzten Punkt wird die ewige Wiederkunft des Gleichen als „[d]as neue Schwergewicht“ eingeführt, insofern sie die „[u]nendliche Wichtigkeit unseres Wissen’s, Irren’s, unsrer Gewohnheiten, Lebensweisen für alles Kommende“ herausstelle. (N 1880-1882, 11[141]) In einer kurz darauf folgenden Notiz wirft Nietzsche zwei Fragen auf, die er mit diesem „neuen Schwergewicht“ assoziiert. Es handelt sich bei beiden um Fragen, bei denen Nietzsche davon ausgeht, dass sie sich Handelnde in Anbetracht der ewigen Wiederkunft stellen werden: (a) „Aber wenn alles nothwendig ist, was kann ich über meine Handlungen verfügen?“ (b) „[I]st es so, daß ich es unzählige Male thun will?“ (N 1880-1882, 11[143]) Die ewige Wiederkunft des Gleichen kann demnach in zwei unterschiedlichen Weisen als Schwergewicht für Handelnde wirken. Sie kann zum einen beschwerend im Sinne von drückend und niederschlagend wirken, indem sie 143

Der Gedanke der ewigen Wiederkunft wird im Nachlass mit viel Pathos eingeführt: „Anfang August 1881 in Sils-Maria, 6000 Fuss über dem Meere und viel höher über allen menschlichen Dingen!“ (N 1880-1882, 11 [141]) In einem Brief an Heinrich Köselitz vom 14. August 1881, zehn Tage nach der ersten Niederschrift, stellt Nietzsche die eindringliche Wirkung seines Gedankens auf ihn selber heraus: „An meinem Horizonte sind Gedanken aufgestiegen, dergleichen ich noch nicht gesehen habe [...]. Die Intensitäten meines Gefühls machen mich schaudern und lachen [...]“. Friedrich Nietzsche, Briefe Januar 1880 – Dezember 1884, S. 112.

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Friedrich Nietzsche

suggeriert, dass wir nicht nur nicht autonom über unsere Handlungen verfügen können, sondern diese sogar einer eisernen Notwendigkeit unterworfen sind. Wenn tatsächlich alles ewig wiederkehrt, ich selbst und meine Handlungen eingeschlossen, wie kann ich mich dann überhaupt noch im eigentlichen Sinne als Handelnde verstehen? Darüber hinaus will Nietzsche die ewige Wiederkunft jedoch auch in einer anderen Hinsicht als Schwergewicht verstanden wissen. Ewige Wiederkunft soll uns in dieser zweiten Bedeutung verständlich machen, dass jede unserer Handlungen unendlich wichtig ist, weil sie (mit all ihren Wirkungen) ewig wiederkehren wird. Wenn wir uns tatsächlich bei allem fragen, ob es so ist, dass wir es immer wieder tun wollen werden, steigert das die Gewichtigkeit unserer einzelnen Handlungen tatsächlich ins unvorstellbare. Beide Wirkungsweisen des Gedankens werden die folgenden Ausführungen als orientierende Fragen begleiten. Und an geeigneter Stelle werden wir die Frage aufwerfen müssen, ob und inwiefern beide zugleich Gültigkeit beanspruchen können. Ist es möglich, die eigenen Handlungen als unverfügbar zu erleben, und dennoch bezüglich jeder anstehenden Handlung zu fragen, ob sie so sei, dass man sie immer wieder tun wollen werde? Wie kann ein nicht-Handeln-können mit der Aufforderung verbunden werden, Handlungen so zu wählen, dass sie in Ewigkeit wieder gewollt werden können? Herkunft der Wiederkunft: Antike und Kräftelehre Die ersten zwei Teile von Also sprach Zarathustra wurden 1883 veröffentlicht. In der Zeit zwischen seiner emphatischen ‚Entdeckung‘ der ewigen Wiederkunft in 1881 und der Publikation des Zarathustra setzt sich Nietzsche zum einen in seinen Notizbüchern ausgiebig mit naturwissenschaftlichen Versionen der ewigen Wiederkunft auseinander. Zum anderen publiziert er in der Fröhlichen Wissenschaft (1882) in zwei direkt aufeinander folgenden Paragraphen eine erste Formulierung seines Wiederkunftgedankens (FW IV, §341) und kündigt zum ersten Mal seinen Zarathustra an (FW IV, §342). Genauer finden sich in diesen beiden Abschnitten Nietzsche zufolge sowohl „Grundgedanke“ wie auch „Anfang“ des Zarathustra publiziert; d.h. es besteht nicht nur eine Ähnlichkeit, sondern Nietzsche versteht beide als zu demselben Projekt gehörend. (EH, 336) Bevor ich zur Lektüre von Also sprach Zarathustra übergehe, will ich also zunächst auf diese frühen Diskussionen in den Notizbüchern und in der Fröhlichen Wissenschaft eingehen. Als Quellen, aus denen sich Nietzsches Gedanke der ewigen Wiederkunft speist, müssen vor allem die Philosophie der Antike und die naturwissenschaftliche Kräftelehre des 19. Jahrhunderts genannt werden. In seiner ersten

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Erwähnung einer Version des Wiederkunftgedankens, bereits 1874 in der Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung, schreibt Nietzsche ihn den Pythagoreern zu.144 Nietzsche bezieht sich im Rahmen seiner Darstellung der monumentalischen Geschichtsbetrachtung auf die ewige Wiederkunft. Deren Aufgabe sollte es sein, zu zeigen, dass das „Grosse, das einmal da war, jedenfalls einmal möglich war und deshalb auch wohl wieder einmal möglich sein wird“ (UB II, 260). Der Gedanke einer möglichen Wiederholung von vergangenen Konstellationen soll dabei den Handelnden Zuversicht darüber schenken, dass es keineswegs „das Unmögliche“ ist, was sie zu erreichen versuchen. (UB II, 260) Allerdings müsste für diesen Effekt der Stärkung „die Individualität des Vergangenen in eine allgemeine Form hineingezwängt“ und gewaltsam in „Übereinstimmung“ mit der Individualität des Gegenwärtigen gebracht werden; denn, so Nietzsche weiter:

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Im Grunde könnte ja das, was einmal möglich war, sich nur dann zum zweiten Male als Möglich einstellen, wenn die Pythagoreer Recht hätten zu glauben, dass bei gleicher Constellation der himmlischen Körper auf Erden das Gleiche, und zwar bis auf’s Einzelne und Kleine sich wiederholen müsse: so dass immer wieder, wenn die Sterne eine gewisse Stellung zueinander haben, ein Stoiker sich mit einem Epikureer verbinden und Cäsar ermorden und immer wieder bei einem anderen Stande Columbus Amerika entdecken wird. (UB II, 261) Der Gedanke einer möglichen Wiederkunft wird hier mit Bezug auf die Bedeutung eingeführt, die ihm als Geschichtsnarrativ für politisches Handeln zukommen könnte. Geschichtlich bedeutsamen Taten, die vor ihrer Ausführung unmöglich scheinen müssen, soll so ihr Schrecken genommen werden. Der Einfluss griechischer Philosophie und auch Mythologie ist weiterhin vielerorts im Zarathustra auszumachen, wenn auch nicht explizit wie im obigen Beispiel. Im Ecce Homo betont Nietzsche rückblickend zum Beispiel, wie nah Heraklits Denken seinem eigenen Denken im Zarathustra sei – so nah, dass er meint, Zarathustras Lehre der ewigen Wiederkunft „könnte zuletzt auch schon von Heraklit gelehrt worden sein.“ (EH, 313) Aufgrund dieser und anderer Äußerungen Nietzsches ist etwa Hubert Cancik der Meinung, die antiken Philosophen seien die einzig entscheidende Quelle für Nietzsches Wiederkunftslehre und die Kräftelehre als Quelle irrelevant.145 Wie ich im Folgenden zeigen 144 145

Vgl. Hubert Cancik, Nietzsches Antike, S. 107 und S. 190, Anm. 29. Der Wiederkunftsgedanke, so Cancik, sei 1881 – zu dem Zeitpunkt als Nietzsche ihn als seinen eigenen Gedanken notiert – zwar zunächst „von naturwissenschaftlichen

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werde, lässt sich allerdings durchaus eine enge Verwandtschaft zwischen den Notizen zur Kräftelehre und dem ersten Auftauchen Zarathustras und des Wiederkunftgedankens in der Fröhlichen Wissenschaft ausmachen. Weder anhand von antiken, noch anhand von naturwissenschaftlichen Vorläufern kann der Wiederkunftsgedanke im Zarathustra erschöpfend erklärt werden. Es handelt sich dort tatsächlich um einen neuen Gedanken; doch zugleich nimmt Nietzsche Elemente von beiden Vorläufern in seine Formulierung auf. Als seinen eigenen Gedanken, wie er im Zarathustra und in der Fröhlichen Wissenschaft publiziert ist, hat Nietzsche ihn nie in eine systematisch ausgeführte Theorie ausgearbeitet. Die ewige Wiederkunft wird dort vielmehr als Rätsel, Allegorie und Problem eingeführt. Gerade deshalb sind die Notizen zur Kräftelehre so aufschlussreich, denn hier finden sich in zahlreichen Fragmenten vergleichsweise klare Darstellungen des Wiederkunftgedankens in verschiedenen Versionen. Und es scheint, dass Nietzsche seine eigene Formulierung erst findet, nachdem er sich durch zahlreiche naturwissenschaftliche Theorien durchgearbeitet hat. Zwei wichtige, namentlich genannte Einflüsse für Nietzsches Interesse an der Kräftelehre sind Julius Robert Mayer und Johann Gustav Vogt. Mayer entwickelte den ersten Hauptsatz der Wärmelehre, in dem er die These formuliert, dass innerhalb eines geschlossenen Systems Energie nur umgewandelt, nicht jedoch verbraucht wird; sie bleibt stets erhalten.146 Mayer geht von einer konstanten Erhaltung des Kraftquantums aus, in der Nietzsche eine Bestätigung seiner Annahme der ewigen Wiederkehr findet. Denn wenn entsprechend das Universum als ein solches geschlossenes System verstanden wird, so Nietzsche, dann muss auch hier die Menge möglicher Kraftlagen begrenzt sein und sich fortwährend wiederholen. So schreibt Nietzsche: Das Maaß der All-Kraft ist bestimmt, nichts ‚Unendliches‘: hüten wir uns vor solchen Ausschweifungen des Begriffs! Folglich ist die Zahl der Lagen Veränderungen Combinationen und Entwicklungen dieser Kraft, zwar ungeheuer groß und praktisch ‚unermeßlich‘, aber jedenfalls auch bestimmt und nicht unendlich. Wohl aber ist die Zeit, in der das All seine Kraft übt, unendlich d.h. alle möglichen Entwicklungen müssen schon dagewesen sein. Folglich muss die augenblickliche Entwicklung eine Wiederholung sein und so die, welche sie gebar und die, welche aus ihr entsteht und so vorwärts und rückwärts weiter! Alles ist unzählige Male

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Argumentationen überwachsen“ gewesen. Diese „physikalischen, physiologischen Diskurse“ seien aber gänzlich verschwunden, sobald der Gedanken von Nietzsche mit der Figur Zarathustras verbunden wird. Hubert Cancik, Nietzsches Antike, S. 107f. Johann Friedrich Zöllner, „Naturwissenschaft“, S. 407.

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Diese Verbindung von Erhaltung der Kraft und der sich daraus ergebenden begrenzten Anzahl von Kombinationsmöglichkeiten, und somit notwendige Wiederholung von bereits gewesenen Kombinationen, findet sich auch bei Vogt. In dessen Ausführungen kommt der Kräftelehre aber eine weitere, für Nietzsches Projekt zentrale Dimension hinzu: er konzipiert sein mechanisches Weltbild als ein effektives Gegenmittel gegen jedwede Form religiöser Vorstellungen. In einer mechanistisch verstandenen Welt, so Vogt, ist kein Platz für einen Schöpfergott. Das macht die Kräftelehre ihm zufolge zu einem trostreichen, ja heiteren Gedanken:

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dagewesen, insofern die Gesammtlage aller Kräfte immer wiederkehrt. [...] (N 1880-1882, 11[202])

Nur durch eine blinde Mechanik, eine eiserne unantastbare Gesetzmässigkeit kann der Bestand einer gegliederten Welt gesichert werden, in ihr allein verkörpert sich die volle Garantie für einen ewigen, nie versiegenden Kreisprozess. Dies ist wenigstens das unerschütterliche Glaubensbekenntnis des Realismus, das, weit entfernt trostlos zu sein, im Gegentheil als das trostreichste aller Glaubensbekenntnisse gepriesen werden kann. Denn kann es einen verzweifelteren Gedanken geben als denjenigen, dass irgend ein transcendentales Etwas, welches nun auch die Form sei, in welcher es menschlichen Gehirnen entsprungen, über der Mechanik stehe und von seinen Capricen, seinem Wollen oder Nichtwollen das Weltgetriebe abhängig gemacht haben könnte?147 Vogt zufolge ist also allein ein ewiger, mechanischer Kreisprozess der Kräfte dazu in der Lage, zu garantieren, dass wir uns nicht als von einem Schöpfergott und seinen Launen abhängig denken müssen. Auch Nietzsche scheint es einleuchtend, dass die Welt weder in einer linearen Entwicklung begriffen ist, die auf einen wie auch immer gearteten Endzustand hingeht, noch „ewig neu werdend“ ist, da ein solches „Wunderbares“ uns notwendig „in den alten Schöpferbegriff zurückfallen“ lassen würde. (N 1880-1882, 11[292]) Insofern scheint der Gedanke der Erhaltung von Kraft mit einer beschränkten Anzahl möglicher Kraftlagen, die sich ewig wiederholen, ihm brauchbar. Mit dieser Annahme fällt nicht nur die Notwendigkeit eines Schöpfergotts weg, sondern auch der Glaube an die Sünde – „was wir auch thun werden, in unzähliger Wiederholung, es ist unschuldig.“ (N 1880-1882, 11[144]) Es ist ihr entschiedener 147

J.G. Vogt, Die Kraft, S. 13.

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Materialismus und ihre atheistische Wirkung, die die Kräftelehre für Nietzsche attraktiv macht. Die Abkehr von Gott ist wichtig, da sie zugleich die Abkehr von der Vorstellung bedeutet, dass unsere Werte und Moralvorstellungen und die auf ihnen basierenden Handlungsregeln unveränderlich und universalgültig seien. Sie ist die erste Grundbedingung für die Autonomie unseres Handelns und die Möglichkeit einer Umwertung unserer gegenwärtigen Werte – also für Veränderung in unserer Welt. Für Nietzsche droht als mögliche Reaktion auf den Gedanken der ewigen Wiederkunft allerdings stets der Nihilismus. Die Annahme des Gedankens der ewigen Wiederkunft, der eine strikt begrenzte und stets wiederkehrende Anzahl menschlicher Möglichkeiten suggeriert, wirft die Frage der Verfügbarkeit von Handlungen auf. Vogt selbst scheint sich dies Problem nicht zu stellen – er hat für das „Gewinsel der Pessimisten“148 nur Spott übrig. Die ewige Wiederkunft stellt kein Problem für ihn dar, weil in seinem Entwurf die Perspektive des Schaffens fehlt. Er analysiert den „nie versiegenden Kreisprozess“ von außen, versucht aber im Gegensatz zu Nietzsche nicht, diese Hypothese mit der Perspektive des handelnden Menschen zu verbinden, der Neues zu schaffen versucht. Die Perspektive der Kräftelehre ist demzufolge beschränkt; sie interessiert sich schlichtweg nicht für das Problem des Handelns. Dennoch geht die materialistische Naturphilosophie der Kräftelehre in Nietzsches Denken ein. Beispielhaft lässt sich dies an der ersten publizierten Form seines Wiederkunftgedankens in der Fröhlichen Wissenschaft zeigen. Das grösste Schwergewicht Die erste Publikation Nietzsches eigener Formulierung des Wiederkunftgedankens in der Fröhlichen Wissenschaft wird oft als hypothetisches Gedankenexperiment verstanden, in dem das Problem einer möglichen Unverfügbarkeit unserer Handlungen sich nicht stellt. Bevor ich zu einer Darstellung und Kritik dieser Lesart übergehe, will ich den Aphorismus zunächst in Gänze zitieren. Das grösste Schwergewicht. – Wie, wenn dir eines Tages oder Nachts, ein Dämon in deine einsamste Einsamkeit nachschliche und dir sagte: „Dies Leben, wie du es jetzt lebst und gelebt hast, wirst du noch einmal und noch unzählige Male leben müssen; und es wird nichts Neues daran sein, sondern jeder Schmerz und jede Lust und jeder Gedanke und Seufzer 148

Ibid.

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und alles unsäglich Kleine und Grosse deines Lebens muss dir wiederkommen, und Alles in der selben Reihe und Folge – und ebenso diese Spinne und dieses Mondlicht zwischen den Bäumen, und ebenso dieser Augenblick und ich selber. Die ewige Sanduhr deines Daseins wird immer wieder umgedreht – und du mit ihr, Stäubchen vom Staube!“ – Würdest du dich nicht niederwerfen und mit den Zähnen knirschen und den Dämon verfluchen, der so redete? Oder hast du einmal einen ungeheuren Augenblick erlebt, wo du ihm antworten würdest: „du bist ein Gott und nie hörte ich Göttlicheres!“ Wenn jener Gedanke über dich Gewalt bekäme, er würde dich, wie du bist, verwandeln und vielleicht zermalmen; die Frage bei Allem und Jedem „willst du diess noch einmal und noch unzählige Male?“ würde als das grösste Schwergewicht auf deinem Handeln liegen! Oder wie müsstest du dir selber und dem Leben gut werden, um nach Nichts mehr zu verlangen, als nach dieser letzten ewigen Bestätigung und Besiegelung? – (FW IV, §341) Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

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Diese Formulierung kann in vier Aspekte unterschieden werden: (i) Die beschriebene Situation fragt nach der Reaktion einer Handelnden auf die Nachricht eines Dämons bezüglich der ewigen Wiederkunft; (ii) die ewige Wiederkunft wird als Wiederkunft von identischen Ereignissen des eigenen Lebens dargestellt; (iii) diese Nachricht kann zerschmetternd wirken, oder erhebend; (iv) wenn sie erhebend wirkt, dann insofern, als sie eine Verwandlung der Rezipientin dieser Nachricht zeitigt. Das von Nietzsche entworfene Szenario legt nachdrücklich die Tragweite der Wiederkunft dar: nicht nur wird jeder Mensch sein Leben „noch einmal und noch unzählige Male“ leben. Es wird noch dazu in Ewigkeit nichts Neues darin vorkommen, alle Aspekte und Erfahrungen, alle Frustrationen und Fehltritte des bisher gelebten Lebens werden stets in derselben Weise wiederkehren. Wie in einer Sanduhr, in der eine bestimmte Anzahl von Sandkörnern hin und her rieseln, so kehren auch Situationen und Dinge wieder – noch dazu sogar „in der selben Reihe und Folge“. Nietzsches Darstellung der ewigen Wiederkunft ist häufig eine rein „ethisch-psychologische“ Bedeutung zugeschrieben worden – ein früher Vertreter dieser Lesart ist Georg Simmel.149 Dieser Lesart zufolge geht es in Paragraph 341 der Fröhlichen Wissenschaft nur darum, Handelnde dazu aufzufordern, so zu handeln, dass sie selbst unter der Maßgabe, dass sich ihr Leben ewig wiederholen müsste, jedes Mal wieder dieselbe Entscheidung treffen und denselben Weg wählen würden. Die Bedeutung der ewigen Wiederkunft sei ohne 149

Georg Simmel, Schopenhauer und Nietzsche, S. 399.

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Bezug zur ‚wirklichen Welt‘ und diene allein dazu, Handelnde so über ihre Handlungen abzuwägen lassen, als ob sie diese in Ewigkeit wieder tun müssten.150 Der Gedanke verwandelt demnach, indem er zu einer Wahl auffordert, hinter der die Handelnde jederzeit wieder und ohne jedwede Einschränkung stehen könnte, so dass sie jede einzelne Tat wie auch ihr gesamtes Leben stets von Neuem bejahen würde. Die ewige Wiederkunft wäre damit also Schwergewicht nur im zweiten Sinne der eingangs eingeführten Leitfragen (Ist es so, dass ich es immer wieder tun will?), nicht aber im ersten Sinne (Wenn alles notwendig ist, wie kann ich über meine Handlungen verfügen?). Die Auslegung als Gedankenexperiment suggeriert eine unkomplizierte Vereinbarkeit von Schaffen mit dem Gedanken der ewigen Wiederkunft: es handelt sich dabei nur um eine Vorstellung, die wir uns vor Augen führen, um in einer bestimmten Weise zu handeln. Spätestens im Zarathustra wird zweifellos deutlich, dass das Verhältnis von Handeln und ewiger Wiederkunft alles andere als unproblematisch ist. Doch bereits in der Fröhlichen Wissenschaft ist das Problem einer potentiellen Unverfügbarkeit von Handlungen immer gegeben: es lässt sich eine Kontinuität des Aphorismus mit Nietzsches Überlegungen zur Kräftelehre ausmachen, die suggeriert, dass er nicht nur als Gedankenexperiment konstruiert ist, sondern dass Überlegungen zur tatsächlichen Beschaffenheit unserer Welt in ihn eingehen. Insbesondere das von Nietzsche verwendete Bild der Sanduhr, deren einzelne Sandkörner als stets dieselben, die in dem Glas enthalten sind, wieder von neuem in Bewegung gesetzt werden, deren Kombinationsmöglichkeiten aber beschränkt sind, lässt die Fundierung in der Kräftelehre durchscheinen. Dies Motiv findet sich nämlich auch in der folgenden Notiz aus dem Nachlass, dort eingebettet in Überlegungen zur Erhaltung der Kraft: Die Welt der Kräfte erleidet keine Verminderung: denn sonst wäre sie in der unendlichen Zeit schwach geworden und zu Grunde gegangen. Die Welt der Kräfte erleidet keinen Stillstand: denn sonst wäre er erreicht worden, und die Uhr des Daseins stünde still. Die Welt der Kräfte kommt also nie in ein Gleichgewicht, sie hat nie einen Augenblick der Ruhe, ihre Kraft und ihre Bewegung sind gleich groß für jede Zeit. Welchen Zustand die Welt auch nur erreichen kann, sie muß ihn erreicht haben und nicht einmal, sondern unzählige Male. So diesen Augenblick: er war schon 150

Bernd Magnus beschreibt die Trennung zwischen zwei grundsätzlichen Lesart der ewigen Wiederkunft wie folgt: „The cosmological version argues that Nietzsche thought recurrence is true. The normative version argues that Nietzsche asks us to behave as if it is true.“ Bernd Magnus, Nietzsche’s existential imperative, S. 142.

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einmal da und viele Male und wird ebenso wiederkehren, alle Kräfte genauso vertheilt, wie jetzt: und ebenso steht es mit dem Augenblick, der diesen gebar und mit dem, welcher das Kind des jetzigen ist. Mensch! Dein ganzes Leben wird wie eine Sanduhr immer wieder umgedreht werden und immer wieder auslaufen – eine große Minute Zeit dazwischen, bis alle Bedingungen, aus denen du geworden bist, im Kreislaufe der Welt, wieder zusammenkommen. Und dann findest du jeden Schmerz und jede Lust und jeden Freund und Feind und jede Hoffnung und jeden Irrthum und jeden Grashalm und jeden Sonnenblick wieder, den ganzen Zusammenhang aller Dinge. [...] (N 1880-1882, 11[148]) Jenseits des Motivs der Sanduhr finden sich in dieser Notiz weitere Elemente des Fröhlichen Wissenschaft-Aphorismus gespiegelt, etwa der Augenblick und seine Wiederkehr oder die Wiederkehr des gesamten Lebens mit allem Schmerz und aller Lust. Die Einbettung dieser Elemente in Überlegungen zur Kräftelehre macht deutlich, dass sich die materialistisch-physikalische Spekulation einer ewigen Wiederkunft, die aus der Erhaltung von Kraft resultiert, nicht sauber von dem trennen lässt, was in der Fröhlichen Wissenschaft einem Dämon in Form eines hypothetischen „Wie, wenn“ in den Mund gelegt wird. Dass Nietzsche die ewige Wiederkunft als mehr denn nur ein Gedankenexperiment verstanden wissen will, lässt sich aber nicht nur aus der Entwicklungsgeschichte dieses Gedankens ableiten. Denn es stellt sich die Frage, wie ein reines Gedankenexperiment, das nicht zumindest eine mögliche Entsprechung in der wirklichen Welt hat, einen verwandelnden Effekt auf das tatsächlich gelebte Leben derjenigen haben soll, die sich dieses Gedankens annehmen. Das Gedankenexperiment etwa, ‚Wie, wenn Einhörner vorbeikämen, die mit ihren Hufen meine Fenster zertrümmerten‘, wird kaum jemanden dazu veranlassen, tatsächlich ein Gitter vorm Fenster anzubringen. Um eine transformative Wirkung auf Handlungen zu haben, ist eine notwendige Bedingung, dass ich zumindest nicht ausschließen kann, dass das vorgestellte Szenario entweder tatsächlich bereits der Fall sein könnte, oder in Zukunft eintreten wird. Oder dass dies Szenario uns zumindest erlaubt, eine signifikante Ähnlichkeit und Beziehung zwischen dem im Aphorismus dargestellten Gedanken und unserer gelebten Realität zu erfassen. Allein eine solche Beziehung erlaubt es, diesen Gedanken als plausible Quelle unserer Handlungsmotivationen zu verstehen. Als bloßes Gedankenexperiment in ethisch-pädagogischer Absicht (Handle so, als ob...) bleibt der starke, ja zerschmetternde Effekt, den der Gedanke der ewigen Wiederkunft haben soll – „Würdest du dich nicht

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niederwerfen und mit den Zähnen knirschen und den Dämon verfluchen, der so redete?“, fragt Nietzsche – unverständlich.151 In den Vorarbeiten werden so die zwei eingangs genannten Weisen, in denen die ewige Wiederkunft als Schwergewicht wirkt, deutlich. Zum einen bedeutet die ewige Wiederkunft, dass das Universum in einer notwendigen und immergleichen Wiederholungsschleife begriffen ist. In ihrer naturphilosophischen Form bietet sie also eine Außenperspektive auf die Weise, in der unsere Welt konstituiert ist. Hieraus wiederum scheint sich zunächst ein strenger Determinismus zu ergeben, in dem kein Platz für freies Handeln ist. Die Formulierung in der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung wiederum ist so gedacht, dass sie Handelnden Mut angesichts scheinbar unmöglicher Vorhaben verleihen soll. Und in ihrer Darstellung in der Fröhlichen Wissenschaft soll die ewige Wiederkunft dazu führen, dass wir uns als Handelnde über die Wichtigkeit und Bedeutung unseres Handelns bewusst werden; ein Handeln dessen Qualität als Handlung, also als in irgendeiner Form gewollt und geplant, unter der Maßgabe einer in ewiger Wiederkunft begriffenen Welt wiederum zumindest erklärungsbedürftig ist. Sind diese zwei grundlegenden Wirkungsweisen der ewigen Wiederkunft schon in den Vorarbeiten präsent, so strukturiert die Spannung zwischen der möglichen Unveränderbarkeit der Welt und einer gesteigerten Bedeutsamkeit transformativen Handelns gewissermaßen den gesamten Zarathustra. Incipit Zarathustra Mit Also sprach Zarathustra hat Nietzsche eine poetische und dramatische Ausdrucksform für seine Philosophie gewählt. Die Textform wechselt unter anderem zwischen Dialogen, Reden, Liedern, Rätseln und Denkbildern.152 Hauptfigur des Buchs ist der Eremit Zarathustra. Das Buch folgt ihm auf seinem Weg herab aus seiner Höhle im Gebirge, in der er zehn Jahre nur in 151

152

Paul Loeb wirft zudem ein, dass das „Wie, wenn“ mit dem der Aphorismus eingeleitet wird sich nicht auf die hypothetische Existenz des Dämons bezieht, sondern auf die Reaktion derjenigen, die von der ewigen Wiederkunft hört. Siehe: Paul Loeb, The Death of Nietzsche’s Zarathustra, S. 19. Weiterhin hat die Wiederkunftslehre Nietzsche selbst scheinbar verzweifeln lassen: „Ich will das Leben nicht wieder. Wie habe ich’s ertragen? Schaffend. Was macht mich den Anblick aushalten? der Blick auf den Übermenschen, der das Leben bejaht. Ich habe versucht, es selber zu bejahen – Ach!“ (N 1882-1884, 4[81]) Insbesondere das musikalische Element scheint Nietzsche am Herzen gelegen zu haben: „Man darf vielleicht den ganzen Zarathustra unter die Musik rechnen [...]“ (EH, 335) Auch Rhythmus und Melodie wären demnach zu beachten.

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Gesellschaft seiner Tiere verbrachte: Schlange und Adler.153 Aus seiner Einsamkeit heraus zieht es Zarathustra zu den Menschen der Stadt, mit denen er seine überfließende Weisheit teilen will. Von dort aus folgen verschiedene Reisen, Begegnungen, Unterhaltungen – und immer wieder der Rückzug in die Einsamkeit. Mit sich ändernden Orten und Gesprächspartnern bzw. Anlässen für Reden schwankt auch Zarathustras Stimmung – mal zuversichtlich, mal verzweifelt, voller Liebe und dann wieder voll Abscheu. Zur Herangehensweise an den Text bemerkt Heidegger daher zurecht, es sei darauf zu achten, wie, d.h. von wem, in welchem Ton, in welchem Kontext und mit welcher Absicht bestimmte Aussagen gemacht werden.154 Ich kann im Rahmen dieses Kapitels solchen Nuancen nicht mit gebotener Sorgfalt nachgehen. Aber zumindest will ich, bevor ich auf den Gedanken der ewigen Wiederkunft eingehe, das Grundproblem darstellen, um das herum der Zarathustra konzipiert ist und somit den Kontext, in dem die ewige Wiederkunft als „Grundconception“ entwickelt wird. Das ist besonders deshalb wichtig, weil dieser von Nietzsche so benannte Grundgedanke im Verlaufe des Zarathustra kaum explizit verhandelt wird, und es nicht nur deshalb ein müßiges Unterfangen wäre, die Textpassagen, in denen sie vorkommt, getrennt vom gesamten Projekt zu verstehen zu versuchen. Wenn die ewige Wiederkunft also Grundkonzeption des Zarathustra ist, dann ist sie es, insofern sie Problem und Stoßrichtung des Buchs zusammenzudenken vermag. Mit Robert Gooding-Williams verstehe ich den Zarathustra grundsätzlich als Dramatisierung der Frage nach der Möglichkeit zum Schaffen neuer Werte.155 Die dramatische Spannung des Buchs besteht hierbei zwischen Zarathustras wiederholten Versuchen, Neues zu schaffen (Intention), und der Tendenz des Bestehenden, sich zu perpetuieren und unwillentlich wiederzukehren (Problem) – zwei Elemente also, die die in den vorherigen Abschnitten eingeführten zwei Weisen spiegelt, in der die ewige Wiederkunft als Schwergewicht wirken kann. Das Buch beginnt mit Zarathustras „Untergang“, mit dem Herabsteigen aus dem Gebirge und dem Weg in die Stadt. Auf seinem Weg zu den Menschen 153

154 155

Schlange und Adler sind Zarathustras „Berater und Helfer und die einzig verläßlichen Freunde. Symbolisch stehen sie auch für das Höchste und Tiefste des an die Erde gebundenen Lebens: Der Adler ist das Tier, das sich am höchsten hinaufschwingt und der Sonne am nächsten sich aufhält, und die Schlange das Tier, das mit seinem Leib gleichsam an der Erde haftet und in ihren Klüften und Spalten verschwindet.“ Beatrix Himmelmann, „Zarathustras Weg“, S. 18. Martin Heidegger, „Wer ist Nietzsches Zarathustra“, S. 100. Zum Problem der Interpretation vgl. auch Volker Gerhardt, Friedrich Nietzsche, S. 62f. Robert Gooding-Williams, „The Drama of Nietzsche’s Zarathustra: Intention, Repetition, Prelude“, S. 106f.

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trifft Zarathustra einen anderen Einsiedler, den „Heiligen“, der ihn vor den Menschen warnt. Diese erste Begegnung Zarathustras ist deshalb wichtig, weil sie die Grundvoraussetzung seiner folgenden Bemühungen verdeutlicht: Der Heilige ist glücklich im Wald, indem er für Gott lebt, singt, und ihn lobt. Gott gibt ihm den Sinn seiner Existenz. Zarathustra wiederum ist erstaunt darüber, wie es möglich ist, dass der Heilige nichts vom Tod Gottes mitbekommen hat. (Z I, 14) Mit dem „Tod Gottes“ – d.h. damit, dass die Menschen ihren Glauben an Gott aufgeben – ist ein zentrales Hintergrundmotiv des Zarathustra benannt, und ein zentrales Motiv für Nietzsches Denken insgesamt.156 Ohne Glauben fällt der sichere Grund für die Moral, Werte, und Handlungsanleitungen weg, die Religionen ihren Anhängern einst bereitgestellt hatten. Einst war es also in vieler Hinsicht nicht nötig, über die Gründe für unser Handeln und das Festhalten an bestimmten Werten zu reflektieren. Was ‚Gut‘ und was ‚Böse‘ war, war festgelegt und unveränderbar, da auf Gottes Urteil zurückführbar. Was dem Leben auf der Erde Sinn gab, war die Aussicht auf unser Leben nach dem Tode im Himmel. Mit dem sich verbreitenden Abfall vom Glauben entsteht so zunächst ein Vakuum: Die Menschen haben damit, dass sie nicht mehr an Gott glauben, nicht nur die Möglichkeit gewonnen, von ihrem freigesetzten Willen Gebrauch zu machen, sie sehen sich zugleich mit einer neuen Notwendigkeit in einer gottlosen Zeit konfrontiert – der Notwendigkeit, neuen Sinn zu stiften und Werte aus sich selbst heraus zu etablieren.157 Nach der Begegnung mit dem Heiligen findet sich Zarathustra auf einem Marktplatz. Mit seinen ersten Worten zu den dort versammelten Menschen kündigt er an, ihnen den „Übermenschen“ zu lehren. (Z I, 14) Diesen Übermenschen verbindet Zarathustra später direkt mit einem nachreligiösen Leben: „Todt sind alle Götter: nun wollen wir, dass der Übermensch lebe.“ (Z I, 102) Der Übermensch soll dabei genauer nicht Gott ersetzen, sondern das von dessen Tod hinterlassene Vakuum füllen. Er soll „leben“, um das Verlangen nach einer wie auch immer gearteten göttlichen Instanz zu überwinden. Treue zur Erde, Misstrauen gegenüber „überirdischen Hoffnungen,“ sowie eine Aufwertung des Leibes – alles klar erkennbare Umkehrungen christlicher Lehren – werden gleich eingangs als wichtige Elemente hierfür genannt. (Z I, 15) Die Vision des Übermenschen basiert auf einer Spielform des Materialismus. Was den Übermenschen darüber hinaus konkret auszeichnet, lässt sich nicht leicht ausmachen. Aufschlussreich ist allerdings, was sich aus diesem unbestimmten

156 157

Vorbereitet findet es sich in der Fröhlichen Wissenschaft, wo Nietzsche verkündet: „Gott ist todt“, und weiter feststellt: „Wir haben ihn getödtet, – ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder!“ (FW III, §125) Vgl. Karl Löwith, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, S. 36f.

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Das Neue in der Ewigen Wiederkunft des Gleichen

Postulat des Übermenschen über den Menschen erschließen lässt. Dieser ist nämlich, so Zarathustra,

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ein Seil, geknüpft zwischen Thier und Übermensch, – ein Seil über einem Abgrunde. Ein gefährliches Hinüber, ein gefährliches Auf-dem-Wege, ein gefährliches Zurückblicken, ein gefährliches Schaudern und Stehenbleiben. Was gross ist am Menschen, das ist, dass er eine Brücke und kein Zweck ist: was geliebt werden kann am Menschen, das ist, dass er ein Übergang und ein Untergang ist. (Z I, 16f.) Der Mensch ist dort, wo er dem Menschsein wirklich entspricht, grundsätzlich ein Übergang, ein Provisorium und durch Eigenschaften wie Selbstüberwindung, Werden und Schaffen charakterisiert. Der Mensch ist nichts beständiges, sondern vielmehr darüber definiert, dass er wird. Fest steht dabei nicht einmal, was er wird oder werden soll, sondern nur, dass er ein Übergang ist. Im Umkehrschluss heißt das zunächst, dass der nicht werdende, sondern in seinem derzeitigen Zustand verharrende Mensch das, was ihn als Menschen ausmacht, verliert. Wenn der Mensch tatsächlich ein Seil zwischen Tier und Übermensch ist, dann bedeutet das, dass er stets mit beiden verbunden ist. Er hat sein Tier-sein nie ganz überwunden, und wird sein Mensch-sein nie zugunsten des Übermenschen überwinden. Beiden, Tier und Übermensch, kommt vielmehr eine exzentrische Position innerhalb des Menschseins zu, das ein Werden ist. Der Übermensch wiederum kann insofern keinen fixen Zustand zu beschreiben, den es für den Menschen zu erreichen gilt und nach erreichen dessen er Ruhen kann, sondern vielmehr einen Impuls zur Selbstüberwindung in Permanenz.158 Zarathustras erste Rede, nachdem er den Marktplatz verlässt, handelt „Von den drei Verwandlungen“ des Geistes. (Z I, 29ff.) Hier führt Nietzsche ein Modell für das Prozessdasein im Versuch der Selbstüberwindung ein, das er als 158

Damit aber fallen Übermensch und Mensch gewissermaßen zusammen: Wo der Mensch schafft, ist er auf dem Weg zum Übermenschen, der wiederum selber Weg ist – also ‚ist‘ der schaffende Mensch im Moment der Selbstüberwindung gewissermaßen Übermensch. „Der Übermensch ist“, so Heidegger, „derjenige Mensch, der über den bisherigen Menschen hinausgeht, einzig um den bisherigen Menschen allererst in sein noch ausstehendes Wesen zu bringen und ihn darin fest zu stellen.“ ‚Feststellen‘ kann in diesem Sinne allerdings nicht heißen, ein bestimmtes Wesen oder bestimmte Charaktereigenschaften zu fixieren, denn das würde dem prozesshaften Charakter des Menschseins wiedersprechen. Das Wesen, was hier festgestellt wird, ist darum das eines ständigen Werdens, eines Prozesscharakters, dessen Wesen eben darin besteht, außer der eigenen Bewegtheit kein Wesen zu haben, nichts Festes zu sein. Martin Heidegger, „Wer ist Nietzsches Zarathustra“, S. 102.

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Friedrich Nietzsche

charakteristisch für die Existenzweise des Menschen sieht. Die erste Verwandlung stellt dar, wie der Geist „zum Kameele wird.“ Als Kamel bezeichnet Nietzsche den Geist, insofern er seine Stärke durch das Tragen von schweren Lasten ausdrückt. „Was ist schwer? So fragt der tragsame Geist, so kniet er nieder, dem Kameele gleich, und will gut beladen sein.“ (Z I, 29) Beladen wird das Kamel mit den Wertvorstellungen seiner Gesellschaft und Religion, die es annimmt und trägt. In der einsamen Wüste jedoch verwandelt sich der Geist vom Kamel in einen Löwen, der sich gegen seinen „Herrn und Gott“ wendet und dessen „Du sollst,“ dem er bisher gefolgt war, sein „ich will“ entgegensetzt. (Z I, 30) Der Geist im Löwen-Stadium steht entsprechend für die Bewegung, in der ein Mensch sich dazu überwindet, „Freiheit sich [zu] schaffen und ein heiliges Nein auch vor der Pflicht“ zu sprechen. (Z I, 30) Der Wille des Löwen ist allerdings nur verneinend. Er selbst vermag es nicht, „Neue Werthe“ an die Stelle des alten „Du sollst“ der Moral zu setzen, sondern setzt lediglich die fürs Schaffen notwendige Freiheit durch, macht Platz zum Schaffen. Auch dies Stadium muss noch überwunden werden, denn ohne eine weitere Transformation führt die Verneinung, ein Wille, der sich von etwas abstößt, sich dann aber verläuft und nichts Neues zu schaffen vermag, in den Nihilismus.159 In der dritten Verwandlung wird der Geist schließlich entsprechend zum „Kind“. Das Kind ist „ein Neubeginn, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-sagen.“ (Z I, 31) Anstatt also nur das Alte zu verneinen, schafft der Geist im Kindsstadium Neues. Das Kind ist entscheidend dadurch gekennzeichnet, dass es unfertig, werdend, sich entwickelnd ist; es ist neu auf dieser Welt. Es schaut nicht nach hinten, also zu dem, was es verneint, sondern vergisst den alten Referenzrahmen, verlässt ihn damit und vermag es, spielerisch Neues hervorzubringen. Der Übermensch ist im Zarathustra unverkennbar als Ziel oder zumindest Fluchtpunkt für diejenige Lebensweise konzipiert, die Zarathustra unter die Menschen bringen will: als Übergang und Überwindung in beständiger Transformation zu leben. Als Fluchtpunkt eines beständigen Versuchs der Selbstüberwindung aber ergibt sich für Zarathustra die Schwierigkeit, den Übermensch tatsächlich zu „lehren“, wie er zu Beginn angekündigt hatte. Wie lässt sich etwas lehren, dem selbst keine spezifische Form zukommt, sondern das vielmehr einen Prozess steter Formveränderung verkörpern soll? Auf dem 159

Obwohl der Geist im Löwenstadium also eine Entwertung des Lebens durch die Hinwendung zum Jenseits oder dem blinden Gehorsam gegenüber den das Leben schwächenden Moralvorstellungen entgegengetreten sind, hat er damit noch keine Aufwertung des Lebens vorgenommen. Vielmehr besteht die Gefahr, dass „das Nichts selber […] vorübergehend zum Gott“ wird. Siehe Karl Löwith, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, S. 48.

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Marktplatz macht Zarathustra drei Versuche des Lehrens. Zunächst appelliert er an die „grosse Verachtung“ der Menschen für ihr eigenes Glück, für ihre Vernunft, Tugend, Gerechtigkeit und ihr Mitleiden. Er fordert zur Verachtung und Verneinung derjenigen Werte auf, gemäß derer sie leben, also zum „Nein“ des Löwen. Der Übermenschen wird als das „Meer“ bezeichnet, in dem diese Verachtung untergehen kann. (Z I, 15f.) Das Volk reagiert hierauf nicht; Zarathustra ändert seine Strategie und spricht stattdessen über das, was er am Menschen liebt – nämlich dessen schöpferische, selbstüberwindende Energien. Dieser zweite Versuch endet mit Zarathustras Einsicht, „nicht der Mund für diese Ohren“ zu sein – das Volk versteht ihn nicht. (Z I, 18) Mit seinem dritten und letzten Versuch appelliert Zarathustra schließlich an den Stolz der Menschen, indem er ihnen die Schreckensvision des „letzten Menschen“ ausmalt. Dieser ist Inbegriff eines zufriedenen Lebens in Mittelmäßigkeit, dem die Strapazen des Schaffens, Werdens und der Selbstüberwindung fremd sind. Zarathustra präsentiert den letzten Menschen als Warnung: wenn dessen Lebensform sich einmal durchgesetzt hat, dann geht die Aussicht auf den Übermenschen verloren. Das Volk auf dem Marktplatz ist in Anbetracht des letzten Menschen allerdings nicht abgeschreckt, sondern begeistert. Auch Zarathustras dritter Versuch, die Menschen auf dem Marktplatz zur Selbstüberwindung zu motivieren, scheitert also. (Z I, 19f.) Die Mehrheit der Menschen auf dem Marktplatz befindet sich offenbar im Kamelstadium: sie haben keinen eigenen Willen und keine Ziele, keine Motivation, sich selbst und ihre gegenwärtige Lebensform zu überwinden. Ihr einziger Ehrgeiz ist es, es sich im Bestehenden so reibungsfrei und angenehm wie möglich einzurichten. Zarathustra hatte angekündigt, den Übermenschen lehren zu wollen. Es stellt sich nun aber im Verlaufe der Vorrede heraus, dass ein solches Unterfangen nur dann überhaupt möglich wäre, wenn eine Neigung zur Selbstüberwindung, ein Streben im Menschen vorhanden ist. Wenn der Übermensch Fluchtpunkt ist und vor allem zum aktiven Überwinden des Gegebenen motivieren soll, wenn er also keine konkret definierbare neue Lebensweise oder Spezies darstellt, dann kann er nicht im herkömmlichen Sinne gelehrt werden. Entsprechend kann Zarathustra selbst für die wenigen, die sich ihm anschließen, kein Lehrer im herkömmlichen Sinne sein, kein Vermittler von Wissen. Er muss sich als Schaffender vielmehr „Mitschaffende“ suchen, „welche neue Werthe auf neue Tafeln schreiben.“ (Z I, 26) Diese Mitschaffenden sind seine „Gefährten,“ mit denen Zarathustra ein gemeinsames Interesse eint; keinesfalls will er der „Hirte und Hund“ einer folgsamen „Heerde“ von Schülern sein. (Z I, 25) Ebenso wie der Übermensch kein konkretes Ideal darstellt, kann Zarathustras ‚Lehre‘ also nicht als Programm verstanden werden. Er kann deshalb keine Führung bieten, und fordert seine Mitschaffenden im Gegenteil dazu auf, sich

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gegen ihn wehren, ihn zu verleugnen und verlieren anstatt ihm unhinterfragt Glauben zu schenken. (Z I, 101) Zarathustra findet seinen eigenen Weg durch „Versuchen und Fragen“, und jede Einzelne muss ihren Weg ebenfalls selber auf diese Weise finden: „Den Weg nämlich,“ d.h. einen allgemeingültigen Weg, „den giebt es nicht!“ (Z III, 245) Der Weg des Schaffens ist nicht lehrbar; er ist kein fester, kein bestehender oder beständiger Weg, sondern einer, den sich jede zunächst selbst schaffen muss. Ohne letzten Grund und ohne festes Ziel muss dann über Handlungsbegründungen und Werte radikal umgedacht werden. Nietzsches Antwort hierauf (wie auch Zarathustras Appell zur Selbstüberwindung) ist in seinem Begriff des Lebens gegründet, der Gegenstand des nächsten Abschnitts ist. Leben jenseits von Kirche und Staat Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

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Wenn allerdings der Übermensch kein klar umrissenes Handlungsziel ist, stellt sich die Frage, warum wir dennoch unser Handeln an dieser Vorstellung orientieren sollten. Argumente für und wider einer Orientierung am Übermenschen können nicht in dessen positiven Eigenschaften begründet werden. Warum und inwiefern kann also dennoch dessen Wünschbarkeit behauptet werden? Die Frage nach dem Grund dafür, warum Menschen sich als Übergang verstehen und in stetiger Selbstüberwindung leben sollen, muss also anders beantwortet werden. Zarathustra hatte auf dem Marktplatz versucht, die Menschen vom Wert der Selbstüberwindung zu überzeugen, indem er ihnen eine Verachtung für ihr eigenes Glück und ihre eigenen Werte unterstellte und den Übermenschen als Meer anpries, in dem diese Verachtung untergehen könne. Ganz abgesehen davon, dass die Menschen auf dem Marktplatz diese motivierende Selbstverachtung nicht spüren: jenseits einer greifbaren Alternativvorstellung, an der die Makel der Gegenwart gemessen werden können, worin könnte sich eine solche Verachtung überhaupt gründen? Eine erste Antwort hierauf findet sich in der Genealogie der Moral. Nietzsche analysiert dort zum einen, „unter welchen Bedingungen“ Menschen ihre Moralvorstellungen entwickeln, und fragt zum zweiten danach, welchen Wert eben diese Vorstellungen von Gut und Böse selbst haben: „Hemmten oder förderten sie bisher das menschliche Gedeihen? Sind sie ein Zeichen von Nothstand, von Verarmung, von Entartung des Lebens? Oder umgekehrt, verräth sich in ihnen die Fülle, die Kraft, der Wille des Lebens, sein Muth, seine Zuversicht, seine Zukunft?“160 In dem Moment, in dem unsere Werte und unser Glück also Fülle, Kraft, und Willen 160

Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, Vorrede, KSA 5, S. 249f.

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des Lebens beschränken, sind diese Werte selbst wertlos und verdienen unsere Verachtung. Um wiederum beurteilen zu können, ob unsere Werte zu Verarmung oder Fülle und Gedeihen des Lebens führen, braucht es eine Charakterisierung der grundlegenden Eigenschaften des Lebens an sich, anhand der sich erkennen lässt, ob bestimmte Werte dem Leben entsprechen oder nicht. In Zarathustras Wiedergabe dessen, was ihm „das Leben selbst“ über sich erzählt, findet sich eine autoritative Beschreibung: Siehe, sprach es, ich bin das, was sich immer selber überwinden muss. Freilich, ihr heisst es Wille zur Zeugung oder Trieb zum Zwecke, zum Höheren, Ferneren, Vielfacheren: Aber all dies ist Eins und Ein Geheimnis. [...] Dass ich Kampf sein muss und Werden und Zweck und der Zwecke Widerspruch: ach, wer meinen Willen erräth, erräth wohl auch, auf welchen krummen Wegen er gehen muss! Was ich auch schaffe und wie ich’s auch liebe, – bald muss ich Gegner ihm sein und meiner Liebe: so will es mein Wille. (Z II, 148) Aus der Wesensbestimmung des Lebens ergibt sich ein Maßstab, anhand dessen sich sagen lässt, dass ausnahmslos alle menschlichen Praxisformen und Wertsysteme früher oder später überwunden werden müssen. Wenn das Leben zuvorderst als dasjenige charakterisiert werden muss, was „sich immer selber überwinden muss“, dann müssen auch Werte, so sie dem Leben zuträglich sein sollen, sich vor allem durch Plastizität auszeichnen. Was heute „menschliches Gedeihen“ fördert, kann bald schon zu einem „Zeichen von Nothstand“ werden. Diese Dynamik des Lebens ist dabei nicht teleologisch gedacht, sondern bewegt sich auf „krummen Wegen“, angetrieben durch im hier und jetzt stattfindende „Kämpfe“. Solche Konflikte basieren auf einer allem Lebendigen innewohnenden Tendenz zur Selbstüberwindung durch Widerstreit. Ein solcher Widerstreit kann dabei ebenso zwischen zwei Menschen stattfinden, wie er als innerer Konflikt widerstrebender Tendenzen eines Einzelnen gedacht werden kann.161 Wie das Leben festgestellt hat, muss es sich oft gegen dasjenige wenden, was es selbst geschaffen und geliebt hat – also gegen sich selbst. Entsprechend lässt sich folgern, dass diejenigen Werte, die im „Kind“-Stadium des

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Nietzsches Formulierung in diesem Abschnitt spielt mit dieser Ambivalenz: So gibt sich „dem Stärkeren das Schwächere“, und „das Kleinere [...] dem Grösseren“ hin; die „Hingebung des Grössten“ ist, dass „es Wagnis ist.“ Hier sind also nicht (notwendig) schwächere und stärkere Menschen gemeint, der oder die Größte, der oder die Kleinere. Es scheint vielmehr um allgemeine Elemente des Lebendigen zu gehen, die sich sowohl innerhalb einer Person wie auch zwischen zwei Personen (oder anderen lebendigen Organismen) manifestieren kann. (Z II, 148; meine Hervorhebung)

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Geistes neu geschaffen werden, selbst eines Tages wiederum zu einer schweren Last werden müssen, wenn sie nämlich institutionalisiert und so erneut in ein „Kamel“-artiges „Du sollst“ überführt werden. Damit wäre hier unter Berücksichtigung der Eigenschaft des Lebens tatsächlich ein Modell steter Selbstüberwindung auszumachen: der Geist bleibt nicht für immer Kind, sondern wird sich früher oder später wieder als Kamel von Werten belastet finden – seien es die eigenhändig geschaffenen, oder solche, die von außen an den Geist herangetragen werden. Dies Grundprinzip des Lebendigen wird in diesem Zusammenhang auch als „Wille zur Macht“ beschrieben. Dieser Begriff wird im Zarathustra zum ersten Mal eingeführt:162 „Wo ich Lebendiges fand, da fand ich Willen zur Macht,“ heißt es hier; Wille zur Macht ist „der unerschöpfte zeugende Lebens-Wille.“ (Z II, 147) Dieser Wille bewirkt, dass alles Lebendige „gehorcht und befiehlt“, sich also im Widerstreit befindet; dabei übt alles Befehlende allerdings selbst noch „befehlend Gehorsam“ aus. Befehl und Gehorsam sind demnach ineinander verschränkt, und zwar nicht nur so, dass jeder Befehlende auch eines Gehorchenden bedarf, sondern dass im Befehlen zugleich schon ein Gehorchen liegt und das Lebendige noch „[s]einem eignen Gesetze [...] Richter und Rächer und Opfer werden“ muss. (Z II, 147) Der Wille zur Macht stellt sich damit keineswegs als eine Apologie der Herrschaft heraus, sondern als in sich gebrochenes, nicht-teleologisches Antriebsprinzip des Werdens alles Lebendigen.163 Nietzsche ergänzt mit dem Willen zur Macht die ihm bekannten naturwissenschaftlichen Überlegungen zur Kraft, mit denen er sich in Vorstudien zum Zarathustra beschäftigt hatte, um so deren Begriff der Kraft für sein eigenes Vorhaben um einen inneren, lebendigen Kraftbegriff zu ergänzen. Der siegreiche Begriff ‚Kraft‘, mit dem unsere Physiker Gott aus der Welt geschafft haben, bedarf noch einer Ergänzung: es muß ihm eine innere Welt zugesprochen werden, welche ich bezeichne als ‚Willen zur Macht‘, d.h. als unersättliches Verlangen nach Bezeigung der Macht; oder Verwendung, Ausübung der Macht, als schöpferischen Trieb usw. [...] (N 1884–1885, 36 [31]) Wille zur Macht ist also eine stetige Kraftentladung aus dem Inneren des Lebendigen, die das Werden in Richtung der Überwindung des eigenen Selbst hinlenken will. Anhand der obigen Beschreibung des Lebens lässt sich jedoch 162 163

Vgl. Karl Löwith, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, S. 56. Ähnlich Ottmann, der meint, Wille zur Macht sei für Nietzsche „alles, was ‚wirkte‘ und in Bewegung war, unterwegs zu einem mehr an Kraft oder Macht oder auf dem Weg hinab zu einem Weniger.“ Henning Ottmann, Philosophie und Politik bei Nietzsche, S. 354.

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nicht nur sagen, dass alles Lebendige im Fluss des Werdens begriffen ist und aus sich selbst heraus einen Impuls zur Selbstüberwindung generiert, und dass alle Werte früher oder später überwinden werden müssen. Es lässt sich darüber hinaus auch ein normativer Maßstab zur Bewertung von bestehenden Werten ableiten: Derjenige Wille und diejenigen Werte, die danach streben, institutionalisiert zu werden und sich so vom Werden abzukoppeln – verfestigt und verewigt zu werden – sind dem Leben entgegengestellt. Die „Weisesten“, zu denen Zarathustra in dem hier behandelten Abschnitt über die Eigenschaften des Lebens spricht, setzen ihren „Willen und ihre Werthe“ in einem „Nachen“, einem kleinen Boot, auf den „Fluss der Werdens,“ auf dem diese Werte schwimmen und von dem sie getragen werden. Das „Volk“ gleicht diesem Fluss und trägt Werte und Willen der Weisen voran, auch wenn es ihnen widerspricht. Mit solchen Werten wird das Seiende erst „denkbar“ gemacht. Es wird dabei aber nicht festgestellt, sondern fließt weiter; und auch die Werte im Nachen selbst sind nicht unberührt vom „Lebens-Willen,“ der stets Wandel fordert. (Z II, 146f.) Insofern sie Lebendiges ordnen und vom Fluss des Lebens aufgenommen und getragen werden, sind sie selbst Teil des Lebendigen. Wenn nun Werte ihre dem Leben zuträgliche Funktion verlieren und sich so vom Leben abkoppeln, aber nicht absterben bzw. überwunden und transformiert werden, dann gehen sie in einen Zustand über, in dem sie dem Leben Vitalität rauben und es an seiner Entfaltung hindern. Zwei Beispiele dafür sind Nietzsche zufolge in der Kirche und im modernen Staat zu finden. Um im Bild des „Nachens“ zu verbleiben, könnte man sich den modernen Staat zum Beispiel so vorstellen, dass das ehemals kleine und offen konstruierte Boot, dessen Inhalt und Gestalt sich als Teil des Lebendigen dessen Bewegungen anschmiegt, nun zu einem Containerschiff ausgebaut worden ist: groß, schwer, und geschlossen, ist ein solches Schiff von der Bewegung des Flusses weitgehend abgeschirmt – dafür wiegt es selbst aber um so schwerer auf dessen Strömung. Die Charakterisierung des Lebens als in ständiger Selbstüberwindung begriffen sagt deshalb nicht nur etwas über das Wesen von Werten aus. Sie erlaubt darüber hinaus auch die Evaluierung bestehender Wertesysteme als der Dynamik des Lebens entsprechend und ihm daher zuträglich, oder als diese Dynamik blockierend und daher lebensfeindlich. Die lebensfeindliche Rolle des Christentums und der aus ihr hervorgehenden Moralvorstellungen, die Anspruch auf universelle und ewige Gültigkeit stellen, findet sich ausführlich in der Genealogie der Moral dargestellt. Also sprach Zarathustra beginnt in einer Welt, in der Gott bereits „tot“ ist. In dieser Welt dominieren zum einen säkulare Versionen ursprünglich christlicher Moralvorstellungen mit Universalitätsanspruch (für Nietzsche z.B. prominent die Kant’sche Moralphilosophie). Darüber hinaus findet sich hier mit dem

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modernen Staat Nietzsche zufolge eine der Kirche strukturell ähnliche Institution, der deren Rolle in vielerlei Hinsicht übernommen hat: Die Kirche, so Zarathustra, ist „eine Art von Staat“. (Z II, 169) Hier zeigt sich nicht nur, wie Nietzsche das Problem von sich in Institutionen verfestigenden, lebensfeindlichen Werten versteht, es wird zudem die politische Stoßrichtung des Projekts deutlich. Sowohl Staat als auch Kirche stellen Anspruch auf Universalität, sie schreiben Normen und Pflichten vor und prägen unser Verständnis von Gerechtigkeit und Rechtmäßigkeit. In beiden Fällen kann die lebensfeindliche Wirkung letztlich auf die Forderung nach Konformität zurückgeführt werden, die zu einem Verlust kreativer, Veränderung erwirkender Energien führt. Nietzsche suggeriert, dass die „Besieger des alten Gottes“ (Z I, 62) in ihrem Kampf müde wurden, und diese Müdigkeit nach der erfolgreichen Überwindung Gottes bedeutet, dass sie nicht genug Kraft hatten, anstelle des Überwundenen neues zu schaffen. Hier wird deutlich, dass der entscheidende und besonders schwierige Schritt darin liegt, von der Verneinung und Überwindung etwas Bestehendem – dem Löwen-Stadium  – erfolgreich zum Kind-Stadium überzugehen, um mit bejahenden und spielerischen Kräften neues zu schaffen. Die Überwinder des alten Gottes waren dazu nicht in der Lage. Stattdessen dienen sie „dem neuen Götzen“, der dessen Platz eingenommen hat: der Staat. (ibid.) Es ist nun der Staat, der unseren Begriff von Gut und Böse und unser Verhalten regelt, und wenn nötig Strafen für Ungehorsam verhängt. Bevor er seine Kritik am modernen Staat darlegt, analysiert Nietzsche im Abschnitt „Vom neuen Götzen“ zunächst dessen Genesis. Grundsätzlich hebt Nietzsche den Kontrast zwischen „Staaten“ einerseits, und „Völker[n] und Heerden“ andererseits hervor. Als Formen gesellschaftlicher Organisation, die heute nicht mehr bestehen, wurden Völker von „Schaffenden“ hervorgebracht, die ihnen Werte gaben, sie durch „einen Glauben und eine Liebe“ vereinten und damit dem Leben dienten. (Z I, 61) Genauer gesagt besteht ein Volk aus vielen „Durstigen“ und „Sehnsüchtigen“, also aus solchen, die einen Willen zur Selbstüberwindung und zum Schaffen haben. Ein Volk besteht aus vielen „Versuchenden.“ (Z III, 265) Damit wird nahegelegt, dass das Volk im Gegensatz zum Staat seine Werte nicht passiv von jemandem erhält, dem qua Institution eine Machtposition zukommt. Wenn Gesellschaft ein „Versuch“, nicht aber ein „Vertrag“ ist, dann kann eine institutionalisierte Machtposition nicht bestehen. (ibid.) Wenn also Schaffende selbst das Volk mithilfe von Werten vereinen, dann muss dieser Vorgang nicht als von oben herab auferlegt, sondern als ein agonistischer Prozess verstanden werden, in dessen Ergebnis sich die zum jeweils gegebenen Zeitpunkt dem Leben am besten dienenden Werte herauskristallisieren. Ein „Volk“ konstituiert sich durch seine „Sitten und Rechte,“ die ihm eine ihm spezifische und für andere unverständliche „Sprache“ geben. (Z I, 61) Hier wird

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der Anspruch auf Universalität explizit abgelehnt. Die Werte des Volks bestehen „in seiner Überwindungen Tafel“ und sind „die Stimme seines Willens zur Macht,“ der wiederum auf „Noth und Land und Himmel und Nachbar“ dieses Volks beruht – d.h. auf der konkreten, materiellen und relationalen Situation, in der es sich findet und innerhalb derer sein Prozess der Selbstüberwindung stattfindet. (Z I, 74) Staatsgründer wiederum sind keine Schaffenden; sie dienen nicht dem Leben, sondern sind vielmehr dessen „Vernichter.“ Anstatt einer Tafel der Überwindungen, anstatt „Glauben und Liebe,“ verhängen sie „ein Schwert und hundert Begierden“ über die Menschen – sie stellen Ordnung her und herrschen mithilfe (der Androhung) von Gewalt und indem sie ein Verlangen z.B. nach Ruhm, Reichtum, Macht und Komfort erzeugen. (Z I, 61) Nietzsches Kritik am modernen Staat bezieht sich vorwiegend auf dessen politische Kultur, die er als extreme Form von Außenorientierung und ständigem Vergleich mit anderen versteht. Anstatt sich selbst zu überwinden und Neues zu schaffen, geht es im modernen Staat darum, sich im Ansehen anderer hochzuarbeiten, was wiederum durch die erfolgreiche Internalisierung und Aktualisierung von allgemein akzeptierten Werten geschieht. Nietzsche mokiert sich entsprechend über die „geschwinden Affen“, die auf ihrem Weg hinauf zu Machtpositionen innerhalb des Staats übereinander hinwegklettern und sich dabei gegenseitig in die Tiefe, in den Schlamm hinabziehen. „Schlamm“ sitzt demnach auch auf dem „Thron“, nach dem sie streben, und dessen Fundament selbst wiederum Schlamm ist. Reichtum wird über alles geschätzt, da Geld das „Brecheisen der Macht“ ist; den Menschen im Staat ist dabei nicht bewusst, dass sie mit der Akkumulation von Geld und Macht nur immer ärmer werden. Zarathustras Einsicht ist dagegen, dass „wer wenig besitzt [...] um so weniger besessen“ wird – er lobt die „kleine Armuth.“ (Z I, 63) Indem Nietzsche den Staat als von den „Viel-zu-Vielen“ dominiert darstellt, wird deutlich, dass seine Staatskritik in vieler Hinsicht zugleich eine Kritik der modernen Massenkultur ist: der Staat ist dasjenige Gebilde, in dem der „langsame Selbstmord Aller – ‚Das Leben‘ heisst.“ (Z I, 62) Er ist nicht nur Nietzsches Prinzip des Lebendigen diametral entgegengesetzt, sondern ernennt seine eigene Lebensfeindlichkeit zum Leben selbst. Innerhalb der Grenzen des Staats gibt es daher für Nietzsche keine Hoffnung auf Selbstüberwindung; Menschen hier „verschlingen einander und können sich nicht einmal verdauen;“ das Bildungssystem stiehlt und verwandelt die „Schätze der Weisen“ in „Krankheit und Ungemach“ für alle; und die Kranken „erbrechen ihre Galle und nennen es Zeitung.“ (Z I, 63) Zarathustra stellt zudem verschiedene Weisen heraus, in denen der Staat auch die Schaffenden zu seinem Vorteil einzuspannen und auszunutzen versucht, und appelliert schließlich an diese, den Staat und den Markplatz zu verlassen, um nicht in dessen Lebensform hineingezogen zu werden. Erst „dort, wo der

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Friedrich Nietzsche

Staat aufhört“ sind die „Brücken des Übermenschen,“ sind Selbstüberwindung und das Schaffen von Neuem möglich. (Z I, 64) Die Lebensform, die dem modernen Staat und seiner Wirkung auf Menschen entspricht, ist diejenige des „letzten Menschen,“ den Zarathustra in seiner Vorrede als Schreckensvision ausgemalt hatte. Die letzten Menschen sind nur an Komfort, Glück und Sicherheit des eigenen Lebens interessiert – ein „kleiner“ Zustand, der mit dem Streben nach Veränderung zugleich jeden potentiellen Konflikt und jede Schwierigkeit vermeidet. Die letzten Menschen sind sich in allem einig; „jeder will das Gleiche, Jeder ist gleich: wer anders fühlt, geht freiwillig in’s Irrenhaus.“ (Z I, 20) Was ihnen fehlt, ist „Chaos“ und „Sehnsucht,“ und damit sind sie zu einem Verharren im status quo disponiert, was ihre Lebensform „unaustilgbar“ macht: „der letzte Mensch lebt am längsten.“ (Z I, 19) Es ist die Kombination dieser beiden Eigenschaften, das fehlende Verlangen nach einer Transformation der Gegenwart und die Permanenz dieser Lebensform, die sie so bedrohlich werden lässt. Die Erde insgesamt, und jeder Teil von ihr, wird durch die letzten Menschen ebenfalls „klein“ gemacht. Was hier also durchscheint, ist die gesamtgesellschaftliche, ja globale Vision einer Welt, in der Schaffen und Selbstüberwindung durch die Lebensform des letzten Menschen unmöglich geworden sind. Und tatsächlich scheint es möglich, dass die Dominanz dieser Lebensform unmittelbar bevorsteht, wenn wir uns die begeisterte Reaktion der Menschen auf dem Marktplatz vor Augen führen, die Zarathustras letzten Menschen nicht als Warnung, sondern als Utopie verstehen. Dass Zarathustra an der Aufgabe scheitert, den Übermenschen zu lehren, ist etwas, womit er umgehen kann: Er passt seine Strategie an, indem er sich von der Idee verabschiedet, sich direkt an die Massen auf dem Marktplatz zu wenden. Dass aber der Großteil der Menschen nicht nur seine Lehre nicht versteht oder ihr nicht zu folgen vermag, sondern ihr genaues Gegenteil begehrt und andere damit anzustecken droht, deutet auf ein tieferliegendes Problem hin. (Z I, 19) Später, im Abschnitt „Der Genesende“ – einer der wenigen Abschnitte, in dem sich Zarathustra und seine Tiere explizit mit dem Gedanken der ewigen Wiederkunft des Gleichen befassen – kommt Zarathustra auf dies Problem zurück. Über sein Leiden am Gedanken der ewigen Wiederkunft sagt er, dass es „der grosse Überdruss am Menschen“ war, der ihn „würgte,“ und was ihm ein Wahrsager einst prophezeit hatte: „Alles ist gleich, es lohnt sich Nichts, Wissen würgt.“ (Z III, 274)164 Zarathustras Reaktion auf die Worte des Wahrsagers ist Traurigkeit und Müdigkeit, und eine gewisse Resignation im Hinblick auf sein eigenes Unterfangen. Diese Müdigkeit wird von Zarathustra selbst wiederum 164

Vgl. die Rede des Wahrsagers: „Alles ist leer, Alles ist gleich, Alles war!“ (Z II, 172).

Das Neue in der Ewigen Wiederkunft des Gleichen

explizit mit dem Gedanken der Wiederkunft verbunden: „Allzuklein der Grösste! – Das war mein Überdruss am Menschen! Und ewige Wiederkunft auch des Kleinsten! – Das war mein Überdruss an allem Dasein!“ (Z III, 274) Er verbindet demnach die globale, gesamtgesellschaftliche Perspektive eines fehlenden Verlangens nach Veränderung mit der ewigen Wiederkunft: Die Tatsache, dass auch die Menschen, die nicht als Schaffende aktiv sind – auch die „letzten“, die „kleinsten“ Menschen – in Ewigkeit wiederkehren werden, und dass auch die größten unter den Menschen, also auch die, die schaffend tätig sind, noch unendlich klein und nichtig sind. Und alle zusammen werden wiederkehren. Hier wird wiederum die Spannung zwischen ewiger Wiederkunft und dem Projekt der Selbstüberwindung deutlich. Wenn die kleinen Menschen ewig wiederkehren, scheint das Schaffen von Neuem, und folglich Zarathustras gesamtes Projekt, zunächst sinnlos. Die letzten Menschen sind nicht nur selbst unwillig zu schaffen, sie verunmöglichen auch das Schaffen anderer. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

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Ewige Wiederkunft und die Auseinandersetzung mit Moral und Nihilismus Nietzsche lässt sich Zeit, bis er den Gedanken der ewigen Wiederkunft im Zarathustra einführt. In seinen Reden und in Interaktionen mit anderen Menschen wird in den ersten zwei Büchern zunächst das Problem, das sich Zarathustra stellt (Unmöglichkeit der Lehre im traditionellen Sinn, Erstarrung der Gegenwart durch Festhalten an tradierten Werten) und die Radikalität seines Vorhabens (Selbstüberwindung, Übermensch) deutlich. Erst gegen Ende des zweiten Buchs kündigt sich der Gedanke an, ohne jedoch ausgesprochen zu werden. Zarathustra äußert dort sein Grauen vor dem „Jetzt“ und dem „Ehemals auf Erden.“ (Z II, 179) Zwar befreie der Wille vom einfachen Hinnehmen des Gegebenen, doch sei dieser Wille selbst noch der Vergangenheit unterworfen, die er nicht verändern kann, und die in ihm „Ingrimm und Unmuth“ und ein Verlangen nach Rache bewirkt. Just in dem Moment, als Zarathustra erklärt, der schaffende Wille müsse zu allem ja sagen und auch noch das „Zurückwollen“ lernen, erschrickt und verstummt er. (Z II, 180f.) In eben diesem Zurückwollen deutet sich die ewige Wiederkunft an; denn unter Maßgabe der ewigen Wiederkunft wird auch die Vergangenheit, auch das überwunden Geglaubte noch wiederkehren – und so wird jeder bestehende Unmut in Anbetracht der Vergangenheit unendlich gesteigert, wenn diese als ewig wiederkehrend verstanden werden muss. Erst zu Beginn des dritten Buchs spricht Zarathustra von seinem Gedanken: er führt ihn dort in Form eines Rätsels ein. Auch hier lehrt er seinen Gedanken also keinesfalls. Er spricht ihn noch nicht einmal direkt aus, sondern

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Friedrich Nietzsche

deutet mithilfe eines Rätsels in seine Richtung.165 In ihm legt Zarathustra zwei Versionen des Wiederkunftgedankens dar, anhand derer eine Konfrontation mit dem „Geist der Schwere“ stattfindet. Der Geist der Schwere ist als die Verkörperung der Belastung und Einschränkung zu verstehen, die die Annahme von und das Festhalten an tradierten Wertvorstellungen und Denkmustern mit sich bringt. (Z III, 242f.)166 Über die Konfrontation mit dem Geist der Schwere stellt das Rätsel die Frage danach, ob mithilfe des Gedankens der ewigen Wiederkunft gegenwärtige Ordnungen überwunden werden können. Zarathustra selbst wird in dem Rätsel als einsamer Wanderer dargestellt, dessen Auseinandersetzung mit dem Geist der Schwere im Zentrum des Rätsels steht. (Z III, 198) Er erzählt davon, wie er einen Pfad entlanglief, der zwischen Geröll auf einen Berg hinaufführte. Der Aufstieg ist ihm beschwerlich, da er der Geist der Schwere auf seinen Schultern trägt, der „lähmend“ auf ihn wirkt und ihm beschwerende „Bleitropfen-Gedanken“ eintröpfelt. So behauptet er, dass alles, was hoch steigt, auch wieder tief fallen muss – und dass dies auch auf Zarathustras eigene Bemühungen zutreffe: „Dich selber warfst du so hoch, – aber jeder geworfene Stein – muss fallen! [...] – aber auf dich wird er zurückfallen!“ (ibid.) Ebenso wie alles, was in die Höhe geworfen wird, nach den Gesetzen der Schwerkraft wieder herunterfallen wird, muss auch Zarathustra in seinem Streben nach Selbstüberwindung stets wieder hinter das bereits Erreichte zurückfallen. Die Welt folgt strengen Regeln, und in ihr wird alles, was einen anderen Weg einzuschlagen versucht, am Ende stets wieder auf seinen angestammten Platz zurückgeworfen. Zarathustra leidet an dieser Vorstellung, ähnlich wie bereits an der Prophezeiung des Wahrsagers und der Vision des letzten Menschen, die ihn an seinem Unterfangen haben zweifeln lassen. Gemeinsam ist den Vorstellungen die Überzeugung, dass menschliches Schaffen aussichtslos ist, und unsere durch Konformität und Gleichförmigkeit gekennzeichnete Gegenwart nicht überwindbar. Diese Vorstellung „drückte“ Zarathustra, und er glich einem Kranken, „den seine schlimme Marter müde macht“. (ibid.) Kurz darauf jedoch konfrontiert Zarathustra den Geist der Schwere, den er hier als „Zwerg“ adressiert. Er bezeichnet sich als den „stärkeren“ von beiden, und spricht von seinem „abgründlichen Gedanken,“ von dem er behauptet, er werde ihn nicht ertragen können. Der Zwerg nimmt die Herausforderung an und springt von Zarathustras Schultern; beide halten an einem „Thorweg“.

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Giorgio Colli weist darauf hin, dass das Rätsel als „die Erscheinung dessen, was verborgen ist, im Manifesten – im Wort“ verstanden werden kann, und versteht es demnach als „die Spur des Unsagbaren.“ Giorgio Colli, Nach Nietzsche, S. 184. Der Geist der Schwere ist somit auch eine Verkörperung der Daseinsform des Geistes im Kamel-Stadium, in dem wir uns willig mit allem, was schwer ist, beladen.

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Das Neue in der Ewigen Wiederkunft des Gleichen

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‚Siehe diesen Thorweg! Zwerg!‘, sprach Zarathustra: ‚der hat zwei Gesichter. Zwei Wege kommen hier zusammen: die gieng noch Niemand zu Ende. Diese lange Gasse zurück: die währt eine Ewigkeit. Und jene lange Gasse hinaus – das ist eine andre Ewigkeit. Sie widersprechen sich, diese Wege; sie stossen sich gerade vor den Kopf: – und hier, an diesem Thorwege, ist es, wo sie zusammen kommen. Der Name des Thorwegs steht oben geschrieben: ‚Augenblick‘. Aber wer einen von ihnen weiter gienge – und immer weiter und immer ferner: glaubst du, Zwerg, dass diese Wege sich ewig widersprechen? (Z III, 199f.) Zarathustra konfrontiert den Zwerg mit dem Gedanken der ewigen Wiederkunft. Er stellt zur Diskussion, ob sich Vergangenheit und Zukunft „ewig widersprechen“ müssen, ob sie also nur in diesem „Augenblick,“ in der Gegenwart, je aufeinandertreffen. Das wäre der Fall, wenn Zeit als linear gedacht würde, als Zeitpfeil, der sich von einem Anfangspunkt ausgehend kontinuierlich wegbewegt – entweder unendlich geradeaus (moderner, physikalischer Zeitpfeil) oder aber auf ein klar bestimmbares Ende hin (z.B. im Christentum auf das Jüngstes Gericht hin). Vergangenheit und Zukunft sind in einem solchen linearen Modell strikt getrennt, da Zeit kontinuierlich und irreversibel weiterläuft. Zarathustra wirft jedoch die Frage auf, ob wir den Zusammenhang von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft nicht anders denken müssen: Wenn es einer Person möglich wäre, einen der beiden Wege (Zukunft bzw. Vergangenheit) bis an ihr Ende zu gehen, würde sich dann nicht möglicherweise herausstellen, dass sich beide nach einer Ewigkeit wieder treffen? Dass sie also keinen Anfangs- und Endpunkt haben, sondern vielmehr miteinander im Kreis verbunden sind? Der Zwerg scheint von dieser Überlegung nicht beeindruckt; er antwortet: „Alles Gerade lügt, […] die Zeit selber ist ein Kreis.“ (Z III, 200) Schnell glaubt er erkannt zu haben, worauf Zarathustra hinauswill. Die Vorstellung, dass sich eine Gerade irgendwann notwendig krümmen muss, ist ihm aus der Physik geläufig – er kann sich die Zeit in diesem Sinn durchaus als einen Kreis vorstellen.167 Zarathustra reagiert verärgert auf die Antwort des Zwergs; es scheint, als habe dieser nicht wirklich verstanden, worum es ihm geht. Wenn der Zwerg aber die falsche Antwort gegeben hat, was genau hat es dann mit der ewigen Wiederkunft auf sich? Zarathustra führt sein Rätsel weiter aus: 167

Das funktioniert auch umgekehrt: Verlängert man den Durchmesser eines Kreises ins Unendliche, wird die Krümmung immer geringer und erscheint schließlich als Gerade. Die Kreisbahn des größtmöglichen Kreises lässt sich nicht weiter krümmen, da sie andernfalls von einer noch größeren überboten werden und so nicht die größtmögliche sein könnte. Im Unendlichen fallen somit Gerade und Kreis in eins. Siehe auch: Annemarie Piper, Ein Seil geknüpft zwischen Mensch und Übermensch, S. 379f.

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Friedrich Nietzsche

Siehe [...] diesen Augenblick! Von diesem Thorwege Augenblick läuft eine lange ewige Gasse rückwärts: hinter uns liegt eine Ewigkeit. Muss nicht, was laufen kann von allen Dingen, schon einmal diese Gasse gelaufen sein? Muss nicht, was geschehen kann von allen Dingen, schon einmal geschehn, gethan, vorübergelaufen sein? Und wenn Alles schon dagewesen ist: was hältst du Zwerg von diesem Augenblick? Muss auch dieser Thorweg nicht schon – dagewesen sein? Und sind nicht solchermaassen fest alle Dinge verknotet, dass dieser Augenblick alle kommenden Dinge nach sich zieht? Also – – sich selber noch? Denn, was laufen kann von allen Dingen: auch in dieser langen Gasse hinaus – muss es einmal noch laufen! – Und diese langsame Spinne, die im Mondscheine kriecht, und dieser Mondschein selber, und ich und du im Thorwege, zusammen flüsternd, von ewigen Dingen flüsternd – müssen wir nicht Alle schon dagewesen sein? – und wiederkommen und in jener anderen Gasse laufen, hinaus, vor uns, in dieser langen schaurigen Gasse – müssen wir nicht ewig wiederkommen? (Z III, 200) Ähnlich wie Mayer und Vogt sich in ihren Hypothesen zur Erhaltung von Kraft allein mit den physikalischen Eigenschaften und Gesetzen unserer Welt beschäftigt hatten, hat der Zwerg Zarathustras Ausführungen zur Wiederkunft als Überlegungen zu einer reinen Zeitform verstanden, die unabhängig vom Verlauf der in ihr stattfindenden Ereignisse gedacht ist. Wie in obiger Ausführung allerdings deutlich wird, ist es genau dieser Zusammenhang, um den es Zarathustra geht: Wie hängen Zeitform und menschliches Erleben zusammen? Wie wirkt sich die Annahme von Kreisförmigkeit auf Handelnde aus? Zarathustras Überlegungen sind also deutlich auf den Menschen in seinem Lebens- und Handlungszusammenhang gerichtet. Alles, was im Leben geschehen kann, muss nach obiger Darstellung bereits geschehen sein, alle Ereignisse sind so fest „verknotet“, dass jeder Augenblick alle folgenden nach sich zieht – damit auch „sich selber noch“, denn auch er wird wiederkehren und ist bereits wiedergekehrt. Ja nicht nur die Leben einzelner, sondern was überhaupt „geschehen kann von allen Dingen“ – was also in unserer Welt insgesamt im Bereich des Möglichen liegt – muss irgendwann im Laufe der Ewigkeit, die sich vor und nach unserem gegenwärtigen Augenblick erstreckt, auch bereits realisiert gewesen sein. Alle Möglichkeiten wären demnach ausgeschöpft. Ein solch unveränderbarer und sich wiederholender Zusammenhang suggeriert Alternativlosigkeit und wirft die Frage auf, wie in diesem Rahmen Veränderung und Selbstüberwindung überhaupt noch gedacht werden können. Abermals stellt sich in Anbetracht der ewigen Wiederkunft die Frage: „Wie kann ich über meine Handlungen verfügen?“

Das Neue in der Ewigen Wiederkunft des Gleichen

Zarathustra gibt zu, sich vor seinem eigenen Gedanken zu fürchten, und vermag ihn nur leise flüsternd auszusprechen. Nachdem er ihn in der obigen Form ausgesprochen hat, ist der Zwerg verschwunden. Als Reaktion auf diese Überwindung, auf den ‚Sieg‘ seiner Vorstellung über diejenige des Zwergs, folgt eine Auseinandersetzung mit dem Nihilismus. Im Rätsel wird diese Auseinandersetzung anhand der Figur eines Hirten verhandelt, dem während seiner Rast eine Schlange in den Schlund gekrochen ist. Die Schlange, die sich dem Hirten im Hals festgebissen hatte, steht ihm dabei für „alles Schwerste, Schwärzeste.“ (Z III, 202) Wie Zarathustra später herausstellen wird, wird diese Schwere durch den „Überdruss am Menschen“ hervorgerufen, der sich aus der Vorstellung einer Wiederkunft auch des kleinsten, letzten Menschen ergibt und so Zweifel an der Möglichkeit von Veränderung aufkommen lässt. (Z III, 274)

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Der grosse Überdruss am Menschen – der würgte mich und war mir in den Schlund gekrochen: und was der Wahrsager wahrsagte: „Alles ist gleich, es lohnt sich Nichts, Wissen würgt.“ (Z III, 274)168 Im Rätsel schlägt der Versuch Zarathustras fehl, die den Hirten würgende Schlange von außen zu entfernen, so dass er ihm schließlich zuruft: „Beiss zu! Beiss zu! Den Kopf ab! Beiss zu!“ (Z III, 201) Tatsächlich schafft es der Hirte, den Kopf der Schlange aus eigener Kraft abzubeißen. Sein Lachen nach diesem befreienden Biss, so Zarathustra, war nicht mehr das Lachen eines Menschen, sondern eines Verwandelten. (Z III, 202) Der Hirte, der im Pausieren und Verharren vom Nihilismus überwältigt wurde, ist in diesem Moment (erneut) zum Schaffenden geworden. Er hat sich selbst überwunden und damit zugleich des Nihilismus, des Schwermuts und des Überdrusses angesichts der ewigen Wiederkunft entledigt. Diese zweite Überwindung endlich ist es, die eine vollkommene Verwandlung und Heiterkeit mit sich bringt. (Z III, 202) Das Rätsel legt also die Kraft dar, die es kostet, sich den Gedanken der ewigen Wiederkunft zu eigen zu machen, ohne an ihm zu verzweifeln – und die Schwierigkeiten, die man hierzu zu durchlaufen hat.169 In dem Moment, als Zarathustra sein Rätsel vorträgt, weiß er noch nicht, um wen es sich bei diesem Verwandelten handelt, der den Nihilismus überwunden hat. Zarathustra gibt zu, dass er eine unstillbare „Sehnsucht“ nach der Erfahrung des Hirtens hat, dass auch er also ein Verwandelter werden will, der der ewigen Wiederkunft mit Heiterkeit begegnen kann. (Z III, 202) Erst 168 169

Der Wahrsager lehrt eben diese Lehre: „Alles ist leer, Alles ist gleich, Alles war!“ (Z II, 172), die Zarathustra mit Traurigkeit und Müdigkeit erfüllt, als er sie vernimmt – alles scheint ihm vergeblich. Vgl. Jörg Salaquarda, „Die Grundconception des Zarathustra“, S. 79.

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Friedrich Nietzsche

zum Ende des dritten Buchs, im Abschnitt „Der Genesende“, erkennt Zarathustra sich selbst in der Auseinandersetzung des Hirten mit dem Nihilismus. Der Abschnitt erzählt von Zarathustras Herausforderung des Gedankens der Wiederkunft – diesmal erzählt er ihn nicht als Rätsel, sondern stellt sich ihm aktiv in einem Geschehen, das sich in Zarathustras Höhle abspielt. In einem (inneren) Zwiegespräch konfrontiert er dort den Gedanken der ewigen Wiederkunft, schreiend „wie ein Toller.“ Als „Fürsprecher des Kreises,“ des Lebens, und des Leidens, fühlt er sich dem Gedanken zunächst gewachsen, wird dann jedoch von Ekel überkommen und fällt in eine Art Koma, das sieben Tage andauert. (Z III, 270f.) Wie der Hirte von einer Müdigkeit heimgesucht wird, die ihn einschlafen lässt, so wird auch Zarathustra vom Gedanken der Wiederkunft überwältigt und findet sich ohnmächtig am Boden. Nach seinem Koma erkennt Zarathustra sich selbst als denjenigen, der am Gedanken der ewigen Wiederkunft der kleinsten Menschen erkrankt war, dem das „Unthier [...] in den Schlund kroch“ und ihn „würgte“, woraufhin er ihm den Kopf abbiss und von sich spuckte. (Z III, 273) Auch Zarathustra, so lässt sich also folgern, hat seinen Ekel und den Nihilismus überwunden; er ist ein Genesender und Verwandelter, bzw. im Prozess der Verwandlung begriffen. Bereits das Rätsel hatte die zunächst niederschlagende Wirkung der ewigen Wiederkunft herausgestellt; diese Wirkung wird hier noch deutlicher. Eine ganze Woche dauert es, bis Zarathustra überhaupt wieder zu Bewusstsein kommt. Sein Aufwachen muss mit dem befreienden Biss des Hirten verglichen werden; beide befreien sich aus einer Starre, in die sie wohl der Gedanke der Unverfügbarkeit unserer Handlungen und die Unmöglichkeit unseres Schaffens geworfen hat, die mit der Annahme der ewigen Wiederkunft einhergeht. Was Zarathustra im Rätsel zunächst von außen beobachtet und für sich selbst als Wunsch formuliert hat, das durchlebt er nun selbst als „Genesender“. Es ist dabei aufschlussreich, dass Zarathustra im Rätsel gewissermaßen sowohl Hirte als auch Erzähler ist: Es stellt sich so heraus, dass die im Rätsel verhandelte Frage ist, ob der Nihilismus angesichts der ewigen Wiederkunft durch das korrekte Verständnis dieses Gedankens überwunden werden kann (Zwerg vs. Zarathustra), oder durch Taten (Biss des Hirten). Als Erzähler des Rätsels, der um die ewige Wiederkunft weiß, kann Zarathustra dem Hirten nicht helfen, seine Verzweiflung loszuwerden. Sowohl Hirte als auch Zarathustra versöhnen sich erst in dem Moment mit der ewigen Wiederkunft, indem sie selbst tätig werden. Ewige Wiederkunft in Liedern Zarathustra ist nicht so unmittelbar wie der Hirte ein Lachender und Verwandelter. Sein Zustand nach dem Aufwachen wird als fragil beschrieben, er hängt

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in Gedanken weiterhin dem Gefühl der Aussichtslosigkeit nach, das er überwunden hat. Zarathustras langwieriger Prozess der Genesung wird mit drei Liedern abgeschlossen: das „Leier-Lied“, das Zarathustras Tiere für ihn singen, das „andere Tanzlied“, das Zarathustra an das Leben richtet, und schließlich sein eigenes „Ja- und Amen-Lied“, mit dem er seine Annahme der Wiederkunft als wünschbar besiegelt. Nietzsche schreibt rückblickend im Ecce Homo, dass man „vielleicht den ganzen Zarathustra unter die Musik rechnen“ sollte (EH, 335) – den Liedern ist also auch in dieser Hinsicht erhöhte Bedeutung beizumessen. Zarathustras Tiere raten ihm gleich nach seinem Erwachen aus dem Koma, er solle singen; „Singen nämlich ist für Genesende“. (Z III, 275) Und schließlich stellt Zarathustra selbst fest, dass lachen müsse, wer nicht aus Schwermut anklagen und weinen wolle. (Z III, 208) Die Lieder stellen somit einen Schritt in Zarathustras Versuch dar, die ewige Wiederkunft anzunehmen, ohne dadurch von dem Gedanken gelähmt zu werden, dass Schaffen angesichts der ewigen Wiederkunft aussichtslos wäre. Die letzte Strophe von Zarathustras letztem Lied stellt noch besonders deutlich die Vorzüge von Liedern über Reden heraus, um eine solche Schwermut zu überwinden: „[S]ind alle Worte nicht für die Schweren gemacht? Lügen dem Leichten nicht alle Worte! Singe! Sprich nicht mehr!“ (Z III, 291) Bevor Zarathustra selbst den Entschluss fasst, seine eigenen Lieder zu singen, versuchen Zarathustras Tiere, ihn dazu zu überreden, sich dem Leben zuzuwenden, anstatt rückblickend über seine überwundene Verzweiflung und seinen Ekel zu reflektieren. Den Gedanken der ewigen Wiederkunft, dessen Annahme Zarathustra als eine „saure, schwere“ (Z III, 272) gekommen ist, verwandeln sie ihm zu diesem Zweck in ein Lied: Alles geht, Alles kommt zurück; ewig rollt das Rad des Seins. Alles stirbt, Alles blüht wieder auf, ewig läuft das Jahr des Seins. Alles bricht, Alles wird neu gefügt; ewig baut sich das gleiche Haus des Seins. Alles scheidet, Alles grüsst sich wieder; ewig bleibt sich treu der Ring des Seins. In jedem Nu beginnt das Sein; um jedes Hier rollt sich die Kugel Dort. Die Mitte ist überall. Krumm ist der Pfad der Ewigkeit. (Z III, 272f.) Zarathustra lobt die Tiere für ihre Klugheit, fragt aber konsterniert, wie sie aus dieser Klugheit nur ein „Leier-Lied“ machen können, während er selbst noch mit den Nachwirkungen der Anstrengung zu kämpfen hat, die es ihn gekostet hat, den Gedanken überhaupt zu denken und auszusprechen. Den Tieren ist die ewige Wiederkunft eine Selbstverständlichkeit, die sie heiter, aber auch mit leichter Indifferenz, in ihrem Lied vortragen. Alles ist eben so, wie es ist, und wie es ist, scheint es gut eingerichtet zu sein. Wie allerdings bereits in der

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Friedrich Nietzsche

Version des Zwergs, so fehlt auch hier die Perspektive der Handelnden. Das Geschehen scheint sich unabhängig von Akteuren zu vollziehen.170 Zarathustra bezeichnet seine singenden Tiere als „Drehorgeln“, d.h. als Instrumente, die aufgrund ihrer Konstruktion stets gleichgültig dieselben Töne spielen und Musik so in eine Leier verwandeln. (Z III, 273) Was den Gedanken für Zarathustra unaussprechbar werden lässt, verstehen die Tiere nicht: dass Zarathustra trotz allem, was die ewige Wiederkunft bedeutet, obschon also womöglich „alle diese Jahre sich selber gleich sind, im Grössten und auch im Kleinsten“ (Z III, 276), an der Perspektive des Schaffens, der Überwindung, des Übermenschen festhält – dass er an ihnen festhält, obschon ihm zugleich deren Unmöglichkeit bewusst ist. Anstatt nun von dem Gedanken der ewigen Wiederkunft zu schweigen, flüstern, oder von ihr (wie von gesichertem Wissen) zu sprechen und bei diesem Versuch zu scheitern, besingt Zarathustra im Folgenden die ewige Wiederkunft.171 Zarathustras erstes Lied, „Das andere Tanzlied“, besingt sein Verhältnis zum Leben. Eingangs hatte ich Nietzsche dahingehend zitiert, dass er den Wert unserer Werte daran misst, ob sie dem Leben und seiner steten Selbstüberwindung auf „krummen Wegen“ zuträglich seien. Als jemand, der überlieferte Werte überkommen und neue Werte schaffen will, zeigt sich Zarathustra in diesem Lied nun als den Bewegungen der Dynamik des Lebens angepasst. Sobald das Leben seine „Klapper mit kleinen Händen“ zweimal schlägt, „schaukelte schon [Zarathustras] Fuss vor Tanz-Wuth.“ (Z III, 282) Zarathustra tanzt gemäß dem Rhythmus, den das Leben vorgibt. Er springt auf es zu, wo es ihn lachend und fragend anblickt; er springt von ihm weg, wenn es sich von ihm abwendet und flieht, nur um sich sogleich wieder vom „Verlangen“ des Lebens in den Bann ziehen zu lassen. „Mit krummen Blicken“ lehrt das Leben Zarathustra, „krumme Bahnen“ zu verfolgen, sich also in seinem Tun den Wegen des Lebens anzugleichen. (ibid.) Den Wegen des Lebens folgt Zarathustra auch dorthin, wo nur eine „geringe Spur“ vorgegeben ist und er sich zu verirren droht, und auch, wenn er lieber einfachere Pfade ginge. (Z III, 283) Stattdessen springt Zarathustra im „Tanz über Stock und Stein“ dem Leben folgend „hinauf“ und „hinüber“, nur um im Springen wieder hinzufallen. (ibid.) Auf all diesen krummen und beschwerlichen Wegen wird es Zarathustra zum Ende 170

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„Zarathustras Tiere repräsentieren in diesem Kontext die Naturwesen, die im Einklang mit der Erde leben. Für sie wirft auch der zum Extrem getriebene Wiederkunftsgedanke keine Probleme auf. Er drückt ihre normale Befindlichkeit aus. Sie singen ein harmonisches Wiederkunftslied.“ Jörg Salaquarda, „Die Grundconception des Zarathustra“, S. 89. Giorgio Colli schreibt in seinem Nachwort zum Zarathustra, in dieser Schrift seien „Bilder und Begriffe [...] Symbole für etwas, das kein Antlitz hat“ und damit „keimende Ausdrucksformen“. Colli, „Nachwort“, in: Z, S. 412.

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Das Neue in der Ewigen Wiederkunft des Gleichen

des Liedes müde, immer nur „schafichter Schäfer“ des Lebens zu sein – er will nun das Verhältnis umkehren und das Leben nach dem Takt seiner eigenen Peitsche „tanzen und schrein“ lassen, anstatt sich dem Rhythmus und den Irrwegen anzupassen, die das Leben ihm vorgibt. (Z III, 284) Das Lied bricht ab und geht in eine Unterhaltung mit dem Leben über, in der dieses Zarathustra zunächst zurechtweist, er solle nicht „so fürchterlich“ mit seiner Peitsche klatschen, denn „Lärm mordet Gedanken“. (ibid.) Wo aber Gedankenlosigkeit herrscht, da ist es unwahrscheinlich, dass Werte neu geschaffen werden, die dem Leben zuträglich sind.172 Das Leben äußert hieraufhin seine Zweifel daran, ob Zarathustra es wirklich liebe und ihm treu sei – es vermutet, Zarathustra spiele mit dem Gedanken, es verlassen zu wollen, also zu sterben. Zarathustra flüstert ihm daraufhin, wiederum zögernd, etwas ins Ohr. Beginnend mit „ja, aber“, muss es sich bei dem Geflüsterten um eine Entkräftigung der Enttäuschung des Lebens angesichts Zarathustras möglichem Tode handeln. Und eine solche findet sich nun gerade im Abschnitt „Der Genesende“, wenn die Tiere Zarathustra folgende Worte in den Mund legen: Nun sterbe und schwinde ich, [...] und im nu bin ich ein Nichts. Die Seelen sind so sterblich wie die Leiber. Aber der Knoten von Ursachen kehrt wieder, in den ich verschlungen bin, – der wird mich wieder schaffen! Ich selber gehöre zu den Ursachen der Wiederkunft. Ich komme wieder, mit dieser Sonne, mit dieser Erde, mit diesem Adler, mit dieser Schlange – nicht zu einem neuen oder besseren oder ähnlichen Leben: – ich komme ewig wieder zu diesem gleichen Leben, im Grössten und auch im Kleinsten, dass ich wieder aller Dinge ewige Wiederkunft lehre [...]. (Z III, 276) Ob die Tiere im einzelnen Recht damit haben, Zarathustras Position so zu portraitieren, ist unklar. Dass Zarathustra aber zum Leben in seinem Flüstern in irgendeiner Form von der ewigen Wiederkunft spricht, gemäß derer er zum

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Hier lässt sich eine Parallele zu einer früheren Unterhaltung zwischen Zarathustras und dem Leben (dort als „Stillste Stunde“) ausmachen: Wenn das Leben Zarathustra dazu auffordert, „Grosses zu befehlen“, Zarathustra aber dagegenhält, es fehle ihm „des Löwen Stimme zu allem Befehlen“, erwidert das Leben: „Die stillsten Worte sind es, welche den Sturm bringen. Gedanken, die mit Taubenfüssen kommen, lenken die Welt.“ (Z II, 189) Es scheint also, als missverstehe Zarathustra wiederholt, was es bedeutet, zu herrschen, Macht zu haben, den Takt anzugeben: Es bedeutet keinesfalls, laut und herrisch aufzutreten, sondern vielmehr, auf „Taubenfüssen“ daherzukommen, sich dem Rhythmus des Lebens mimetisch anzupassen, um dessen Melodie dann im rechten Zeitpunkt abzuwenden, anstatt es übertönen zu wollen.

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Leben zurückkehren werde, ist in Anbetracht des unmittelbaren Kontexts der Unterhaltung, wie auch der Tatsache, dass seine Lieder insgesamt den Prozess der Annahme des Gedankens darstellen, sehr wahrscheinlich. Die ungläubige Replik des Lebens auf Zarathustras Flüstern wiederum lautet: „Du weisst Das, oh Zarathustra? Das weiss Niemand. – –“ (Z III, 285) Es scheint also zunächst, dass Zarathustra hier anerkennend als der Einzige angesprochen wird, der um den Gedanken der ewigen Wiederkunft weiß. Dabei ist es jedoch merkwürdig, dass die Betonung hier auf dem Wissen liegt – „du weisst Das?“ – und nicht darauf, dass dies außer Zarathustra niemand anderes weiß. Möglicherweise soll uns diese Replik des Lebens also vielmehr ein Hinweis darauf sein, dass dieser Gedanke tatsächlich ein unwissbarer ist. Ein im herkömmlichen Sinne (gesichertes) Wissen bezüglich der ewigen Wiederkunft kann es nicht geben – Zarathustra kann sich also nicht einmal auf dieser Vorstellung ausruhen.173 Auf das Tanzlied und den Austausch mit dem Leben folgen die „Sieben Siegel“, die auch als „Ja- und Amen-Lied“ bezeichnet werden, in dem die Ewigkeit von Leid und Lust bekräftigt wird.174 Die sieben Strophen, die jeweils ein bestimmtes Thema verhandeln, folgen einem „Wenn, dann“-Schema: Wenn xyz, dann muss ich „nach der Ewigkeit brünstig sein und nach dem hochzeitlichen Ring der Ringe, – dem Ring der Wiederkunft!“ (Z III, 287) So endet jede der sieben Strophen, deren Inhalte entsprechend darstellen, warum Zarathustra den „Ring der Wiederkunft“ will. Ich will die Themen der einzelnen Strophen hier kurz auflisten: (1) Zukünftigkeit: Zunächst erzählt Zarathustra von sich als Wolke, die mit der Zukunft schwanger ist: „schwanger von Blitzen, die Ja! sagen“. Die Blitze nehmen dabei ein in der Vorrede mit dem Übermenschen assoziiertes Motiv wieder auf, weisen also auf Zarathustras Schaffen hin.175 (2) Atheismus und Treue zur Erde: Zarathustra stellt seine Überwindung „alter Welt-Verleumder,“ der Götter und ihrer Kirchen dar, und besteht auf der Liebe zu einer Welt ohne Götter. (3) Zufall und Schaffen: Er erzählt vom „schöpferischen Hauche“, der Zufälle tanzen macht, und wie er am „Göttertisch der Erde mit Göttern Würfel spielte“, die die Gestalt der Erde verändern. (4) Auflösung des Dualismus: Zarathustra stellt sich als ein Korn desjenigen Salzes dar, das dazu imstande ist, gegensätzliches zu mischen und binden – Gut und Böse, 173

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Deutlich wird diese Problematik nicht nur in Zarathustras Unvermögen, vom diesem Gedanken zu sprechen, sondern auch, ihn zu lehren. Die ewige Wiederkunft kann eigentlich nur erfahren werden; deshalb muss jede/r sich allein mit diesem Gedanken auseinandersetzen. Dies Lied wird später als „Nachtwandler-Lied“ bezeichnet und wiederholt. (Z IV, 398ff.) „Wo ist doch der Blitz, der euch mit seiner Zunge lecke? Wo ist der Wahnsinn, mit dem ihr geimpft werden müsstet? Seht, ich lehre euch den Übermenschen: der ist dieser Blitz, der ist dieser Wahnsinn!“ (Z I, 16)

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Das Neue in der Ewigen Wiederkunft des Gleichen

Lust und Leid, Fernstes und Nächstes. (5) Neues, was über Grenzen hinaustritt: Zarathustra erzählt von seiner „Seefahrer-Lust“, die ihn zu einem Suchenden werden lässt, der sich von der Küste hinweg in die Grenzenlosigkeit bewegt. (6) Tanz und Gelächter: Er erklärt seine Tugend zu der eines Tänzers, dem „das Schwere leicht“ wird, und seine Bosheit zu einer lachenden, die im Lachen Boshaftigkeit zu Seligkeit werden lässt. (7) Unabhängigkeit vom Urteil anderer: Zarathustra erzählt er davon, „mit eignen Flügeln in eigne Himmel“ zu fliegen, gemäß der „Vogel-Weisheit“, die alles leicht werden lässt. (Z III, 287ff.) Jede Zeile des Lieds vermag es, dem Kampf und der Anstrengung, die mit den Versuchen der Selbstüberwindung, dem Umgang mit Zufällen, und dem Überwinden von Tradiertem auf einen völlig unbeschriebenen Horizont hin einhergehen, Leichtigkeit und Heiterkeit abzugewinnen. Oder besser: eben diese Leichtigkeit und Heiterkeit scheint Voraussetzung dafür, als Schaffender und sich selbst Überwindender leben zu können. Als letzter Punkt sei in diesem Zusammenhang noch erwähnt, dass im Rahmen von Zarathustras Deklaration, im Angesicht dieser Erfahrungen den Ring der Wiederkunft zu wollen und die Ewigkeit zu lieben, die Ewigkeit stets als „Weib“ bezeichnet wird, mit dem er sich im „hochzeitlichen Ring der Ringe“ auf ewig verbinden und von dem allein er Kinder möchte. Wie in Zarathustras erster Rede „Von den drei Verwandlungen“ des Geistes dargelegt, steht das Kind bei Nietzsche für den Moment des Schaffens und der Selbstüberwindung. Was Zarathustra hier also ausdrückt, ist der Befund, dass der Versuch des Schaffens und der Selbstüberwindung überhaupt nur der Mühe wert ist, wenn er aus einer Verbindung mit der Ewigkeit stammt. Nur was auf ewig wiederkehrt, rechtfertigt die Mühen des Schaffens; zugleich macht nur das Schaffen die Ewigkeit erträglich. Schaffen und ewige Wiederkunft, die sich in bestimmter Hinsicht diametral gegenüberstehen, sind in diesem Lied also dennoch ineinander verwoben und aufeinander verwiesen. „Der Gedanke einer Möglichkeit“ – zur Geltung der ewigen Wiederkunft Nach dem Durchgang durch Nietzsches unterschiedliche Formulierungen des Wiederkunftgedankens im Zarathustra, in der Fröhlichen Wissenschaft, im Nachlass und in den Unzeitgemäßen Betrachtungen, will ich nun noch einmal die Frage des Wahrheitsgehalts der ewigen Wiederkunft aufwerfen, und ob sich der Gedanke als Wissen formulieren lässt. In den ersten Aufzeichnungen und Vorarbeiten hatte sich diese Frage noch nicht dringlich gestellt. Den naturwissenschaftlichen Spekulationen liegt unverkennbar ein Wahrheitsanspruch bezüglich der Wiederkunft zugrunde; doch formuliert Nietzsche den Gedanken

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in diesem Zusammenhang nicht als seinen eigenen. In dem Moment, da er ihn publiziert, sowohl in der Fröhlichen Wissenschaft als auch im Zarathustra, stellt sich diese Frage nachdrücklich. Was also ist die ewige Wiederkunft? Ist sie ein Gedankenexperiment? Wenn ja, wie kann dann ihre starke Wirkungsweise erklärt werden – warum sollte sie niederschlagend wirken, warum sollte sie motivierend wirken, wenn keine Entsprechung zur tatsächliche Beschaffenheit unserer Welt vorliegt? Und wiederum, wie kann der Gedanke der ewigen Wiederkunft motivierend auf Handelnde wirken, wenn er eine wahre Beschreibung der Welt ist, wenn also tatsächlich alles exakt gleich wiederkehrt und wir uns deshalb fragen müssen, ob und inwiefern wir überhaupt über unsere eigenen Handlungen verfügen? Zarathustra hatte es zumindest scheinbar vermocht, unter großer Anstrengung beide Aspekte des Gedankens zusammenzudenken: Er hat ihn zum einen als Beschreibung seiner gelebten Welt verstanden, in der alles stets wiederkehrt, einschließlich seiner eigenen Handlungen und des letzten Menschen. Zum anderen hat sich die ewige Wiederkunft letztlich als die nachdrücklichste Motivation dazu herausgestellt, den Weg des Schaffens zu gehen, den Weg des Kindes. Nur die Ewigkeit und ihr „Ring der Wiederkunft“ sind genug, um ein Kind zu wollen, um also schaffend tätig zu sein. Vielleicht müssen wir die paradoxale Spannung innerhalb Nietzsches Gedankens der ewigen Wiederkunft einfach hinnehmen. Sicher ist diese Spannung nicht aufzulösen, und gerade das Aushalten dieser Spannung und die Verdeutlichung der Kraft, die dies Aushalten kostet, ist entscheidend dafür, wie der Gedanke der ewigen Wiederkunft bei Nietzsche konzipiert ist. Eine Weise, in der diese Spannung zu verstehen ist, findet sich in einer Notiz im Nachlass, die einen Vorschlag zum Wahrheitsgehalt der ewigen Wiederkunft macht: diese wird dort analog zur christlichen Vorstellung der Hölle verhandelt. Prüfen wir, wie der Gedanke, dass sich etwas wiederholt, bis jetzt gewirkt hat (das Jahr z.B. oder periodische Krankheiten, Wachen und Schlafen usw.) Wenn die Kreis-Wiederholung auch nur eine Wahrscheinlichkeit oder Möglichkeit ist, auch der Gedanke einer Möglichkeit kann uns erschüttern und umgestalten, nicht nur Empfindungen oder bestimmte Erwartungen! Wie hat die Möglichkeit der ewigen Verdammniß gewirkt! (N 1880-1882, 11 [203]). Die ewige Wiederkunft wird hier nicht als wissbare und beweisbare Tatsache, sondern als Möglichkeit angenommen. Aber nicht nur als irgendwie denkbare Möglichkeit (wie im Gedankenexperiment), sondern als eine Möglichkeit, deren zukünftiges Eintreten oder gegenwärtiges Inkraftsein sehr wahrscheinlich

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ist, auch wenn Menschen konstitutiv unfähig dazu sind, dies empirisch zu überprüfen. Ebenso, wie die Hölle einst als tatsächlich bestehende Möglichkeit und gerade nicht als Gedankenexperiment verstanden wurde, muss die ewige Wiederkunft verstanden werden. Weder kann sie bewiesen werden („Ewige Wiederkunft ist wahr“), noch ist sie eine rein hypothetische Vorstellung („Stell dir vor, ewige Wiederkunft wäre wahr“), sondern sie gilt als Möglichkeit („Es ist gut möglich, ja sogar wahrscheinlich, dass die ewige Wiederkunft der Fall ist“). Beweisen oder in ihrem behaupteten kosmischen Ausmaß erleben lässt sie sich nicht – denn das setzte einen Menschen voraus, der tatsächlich in der Lage dazu wäre, einen der von Zarathustra beschriebenen Gassen vom „Thorweg“ aus bis in die Ewigkeit zu gehen. Da wir so lange nicht leben, ist diese Nachprüfbarkeit nicht gegeben. Es kann nach dieser Lesart also kein Wissen von der ewigen Wiederkunft geben, wie im Zarathustra selbst mehrfach nahegelegt. Dann aber ist es tatsächlich ratsam, so zu handeln, dass wir alles noch unzählige Male und mit allen Konsequenzen wollen können. Die ewige Wiederkunft wäre demnach als weniger ‚gesichert‘ denn Wissen zu verstehen, aber als mehr denn bloße Spekulation. Dies ‚mehr‘ wiederum liegt, wie in obiger Notiz angedeutet, in der alltäglichen Erfahrbarkeit von Wiederholungsstrukturen begründet. Indem sich eine Art „ewiger Wiederkunft im Kleinen“ tatsächlich täglich vor unseren Augen abspielt, indem Wiederholungsstrukturen, denen wir in bestimmter Hinsicht ausgeliefert sind, in unserer Lebenswelt erfahrbar sind, gewinnt die Möglichkeit der umfassenden, kosmologischen Geltung der ewigen Wiederkunft soweit an Plausibilität, dass sie für Handelnde tatsächlich Bedeutung gewinnt. Sie zeigt sich im z.B. in der Wiederkehr von überwunden geglaubten Sozialstrukturen oder Wertvorstellungen, mit der ein Versuch des Schaffens sich als verfehlt herausstellt, oder in der Figur des letzten Menschen, gegebene Wertvorstellungen so internalisiert hat, dass ihm nichts übrigbleibt, als sie als Handlungsmuster quasi automatisch zu wiederholen. Mit der Möglichkeit im Hintergrund, dass es die ewige Wiederkunft im kosmischen Ausmaß tatsächlich geben könnte, erlangen die wiederholten Rückschläge Zarathustras einen zusätzlichen Schrecken. Sie werden dann als Scheitern an einer strukturell gegebenen Unmöglichkeit des Neuen erfahrbar. Da es sich aber bei der ewigen Wiederkunft eben um eine Möglichkeit handelt, nicht um eine wissbare Tatsache, kann der Gedanke der ewigen Wiederkunft trotzdem als zugleich als motivierendes Schwergewicht auf unseren Handlungen liegen – denn es ist einerseits nicht sicher, es kann nicht sicher sein, dass die ewige Wiederkunft tatsächlich besteht; andererseits aber, wenn sie tatsächlich der Fall ist, dann ist es um so wichtiger, dass der Verbreitung von Existenzformen wie derjenigen des letzten Menschen entgegengewirkt wird.

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Zuletzt will ich noch eine weitere Notiz des Nachlasses heranziehen, die eine interessante Perspektive darauf erlaubt, wie das Schaffen von Neuem selbst unter Maßgabe einer streng verstandenen, kräftetheoretisch gedachten ewigen Wiederkunft als möglich verstanden werden mag. Nietzsche stellt in dieser Notiz seine „Gegenhypothese gegen den Kreisprozeß“ dar. (N 1880-1882, 11 [313]) Er geht dort davon aus, dass unsere Welt zwar tatsächlich als mechanisch verstanden werden muss – dass sie also in einem Kreisprozess begriffen ist – dass sie aber nur „zufällig in diese mechanische Weltordnungs-Ecke geworfen“ wurde, eine Ecke, die lediglich eine von „vielen unzähligen Möglichkeiten“ der Organisation darstellt. Unsere Welt ist demnach eine Ausnahme innerhalb des Daseins, eine zufällige Erscheinung. Als „allgemeinste Form des Daseins“ wiederum die allem zugrunde liegt, so überlegt Nietzsche, müssten wir demnach eine ganz andere Daseinsweise der Welt annehmen: Die Welt in ihrer Grundkonstitution müsste als „den mechanischen Gesetzen entzogene“ und ihnen dennoch potentiell zugängliche verstanden werden. (ibid.) Sie hat die Fähigkeit dazu, mechanischen Gesetzen unterworfen zu werden, aber ist nicht immer schon so strukturiert; sie kann auch anders organisiert, oder unorganisiert, sein. Nietzsche schlägt entsprechend vor, die ontologische Grundeigenschaft der Welt nicht als mechanisch, sondern als „Urdummheit“ zu verstehen. Es scheint, wir brauchen ein Belieben, eine wirkliche Ungesetzmäßigkeit, nur eine Fähigkeit gesetzlich zu werden, eine Urdummheit, welche selbst für die Mechanik nicht taugt? (N 1880–1882, 11 [313]) Die Entstehung unserer Welt, die selbst mechanischen Gesetzen unterworfenen ist, aus dieser Urdummheit heraus stellt sich Nietzsche als das Resultat eines „gesetzlose[n] Spiel[s]“ vor. Die Regelhaftigkeit, die sich aus diesem Spiel ergibt, ist selbst nicht ewig, sondern „geworden“ und, so spekuliert Nietzsche, „unter zahllosen andersartigen mechanischen Gesetzen von ihnen übrig geblieben.“ (N 1880-1882, 11 [313]) Möglicherweise sind die uns bekannten mechanischen Gesetze darüber hinaus nur in einem bestimmten Teil der Welt dominant geworden; in anderen Teilen der Welt mögen sich andere Gesetze durchgesetzt und verfestigt haben. Es ist demnach denkbar, dass Nietzsche unsere Welt als einem Gesetz der ewigen Wiederkunft des Gleichen unterworfen sieht, dass er aber dennoch davon ausgeht, dass dies Gesetz reversibel ist. Ein Vorteil dieser Lesart wäre, dass mit ihrer Hilfe möglich ist, die verschiedenen Elemente zusammenzudenken, die Nietzsche mit dem Gedanken der ewigen Wiederkunft verbindet, ohne dabei die Spannung zwischen ihnen aufzulösen. Ewige Wiederkunft mag demzufolge tatsächlich der Fall sein, und

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entsprechend wären sowohl die Wiederkehr des letzten Menschen als auch die Unverfügbarkeit unserer Handlungen als belastende Schwergewichte bestätigt. Zugleich kann so deutlich werden, wie ewige Wiederkunft als Schwergewicht in der zweiten Bedeutung wirkt und unseren Handlungen Nachdruck verleiht. Die gesteigerte Wichtigkeit durch die Aussicht einer ewigen Wiederkunft unserer Handlungen bleibt erhalten, und zugleich öffnet sich nun die Möglichkeit, diese Wiederkunft selbst als geworden zu sehen und entsprechend als in irgendeiner Weise überwindbar. Wie im Folgenden deutlich wird, ist weiterhin aufschlussreich, dass Nietzsche nicht nur den Entstehungsprozess mechanischer Gesetze als aus Zufall und „gesetzlosem Spiel“ entstanden versteht, sondern dass beiden Elementen auch in seiner Konzeption von Schaffen und Selbstüberwindung, die ein Gegengewicht zu Konformität und Gesetzestreue sind, eine zentrale Rolle zukommt.

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Freiheit schaffen: Spiel und Zufall Wie an früherer Stelle in diesem Kapitel erwähnt, verlangt Nietzsche in einer Notiz, dass dem Kraftbegriff der Physiker, der uns von der Vorstellung eines Schöpfergotts befreit hat, noch die Vorstellung einer „inneren Kraft“ ergänzt werden müsse: die eines „schöpferischen Triebs“ bzw. des „Willen zur Macht“. (N 1884-1885, 36 [31]) In der bisherigen Darstellung des Zarathustra habe ich mich zunächst der oft demotivierenden Wirkung gewidmet, die der als gesetzmäßige Eigenschaft der Welt verstandene Gedanke der ewigen Wiederkunft auf Handelnde hat. Im Folgenden soll nun herausgearbeitet werden, wie Nietzsche in Anbetracht der ewigen Wiederkunft das Hervorbringen von Neuem durch schöpferisches Tätigsein konzipiert. Wenn der Kraftbegriff der Physiker eine ewige Wiederkunft gleicher Zustände in der Welt nahelegt, wie muss dann eine „innere Kraft“ verstanden werden, aus der heraus Neues geschaffen wird? Mit der Beantwortung dieser Frage wird zugleich Nietzsches Freiheitsverständnis geklärt: Freiheit beginnt für Nietzsche noch nicht da, wo sich jemand von einer äußeren Beschränkung losmacht, sondern erst da, wo er frei dazu ist, Neues zu schaffen. Es geht Nietzsche im Zarathustra nicht um ein „frei wovon“, sondern um ein „frei wozu“ (Z I, 81), und darum, einen „herrschenden Gedanken“ zu entwickeln. (Z I, 80) Es ist unser „Wollen“, das uns Freiheit bringt, „denn Wollen ist Schaffen“. (Z III, 258) Indem wir schaffend tätig sind, verwirklichen wir unsere Freiheit. Wenn wir nun die Frage stellen, wie Schaffende angesichts der ewigen Wiederkunft wollen können und auf welche Weise der Wille zum schöpferischen Tätigsein unter dieser Bedingung durchgesetzt werden kann, mag es scheinen,

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als müsse ein solches Schaffen entschlossen, energisch, und durch besonderes Können gekennzeichnet sein. Schaffende müssen alles daransetzen, durch ihr Tun entweder die ewige Wiederkunft des Gleichen mithilfe des Neuen, was erschaffen wird, zu verändern – ihr also den Charakter unveränderlicher Ewigkeit zu nehmen –, oder aber ihr Schaffen zumindest so zu gestalten, dass sie es auf ewig wieder genauso wollen können. Und tatsächlich wird im Zarathustra verschiedentlich nahegelegt, dass schöpferischem Tätigsein eine gewisse Härte, Strenge, und Rücksichtslosigkeit zugrunde liegt – etwa in der folgenden Passage aus dem Abschnitt „Von alten und neuen Tafeln“, in der Zarathustra fragt: „Und wenn eure Härte nicht blitzen und schneiden und zerschneiden will: wie könntet ihr dann einst mit mir – schaffen? Die Schaffenden nämlich sind hart.“ (Z III, 268) Schöpferisches Tätigsein scheint hier zunächst einem heroischen sich-gegen-den-Prozess-stellen gleichzukommen; das legen auch die um dies Zitat herum auffindbare, offenbar mit dieser Härte verbundene Hinweise auf „Schicksal“, „Unerbittlichkeit“ und „Sieg“ nahe. Entsprechend meint etwa Ingo Christians, zum Schaffen sei bei Nietzsche „äußerste Konsequenz und Radikalität“ erforderlich; es müsse „alles andere [...] dem untergeordnet werden“.176 Die Härte im Schaffensbegriff des Zarathustra ist allerdings anders geartet, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Wo Zarathustra laut und hart ist, Gewalt anwendet oder androht, da schafft er nicht, sondern er verneint. Er befindet sich im „Löwenstadium“ des Geistes, in dem er durch Abwendung von vorgegebenen Werten und Ordnungen sich Freiheit „zu neuem Schaffen“ schafft. (Z I, 30) Schaffende sind „hart“, wenn sie sich von den ihnen auferlegten Regeln befreien. Die Härte des Verneinens im Löwenstadium ist Vorbereitung und Voraussetzung für das Schaffen des Kindes, doch durch Härte allein kann nichts Neues geschaffen werden. Härte kann somit nicht als bestimmende Eigenschaft des Schaffens verstanden werden. Vielmehr beschreibt Zarathustra das eigentliche Schaffen als „Spiel“ eines „Kindes“. Das Kind, in das sich der Geist verwandeln muss, ist „ein Neubeginnen, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-sagen.“ (Z I, 31) Was hat es mit dem Spiel als Bild des Schöpferischen auf sich? Kind und Spiel weisen zunächst einmal auf Heraklits Fragment B52 hin, in dem die Zeit als Kind beim Brettspiel beschrieben wird.177 Im Zarathustra taucht das schöpferische Spiel als Würfelspiel auf. (Z III, 210; 288f.) Das Spiel ist sowohl bei Heraklit als auch bei Nietzsche mit dem Schaffen verbunden. Bei beiden handelt es sich zunächst um Spiele mit vorgegebenen Spielregeln. Die Bedingungen des Spiels – das Brett, der Würfelbecher – definieren klare 176 177

Ingo Christians, „Schaffen“, S. 317. Vgl. Henning Ottmann, Philosophie und Politik bei Nietzsche, 53ff.

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Voraussetzungen und Grenzen, innerhalb derer das Spiel stattfindet. In beiden Fällen sind dem spielenden Kind, solange es sich an die Spielregeln hält und also spielt, bestimmte Züge möglich, andere aber nicht. Das Problem, wie innerhalb eines bereits vorgegebenen Spielfelds mit dem Willen zum schöpferischen Tätigsein Freiheit möglich sein kann, löst Ottmann dahingehend auf, dass er den Willen als „Mitspieler in einem Spiel, dessen Regeln von ihm allein nicht stammen“, deutet.178 Der Wille zur Macht gestalte lediglich dasjenige aus, was im Spiel selbst mitsamt seinen Spielregeln bereits angelegt sei, so Ottmann. Wer sich allerdings zum Schaffen durchgerungen hat, wer also mit Nietzsche gesprochen erneut „Kind“ geworden ist, soll gleichzeitig damit, dass er auf ein „Spiel“ verwiesen ist, auch eine „erste Bewegung“ und „ein aus sich rollendes Rad“ sein. (Z I, 31; Hervorhebungen von mir) Dass die Bedeutung der SpielReferenz tatsächlich nur darin liegen soll, „Mitspieler“ zu sein und an bestimmte Regeln und Vorgaben gebunden zu sein, denen man bei der Formgebung des vorhandenen Stoffs folgen muss, scheint somit nicht plausibel. Die Weise, in der die ewige Wiederkunft und das Schaffen als Spiel ineinandergreifen, ist bei Nietzsche vielmehr paradox strukturiert: Wir müssen uns an die Spielregeln halten, um sie zu überschreiten. Das Spiel umgrenzt den Bereich des Möglichen, gibt mögliche Spielzüge vor. Solange so gespielt wird, wie es durch die Regeln vorgegeben ist, handelt ein Spieler innerhalb der Spielregeln, innerhalb des Möglichkeitsbereichs des Spiels und bestätigt damit auch die Grenzen, die dieses zieht. Veränderung muss deshalb außerhalb des Möglichkeitsbereichs des Spiels liegen, insofern aber im Bereich des Unmöglichen: Allein was unmöglich ist, vermag es, Neues hervorzubringen. Wie kann nun eine Spielende innerhalb des Spiels aus diesem heraustreten? Hierfür wird wichtig, dass sich Nietzsche zwar auf das Spiel als Würfelspiel bezieht, also als Spiel mit gewissen Regeln, dass aber zudem im Tun der Schaffenden, in ihrer Auseinandersetzung mit der Welt, etwas generell Spielerisches liegt. Auch wenn Schaffen immer in einem vorgegebenen Spiel situiert ist, so besteht es doch im spielerischen wiederholen der Spielregeln – ein Wiederholen, das diese Spielregeln zugleich variiert und abwendet, anstatt sie nur anzuwenden. Und genau an dieser Stelle können sich bei Nietzsche Modifikationen auch in Bezug auf das Spiel und seine Spielregeln selbst ergeben – etwa durch den spielerischen Umgang mit Zufällen, die im Rahmen der „Spielregeln“ weder vorgesehen noch überhaupt vorhersehbar waren. So bezeichnet Zarathustra die Erde als einen „Göttertisch“, an dem die Götter Würfel spielen und sie so schöpferisch gestalten; Zarathustra spielt selbst an diesem 178

Ibid., S. 380.

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Göttertisch – denn Götter gibt es ohnehin nicht mehr – und kann mit seiner schöpferischen Tätigkeit Zufälle zwingen, sich in eine bestimmte Bewegung zu begeben, und als „schöpferische[r] Blitz“ so den „lange[n] Donner der That“ dazu bringen, ihm „grollend, aber gehorsam“ zu folgen. (Z III, 288f.) Ein Zufall, der ‚blitzartig‘ umgebogen wird in schöpferisches Tun, kann demzufolge selbst neue Spielregeln begründen, die wiederum alles Nachfolgende dazu anhalten, dies Tun zu wiederholen und gemäß der Regeln zu handeln. Wenn ein Zufall den Moment bezeichnet, „in dem sich die Tätigkeit von der Handlung löst, ihren Zweck überschreitet“ und „in dem jemand mehr und anderes tut, als er wollte, ja mehr tut, als er kann; in dem also in seinem Tätigsein sich seine Kräfte ‚tummeln‘ und ausleben“,179 wie Christoph Menke ausführt, dann haben wir im Zufall einer Handlung tatsächlich eine „innere Kraft“, die derjenigen der Physiker hinzugefügt werden kann. (N 1884-1885, 36[31]) Ein solches „tummeln“ von Kräften kann dann mit der von Nietzsche skizzierten „Urdummheit“ in Verbindung gebracht werden, die dazu fähig ist, Gesetze zu schaffen und gesetzlich zu werden, obschon sie selbst zunächst ungesetzlich ist. Verstanden als das Eingehen auf etwas überschüssiges und zufälliges im eigenen Handeln, geht mit dem schöpferischen Tätigsein bei Nietzsche also ein temporärer Kontrollverlust einher: wer mehr tut, als er kann, kann dies Tun nicht mehr unter Kontrolle haben. Dies Verhältnis zwischen unserem jetzigen und unserem zukünftigen Tun, was im Schaffen konstituiert wird, zeigt sich deutlich in Zarathustras Forderung, dass unser „Selbst in der Handlung sei, wie die Mutter im Kinde ist“. (Z II, 123) Wer den Schritt dahin tut, Kind zu werden und zu schaffen, der kann diesen Schaffensprozess nur in dem Maße kontrollieren, wie eine Mutter „im Kinde ist“: der Zeitpunkt der Schwangerschaft mag gewählt werden, Partner mögen gewählt werden, und Schwangerschaften können auch abgebrochen werden. Doch wenn ein Kind da ist, dann ist dessen Entwicklung von der Mutter zwar beeinflussbar, sicher aber nicht kontrollierbar – und wird zunehmend unabhängig von ihr. Dass mein Selbst in meiner Handlung ist, bedeutet, dass sie von mir angestoßen wird. Der Vergleich mit Mutter und Kind wiederum stellt heraus, dass auf diesen Anstoß ein Kontrollverlust folgt, und dass die Entfaltung unseres Handelns zumindest teils von Zufällen abhängt. Zufälle werden nicht beherrscht; sie können allerdings selbst „herrisch“ wirken, indem sie uns die Kontrolle über unsere Handlungen entziehen. So muss ein auftretender Zufall durch Schaffende noch affirmiert und umgebogen werden, um ihn zu einem Zufall des Schaffens, zum Weg schöpferischen Tuns und zur Bedingung des Neuen zu machen: „Ich bin Zarathustra, der Gottlose: ich 179

Christoph Menke, Kraft, S. 119.

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Alles ‚Es war‘ ist ein Bruchstück, ein Räthsel, ein grauser Zufall – bis der schaffende Wille dazu sagt: ‚aber so wollte ich es!‘ – Bis der schaffende Wille dazu sagt: ‚Aber so will ich es! So werde ich’s wollen!‘ (Z II, 181)

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koche mir noch jeden Zufall in meinem Topfe. Und erst, wenn er da gar gekocht ist, heisse ich ihn willkommen, als meine Speise.“ (Z III, 215) Was hier wie eine gewisse Härte Zarathustras klingt, kommt keinesfalls einem Ausmerzen des Zufalls gleich, sondern einer Entscheidung für den Zufall – nicht, um ihn beim nächsten Mal besser vermeiden zu können, um den ursprünglich eingeschlagenen Weg mit Härte gehen zu können, sondern dafür, den Zufall als integrales Moment des Schaffens zu begrüßen und ihn sich anzueignen.

Durch die Aufnahme wird der Zufall vom Störfaktor der Tätigkeit zu einer möglichen Quelle, aus der Neues entspringen kann. Eine solche Härte des Schaffens, ein solches Wollen, ist damit eine Milde, oder umgekehrt: Das Mildeste, so Zarathustra, muss in den Schaffenden zum Härtesten werden (Z II, 194). Das bedeutet, dass Milde, das Begrüßen des Zufalls, gewissermaßen in Härte umschlägt bzw. dass die „Härte“ bereits in der Milde liegt – nicht als starrsinniges Verfolgen eines Ziels, sondern als eine Durchschlagskraft, eine Kraft zur Veränderung, die sich aus der Milde überhaupt erst ergibt: „Die Kraft hat die Milde.“ (N 1880-1882, 6[219]) Diese Milde ist eine solche, die im entscheidenden Moment von der ursprünglichen Handlungsabsicht ablässt und den Zufall qua Willen ins Gewollte umlenkt; Nietzsche spricht hier von einem „Werden der Zwecke aus dem Zufalle.“ (Z I, 78) Die Zwecke meiner ‚Handlung‘, meines schöpferischen Tuns, stellen sich also erst durch die affirmative Integration von Zufällen in meine Tätigkeit und damit erst retroaktiv heraus. Insbesondere im Umgang mit dem Zufall lässt sich so zeigen, inwiefern gelingendes Schaffen zugleich ein Scheitern seiner selbst als Handlung impliziert, zugleich aufnehmend und strebend/zielstrebig, zugleich passiv und aktiv ist: Was als Zufall zu mir stößt, muss ich als Schaffende zunächst vernehmen und affirmieren; damit aber kann ich den Zufall in meinen eigenen verwandeln, in meinen neuen Zweck und demnach in mehr als nur einen Zufall, der mein Tun äußerlich bestimmt und stört. So war es? Nun gut, dann habe ich es auch so gewollt. Die stete Aussicht darauf, im Versuch einer Handlung zu scheitern, indem diese durch Zufälle in neue, unvorhergesehene Richtungen gelenkt wird, muss deshalb in der eigenen Tätigkeit reflektiert und aufgenommen werden, ja, sie muss lachend begrüßt werden: Je höher von Art, je seltener geräth ein Ding. Ihr höheren Menschen hier, seid ihr nicht alle – missgerathen? Seid guten Muths, was liegt daran!

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Nur über ein Handeln, das stets missrät oder halb gerät, kann Veränderung bei Nietzsche gedacht werden. Schaffende sind generell unfertig und missraten; ihr Tun ist stets dem Scheitern ausgeliefert. Erst aus dem Umgang mit zufällig sich Ereignendem kann Schaffen im eigentlichen Sinne entstehen: als schöpferisches Tun. Mit der Affirmation von Zufällen aus der Wiederholung eingeübter Handlungsvollzüge, Vermögen, Regeln und Gesetze heraus werden diese nicht gesprengt, wird sich ihnen nicht heroisch entgegengestellt, sondern sie werden vernommen, angenommen und abgewendet.

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Wie Vieles ist noch möglich! Lernt über euch selber lachen, wie man lachen muss! Was Wunders auch, dass ihr missriethet und halb geriethet, ihr Halb-Zerbrochenen! Drängt und stösst nicht in euch – des Menschen Zukunft? (Z IV, 364)

Wege und Umwege des Schaffens Angesichts der zentralen Stellung von Zufällen für schöpferisches Tätigsein hat es sich im letzten Abschnitt bereits als notwendig herausgestellt, Unterbrechungen im eigenen Handeln zu bejahen. Der vorliegende Abschnitt widmet sich nun dem Weg des Schaffens, dem Verlauf von Handlungsdynamiken, wie sie sich im Zarathustra aus der Aufnahme von Zufällen ergeben. Bereits in der Konzeption des Übermenschen hatte sich angekündigt, dass dessen konstitutive Unbestimmtheit es unmöglich machen würde, Handlungsanweisungen und Pläne bereitzustellen, die einen Weg zum Übermenschen weisen würden; insbesondere ließ er sich nicht als Inhalt einer Lehre vermitteln. Weder gibt es für Schaffende den einen Weg, einen feststehenden und allgemeingültigen Weg, noch gibt es strenggenommen überhaupt einen Weg des Schaffens: Du gehst nun deinen Weg der Grösse; hier soll dir Keiner nachschleichen! Dein Fuss selber löschte hinter dir den Weg aus, und über ihm steht geschrieben: Unmöglichkeit. Und wenn dir nunmehr alle Leitern fehlen, so musst du verstehen, noch auf deinen eigenen Kopf zu steigen: wie wolltest du anders aufwärts steigen? (Z II, 194) Wo also für den Schaffenden ein Weg ist – ein Weg, den er sich geschaffen hat, indem er sich selbst überwunden hat, sich selbst auf den Kopf gestiegen ist – steht für alle anderen der Hinweis „Unmöglichkeit“ geschrieben. Es gibt dort also keinen Weg. Da keine Mittel und Wege zur Verfügung stehen können – was

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sollten das auch für Mittel sein, die sich auf das Unmögliche richten? – müssen sich Schaffende aus eigener Kraft, aus sich selbst heraus, eine Leiter sein und einen Weg schaffen. Wie in diesem Bild des Wegs der Unmöglichkeit deutlich wird, müssen die einzelnen Schritte schöpferischen Tätigseins als sprunghaft und diskontinuierlich verstanden werden: Es gibt keinen Weg, doch er muss gegangen werden; der Weg liegt nicht einfach vor den Schaffenden, sondern wird von ihnen geschaffen, eröffnet sich und bricht sogleich wieder ab. Schaffende, die den Weg der Unmöglichkeit gehen, sind aus kontinuierlichen Handlungszusammenhängen herausgerissen. Angesichts des Kraftaufwands, der zum Schaffen solcher Wege nötig ist, sowie der Unverfügbarkeit eines konkreten Ziels, warnt Zarathustra vor den Gefahren einer „Müdigkeit, die mit einem Sprunge zum Letzten will“. (Z I, 36) Die Auseinandersetzung mit den Komplikationen im Hier und Jetzt ist mühselig, und scheint oft aussichtslos. Ein plötzlicher Sprung, der diese Auseinandersetzung erspart, mag attraktiv erscheinen. Nietzsche verbindet ihn jedoch mit dem Glauben an „Götter und Hinterwelten“ (ibid.), und versteht das Verlangen nach dem plötzlichen Erreichen eines Ziels, das ein und für alle Male von der Aufgabe des Schaffens befreit, als Lebens-Müdigkeit, die sich nach dem Jenseits sehnt. Wer ein Schaffender sein will, muss den Weg gehen, der der einzig gangbare für den Menschen ist, und der liegt im Diesseits. Das bedeutet auch, dass alle Schwierigkeiten und Hindernisse, die sich dem Schaffenden in dieser Welt in den Weg stellen, alle Beschwerlichkeiten, die damit verbunden sind, gewollt werden müssen. (Z I, 37) Ein „Sprung zum Letzten“ wäre Flucht vor der Welt; Zarathustra verlangt jedoch Treue ihr gegenüber. Die Bewegung, die zum Übermenschen führt, darf kein einziges sich in der Welt stellendes Hindernis umgehen, keinen notwendigen Schritt überspringen. (Z III, 249) Der Wunsch nach einem unmittelbar erreichbaren Ziel wird nicht nur abgelehnt, da er mit einer Abwendung von der Welt in Verbindung gebracht wird. Hinzu kommt, dass ein „Sprung zum Letzten“ dem Unterfangen des Schaffens unangemessen ist. Der Übermensch als Fluchtpunkt des bzw. Ausdruck für Schaffen kann nicht als „Letztes“ verstanden werden, zu dem ein Sprung auch nur möglich wäre; als Werdender und Schaffender ist er ein sich stetig erneuerndes Zwischenziel, aus dem immer wieder neue Ziele erwachsen, nie jedoch ein letztes Ziel. Schaffende müssen durch Hindernisse, die sich im Diesseits stellen, stets wieder von der eingeschlagenen Richtung abgebracht werden, erleiden Verzögerungen und müssen Umwege gehen. Ein Schaffender ist deswegen „kein Ungeduldiger, kein Unbedingter“, sondern einer, „der Sprünge und Seitensprünge liebt“ (Z IV, 366) – keine Sprünge zum Letzten, kein Überspringen, und auch keine unbedingte Geradlinigkeit. Wo das Leben

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Friedrich Nietzsche

von ihm Umwege fordert, müssen sie gegangen werden, muss sich Zeit für die Abweichung vom eingeschlagenen Weg genommen werden. Nietzsche wählt im Zarathustra den ästhetischen Begriff „Schaffen“, denn wer schafft, weiß nicht bereits im Vorhinein, was geschaffen wird; Schaffen geht ins Ungewisse hinein, es liegt, so Karl Jaspers, „vor allem bestimmten Handeln“.180 181 Handeln ist im Gegensatz zum Schaffen dadurch gekennzeichnet, dass es bestimmte Absichten verfolgt, Gründe hat, sich an Zwecken und bestimmten Zielen orientiert, die durch das Können eines Subjekts herbeigeführt werden. Damit aber wiederholt das Handeln Bestehendes derart, dass es befestigt oder höchstens ausgebessert und geringfügig verändert wird – es ist eine „je besondere Verwirklichung einer allgemeinen Form“, so Menke.182 Ein Können, ein Beherrschen bestimmter Praxisvollzüge, die Verfügbarkeit von Gründen setzt voraus, dass die Handlung bereits eingeübt und damit der anstehenden Handlung vorgängig und dem Handelnden bekannt ist. Eine Handlung ist damit grundlegend zumindest auch eine Gewohnheit, eine Wiederholung. Wer schaffen will, d.h. das Neue schaffen will, muss deshalb sein Handeln-können zunächst verlernen; nur so kann er über sich hinauskommen: Verlernt mir doch diess ‚Für‘, ihr Schaffenden: eure Tugend gerade will es, dass ihr kein Ding mit ‚für‘ und ‚um‘ und ‚weil‘ thut. Gegen diese falschen kleinen Worte sollt ihr euer Ohr zukleben. (Z IV, 362) Das „für, um, weil“ der Handlung bezeichnet konkrete Inhalte und Absichten, die innerhalb der gegenwärtigen Verkettung, innerhalb des gegenwärtigen Begründungszusammenhangs und damit innerhalb von Wiederholung angestrebt werden können. Zwischen unserem intentionalen Denken, der eigentlichen Tat bzw. Handlung, und der Weise, in der sich diese Tat uns dann zeigt, wird im Zarathustra keine kausale Beziehung mehr angenommen. (Z I, 46) Was gewöhnlich als Handlung bezeichnet und entsprechend einem handelnden Subjekt zugeordnet wird, zeigt sich hier als eine Bewegung, eine Tätigkeit die aus einer bestimmten Kraft-Konstellation entspringt und deren Richtung

180 181 182

Karl Jaspers, Nietzsche, S. 257. Schaffen ist aber nicht nur vor jedem Handeln, sondern – in unterschiedlichem Maße – noch ein Element in (fast) jedem Handeln. Vgl. Christoph Menke, Kraft, S. 119. Es müsste statt Schaffen eigentlich präziser heißen: eine auf das Schaffen von Neuem gerichtete Tätigkeit, ein anders-als-handelnd tätig sein. Denn ob ich im Verlauf meines Tätigwerdens tatsächlich schaffe, stellt sich immer erst im Nachhinein heraus. Christoph Menke, Kraft, S. 112.

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Das Neue in der Ewigen Wiederkunft des Gleichen

sich zwar oft willentlich beeinflussen, nicht aber planen und kontrollieren lässt. Zwar spielen Gründe und Intentionen auch in solche Praxisvollzüge hinein, aber bestimmen tun sie diese nicht. Schaffen liegt insofern „vor“ bestimmtem Handeln, als es neue Handlungsmöglichkeiten schafft. Zugleich jedoch ereignet sich Schaffen paradoxerweise erst aus dem Handeln heraus, denn als Schaffender befinde ich mich bereits in einem Zusammenhang, in dem ich in vorgegebenen Handlungsvollzügen verortet bin, bevor ich zu Schaffen vermag. Schaffen bedeutet dann, sich das Andere – die Abweichung, den Zufall, das Scheitern – des Handelns anzueignen und so neue Praxisvollzüge zu ermöglichen. Damit muss aber auch der Handlungsbegriff als Ganzer unter dem Gesichtspunkt des Schaffens überdacht werden, denn er bleibt ebensosehr auf das Schaffen verwiesen, wie dieses auf die Handlung.183 Schaffenden ist ihr Weg und Ziel nichts Festes und daher nicht als ein Bestimmtes bekannt. Insofern ist jedes Schaffen durch eine gewisse „Blindheit“ auszeichnet, die Nietzsche in der Fröhlichen Wissenschaft aufschlussreich beschreibt: Lust an der Blindheit. – ‚Meine Gedanken, sagte der Wanderer zu seinem Schatten, sollen mir anzeigen, wo ich stehe: aber sie sollen mir nicht verrathen, wohin ich gehe. Ich liebe die Unwissenheit um die Zukunft und will nicht an der Ungeduld und dem Vorwegkosten verheissener Dinge zu Grunde gehen.‘ (FW IV, §287) Schaffende leiden nicht an der Unbestimmtheit ihrer Ziele. Sie könnten ohnehin nichts mit einem Wissen über den Weg, den sie zu beschreiten im Begriff sind, anfangen; ein solches Wissen würde sie nur ungeduldig und unachtsam werden lassen. Trotzdem wird auch deutlich, dass Schaffen nicht nur blind und unbestimmt, nicht reines Kräftespiel ist: Denn der Weg ergibt sich daraus, dass die Gedanken dem Wanderer verraten, wo er derzeit steht. Erkenntnis und Kritik des Stands der Dinge geht also ins Schaffen ein, das dann abermals, wie im Bild von Mutter und Kind, als ein (bewusstes) abstoßen von etwas in eine ungewusste und unbestimmte Richtung verstanden werden kann. Obschon also ein grundlegender qualitativer Unterschied in der Weise besteht, wie Handeln und Schaffen jeweils die Beziehung zwischen dem Akteur und seinen Intentionen und Vermögen denken, und welche Form entsprechend die jeweiligen Praxisvollzüge annehmen, zeigt sich doch zugleich die Verschränkung von beiden. Ohne ein Wissen davon zu haben, was die Voraussetzungen für Handeln sind, 183

Vgl. Christoph Menke, Kraft, S. 118.

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wogegen sich unser Tun richtet und (zumindest ganz grob) worauf es abzielt, kann nicht gehandelt werden, damit aber auch nicht geschaffen, denn Schaffen hatte sich ja als Überschussprodukt von Handlungen erwiesen. Es wäre wahrscheinlich, dass, wenn das Element der „Blindheit“ die Praxis ganz bestimmen würde, diese vollkommen an den gegebenen Erfordernissen vorbeiginge. Insofern ist auch das Schaffen zunächst ein Handeln, und damit Wiederholung von Gewohntem. Andererseits aber scheint es so, dass mit dem Bewusstsein darüber, dass das, was erhandelt werden kann, nicht genügt, bereits ein Bruch, eine Differenz in die Handlung eingelassen ist. Aus eben diesem Bruch heraus kann Schaffen sich entwickeln – als eine zufällige Abzweigung, die sich aus dem Handeln ergibt, und die als Handlung affirmiert wird. Von Nietzsche zu Kierkegaard Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

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Friedrich Nietzsche

Der gesamte Zarathustra ist daraufhin ausgerichtet, eine Philosophie des Schaffens und der Selbstüberwindung zu entwickeln. Jedes Schaffen von Neuem wird allerdings durch den das Werk durchziehenden Gedanken der ewigen Wiederkunft unendlich verkompliziert. Die möglicherweise in ewiger Wiederkunft begriffene, sicher aber von Wiederholungsstrukturen durchzogene Welt wiederum ist nicht so eingerichtet, dass sie ein auf die Veränderung und Verbesserung der Zukunft gerichtetes Handeln erleichtert. Das Schaffen von Neuem wird so zu einer Unmöglichkeit; eine Unmöglichkeit, auf deren Verwirklichung durch schöpferisches Tätigsein Nietzsche zugleich beharrt. Die Möglichkeit der ewigen Wiederkunft verunmöglicht ganz explizit jedes Vertrauen in Zukunftsoffenheit und Veränderung, in kontinuierlichen Fortschritt, der zu Veränderung führt. So hat Nietzsche ausführlich die Furcht, Beklemmung und Frustration dargestellt, die sich aus der diametralen Entgegensetzung von ewiger Wiederkunft und schöpferischen Tätigsein ergeben kann. Zugleich aber kann dem schwindenden Vertrauen in die Zukunftsoffenheit der Welt oder in ihre stete, selbsttätige Entwicklung zum Besseren die heilsame Wirkung zugesprochen werden, unsere Aufmerksamkeit auf die Gegenwart unseres Handelns im Diesseits zu konzentrieren, anstatt uns in die Ferne zu orientieren. So stellen sich Umwege und Zufälle, die unser Handeln von seiner ursprünglichen Bahn ablenken, als produktiv heraus – ja als integraler Bestandteil eines solchen schöpferischen Tätigseins, was das Unmögliche hervorbringen kann. Mit seiner Konzeption der ewigen Wiederkunft deutet Nietzsche als einziger der behandelten Autoren die Möglichkeit an, Wiederholung gar als ‚Ontologie‘ in Betracht zu ziehen. Er macht den Vorschlag, sie als Strukturmerkmal der Welt überhaupt zu denken, basierend auf einer naturphilosophischen

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Das Neue in der Ewigen Wiederkunft des Gleichen

Spekulation, die sich von der modernen Kräftelehre wie von antiker Philosophie inspirieren lässt. Damit ist Nietzsches Begriff der Wiederholung als ewiger Wiederkunft in bestimmter Hinsicht der radikalste und am rigidesten in sich geschlossene. Dass er die Verfügbarkeit und Autonomie menschlichen Handelns damit grundlegend in Frage stellt, ist Nietzsche bewusst. Dies mag aber Strategie sein: denn dasjenige schöpferische Tätigsein, was Neues hervorzubringen vermag, ist auf die Aufgabe unseres Beharrens auf Autonomie und rationale Zielsetzung angewiesen. Nur so kann die erforderliche Offenheit erreicht werden, die es erlaubt, Kontrolle zeitweise aufzugeben um sich das Andere unseres Handelns anzueignen. Hierin wiederum besteht das, was man bei Nietzsche als eine öffnende Wiederholung bezeichnen kann. Gewöhnliches Handeln beruht auf einer Wiederholung von vorgegebenen Praxisformen und führt zu Konformismus. Dagegen besteht ein Handeln, was sich aus diesem zur Wiederholung vorgegebenen Rahmen befreit, um zum Schaffen zu werden, in einer Affirmation von Zufälligem als Gewolltem, in einer Wiederholung dessen, was scheinbar nur geschieht, als beabsichtigt. Im nächsten Kapitel entwickelt Kierkegaard gerade diesen Gedanken einer öffnenden, das Unmögliche möglich machenden Wiederholung in aller Ausführlichkeit. Handeln, bzw. Schaffen, wird von Nietzsche im Zarathustra in Abgrenzung und als Überwindung von Konformismus und blindem Gehorsam, unhinterfragter Annahme von vorgegebenen Werten und Normen konzipiert. Ein solcher Konformismus ist bei Nietzsche wiederum explizit mit der Institution des (modernen) Staats und dessen politischer Kultur verbunden. Mit der Abstoßbewegung von Lebensformen im modernen Staat als Voraussetzung für Schaffen – der Übermensch kann nur jenseits des Staats werden, wie Nietzsche insistiert – bettet Nietzsche seine Überlegungen zum Handeln also in eine Kritik der politischen Kultur als Voraussetzung jedes schöpferischen Tätigseins. Doch wenn Schaffen auch nur jenseits des Staats möglich wird, so ist es bei Nietzsche doch zugleich immer explizit als ein Schaffen von einzelnen konzipiert, scheinbar also als eine apolitische Alternative zum Leben im Staat. Hierzu passt auch Zarathustras Ablehnung der Rolle eines Anführers oder Organisators der Massen. Dennoch, und ich kann das an dieser Stelle nur andeuten, lässt sich auch eine Lesart des Zarathustra denken, in der dies Buch eine radikale Umorganisation unseres kollektiven Lebens vorschlägt, die die Grenzen unserer gegenwärtigen politischen Kategorien und Begrifflichkeiten überschreitet. Als Anhaltspunkt kann in der Konstruktion einer positiven politischen Vision des Zarathustra dessen affirmative Bezugnahme auf frühe Formen des Zusammenlebens in ‚Völkern und Heerden‘ genannt werden, die im Gegensatz zu Bürgern moderner Staaten aus Schaffenden zusammengesetzt sind. Nietzsche suggeriert, dass einst aus den einzelnen, einsamen

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Friedrich Nietzsche

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Schaffenden, zu denen Zarathustra spricht, ein ‚neues Volk‘ entstehen könne. Eine derartige neue Form kollektiver Organisation müsste wiederum Schaffende als Schaffende, d.h. als solche, die nicht unhinterfragt Werte annehmen, erhalten, wenn sie nicht sogleich wieder selbst in Konformismus umschlagen soll. Das wiederum wäre nur in einem politischen Rahmen möglich, der einzelnen ein immenses Maß an Partizipation in Entscheidungsprozessen und somit Gestaltungsmöglichkeiten bietet – damit müsste diese Form kollektiver Organisation aber radikal anders als der moderne Staat strukturiert sein.184

184

Ich führe die politischen Implikationen von Nietzsches Zarathustra anderorts näher aus; siehe Birte Löschenkohl, „Nietzsche’s Great Politics and Zarathustra’s New Peoples“.

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E.

Freiheit Wiederholen

Die Frage richtet sich dann, genauer betrachtet, auf das Verhältnis der Freiheit zu den Phänomenen des Geistes, mit denen das Individuum im Kontext lebt, indem seine Geschichte in der Kontinuität mit ihren eigenen vorhergehenden Abschnitten und mit der das Individuum umgebenden kleinen Welt voranschreitet. Hier erhebt sich die Frage nach der Wiederholung innerhalb der Grenzen seines Lebens, nach der Wiederholung in seinem Leben.185 Sören Kierkegaard, Offener Brief

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Sören Kierkegaard

Wiederholung wird bei Kierkegaard nie als zwanghaft oder regelmäßig wie­ derkehrend und damit freiheitsbeschränkend beschrieben. Mit seiner Schrift Die Wiederholung. Ein Versuch in der experimentellen Psychologie, die im Zen­ trum der folgenden Ausführungen steht, stellt sich die Wiederholung vielmehr als ein genuiner Ausdruck der Freiheit heraus: sie ermöglicht die Verwirkli­ chung des Unmöglichen. Das Unmögliche überschreitet den uns bisher gege­ benen Möglichkeitsbereich, erweitert diesen möglicherweise, und ist insofern ein Zeichen menschlicher Freiheit: wir sind in unserer Existenz nicht auf eine bestimmte Daseinsweise festgelegt, selbst wenn es oft so scheint. So er­ laubt die Lektüre von Kierkegaard, die Beschaffenheit des Unmöglichen und dessen Wirkung auf das Selbstverständnis Handelnder und deren Handlungs­ vollzüge genauer in den Blick zu bekommen. Es finden sich detaillierte Dar­ stellungen von Handlungsverläufen, denen es auf je unterschiedliche Weise gelingt, in ihrem Scheitern als Handlungsverläufe – d.h. indem sie zumindest momentan zu etwas anderem als Handlungen werden – das Unmögliche zu realisieren. Trotz der Betonung befreiender Potentiale der Wiederholung muss sich diese allerdings auch bei Kierkegaard noch von einer sie beschränkenden Re­ gelmäßigkeit lossagen. Im Lauf der Darstellung wird deutlich werden, dass die erste Aufgabe sowie das Grundproblem der Wiederholung in eben diesem Lossagen vom Bereich des „Ethischen“ bzw. „Allgemeinen“ besteht, dessen also, was durch Regeln und Normen geordnet und verstandesmäßig kalkulierbar ist. 185

Sören Kierkegaard, Offener Brief, S. 105.

© Wilhelm Fink Verlag, 2018 | doi:10.30965/9783770560219_006

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Freiheit Wiederholen

Diese Regelmäßigkeit, das Befolgen von und Unterworfen sein unter allgemeine Regeln, ließe sich z.B. mit Freud oder Nietzsche wiederum als Zwang zur Wiederholung beschreiben – auch wenn Kierkegaard selbst das nicht tut. Hier lässt sich zugleich das politische Potential von Kierkegaards Wiederholung verorten. Denn wenn seine Überlegungen sich auch dezidiert auf die Konflikte und Handlungen einzelner Personen vis­à­vis des Allgemeinen beziehen, so lässt dieser Gegensatz sich doch produktiv auf Widerstandsbewegungen über­ tragen: Das Allgemeine schließt bei Kierkegaard die Bereiche des Ethischen und des Politischen ein; die Unmöglichkeit innerhalb des Allgemeinen, die bei Kierkegaard Einzelne durch die Wiederholung hervorbringen, kann damit auch als eine Bewegung verstanden werden, die es erlaubt, etwas hervorzu­ bringen, was derzeit im Bereich des Politischen unmöglich ist. Die Wiederholung nähert sich dem Problem der Wiederholung von verschie­ denen Seiten – philosophisch, experimentell, religiös, gebrochen­ästhetisch – eines wird jedoch schnell deutlich: Wiederholung als eine Kategorie, die existenzielles Werden betrifft, kann nicht allein theoretisch und argumen­ tativ erfasst werden. Entsprechend wird die Wiederholung, ähnlich wie be­ reits bei Nietzsche, vor allem mithilfe einer Geschichte vorgeführt. Das Buch ist von Kierkegaard pseudonym unter dem Namen Constantin Constantius publiziert worden, und schildert die Geschichte des (namenlos bleibenden) jungen Menschen und seiner Wiederholungsbewegung. Die Wiederholung besteht aus zwei Teilen: im ersten Teil wird die Situation und der Grundkon­ flikt des jungen Menschen eingeführt, und Constantius selbst stellt Reflexi­ onen zur Wiederholung an; im zweiten Teil erzählt der junge Mensch seine eigene Geschichte in Briefform. Constantius’ Überlegungen zur Wiederholung situieren diese zunächst in der Philosophiegeschichte und stellen sie als einen Begriff des Werdens vor. Zudem versucht Constantius, seine theoretische Auf­ fassung der Wiederholung mithilfe eines Experiments zu testen, indem er selbst eine Reise nach Berlin wiederholt, dabei jedoch nach eigenen Angaben scheitert. Seine Beschäftigung mit der Wiederholung vollzieht sich auf einer intellektuellen, theoretischen Ebene.186 Sie führt somit die Grenzen der ratio­ nalen Nachvollziehbarkeit und insbesondere die Grenzen der Planbarkeit der Wiederholung vor. Der Grundkonflikt von Constantius’ Freund, dem jungen Menschen, wird von ihm im ersten Teil wie folgt eingeführt: der junge Mensch ist in einer Lie­ besbeziehung zu einem Mädchen (ebenfalls namenlos), und die Entwicklung dieser Beziehung läuft auf die Hochzeit beider hinzu. Während der junge Mensch zu Beginn des Buchs als „tief verliebt“ beschrieben wird, verändert 186

Claire Carlisle, Kierkegaard’s Philosophy of Becoming, S. 68f.

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Sören Kierkegaard

sich sein Charakter und sein Empfinden für das Mädchen schnell. (W, 6) Der junge Mensch stellt sich aufgrund einer poetischen Disposition als unfähig heraus, seine Beziehung zu dem Mädchen in ein ethisch­allgemeines Verhält­ nis überführen, d.h. sie wie geplant zu heiraten. Da er sie trotzdem liebt, steht er vor einem Dilemma: wenn er sie heiratet, wird er sie unglücklich machen; wenn er sie verlässt, wird er sie ebenfalls unglücklich machen. Die ihm zur Verfügung stehenden Entscheidungen und Handlungswege – das Mädchen verlassen oder heiraten – sind seinem Problem unangemessen. Damit ist er „unschuldig an ihrem Unglück schuldig“ geworden (W, 10), so Constantius. In Reaktion hierauf entwickelt Constantius einen Plan, der den jungen Men­ schen aus seinem Dilemma soll und zu einer Wiederholung seiner Beziehung befähigen: Er soll sich dem Mädchen gegenüber „ungemütlich“ verhalten und eine Affäre mit einer anderen Frau vortäuschen. (W, 15) So würde das Mädchen selbst dazu gebracht, sich von ihm zu trennen, und das wiederum stelle die Vorbedingung für eine Wiederholung der Beziehung dar. Der junge Mensch stimmt dem zutiefst unmoralischen und kalkulierenden Plan zunächst zwar zu, verschwindet jedoch heimlich und wortlos aus Kopenhagen, ohne ihn durchzuführen oder sich von dem Mädchen zu trennen. Der zweite Teil des Buchs besteht aus Briefen, die der junge Mensch aus seinem ‚Exil‘ an Constantius schreibt, unterbrochen nur von Constantius’ gelegentlichen Kommentaren zur Situation des jungen Menschen. In seinen Briefen hadert der junge Mensch mit den Konsequenzen seiner gescheiter­ ten Beziehung und der Frage, ob er sich durch sein Verhalten und seine Un­ fähigkeit zur Heirat schuldig gemacht habe. Diese Auseinandersetzung führt der junge Mensch zum einen anhand einer Diskussion der biblischen Gestalt Hiobs. An ihm interessiert den jungen Menschen die Ablehnung von Schuld­ zuweisungen und seine Wiederholung: Hiob erhält seine verlorenen Kinder, Tiere und Güter zurück. Diese Geschichte bringt den jungen Menschen dazu, selbst auch eine Wiederholung zu erwarten; dabei kann er allerdings nicht auf Gottes Hilfe zählen. Mit Hiob auf der einen und dem jungen Menschen auf der anderen Seite deuten sich hier zwei unterschiedliche Reaktionen auf eine Situ­ ation an, die innerhalb des Allgemeinen, Logischen, Sittlichen unverständlich bleiben muss, und die damit ein Entscheidungs­ und Handlungsunfähigkeit im Ethischen nach sich zieht. Kierkegaard konzipiert mit Hiob eine religiöse und mit dem jungen Menschen eine ästhetische Version der Wiederholung. Die meisten Kommentatoren verstehen die Wiederholung bei Kierkegaard als eine inhärent religiöse Kategorie, und die ästhetische Wiederholung des jungen Menschen lediglich als eine gescheiterte Form der Wiederholung.187 187

So etwa Louis Reimer, der behauptet, die Wiederholung des jungen Menschen sei miss­ glückt: sie sei nur ein „Wiederkehren seiner äußeren Freiheit, in rein [...] ästhetischer

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Freiheit Wiederholen

Das  überzeugt besonders vor dem Hintergrund, dass Kierkegaard insgesamt ein religiöser Denker ist, und dass die Wiederholung sofern sie in anderen Schriften auftaucht zumeist in diesem Kontext betrachtet wird.188 Um die re­ ligiöse Version der Wiederholung genauer in den Blick zu bekommen, ergänze ich die Überlegungen zu Hiob in der Wiederholung um eine kurze Lektüre ihrer ‚Zwillingsschrift‘: Furcht und Zittern. Dialektische Lyrik, publiziert unter Pseudonym Johannes de Silentio.189 Beide Schriften sind nicht nur am selben Tag veröffentlicht worden, sie stehen auch in enger thematischer Beziehung zueinander und ergänzen sich.190 Furcht und Zittern diskutiert die Reaktion der biblischen Gestalt Abrahams auf die ihm von Gott auferlegte Aufgabe dar, den eigenen Sohn Isaak zu opfern, die eine ähnliche Entscheidungs­ und Handlungsunfähigkeit im Ethischen nach sich zieht, von Abraham aber durch eine „teleologische Suspension des Ethischen“ entschieden wird. Dennoch halte ich die ästhetische Wiederholung des jungen Menschen nicht für eine gescheiterte religiöse Wiederholung, sondern für eine eigenständige Form der Wiederholung mit spezifischem Potential. In diesem Zusammenhang soll herausgestellt werden, dass Kierkegaard die Wiederholung (wie viele an­ dere seiner Bücher) pseudonym veröffentlicht. Die pseudonyme Autorschaft ist keine Spielerei, sondern eine inhaltliche Aussage: jeder der Pseudonym­ Autoren muss im Grunde für sich gelesen werden, da sie alle spezifische Positionen vertreten, die – obschon bestimmte Themen und Konstellationen in verschiedenen Pseudonymen wiederaufgenommen werden – untereinander

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Unmittelbarkeit“, da ihm der eigentlich entscheidende Sprung ins Religiöse nicht gelin­ ge. Dabei verkennt Reimer, in dieser Hinsicht exemplarisch für die Vielzahl der auf das Theologische fokussierten Lesarten der Wiederholung, dass die Wiederholung des jungen Menschen keinesfalls rein äußerlich vor sich geht; auch ist er nach seiner Wiederholung nicht mehr Ästhetiker in Unmittelbarkeit, sondern in zweiter und höherer Potenz, als Dichter. Siehe Louis Reimer, „Die Wiederholung als Problem der Erlösung bei Kierke­ gaard“, S. 313. Besonders in den späteren Schriften tritt der religiöse Charakter der Wiederholung stärker in den Vordergrund, etwa in Die Krankheit zum Tode, wo Wiederholung im Spannungsfeld von Sünde und Versöhnung verortet wird. Trotzdem gibt es auch andere Beschäftigungen Kierkeegards mit der Wiederholung, in denen er diese nicht zuvorderst als religiöse Ka­ tegorie behandelt; z.B. in dem frühen, abgebrochenen Entwurf Johannes Climacus oder De omnibus dubitandum est, in dem Wiederholung in erkenntnistheoretischer Hinsicht behandelt wird. Ich halte mich im Folgenden insofern an Kierkegaards Vorgabe, als ich in Zitaten die je­ weiligen Pseudonyme als Autoren angebe. Wo ich vergleichende oder verallgemeinern­ de Schlussfolgerungen aus den Texten der verschiedenen Pseudonyme ziehe, nenne ich Kierkegaard selbst als Autoren. Zum Doppelcharakter der beiden Werke vgl. Emanuel Hirsch, Kierkegaard-Studien, Bd. 2, S. 630­649 (zitiert nach der durchgehenden Seitenzählung) und Wilfried Greve, Kierkegaards maieutische Ethik, S. 143­188.

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keinen streng systematischen Zusammenhang aufweisen. Die Wiederholung ist somit Kierkegaards ‚maieutischem‘ Ansatz verpflichtet, in dem der Leserin ver­ schiedene mögliche oder unmögliche Positionen und deren Konsequenzen, Vorteile und Fallstricke vorgeführt werden; die Wahl einer dieser Positionen (oder auch: keiner) soll dabei der Leserin überlassen bleiben.191 In der Wahl zwischen Hiob und dem jungen Menschen entscheide ich mich im Folgenden für den jungen Menschen. Dabei will ich herausarbeiten, wie im Rahmen von Kierkegaards Denken eine Wiederholung ohne Gott verstanden werden kann, und welche spezifischen Schwierigkeiten und Potentiale eine solche Wieder­ holung gegenüber der religiösen für eine Konzeption gesellschaftlicher Trans­ formation hat. Dazu finden sich vor allem in der Wiederholung des jungen Menschen Aufschlüsse. Die Antwort des jungen Menschen auf seine Hand­ lungsunfähigkeit ist eine ästhetische – dabei handelt es sich nicht nur um die Praxis des jungen Menschen als Ästhetiker, sondern zudem um einen in sich ästhetischen Praxisvollzug. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

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Sören Kierkegaard

Wiederholung und die philosophische Tradition Wiederholung im eigentlichen Sinne, diejenige Wiederholung also, der das Interesse in Die Wiederholung gilt, findet sich ausschließlich im zweiten Teil des Buchs, d.h. in den Briefen, die der junge Mensch aus dem Exil schreibt. Constantius’ Überlegungen im ersten Teil des Buchs sind, so stellt er selbst heraus, „stets entweder Scherz oder nur relativ wahr, was ausreichend dadurch veranschaulicht ist, daß ich, der es gesagt hat, an der Möglichkeit verzweifle [...]. (OB, 123) Im ersten Teil des Buchs stellt Constantius verschiedene solcher ‚scherzhaften‘ oder ‚relativ wahren‘ Überlegungen zur Wiederholung an. In­ spiriert durch seine Bekanntschaft mit dem jungen Menschen, für den er zur Lösung seines Konflikts eine „Wiederherstellung des früheren Zustands“ plant (W, 17), führt er selbst ein Experiment durch, in dem er sich an einer solchen Wiederherstellung versucht: er wiederholt eine Reise nach Berlin. Zudem stellt er Überlegungen dazu an, wie die Wiederholung ganz allgemein als neue, zen­ trale Kategorie für die Philosophie zu verstehen sei. Constantius deutet in sei­ nen Überlegungen im ersten Teil „in abstracto“ an, „was sich in abstracto nicht realisieren läßt“, wie er retrospektiv im Offenen Brief betont. Denn nachdem er die Wiederholung des jungen Menschen aus der Ferne miterlebt, weiß er, dass sie jenseits des begrifflich ganz Erschließbaren und Erklärbaren liegt. (OB, 121) Constantius’ Berlin­Reise gehört dabei zu den „Scherzen“; zu den relativen 191

Vgl. Wilfried Greve, Kierkegaards maieutische Ethik.

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Wahrheiten seine philosophisch­gelehrten Ausführungen zur Wiederholung, mit denen ich hier beginnen will. In Constantius’ philosophischen Reflexionen, die verstreut und wie hinge­ worfen wirken, kündigt sich in gewisser Hinsicht das Grundproblem an, was über den Begriff der Wiederholung verhandelt wird: Wie kann etwas werden, was nach Maßgabe der Gegenwart unmöglich ist, und zu dem keine kontinu­ ierlich fortgeführte Entwicklung führen kann? Referenzpunkte für Constantius Überlegungen sind unter anderem die griechische Anamnesis­Lehre und der kinesis­Begriff, sowie Hegels Vermittlung. Constantius vergleicht den Begriff der Wiederholung mit dem Begriff der Erinnerung: [...] Wiederholung ist ein entscheidender Ausdruck für das, was ‚Erinnerung‘ bei den Griechen gewesen ist. Gleich wie diese also gelehrt haben, daß alles Erkennen ein sich Erinnern sei, ebenso wird die neuere Philosophie lehren, daß das ganze Leben eine Wiederholung ist. Der ein­ zige neuere Philosoph, der hiervon eine Ahnung gehabt hat, ist Leibniz. Wiederholung und Erinnerung sind die gleiche Bewegung, nur in entge­ gengesetzter Richtung; denn wessen man sich erinnert, das ist gewesen, wird rücklings wiederholt; wohingegen die eigentliche Wiederholung sich der Sache vorlings erinnert. (W, 3) Einerseits lässt sich hier eine Bedeutungsverschiebung von der Erkenntnis zum Leben ausmachen: wo die Griechen demnach lehren, dass Erkennen ein Er­ innern sei, lehrt die neuere Philosophie, dass das Leben eine Wiederholung ist.192 Wiederholung bezieht sich demnach weniger auf Wahrheit und Er­ kenntnis als auf das Leben, unsere Existenz. Wenn ihr ein Wahrheitsanspruch zu eigen ist, so müsste dieser prozessual gedacht werden. Andererseits han­ delt es sich bei beiden um die gleiche Bewegung, „nur in entgegengesetzter Richtung“: die Erinnerung ist eine rückwärtsgerichtete Wiederholung, die eigentliche Wiederholung ‚erinnert‘ sich einer Sache nach vorne. Erinnerung als ‚rückwärts wiederholen‘ zu bezeichnen, scheint lediglich zu bedeuten, dass sie sich auf etwas in der Vergangenheit Liegendes bezieht, was sie sich er­ neut vergegenwärtigt. Das kann entweder ein Hinweis auf Platons Ideenlehre sein, oder aber – insofern es sich um eine Erinnerung von etwas handelt, was ehemals ‚gewesen‘ ist, also scheinbar nicht um ewige Ideen – es könnte die

192

Erinnerung verschafft also Zugang zur Wahrheit. Wenn es bei der Wiederholung um die­ selbe Bewegung nach vorwärts gehen soll, so ließe sie sich als Zugang zu einer Wahrheit begreifen, die prozessual gedacht, die stets im Werden ist.

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Sören Kierkegaard

Wiederholung individueller Erinnerungen wie Gedanken, Bilder, Erinnerungs­ spuren meinen. Wichtiger ist diejenige Wiederholung, die von Kierkegaard als Erinnerung ‚nach vorne‘ bezeichnet wird; zugleich ist jedoch weniger klar, was es mit ihr auf sich hat. Deutlich ist, dass die Wiederholung durch diesen Richtungswechsel – die Orientierung in Richtung Zukunft – eine Bedeutung sowohl für Gegenwart als auch Zukunft erhält. Constantius ergänzt später, „das, was sich wiederholt, ist gewesen, sonst könnte es sich nicht wiederholen; aber eben dies, daß es gewesen ist, macht die Wiederholung zu dem Neuen.“ (W, 22) Wiederholung erscheint hier entsprechend als Differenz: sie öffnet durch ihre Art der Erinnerung, die zugleich eine Aktualisierung ist, in gewisser Hinsicht die Vergangenheit. Was war, ist jetzt selber einer Transformation un­ terworfen und reicht in die Gegenwart und Zukunft hinein. Die Bewegung der Wiederholung erscheint dann als „Dasein, welches da gewesen ist“ und doch genau „jetzt ins Dasein“ tritt und entsteht, dadurch aber bereits etwas anderes, neues ist – das gewesene Dasein, als Werdendes in der und auf die Gegenwart und Zukunft hin aktualisiert. (W, 22) Constantius überlegt weiterhin, dass die Wiederholung die Fallstricke so­ wohl der Erinnerung als auch der Hoffnung vermeide. Beide seien der Wirk­ lichkeit entrückt, dem Jetzt, und einseitig entweder in Richtung Vergangenheit oder Zukunft orientiert. Dagegen verschaffe allein die Wiederholung „des Augenblicks selige Sicherheit“. (W, 4) Als solche ist sie auch ein Mittel gegen die Verflüchtigung des Selbst – niemand möchte sich schließlich stets wieder ganz neu erfinden – in Constantius’ Worten, man möchte keine Tafel sein, „auf welche die Zeit jeden Augenblick eine neue Schrift setzt“; ebenso wenig aber wollen wir nur als Präservation der Vergangenheit existieren und damit eine „Gedächtnisschrift [...] auf das Vergangene“ sein. (W, 5) Die Wiederholung öff­ net Constantius zufolge eine Möglichkeit, Bewegung bzw. Veränderung mit Beständigkeit zusammenzudenken und so im Streit zwischen Diogenes und den Eleaten, bzw. in der Frage: Stillstand oder Bewegung, alt oder neu, zu vermitteln. (W, 3) Dabei ist „Vermittlung“ zugleich diejenige Kategorie, von der Constantius die Wiederholung am entschiedensten abgrenzt. Wiederholung soll die Vermittlung als Begriff ersetzen – denn die Wiederholung ist „eigent­ lich das [...], was man irrtümlich die Vermittlung genannt hat.“ (W, 21) Diese Bemerkung richtet sich natürlich gegen Hegel: Es ist unglaublich, wieviel Wind man in der Hegelischen Philosophie der Vermittlung wegen gemacht hat, und wieviel törichtes Gewäsch un­ ter diesem Schlagwort Ruhm und Ehre genossen hat. Man sollte lieber versuchen die Vermittlung zu durchdenken, und so den Griechen ein wenig Recht widerfahren lassen. [...] Es wird in unsrer Zeit nicht erklärt,

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Freiheit Wiederholen

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woher die Vermittlung kommt, ob sie aus der Bewegung der zwei Mo­ mente sich ergibt, und in welchem Sinne sie alsdann in diesen bereits im voraus enthalten ist, oder ob sie etwas Neues ist, das hinzukommt, und alsdann wieso. In dieser Hinsicht ist die griechische Erwägung des Begriffs Bewegung (κινησις), welcher der modernen Kategorie des ‚Über­ gangs‘ entspricht, höchst beachtenswert. (W, 21f.)193 Die Frage ist also: wie passiert Veränderung? Die Kritik an Hegel ist ganz of­ fensichtlich in hohem Grade polemisch und wird von Constantius hier nicht näher ausgeführt. Dennoch weist sie auf das entscheidende Problem hin, das die Wiederholung adressieren soll: die Frage des Werdens. Wenn etwas noch nicht ist, wie kann es dann etwas werden? Wenn dasjenige, was wird, bereits in anderem angelegt ist, wie kann es dann etwas wirklich Neues sein? Cons­ tantius’ Kritik an Hegel ist, dass dieser die Bewegung rein immanent denkt. Es handele sich, so Kierkegaard, bei Hegels Dialektik nur um eine Entfaltung dessen, was im Vorhergegangenen schon angelegt war. Deshalb sei sie eigent­ lich nicht dazu in der Lage, überhaupt eine Bewegung zu machen – wirkliche Bewegung muss immer (auch) als transzendent gedacht werden. Constantius beruft sich auf Aristoteles, indem er sagt, die Bewegung von der Möglichkeit (die im Bereich der Freiheit liegt) zur Wirklichkeit, also zur Realisierung der Möglichkeit, trete stets „als etwas Transzendentes ein“; diese Bewegung ist daher nichts Vermittelndes, sondern muss als Sprung gedacht werden, als plötzlicher Umschlag, dessen Auftreten etwas Unerklärliches an sich haben muss. (OB, 128) Es handelt sich um eine qualitative Veränderung von der Mög­ lichkeit zur Wirklichkeit. Kann denn aber, so Kierkegaards rhetorische Frage in einem seiner Notizbücher, „der Übergang von einer quantitativen Bestimmung zu einer qualitativen außer durch einen Sprung geschehen?“ (T1, IV C 87) Die Wiederholung ist hier also keinesfalls als eine kontinuierliche Bewegung, als ein gleichmäßiger Rückfluss des Wiederholten gedacht. Vielmehr ist das Wie­ derholte einer qualitativen Transformation im Übergang von der Möglichkeit zur Wirklichkeit unterworfen. Deshalb muss ein „Sprung“ vorliegen, eine Ka­ tegorie, die Kierkegaard in Anlehnung an Lessing und, wie auch den Begriff der Wiederholung selbst, in Abgrenzung zu Hegels Kategorie der Vermittlung einsetzt. Constantius hat mit seinen philosophischen Überlegungen die Wiederho­ lung grundsätzlich zwar treffend charakterisiert. Was er aber als nächstes am 193

Die Vermittlung, so auch de Silentios Urteil in Furcht und Zittern, ist ein „Hirngespinst [...], welches bei Hegel alles erklärt, und welches zugleich das Einzige ist, das er niemals versucht hat zu erklären.“ (FZ, 42, Anm.)

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eigenen Leib erfahren wird, ist eben dies: dass sie sich „in abstracto“ nicht rea­ lisieren lässt. Für jede Bewegung, so fügt auch de Silentio in Furcht und Zittern hinzu, ist schließlich Leidenschaft die Voraussetzung, denn „keine Reflektion kann eine Bewegung zustande bringen.“ (FZ, 42, Anm.) Leidenschaft ist die Quelle jeder Bewegung; sie allein ermöglicht den Sprung von Möglichkeit in die Wirklichkeit, also vom Nichtsein ins Sein. Bis zu einem gewissen Grad lässt sich die Wiederholung also verstehend nachvollziehen, sicher aber nicht mithilfe einer Idee planen. Leidenschaft wiederum hat Constantius im Gegensatz zum jungen Menschen keine, sondern nur Klugheit, so Kierkegaard. (T1, IV A 169) Constantius’ eigenes Experiment zur Möglichkeit der Wiederholung kann daher als possenhafte Vorführung eines falsch verstandenen philosophi­ schen Wiederholungsbegriffs verstanden werden: Die Wiederholung beginnt zunächst mit den Eleaten, die „die Bewegung leugneten“, und Diogenes’ Wi­ derspruch, Bewegung sei durchaus möglich, zu dessen Beweis er „lediglich einige Male auf und nieder ging.“ (W, 3) In Anlehnung an Diogenes’ Versuch, den Eleaten die Existenz der Bewegung zu beweisen, will Constantius durch die Wiederholung einer vorherigen Reise nach Berlin herausfinden, „ob eine Wiederholung möglich sei und welche Bedeutung sie besitze, ob eine Sache dadurch, daß sie wiederholt wird, gewinne oder verliere.“ (W, 3) Er setzt also an, experimentell sicheres Wissen über Möglichkeit und Charakter der Wie­ derholung zu erlangen. Für Constantius lässt sich Wiederholung, so wie er sie im Experiment herbeiführen will, auf eine „redintegratio in statum pristinum“, eine Wiederherstellung des vorhergegangenen Zustands reduzieren. (W, 17) Mit dieser Auffassung fällt Constantius selbst hinter seine eigenen theore­ tischen Einsichten zurück (in denen er ja etwa bemerkt hatte, dass Teil der Wiederholung immer auch Veränderung und Werden sei). Er kehrt in dasselbe Hotel ein, nimmt dasselbe Zimmer, besucht dasselbe Theater – und doch wird der Versuch der Wiederholung immer wieder vereitelt: „Das einzige, das sich wiederholte, war die Unmöglichkeit einer Wiederholung.“ (W, 44) Constantius versucht also, seine philosophischen Überlegungen in die Praxis zu übersetzen, und scheitert daran: mit der Bewegung der Wiederho­ lung kann keine nur äußerliche und damit beobachtbare oder manipulierbare Bewegung gemeint sein, und schon garnicht eine Bewegung, die das exakt sel­ be erneut herzustellen versucht. Bis hierher ist also deutlich geworden, dass die Wiederholung bei Kierkegaard nicht experimentell bestätigt oder falsifi­ ziert werden kann. Sie kann allerdings ebenso wenig erschöpfend dargestellt werden, indem sie mit der Hegelschen Vermittlung oder der Platonischen Erin­ nerung verglichen oder von diesen unterschieden wird – auch wenn in beiden wichtige Hinweise bezüglich der Wiederholung zu finden sind. Deshalb „stran­ det“ Constantius an der Wiederholung. (T1, IV A 169) Er begnügt sich von da an

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mit dem Nachvollziehen der Bewegung des jungen Menschen; dessen Problem wird von Constantius als Problem der Wiederholung gefasst. Constantius kann dem jungen Menschen mit diesem Problem ebenso wenig helfen, wie es der Rückgang zur griechischen Philosophie oder der Bezug auf die „neue­ re Philosophie“ kann, so Constantius: insbesondere die neuere Philosophie macht zumeist „gar keine Bewegung, sie macht im allgemeinen nur viel Aufhe­ bens, und soweit sie eine Bewegung macht, liegt sie stets in der Immanenz, die Wiederholung hingegen ist und bleibt eine Transzendenz.“ (W, 59) Warum die Wiederholung des jungen Menschen in Verbindung zur Transzendenz gedacht werden muss, und inwiefern es sich bei der Wiederholung um eine „religiöse Bewegung“ handelt (ibid.), wird im nächsten Abschnitt thematisiert. Die Wiederholung als Problem der Freiheit Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

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In einem sogenannten Offenen Brief,194 der unveröffentlicht in mehreren Entwürfen vorliegt, und den Kierkegaard/Constantius zur Erläuterung der Wiederholung verfasst hat, finden sich zunächst einmal weitere aufschlussrei­ che Ausführungen dazu, was die Wiederholung Constantius zufolge nicht ist. 194

Den Offenen Brief hat Kierkegaard unter dem Pseudonym Constantius als Antwort auf einige Kommentare bzw. ‚Berichtigungen‘ verfasst, die ‚Professor Heiberg, Ritter des Dannebrog­Ordens‘ über Die Wiederholung publiziert hatte. Heiberg hatte sich in sei­ ner Darstellung auf den ersten Teil der Wiederholung beschränkt und kritisiert, dass der dort diskutierte Wiederholungsbegriff den „eigentlichen“ Begriff der Wiederholung, der in der Wiederholung im Reich der Natur liege, verfehlt habe. Heibergs Interpretation ist so grundlegend an der Intention Kierkegaards vorbeigegangen, dass er Constantius im Offenen Brief (der allerdings nur in mehreren Entwürfen existiert und unveröffentlicht geblieben ist) auf Heiberg antworten und seine Position in aller Deutlichkeit herausstel­ len lässt; eine Position, die Constantius zuvor nach eigenen Angaben bewusst im Buch versteckt gehalten hatte. Constantius hatte in diesem Sinne seine Gedanken zur Wieder­ holung nicht wissenschaftlich­argumentativ dargelegt, sondern das Ganze „humoristisch angelegt“; dozieren wollte er nicht, sondern sah „Schilderung und Veranschaulichung“ als seine Aufgabe. (OB, 139) Zitiert wird der „Offene Brief“ nach der einzig erhältlichen deutschsprachigen Über­ setzung in der Ausgabe der Wiederholung von Hans Rochol. Wenn die Übersetzung bereits in sprachlicher Hinsicht oft eigenwillig klingt, so hat Rochol noch dazu einige Änderungen im Text vorgenommen; Dorothea Glöckner kommentiert diese Änderungen wie folgt: „Dieser Offene Brief wurde vom Übersetzer mit Änderungen und Ergänzungen versehen, entsprechend Pap. IV B 112 Eine kleine Beilage von Constantin Constantius, dem Verfasser der ‚Wiederholung‘. Damit wird H. Rochol dem sachlichen Anliegen des Offenen Briefes gerecht, ohne eine gänzlich textgetreue Übersetzung zu liefern.“ Dorothea Glöck­ ner, „Literaturbericht: Furcht und Zittern / Die Wiederholung in der deutschsprachigen Kierkegaard­Forschung“, S. 348.

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Der Brief ist als Replik auf Professor Heiberg verfasst der in seiner Rezension der Wiederholung behauptet hatte, dass der Begriff der Wiederholung in den Bereich der Naturphänomene und der Weltgeschichte gehöre, in denen sich jeweils eine regelhafte Wiederkehr ausmachen lasse. Aus Constantius’ Reakti­ on hierauf wird ersichtlich, dass er die Wiederholung keinesfalls als selbsttätig wiederkehrendes, regelmäßig ablaufendes, empirisches Phänomen verstehen will. Für Heiberg ist die Wiederholung gegeben, und es geht nun darum, eine angemessene Umgangsform mit ihr zu finden. Constantius wiederum selbst hat nach eigenen Angaben „in dem ganzen Buch nirgendwo von der Betrach­ tung der Wiederholung bei den Naturphänomenen gesprochen“, sondern „von der Wiederholung bei den Problemen der Freiheit.“ (OB, 114) Dass es Wieder­ holungen in der Natur oder in der Geschichte gibt, streitet er nicht ab – doch er setzt dies als eine bekannte „Trivialität“ voraus, die nicht weiter ausgeführt zu werden verdient. (OB, 116) Wenn aber weder Experiment, noch Bezug auf die philosophische Tradition, noch irgendeine Form von regelmäßiger Wie­ derkehr dazu hinreichen, die Wiederholung zu erklären – was bedeutet dann „Wiederholung“ bei Kierkegaard, wie kann dieser Begriff vorläufig verstanden werden? Constantius grenzt sich also explizit von der Idee einer automatischen, mechanischen, schicksalhaften Wiederholung ab. Als Wiederkehr verstan­ den wirkt Wiederholung als Regel oder Gesetz. Regel und Gesetz wiederum sind allgemein, beanspruchen Gültigkeit für alle, und sind dem Individuum jeweils vorgegeben. Wie ich im Folgenden ausführen werde, ist das entschei­ dende Merkmal der Wiederholung für Kierkegaard hingegen, dass sie sich gerade nicht in den Bereich des Allgemeinen integrieren lässt. Nicht nur ist die Wiederholung selbst keine Regelmäßigkeit; sie muss darüber hinaus mit jeder Regelmäßigkeit brechen. Ein Bruch mit dem Allgemeinen ist ihre Vo­ raussetzung, da sie auf eine Ausweglosigkeit bzw. Unmöglichkeit innerhalb des Allgemeinen antwortet. Das Allgemeine entspricht zugleich einer von drei Exis­ tenzsphären, um deren Unterscheidung herum Kierkegaards Denken sowohl in der Wiederholung als auch in Furcht und Zittern strukturiert ist: Der Sphäre der ethischen Existenz. Die Wiederholung wiederum, die nur als außerhalb dieser ethisch­allgemeinen Existenz gedacht werden kann, ist bei Kierkegaard entsprechend mit den anderen beiden Existenzsphären verbunden: vornehm­ lich mit einer religiösen Existenz, aber auch, wie ich zeigen werde, mit einer (gebrochen) ästhetischen. Ich will nun diese drei Sphären grob darstellen, um darauf aufbauend den grundlegenden Charakter zu skizzieren, den die Wie­ derholung bei Kierkegaard hat. Der Zusammenhang, aus dem die Wiederholung ausgenommen ist, kor­ respondiert mit der Sphäre des Allgemeinen bzw. Ethischen bei Kierkegaard.

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‚Ethisch‘ ist hierbei weit gefasst, und schließt mehr als nur Moral ein – eine geeignete Parallele wäre im Begriff der Sittlichkeit auszumachen. (FZ, 58) Das Ethische ist „als das Allgemeine das, was für jedermann“ und „in jedem Augen­ blick gültig ist“. (FZ, 57) Die Sphäre des Ethischen ist strukturiert durch Regeln, Normen, Gesetze und Gewohnheiten, die das menschliche Zusammenleben leiten und ihm eine gewisse Stabilität und Regelmäßigkeit verleihen. Sie ist damit derjenige Bereich unserer Existenz, der vorhersehbar, berechenbar, regelmäßig und planbar ist. Entsprechend ist es innerhalb dieser Sphäre mög­ lich, Urteile zu fällen, die auf Wissen beruhen, und Handlungen vorzunehmen, für die bereits eingeübte Praxisvollzüge bestehen. Ferner ist es uns innerhalb des Ethischen möglich, Gründe für unser Urteilen und Handeln anzugeben, und diese entsprechend auch für andere nachvollziehbar zu machen. In die­ sem Bereich können jedoch auch Konflikte entstehen, die innerhalb des Ethi­ schen nicht lösbar sind – dann nämlich, wenn das Ethische zwei in gleicher Weise berechtigte aber sich gegenseitig ausschließende Forderungen an uns stellt. Hier kommen wir dann in eine Situation, die uns unentscheidbar wird. Als „Vernunft­Wesen“ dazu aufgerufen zu sein, in einer Situation zu entschei­ den und zu handeln „wo mein Verstand, meine Reflexion mir sagt: Du kannst ebensogut das eine wie das andere tun, d.h., wo mein Verstand und meine Reflexion mir sagen: Du kannst nicht handeln“, stellt ein praktisches Problem dar (T3, X 1 A 66): einen Konflikt innerhalb des Ethischen, zu dessen Lösung die an Regeln orientierte, rationale Reflexion, die das Ethische selbst als Mit­ tel zum Handeln bereitstellt, nicht taugt. Wenn ich in einer solchen Situation nun „dennoch handeln soll“, wenn also ein dringender Entscheidungs­ und Handlungsbedarf besteht, dann muss ein anderer Weg gefunden werden, den Konflikt zu lösen. (ibid.) Die Frage, die sich in einer solchen Situation stellt, ist also, wie sich entscheiden und handeln lässt, wo eine rationale Entscheidung unmöglich ist, und wo kein angemessener Handlungsspielraum offen zu ste­ hen scheint. Und Kierkegaards Annäherung an eine Antwort basiert jeweils darauf, eine der anderen beiden Existenzsphären – das Religiöse oder das Ästhetische – zu mobilisieren. In Furcht und Zittern finden wir eine Handlung beschrieben, die in Reaktion auf eine Handlungsunmöglichkeit innerhalb des Ethischen auf die religiöse Existenzsphäre zurückgreift. Diese Existenzsphäre ist so angelegt, dass sie selbst Moral und Dogma, wie sie etwa von einer religiösen Institution wie der Kirche (die selbst Teil des Ethischen ist) bestimmt sind, überschreiten kann. Es handelt sich hier um einen Bereich des Glaubens, in dem sowohl Vernunft als auch Religion in ihrer institutionalisierten Form zugunsten einer direkten Anrufung Gottes suspendiert werden. Kierkegaards Beispiel in Furcht und

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Zittern ist Abraham, den Gott dazu auffordert, seinen einzigen Sohn Isaak zu opfern. Innerhalb des Ethischen kann Abraham in dieser Situation nicht entscheiden, und entsprechend nicht handeln. Mit der moralischen Verant­ wortung gegenüber seiner Familie und insbesondere seinem Sohn einerseits, und seine religiöse Pflicht andererseits, stellt das Ethische zwei unvereinbare Ansprüche an Abraham. Mithilfe seines Glaubens suspendiert Abraham das Ethische, d.h. diejenige Existenzsphäre, innerhalb derer sein Konflikt unlös­ bar ist, und trifft die Entscheidung, Isaak zu opfern – während er zugleich an dem Glauben daran festhält, dass er seinen Sohn dennoch nicht verlieren wird. Aus Sicht des Ethischen ist diese Antwort paradox und irrational: Was Abraham antizipiert – den eigenen Sohn zugleich zu opfern, und ihn dennoch wiederzuerhalten – ist eine Unmöglichkeit, die für Abraham durch seinen Glauben, seine religiöse Existenz möglich und wirklich wird. Während die religiöse Sphäre für Kierkegaard durch ein direktes Verhältnis zu Gott eine höhere Pflicht beherbergt, die unsere gewöhnlichen, sittlichen Verpflichtungen übersteigt, konzipiert er die ästhetische Sphäre zunächst als die generelle Verweigerung von Pflichten überhaupt. In diesem Sinne ist eine solche Existenz amoralisch und jenseits des Ethischen (anstatt diesem in gewisser Weise übergeordnet zu sein). Die ästhetische Existenzweise ist vor allem durch sinnlichen Genuss, vorübergehende Befriedigungen, und dem Ausmalen von Möglichkeiten in der Phantasie gekennzeichnet, die sie den beschränkenden und beschränkten Möglichkeiten des Allgemeinen vorzieht. Ästhetiker können aber auch als Dichter existieren, als schöpferisch tätige Individuen, die Kierkegaard zufolge als „Übergang“ zu und „Anklang“ an das Religiöse verstanden werden müssen, auch wenn dies Religiöse bei einem sol­ chen Ästheten meist niemals „zum Durchbruch kommt“. (W, 94f.) Der junge Mensch in Die Wiederholung ist eben solch ein Dichter. Sein unentscheidbarer Konflikt im Ethischen gründet in seiner Beziehung zu einem Mädchen. Er liebt das Mädchen, ist zugleich aber davon überzeugt, dass er nicht als Ehemann taugt. Die Entscheidung, vor die er nun gestellt ist, ist entweder, die Beziehung zu dem Mädchen aufrecht zu erhalten und sie in eine Ehe zu überführen, innerhalb welcher der junge Mensch allerdings überzeugt ist, sie unwillentlich unglücklich zu machen. Oder er beendet die Beziehung, womit er sie eben­ falls unglücklich machen würde. Innerhalb des Ethischen stellt sich die Situ­ ation demnach auch für ihn als unentscheidbar heraus. Wie ich nachfolgend in meiner Lektüre der Wiederholung zeigen werde, wird der junge Mensch in seiner Antwort auf diese Handlungsunmöglichkeit dennoch nie ganz Teil der ästhetischen Sphäre, auch nicht zeitweise. Im Gegensatz zu Abraham verab­ schiedet er das Ethische nie ganz, und seine Unfähigkeit, das Ethische hinter

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sich zu lassen, ist zentral für das Verständnis dessen, was seine Antwort als Modell gesellschaftlicher Transformation interessant werden lässt. Dennoch ist die Lösung seines Konflikts zugleich nur unter Einbezug des Ästhetischen möglich. Sowohl der junge Mensch als auch Abraham wenden sich in ihrer Antwort auf eine Unmöglichkeit innerhalb des Ethischen von dieser Sphäre ab; sie etablieren sich als Ausnahmen aus dem Ethischen. Die Frage einer solchen Ausnahme wiederum betrachtet Kierkegaard mit Blick auf die Wiederholung. Wo Wiederholung möglich wird, sind wir frei, und zwar vor allem frei von den Einschränkungen, die uns eine durch Regeln geleitete Existenz im Ethi­ schen auferlegt. Die Wiederholung als dasjenige, was das Unmögliche mög­ lich macht, kann sich – wenn überhaupt – nur jenseits des Allgemeinen ereignen: dann nämlich, wenn „alle denkbare menschliche Gewißheit und Wahrscheinlichkeit“, also jede auf Kalkulation basierende Hoffnung, verloren ist. (W,  82) Dass nicht mit der Wiederholung gerechnet werden kann, heißt also, dass das zu Wiederholende der Berechenbarkeit und Alltagslogik wider­ spricht, sich jedem Handlungskalkül entzieht.195 Sowohl Abraham als auch der junge Mensch haben eine solche Wiederholung im Sinn: Während Abra­ ham den Entschluss fasst, seinen Sohn zu opfern, hält er dennoch am Glauben fest, er werde Isaak wiedererhalten, dieser werde nicht sterben. Und obschon der junge Mensch ins Exil geht und das Mädchen ohne Ankündigung oder Er­ klärung verlässt, sucht er dennoch nach einer Wiederholung der Beziehung. Beide geben also geliebte Personen in einer Weise auf, die deren Wiederkehr ausschließt, und antizipieren dennoch eben diese Wiederholung. Sobald also „das Individuum seiner Freiheit nach aufgefaßt wird“, ist die Frage nach der Wiederholung keinesfalls eine Frage der Regelmäßigkeit, wie in Naturdingen oder im Bereich des Allgemeinen; vielmehr „stellt sich die Frage anders: läßt die Wiederholung sich verwirklichen?“ (OB, 132) Die Wiederholung ist somit nichts Gegebenes, sondern etwas zu Verwirklichendes: Die Frage nach der Wie­ derholung ist für Kierkegaard die Frage danach, ob ich etwas (zurück)erhal­ ten oder sogar aktiv (zurück)holen kann, das strenggenommen unmöglich ist. Damit erkennt Kierkegaard zwar an, dass es das Problem einer selbsttätigen Wiederkehr gibt, er interessiert sich jedoch nur für einen spezifischen Begriff der Wiederholung: er versteht sie als Möglichkeit der Freiheit dazu, etwas Un­ mögliches zu tun bzw. zu erhalten.

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Vgl. hierzu die sich durch Kierkegaards Werk ziehenden, zumeist verächtlichen Hinweise auf Ökonomie, Rechnungswesen etc. (z.B. in W, 43).

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„Teleologische Suspension des Ethischen“ durch den Ritter des Glaubens Johannes de Silentio, Autor von Furcht und Zittern, beschreibt in seinem Buch Gottes Prüfung Abrahams:

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Und Gott versuchte Abraham und sprach zu ihm: Nimm Isaak, deinen einzigen Sohn, den du liebst, und gehe hin in das Land Morija, und opfere ihn daselbst zum Brandopfer auf einem Berge, den ich dir zeigen werden. (FZ, 8) Gott verlangt von Abraham, seinen eigenen Sohn zu opfern – denselben Sohn, den Gott Abraham und Sara noch im hohen Alter geschenkt hatte, weil sie ihm so treu waren. Vom Standpunkt des Ethischen bzw. Allgemeinen her gesehen ist das, was Gott von Abraham verlangt, Mord; und noch dazu Mord am eigenen Sohn. Abraham steht damit vor einem Problem, was innerhalb des Ethischen unlösbar ist: Einerseits ist er dazu angehalten, nicht zu töten. Das sagen die allgemeinen Regeln menschlicher Moralvorstellungen; es ist aber auch das Wort Gottes selbst, dass wir nicht töten sollen, durch Moses als eines der zehn Gebote überliefert, gemäß derer wir handeln sollen und die die Basis christlicher Moral darstellen. (2 Mose 20:13) Auf der anderen Seite ist es zugleich die allgemeine Regel christlicher Moral, dem Wort Gottes folge­ zuleisten: „Denn ihr sollt dem HERRN, eurem Gott, folgen und ihn fürchten und seine Gebote halten und seiner Stimme gehorchen und ihm dienen und ihm anhangen.“ (5 Mose 13:5) Innerhalb des Allgemeinen, das hier hauptsäch­ lich in Form von christlichen Geboten und Moralvorstellungen in Erscheinung tritt, liegt somit ein unentscheidbarer Konflikt für Abraham vor. Folgt er dem Gebot, nicht zu töten, dann kann er zugleich nicht der „Stimme“ Gottes gehor­ chen, die sich mit ihrer Forderung direkt an ihn gerichtet hat. Hinzu kommt natürlich Abrahams Liebe und familiäre Pflicht, die es ihm schwermacht, den eigenen Sohn zu opfern. Abrahams Entscheidung erfordert seinen Ausbruch aus dem Allgemeinen, eine Abwendung vom Ethischen, innerhalb dessen er keine Entscheidung treffen kann. De Silentio unterscheidet zwei Schritte, die für Abraham notwendig sind, um eine Entscheidung zu treffen: Eine „unendliche Resignation“ und „teleolo­ gische Suspension des Ethischen“, die ineinander verschränkt sind, und eine Bewegung des Glaubens. Um den ersten Schritt zu tun, d.h. die „unendliche Bewegung der Resignation“ zu machen, in der alles aufgegeben wird, benötigt es „Kraft, Energie und Freiheit des Geistes“. (FZ, 49) Die Resignation basiert auf

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einem „Ergebnis des Verstandes“, mit dessen Hilfe Abraham sich „menschlich gesprochen“ – d.h. in der „Welt der Endlichkeit“, der Welt des Allgemeinen, in dem der Verstand eine Position der „Herrschaft“ innehat – von der „Unmöglich­ keit“ einer zufriedenstellenden Lösung der gegebenen Situation überzeugt hat. (FZ, 48) Innerhalb des Ethischen kann Abraham seinen Konflikt nicht lösen. Mit seiner Resignation, die Teil des Entscheidungsprozesses ist, gibt Abraham Isaak deshalb auf. Er weiß, dass er eine Entscheidung treffen muss, und er ent­ scheidet sich dazu, Gott Folge zu leisten und seinen Sohn zu opfern. Mit dieser Bewegung der Resignation und der Entschlossenheit zum Opfer verabschiedet Abraham den Bereich des Allgemeinen. Er „suspendiert“ die Ethik, er setzt sie temporär aus. Das tut er nicht, insofern er mit seiner Entscheidung gegen die Regeln des Allgemeinen verstößt (dazu später mehr), sondern insofern er sich nach seiner verstandesmäßigen Überzeugung davon, dass sein Konflikt un­ lösbar ist, dennoch für eine Lösung entscheidet. Wenn also auch in der „Welt der Endlichkeit“ vieles ist, das für Menschen eine Unmöglichkeit darstellt – so etwa für Abraham, zugleich Gott zu folgen, und Isaak zu behalten – so macht die Bewegung der Resignation dies Unmögliche zumindest „Geistig gespro­ chen“ möglich: „Der Wunsch, der ihn in die Wirklichkeit hatte hinausführen wollen, aber an der Unmöglichkeit gestrandet war, wird nun umgebogen nach innen, ist aber dadurch nicht verloren noch vergessen.“ (FZ, 44) Die bisher nachgezeichnete Bewegung ist die folgende: In der Welt der Endlichkeit – unserer Welt – ist eine Wiederholung unmöglich. Abraham kann Isaak nicht zugleich opfern und behalten. Diese Unmöglichkeit soll aber dadurch möglich werden, dass sie „geistig ausgedrückt“ wird, indem die Be­ wegung der Resignation durchgeführt wird, mit der die erwünschte Unmög­ lichkeit „nach innen“ gewendet wird, wodurch sie bewahrt werden kann. De Silentios Beispiel auf diesen Seiten ist die unmögliche Liebe eines „Ritters“ für eine Prinzessin, die der Ritter der Resignation daher durch das Umbiegen „nach innen“ bewahrt, in dessen Bewegung seine Liebe „geistig“ ausgedrückt wird, indem ihr „Valet“ gegeben wird. (FZ, 44) Bezüglich Abrahams Situation ist jedoch wichtig, dass Isaak allein im Inneren nicht bewahrt werden kann. In der endlichen Welt wäre Isaak ja tatsächlich tot, gemordet durch den eigenen Vater. Auch wenn Abraham sich Isaak innerlich erhält, „mit der Wirklichkeit seines Tuns gehört er dem Allgemeinen an, und hier ist und bleibt er ein Mör­ der.“ (FZ, 82) Und selbst wenn, so De Silentio, der Wunsch danach, den Sohn zu behalten, letztlich von Gott erfüllt würde, dann müsste es Abraham doch schwerfallen, „wiederum Freude zu haben an Isaak“. (FZ, 33) Wenn Abraham nur die Bewegung der Resignation durchgeführt hätte, und dennoch Isaak wie­ derbekommen hätte, so hätte er sich zumindest vor sich selbst zu rechtferti­ gen: warum hat er Isaak aufgegeben?

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Die Bewegung der Resignation für sich genommen ist problematisch. Es ist die „Bewegung des Glaubens“, die zur Resignation hinzutritt, die es Abraham möglich macht, Isaak mit Freude wiederzuerlangen: sein Glaube daran, dass er Isaak nicht verlieren werde. Nur so kann Abraham bis zum Augenblick der Opferung „dagegen halten“, also an der Unmöglichkeit festhalten, er werde Isaak nicht verlieren, und dennoch ohne Zögern und ohne Verspätung zum Berg Morija erscheinen, um dort die Opferung durchzuführen. (ibid.) Darum führt der Glaubensritter zwar die Bewegung der Resignation aus, „aber dann geschieht das Wunder, er macht noch eine Bewegung mehr, die verwunderli­ cher ist als sonst alles, denn er sagt: ich glaube dennoch, dass ich sie bekomme, in kraft nämlich des Absurden, in kraft dessen, dass bei Gott kein Ding un­ möglich ist.“ (FZ, 47) Während in der Resignation das Unmögliche „in unend­ lichem Sinne“, also außerhalb der Wirklichkeit aufbewahrt wird, wendet der Glaubensritter das Unmögliche durch den Glauben ins Absurde. Das Absurde wiederum ist die Unmöglichkeit, die wider aller Vernunft möglich wird, eben weil an sie geglaubt wird, und weil für Gott Dinge möglich sind, die für Men­ schen unmöglich sind. (FZ, 49) Der Ritter des Glaubens „erkennt also die Unmöglichkeit und im gleichen Augenblicke glaubt er an das Absurde“ (FZ, 48, meine Hervorhebung) – für den Verstand bietet sich eine Unmöglichkeit dar, an der der Glaube dennoch festhalten kann, weil die Regeln des Allgemeinen, d.h. die ethische Existenz­ sphäre, suspendiert werden. Erst mithilfe dieser paradoxen Bewegung kann der Glaubensritter seiner Resignation (Ich werde Isaak opfern) hinzufügen: „Es wird dennoch nicht geschehen.“ (FZ, 63) So kann er also an die sich wider­ sprechende Doppelbewegung der Opferung und gleichzeitigen Rettung Isaaks glauben. Das im Glauben festgehaltene so zu bekommen, „daß nichts daran fehlt, das ist über menschliche Kraft, das ist ein Wunder.“ (FZ, 49) Kein Mensch kann selbst das Unmögliche tun, es im eigenen Handeln gezielt herbeiführen. Was Menschen bleibt, ist an diese Unmöglichkeit zu glauben, daran, dass sie kraft des Absurden und also kraft Gottes eintreten wird. Diese Festigkeit des Glaubens aufzubringen, ist nur wenigen Ausnahmen vorbehalten, solchen „Rittern des Glaubens“ wie Abraham einer ist. Abraham zweifelt nicht, denn er suspendiert das Ethische, und vertraut zugleich durch seinen Glauben auf die Wiederholung. Abraham hat damit, was Constantin Constantius in der Wiederholung später als eine „eiserne Konsequenz und Standhaftigkeit“ be­ zeichnet, die nur der religiösen Ausnahme, nur mittels einer Bewegung des Glaubens möglich ist. (W, 95) Diese eiserne Konsequenz ist hier wichtig: Hätte Abraham Zweifel daran gehegt, dass er Isaak nicht verlieren werde, so hätte er auf dem Berg nach einem Zeichen dafür gesucht, dass er Isaak doch nicht opfern müsse. Hätte er in dieser Weise den Widder selbst entdeckt, anstatt in

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aller Entschlossenheit das Opfer zu vollziehen, bis er von außen durch den Engel auf den Widder aufmerksam gemacht wurde, dann „wäre alles anders gewesen“ – „seine Heimkehr wäre Flucht, seine Befreiung Zufall gewesen, sein Lohn Beschämung, seine Zukunft vielleicht Verlorenheit. Er hätte weder über seinen Glauben Zeugnis gehabt noch über Gottes Gnade, wohl aber Zeugnis, wie furchtbar es ist, hinaufzuziehen auf den Berg Morija.“ (FZ, 21) Nicht nur Erkenntnis und Verstand stoßen hier also an ihre Grenzen, sondern auch das menschliche Handeln: Das Unmögliche hätte Abraham nicht selbst hervor­ bringen können. Er kann ihm durch seinen Glauben und durch sein Handeln Vorschub leisten, aber es handelt sich dann eben doch um einen Einbruch von außen: Gott macht das Unmögliche möglich. Eine Alternative zu suchen, bedeutet, nicht fest im Glauben zu sein; das wieder bedeutet, Isaaks Opferung zumindest in gewisser Hinsicht innerhalb des Allgemeinen anstatt in Suspen­ sion desselben zu planen. De Silentio will die teleologische Suspension des Ethischen von der Anfechtung des Ethischen streng unterschieden wissen. Eine Anfechtung des Ethischen würde mit diesem im Streit liegen; sie würde das Allgemeine zu verändern suchen, um den Konflikt zu lösen. Mit der Suspension, die das Ethische um eines bestimmten, höheren Vorhabens wegen aussetzt, soll ein solcher Konflikt jedoch umgangen werden. Um zu vermeiden, dennoch in die Situation einer Anfechtung zu geraten, wird wiederum Abrahams Schweigen zentral. Wie wir aus der biblischen Erzählung wissen, und wie auch in Furcht und Zittern Erwähnung findet, teilt sich Abraham weder Sara noch Isaak mit. Er schweigt auf dem Weg zu Morija, und antwortet Isaak auf seine Frage nach dem Opfertier in einer Weise, die ausweichend ist, aber zugleich keinen Ver­ dacht aufkommen lässt, dass irgendetwas unübliches geschehen werde. Würde Abraham versuchen, sich zu erklären, dann holte ihn die Sprache ins Allge­ meine zurück: „Sobald ich rede, drücke ich das Allgemeine aus, und wenn ich das nicht tue, kann niemand mich verstehen.“ (FZ, 64) Entsprechend müsste er, wenn er zu jemandem über sein Vorhaben spräche, „gestehen, daß er in Anfechtung sei, und ist dem so, so kommt er nie dazu, Isaak zu opfern, oder er muß, wenn er Isaak geopfert hat, in Reue zum Allgemeinen zurückkehren.“ (FZ, 60) Jeder Versuch einer Erklärung, so de Silentio, würde Abraham in die Position einer Anfechtung versetzen. Entsprechend halten sich Glaubensritter zumeist bedeckt, um nicht im All­ gemeinen anzuecken. Ihr Äußeres weist „eine auffallende Ähnlichkeit [...] mit der Spießbürgerlichkeit“ (FZ, 37) auf; sie bewegen sich unauffällig im Allge­ meinen, sehen dabei wahlweise aus wie ein „Rottmeister“, „Schreibersmann“, eine „Krämerseele“, ein „Butterhändler“ oder „Kapitalist“ – kurz, durch und durch gewöhnlich, und mit einem wohldefinierten Platz im Allgemeinen. (FZ,

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38f.) Der Ritter des Glaubens hat die Bewegung des Unendlichen gemacht, hat das Ethische suspendiert, „und doch schmeckt ihm die Endlichkeit ebensogut wie dem, der nie Höheres gekannt hat [...].“ (FZ, 40) Der Übergang von der Unendlichkeit zur Endlichkeit, vom Glauben ins Allgemeine und umgekehrt, der in der Suspension vor sich geht, wird von De Silentio einerseits als eine elegante Bewegung beschrieben, mit der der Ritter ins Allgemeine hinein­ und hinausgleitet wie ein „Tänzer“, kaum merklich und ohne dabei irgendwo an­ zustoßen. (ibid.) Die Bewegungen der Ritter des Glaubens zwischen dem All­ gemeinen und dem Glauben sind im Allgemeinen nicht sichtbar. Sie „machen die Bewegung aufwärts und gleiten wieder hernieder“ (ibid.), gleiten dabei so herab, „daß es in der gleichen Sekunde aussieht, als ob man stünde und ginge“; damit gelingt es den Glaubensrittern, „den Sprung ins Leben zum Gange [zu] wandeln“ (FZ, 41). Es ist, als ob man „stünde“ – als ob also die Zeit stillstünde oder nicht existierte, wie in der Ewigkeit – und zugleich „ginge“, als ob die irdi­ sche Zeit also ungestört und im selben Takt weiterliefe. Der Sprung wird zum Gang, der sich nahtlos und unsichtbar ins Allgemeine einfügt, obwohl sich in diesem Augenblick zwei inkommensurable Sphären gegenüberstehen. Die Be­ wegung des Glaubens beinhaltet eine Suspension des Ethischen, – diese wird jedoch nur mit Blick auf ein bestimmtes Problem suspendiert. Endpunkt der Bewegung ist stets die Rückkehr ins Allgemeine. Dabei wird vermieden, diese Suspension im Allgemeinen überhaupt sichtbar werden zu lassen. Ich komme auf diesen Aspekt der religiösen Wiederholung später zurück, um einen Ver­ gleich mit dem Verhältnis des jungen Menschen zum Allgemeinen anzustel­ len. Zunächst will ich zu einem weiteren Beispiel der auf Glauben basierenden Wiederholung übergehen: der Geschichte Hiobs, wie sie in der Wiederholung vom jungen Menschen besprochen wird. Auch Hiob muss die in Furcht und Zittern ausführlich dargestellte Suspension des Ethischen durchführen, um die unmögliche Wiederholung zu erhalten, wie sich zeigen wird. Zugleich führt er dabei jedoch Schuldfrage als Problem ein, die für den jungen Menschen wich­ tig wird. Gewissheit der Unmöglichkeit: Hiobs Wiederholung In den Briefen, die den zweiten und zentralen Teil der Wiederholung konsti­ tuieren, zeigt sich der junge Mensch mit seiner gescheiterten Beziehung zu dem Mädchen beschäftigt – insbesondere mit der Frage, ob er sich ihr ge­ genüber verschuldet habe oder nicht. Gleich im zweiten Brief beginnt er, die Geschichte von Hiob zu lesen, in der er Parallelen zu seinem eigenen Schicksal zu erkennen meint. Der junge Mensch beschäftigt sich in insgesamt vier von

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seinen acht Briefen mit Hiob, und stellt in den übrigen Briefen sein eigenes Schicksal angelehnt an Hiobsche Kategorien dar. Dessen religiöse Wiederho­ lung zeichnet der junge Mensch als Vergleichsmöglichkeit für seine eigene Aussicht auf eine Wiederholung nach. Nach eigenen Angaben liest er Hiobs Geschichte nicht „wie man sonst ein Buch liest“, sondern mit „des Herzens Auge“. (W, 74f.) Er liest heimlich, liest laut vor, schreit Hiobs Geschichte hinaus aus dem offenen Fenster, nimmt das Buch mit ins Bett, und halluziniert die Gestalt Hiobs im Dunkel seines Zimmers. (W, 75f.) Kurz, Hiob hat eine leiden­ schaftliche und persönliche Wirkung auf ihn. Die leidenschaftliche Bedeutung, die Hiob für den jungen Menschen hat, erklärt sich aus mehreren Gründen. Hiob ist, ähnlich wie Abraham, ein sehr frommer Mensch, den Gott selbst als einen seiner vorbildlichsten Knechte auf Erden bezeichnet. Doch auf Satans Zweifel daran, ob sich Hiobs Gottes­ furcht auch dann erhielte, wenn ihm der Reichtum an Besitz und Nachkom­ men genommen würde, erlaubt Gott ihm, Hiobs Glauben einer Prüfung zu unterziehen. Auf den Verlust seiner Güter und Kinder reagiert Hiob mit deren Freigabe, mit dem Loslassen vom Verlorenen. Der junge Mensch bewundert zunächst Hiobs Unerschütterlichkeit angesichts dieses Ereignisses; er zitiert dessen Worte in Reaktion auf die Nachricht von seinem Verlust: „Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen, der Name des Herrn sei gelobet.“ (W, 68) Hiob spricht seine Worte mit einer ähnlichen Selbstverständlichkeit, mit der man „Prosit sagt zu dem Niesenden,“ so meint der junge Mensch. (ibid.) Für den jungen Menschen ist diese Reaktion undenkbar, er befragt Hiob: Als das ganze Dasein über dir zusammenbrach und, Topfscherben gleich, rings um dich lag, hattest du da alsogleich die übermenschliche Fassung, hattest du alsogleich der Liebe Dolmetschung, des Vertrauens und des Glaubens Freimut? (W, 68) Hiob verlor alles, was er zuvor besaß, und dennoch verzweifelt er nicht. Und selbst als ihm zudem noch die eigene Gesundheit genommen wird, hält er an seinem Glauben fest. Hiobs Reaktion auf sein Unglück, das ihm scheinbar grundlos widerfährt, ist vom Standpunkt des Allgemeinen her nicht nach­ vollziehbar. Warum sollte ein gottesfürchtiger Mensch, der sich nichts hat zuschulden kommen lassen, in dieser Weise von Gott bestraft werden? Hiobs Freunde, ebenfalls gottestreu, aber fest in der Sphäre des Allgemeinen veran­ kert, wollen Hiob entsprechend davon überzeugen, dass er gesündigt haben müsse, um Gottes Zorn auf sich zu ziehen und in diesem Ausmaß von ihm bestraft zu werden. Die Position der Freunde ist auf einer verstandesmäßigen Kalkulation innerhalb des Allgemeinen gegründet: (a) Gott ist gut, und er

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würde keinen unschuldigen, gottesfürchtigen Menschen bestrafen. (b) Hiob wurde von Gott bestraft. Es folgt: (c) Hiob muss schuldig sein, auch wenn wir nicht wissen, inwiefern. Verständlich ist Hiobs Schicksal nur, wenn er schuldig ist, denn dann verdiente er seine Strafe. Und nur dann ist es möglich, umstandslos an (a) festzuhalten: eine Strafe muss immer Strafe für etwas sein, sonst ist sie keine Strafe, sondern z.B. Aggression oder Zerstörungswut; das wiederum ist mit der Güte Gottes nicht vereinbar. In den Augen seiner Freunde liegt Hiobs einzige Hoffnung also darin, seine Sünde zuzugeben und die Strafe anzuneh­ men. Hiob beharrt aber darauf, dass er nicht schuldig sei. Wenn allerdings Hiob tatsächlich unschuldig ist, und dennoch von Gott bestraft wird, müsste er entsprechend der Regeln des Allgemeinen an seinem Glauben zweifeln oder ihn gar aufgeben, denn Gott stellte sich dann als ungerecht und grausam he­ raus. Dies ist die Position von Hiobs Frau, die ihn in Anbetracht der Situation davon zu überzeugen versucht, vom Glauben abzulassen. Doch Hiobs Glaube ist so stark, dass er die paradoxe Spannung in sich aushält, zugleich an die ei­ gene Unschuld und an die Güte Gottes zu glauben. Hiobs Beharren auf seiner Unschuld ist „wie ein Passierschein, mit dem er die Welt und die Menschen verläßt“, ähnlich wie Abraham das Allgemei­ ne suspendiert. (W, 79) Anders ließe sich die Situation nicht aushalten. Hiob findet sich mit einer doppelten Unmöglichkeit konfrontiert – der Unmöglich­ keit, gleichzeitig unschuldig zu sein und am Glauben festzuhalten, und der Unmöglichkeit, das Verlorene wiederzuerhalten. Durch seinen Glauben an das Unmögliche findet er sich außerhalb des Allgemeinen wieder, und unfä­ hig, seine Position zu erklären. Hiobs Glaube ist insofern unübersetzbar, da er ähnlich Abraham einen nicht vermittelbaren Sprung aus dem Allgemeinen in den Glauben vollzogen hat.196 Er richtet seine Klage entsprechend direkt an Gott. Er gibt es auf, sich den Freunden zu erklären und seine Position nachvoll­ ziehbar zu machen, und insistiert: „bis daß mein Ende kommt, will ich nicht weichen von meiner Unschuld.“ (Hiob 27:5) Es ist Hiobs absolute Sicherheit, dass er entgegen aller Indikationen des Allgemeinen unschuldig sei, die den jungen Menschen tief beeindruckt, und zu der er seine eigene Schuldfrage in Beziehung setzen wird.

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Erst nachdem schließlich die Wiederholung eintritt, können auch Hiobs Freunde ihn verstehen. Ja, verstehen und sich seine Sicherheit bezüglich der eigenen Unschuld erklä­ ren kann Hiob sich möglicherweise selbst erst nachdem die Wiederholung eingetreten ist. Erst als Hiobs Beharren auf seiner Unschuld und seinem Glauben sich als berech­ tigt herausstellt, kann dies Beharren im Allgemeinen und Ethischen verstandesmäßig nachvollziehbar werden.

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Das Geheimnis an Hiob, die Lebenskraft, der Nerv, die Idee ist: daß Hiob trotz alledem recht hat. Kraft dieser Behauptung hat er das Ausnahme­ recht allen menschlichen Betrachtungen gegenüber, seine Ausdauer und Kraft beweisen die Vollmacht und die Bevollmächtigung. [...] Jedweder auf Menschen wirkende Beweisgrund (argumentum ad hominem) ist wi­ der ihn gebraucht worden; aber er hält zuversichtlich seine Überzeugung aufrecht. Er behauptet in gutem Einvernehmen zu sein mit dem Herrn, er weiß sich rein und unschuldig in seinem innersten Herzen, allwo er dies zugleich mit dem Herrn zusammen weiß, und doch widerlegt ihn das gesamte Dasein. (W, 77) Hiob hat ein Recht zu seiner Ausnahme, die sich in der „Ausdauer und Kraft“ beweist, mit der er trotz aller gegenteiligen Beweise der Wirklichkeit auf sein ungebrochenes Verhältnis zu Gott besteht. Und dieser Raum der Unmöglich­ keit und Undenkbarkeit ist es wiederum, in dem sich Hiobs Wiederholung ereignet, die ihm das Unmögliche bringt. Hiob erhält seine Kinder zurück, und alle weiteren Besitztümer sogar doppelt wieder. Er „ist gesegnet und hat alles zwiefältig wiederbekommen“, begeistert sich der junge Mensch, und betont: „Das nennt man eine Wiederholung.“ (W, 81) Er überlegt weiter: So gibt es denn also eine Wiederholung. Wann tritt sie ein? Ja in irgend­ einer menschlichen Sprache läßt sich das nicht gut sagen. Wann ist sie eingetreten für Hiob? Als alle denkbare menschliche Gewißheit und Wahrscheinlichkeit für die Unmöglichkeit sprach. Klein bei klein ver­ liert er alles; damit schwindet Stück um Stück die Hoffnung, indem die Wirklichkeit, gar weit davon milder zu werden, eher immer strengere Behauptungen wider ihn geltend macht. Unmittelbar gesprochen ist al­ les verloren. (W, 82) Wiederholung tritt genau dort auf, wo die menschliche Gewissheit und Wahr­ scheinlichkeit für deren absolute Unmöglichkeit spricht. Genau dann also, wenn jede Hoffnung, jede Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit geschwunden ist, wenn die Umstände immer entschiedener gegen eine Lösung sprechen und dennoch, wider alle Vernunft, Hiob am Glauben festhält. Anstatt sich also allmählich zum Guten zu wenden, scheint sich die Situation in ihrer Aus­ weglosigkeit nur zuzuspitzen. Wenn also „alles ins Stocken geraten ist, wenn der Gedanke stillsteht, wenn die Sprache verstummt, wenn die Erklärung verzweifelt umkehrt – so muß ein Gewitter her.“ (W, 82)197 Gott antwortet 197

Im Gewitter erscheint Gott Hiob, um ihm auf seine Klage zu antworten.

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Hiob bekanntlich in einem Gewitter. Dass also ein Gewitter her muss, um die Wiederholung zu ermöglichen, heißt, dass der paradoxale Stillstand, die Un­ entscheidbarkeit der Situation, die dennoch entschieden wurde, in der aber die Sprache verstummen muss, durch einen transzendenten Einbruch aufge­ löst werden muss. Unmittelbar ist alles verloren, und so kann die Lösung nur als transzendentes Ereignis erfolgen, also in einem Sprung aus dem oder Ein­ bruch ins Allgemeine. Der Wiederholung ging wie bei Abraham die Aufgabe des Verlorenen voraus (Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen...) und das Hadern mit der Schuld und Verantwortung für diesen Verlust, die von Hiob jedoch entschieden abgelehnt werden. Zugleich ist er sich bewusst, dass das gesamte Dasein gegen ihn wettet. Damit geht sein zeitweiliger Austritt aus dem Allgemeinen zusammen, bis schließlich Hiobs Situation aus transzen­ denter Position heraus gelöst wird. Die Wiederholung gründet hier also auf einer inneren Bewegung des Geistes und Gewissens, die mit einem transzen­ denten Ereignis zusammentrifft und aus deren Zusammentreffen heraus das zuvor absolut Unmögliche möglich wird. Ähnlich wie in Abrahams Fall han­ delt es sich also um eine Situation, in der Entschiedenheit und Handeln bis zu ihrem äußersten Punkt getrieben werden, um dann durch ein der Verfüg­ barkeit der Handelnden entzogenes Ereignis entschieden umgewendet bzw. bestätigt zu werden. Sowohl Abraham als auch Hiob können ihre Situation rational nicht erklären, aber halten an ihrem Glauben fest. Beide treffen ihre Entscheidung mit unendlicher Sicherheit in einer Situation, in der selbst eine tentative Entscheidung strenggenommen unmöglich ist. Hiob, dessen Schwei­ gen zwar sieben Tage währt, der sich dann aber den Freunden gegenüber doch zu seinem Schicksal äußert, findet sich im Gegensatz zu Abraham sogar unter direktem Druck des Allgemeinen, von seiner unmöglichen Position abzuwei­ chen und sich selbst als schuldig zu bekennen; ein Druck, dem er dennoch standhält. Geschwätziges Schweigen Hiob schwieg sieben Tage lang im Beisein seiner Freunde; Abraham schwieg auf dem gesamten Weg zum Berg Morija im Beisein Isaaks und einiger Knech­ te. In beiden Fällen kann dies Schweigen mit der Aussichtslosigkeit in Verbin­ dung gebracht werden, sich anderen innerhalb des Allgemeinen mitzutei­ len und zu erklären. Auch der junge Mensch schweigt in gewisser Hinsicht, doch nicht auf dieselbe Weise. Sein Konflikt war ihm, wie bereits Abraham und Hiob, innerhalb des Allgemeinen zu einem unentscheidbaren Paradox geworden. Seine Liebe für das Mädchen wird von Constantius als „gesund,

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rein, unverdorben“ beschrieben, als tief und ernsthaft. (W, 7) Doch kurz nach Beginn seiner Beziehung zu ihr manifestierte sich sein melancholischer Cha­ rakter: er war er dazu imstande, „sich seiner Liebe zu erinnern“ und damit bereits zu Beginn „im Grunde mit dem ganzen Verhältnis fertig.“ (W, 8) Seine sentimentale Liebe zu ihr konnte von ihm nicht in ein ethisches Verhältnis umgewandelt werden, d.h. in eine wirkliche zwischenmenschliche Beziehung (hier als Ehe verstanden). Hier kommt der Charakter des jungen Menschen als „Ästhetiker“ zum Tragen: in melancholisch­poetischer Überhöhung (er läuft ruhelos auf und ab, rezitiert Verse, ihm stehen Tränen in den Augen; vgl. W, 8) hat er sich die Geliebte zu einer Idee verewigt, an die er sich erinnern kann, zu einer Muse, die in ihm poetische Energie erweckt. Seine Liebe zu ihr hat­ te sich in eine poetische Liebe verwandelt, in der er sich stets nur nach ihr sehnte, sie ihm jedoch lästig wurde, wenn sie sich tatsächlich in seiner Gegen­ wart befand. (W, 10) Da er die Beziehung jedoch bereits begonnen und sehr um sie geworben hatte, so dass sie erwartet, das Verhältnis werde in einer Ehe münden, findet sich der junge Mensch in einer Situation, die innerhalb des Ethischen für ihn unlösbar ist. Er kann das Mädchen verlassen, womit er sie unglücklich machte. Oder er kann die Beziehung zu ihr fortführen, womit er sie ebenfalls unglücklich machte, da er ihr ein schlechter Partner und Ehe­ mann wäre. Da er sie trotz allem liebt – nur eben nicht auf eine Weise, die mit dem Ethischen kompatibel ist – kann er sich innerhalb des Ethischen für keine der beiden ihm verfügbaren Optionen (verlassen/heiraten) entscheiden. Anstatt nun wie Abraham oder Hiob eine Entscheidung zu treffen, indem das Ethische suspendiert und innerhalb des Ethischen geschwiegen wird, entzieht sich der junge Mensch der Entscheidung. Zugleich entzieht er sich des Plans, den Constantius für ihn entworfen hatte, und der mit einer List das Mädchen selbst dazu hatte bringen sollen, die Beziehung zu beenden, um so den jungen Menschen von der Entscheidung zu befreien. (W, 14f.) Er will sich also weder an ihrem Unglück schuldig machen, noch sich durch einen unmoralischen Plan aus seinem Konflikt befreien. Da er insofern dem Ethischen in gewisser Hinsicht verbunden bleibt, ohne sich in dieses einzufügen (oder einfügen zu können), schweigt er anders als Hiob oder Abraham – und schweigt nie ganz. Sein ‚Schweigen‘ besteht darin, keinen Dialog mit dem Allgemeinen ein­ zugehen, sich also dessen Urteil nicht stellen zu wollen, und doch seine Situation im Allgemeinen darlegen zu wollen. Aus seinem Exil, das ihm er­ laubt, sich einer Entscheidung sowie Constantius’ Plan zu entziehen, setzt er sich dennoch postalisch mit Constantius in Verbindung. Er schweigt also nicht wirklich, denn er schreibt an Constantius; aber was und wie er schreibt,

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drückt nur wieder die Notwendigkeit des Schweigens aus. Die Briefe an Constantius adressiert der junge Mensch an seinen „verschwiegenen Mitwis­ ser“, und einem Dialog entgeht er dadurch, dass er seine Adresse vorenthält. (W,  60,  66) Er hadert er mit der Schuldfrage und versucht vergebens, seine Position zu rechtfertigen, sorgt sich zudem, ob es dem Mädchen wohl gut gehe. Er beschäftigt sich also in den Briefen mit seinem Konflikt im Allgemei­ nen, und richtet sich mit Constantius an einen Vertreter des „kalten Regiment der Reflexion“ und somit des Allgemeinen. (W, 61) Seine Briefe unterzeichnet er zudem mehrfach mit „Ihr namenloser Freund“, und verwehrt sich an ei­ ner Stelle explizit gegen seinen eigenen Namen, von dem er meint, er gehöre eigentlich dem Mädchen – was als Verweis auf Hochzeitspläne gelesen werden kann. (W, 66) Seinen Namen steht insofern für seine missglückte Integration ins Allgemeine. Stattdessen möchte er, dass man ihn „Nummer 14 rufe wie einen der Burschen in der Zuchthausjacke.“ (W, 67) Mit den Menschen, de­ nen er in seinem Exil begegnet, redet er nach eigenen Angaben nicht; um aber „nicht alle Gemeinschaft mit ihnen abzubrechen“, hat er „einen Haufen Verse gesammelt, kernige Aussagen, Sprichwörter, kurze Sinnsprüche [...]“ (W, 74), die er bei Gelegenheit anbringen kann. Kierkegaard bezeichnet dies an anderer Stelle als „‚Schweigen‘ in Reflexion“, was bedeutet, „über alles mög­ liche andere“ zu reden – „denn sonst ist es ja auffällig und verdächtig, daß einer schweigt, und dann ist es ja nicht strenge, nicht unbedingte Schweigsamkeit.“ (T3, X 1 A 124) Ein Sprechen also, was das, wovon geschwiegen wird, verdeckt. Der junge Mensch verschweigt seine Adresse, verweigert den Dialog und sei­ nen eigenen Namen. Aber es wird bereits deutlich, dass er zugleich weder komplett schweigen, noch sich vollständig vom Allgemeinen verabschieden kann. Anstatt wie Abraham oder Hiob eine unmögliche Entscheidung zu treffen und sich damit vom Allgemeinen abzuwenden, entscheidet der junge Mensch sich vorerst gegen eine Entscheidung, und verharrt somit in einem Span­ nungsverhältnis zum Allgemeinen. Wo Hiob durch seine Freunde externem Druck ausgesetzt ist, sich mit seiner Schuld bzw. Unschuld zu beschäftigen, drängt den jungen Menschen sein eigenes Gewissen, sich mit dieser Frage auseinanderzusetzen. Alles, was in meinem Wesen enthalten ist, schreit auf in Widerspruch zu sich selbst. Wie ist es zugegangen, daß ich schuldig ward? Oder bin ich etwa nicht schuldig? Warum werd ich dann so genannt in allen Zungen? Was ist doch die menschliche Sprache für eine jämmerliche Erfindung, die das eine sagt und das andere meint? (W, 71)

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Wie Hiobs Freunde überzeugt von seiner Schuld waren, so weiß der junge Mensch, dass er sich vom ethisch­allgemeinen Standpunk betrachtet schuldig gemacht hat. Schließlich hat er das Mädchen sitzen gelassen, ohne ein Wort der Erklärung, und sein Versprechen ihr gegenüber nicht gehalten. Dennoch kommt der junge Mensch zu der Auffassung, wie Hiob sei auch er nicht schul­ dig. So führt er zunächst Cicero an, demzufolge Betrüger dadurch herauszufin­ den sind, dass man fragt, „wer hat den Vorteil“ – und der junge Mensch insistiert, er habe sicher keinen Vorteil dadurch, sich selbst und ein Mädchen unglücklich gemacht zu haben. (W, 71) Auch sei er nicht treulos: es sei doch dasselbe, ob nun das Mädchen fortführe, trotz gescheiterter Beziehung an ihrer Liebe zu ihm festzuhalten, oder ob er „fortfahre, allein sie lieben zu wollen“. „Wir tun ja beide das Gleiche, wieso werde ich also ein Betrüger, weil ich dadurch mei­ ne Treue zeige, daß ich betrüge? [...] [W]arum drückt man dies denn in der menschlichen Sprache dergestalt aus, daß sie treu ist, ich ein Betrüger?“ (W, 72) Er besteht darauf, er habe mit seinem Weggehen „gehandelt wie recht ist“, denn seine Liebe „lässt sich nicht ausdrücken in einer Ehe“, ohne damit dem Mäd­ chen unrecht zu tun. (ibid.) Nur gibt es für seine Treue und seine Unschuld kei­ ne Ausdrucksmöglichkeit im Allgemeinen. Wie Hiob, der seine Sicherheit im Inneren trug, sich aber nach Außen seinen Freunden nicht mitteilen konnte, und Abraham, der sich schweigend auf die Reise zum Berg Morija macht, kann auch der junge Mensch seine paradoxale Situation und die tentative Entschei­ dung, die er in der Schuldfrage trifft – „nicht schuldig“ – in der Sprache weder darstellen noch rechtfertigen. In all diesen Ausführungen fehlt ihm allerdings die Sicherheit, die Hiob und Abraham durch ihren Glauben erhalten. Anstatt Gott als Ursache seines Schicksals zu wissen, sieht der junge Mensch sich als Spielball einer sinnlosen Welt. Es ist nicht Gott, der ihn prüfen will, sondern die Welt, die mit ihm spielt „wie der Knabe mit einem Maikäfer“ (W, 73). Entsprechend überlegt der junge Mensch, dass seine Situation nicht als Resultat eines Tuns verstanden werden kann, für das er zur Verantwortung gezogen werden kann, sondern vielmehr als „Widerfahrnis“ verstanden wer­ den müsse, das ohne sein Zutun über ihn hereingebrochen ist. Ist mir nicht einfach etwas zugestoßen, ist das Ganze nicht eine Wider­ fahrnis? Hätte ich vorauswissen können, daß mein ganzes Wesen eine Veränderung erfahren würde, daß ich ein anderer Mensch werden wür­ de? Ist vielleicht etwas hervorgebrochen, was dunkel schon in meiner Seele lag? Jedoch, lag es im Dunkel, wie hätte ich es dann voraussehen sollen? Konnte ich es aber nicht voraussehn, so bin ich ja unschuldig. Falls ich einen Schlaganfall erlitten hätte, wäre ich dann auch schuldig gewesen? (W, 71f.)

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Er bezeichnet die Veränderung in seinem Charakter als Widerfahrnis, Schlag­ anfall, als ein drittes, „von dem niemand weiß, woher es gekommen“ und das ihn „mit einem Schlage berührte und [...] verwandelte“. (W, 73) Wenn aber das Geschehene wie ein „Schlaganfall“ über ihn gekommen ist, er also für die Si­ tuation strenggenommen nicht verantwortlich ist, sondern diese ein von ihm erlittenes „Widerfahrnis“ ist, wie könnte er dann schuldig sein? Wer handelt in diesem Falle, was heißt überhaupt noch handeln, und inwiefern kann der junge Mensch sich mit dem, was er getan (oder nicht getan) hat, verschuldet haben? Ohne Gott als letzte Ursache steht dem jungen Menschen im Gegensatz zu Hiob die Möglichkeit, seine Klage und Beteuerung seiner unausdrückbaren Unschuld an eine höhere Instanz zu richten, nicht offen. Weder war ihm die Wahl gegeben, Teil der Welt zu werden, noch hat diese Welt, in die der jun­ ge Mensch hineingeworfen wurde, eine höchste Autorität, an die Einsprüche über das Urteil der Welt gerichtet werden können. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

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Wie bin ich Teilhaber geworden in dem großen Unternehmen, das man Wirklichkeit nennt? [...] Und falls ich genötigt sein soll es zu sein, wer ist denn da der verantwortliche Leiter – ich habe eine Bemerkung zu machen –? Gibt es keinen verantwortlichen Leiter? An wen soll ich mich wenden mit meiner Klage? Das Dasein ist ja eine Diskussion, darf ich bitten, meine Betrachtung mit zur Verhandlung zu stellen? (W, 71) Das Dasein hatte bei Hiob mit Gott immerhin noch einen solchen „verantwort­ lichen Leiter“, an den er sich mit seiner Klage wenden konnte, als niemand ihn verstand. Dieser ist dem jungen Menschen aber abhandengekommen. Entsprechend ist die einzige Möglichkeit, die ihm bleibt, zu versuchen, seine Klage trotz aller Schwierigkeiten im Allgemeinen zu Gehör zu bringen und sei­ ne Unschuld darzulegen. Innerhalb der Sprache als Medium des Allgemeinen kann der junge Mensch, wie bereits dargestellt, seine Unschuld nicht recht­ fertigen. Entsprechend sucht er schließlich nach einem neuen Wort, mit dem sich auch im Allgemeinen seine Unschuld ausdrücken lassen könnte. Wo Hiob sich als unschuldig vor Gott sieht, und dessen Anerkennung fordert, sieht sich der junge Mensch als unschuldig vor dem Allgemeinen. Damit hat er auch die Suche nach dem „Leiter der Diskussion“ aufgegeben, und wendet sich statt­ dessen ans Allgemeine, von dem er nun eine Bestätigung seiner Unschuld fordert. Da ihm kein Leiter antwortet, lobt er stattdessen „öffentlich eine an­ gemessene Belohnung aus, falls einer ein neues Wort erfindet.“ (W, 73) Diese Suche nach einer Modifikation und Erweiterung der Sprache muss hier als Absicht verstanden werden, die Sphäre des Allgemeinen zu verändern, um als

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Klagen, Zaudern, Tun, Widerrufen

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derjenige, der er ist, in ihm Anerkennung finden zu können. Der junge Mensch braucht mindestens ein neues Wort im bisher verfügbaren Wortschatz, eine Alternative jenseits von „schuldig“ und „nicht schuldig“, damit er ins Allgemei­ ne integriert werden kann. Hier kündigt sich deutlich der fundamentale Unter­ schied zwischen Hiobs und Abrahams Konflikten und demjenigen des jungen Menschen an: der junge Mensch suspendiert das Ethische nicht, sondern setzt an, es zu verändern. Dieser Unterschied schlägt sich auch in der Weise nieder, in der er seine Wiederholung schließlich erhält.

Wie in der Auseinandersetzung mit seiner Schuld im vorherigen Abschnitt dargestellt, adressiert der junge Mensch seine Klage nicht an Gott, sondern an das Allgemeine. Ihm fehlt also die Aussicht auf eine religiöse Wiederholung.198 Zugleich stellt sein Konflikt eine Unmöglichkeit im Allgemeinen dar, und kann dort nicht gelöst werden. Wie ich in diesem Abschnitt herausstellen werde, schwankt der junge Mensch daher zwischen den Existenzsphären, ohne das Allgemeine dabei jemals zu verlassen, und erhält seine Wiederholung zuletzt unter Einbeziehung des Ästhetischen. Dabei ist es allerdings bezeichnend für den jungen Menschen, dass das Ästhetische stets nur ein Element seines Handelns darstellt, das immer im Dialog mit dem Allgemeinen/Ethischen ver­ bleibt und dort Anerkennung sucht. Er ist also kein Ästhetiker, der lediglich verschiedene Möglichkeiten in Betracht zieht, insofern sie ihm interessant scheinen, ohne dabei tatsächlich auf deren Aktualisierung hinzuwirken. Viel­ mehr versucht er mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln, die von ihm betrachteten Möglichkeiten einer Entscheidung und Integration innerhalb des Allgemeinen anzusteuern, auch wenn er weiß, dass diese für ihn Unmög­ lichkeiten darstellen und/oder nicht zur Lösung seines Konflikts taugen. Das Nachdenken über und verwerfen von verschiedenen Möglichkeiten stellt im Fall des jungen Menschen also keine Vermeidung seines Konflikts durch Rück­ zug ins Ästhetische dar, sondern eine Strategie, um Klarheit über seine Situa­ tion zu erhalten. Wiederholung im prägnanten Sinn ist Constantius zufolge „transzendent, eine religiöse Bewegung, kraft des Absurden, wenn man an die Grenze des Wunders gekommen ist“. (OB, 123) Auch der junge Mensch ist an die „Grenze

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Er überlegt, ob vielleicht auch ihm die Vorsehung zu Hilfe kommen könnte – aber das tut sie nicht. (W, 82)

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des Wunderbaren“ gekommen, d.h. dahin, wo sich seine Situation im Allge­ meinen unzweifelhaft als unmöglich herausgestellt hat. (W, 57) Was sich be­ reits früher als unmöglich gezeigt hatte (Ehe), ist heute in noch strengerem Sinne unmöglich (nachdem der junge Mensch sich wortlos ins Exil zurückge­ zogen hat) – die Wirklichkeit spricht noch entschiedener dagegen. Die Frage ist nun, ob und wie der junge Mensch auch ohne eine „religiöse Bewegung“ zu machen über diese Grenze hinauskommen und das Unmögliche „Kraft des Absurden“ erhalten kann. Wie oben dargestellt, verlässt der junge Mensch das Ethische zwar teilweise, doch niemals ganz. Er betrachtet seine eigene Situa­ tion immer mit Blick auf das Allgemeine und in der Absicht, dort Anerken­ nung zu finden, da ihm Gott als Adressat nicht zur Verfügung steht. Er hadert mit seiner Schuld, und obgleich er meint, nicht schuldig zu sein, erlangt er nie Gewissheit darüber. Diese Sicherheit gäbe es überhaupt nur, wenn er dazu in der Lage wäre, das Ethische im Glauben an Gott zu suspendieren. Das aber kann der junge Mensch nicht; er bewundert zwar Hiob ob seiner Sicherheit, aber er selbst kommt nicht aus dem Zweifel heraus. Dies zweifelnde Verhalten des jungen Menschen in seinem Exil wiederum lässt sich im Rahmen der Kierkegaardschen Existenzsphären als das eines Äs­ thetikers beschreiben. Während das Allgemeine uns dazu zwingt, Entschei­ dungen zu treffen und Verpflichtungen einzugehen, zieht sich ein Ästhetiker ins Spiel der Möglichkeiten zurück und entzieht sich so einer Entscheidung und ihren Konsequenzen.199 So weigert sich der junge Mensch sowohl, das Mädchen zu heiraten, wie auch, seine Beziehung zu ihr abzubrechen, ebenso wie er sich Constantius Plan entzieht. In seinem Exil, das ein Rückzug aus dem Allgemeinen ist, lehnt er Verantwortung für das Geschehene ab; er sieht sich als unschuldig am Unglück des Mädchens schuldig geworden; er richtet eine Klage ans Allgemeine; er sucht nach der Möglichkeit eines neuen Worts; er erwägt die Möglichkeit, Dichter zu werden, die er ablehnt; er überlegt, die Vor­ sehung für sich arbeiten lassen; und schließlich erwägt er, wie ich im Folgenden darstellen werde, die Möglichkeit, das Mädchen zurückzugewinnen und sich selbst in einen Ehemann umzuschaffen. (W, 83) Er durchläuft also zahlreiche Möglichkeiten, seine Situation zu verstehen oder in seiner Situation zu han­ deln, ohne eine davon entschlossen zu ergreifen. Während jedoch ein Ästhe­ tiker, wie er in Entweder/Oder beschrieben ist, ein solches Durchlaufen von Möglichkeiten einzig zur kalkulierten Maximierung des eigenen Genusses und ohne Rücksicht auf deren Konsequenzen durchführt, muss der Charakter des Ästhetischen im Falle des jungen Menschen anders beschrieben werden. Zwar „rotiert“ auch er, aber nicht in einer kalkulierten Weise; er fängt „von vorne“ an, 199

Vgl. John D. Caputo, How to read Kierkegaard, S. 25f.

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nur um sogleich wieder „von rückwärts“ anzufangen, und ist unablässig mit seinem Konflikt im Allgemeinen beschäftigt. (W, 66) Er beschreibt es als ei­ nen „Vorteil“, dass er „überall gleichgut abzubrechen vermag“, doch ist ihm dies nicht Mittel zur rücksichtslosen und eigennützigen Lustgewinnung, sondern Mittel zur Leidensvermeidung. (W, 68) Constantius Plan scheint ihm „kalt und folgerichtig“ wie es ein Plan ist, der auf einer „Wahrheit, als wäre die Welt tot“ beruht. (W, 63) Es ist in diesem Zusammenhang erwähnenswert, dass der Äs­ thetiker A in Entweder/Oder einen Plan entwickelt, der dem von Constantius ähnelt (E/O 1, 405ff.); Ästhetiker in einem solch kalkulierenden Sinne ist der junge Mensch nicht. Vielmehr kommt seinem Rückzug aus dem Allgemei­ nen zwecks Betrachtung von Möglichkeiten ein ehrlich suchender Charakter zu, der sich weigert, eine Möglichkeit zu wählen, die ihm nicht erlaubt, seine Position im Allgemeinen adäquat auszudrücken. In seinem vorletzten Brief schließlich wählt der junge Mensch doch eine Möglichkeit – seine Integrati­ on ins Allgemeine als Ehemann. Er verbleibt dabei allerdings nach wie vor im Bewusstsein darüber, dass diese Möglichkeit für ihn eigentlich unwählbar ist. Zuletzt erwägt der junge Mensch also, inspiriert von Hiob, auch für sich selbst eine Wiederholung. Diese versteht er als erneute Beziehung zu dem Mädchen. In der Wiederholung jedoch soll diese Beziehung erfolgreich in eine Ehe münden. Er sitzt und wartet, rührt sich nicht von der Stelle, bis er seine Unschuld oder Begnadigung erhält. Er wartet auf ein „Gewitter“, ähnlich dem­ jenigen, mit dem Hiob seine Wiederholung von Gott erhalten hatte. „Was soll dies Gewitter bewirken? Es soll mich dazu tauglich machen, Ehemann zu sein.“ (W,  83) Dazu müsste allerdings seine „ganze Persönlichkeit zerschmetter[t]“ werden, und zwar so gründlich, dass er sich selbst nicht wiedererkennen wür­ de, so betont er. (ibid.) Da ihm das aus eigenen Kräften nicht möglich ist, soll es kraft des Absurden geschehen, wie es bei Hiob der Fall war. Während er jedoch im Wissen darum, dass die Wiederholung seine eigenen Kapazitäten als Han­ delnder übersteigt, auf ein solches Gewitter wartet, tut er dennoch alles ihm nur mögliche, um bereits mit seiner unmöglichen Umformung zu einem geeig­ neten Ehemann zu beginnen – unmöglich, weil sie außerhalb seines prakti­ schen Vermögens als Subjekt liegt: Im übrigen tue ich alles, was in meiner Macht steht, um mich zum Ehe­ mann zu bilden. Ich sitze da und beschneide mich, entferne all das Un­ angemessene (Incommensurable), um maßgerecht (commensurabel) zu werden. Allmorgendlich tue ich meiner Seele ganze Ungeduld und unendliches Streben ab, es hilft nichts, im nächsten Augenblick sind sie wieder da. Allmorgendlich nehme ich den Bart aller meiner Lächerlich­ keiten ab, es hilft nichts, am nächsten Morgen ist mein Bart wieder genau

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so lang. Ich wiederrufe mich selbst, so wie die Bank ihre Noten aufruft, um neue in Umlauf zu setzen; es will nicht gelingen. Ich wechsle meinen ganzen Besitz an Ideen, meine Prioritäten um in eheliches Kleingeld – ach! ach! in dieser Münze schrumpft mein Reichtum zu gar wenig ein. (W, 84) Der junge Mensch hat sich an diesem Punkt der Handlung also auf eine Form, in der die Wiederholung sich manifestieren könnte, festgelegt; und so gut er eben kann, versucht er sie selbst herbeizuführen. Er wird das Mädchen wie­ dererhalten und diesmal heiraten; hierzu will er helfen, sich in einen Ehemann zu wandeln. Als jemand, der selbst keinen Glauben besitzt, kann der junge Mensch nicht einfach auf die Ankunft eines Gewitters vertrauen. So versucht er fortwährend, der Wiederholung Vorschub zu leisten, doch nur, um stets wie­ der festzustellen, dass all seine Versuche absolut ungenügend sind, und das, wonach es ihm verlangt, unmöglich ist. Er legt seine „Lächerlichkeiten“ und sein „Streben“ immer wieder ab, doch sie kehren stets wieder. In all seinen Ver­ suchen, sich zu einem Ehemann zu machen, bleibt er sich also stets über deren Unzulänglichkeit bewusst. Da er weder weiß, wie die Wiederholung herbeige­ führt werden kann, noch Glauben an eine höhere Instanz hat, müssen all seine Versuche vorläufig bleiben. Der Versuch einer Umbildung seines Charakters ist jeweils von Revision und Rückgang zur Ausgangsposition gekennzeichnet. Aus dem stets erneut suspendierten, dabei jedoch nie aufgegebenen Drang, eine Entscheidung zu treffen und Handeln zu können, folgt für den jungen Men­ schen die Erkundung aller Möglichkeiten, die als Handlungsziele zur Verfü­ gung stehen, ohne sich mit einer dieser Möglichkeiten zufriedenzugeben und den Konflikt im Allgemeinen für erledigt zu erklären. Der junge Mensch vermag es nicht, eine religiöse Bewegung zu vollziehen. Seine Seele weist Constantius zufolge einen „Anklang an das Religiöse“ (W, 95) auf, der durch Hiob noch angefacht wird. Dieser „Anklang“ kommt jedoch nie zum Durchbruch – weil er es nicht über sich bringt, den Bereich des Ethischen auf geradem Wege und ohne zurückzuschauen zu verlassen, so wie er auch schon vor dem vielleicht wirksamen, aber doch vom „kalten Regiment der Reflexion“ geprägten Plan Constantius zurückschreckte. In dessen Plan, wie auch in der Unerschütterlichkeit Hiobs, fehlt dem jungen Menschen das, was er als „menschlich“ bezeichnet: „biegsam und nachgiebig, verloren und sich verlierend“ zu sein, „Stimmungen“ und „Leidenschaften“ ausgeliefert. (W, 61) Seine Faszination für Hiob ist eine der Betrachtung und des versuchten Nach­ vollziehens, aber er kann Hiobs Bewegung nicht nachahmen: er ist zu schwach bzw. „menschlich“. (vgl. W, 96) Alles, was dem jungen Menschen übrigbleibt, ist, die Unmöglichkeit seiner Situation in einem Universum ohne Gott selber

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zu ertragen – d.h. ohne die durch den Glauben verliehene Festigkeit und Ent­ schlossenheit. Für ihn gibt es also keine Sicherheit, und darum kein Beenden des Zweifels. Ohne Glauben ist es dem jungen Menschen nicht möglich, Klar­ heit über die Entscheidung oder auch nur über sich selbst zu gewinnen, und damit gehen Schwäche und Zaudern einher, sowie das fortwährende Verwerfen der getroffenen Entscheidung (der damit eher der Charakter eines Probierens als einer festen Entscheidung zukommt). Wo Abraham eine Möglichkeit wählt und sich damit betend an Gott wendet, nimmt der junge Mensch eine Mög­ lichkeit und wendet sich damit zaudernd ans Allgemeine, dem allerdings ein verantwortlicher Diskussionsleiter fehlt. Er kann sich deshalb „niemals so recht darüber ins Klare kommen [...], was er getan hat [...].“ (W, 96) Mit Glauben an Gott hätte er eine „Vollmacht“ gehabt und sein Verständnis der Wiederholung wäre ihm „niemals zweideutig“ geworden. (ibid.) Stattdessen aber bezeichnet er sich selbst als schwach und meint, er „werde nie auf die Art stark und uner­ schrocken werden.“ (W, 63) Hier kann eine Bemerkung de Silentios in Furcht und Zittern aufgenommen werden, demzufolge ein Zauderer „geradezu eine Parodie auf den Glaubensritter“ ist. (FZ, 137) Was dort abwertend gemeint ist, lässt sich im Zusammenhang des jungen Menschen vielmehr als Einsicht in den Charakter seines Tuns formulieren: Als Parodie ahmt der junge Mensch Hiobs und Abrahams Entschlossenheit und Sicherheit nach, er wiederholt ihr Tun, um sich dann von beiden durch Modifikationen abzusetzen. Er trifft Ent­ scheidungen, nur um sie stets wieder zu verwerfen. Eben dies Zaudern jedoch stellt sich zuletzt als das spezifische Vermögen des jungen Menschen heraus, das ihm ermöglicht, die Wiederholung auf seine Weise zu erhalten. Wiederholen Ohne Gott Als der junge Mensch die Wiederholung schließlich erhält, tritt sie in der Tat ganz anders ein, als von ihm erwartet. Es ist nicht die Beziehung zu dem Mäd­ chen, die wiederholt wird, um sie dann erfolgreich in eine Ehe zu überführen. Das „Gewitter“, in dem das Allgemeine dem jungen Menschen antwortet und ihm seine Wiederholung bringt, kommt vielmehr in Form der Entscheidung des Mädchens, einen anderen Mann zu heiraten. Seine Reaktion auf diese Nachricht ist in Anbetracht seiner zuvor gefassten Entscheidung, Ehemann zu werden, zunächst befremdlich. Sie ist verheiratet; mit wem weiß ich nicht; denn als ich es im Blatte las, ward ich gleichsam vom Schlage gerührt und verlor die Zeitung, und habe seitdem nicht die Geduld gehabt, näher nachzuforschen. Ich bin

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wieder ich selbst; hier hab ich die Wiederholung; ich verstehe alles, und das Dasein erscheint mir schöner denn je. Es kam auch wie ein Gewit­ ter, wenn ich es auch ihrer Großmut zu danken habe, daß es eintrat. [...] Gibt es denn also nicht eine Wiederholung? Hab ich nicht alles zwiefältig empfangen? Hab ich nicht mich selbst zurückempfangen, gerade auf die Art, daß ich die Bedeutung davon zwiefältig empfinden mußte? Und was ist die Wiederholung von irdischem Gut, welche gegen die Bestimmung des Geistes gleichgiltig ist, im Vergleich mit einer solchen Wiederholung? (W, 88f.) Der junge Mensch hat also die Wiederholung auf eine Weise antizipiert und auf sie hingearbeitet, sie dann aber auf andere Weise erhalten. Anstatt die Be­ ziehung zu dem Mädchen zu wiederholen, erhält er sein „selbst“ zurück. Damit ist Constantius’ Einschätzung zuzustimmen, der meint, der junge Mensch „er­ klärt das Allgemeine als die Wiederholung, und versteht doch seinerseits die Wiederholung auf andere Art“, denn für ihn wird „die zweite Potenz seines Bewußtseins die Wiederholung.“ (W, 95) Sein Selbst in „zweiter Potenz“ wiede­ rum ist hier als seine Entwicklung zum Dichter zu verstehen. War er auch zu Beginn der Wiederholung schon in vieler Hinsicht Ästhetiker, so hatte er doch nichts zustande gebracht, nichts geschaffen: zunächst hatte er all seine Kreati­ vität auf das Mädchen konzentriert, und nach seinem Weggehen ins Exil war er zwar „rastlos und eifrig“, doch seine Arbeit blieb „fruchtlos“. (W, 67) Nach­ dem die Episode mit dem Mädchen und damit der missglückte Eintritt ins Ethische als Ehemann nun aber abgeschlossen ist, erhält er seine Existenz als Ästhetiker zurück: als Dichter, der endlich wirklich schöpferisch tätig ist. Inte­ ressant ist dabei nicht nur, dass er die Wiederholung anders als erwartet erhält, sondern dass es sich bei dieser ‚anderen‘ Wiederholung um eine Entwicklung handelt, die er zu einem vorherigen Zeitpunkt explizit abgelehnt hatte. (W, 73) Erst jetzt, nachdem das Mädchen einen anderen geheiratet hat und somit den bestehenden Konflikt gelöst hat, nimmt er diese Entwicklung mit geradezu rauschhaftem Enthusiasmus an. (W, 90) In Anbetracht eines so radikalen Kurswechsels stellt sich nun die Frage, ob es lediglich Zufall ist, dass der junge Mensch die Wiederholung in dieser Form erhält, bzw. ob es sich bei diesem Ereignis tatsächlich um eine Wiederholung handelt. Es könnte schließlich sein, dass die Nachricht des Mädchens nur eine willkommene Gelegenheit für den jungen Menschen darstellt, sich nicht ent­ scheiden zu müssen, nicht handeln zu müssen, und seinen Konflikt für erledigt zu erklären. Was in dieser Perspektive nicht berücksichtigt wird ist allerdings, dass das Ereignis, was dem jungen Menschen die Wiederholung bringt, nur möglich wird, weil der junge Mensch sowohl eine Entscheidung innerhalb

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des Allgemeinen als unmöglich abgelehnt hat, als auch sich weiterhin auf die Suche nach einer Lösung des Konflikts gemacht hat. Dass er sich geweigert hat, entweder das Mädchen zu heiraten, oder die Beziehung zu beenden, hat zu ei­ ner Situation geführt, in der sein Konflikt offengehalten wurde, anstatt diesen mit einer der zur Verfügung stehenden (jeweils unangemessenen) Möglichkei­ ten zu entscheiden. Und dass der junge Mensch sich weiterhin geweigert hat, sich entweder als schuldig, oder als unschuldig zu erklären, hat weiterhin dazu geführt, dass der junge Mensch sich auch nicht im Exil von seinem Konflikt abgewendet hat. Diese doppelte Suspension einer Entscheidung hat die Gelegenheit für das eintretende Ereignis geschaffen. Und der nie suspendierte Zweifel an seinem erklärten Ziel, Ehemann zu werden bzw. an dessen Eignung, seinen Konflikt im Allgemeinen zu lösen, hat ihn dazu befähigt, die Wiederholung schließlich auf andere Weise zu erhalten. Hätte der junge Mensch sich auf eine der als falsch erkannten Optionen mit Entschlossenheit festgelegt, ähnlich wie es Hiob und Abraham getan haben, so sähe die Situation anders aus. Hätte er auf der zuletzt anvisierten Form von Wiederholung insistiert – einer Wiederholung seiner Be­ ziehung – und sich fest für seine Umwandlung in einen Ehemann entschie­ den, dann hätte das Mädchen ihn möglicherweise zurückgenommen und das Ereignis wäre nicht eingetreten. Hätte sie allerdings dennoch während seines Fortseins einen anderen geheiratet, so hätte diese Nachricht dann eine ganz andere Reaktion bei ihm hervorrufen können. Die Nachricht von der Hochzeit des Mädchens hätte ihn so womöglich in die Verzweiflung getrieben, oder aber dazu gebracht, den neuen Mann an ihrer Seite loszuwerden zu versuchen – jedenfalls hätte er in diesem Falle mit der Nachricht keine Wiederholung erhalten. Das verdeutlicht, dass die Wiederholung, das möglich werden des Unmöglichen, in diesem Fall keine festgelegte Form hat. Die Hochzeit des Mädchens ist nicht an und für sich ‚die Wiederholung‘; dies Ereignis wird erst durch seine Deutung und Wahl als Wiederholung zur Wiederholung. Der Zweifel des jungen Menschen, die Weigerung bzw. Unfähigkeit, sich auf eine Entscheidung festzulegen, ist entscheidend dafür, dass er das eintref­ fende Ereignis in der Weise bejahen und zu seinem eigenen machen kann, in der er es hier tut. Ohne Zweifel und ohne verwerfen von zur Verfügung stehenden Möglichkeiten hätte er dies unerwartete Ereignis nicht als Wieder­ holung affirmieren können. Die Wiederholung des jungen Menschen basiert insofern auf einem bedingt­kontingenten Ereignis: zwar wurde es in dieser Form nicht handelnd angesteuert; allerdings wurde diesem Ereignis durch die Suspension einer vorzeitigen Entscheidung der Raum geschaffen, in dem es sich ereignen  und als Wiederholung durch den jungen Menschen ange­ nommen werden konnte. Da er sich über die Unzulänglichkeit seiner bisher

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formulierbaren Ziele und Absichten jederzeit im Klaren war – er bezeichnet sie selbst als „mäßig“ und als „Pfuscherei“ (W, 65) –, ohne deswegen entweder von einer geeigneten Alternative zu wissen, oder aber von seinem Vorhaben überhaupt abzulassen, hat er mit der Nachricht von der Verlobung des Mäd­ chens tatsächlich die Wiederholung erhalten, gerade weil dies Ereignis aus ei­ ner ganz anderen Richtung als erwartet kam. Er hat von seinem anvisierten Ziel, der wiederholten Beziehung, abgelassen, und stattdessen sich selbst in zweiter Potenz erhalten, indem er das eintretende Ereignis als die Wieder­ holung versteht. Er hat damit etwas erhalten, von dem er nicht wusste, dass er es wollte, das er aber doch unwissentlich gesucht hat und das sich als der entscheidende Sprung herausstellt, der die Befreiung aus seinem unlösbaren Konflikt ermöglicht. Die Wiederholung des jungen Menschen beruht also auf einem ständigen Wiederrufen der eigenen Position und in einem Schwanken zwischen den Existenzsphären; sie ist zwar keine Bewegung, die gänzlich un­ ter seiner Kontrolle steht, ist ihm deshalb jedoch nicht äußerlich oder zufällig. Sie ist weder reines Geschehen, noch eine durch die Intentionen eines Sub­ jekts kontrollierte Handlung. Diese Wiederholung ließe sich auch als ein Subjektivierungsprozess be­ schreiben, der im temporären Aussetzen der Handlung als Handlung eine andere Art Subjekt hervorbringt: ein Ich, das weder seine Handlungen und seine Zukunft kontrolliert, noch ihnen hilflos ausgesetzt ist. Zunächst hat der junge Mensch seine Handlung begonnen, ist ins Exil gegangen, ohne ein posi­ tiv umschreibbares Ziel zu haben. Seine Handlung war rein negativ motiviert: er lehnte es ab, eine falsche Entscheidung treffen zu müssen. Allmählich for­ muliert er dann eine positive Intention, doch seine Handlung führt nicht zum angestrebten Ergebnis, sondern zu einem neuen Ziel, was vorher für den jun­ gen Menschen noch nicht formulierbar war; damit aber wird seine Handlung im Verlauf ihrer Ausführung zu einer anderen Handlung. Diese „Handlung“ ist insofern zeitweise keinem Subjekt mehr unterstellt, das sie meistert und kon­ trolliert. Vielmehr konstituieren und modifizieren sich Handlung und Subjekt wechselseitig im Ereignis der Wiederholung. Mit Beginn der Handlung fällt das Subjekt in seinem „Zwiespalt“ auseinander (W, 89) – der junge Mensch wendet sich probeweise in verschiedene Richtungen und an verschiedene Möglichkeiten. Er wagt sich in Richtung einer bestimmten Handlung oder der Festlegung auf eine Entscheidung vor, nur um sogleich die eigene Wahl zu widerrufen und sich suchend in eine andere Richtung zu wenden. Aus der erkannten Menge von Möglichkeiten werden mehrere gewählt, probiert, doch stets wieder fallengelassen; das Ich teilt sich so in die Multiplizität der Subjekte auf, die die feste Wahl jeder dieser Möglichkeiten ergäbe, und schließt sich erst im Ereignis der Wiederholung wieder „in sich zusammen“, konstituiert sich

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erneut mit Abschluss der Handlung. (ibid.) Der junge Mensch kann so von seiner ursprünglich eingeschlagenen und zaudernd ausgesetzten Richtung ab­ weichen, und sagen: gut, dann werde ich eben Dichter.

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Die Ausnahme im Widerstreit mit dem Allgemeinen Es geht bei der Wiederholung um die Realisierung von etwas, das innerhalb des Allgemeinen, innerhalb des Bereichs menschlicher Möglichkeiten, eine Unmöglichkeit ist. Während Hiob alles genommen und er von Gott ver­ sucht wird – Gott lässt Hiob Schicksalsschläge erleben, um die Stärke seines Glaubens zu prüfen – gibt Abraham Isaak freiwillig auf und ist auf Gottes Auf­ forderung hin bereit, den über alles geliebten Sohn zu opfern. Dennoch glaubt Abraham daran, dass er Isaak nicht verlieren wird. Eine solche Überzeugung – er wird Isaak selbst töten und doch wird dieser nicht sterben – ist menschlich gesehen paradox und eine Unmöglichkeit; doch Abraham besteht die Prüfung und darf Isaak behalten. Hiob erhält alles, was ihm genommen wurde, doppelt zurück, da er an seinem paradoxen Glauben festhält, davon überzeugt ist, dass weder ihn selbst Schuld trifft, noch Gott ungerecht sei. Obwohl es unmöglich ist, erhalten sowohl Hiob als auch Abraham eine Wiederholung – sie erhalten das von Gott genommene bzw. ihm geopferte zurück, und dabei ihre Indivi­ dualität und ihren Glauben, in ‚zweiter Potenz‘, gestärkt durch die Wiederho­ lung. Abraham und Hiob glauben an Gott, und daran, dass das Unmögliche qua Gott dennoch geschehen kann. Die Wiederholung des jungen Menschen wiederum stellt sich anders dar. Er erhält nicht die zuvor aus eigenem Antrieb aufgegebene – d.h. verlassene – Geliebte zurück, sondern wird durch den end­ gültigen Verlust der Geliebten auf seine Eigenschaft als Dichter zurückgewor­ fen, und diese nun endlich voll entwickelt. Er wird, was er bereits ist und doch nie war: Dichter. Beide Wiederholungsbewegungen, die der Glaubensritter Abraham und Hiob sowie die des jungen Menschen, teilen grundlegende Gemeinsamkeiten. Alle drei handeln nicht im strengen Sinn teleologisch auf die Wiederholung als Ziel hin. Abraham und Hiob glauben zwar an die Wiederholung, aber sie handeln nicht auf deren Eintritt hin. Sie erhalten die Wiederholung. Dies geschieht zwar nicht unabhängig von ihren Handlungen, aber auch nicht als direktes Handlungsresultat. Die Wiederholung, das Unmögliche, steht als Handlungs­ ziel nicht zur Verfügung, sondern kann aus einer anderen Handlung heraus eintreten. Auch der junge Mensch erhält die Wiederholung nicht als direktes Handlungsresultat. Noch dazu erhält er sie im Gegensatz zu den Glaubens­ rittern nicht in der Form, in der er sie erwartet hatte. Unterscheiden lassen

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sich die Wiederholungsbewegungen von Abraham und dem jungen Menschen aber nicht nur nach ihrem Ergebnis, sondern vor allem nach den ihnen zu­ grundeliegenden Weisen des Verhaltens zur Unmöglichkeit: Einerseits dasje­ nige einer „eisernen Folgerichtigkeit“ und „Unerschütterlichkeit“ (W, 96), wie sie dem Glaubensritter und seiner religiösen Wiederholung eigen sind, und andererseits eine zweifelnde Zauderbewegung, wie sie sich in der Wiederho­ lung des jungen Menschen zeigt. Dieser Kontrast im Verhalten zur Unmöglichkeit wird in der Beschreibung von zwei Arten zu springen deutlich: Der junge Mensch vergleicht einen Schwimmer, „der es gewohnt ist, vom Mast eines Schiffs in die See zu sprin­ gen und sich in der Luft zu überschlagen, ehe er das Wasser erreicht“, mit jemandem, der stattdessen zur Treppe geht und zögerlich „erst das eine Bein ausstreckt, dann das andere, und alsdann sich plumpsen läßt.“ (W, 65) Wo die Bewegung des jungen Menschen selbst zu verorten ist, ist unverkennbar. Er ist kein Turmspringer, sondern ein Zauderer und Beckenrandplumpser. Aber im Wasser kommt auch er schließlich an. Dass er plumpst anstatt elegant zu springen, liegt an dem existenziellen Zweifel, der ihn plagt – daran, dass er den Sprung in den Glauben nicht zu vollziehen vermag. Der junge Mensch marschiert nicht mit Bestimmtheit auf die Wiederholung zu; er zweifelt, er hält inne und zaudert. Hand in Hand mit diesen zwei Verhaltensweisen geht ein Unterschied in der Weise, in der beide die Wasseroberfläche bei ihrem Ankommen stören. Während jemand, der sich ungeschickt plumpsen lässt, dabei unbeholfen Wasser aufspritzt und Wellen schlägt, taucht ein geübter Turmspringer mit nur minimaler Wellenerzeugung ins Wasser ein. Ein solch gekonnter Sprung erinnert an de Silentios Beschreibung der Bewegung des Glaubensritters in Furcht und Zittern: dieser springt so elegant, dass es ist, als stehe er zugleich. Seine Bewegung stellt keine Störung des Allgemeinen dar, ja, sie ist aus dessen Perspektive nicht einmal wahrnehmbar. Dies war de Silentios Bild dafür, dass die „teleologische Suspension des Ethischen“, selbst Voraussetzung für das Erhalten des Unmöglichen, mögliche Auseinanderset­ zungen verhindert. Die religiöse Bewegung der Wiederholung ist innerhalb des Allgemeinen nicht erkennbar, und vermeidet es so, jemals in eine Positi­ on der „Anfechtung“ zu gelangen. Das wiederum legt im Umkehrschluss nahe, dass der junge Mensch mit seiner zaudernden Plumpsbewegung einen eben solchen Aufruhr und Widerspruch im Allgemeinen erregt, wie er von dem Glaubensritter vermieden wird. Sowohl Abraham als auch der junge Mensch führen eine Bewegung durch, die im Allgemeinen ihren Ausgangspunkt und ihr Ziel hat. Beide stehen vor einer unmöglichen Wahl innerhalb des Ethischen, und trotzdem sollen sie eine Entscheidung treffen. Die Suspension des Ethischen führt Abraham

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durch, um seine Wahl treffen zu können und dabei unbemerkt zu bleiben, so dass er unbehelligt ins Allgemeine zurückkehren kann. Der junge Mensch jedoch wählt keine der Möglichkeiten, sondern wählt „einen anderen Weg“ (W, 64), ein Drittes, was ihm noch nicht wirklich zur Wahl steht – was es also allererst hervorzubringen gilt. Während Abraham unerschütterlich in seiner Wahl ist, ist der junge Mensch unerschütterlich in seiner Ablehnung der Wahl, ohne damit zunächst imstande zu sein, eine andere Wahl treffen zu können. Da der junge Mensch das Ethische nie suspendiert, muss er, mit de Silentio ge­ sprochen, in einer Position der Anfechtung stehen. Sein Konflikt zeichnet sich im Allgemeinen ab, und um sich qua Wahl dort einfügen zu können, muss eine Veränderung im Allgemeinen vor sich gehen. In diesem Sinne schlage ich hier vor, im Verhalten zum Allgemeinen die Suspension des Ethischen einer religiö­ sen Wiederholung von der Ausnahme aus dem Ethischen einer nicht­religiösen Ausnahme zu unterscheiden.200 Suspension und Ausnahme sind trotz ihres unterschiedlichen Verhältnisses zum Allgemeinen verwandt, und nehmen jeweils dieselbe systematische Funktion ein: sich der Ungeheuerlichkeit einer Situation stellen zu können, ohne durch das Allgemeine handlungsunfähig gemacht zu werden. Eine Ausnahme ist sich dessen bewusst, dass sie sich gegen das Allgemei­ ne richtet und ihm zuwiderläuft. Für sie existiert (noch) keine Regel, des­ halb gerät sie mit bestehenden Regeln in Konflikt. Sie hofft und drängt aber letztlich auf eine Bestätigung durch das Allgemeine, und ist damit sowohl vom Allgemeinen bestimmt und affiziert, wie sie es zugleich modifizieren muss. Constantius fasst das Verhältnis von Allgemeinem und Ausnahme wie folgt: 200

Constantius erklärt die Position des jungen Menschen im letzten Teil des Buchs als Ausnahme. Zwar beschreibt er dessen Ausnahmeposition an einer Stelle in Relation zu einer „eigentlich aristokratischen Ausnahme“, wie sie die religiöse Ausnahme darstel­ le, und subsumiert dort entsprechend auch Abraham und Hiob unter dem Begriff der Ausnahme. (W, 94) Allerdings lässt seine Beschreibung der Ausnahme keine Zweifel darüber, dass diese in einer Position der Anfechtung zum Ethischen steht (W, 93f.), ja dies ist das entscheidende Merkmal der Ausnahme, diese kann entsprechend für eine religiöse Bewegung nicht tauglich sein kann. Ich kann also nur vermuten, dass die Be­ schreibung einer solchen „eigentlich aristokratischen“ Ausnahme anders ausgefallen wäre, als sie das für die Dichter­Ausnahme tut – analog zur Suspension des Ethischen in Furcht und Zittern – und berufe mich daher in der hier gezogenen Unterscheidung auf den entscheidenden Unterschied im Verhalten zum Allgemeinen. Tatsächlich stellt Constantius später heraus, dass für eine religiöse Ausnahme die „eigentliche Wirklich­ keit“ unbedeutend wäre (W, 96), was meine Entscheidung stützt, die Beschreibung der Ausnahme in der Wiederholung als Beschreibung nur der nicht­religiösen Ausnahme zu lesen.

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Auf der einen Seite steht die Ausnahme, auf der anderen das Allgemeine, und der Kampf selbst ist ein wundersamer Widerstreit zwischen des All­ gemeinen Zorn und Ungeduld über all den Lärm, den die Ausnahme ver­ ursacht, und des Allgemeinen verliebte Vorliebe für die Ausnahme; denn das Allgemeine freut sich in allerletztem Betracht ebenso sehr über eine Ausnahme, wie der Himmel über einen Sünder, der Buße tut, vor neun­ undneunzig Gerechten. Auf der anderen Seite streiten der Ausnahme Aufsässigkeit und Trotz, ihre Schwachheit und Kränklichkeit. Das Ganze ist ein Zweikampf, in welchem das Allgemeine mit der Ausnahme sich entzweit, mit ihr im Streite sich mißt und sie stark macht durch diesen Zweikampf. Vermag die Ausnahme die Not nicht zu ertragen, so hilft ihr das Allgemeine nicht [...]. (W, 93)

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Allgemeines und Ausnahme stehen demzufolge in offener Anfechtung zu­ einander, befinden sich in einem „Kampf“ in dem sich das Allgemeine über den „Lärm“ erzürnt, den die Störung durch die Ausnahme verursacht. Die Ausnahme befindet sich zugleich in einer Position von „Aufsässigkeit“ und von „Schwachheit“, also in einer Position des Widerstandes gegen eine über­ mächtige Ordnung. Das Allgemeine verwehrt sich gegen die Ausnahme und versucht sie zu verhindern; das muss es auch, denn sonst verlöre es seine Eigenschaft, allgemein zu sein, d.h. eine Regel, der ausnahmslos alle Menschen unterworfen sind. Dennoch zieht das Allgemeine eine berechtigte Ausnahme einer widerspruchslosen Fügung ins Allgemeine vor. Berechtigt sind Ausnah­ men dann, wenn sie sich in einem komplizierten und langwierigen Prozess im Widerstreit mit dem Allgemeinen durchsetzen, indem sie in ihrer Position der Schwäche verharren. Eine unberechtigte Ausnahme hingegen ist daran zu erkennen, „daß sie von außen um das Allgemeine herumgeht“ (W, 93), dass sie sich also gewaltvoll oder durch List durchzusetzen versucht, ohne sich dabei dem Konflikt und Widerspruch im Allgemeinen zu stellen. Eine berechtigte Ausnahme muss sich mit dem Allgemeinen auseinander­ setzen, und muss selbst der „Wurzel des Allgemeinen“ entspringen, d.h. sich als ein Teil des Allgemeinen von diesem abwenden. (W, 93) Dafür muss diese Aus­ nahme die „Dialektik des Allgemeinen“ beherrschen und zum „Nachbilden der Bewegungen“ des Allgemeinen in der Lage sein – ein variierendes und modi­ fizierendes Nachbilden, denn sonst handelte es sich dabei nicht um eine Aus­ nahme, sondern um eine Replikation des Allgemeinen. (ibid.) Die Ausnahme „denkt, indem sie sich selber durchdenkt, zugleich das Allgemeine, sie wirkt, indem sie sich selber durchwirkt, für das Allgemeine, und sie erklärt das All­ gemeine, indem sie sich selber erklärt.“ (ibid.) Was immer die Ausnahme tut, tut sie also mit Blick auf das Allgemeine. Mehr noch: die Ausnahme denkt

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das Allgemeine „mit energischer Leidenschaft“ anstatt mit „gemütlicher Oberflächlichkeit“, wie es normalerweise der Fall ist. (W, 94) Mit gemütlicher Oberflächlichkeit allerdings lässt sich nichts wirklich denken – eine solche Gemütlichkeit deutet also vielmehr auf eine unhinterfragte und unkritische Hinnahme des Allgemeinen hin. Dass die Ausnahme das Allgemeine leiden­ schaftlich denkt, bedeutet wiederum, dass sie es wirklich durchdenkt – bis in die letzten Konsequenzen, bis ins Extrem. In diesem Sinne kann Constantius auch sagen, dass sich anhand einer berechtigten Ausnahme das Allgemeine am deutlichsten erkennen lässt. (W, 93) Damit kann die Ausnahmeposition als diejenige einer informierten Kritikerin verstanden werden, die eben aufgrund ihrer intensiven Beschäftigung mit dem Allgemeinen in Opposition zu diesem tritt und dessen Änderung verlangt. Constantius’ Ausführungen zum Verhältnis von Allgemeinem und Ausnah­ me sind damit aufschlussreich für die Frage, ob die Bewegung der Wiederho­ lung folgenreich für den Bereich des Allgemeinen sein kann. Eine religiöse Ausnahme, die auf einer teleologischen Suspension des Ethischen beruht, wird von de Silentio als im Allgemeinen nicht wahrnehmbar beschrieben. Ähnlich Constantius, der betont, dass der junge Mensch, wenn er „einen tieferen re­ ligiösen Hintergrund besessen“ hätte, ebenfalls „in sich selbst“ geruht hätte und die „eigentliche Wirklichkeit“ ihm „in tieferem Sinne [...] nichts nehmen und nichts geben“ würde. (W, 96) Die Wirklichkeit mit ihren „Kinderstreichen“ ist für eine religiöse Ausnahme irrelevant, und gerade aus dieser Irrelevanz speist sich ihre Sicherheit und „Folgerichtigkeit“. (ibid.) Wird die Ausnahme so gefasst, wie Constantius die Bewegung des jungen Menschen beschreibt, dann sieht die Beziehung zum Allgemeinen jedoch anders aus. Denn eine wirkliche, berechtigte Ausnahme wählt nicht einfach souverän und in Setzung „Kraft eines Gottesverhältnisses“ eine der sich anbietenden Möglichkeiten (ibid.), sondern verharrt in Anfechtung zum Allgemeinen, bis sie vom Allgemeinen als berechtigt bestätigt und freigesprochen wird, und sich so eine neue Mög­ lichkeit auftut. (W, 95) Einer berechtigten Ausnahme wohnt demnach Potential zur Veränderung des Allgemeinen inne. Eine Wiederholung, die auf einer Ausnahme beruht, bietet sich so als Modell für den Eintritt einer unerwarteten Veränderung im Allgemeinen an, wo eben noch existenzieller Zweifel und Verzweiflung an­ gesichts der Unmöglichkeit einer bestimmten Aufgabe herrschte. Zwar kann das Allgemeine durchaus ohne das Unmögliche und die aus der Konfronta­ tion mit der Unmöglichkeit entspringende Ausnahme existieren. Allerdings sind Veränderungen im starken Sinne ohne Ausnahmen kaum denkbar. Ohne die Ausnahme, die die Ordnung des Allgemeinen zeitweise außer Kraft setzt

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und damit zur Diskussion stellt, verbliebe das Allgemeine in einer rein im­ manenten, kontinuierlichen und gleichmäßigen Entwicklung seiner bereits vorhandenen Möglichkeitsräume. Aus Perspektive der religiösen Wiederho­ lung mag die Wiederholung des jungen Menschen also missglückt sein, weil er den Sprung in den Glauben und damit die gänzliche Suspension des Ethischen nicht zu tun vermag. Doch als Wiederholung, die auf einer Ausnahme beruht, kann die zaudernde Bewegung des jungen Menschen im Gegensatz zur religiö­ sen Wiederholung dafür ethisch­politische Implikationen haben. Dabei muss an dieser Stelle eingeräumt werden, dass im konkreten Beispiel des jungen Menschen nicht klar ist, ob und inwiefern seine Ausnahmeposition tatsächlich eine Veränderung im Allgemeinen hervorbringt. Zwar verlangt er vom Allgemeinen die Schaffung eines neuen Worts, verlangt also dessen Trans­ formation, um ihn als Ausnahme zu bestätigen und aufzunehmen. Wenn wir uns allerdings die Details seines letzten Briefs vor Augen führen, dann mag es zweifelhaft scheinen, dass sich tatsächlich viel geändert hat. Hat denn das All­ gemeine ein Drittes hervorgebracht, um dem jungen Menschen einen Platz zu schaffen, der seinen Bedürfnissen und Idiosynkrasien angemessen ist? Zwar geht der junge Mensch selbst eindeutig verändert aus dem Prozess hervor, doch es scheint nicht so, als habe sich etwa die Einstellung des Allgemeinen gegen­ über gültigen Formen der Liebe oder in einer Konzeption von Schuld viel geän­ dert. Was mir jedoch wichtig ist, ist herauszustellen, dass das Modell, was der junge Mensch uns als Ausnahme bietet, die zwischen dem Ästhetischen und dem Ethischen oszilliert, suggeriert, dass er im Gegensatz zu einer religiösen Ausnahme wohl in einer Position war, eine solche Änderung herbeizuführen. Insofern weist das Modell der Ausnahmen­Wiederholung über das von Kierke­ gaard formulierte, konkrete Beispiel des jungen Menschen hinaus. Von Kierkegaard zum Schluss Kierkegaard entwickelt die Wiederholung im emphatischen Sinne als Frei­ heitsbegriff. Die Wiederholung als Freiheit drückt bei ihm die Möglichkeit aus, das Unmögliche zu verwirklichen. Dies Unmögliche wiederum hat sich im Falle des jungen Menschen als etwas herausgestellt, was innerhalb des Allgemeinen nicht vorgesehen war, und aufgrund dessen Unverfügbarkeit der junge Mensch mit den Regeln des Allgemeinen in Konflikt geraten war. Insofern verlangt die Wiederholung auch bei Kierkegaard nach einer Ausei­ nandersetzung mit dem Allgemeinen. Während diese im Falle von religiösen Wiederholungen in einer temporären Aussetzung der Regeln des Allgemeinen

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besteht, hatte sich die ethisch­ästhetische Wiederholung des jungen Men­ schen als eine Ausnahmebewegung innerhalb des Allgemeinen herausgestellt. Eine solche Ausnahme wiederum verlangt nach einer Veränderung des Allge­ meinen, da neuen Möglichkeiten innerhalb des Allgemeinen hervorgebracht werden müssen. Die Situation des jungen Menschen ist dabei in mehrfacher Hinsicht prekär: sein Handlungsziel ist unbestimmt, und er kann sich mit der Frage „was tun“ an keine Autorität wenden; sein Handeln ist daher von einer fundamentalen Unsicherheit und Zweifel geprägt. Zudem findet er sich in ei­ ner Position der Ausnahme und des Widerstands gegenüber einem ungleich mächtigeren Gegenspieler, dem Allgemeinen. Anhand dieser Konstellation hat sich bei Kierkegaard deutlich gezeigt, was bei Nietzsche bereits angedeutet war: dass eiserne Entschlossenheit und das unnachgiebige Beharren auf einer einmal gefassten Entscheidung für eine nicht­religiöse Widerstandsbewegung kein geeigneter Modus ist. Im Gegenteil ist es der grundsätzliche Zweifel an jeder gewählten Entscheidung, jeder in Betracht gezogenen Möglichkeit, die es möglich macht, das Unmögliche schließlich zu erhalten – denn erhandeln kann man es nicht. Das Unmögliche ereignet sich zwar nicht unabhängig vom eigenen Handeln, und es muss als Ereignis noch im eigenen Handeln wie­ derholt werden, d.h. als das Unmögliche affirmiert werden, was die Lösung des Konflikts und Reintegration ins Allgemeine ermöglicht. Aber es ist kein Handlungsergebnis im strengen Sinne, also nichts, worauf sich meine Inten­ tion zu Beginn meines Tuns gerichtet hat und was ich dann planmäßig und aus eigenen Kräften hervorgebracht habe. In einer Hinsicht ist hier allerdings tatsächlich unnachgiebiges Beharren und Entschlossenheit gefordert: es muss darauf beharrt werden, dass der Konflikt offengehalten wird, bis sich eine an­ gemessene Lösung findet; dass weder vorschnell eingelenkt und entschieden wird, noch sich vom Konflikt abgewandt wird. Um nun von Kierkegaard zum Schluss dieses Buchs überzuleiten, will ich an dieser Stelle kurz skizzieren, wo ich besonderes Potential für eine produk­ tive Übersetzung der Handlungsweise des jungen Menschen in den Bereich des Politischen sehe. Grundlegend ist dies Potential in dem eben genannten Offenhalten eines Konflikts verankert. Diese Position ist zum Beispiel in Fäl­ len relevant, in denen keine Aussicht auf eine Lösung besteht, die durch Kon­ sens erreicht werden kann oder in der das bessere Argument alle Beteiligten zu überzeugen vermag; oder eben in Fällen, in denen es keine der Situation wirklich angemessene Lösung gibt. In solchen Fällen kann entweder aus ei­ ner Position der Macht souverän entschieden werden, oder aber der Konflikt offengehalten, sich in ihn vertieft werden, und damit eine vorzeitige Ent­ scheidung abgelehnt werden. Die erste Möglichkeit wird in Furcht und Zittern diskutiert: Abrahams „teleologische Suspension des Ethischen“ erlaubt ihm

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Sören Kierkegaard

dort, eine Entscheidung zu treffen, wo eine Entscheidung unmöglich ist. Im Bereich der Politik lässt sich Abrahams Position als eine „politische Suspensi­ on des Ethischen“ adaptieren, wie Žižek vorschlägt – eine Position, die er für notwendiges Element linker Politik hält.201 In dem von Žižek angeführte Bei­ spiel bezieht sich die politische Suspension des Ethischen auf die Beihilfe zum Mord an einem Nazi durch eine Familie, wodurch, so Žižek, die vormals ‚leere‘ Solidaritätsbekundung mit Opfern des Faschismus dieser Familie zur aktiven Wahl einer militanten politischen Position wird. Wenn man allerdings tatsäch­ lich Kierkegaards teleologische Suspension des Ethischen als ein Modell politi­ schen Handelns adaptieren will, ohne dabei die Eigenheiten von Kierkegaards Konzeption zu übergehen, dann ergeben sich hier mehrere Probleme. Zu­ nächst einmal scheint es wenig wünschenswert, eine politische Entscheidung allein auf Basis von Glauben zu entscheiden, wie in Furcht und Zittern nahe­ gelegt; insbesondere, wenn diese Entscheidung zugleich von großer Tragwei­ te ist und mit einiger Wahrscheinlichkeit negative Konsequenzen nach sich ziehen kann. Darüber hinaus darf strenggenommen – zumindest, wenn Kier­ kegaards Verständnis der teleologischen Suspension ernstgenommen wird – die so getroffene Entscheidung den Bereich des Allgemeinen nicht affizieren, und kann entsprechend keine Veränderung der Welt herbeiführen. Damit wäre die teleologische Suspension als Modell politischen Handelns entweder nicht wünschenswert, weil auf Glauben basierend, oder ungeeignet, weil ineffektiv. Jenseits aller Bedenken, die eine teleologische Suspension als Modell po­ litischen Handelns wenig wünschbar oder geeignet erscheinen lassen, lässt sich zudem anführen, dass ein solches Handeln ohnehin nur dann möglich ist, wenn Handelnde selbst eine Position der Macht innehaben, oder wenn sie sich auf die Macht Gottes verlassen können, der ihnen zur Hilfe kommt. Wer also weder eine Machtposition innehat und entsprechend keine Entschei­ dungsmacht hat, noch auf Gottes Macht vertrauen kann – oder wer schlicht keine Entscheidung treffen will, wo eine der Situation wirklich angemessene Entscheidung nicht zur Verfügung steht – muss nun entweder angesichts der resultierenden Unentscheidbarkeit und Aussichtslosigkeit einlenken und auf­ geben, oder aber aus einer Position der Marginalisierung dennoch darauf be­ harren, der Konflikt sei nicht erledigt. Wie politische Akteure, so ist auch der junge Mensch nicht souverän: beide sind von der ihnen vorgegebenen Ord­ nung abhängig, die sie nicht frei gewählt haben, sondern die ihnen vorgängig ist. Sie sind ein Teil dessen, wogegen sie sich auflehnen und was sie zu ändern ansetzen. Die Transformation der Handelnden selbst geht daher Hand in Hand 201

Slavoj Žižek, The Ticklish Subject, S. 223.

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mit der von ihnen unternommenen Änderung des Allgemeinen. Der junge Mensch ist, im Gegensatz zu Abraham, immer zugleich aus dem Allgemeinen ausgenommen und Teil des Allgemeinen. Da sein Konflikt von ihm offengehal­ ten wird, befinden er sich stets auf der Suche nach geeigneten Lösungen; wenn eine verfügbare Lösung gewählt wird, so ist diese Wahl jedoch stets temporär, da sich alle verfügbaren Lösungen als ungeeignet herausstellen, das Problem zu lösen. Durch das Festhalten am ursprünglichen Konflikt wiederum bleiben Handelnde ständig auf der Suche nach neuen Optionen, die sich aus ihrem Tun ergeben können. Die Entscheidung seiner Situation erfolgt in Antwort auf eine sich ereignende neue Handlungsoption, die nicht unter seiner Kontrolle steht. Dennoch ist diese Entscheidung kein Einlenken – weniger sogar, als dies bei Abraham der Fall ist, der nur zwischen den Optionen wählt, die ihm eben vorgegeben sind. Der junge Mensch wählt zwar auch eine ihm ‚vorgegebene‘ Option, aber bei dieser handelt es sich um eine neue, zuvor nicht verfügbare Option, der er in seinem Handeln – in der Entscheidung, nicht zu entscheiden – Raum zum Entstehen gegeben hat. So scheint das Handlungsmodell, das Kierkegaards junger Mensch suggeriert, insbesondere dazu geeignet, politi­ sches Handeln zu fassen, was auf tiefgreifende Änderungen abzielt, auf das Hervorbringen des Neuen, und was sich dabei zugleich in einer Position des Widerstands gegenüber einem ungleich mächtigeren Gegner befindet.202

202

Ich habe das politische Potential von Kierkegaards jungem Menschen in einem Aufsatz mit Bezugnahme auf bzw. in Abgrenzung von Carl Schmitt näher ausgeführt. Birte Lö­ schenkohl, „Occasional decisiveness: Exception, decision and resistance in Kierkegaard and Schmitt“.



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Karl Marx, Der Achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte

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Proletarische Revolutionen [...] kritisieren beständig sich selbst, unter­ brechen sich fortwährend in ihrem eigenen Lauf, kommen auf das schein­ bar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen, verhöhnen grausam­gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche, scheinen ihren Gegner nur niederzuwerfen, damit er neue Kräfte aus der Erde sauge und sich riesenhafter ihnen gegenüber wieder aufrichte, schrecken stets von neuem zurück vor der unbestimm­ ten Ungeheuerlichkeit ihrer eignen Zwecke, bis die Situation geschaffen ist, die jede Umkehr unmöglich macht, und die Verhältnisse selbst rufen: Hic Rhodus, hic salta! Hier ist die Rose, hier tanze!

Was man nicht erfliegen kann, muß man erhinken. ..................................................................... Die Schrift sagt, es ist keine Sünde zu hinken. Sigmund Freud, Jenseits des Lustprinzips

Dass ich Kampf sein muss und Werden und Zweck und der Zwecke Wi­ derspruch: ach, wer meinen Willen erräth, erräth wohl auch, auf welchen krummen Wegen er gehen muss! Was ich auch schaffe und wie ich’s auch liebe, – bald muss ich Gegner ihm sein und meiner Liebe: so will es mein Wille. Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra

Was ich getan, war recht mäßig, eine Pfuscherei. Lächeln Sie nur über mich. Wenn ein Schwimmer, der es gewohnt ist, vom Mast eines Schiffs in die See zu springen und sich in der Luft zu überschlagen, ehe er das Wasser erreicht, einen anderen auffordert, seinem Beispiel zu folgen, und dieser andre stattdessen zur Treppe geht, erst das eine Bein ausstreckt, dann das andre, und alsdann sich plumpsen läßt ­ so, ja, so braucht man mir nicht erst zu sagen, was der erste tut. Sören Kierkegaard, Die Wiederholung

F.

Das Tun der Wiederholung Schluss Da lacht der Mensch, denn er sagt: ‚Unmöglich! Es ist viel zu toll!‘ Gewiß!203

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Jean Paul, Vorschule der Ästhetik

Das Tun der Wiederholung, was zugleich ein Tun unter dem Einfluss der Wiederholung ist, hat sich in allen vier Kapiteln als eines dargestellt, das von nicht-souveränen Handelnden unter der Maßgabe einer als unveränderbar erfahrenen Welt unternommen wird, und was unter diesen Bedingungen dennoch eine Praxis der Befreiung oder der Freiheit hervorzubringen vermag. Abschließend will ich hier nun den Versuch unternehmen, einige Gemeinsamkeiten in den vier Autoren herauszustellen und so darüber nachzudenken, was diese Überlegungen zur Wiederholung zu einer Erweiterung unseres Handlungsverständnisses beizutragen vermögen. Dazu will ich zunächst einen Versuch der Systematisierung der unterschiedlichen Blickwinkel unternehmen, unter denen Wiederholung in den einzelnen Kapiteln behandelt wurde. Ich hatte in der Einleitung vorgeschlagen, die Wiederholung unter dem Doppelaspekt von beschränkenden und befreienden Eigenschaften zu betrachten: Jede Wiederholung hat das Potential, Neues hervorzubringen, genauso aber auch, Bestehendes zu festigen. Im Laufe der Lektüre hat sich herausgestellt, dass dies Potential in jeweils sehr unterschiedlichem Mischverhältnis vorliegt. Manche Wiederholungen scheinen Freiheit nur zu verunmöglichen, ohne dass nennbares Potential für Veränderung in ihnen erkennbar wäre, während andere sich als vornehmlich öffnende Wiederholungen herausgestellt haben. Die anfängliche Unterscheidung soll im Folgenden entsprechend weiter differenziert werden. So will ich hier vorschlagen, vier verschiedene Aspekte der Wiederholung bzw. vier Wiederholungstypen zu unterscheiden, die sich  – mit jeweils unterschiedlicher Gewichtung und Deutlichkeit – durch die Ausführungen von Marx, Freud, Nietzsche und Kierkegaard hindurchziehen. Diese „Wiederholungstypen“ sind zwar tatsächlich oft nicht klar voneinander zu trennen – sie gehen ineinander über, sind ineinander verschränkt, behindern und bedingen sich gegenseitig. Die künstliche Scheidung erlaubt allerdings, so hoffe ich, ihre Eigenarten wie auch die Weise 203

Jean Paul, Vorschule der Ästhetik, S. 132.

© Wilhelm Fink Verlag, 2018 | doi:10.30965/9783770560219_007

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Das Tun der Wiederholung

ihres Zusammenhangs klarer zu fassen, und Parallelen zwischen den Kapiteln herauszustellen. Anstatt daraufhin die Wiederholung als Schema weiter auszubauen und möglicherweise zu versuchen, sie in eine formale Handlungstheorie zu überführen, will ich im zweiten und letzten Abschnitt des Schlusskapitels vielmehr suggerieren, dass ein solches Unterfangen wenig fruchtbar wäre. Das tue ich, indem ich einige entscheidende, aber kaum systematisierbare Eigenschaften und Besonderheiten von öffnendem, befreiendem und freien Handeln herausstelle, die sich in den vier Kapiteln jeweils herauskristallisiert haben. Darstellungsformen, Bewegungsweisen, Gemütszustände, Affekte, Mitteilungsformen und Zeitlichkeit sind einige der Bereiche, auf die ich in diesem Zusammenhang eingehe. Die narrativen und dramatischen Darstellungsformen, die sich in den Überlegungen zum Handeln jeweils abgezeichnet haben, scheinen sich gegen Schematisierungen explizit zu verweigern. Es kann aber auch ganz generell die Komplexität der behandelten Praxisvollzüge angeführt werden, und die vielfältigen Aspekte und Blickwinkel, unter denen Marx, Freud, Nietzsche und Kierkegaard menschliches Handeln betrachten. Es scheint unvermeidlich, dass die Reichhaltigkeit dieser Überlegungen in einer schematischen Darstellung zumindest radikal reduziert werden muss; und es scheint mir, dass damit absolut entscheidende Eigenschaften dieses Tuns aus dem Blick geraten würden. In der Einsicht, dass sich die hier vorgestellten Überlegungen zum Handeln der strengen Schematisierung entziehen, deutet sich so eine übergreifende theoretische Folgerung an – dass nämlich der Darstellbarkeit von komplexen Handlungsvollzügen in Modellen möglicherweise generell Grenzen gesetzt sind. Wiederholung/en: Eine Typologie (W I) – Die Macht der Wiederholung. Die Macht der Wiederholung liegt in der Wiederholung der Macht. Ihre fortwährende Wiederholung lässt sie zur herrschenden Ordnung werden und unveränderlich scheinen. Michel Foucault hatte auf diesen Effekt hingewiesen, indem er die Umwandlung von Machtbeziehungen in Herrschaftsverhältnisse mittels ihrer steten Wiederholung beschrieben hat – im Ergebnis hatten sich diese Machtverhältnisse so verfestigt, dass sie nicht mehr einfach umkehrbar waren, sondern asymmetrisch und dominant. Als Macht der Wiederholung lassen sich in den vorausgegangenen Kapiteln jeweils Strukturen und Ordnungen bezeichnen, die Handlungsmöglichkeiten auf eine bestimmte Richtung hinlenken, also spezifische Handlungsweisen fordern und hervorbringen. Alternativ hierzu, oder zusätzlich, können

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Schluss

solche Ordnungen Handlungsmöglichkeiten beschränken, indem bestimmte Handlungen verboten, ausgeschlossen, bzw. mangels Aussicht auf Erfolg unwahrscheinlich oder unmöglich werden. Die Macht der Wiederholung kann in verschiedenen Ordnungen ausgemacht werden, die jeweils in unterschiedlicher Hinsicht Individuen und Gesellschaften reglementieren: Gesetze, Normen, Ökonomie, Tradition. Mit Freud lässt sich hier die psychische Ordnung anführen, die bestimmt, was der Verdrängung zum Opfer fällt, was wir also aus dem Bewusstsein unserer selbst ausschließen; hinzu kommt Geschichtsschreibung, die bei ihm analog zur psychischen Ordnung gedacht wird – als der Versuch, eine kohärente Erzählung menschlicher Entwicklung zu geben, indem bestimmte ‚Störfaktoren‘ aus ihr ausgeschlossen werden. Bei Nietzsche lässt sich die Festschreibung von Werten anführen – durch Moral und Kirche, durch den Staat und seine Gesetze –, die die Existenz des letzten Menschen befördern und die durch die Aussicht auf eine „ewige Wiederkunft“ noch durchdringender und bedrohlicher erscheinen. Und bei Kierkegaard kann auf das Allgemeine verwiesen werden; auch wenn es bei ihm selbst nicht unter dem Gesichtspunkt der Wiederholung dargestellt wird, so ist es doch eine Ordnung, die Handlungen reglementiert. In Marx’ Schriften kommt die Macht der Wiederholung vielleicht am eindrucksvollsten zur Geltung: sie kann dort vor allem in der Kapitalbewegung, aber auch in der herrschenden Geschichte, die wie ein Alp auf uns lastet, verortet werden. In seiner Darstellung befindet sich die Kapitalbewegung in einer selbstverewigenden und scheinbar selbsttätigen Wiederholungsbewegung. Mit der Hervorbringung von Regelmäßigkeiten und Automatismen scheint die Macht der Wiederholung teils so unausweichlich und allumspannend wie ein Naturgesetz. Ihr Abändern oder Durchbrechen wird so zur Unmöglichkeit für die Handelnden. Mit Marx lässt sich sagen, dass ein einzelner Handelnder, wenn er sich dem Zwang zur Wiederholung widersetzt und z.B. dem ‚Gesetz‘ der Kapitalbewegung nicht gehorcht, für diese Zuwiderhandlung zwar ‚nur‘ bestraft wird, etwa mit Bankrott infolge der Konkurrenz auf dem Weltmarkt. Der Versuch allerdings, den Gesamtprozess kapitalistischer Ökonomie zu verändern, erweist sich als Unmöglichkeit, aufgrund dessen „Ungeheuerlichkeit“ das wiederholte Scheitern aller entsprechenden Versuche unvermeidlich wird. Wo eine Ordnung die Wiederholung ihrer selbst vorgibt, da wird nicht gezögert und keine Entscheidung gefällt, sondern einfach den bestehenden Mustern wiederholter Handlungsvollzüge gemäß gehandelt. Was getan werden kann oder soll, ist für Handelnde immer schon entschieden, so dass sie diese Handlungsvollzüge nur noch wiederholen müssen. Die Macht der Wiederholung kann insofern zugleich als ein Mechanismus der Entscheidungsabnahme

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Das Tun der Wiederholung

verstanden werden, der einzelne davor bewahrt, selbst eine Wahl treffen zu müssen. Das Besondere an der Macht der Wiederholung ist darüber hinaus, dass sie sich nicht unbedingt durch eine explizite Anweisung zur Wiederholung konstituiert; die Wiederholung bestehender Handlungsvollzüge setzt oft sozusagen automatisch ein, ohne dass eine Aufforderung hierzu ergehen müsste. Von der Wiederholung des Kapitals geht eine Macht aus, die bestimmte Handlungen einfordert, oft ohne dies aussprechen zu müssen. Ein Handeln, was innerhalb eines solchen Zwangs zur Wiederholung agiert, ist immer normiert und reglementiert; Handlungen können hier mit Fug und Recht auch als Automatismus oder Gewohnheit beschrieben werden. Im Bereich des Politischen wird Handeln entsprechend auf die Verwaltung und ggf. Justierung des Bestehenden reduziert, insofern es sich innerhalb der vorgegebenen Ordnung bewegt. Die Macht der Wiederholung kann zudem dazu führen, dass Versuche befreienden Handelns in reaktionäres Handeln überführt werden. Das zeigt sich deutlich in Marx’ Darstellung der Wiederholungshandlung als Farce, wenn die Februarrevolution in den Staatsstreich Bonapartes mündet: Von der Tradition geht eine Macht aus, die dazu führen kann, dass das Alte in gespenstischer Form wiederkehrt, und sich die politische Entwicklung zwar in einen schnellen Strudel der Ereignisse geworfen sieht, dieser Strudel jedoch keine Veränderung hervorbringt, sondern im Gegenteil dazu führt, dass das Bestehende noch gefestigt wird. In der Macht der Wiederholung lässt sich allerdings auch bereits ein destabilisierendes Moment ausmachen: da bestehende Ordnungen der Wiederholung bedürfen, und da die Handelnden stets dazu angehalten sind, diese Ordnungen durch ihre Wiederholung wiedereinzusetzen und zu bestätigen, zeigt sich, dass solche Zwänge, Gesetze und Machtverhältnisse keineswegs in dem Maße stabil, unveränderbar und unabhängig von menschlichem Handeln sind, wie sie oft wahrgenommen werden. Die Ordnungen, von denen Wiederholungszwänge ausgehen, die sich scheinbar unbeeinflussbar selbst wiederholen, sind nicht statisch, sondern beweglich und damit veränderbar, von ihrem Verlauf ablenkbar; allerdings kann diese Beweglichkeit auch genau dazu führen, dass sie um so erfolgreicher darin sind, sich zu erhalten, da in dieser Beweglichkeit zugleich eine Fähigkeit zur Adaption an neue Erfordernisse liegt. In der Angewiesenheit darauf, wiederholt zu werden, liegt deshalb zwar das Potential, sie in etwas Anderes abzuwenden. Allerdings befinden sich Ordnungen und Herrschaftsverhältnisse deswegen keineswegs bereits in einem frei gestaltbaren Fluss der Differenzen. (W II) – Symptomatischer Wiederholungszwang. Während es sich bei (W  I) um einen Zwang dazu handelt, etwas Bestimmtes zu wiederholen – um die

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Schluss

Wiederholung und damit Stabilisierung von bestehenden Handlungsverläufen einer gegebenen Ordnung –, wiederholt sich in dem, was sich als symptomatischer Wiederholungszwang (W II) bezeichnen lässt, genau dasjenige, was in und durch (W I) ausgeschlossen ist. Es handelt sich dabei um Symptome von (verdrängten) Möglichkeiten und Konflikten, um Reste, die nicht in die Ordnung von (W I) integrierbar sind. Was durch eine bestimmte Ordnung ausgeschlossen ist, kann sich wiederum selbst – scheinbar selbsttätig, und ggf. wie in (W I) als Zwang wirkend – wiederholen und wiederauftauchen. Entsprechend bezeichnet der symptomatische Wiederholungszwang das Drängen des Unmöglichen oder Ausgeschlossenen in eine bestehende Ordnung hinein: Das Unmögliche ist das, was unter gegebenen Umständen nicht sein kann, das Ausgeschlossene das, was nicht sein darf, was in dem Versuch seiner Verwirklichung auf Widerstände stößt und dennoch unablässig diejenige Ordnung, die seine Verwirklichung verwehrt, zu zersetzen droht. Augenfälligstes Beispiel für diese Art der Wiederholung ist Freuds Konzept des Wiederholungszwangs, in dem etwas – ein Trauma, der verdrängte Mord am Urvater – sich als Symptom zeigt, ohne im eigentlichen Sinne sichtbar werden zu können. Es kann sich nicht zeigen, weil es sich nicht zeigen darf; es bleibt ein Fremder im eigenen Haus und eine Unmöglichkeit aus Perspektive von (W I). Als Symptom eines nicht Darstellbaren, Sagbaren, Repräsentierbaren, erzeugt der Wiederholungszwang Brüche und Leerstellen innerhalb derjenigen Ordnung, in die er nicht integriert werden kann. Bei Kierkegaard und Nietzsche lässt sich ein gewisses Leiden an der hervordrängenden Unmöglichkeit ausmachen. So wird Zarathustra von der Heimsuchung durch einen Gedanken, den er nicht aussprechen kann, der sich aber Gehör verschaffen will, in die Einsamkeit und schließlich in die Krankheit getrieben; er versucht, von ihm zu sprechen, und vermag es doch nur, zu flüstern. Mit Freud könnte man Zarathustra einer psychoanalytischen Behandlung unterziehen, und sein Stocken, Schweigen und Flüstern als Symptome von etwas lesen, was der Verdrängung aus der gegenwärtigen Ordnung zum Opfer gefallen ist. Kierkegaards ‚junger Mensch‘ leidet und verzweifelt an der Unmöglichkeit; seine Unfähigkeit, sie in etwas Mögliches zu überführen und auf ihre Verwirklichung hin handeln zu können, treibt ihn zu wiederholten missglückten und abgebrochenen Handlungsversuchen. Obschon der symptomatische Wiederholungszwang als ein versuchtes Durchbrechen der Macht der Wiederholung beschrieben werden kann, kann zugleich eine gewisse Nähe zwischen (W I) und (W II) ausgemacht werden. Auch der symptomatische Wiederholungszwang äußert sich als eine Wiederholung, die Handlungen bestimmt und sie im Extremfall zum Automatismus werden lässt. Vergleicht man die beiden Wiederholungstypen (W I) und

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Das Tun der Wiederholung

(W II) strukturell, so liegt der entscheidende Unterschied in der Position, aus der heraus jeweils Wiederholungen auftreten und als Zwang wirken: Bei (W I) geschieht dies aus der Position der Ordnung und der Macht heraus, bei (W II) aus derjenigen der Unmöglichkeit und Ohnmacht. Daraus folgt, dass erstere erhaltend, letztere potentiell zersetzend auf (W I) wirkt. Die Wiederholungen von (W I) sind zudem durch eine weitgehende Regelmäßigkeit ausgezeichnet, da sie – als herrschende Ordnung – nur selten unterbrochen oder gestört werden. Symptomatische Wiederholungen wiederum sind diskontinuierlich und plötzlich, da sie immer gegen ungleich mächtigere Ordnungen ankämpfen, die ihr Auftreten erschweren und verhindern. Als etwas von der Ordnung Ausgeschlossenes, als Unmögliches, kommt (W II) damit ein widerständiges Potential zu. So können in der symptomatischen Wiederholung beispielsweise missglückte Versuche, die Gesellschaft radikal umzugestalten, wiederauftauchen. Mit Blick auf Marx lässt sich hier auf den Kommunismus hinweisen, der von ihm an einer Stelle als „Gespenst“ bezeichnet wird, das Europa heimsucht. Als Gespenst bezeichnet der Kommunismus unsere Heimsuchung durch etwas, was weder ‚lebt‘ und insofern selbst Teil der Ordnung ist, noch ‚tot‘ ist, so dass seine Forderung nach einer Transformation gesellschaftlicher Ordnung ruhen. Allgemein ist damit, dass etwas durch (W I) unmöglich gemacht und ausgeschlossen wird, allerdings noch nichts über die Wünschbarkeit des Möglichwerdens und der Realisierung einer spezifischen Unmöglichkeit ausgesagt, die sich im Widerstand zu (W I) wiederholt. Es kann sich durchaus etwas als Symptom äußern, dessen Integration in die bestehende Ordnung und dessen transformative Wirkung auf diese Ordnung in keinem Fall als wünschenswert erscheinen kann. (W III) – Wiederholung der Wiederholung. Als eine Wiederholung, in der sich das Unmögliche gegenüber der es ausschließenden Ordnung in Stellung zu bringen versucht, stellt (W II) zugleich eine Verbindung zwischen der sich selbst wiederholenden Ordnung (WI) und den im Folgenden beschriebenen Handlungsweisen dar (W III und IV), die (W I) potentiell zu unterlaufen und auszusetzen vermögen. Bei den beiden letzten Wiederholungstypen handelt es sich um zwei (eng miteinander verschränkte und teilweise nicht trennbare) Handlungsvollzüge, die Vorschläge dazu sind, wie dem Problem des Verlusts von Handlungsperspektiven in einer Welt, deren Veränderbarkeit und Verfügbarkeit nicht mehr als gegeben angenommen werden darf, begegnet werden kann. Wenn es keine andere Möglichkeit gibt, als zu wiederholen, wenn also der direkte Weg in Richtung auf das Neue nicht offensteht und das Durchbrechen von freiheitsbeschränkenden Wiederholungen unmöglich erscheint, dann besteht die einzig gangbare Option zunächst darin, sich der

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Macht der Wiederholung nicht entgegenzustellen (denn das hat sich als aussichtslos herausgestellt), sondern sie anders zu wiederholen. Es handelt sich bei (W III) um eine Wiederholung, die die Macht von (W I) zunächst nur zu modifizieren und verschieben, aber nicht auszusetzen vermag. Wenn von der Macht der Wiederholung bestimmte Handlungsweisen vorgegeben sind und andere wiederum unmöglich gemacht werden, so lassen diese sich mit Strategien der wiederholenden Parodie und ironischen Überbietung in befreiende Handlungen umwenden: als Abstoßbewegungen vom Gegebenen. Wo eine offene Opposition, das Entgegenstellen gegen eine übermächtige Wiederkunftsbewegung, die sich selbst perpetuiert, wenig aussichtsreich oder schlicht unmöglich erscheint, kann der Zwang zur Wiederholung durch exzessive Affirmation und parodierende Verdoppelung irritiert, abgelenkt und unterlaufen werden. Dass eine solche Handlung hier als ironisch oder parodierend beschrieben wird, heißt dabei keineswegs, dass sie unernst oder nur ‚im Spaß‘ unternommen wird. Es bedeutet vielmehr, dass in die Wiederholung von (W I) eine Distanznahme eingelassen ist, die kritischen Abstand zum eigenen Handeln ermöglicht. Mit einem solchen Abstand wiederum kann das Ergebnis der Wiederholung der Wiederholung, wo sie verfehlt oder halb gelingt, im Nachhinein im Rahmen einer Selbstkritik von Handelnden durchaus verspottet werden. Doch um eine solche Handlung überhaupt zu beginnen, muss sie zunächst ernsthaft gewollt werden und ihr Anlass als gewichtig erkannt werden. Das Moment der Affirmation der Macht der Wiederholung bzw. der „ewigen Wiederkunft des Gleichen“ stand bei Nietzsche im Mittelpunkt; mit dieser Affirmation, dem wiederholenden ‚So war es? Nun gut, dann habe ich es auch so gewollt‘ wird einerseits ironisch die Unmöglichkeit der Veränderung herausgestellt, indem nachträglich ein Wille zum bereits Geschehenen geäußert wird – zu dem also, was sicherlich nicht mehr verändert werden kann. Zugleich aber wird mit dem antizipierten eigenen Scheitern der Blick auf Umwege und Zufälle geöffnet, die ihrerseits eine Perspektive des Schaffens von Neuem eröffnen können. Deutlich ist das wiederholende Distanzieren von den handlungsbestimmenden Wiederholungszwängen auch bei Freud mit Bezug auf die analytische Situation beschrieben. Hier fallen (W II) und (W III) zunächst zusammen: Der Wiederholungszwang ist Symptom des Unmöglichen, durch das eine spezifische Handlung, das Ausagieren, sich zwanghaft einsetzt. Findet dies Ausagieren allerdings im Rahmen der Analyse statt, so verliert es als Handlung zwar nicht seine Zwanghaftigkeit. Aber wenn die analytische Bearbeitung des Wiederholungszwangs gelingt, dann vermag mit der Übertragung eine immanente Distanznahme in die Wiederholung eingespeist werden: Durch die Verfremdung, die die Übertragung bedeutet, aber auch die

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Das Tun der Wiederholung

‚theatralische‘ Situation der Analyse. Der parodierende Aspekt kommt bei Freud nicht intentional, sondern durch eine spezifische Konstellation zustande, die im Durchgang durch die Wiederholung eine wiederholende Verschiebung ermöglicht. Bei Marx tritt im Achtzehnten Brumaire das Moment der Kritik, das der parodierenden Wiederholung zugrunde liegt, in den Vordergrund: Die soziale Revolution nimmt die Übermacht ihres Gegners und ihre eigene Unzulänglichkeit, das Unvermögen der eigenen Handlungen kritisch zur Kenntnis. Aus dieser Kritik folgt keinesfalls die Aufgabe ihres Vorhabens, sondern ein wiederholter Abbruch des bereits Erreichten, mit dem die eigene Unzulänglichkeit verspottet wird. Diese Unzulänglichkeit misst sich an der kritischen Analyse dessen, wogegen wiederholend Widerstand geleistet wird, und an der Unmöglichkeit, den Zwang zur Wiederholung von (W I) auszusetzen. Dieselbe Bewegung ist in der lachenden Reaktion auf die eigenen, stets missglückten Versuche bei Nietzsche zu sehen. Der Rückgang in Selbst-Wiederholungen schließt so die Kritik an der eigenen Handlung mit ein, und lässt die Bewegung zu einem wiederholten Vor und Zurück, einem wiederholten Vorstoß, Zaudern und Rückgang werden. Eine ähnlich zaudernde Bewegung hatte sich wiederum als Grundlage für die Abkehr vom Allgemeinen und die Wiederholung des Unmöglichen durch den ‚jungen Menschen‘ bei Kierkegaard erwiesen. Während der Glaubensritter sein Ziel auf geradem Weg ansteuert, wiederholt der junge Mensch, als „Parodie auf den Glaubensritter“, dessen Konsequenz und absolute Entschlossenheit zu einer bestimmten Handlung, mit der er im Vertrauen auf Gott die Wiederholung erwarten, und läuft in eine Richtung vor. Der junge Mensch tut das aber im Zweifel, und nur um stets von neuem jeden eingeschlagenen Weg abzubrechen und auszusetzen. Die Wiederholung der Wiederholung, die Wiederholung von Handlungsmöglichkeiten also, die im Rahmen der durch die Macht der Wiederholung auferlegten Beschränkungen vorgesehen sind, steht selbst als Handlungsmöglichkeit zur Verfügung. Sie ist Teil des Möglichkeitsbereichs Handelnder, sie kann intentional ergriffen werden und Zweck einer Handlung sein. Allerdings kann sie (W I) nur verschieben, nicht aber das Neue hervorbringen. Als Wiederholung, die klar eine Differenz markiert, die einen Überschuss produziert, eine Lücke zwischen Aufführung und Aufgeführtem, zwischen dem Gesetz der Wiederholung und der Unmöglichkeit, kann sich aus dieser Wiederholung des Zwangs von (W I), die zunächst nicht viel mehr zu sein scheint als eine Perpetuierung des Gegebenen und ein wiederholtes Scheitern, eine Verschiebung in dieser Ordnung ergeben. Die Wiederholung des Zwangs und dessen Verschiebungen führen nicht zu einer kontinuierlichen Entwicklung durch graduelle Verschiebung aus dem Zwang zur Wiederholung heraus. Aber solche

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Wiederholungen können eine Grundlage für den folgenden Sprung in die Unmöglichkeit erwirken – und durch ihr kritisches Potential dafür sorgen, dass in die ‚richtige Richtung‘ gesprungen wird. (W IV ) – Wiederholung des Unmöglichen. Aus der Wiederholung der Wiederholung (W III) heraus kann sich eine ‚Handlung‘ ergeben, die das Unmögliche erwirkt; in diesem Prozess suspendiert sich eine solche Handlung selbst zeitweise als Handlung. Die Wiederholung des Unmöglichen ist der wahrscheinlich dunkelste Aspekt der Wiederholung. Er ist allerdings auch derjenige, der eine Ordnung fundamental verändern und das Neue hervorbringen kann. Die Wiederholung der Wiederholung (W III) bezieht sich in ihrer Praxis auf Möglichkeiten, die gegeben sind – mit dem Wissen, dass die zur Verfügung stehende Handlungsmöglichkeiten beschränkt und nicht die eigentlich gewollten sind und eben deshalb ironisch oder parodistisch gebrochen werden müssen. Sie verfügt aber über kein Wissen darum, was genau das eigentlich Gewollte ist. Handelnde mögen also etwas (unbestimmtes oder unterbestimmtes) anderes wollen, da sie aber nicht auf dies Andere hin handeln können, wiederholen sie die sie beschränkenden Wiederholungen. Wiederholungen, die sich auf Möglichkeiten beziehen, die der Aktualisierung zur Verfügung stehen, können über Parodie und Ironie zwar Verschiebungen und Modifikationen einer bestimmten Ordnung zeitigen – und das ist nicht wenig –, sie verbleiben aber dennoch im Zusammenhang der bestehenden Ordnung, indem sie gegebene Handlungsmöglichkeiten wiederholen, um sich von ihnen abzuwenden. Die Wiederholung des Unmöglichen ist keine Alternative zu (W III), sondern eine Praxis, die sich aus den von (W III) hervorgerufenen Verschiebungen heraus ereignen kann. Die Wiederholung der Unmöglichkeit wiederholt im Gegensatz zu (W III) nicht etwas Konkretes – eine vorgegebene Handlungsweise – sondern etwas, was kein Ziel für eine Handlung sein kann, da es eben keine Möglichkeit darstellt, die sich mit einer Handlung aktualisieren ließe. Die Unmöglichkeit ist nicht Teil des „Anders-sein-könnens“, der zur Wahl stehenden Zwecke. Es ist allerdings so, dass die Unmöglichkeit mit einem Zeitkern versehen ist. Was heute unmöglich ist, kann, muss aber nicht, morgen eine Möglichkeit sein – oder bereits in einer Stunde, insofern etwas Unvorhergesehenes (aber Mögliches) eintritt und die Voraussetzungen des Spiels ändert, so dass auch das eben noch Unmögliche möglich und damit realisierbar werden kann. Eine solche Änderung kann durch die Wiederholung einer Wiederholung erwirkt werden. Um es noch einmal deutlich zu sagen, das bedeutet nicht, dass die Unmöglichkeit im strengen Sinne keine Unmöglichkeit war, sondern bloß eine Möglichkeit, die verstellt, nicht sichtbar, nicht erkennbar darauf gewartet hat,

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als dem Möglichkeitsbereich zugehörige endlich ergriffen zu werden. Die Unmöglichkeit ist zu dem Zeitpunkt, wo sie Unmöglichkeit ist, tatsächlich nicht dem Möglichkeitsbereich zugehörig und also nichts, was Ziel einer Handlung sein könnte. Sie ist zwar nicht a priori unmöglich, wohl aber in einer gegebenen Situation bzw. unter den gegebenen Umständen. Sie kann deshalb kein Handlungszweck sein. Damit wird auch die Handlung in einer solchen Wiederholung, so sie sich ereignet, strenggenommen zu etwas anderem als einer Handlung. Durch die Parodie und Verdoppelung von (W III) wird für die Unmöglichkeit ein Spalt geschaffen, über den sie sich einschleichen kann. Sie ereignet sich zunächst scheinbar ‚von selbst‘: Bei Kierkegaard ist es die Heirat des Mädchens, die das Unmögliche bringt, bei Marx machen die Verhältnisse selbst die Umkehr unmöglich, bei Nietzsche ist es das Neue, was sich ‚von Selbst‘ aus dem Schaffen heraus ergibt. Dennoch muss das, was sich ereignet, erst noch ergriffen, affirmiert, und damit in den bisherigen – gescheiterten – Handlungsverlauf eingespeist werden. Kierkegaards ‚junger Mensch‘ muss das Eintreten der Heirat in seine vorherigen, gescheiterten und ausgesetzten Wiederholungen integrieren, und sie als dasjenige nehmen, was er gewollt hatte. Er muss also von seinem ehemaligen Ziel ablassen. Nur so kann es ihm gelingen, die Unmöglichkeit zu erhalten: nicht im Wiedererlangen des Mädchens, sondern in der Wiederholung seiner eigenen Persönlichkeit in zweiter Potenz. Auch Marx’ Revolutionäre müssen im entscheidenden Augenblick noch springen, d.h. sich in einer unkontrollierten Bewegung affirmativ auf die sich nun anbietende Unmöglichkeit beziehen, und Zarathustra muss den Zufall, der sich aus seinen verfehlten Schaffensversuchen ergibt, als seinen eigenen, ‚gewollten‘ Zufall anerkennen. Aus dem wiederholten Verfehlen des Versuchs, sich mithilfe der Wiederholung der Wiederholung (WIII) aus der Macht der Wiederholung (WI) zu befreien, die zum Verspotten der eigenen Unzulänglichkeit führen, kann sich eine Verschiebung innerhalb der Ordnung von (WI) ergeben, aus der heraus sich wiederum eine Unmöglichkeit zur Verwirklichung anbieten kann. Der ‚Zufall‘, mit dem sich die Unmöglichkeit dann zeigt, besteht nicht in dem zufälligen Eintreten einer vorher nicht erkannten oder missachteten Möglichkeit, sondern im Möglichwerden einer Unmöglichkeit, die im Umschlagsmoment dieser Bewegung – und erst dann – gewählt und aktualisiert werden kann. Die Unmöglichkeit ist somit nur bedingt zufällig. Bedingt, weil sie sich aus einem Wiederholen der Wiederholung (W III), einer kritischen Abstoßbewegung von etwas Bestehendem ergibt, und weil sie vor dem Hintergrund von dessen Verfehlung gewählt wird. Die Unmöglichkeit ereignet sich im verwerfenden Durchlauf, im Verfehlen von gegebenen Möglichkeiten, ohne

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damit Handlungsergebnis im strengen Sinne zu sein. Damit wird die Handlung in ihrem Verlauf zu einer im starken Sinne freien Handlung: ein Tun, was aus jedem Vorher und Nachher ausgenommen ist. Als eine solche setzt sie sich selbst als Handlung im eigentlichen Sinne aus, die ja immer aus Voraussetzungen heraus und in bestehende Zusammenhänge hinein vollzogen wird. Die Wiederholung der Unmöglichkeit hat ihre eigene Zersetzung als Handlung zur Voraussetzung dafür, im emphatischen Sinne frei zu sein. Allerdings ist dies Moment des Ausgenommen-seins aus jedem Zusammenhang nur temporär, denn die Unmöglichkeit bedarf der Affirmation durch bewusstes Handeln, um aktualisiert zu werden, und muss somit in die Kontinuität eines Vorher und Nachher aufgenommen werden. Mit eben dieser Aufnahme, mit ihrem Wirklich-werden, zieht sie dabei zugleich ein radikales Anderswerden der gesamten bisherigen Ordnung nach sich: Die Verwirklichung einer möglichwerdenden Unmöglichkeit begründet ein neues Feld der Möglichkeiten, und macht damit andere Handlungsvollzüge möglich. Erst dann kann das Unmögliche zum Neuen werden, und erst dann kann es entsprechend einen Neuanfang begründen. Gehinkt wie gesprungen: Handlungsweisen Das ‚verfehlende Gelingen‘ von Handlungen, wie sie in (W III) und (W IV) beschrieben wurden, bedarf nicht nur einer bestimmten Form der Wiederholung, es beruht auch auf anderen Voraussetzungen, die wiederum Teil dieser öffnenden Wiederholungen sind. Dazu gehören gewisse Dispositionen in Handelnden und Dynamiken des Handelns, die unter anderem in der Auswahl von Zitaten hervortreten, die diesem Schlusskapitel vorangestellt sind: unterbrechen, zurückgehen, neuanfangen, verhöhnen der eigenen Unfähigkeit, erschrecken vor unbestimmten Zwecken, und schließlich tanzen; erhinken anstatt erfliegen; zugleich Zweck und Widerspruch von Zwecken sein, und krumme Wege einschlagen; als mäßige Pfuscher ungeschickt ins Wasser plumpsen, statt sich auf dem Weg dorthin elegant in der Luft zu überschlagen. Allerdings lassen sich solche Aspekte noch weniger in ein Schema einordnen, als dies für die verschiedenen Wiederholungs-Typen möglich ist, die ich hier unterschieden habe. Vermutlich liegt hier ein Grund dafür, dass Marx, Freud, Nietzsche und Kierkegaard theoretischen Inhalten jeweils eine dramatische Form geben, bzw. sie mit Rückgriff auf Theater und Erzählung darstellen, und zwar in einer Weise, die diese ‚Form‘ und den dargestellten ‚Inhalt‘ als untrennbar erkennen lässt. Am deutlichsten wird dies in narrativen Darstellungsformen, wie sie sich bei Nietzsche und Kierkegaard finden: bei beiden sind sowohl Reflektionen

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zum Handeln, als auch Handlungen selbst bzw. Handlungsversuche, in fiktionale Geschichten einbettet. Diese Darstellung erlaubt es ihnen, über die reine Beschreibung dessen, was äußerlich sichtbar passiert, auch die inneren Vorgänge und Zwiespälte Handelnder zu berücksichtigen. Handlungen werden so detailliert und im Kontext dargestellt: sowohl im Kontext dessen, was im Inneren der Handelnden vorgeht, welche Überlegungen sie anstellen, welche Möglichkeiten erwägen und verwerfen, als auch im Kontext anderer Handlungen und Geschehnisse, die auf ihr Handeln zurückwirken. Weiterhin lassen sich Anleihen beim Vokabular des Theaters ausmachen; insbesondere bei Marx werden Handlungen analog zu dessen Genres konzipiert. Mit diesen Genres wiederum sind bestimmte Erwartungen an das wie des Handelns und des Zusammenhangs von Handlungen verbunden, d.h. es wird ein narrativer Rahmen vorgegeben, innerhalb dessen dieses oder jenes Tun lesbar wird. Ob uns ein Zusammenhang als tragisch vorgestellt wird, als Farce, oder als ein solcher, der sein eigenes Genre erst noch selbst erschaffen muss, hat Rückwirkungen darauf, wie wir das jeweilige Handeln verstehen. Und schließlich ist die Psychoanalyse im Wesentlichen eine Interpretation von Texten, die in einer performativen Situation vom Analysanden produziert werden. In diesen Kontext gehört bei allen Autoren auch die durchgängige Beschäftigung mit den Grenzen von Vernunft, Wissen, und Planbarkeit eines Handelns, was auf Veränderung des Bestehenden und auf das Schaffen von Neuanfängen angelegt ist. Wo Wissen und Intention an ihre Grenzen stoßen, wird wiederum der Prozesscharakter des Handelns betont. Eine Schwierigkeit, die mit der Anerkennung von Grenzen der Vernunft und des Wissens einhergeht, liegt in der Mitteilbarkeit des Unmöglichen als Handlungsziel. Was die Grenzen gegebener Möglichkeiten überschreitet, was (noch) nicht wissbar und definierbar ist, davon kann auch nicht ohne weiteres gesprochen werden. Das zeigt sich deutlich in dem Mangel von Worten, die zur Verfügung stehen, um sich gegenüber anderen auszudrücken. Die resultierenden Mitteilungsschwierigkeiten äußern sich in Schweigen, in Auslassungen und Lücken. Sie führen zu abgebrochenen Konversationen, zu zögerlichem Flüstern, immer in dem Moment, in dem das Unmögliche zur Sprache kommt – oder eben gerade nicht zur Sprache kommt, aber zumindest zur Sprache kommen will. Aus der Mitteilungsschwierigkeit resultiert keinesfalls ein Rückzug ins Innere. Vielmehr werden (etwa mithilfe von Rätseln) alternative Mitteilungsformen erschlossen, oder es wird nach neuen Wortschöpfungen gesucht und danach, die Welt so zu verändern, dass derzeit namenloses einen Namen bekommen kann, indem es Gestalt annimmt. Der Prozess des tatsächlichen Eintretens der Unmöglichkeit wird daher passenderweise als ein solcher beschrieben, der seine ‚Poesie‘ – eine durch und durch neue Poesie – allein aus

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der Zukunft schöpfen kann. So werden Lieder gedichtet und gesungen, anstatt Argumente vorzutragen und Pläne zu vermitteln, d.h. es wird sich nicht in gewöhnlicher Weise mitgeteilt, sondern in außergewöhnlicher Weise an die affektiven Dispositionen von Handelnden appelliert. Den Dispositionen, Charaktereigenschaften und Affekten von Handelnden kommt insgesamt eine zentrale Stellung in Handlungsweisen zu, die sich um eine Veränderung des Bestehenden bemühen. Angesichts der Handlungsvoraussetzungen wurde wiederholt ein Gefühl von Ohnmacht und Verzweiflung betont, sowie ein unheimlicher Eindruck angesichts von sich scheinbar selbsttätig erhaltenden und wiederholenden Ordnungen. Im Hinblick auf die Schwierigkeit des eigenen Unterfangens bezeichnen sich Handelnde selbst als schwach, als medioker, als unzulänglich; sie schrecken angesichts der Unmöglichkeit ihrer Vorhaben zurück. Das wiederum führt zu einer zaudernden und versuchenden Einstellung gegenüber ihren Handlungen, die stets zum Objekt kritischer Reflektion werden, und gegebenenfalls wiederholt abgebrochen. Hier gehört auch das Lachen erwähnt, was oft in Anbetracht einer Unmöglichkeit und eines verfehlenden Handelns einsetzt, auf das hin dennoch nicht vom erklärten Vorhaben abgelassen wird. Lachen erfolgt hier in Reaktion auf eine Inkongruenz, die unauflösbar bleibt, wie anhand der Situationen deutlich wird, in denen es bei Nietzsche oder Marx auftaucht: als Reaktion auf die Inkongruenz zwischen den zur Verfügung stehenden Mitteln und Fähigkeiten einerseits, und der anstehenden Aufgabe andererseits, und in Antizipation eines zukünftigen oder in Anbetracht eines gegenwärtigen Scheiterns. Entscheidend ist hierbei, dass die Inkongruenz im und durch das Lachen erhalten, ausgehalten, und angenommen wird, anstatt an ihr zu verzweifeln. Im Extremfall stellte sich Handeln unter dem Einfluss der Macht der Wiederholung lediglich noch als Automatismus heraus, als eine quasi-automatische Reaktion auf einen Anreiz oder eine Forderung, die keinen Raum zur Selbstbestimmung bietet. Entsprechend ist der Versuch, sich aus dem Bann einer bestehenden Ordnung und den von ihr eingeforderten Wiederholungshandlungen herauszuarbeiten, keineswegs unkompliziert. Die Form, die Handeln hier annimmt, ist die eines Hinkens und Plumpsens. Es handelt sich um eine Bewegung, die sich nicht mit vorgegebenen Praxisvollzügen deckt, aber auch nicht aus ihnen herauskommt, und deshalb in ungeschickter und ruckartiger Weise bewegt, hin und zurückgeworfen zwischen Momenten des Überschreitens oder Unterlaufens gegebener Praxisvollzüge einerseits, und einer ungewollten Integration zurück in den Bann der Wiederholung andererseits. Insofern generiert die Bewegung der Befreiung und des Herausarbeitens aus der Macht der Wiederholung eine eigenartige Zeitlichkeit: sie ist zum einen insgesamt durch eine gewisse Langsamkeit gekennzeichnet, mit der sie sich

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im Durcharbeiten durch die sich stellenden Schwierigkeiten bewegt. Zum anderen ist sie durch ein zauderndes Hin und Her, durch das Zurückgeworfenwerden auf frühere Stufen, und durch das Einschlagen von Umwegen gekennzeichnet – was natürlich weiter zu ihrer Langsamkeit beiträgt. Ein Grund hierfür ist nicht nur im wiederholten Verfehlen zu sehen, sondern auch in der erhöhten Aufmerksamkeit, die dies Handeln der Entwicklung eines detaillierten Verständnisses ihres Gegners widmet. Alle Energie wird darauf verwendet, die Gegenwart einer kritischen Analyse zu unterziehen, anstatt die utopische Vision einer besseren Zukunft zu entwickeln. In den Momenten wiederum, in denen sich aus dem unregelmäßigen Hin und Her die Möglichkeit ergibt, einen Neuanfang hervorzubringen, indem das Unmögliche verwirklicht wird, wird Handeln oft als ein Sprung, ein Tanz oder gar als Fliegen bezeichnet. Als Moment, der aus der Kontinuität der gegenwärtigen Ordnung ausgenommen ist, befindet sich der Moment des möglich-werdens einer Unmöglichkeit gewissermaßen außerhalb der Zeit. Wenn und insofern sich Handelnde also mit der Unmöglichkeit von Veränderung konfrontiert sehen, die durch bestimmte Wiederholungsstrukturen der Welt bedingt ist, zeigt sich ein Handeln, was seine klassischen Handlungseigenschaften – Zielgerichtetheit, Intentionalität, Planbarkeit, Kontrollierbarkeit  – zugunsten von Parodie, Abweichung, Zaudern, Hinken, Umwegen, Verfehlen, Zufällen und Scheitern aufgibt, als ein dieser Handlungsunmöglichkeit angemessenes ‚Handeln‘. Der Blick auf die Unmöglichkeit ist der Blick auf eine Ungeheuerlichkeit und Absurdität, nicht aber der Blick auf einen bestimmten oder auch nur bestimmbaren Inhalt. Damit wird auch die Orientierung nach vorne, in eine hoffnungsvoll erwartete Zukunft, zugleich unmöglich und der Aufgabe unangemessen. Orientierung bietet hier allein der Konflikt mit und die Abstoßbewegung von einer existierenden Ordnung, die wiederum auf einer Kritik der Gegenwart beruht. Die Vorstellung eines wie auch immer gearteten Meisterns der eigenen Handlungen muss dann aufgegeben werden; allerdings muss mit der Bestimmtheit von Zielen nicht zugleich Kritik und Reflexion aufgegeben werden. In der parodierenden Wiederholung der Wiederholung ist ein kritisches Element immer enthalten, und sie ist es, die den Boden für das Unmögliche bereitet – dafür also, zu erkennen, welchen Zufall es zu ergreifen gilt. Es handelt sich bei gelingenden Neuanfängen nicht um die freie Setzung eines souveränen Subjekts, sondern um das Aneignen und Realisieren einer sich ereignenden Unmöglichkeit, bei der die Veränderung von Selbst und Welt Hand in Hand gehen müssen. Worauf es mir in dieser Arbeit ankam, war, die Momente der Verfehlung, des Zauderns, der Aussetzung von Kontinuität, dem Versagen der Intention, des stolpernden Erreichens eines anderen Ziels als des angepeilten – diejenigen

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Schluss

Momente also, die gemeinhin als Indikatoren dafür gesehen werden, dass Handlungen gescheitert sind – zu erkunden, und zu zeigen, dass mit ihrer Affirmation das Verständnis eines Handelns entwickelt werden kann, was einer Handlungsunmöglichkeit angemessen ist. Ein Handeln, das in Opposition zur Macht einer bestehenden Ordnung steht, ist nicht souverän, es hat kein Ziel und kennt kein Gelingen – und dennoch kann es an ein Ziel gelangen: ein anderes, öffnendes Ziel, das Neues konstituiert und damit zugleich immer ein Anfang ist, das Möglichwerden einer Unmöglichkeit. Als ein nicht systematisierbares, planbares, und kontrollierbares Handeln birgt es Risiken in sich und droht stets zu scheitern. Es ist schwach, ohne Vertrauen, Glauben, Sicherheit, und Autorität – kurz, durch und durch prekär. Allerdings muss diese Perspektive mit Blick auf Wiederholungshandlungen nicht zur Verzweiflung im Angesicht eines unmöglichen Vorhabens führen, und erst recht nicht zur Aufgabe dieses Vorhabens. Im Gegenteil: Es geht – mit Beckett – in diesen Praxisvollzügen eben darum, besser zu scheitern, anstatt sie perfektionieren zu wollen, was lediglich auf eine Perpetuierung der bisherigen Handlungsvollzüge hinausliefe. Nur so kann im Handlungsversuch, in diesem ‚besseren‘ Scheitern und Verfehlen, möglicherweise einer Unmöglichkeit Raum gegeben werden, deren Ergreifen einen Neuanfang bedeuten kann. Es gilt also, die eigene Schwäche in eine Stärke zu wenden: Try again, fail again, fail better.

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Danksagung An erster Stelle möchte ich meinen Doktorvätern danken, ohne deren Unterstützung diese Arbeit nicht möglich gewesen wäre. Christoph Menke hat mir völlige Freiheit bei der Gestaltung der Arbeit gelassen, stand aber zugleich immer mit wertvoller Kritik und Hilfe zur Verfügung, wenn ich sie brauchte. Gleiches gilt von Raymond Geuss, zu dem ich besonders anfangs oft mit völlig verworrenen Gedanken gekommen bin, die er mir dann mit dem Geschick eines Chirurgen zerlegt und wieder zusammengesetzt hat. Beiden habe ich entscheidende Einsichten und Formulierungen zu verdanken, und beide haben nicht nur diese Arbeit, sondern mein Denken insgesamt in einem Ausmaß geprägt, das mir erst langsam immer deutlicher wird. Mit seiner Rezitation von Thomas Manns „Schwerer Stunde“ hat mich Raymond Geuss schließlich dazu ermutigt, das Manuskript nach langem Wiederkäuen nun endlich an den Fink-Verlag zu übergeben – dem ich seinerseits für die Geduld zu Dank verpflichtet bin. Werner Hamacher hat die Rolle des (in seinen Worten) „unsichtbaren Dritten“ bei der Betreuung übernommen, und einzelne Kapitelentwürfe seiner gnadenlosen Kritik unterzogen. Ich bedaure sehr, dass die Überarbeitung des Manuskripts sich so lang hingezogen hat, dass er die Buchversion nicht noch einmal mit derselben Schonungslosigkeit bedenken konnte. Schließlich möchte ich meinem frühen akademischen Lehrer Heinz Dieter Kittsteiner danken, in dessen Seminaren ich die ersten Überlegungen zu den Fragen angestellt habe, die nun im Zentrum dieser Arbeit stehen. Ganz plötzlich und vor seiner Zeit ist er im Juli 2008 verstorben. Mit seinem Tod hat er eine Leerstelle hinterlassen und fehlt heute nicht weniger als damals. Diese Arbeit ist seinem Andenken gewidmet. Meine Mutter Margrit Löschenkohl und Peter Müller haben mich während meiner Arbeit an der Dissertation stets unhinterfragt unterstützt – moralisch, finanziell, logistisch, und in jeder anderen Hinsicht. Dafür bin ich beiden zu unendlichem Dank verpflichtet. Ein Promotionsstipendium des Exzellenzclusters „Normative Orders“ der Goethe-Universität Frankfurt, sowie die Deutsch-Französische Hochschule, die meine Partizipation am Collège Doctorale Franco-Allemand an der Sorbonne I in Paris ermöglicht hat, haben es mir ermöglicht, mich der Doktorarbeit frei von finanziellen Sorgen widmen zu können. Die Endphase der Überarbeitung des Manuskripts konnte ich aufgrund der Unterstützung durch die Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur mit konzentrierter Energie abschließen. Für Diskussionen, Kritik, und Anmerkungen zu Teilen dieser Arbeit danke ich Benjamin Fong, Jared Holley, Thomas Khurana, Paul Kuder, Daniel Loick,

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Danksagung

Judith Mohrmann und Felix Trautmann. Ein besonderer Dank geht an meine damalige Mitbewohnerin Christina Striewski, die beinahe die gesamte Entwicklung der Arbeit zwischen Frühstückstisch und abendlichem Colloquium mit mir diskutiert hat. Sandra Middendorf, Julia Schubert, und Lisa von Swieykowski haben mich zu Beginn der Doktorarbeit samt Büchern und anderen Habseligkeiten von Berlin nach Frankfurt transportiert und meine ersten Tage in einer fremden Stadt mit ihrer Anwesenheit verschönert; sie haben mir so auch verdeutlicht, dass mein Zuhause in Berlin durch einen Umzug nicht verlorengeht. Ähnliches gilt für meine Kindergarten- und Schulfreundinnen Hanne Frank, Lena Hiebel, und Anna Möller, die mir stets ein Gefühl von Rückhalt geben, wo immer ich in der Welt bin. Jede von ihnen hat mich auf ihre Weise zutiefst geprägt, und ohne ihre Freundschaft wäre ich nur halb, wenn überhaupt. Schließlich möchte ich Jared Holley dafür danken, dass er mir beim Abschluss der Arbeit am Manuskript geholfen hat, indem er mit mir diskutiert hat, für mich gekocht hat, mich immer wieder ermutigt hat – und mich hin und wieder auch nachdrücklich daran erinnert hat, dass es ein Leben jenseits des Computerbildschirms gibt.

Literaturverzeichnis Verwendete Abkürzungen Gr

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MEW 3

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Karl Marx

Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Rohentwurf ). Berlin (Dietz) 1953. Die deutsche Ideologie. Kritik der neuesten deutschen Philosophie in ihren Repräsentanten Feuerbach, B. Bauer und Stirner, und des deutschen Sozialismus in seinen verschiedenen Propheten, gemeinsam mit Friedrich Engels, Karl Marx/Friedrich Engels, Werke [= MEW], Berlin (Dietz) 1956ff. Das Manifest der kommunistischen Partei, gemeinsam mit Friedrich Engels, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke [= MEW], Berlin (Dietz) 1956ff. Der Achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke [= MEW], Berlin (Dietz) 1956ff. Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. Karl Marx/ Friedrich Engels, Werke [= MEW], Berlin (Dietz) 1956ff.

Weitere Schriften Marx’ werden, wenn nicht anders angegeben, unter Angabe von Titel und Bandnummer in Fußnoten ebenfalls nach der Marx-Engels-Gesamtausgabe zitiert: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke [= MEW], hg. v. Institut für MarxismusLeninismus beim ZK der KPdSU, Berlin (Dietz) 1956ff.

JdL MM EWD U

Sigmund Freud

Jenseits des Lustprinzips, GW XIII Der Mann Moses und die monotheistische Religion, GW XVI Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten, GW X Das Unheimliche, GW XII

Weitere Schriften Freuds werden, wenn nicht anders angegeben, unter Angabe von Titel und Bandnummer in Fußnoten ebenfalls nach den Gesammelten Werken zitiert: Sigmund Freud, Gesammelte Werke [=GW], hg. v. Anna Freud et al., Frankfurt a.M. (Fischer) 1960ff.

Z GD EH FW

Friedrich Nietzsche

Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen, KSA 4 Götzen-Dämmerung, oder Wie man mit dem Hammer philosophirt, KSA 6 Ecce Homo. Wie man wird, was man ist, KSA 6 Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3

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Literaturverzeichnis

UB II N 1880–1882 N 1882–1884 N 1884–1885

Unzeitgemässe Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, KSA 1 Nachgelassene Fragmente Anfang 1880 - Sommer 1882, KSA 9 Nachgelassene Fragmente Juli 1882 - Winter 1883/84, KSA 10 Nachgelassene Fragmente Frühjahr 1884 - Herbst 1885, KSA 11

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Weitere Schriften Nietzsches werden, wenn nicht anders angegeben, unter Angabe von Titel und Bandnummer in Fußnoten ebenfalls nach der Kritischen Studienausgabe zitiert: Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden [=KSA], hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München (DTV) 1999.

FZ W E/O I E/O II

Sören Kierkegaard

Furcht und Zittern, GW Abt. 4 Die Wiederholung, GW Abt. 5/6 Entweder / Oder, Erster Teil, GW Abt. 1/2 Entweder / Oder, Zweiter Teil, GW Abt. 2/3

Weitere Schriften Kierkegaards werden, wenn nicht anders angegeben, unter Angabe von Titel und Bandnummer in Fußnoten ebenfalls nach den Gesammelten Werken zitiert: Sören Kierkegaard, Gesammelte Werke [=GW], hg. und übersetzt von Emanuel Hirsch, Düsseldorf/Köln (Diederichs) 1955ff. T1 T2 T3

Die Tagebücher, Erster Band Die Tagebücher, Zweiter Band Die Tagebücher, Dritter Band

Sören Kierkegaard, Die Tagebücher, hg. und übersetzt von Hayo Gerdes, Düsseldorf/ Köln (Diederichs) 1962ff. OB

Offener Brief an Heiberg, in: Sören Kierkegaard, Die Wiederholung, Übersetzung, Einleitung und Kommentar von Hans Rochol, Hamburg

(Meiner) 2000.

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Register Absicht 36, 39, 42, 66, 118, 120, 150, 153, 185, 187, 193 beabsichtigt 91, 156 Unbeabsichtigt 5, 80, 81 Naturabsicht 8 Absurde, das 175, 186, 187, 188 Absurdität 59, 218 Affekt 66, 106, 107, 206, 217 Affektiv 63, 107, 217 Allgemein 2, 8, 11, 30(fn) 36, 41, 88, 112, 125, 130, 145, 151, 153, 160, 161, 169, 173 Allgemeine, das 18, 159, 160, 161, 169, 170–179, 181–192, 194–202, 207, 210, 212 Ambivalenz 19, 81, 126 Ästhetisch 13, 153, 160–163, 169–172, 186, 199, 200 Ästhetik 48(fn) Ästhetiker 182, 186–188, 191 Ausagieren 66, 72, 73, 76, 79, 211 Aussichtslos 2, 39, 133, 138, 152 Aussichtslosigkeit 44, 138, 181, 201, 211 Automatismus 66, 67, 207, 208, 209, 217 Automatisch 9, 11, 70, 82, 144, 169, 208, 217 Automatisches Subjekt 34, 36, 37 Befreiung 12, 19–21, 25, 28, 39, 66, 68, 69, 72, 77, 99, 106, 107, 176, 193, 205, 217 Beschränkung 3, 12(fn), 19, 22, 28, 41, 72, 89, 146, 212 Bewusstsein 59, 63, 66, 68, 70, 71, 73, 87, 137, 155, 188, 207 Bewusst 35, 38, 48, 50, 57, 59, 66, 74, 76, 80, 83, 86, 87, 95, 98, 106, 119, 130, 139, 181, 189, 196 Entscheidung 2, 10(fn), 70, 74, 116, 150, 157, 161, 162, 170, 171, 173, 174, 181–184, 186, 187, 189, 190–193, 195, 196(fn), 200–202, 207 Ereignis 41, 45, 49, 51, 52, 65, 68, 73, 74, 81, 83, 89, 91, 94, 96–98, 100, 103, 105, 107, 116, 135, 178, 181, 191–193, 200, 208

Erinnerung 55, 56, 72, 73, 75, 77, 85, 91, 93, 94, 102, 164, 165 Erinnern 69, 72, 73, 75–79, 164, 182 Erwartung 9, 24, 52, 60, 143, 216 Ethisch 116, 118, 182 Ethische, das 159–162, 169–177, 179, 182, 186, 187, 189, 191, 195, 196, 198–201 Euphorie 22, 26, 56, 58 Farce 40–42, 45, 50–54, 63, 208, 216 Fähigkeit 4, 5, 24, 59, 70, 101, 145, 149, 208, 217 Unfähigkeit 43, 144, 161–163, 171, 179, 192, 196, 209, 215 Fortschritt 8–11, 15, 16, 18–22, 25, 28, 37, 40–42, 53, 54, 61, 62, 155 Freiheit 6–10, 12, 13, 15, 17–19, 21, 22, 31, 32, 34, 37, 39, 41, 43, 46–48, 50, 53–55, 62, 63, 66, 67, 75, 123, 146–148, 159, 166, 169, 172, 173, 199, 205, 210 Geschehen 8, 52, 71, 79, 137, 139, 185, 187, 188, 193, 211 Geschichte 8–11, 34, 37, 40–45, 51–55, 58, 59, 61–63, 65, 68, 69, 88–92, 94–102, 118, 159–161, 169, 177, 178, 207, 216 Ende der Geschichte 34 Gesellschaft 2, 8–11, 16–18, 20, 22, 23, 25, 28, 34–36, 38, 40, 42–44, 46–48, 50–56, 59, 62, 70(fn), 89–91, 94–102, 104–106, 120, 123, 129, 131, 132, 163, 172, 207, 210 Gesetz 5, 12(fn), 28(fn), 29, 34, 38, 90, 91, 114, 127, 133, 135, 145, 146, 149, 151, 169, 170, 207, 208, 212 Glauben 55, 58, 100, 114, 121, 125, 129, 130, 152, 170–173, 175–181, 184, 187, 189, 190, 194, 195, 199, 201, 212, 219 Gott 41, 42, 48, 90, 91, 93, 106, 114–116, 121, 123, 127–129, 141, 146, 148, 149, 152, 161–163, 170, 171, 173–180, 184–190, 194, 198, 201, 212

Register

Handlung 4, 5, 14, 18, 43, 51, 59, 63, 66, 79, 81, 111, 119, 149, 150, 153–155, 170, 189, 193, 194, 211–215 Handeln 1–8, 10, 11, 15–18, 21, 22, 25, 38–43, 48, 49, 51, 52, 57–59, 62, 63, 66, 68, 73, 74, 76, 78, 79, 83, 88, 94, 95, 105, 106, 111, 112, 116, 117, 119, 121, 124, 140, 149, 151, 153–156, 170, 171, 173, 175, 176, 181, 185, 187, 189, 191, 194, 200–202, 206, 208, 209, 211, 213, 215–219 Handlungsziel 18, 20, 21, 44, 45, 49, 56, 59, 62, 125, 189, 194, 200, 216 Hinken 204, 215, 217, 218 Herrschaft 3, 12, 13, 15, 46, 51, 54, 56, 84, 85, 88, 89, 96, 102, 127, 174, 206, 208 Hoffnung 22, 56, 57, 118, 121, 130, 165, 172, 179, 180, 218 Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

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Ideal 6, 20, 47, 48, 87, 124 Imagination 11, 42, 43 Können 1, 4, 5, 10, 20, 59, 147, 153, 182, 184, 209 Anders-sein-Können 4, 7, 10, 20, 213 Kontinuität 41, 54, 55, 60, 61, 101, 117, 159, 215, 218, 219 Kontinuierlich 10, 18, 19, 41, 53, 54, 60, 61, 63, 101, 134, 152, 155, 164, 166, 199, 212 Diskontinuierlich 57, 152, 210 Komödie 40, 51–53, 59 Komisch 40, 53, 81 Konformität 2, 109, 129, 133, 146, 156, 157 Konflikt 17, 25, 48, 67, 70–77, 82, 88, 89, 91, 96, 97, 99–101, 104, 106, 126, 131, 160, 163, 170, 174, 176, 181–183, 186, 188, 189, 191–193, 196, 197, 199, 200–202, 209, 218 Kreis 29, 134, 137, 143 Kreisen 16, 38, 58 Kreislauf/Kreisbewegung/Kreisprozess   17, 19, 29, 33, 34, 38, 62, 114, 115, 118,  135, 145 Kritik 11, 12, 37, 41, 56, 104, 129, 130, 154, 156, 166, 198, 211, 212, 218 Kritisch 12, 14, 17, 59, 78, 211–214, 217, 218 Unkritisch 56, 198 Krise 22, 24–29

Lachen 110(fn), 136–139, 142, 150, 151, 212, 217 Leidenschaft 47, 167, 189, 198 Leidenschaftlich 178 Lied 119, 137–142, 217 Macht 6, 12, 13–15, 20, 26, 34, 36, 38, 39, 47, 50, 53, 55, 58, 62, 66, 67, 74, 75, 78, 83, 85, 89, 90, 93–95, 102, 104, 105, 127, 129, 130, 172(fn), 146, 148, 180, 188, 190, 200–202, 206–212, 214, 217, 219 Ohnmacht, entmachtet, machtlos 3, 66, 88, 107, 137, 217 Übermächtig 3, 16, 22, 38, 57, 61, 62 Bemächtigen 75, 85, 88 Materialismus 115, 121 Moral 5, 8, 43, 87, 115, 121, 123, 125, 128, 132, 161, 170, 171, 173, 182, 207 Motivation 5, 17, 56, 66, 76, 77, 83, 118, 124, 143 Motiviert 5, 17, 70, 193 Narrativ 8, 9(fn), 10, 11(fn), 18, 44, 79, 90, 91, 95, 101, 112, 206, 215, 216 Neu 2–4, 7, 9, 17, 18, 20, 21, 23, 24, 29, 30, 33, 34, 42–44, 47, 49, 50, 51, 55, 56, 58, 59, 61, 72, 89, 90, 102, 103, 105, 109, 110, 114–117, 120, 123, 124, 127, 129–132, 138–140, 142, 144–150, 152–157, 163, 165–168, 185–187, 193, 198–200, 202, 205, 210–216, 219 Neuanfang, Neubeginn 2, 10, 11, 46, 57, 123, 215, 218 Neuerung 84 Erneut 16, 23, 24, 28, 49, 58, 68, 73, 83, 89, 127, 136, 164, 188, 189, 194, 219 Neuauflage 73 Norm 2, 12(fn), 26(fn), 13–15, 67, 70–72, 89, 90, 96, 129, 156, 159, 170, 207 Normativ 6, 13, 60, 117(fn), 128 Notwendigkeit 60, 96, 103, 110, 111, 114, 183, 212 Notwendig 2, 41, 48, 54, 56, 92, 96, 114, 117, 119, 123, 134, 151, 152 Optimismus 4, 56 Ordnung 1–3, 5, 7, 12(fn), 13, 15, 17, 18, 22, 28, 37, 42, 44, 48, 49, 54, 56, 59, 62, 66, 67, 72, 86-92, 95–107, 130, 133, 145, 147, 197, 198, 201, 206–210, 212–219

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Register Paradox, paradoxal 9, 15, 19, 89, 103, 110, 143, 148, 154, 171, 175, 179, 181, 184, 194 Plan, planen 4, 8, 53, 59, 119, 151, 154, 161, 163, 167, 176, 182, 187–89, 200, 217 Planbarkeit 8, 59, 160, 170, 216, 218, 219 Plumpsen 195, 204, 215, 217 Poesie 40, 55, 61, 216

Subjekt 4, 6, 11–15, 18, 66–68, 70, 153, 188, 193, 218 Subjektivität 34, 36, 37 Automatisches Subjekt 36, 37 Subjektivierungsprozess 193 Symptom 62, 66–68, 71, 72, 75, 77, 82, 101, 105, 208–211

Rational 6, 11, 107, 156, 160, 170, 181 Rationalität 17 Irrational 171 Reflexion 39, 40, 66, 107, 160, 164, 167, 170, 183, 189, 215, 217, 218 Regel 67, 72, 89, 90, 109, 115, 129, 133, 145, 147–149, 151, 169, 170, 172–175, 179, 196, 199 Regelmäßig 1, 12(fn), 38, 159, 160, 169, 170, 172, 207, 210 Unregelmäßig 104, 218 Religion 90, 93, 94, 123, 170 Repetitiv 2, 9, 17, 57 Resignation 4(fn), 131, 173–175 Revolution 21–26, 28, 36, 39, 40, 42, 44–51, 53–61, 63, 99, 101, 102, 204, 208, 212, 214

Tanz 139, 142, 218 Tun 1, 2, 4, 5, 7, 10, 11, 16, 20, 21, 23, 25, 35, 39, 42–45, 62, 68, 69, 78, 81, 105, 106, 111, 117, 139, 147, 148–151, 154, 155, 170, 172, 173, 175, 184, 190, 199, 200, 202, 205, 215, 216 Tat 73, 82, 92, 96(fn), 117, 153 Teleologie 11, 28 Teleologisch 10, 18, 126, 127, 162, 173, 176, 194, 195, 198, 200, 201 Tradition 5, 17, 43–45, 49, 52, 55, 58, 62, 92–107, 109, 132, 163, 169, 207, 208 Tragödie 40–42, 45, 47, 48, 50, 53, 59 Tragisch 48, 51, 62, 216 Transformation 20, 24, 38, 40, 44, 45, 59, 61, 62, 67, 69, 89, 94, 95, 99, 101, 104, 105, 123, 131, 163, 165, 166, 172, 199, 201, 210

Schaffen 2, 3, 17, 26, 37, 42, 44, 50, 55, 56, 61, 63, 103, 109, 110, 115, 117, 120, 122–133, 136–157, 187, 191, 192, 199, 204, 211, 214, 216 Scheitern 4, 7, 14, 18, 26, 39, 48, 54, 57–60, 63, 76, 101, 124, 131, 139, 144, 150, 151, 154, 159, 160–162, 167, 177, 184, 207, 211, 212, 214, 217–219 Schicksal 65, 67, 74, 82–84, 86, 96, 105, 147, 177–179, 181, 184, 194 Schicksalhaft 16, 17, 169 Schwäche 57, 58, 126(fn), 190, 197, 204, 219 Schwach 49, 117, 189, 190, 197, 217, 219 Sittlichkeit 12(fn), 18, 48, 96(fn), 106, 161, 170, 171 Souveränität 4, 7, 66 Souverän 4, 6, 11, 12, 15, 17, 18, 25, 66, 67, 105, 107, 198, 200, 201, 205, 218, 219 Spiel 52, 71, 84, 85, 86, 123, 141, 145–149, 154, 162, 184, 187, 213 Sprung 60, 61, 63, 69, 71, 96, 100, 152, 162(fn), 166, 167, 177, 179, 181, 193, 195, 199, 213, 218 Staat 39, 50–53, 58, 128–131, 156, 157, 207, 208

Unbewusst 2, 17, 47, 51, 66–71, 73–75, 77, 81, 83, 86, 87, 90, 91, 93–98, 102–105, 107 Unkontrollierbar 16, 25, 75, 81, 107 Unkontrolliert 59, 214 Unmöglichkeit 2, 7, 10, 17, 18, 44, 54, 57–59, 63, 87, 103, 112, 132, 137, 139, 144, 148, 151, 152, 155, 156, 159, 160, 167, 169, 170–172, 174–176, 179–181, 186, 187, 189, 192, 194, 195, 198–200, 207, 209, 210–219 Unmöglich 1, 8, 28, 38–40, 43, 45, 56, 57, 60, 103, 112, 119, 131, 148, 151, 160, 163, 164, 170, 172, 174, 175, 177, 181, 183, 187–189, 192, 194, 195, 201, 204, 205, 207, 210, 211, 213, 214, 218, 219 Verunmöglichen 22, 44, 132, 205 Unverfügbarkeit 81, 106, 107, 115, 117, 137, 147, 152, 199 Unverfügbar 9, 36, 111 Veränderung 1–7, 10, 11, 15, 16, 20, 22, 24, 28, 34, 38, 48, 50, 54, 55, 59, 67, 68, 89, 99, 103, 107, 109, 113, 115, 123, 129, 131, 132, 135,

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Register

Verdrängung (cont.) 136, 148, 150, 151, 155, 165–167, 184, 185, 196, 198–201, 205, 208, 211, 216–219 Veränderbar 7, 8, 11, 15, 16, 208, 210 Unveränderbar 3, 4, 22, 39, 62, 119, 121, 135, 205, 208 Verdrängung 70, 71, 73, 83, 84, 86, 87–90, 93, 96, 97, 98, 99, 102, 106, 207 Verdrängte, das 67, 71–74, 92, 93–96, 98, 101, 102, 104, 105 Verdrängt 66–68, 70, 71, 73–75, 79, 81, 85–88, 90, 91, 93–96, 98–100, 102, 104, 106, 209 Urverdrängung 71, 90, 96, 97–99 Verfehlen 18, 58, 71, 144, 211, 214, 215, 217, 218 Verfehlung 4, 14, 18, 60, 63, 214 Verfügbarkeit 31, 83, 115, 153, 156, 181, 210 Verfügbar 11, 182, 186, 202 Vergangenheit 40, 42–45, 49, 50, 52, 55, 58, 62, 63, 70, 72, 83, 84, 85, 93, 95, 102, 132, 135, 164, 165 Vermögen 4–6, 30, 44, 50, 151, 154, 188, 190 Unvermögen 3, 4, 60, 81, 141(fn), 212 Vernunft 8, 9, 22, 37, 41, 42, 48, 54, 66, 124, 170, 175, 180, 216 Vernünftig 4, 8, 11 Verschiebung 15, 63, 105, 164, 212–214 Verselbstständigt 2, 27, 50, 53 Versöhnung 48, 49, 54, 60, 162(fn) Verstehen 41, 52, 53, 77, 81, 106, 107, 111, 139, 167, 176, 179(fn), 187 Verständnis 3–5, 7, 8, 12, 56, 75, 77, 129, 137, 159, 172, 190, 218 Verständlich 49, 111, 179 Unverständlich 101, 129, 161 Verzweiflung 11, 14, 28(fn), 57, 137, 138, 192, 198, 217, 219 Verzweifeln 4, 119(fn), 136, 217 Verzweifelt 120, 178, 180, 209 Vorhaben 1, 2, 5, 6, 40, 47, 57, 59, 63, 119, 127, 176, 193, 217 Vorstellungskraft 43

Wert 30, 31, 33–38, 125, 139, 142 Werte 2, 109, 115, 120, 121, 124–126, 128–130, 139, 140, 157 Wiederholung passim Widerstand 12–15, 18, 37, 39, 67, 72, 73, 210, 212 Wiederholungszwang 17–19, 62, 65–94, 101–104, 106, 107, 208, 209, 211 Wiederkunft, ewige 17, 109–120, 132, 137–148, 207 Wille 59, 123, 125–128, 132, 146, 148, 150, 204, 211 Wollen 6, 17, 32, 42, 44, 48(fn), 86, 91, 110, 111, 114, 121, 124, 140, 142–144, 146, 147, 150, 165, 174, 178, 182, 184, 213, 219 Wirklichkeit 5(fn), 7, 20, 48(fn), 49, 60, 61, 78, 165, 166, 167, 174, 175, 180, 185, 187, 196(fn), 198 Wissen 1, 2, 4, 5, 17, 35, 48(fn), 59, 61, 73, 86, 93, 94, 100, 106, 107, 124, 131, 136, 139, 141, 142, 144, 154, 167, 170, 179, 184, 188, 193, 213, 216 Geheimwissen der Priester 94 Zeit 9, 20, 26, 28, 33, 34, 45, 47, 48, 50, 51, 60, 61, 69, 79, 80, 82, 94, 97, 98, 111, 113, 117, 118, 121, 132, 134, 147, 153, 165, 177, 218 Ziel 2, 4, 5, 15, 20, 21, 33, 40, 46–50, 53, 57, 59, 61, 89, 123, 125, 152, 154, 192–195, 212–214, 219 Gezielt 157 Zögern 52, 104, 175 Zufall 81, 141, 146, 149, 150, 154, 176, 191, 214, 218 Zufällig 41, 54, 145, 151, 193, 214 Zukunft 8–10, 15, 20, 40, 55, 56, 60, 61, 62, 95, 118, 125, 134, 141, 151, 154, 155, 165, 176, 193, 217, 218 Zuversicht 112, 125 Zwang 66, 67, 82, 106, 160, 207–212 Zweifel 82, 136, 140, 175, 178, 187, 192, 195, 196(fn), 198, 200, 212