Freiheit und Gleichheit im Privatrecht: Ergebnisse der 37. Tagung der Gesellschaft für Rechtsvergleichung in Greifswald - Fachgruppe Zivilrecht [1 ed.] 9783161616846, 9783161616853, 3161616847

Gleichheit ist von zentraler Bedeutung bei der Suche nach Gerechtigkeit. Was Gleichheit bedeutet, wie Gleichheit zu vers

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German Pages 197 [206] Year 2022

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Titel
Inhaltsverzeichnis
Martin Gebauer/Stefan Huber — Freiheit und Gleichheit im Privatrecht: eine Einführung
Wouter Druwé — Gleichheit im Vertragsrecht des Ius Commune
Birke Häcker — Privatrechtliche Freiheit und Gleichheit im Zeitalter der Kodifikation. Entwicklungen im englischen Common Law und auf dem europäischen Kontinent
Dirk Looschelders — Gleichheit und Materialisierungstendenzen im Privatrecht des 20. und 21. Jahrhunderts
Ralf Michaels — Gleichheit bei Rechtsvielfalt? Rechtsvergleichung, Rechtsvereinheitlichung, Internationales Privatrecht.
Autorenverzeichnis
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Freiheit und Gleichheit im Privatrecht: Ergebnisse der 37. Tagung der Gesellschaft für Rechtsvergleichung in Greifswald - Fachgruppe Zivilrecht [1 ed.]
 9783161616846, 9783161616853, 3161616847

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Rechtsvergleichung und Rechtsvereinheitlichung Herausgegeben von der Gesellschaft für Rechtsvergleichung e.V.

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Freiheit und Gleichheit im Privatrecht Ergebnisse der 37. Tagung der Gesellschaft für Rechtsvergleichung in Greifswald – Fachgruppe Zivilrecht

Herausgegeben von

Martin Gebauer und Stefan Huber

Mohr Siebeck

IV Martin Gebauer ist Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung an der Eberhard Karls Universität Tübingen und Richter am Oberlandesgericht Stuttgart. Stefan Huber ist Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Zivilprozess- und Insolvenzrecht, Europäisches und Internationales Privat- und Verfahrensrecht an der Eberhard Karls Universität Tübingen.

Gedruckt mit Unterstützung der Gesellschaft für Rechtsvergleichung e.V., Freiburg i. Br.

ISBN 978-3-16-161684-6 / eISBN 978-3-16-161685-3 DOI 10.1628/978-3-16-161685-3 ISSN 1861-5449 / eISSN 2569-426X (Rechtsvergleichung und Rechtsvereinheitlichung) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nati­o­ nalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Computersatz Staiger in Rottenburg/N. aus der Stempel-Garamond gesetzt, von Laupp & Göbel in Gomaringen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und dort gebunden. Printed in Germany.

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Inhaltsverzeichnis Martin Gebauer/Stefan Huber Freiheit und Gleichheit im Privatrecht: eine Einführung . . . . . . . . . . . . . .    1 Wouter Druwé Gleichheit im Vertragsrecht des Ius Commune . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .    9 Birke Häcker Privatrechtliche Freiheit und Gleichheit im Zeitalter der Kodifikation. Entwicklungen im englischen Common Law und auf dem europäischen Kontinent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   29 Dirk Looschelders Gleichheit und Materialisierungstendenzen im Privatrecht des 20. und 21. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   63 Ralf Michaels Gleichheit bei Rechtsvielfalt? Rechtsvergleichung, Rechtsvereinheitlichung, Internationales Privatrecht .  119

Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  199

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Freiheit und Gleichheit im Privatrecht: eine Einführung Martin Gebauer/Stefan Huber

I. Gleichheit ist von zentraler Bedeutung bei der Suche nach Gerechtig­keit.1 Dabei stellt sich freilich die Vorfrage, wie Gleichheit zu verstehen ist. In der Ausprägung der formalen Gleichheit vor dem Gesetz ist sie Fundament des Rechtsstaates. 2 Bei der Französischen Revolution wurde sie zu einer tragenden Säule.3 Grundlegend war dabei die in der Aufklärung entwickelte Vorstellung, dass alle Menschen kraft ihrer menschlichen Natur, unabhängig von ihrem gesellschaftlichen Status, auf gleicher Stufe stehen.4 Konsequenz war die Aner­kennung allgemeiner Rechtsfähigkeit unter Aufgabe von Sklaverei und Leib­eigenschaft.5 Auch die so verstandene Gleichheit schützt allerdings nicht vor dem willkürlichen Gebrauch individueller Freiheit.6 Entscheidend sind die Bezugspunkte der Gleichheit. Im Ausgangspunkt sind dies (Freiheits-)Rechte; im Privatrecht 1  Vgl. nur Aristoteles, Nikomachische Ethik (in deutscher Übersetzung von Frede, in: Grumach/Flashar/Rapp (Hrsg.), Aristoteles Werke in deutscher Übersetzung, Band 6, Erster Halbband (2020), Buch 5, Kapitel 2 und 6 bis 8; in Kapitel 2 bezeichnet Aristoteles als gerecht jemanden, „der auf Gleichheit aus ist“ (S. 80). Vgl. aber auch die Skepsis bei Westen, The empty idea of equality, 95 Harv. L. Rev. (1982), 537 (547: „equality is tautological“, 556 f.). 2  Wündisch, in: Hilgendorf/Joerden (Hrsg.), Handbuch der Rechtsphilosophie, 2. Aufl. (2021), Abschnitt 57.6. 3  Vgl. das Leitmotiv der Französischen Revolution „liberté, égalité, fraternité“ sowie den Hinweis darauf bei Wündisch aaO. Der Hinweis auf das Leitbild der Französischen Revolution steht auch am Anfang des Beitrags von Häcker in diesem Band, S. 29; vgl. ebenfalls den Beitrag von Michaels in diesem Band, Abschnitt II.B.1, S. 137 f. 4  Kant, Die Metaphysik der Sitten (1797), Abschnitt über das „angeborne Recht“, S. 238 in der Akademieausgabe von Immanuel Kants Gesammelten Werken, Band VI. 5  Vgl. bspw. § 1 BGB; sehr deutlich § 16 ABGB von 1811: „Jeder Mensch hat angeborne, schon durch die Vernunft einleuchtende Rechte, und ist daher als eine Person zu betrachten. Sclaverey oder Leibeigenschaft, und die Ausübung einer darauf sich beziehenden Macht, wird in diesen Ländern nicht gestattet.“ 6  Dazu hier in diesem Band Häcker, S. 29, 30, 51 ff. (Ende Abschnitt I sowie Abschnitt III.2).

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Martin Gebauer/Stefan Huber

ist hier vor allem das Recht zu nennen, durch Rechtsgeschäfte die eigene Lebensführung zu gestalten – Privatautonomie. Auch hier schützt rein formale Gleichheit nicht vor Übervorteilung und willkürlicher Ausnutzung faktischer Machtunterschiede – ja, mehr noch: Birke Häcker hebt in ihrem Beitrag über „Privatrechtliche Freiheit und Gleichheit im Zeitalter der Kodifikation“ hervor, dass selbst der Abschluss eines einseitig übervorteilenden Vertrags bei formaler Be­trachtung für beide Seiten den Gebrauch ihrer positiven Freiheit zur Selbstbindung per Vertragsschluss ermögliche und damit der so verstandenen Freiheit zur Geltung verhelfe.7 So betrachtet, ergänzen sich die Ideen von Gleichheit und Freiheit: Die Freiheit lässt sich in ihrer positiven Komponente im Grunde erst dadurch ausüben, dass ein Mensch mit anderen formal gleichen Menschen eine vertragliche Selbst­bindung eingeht. Der solchermaßen zustande gekommene Vertrag bindet an­schließend beide Seiten in gleicher Weise. Wie dieses Verständnis die Epoche der Kodifikation ab der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zum Ende des 19. Jahrhunderts beherrscht und den Inhalt der Kodifikationen beeinflusst hat, untersucht Birke Häcker in ihrem Beitrag. Dabei beginnt sie ihre Analyse mit dem Codex Maximilianeus von 1756, nimmt anschließend den französischen Code civil von 1804 sowie das österreichische ABGB von 1811 in den Blick, betrachtet verschiedene einzelstaatliche Kodifikationen auf dem europäischen Kontinent im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts und schließt ihren Beitrag mit dem Inkrafttreten des deutschen BGB im Jahre 1900. Die letztlich nicht erfolgreichen Kodifikationsü­berlegungen auf der anderen Seite des Ärmelkanals finden ebenfalls Berücksichtigung.8 Birke Häcker arbeitet zugleich heraus, dass der fehlende rechtliche Schutz vor vertraglicher Übervorteilung bis hin zur wirtschaftlichen Ausbeutung im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend als Problem empfunden wurde. Berühmter Protagonist war Otto von Gierke.9 Gegen das solchermaßen identifizierte Problem können wohl nur Regelungen helfen, welche die Vertragsfreiheit beschränken. Auf diese Weise wird der Gleichheitsgedanke insoweit materiell aufgeladen, als jedem die reale Chance eingeräumt werden soll, einen Vertrag zu schließen, der ein Mindestmaß an inhalt­licher Vertragsgerechtigkeit aufweist.10 So betrachtet, geht es bei der Gleichheit um gleiche und insoweit gerechte Verteilung realer Chancen.11 Inwieweit es sich jeweils um eine reale Chance handelt,  7 

Abschnitt II.1 aE., in diesem Band, S. 34. Abschnitt II.2, in diesem Band, S. 35 ff.  9  Zu seiner Person etwa Thiessen, Otto von Gierke (1841–1921), ZEuP 2021, 892 ff. 10  Vgl. dazu Looschelders, Abschnitt II.1.g, in diesem Band, S. 73; dort spricht er von ,Richtigkeitschance‘ des Vertrags“. 11  Grundlegend zur Idee der Chancengleichheit Rawls, A Theory of Justice (1971), S. 72 ff. („principle of fair equality of opportunity“) und S. 75 ff. in Kombination mit dem „difference principle“, konkretisierend auf den S. 265 ff.  8 

Freiheit und Gleichheit im Privatrecht: eine Einführung

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hängt freilich eng mit den Fähigkeiten und Kenntnissen des Einzelnen zusammen. Je schwächer die individuellen Fähig­keiten und Kenntnisse einer Seite ausgeprägt sind, desto eher droht eine Situation, in der der Einzelne die eigene Vertragsfreiheit nicht real zur Wahrung der eigenen Interessen nutzen kann. Dieses Problem hat nicht erst der europäische Gesetzgeber bei Erlass der Verbraucherregelungen erkannt; bereits vor Inkrafttreten des BGB hat der deutsche Gesetzgeber willkürlichem Missbrauch eines Machtgefälles im Kontext von Ab­zahlungskäufen durch Einschränkung der Vertragsinhaltsfreiheit Einhalt geboten.12 Im BGB selbst fanden sich zunächst nur die sehr allgemein gehaltenen §§ 138 und 134, die allerdings weniger individualschützend als gemein­wohlschützend angelegt sind.13 Konkret geht es demgegenüber bei dem individualschützenden Ansatz darum, einer Seite ein Stück Vertragsfreiheit zu nehmen, um der anderen Seite ein Mehr an realer Vertragsfreiheit zu gewährleisten. Dirk Looschelders bezeichnet dies in seinem Beitrag über „Gleichheit und Materialisierungstendenzen im Privatrecht des 20. und 21. Jahrhunderts“ als „Prinzip der ,gleichen Freiheit‘“.14 Dieses Prinzip untersucht Dirk Looschelders für die deutsche, fran­zösische, englische und US-amerikanische Rechtsordnung sowie für das Sekundärrecht der EU und identifiziert dabei zwei verschiedene Zwecksetzungen: Zum einen gehe es darum, jedem Bürger einen freien, selbstbestimmten Vertragsschluss zu ermöglichen; zum anderen gehe es bei den positiv statuierten Diskriminierungs­verboten vor allem aber um die Anerkennung jedes Einzelnen als gleichberechtigtes15 Mitglied der Gesellschaft. Looschelders sieht hier einen Bereich, in dem selbst auf zivilrechtlicher Ebene die iustitia distri­butiva an­gesprochen ist.16 Natürlich ist im Privatrecht primär die iustitia commutativa angesprochen. Die entsprechenden Ideen reichen weit bis vor das Kodifikationszeital12  Vgl. zur damaligen Rechtslage Brünneck, Ueber den sogenannten Möbel-Leihvertrag, Gruchots Beiträge 1866, 339 ff. sowie Hausmann, Die Veräußerung beweglicher Sachen gegen Ratenzahlung (das sog. Ab­zahlungsgeschäft) (1891), zur Lage unter dem Allgemeinen Preußischen Landrecht dort S. 5 ff., zur Praxis der obersten Gerichtshöfe S. 13 ff.; zur Praxis in verschiedenen Gebieten des damaligen Deutschen Reiches vgl. die dort im Anhang abgedruckten Gutachten der damaligen Handelskammern, S. 103 ff. Zum wirtschaftlichen und poli­tischen Hintergrund s. Benöhr, Konsumentenschutz vor 80 Jahren. Zur Entstehung des Abzahlungsgesetzes vom 16. Mai 1894, ZHR 138 (1974), 492, 494 ff. In diesem Band geht Looschelders auf die beschriebene Entwicklung ein, S. 67 f. (Abschnitt II.1.a). 13  Dorn, in: Historisch-kritischer Kommentar zum BGB (HKK), Band I: Allgemeiner Teil (2003), §§ 134–137, Rn. 7, 27; diese grundlegende Zwecksetzung ist nicht zu verwechseln mit den „nationalsozialistischen Gemeinwohlformen“ bei der Anwendung von § 138 unter dem Nationalsozialismus; dazu Haferkamp, in: Historisch-kritischer Kommentar zum BGB (HKK), Band I: Allgemeiner Teil (2003), § 138, Rn. 24 ff. 14  In diesem Band, S. 65 (Abschnitt I.1). 15  Zum Unterschied zwischen „gleich“ und „gleichberechtigt“ ausführlich Häcker, Abschnitt III.2, in diesem Band, S. 51 ff. 16  In diesem Band, S. 114 f. (Abschnitt III.4).

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Martin Gebauer/Stefan Huber

ter zurück; Aristoteles hat diesen Gerechtigkeitsgedanken bereits sehr klar formuliert.17 Konkret geht es im vertraglichen Kontext18 um das Verhältnis von Leistung und Gegenleistung. Im Grundsatz sind die Parteien frei, die entsprechenden Inhalte auszuhandeln. Wo dieser Grundsatz an Grenzen stößt, untersucht Wouter Druwé in seinem Beitrag über „Gleichheit im Vertragsrecht des Ius Commune“. Ausgehend von der laesio enormis des römischen Rechts, die ausschließlich die Übervorteilung des Grundstücks­verkäufers zum Gegenstand hatte, legt Druwé die Entwicklung dieses Instituts im ius commune für den Zeitraum vom Beginn des 14. Jahrhunderts bis zum Ende des 17. Jahrhunderts dar. Druwé schildert die Einflüsse von Persönlichkeiten wie Thomas von Aquin und Grotius, die den Gleichheitsgedanken auf den Vertrags­gegenstand beziehen und somit einen allgemeinen Grundsatz der Tausch­gerechtigkeit etablieren, der schließlich weit über Grundstückskaufverträge hinaus Bedeutung entfaltet – und dies zugunsten sämtlicher Vertragsparteien. Bei objektiver Übervorteilung um mehr als 50 % des gerechten Preises soll unabhängig von subjektiven Elementen eine unveränderte Vertragsdurchführung ausgeschlossen sein.19 Im Grunde geht es um die Idee unerträglicher Ungleichwertigkeit. Dies wirft freilich die Grundfrage nach dem gerechten Preis auf. Handelt es sich um einen allgemeinen Marktpreis, oder führt nicht grundsätzlich freie Vertragsverhandlung zum jeweils gerechten Preis? Letztere Annahme lässt dem Institut der laesio enormis letztlich keinen Raum. Druwé schließt seinen Beitrag mit diesem Ansatz der von Thomasius eingeleiteten Gegenbewegung. 20 So stehen sich am Ende des 17. Jahrhunderts die Idee der Vertragsinhaltskontrolle und die Idee der prozeduralen Gerechtigkeit gegenüber. In heutiger Zeit versucht sich der Gesetzgeber auf beiden Ebenen: inhaltskontrollierende Regelungen finden sich vor allem, aber nicht nur, im AGB-Recht. 21 Die Idee der prozeduralen Gerechtigkeit verfolgt der Gesetzgeber flankierend mit Regelungen, die schwächere Marktakteure in die Lage versetzen sollen, frei, also wohlinformiert und ausreichend reflektierend, einen Vertrag zu schließen. Zu denken ist hier beispielsweise an die im BGB sowie EGBGB statuierten Informationspflichten und Widerrufsrechte. 22 17  Viele moderne Theorien der iustitia commutativa finden ihre Wurzeln in der aristotelischen Tausch­gerechtigkeit: Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch V, Kapitel 7 ab dem zweiten Absatz (1131b ff.) und Kapitel 8 (in der Übersetzung von Frede, supra Fn. 1); s. dazu ­Gordon, Aristoteles über Gerechtigkeit – Das V. Buch der Nikomachischen Ehtik (2007), S. 165 ff. 18 Zum außervertraglichen Kontext s. bspw. Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie (12. Aufl., 2022), Rn. 361. 19  In diesem Band, S. 25 f. (Abschnitt VI.). 20  In diesem Band, S. 26 f. (Abschnitt VII). 21 Dazu Looschelders, in diesem Band, S. 70 (Abschnitt II.1.d) und 110 (Abschnitt III.3.c). 22  Auch dazu Looschelders, in diesem Band, S. 75 (Abschnitt II.1.g) und S. 106 (Abschnitt III.3.c).

Freiheit und Gleichheit im Privatrecht: eine Einführung

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Am Ende dieses Bandes löst Ralf Michaels den Blick von einzelnen Rechtsordnungen und untersucht in seinem Beitrag „Gleichheit bei Rechtsvielfalt? – Rechtsvergleichung, Rechtsvereinheitlichung, Internationales Privatrecht“ das Ver­hältnis zwischen den Rechtsordnungen in diesen drei Disziplinen der Rechtsvielfalt. Hier stellt sich die Frage der Gleichheit nochmals auf einer ganz anderen Ebene als Gleichbehandlung der Rechtsordnungen. Entsprechend stellt Michaels der Gleichheit die Singularität gegenüber, verstanden als bestimmte Ausprägung von Differenz. 23 Pluralität erscheint als Ausgangspunkt von Rechtsvergleichung, Rechts­verein­heitlichung und Kollisionsrecht. Es geht im Grunde stets um das Verhältnis von Gleichheit und Differenz bzw. Singularität; und in der Tat verfolgt die Rechts­vergleichung auf einer ersten Stufe das Zwischenziel, zunächst einmal Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen verschiedenen Rechtsordnungen zu erkennen. 24 Die Überbrückung der Unterschiede ist Gegenstand der Rechtsvereinheitlichung. 25 Ob die transnationale Angleichung tatsächlich aus sich heraus dem Gerechtigkeitsideal entspricht, wie es häufig heißt, ist eine der Fragen, denen Michaels näher nachgeht. 26 Das Internationale Privatrecht koordiniert schließlich die anwend­baren und divergierenden Sachrechte für den grenzüberschreitenden Sachverhalt. Im Ausgangspunkt geht es zunächst um die Bestimmung des anwendbaren Rechts, für die die inhaltlichen Differenzen zwischen den jeweils in Betracht kommenden Rechts­ordnungen grundsätzlich keine Rolle spielen. 27 Michaels arbeitet vor diesem Hintergrund heraus, dass die Rechtsordnungen auf diese Weise kollisionsrechtlich gleichbehandelt werden, was allerdings auch nur eine kollisionsrechtliche Gleichbehandlung der betroffenen Menschen, nicht jedoch deren inhaltliche Gleichbehandlung bedeutet. 28 So sieht Michaels zwischen der Gleichbehandlung der Rechtsordnungen und der Gleichbehandlung der Menschen ein gewisses Spannungsverhältnis.29 Das Spannungsverhältnis zwischen Gleichheit und Singularität erfassen alle drei Disziplinen der Rechtsvielfalt nach Michaels durch Mechanismen, die sich unter der Überschrift „Gleichheit in Differenz“ zusammenfassen lassen. Zentraler Gedanke ist die Gleichwertigkeit der Rechts­ordnungen mit ihren 23 

Michaels, in diesem Band, S. 150 (Abschnitt III.). S. Huber, Prozessrechtsvergleichung heute, in: Hess (Hrsg.), Europäisches Insolvenzrecht – Grundsätzliche Fragen der Prozessrechtsvergleichung (2019), S. 77 (84). 25 Dazu Michaels, in diesem Band, S. 167 (Abschnitt IV.B.); für den Bereich des transnationalen Kreditsicherungsrechts, vgl. S. Huber, Überregionale Privatrechtsangleichung: weiches hard law als modernes Erfolgsrezept, in: FS Kronke (2020), S. 907 ff. 26  In diesem Band, S. 137 (Abschnitt II.B.). 27  Hierzu und zu den Sachnormzwecken im IPR Gebauer, Zur sogenannten Wertneutralität des klassischen IPR, in: Gebauer/S. Huber (Hrsg.), Politisches Kollisionsrecht, Symposium zum 85. Geburtstag von Erik Jayme (2021), S. 36 ff., 61 ff. 28  In diesem Band, S. 141 ff. (Abschnitt II.C.). 29  In diesem Band, S. 143 (Abschnitt II.C.2.). 24 

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Martin Gebauer/Stefan Huber

jeweils unterschiedlichen Inhalten, von Michaels als „Prinzip der Äquivalenz“ bezeichnet.30 Auf der Ebene der Rechtsangleichung ist mit der Entwicklung von weichem hard law bereits ein Ansatz entstanden, der den Besonderheiten der einzelnen Rechtssysteme Rechnung trägt, zugleich aber als transnationales Grundgerüst eine Brücke zwischen den verschiedenen Rechtsordnungen baut.31 Auf der Ebene der Rechtsvergleichung geht die funktionale Rechts­ver­ gleichung in diese Richtung.32 Das Kollisionsrecht ordnet Michaels bereits im Ansatz dem Äquivalenzprinzip zu. Eine klassische Ausprägung sieht er in der funktionalen Qualifikation,33 der Substitution und in der Behandlung des Statutenwechsels. 34 Abschließend sucht Michaels nach Wegen jenseits von Gleichheit und Singularität und gelangt in der Konsequenz für alle drei Disziplinen der Rechtsvielfalt zur Pluriversalität im Sinne des Akzeptierens einer Welt vieler Welten und zu einem sogenannten „Delinking“, das verschiedene Facetten aufweist, u.a. die rechtliche Verselbstständigung der auf der Südhalbkugel gelegenen Staaten35 – und so führt die Betrachtung letztlich auch wieder zum Freiheitsgedanken.

II. Sämtliche Beiträge dieses Bandes sind aus Vorträgen entstanden, die bei der 37.  Tagung der Gesellschaft für Rechtsvergleichung in der zivilrechtlichen Fach­gruppe zur Diskussion gestellt wurden. Das Generalthema der Tagung, die vom 19. bis zum 21. September 2019 an der Universität Greifswald stattfand, lautete „Gleichheit“. Vor diesem Hintergrund war es das Ziel der zivilrechtlichen Fachgruppe, die Entwicklung des Gleichheitsgedankens im Privatrecht sowie der dazu in einer komplexen Wechselbeziehung stehenden Freiheitsidee und das Verhältnis zwischen diesen beiden Grundsätzen über die Zeit hinweg rechtsvergleichend zu untersuchen.

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In diesem Band, S. 163 ff. (Abschnitt IV.). Dazu S. Huber, Überregionale Privatrechtsangleichung: weiches hard law als modernes Erfolgsrezept, in: FS Kronke (2020), S. 907, 912 ff. 32  Michaels, in diesem Band, S. 164 (Abschnitt IV.A.); S. Huber, Prozessrechtsvergleichung heute, in: Hess (Hrsg.), Europäisches Insolvenzrecht – Grundsätzliche Fragen der Prozessrechtsvergleichung (2019), S. 77 (84); Gebauer, Zu den methodischen Ursprüngen funktionaler Rechtsvergleichung – Sachnorm, Kollisionsnorm und Qualifikation, in: FS Kronke (2020), S. 813 ff. 33  Zu ihrer historischen Entwicklung am Ende des neunzehnten Jahrhunderts Gebauer, Zu den methodischen Ursprüngen funktionaler Rechtsvergleichung – Sachnorm, Kollisionsnorm und Qualifikation, in: FS Kronke (2020), S. 813, 817 ff. 34  In diesem Band, S. 172 f. (Abschnitt IV.C.1.). 35  In diesem Band, S. 187 f. (Abschnitt V.C.2.). 31 

Freiheit und Gleichheit im Privatrecht: eine Einführung

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Wir danken allen Beitragenden für den reichen Ertrag des mündlichen Austauschs bei der Tagung selbst und für die vertiefende schriftliche Niederlegung ihrer Gedanken in diesem Band: Wouter Druwé von der KU Leuven, Birke ­Häcker von der Universität Oxford, Dirk Looschelders von der Universität Düsseldorf und Ralf Michaels vom Hamburger Max Planck Institut für ausländisches und internationales Privatrecht. Unseren Mit­arbeiterinnen Elena Brückner, Katharina Haen, Nicola Martin, Linda Meister und Judith Meyer zu Uptrup sowie unseren Mitarbeitern Johannes Feuchter und Finn Hirschoff danken wir für die wertvolle Unterstützung bei der Editierung der Texte. Tübingen, im Frühjahr 2022

Martin Gebauer und Stefan Huber

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Gleichheit im Vertragsrecht des Ius Commune Wouter Druwé 1

I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   9

II. In den Corpora Iuris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  11 III. Die Deutung der mittelalterlichen Juristen und Kanonisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  13 IV. Die moraltheologische Lehre der ausgleichenden Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . .  19

V. Aufnahme in der Rechtslehre, auch im externen Rechtsbereich . . . . . . . . . . . . . . . .  21

VI. Die Zentralität der aequalitas bei Grotius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  24 VII. Gegenbewegung: Christian Thomasius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  26 VIII. Einige Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  27

I. Einführung „In contractibus aequalitas requiritur“, „In Verträgen ist Gleichheit Pflicht“, so schrieb der spätmittelalterliche Jurist Baldus de Ubaldis (1327–1400) in seinem Kommentar zum Codex Justinianus.2 Baldus zielte dabei insbesondere auf zwei Fallgruppen ab. So hatte er einerseits die Situation eines Vertrages zwischen einer öffentlichen Behörde – also einem Fürsten – und einer Privatperson vor Augen. Er bezog sich dabei vor allem auf den ersten großen Kommentator Cinus von Pistoia (1270– 1336), der tatsächlich argumentiert hatte, dass auch ein Fürst seine vertraglichen Pflichten befolgen müsse. Cinus hatte dafür den Terminus aequalitas aber nicht benutzt.3 Baldus’ Aussage zu diesem Punkt wurde später u.a. in einem consi-

1  Dieser Aufsatz kam zustande im Rahmen eines Projekts der Flämischen Forschungsgemeinschaft (FWO, nr. G0C4421N). Der Autor dankt den Organisatoren Martin Gebauer und Stefan Huber für die Einladung und Linda Meister für die sprachliche Hilfe. Selbstverständlich liegen alle verbliebenen Fehler ausschließlich in der Verantwortung des Autors. 2  Baldus de Ubaldis, In Sextum Codicis Librum Commentaria (1599), ad C. 6.23.3, Ex imperfecto. Vgl. auch ders., In usus feudorum commentaria doctissima (1578), ad Libros feudorum 1.7.1, Natura feudi. 3  Cinus Pistoriensis, In Codicem, et aliquot titulos primi Pandectorum tomi, id est, Di­ gesti veteris, doctissima Commentaria (1578), ad C. 1.14.4, Digna vox.

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Wouter Druwé

lium von Filippo Decio (1454–1535) zitiert,4 der wiederum von frühmodernen französischen Autoren des Gewohnheitsrechts, wie Pierre Rebuffi (1487–1557), angeführt wurde. Andererseits bezog Baldus sich mit seiner Aussage, dass in Verträgen Gleichheit Pflicht sei, auch auf die Gleichheit der vertraglichen Leistungen.5 Vor allem die Erwägungen bezüglich der laesio enormis wurden für die frühmoderne Entwicklung eines allgemeinen vertragsrechtlichen Gleichheitsprinzips – nicht nur der Vertragsparteien, sondern auch der vertraglichen Leistungen – maßgebend. Baldus konnte sich auch diesbezüglich auf die Arbeiten seiner Vorgänger stützen. Auch nach seinem Tod wurde das Thema von vielen Juristen und Kanonisten weiterentwickelt. In diesem Beitrag wird versucht, einige Hauptlinien der rechtshistorischen Entwicklung des Gleichheitsbegriffes im gelehrten Vertragsrecht zu skizzieren. (i) Erstens erfolgen dazu einige Überlegungen bezüglich des justinianischen Rechts, das als Basis der mittelalterlichen Diskussionen gedient hat. Auch die wichtigsten einschlägigen Fragmente des Corpus iuris canonici, insbesondere des Liber Extra, sollen wegen ihrer Bedeutung für die Entwicklung der Kanonistik kurz vorgestellt werden. (ii) Als zweites kommt die Interpretation der mittelalterlichen Glossatoren und Kommentatoren an die Reihe, insbesondere in Bezug auf die Zulassung einiger Übertreibungen im Verhandlungsprozess einerseits und in Bezug auf die laesio enormis andererseits. Die laesio enormis wurde nämlich von den italienischen Rechtsgelehrten des mittelalterlichen ius commune immer extensiver ausgelegt. (iii) Unter Einfluss der Summa Theologiae des Thomas von Aquin und später der Moraltheologie der Schule von Salamanca rezipierten auch Juristen die aristotelische Idee einer ausgleichenden Gerechtigkeit (iustitia commutativa), die auf einer aequalitas der gegenseitigen vertraglichen Verpflichtungen beruht. Wegen dieser Bedeutung für die juristische Entwicklung bezieht sich der dritte Teil dieses Aufsatzes auf die thomistische Lehre des gerechten Preises und der ausgleichenden Gerechtigkeit. (iv) Im vierten Schritt wird gezeigt, wie die gelehrten Juristen des ausgehenden fünfzehnten und des sechzehnten Jahrhunderts die thomistischen Prinzipien im Vertragsrecht anwendeten und Theorien des internen Rechtsbereichs oder des Gewissensbereichs (forum internum) auch in den externen Rechtsbereich (forum externum) transponierten. (v) Der fünfte Teil fokussiert sich dann auf die Juristen der römisch-holländischen Schule, eine juristische Strömung die sich auf die Lehre des Hugo Grotius stützte. (vi) Am Ende wird die Entstehung einer Gegenbewegung beschrieben, mit einigen Vorläufern in der humanistischen Ju-

4 

Philippus Decius, Consiliorum sive responsorum tomus secundus (1575), cons. 580. Baldus de Ubaldis, In Quartum et Quintum Codicis Libros Commentaria (1599), ad C. 4.44.2, Rem maioris. 5 Vgl.

Gleichheit im Vertragsrecht des Ius Commune

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risprudenz, aber vor allem ab dem späten 17. Jahrhundert in der Naturrechtstradition mit Christian Thomasius als dem wichtigsten Repräsentanten.

II. In den Corpora Iuris Im römischen Corpus iuris civilis suggerieren einige Stellen, dass es den Parteien im Prinzip erlaubt sei, andere Vertragsparteien hinters Licht zu führen. Das ergab sich für die Glossatoren deutlich aus zwei Digestenstellen. Im § Idem Pomponius der lex In causae cognitione (D. 4.4.16.4), den Tribonianus und die anderen Kompilatoren aus dem Ediktkommentar über die restitutio in integrum des Ulpian exzerpierten, schrieb der berühmte römische Jurist und praefectus praetorio unter der severischen Dynastie Ulpian – mit Bezug auf seinen Vorgänger Pomponius – dass es im Kaufrecht naturgemäß (naturaliter) den Parteien gestattet sei, einander zu hintergehen (invicem se cir­cum­scribere).6 In einer im 19. Buch der Justinian’schen Digesten aufgenommener Stelle wendete Julius Paulus diese Regelung auch auf das Recht der locatio-conductio an (D. 19.2.22.3).7 Bestimmte Kategorien von Personen wurden im römischen Recht von spezifischen Rechtsmitteln gegen ein solches Hintergehen geschützt. Das war unter anderem der Fall für Minderjährige. Im Falle einer laesio – auch wenn die Benachteiligung die Hälfte nicht überschritt (obwohl das nicht unstrittig war) – konnten Minderjährige eine restitutio in integrum fordern. Dieses Institut gab den Minderjährigen die Möglichkeit, die Wiederherstellung ihrer ursprünglichen Situation zu fordern. Die Benachteiligung oder deceptio konnte durch Betrug der Gegenpartei (dolus adversarii) verursacht sein, aber auch eine ungewollte deceptio in Folge der Schwäche (facilitas) des Minderjäh-

6  D. 4.4.16.4: „Idem Pomponius ait in pretio emptionis et venditionis naturaliter licere contrahentes se circumvenire“. Laut dem Humanisten Arias Piñel gab Ulpian nur an, dass Minderjährige sich nicht auf eine restitutio in integrum berufen konnten, wenn der Vertrag ohnehin schon ungültig war. Eine einfache Ungleichheit – so wollte Ulpian verdeutlichen – zwischen den versprochenen Leistungen der Vertragsparteien deutete aber noch nicht auf einer Nichtigkeit des Vertrages hin. In diesen Fällen wäre also eine restitutio in integrum noch immer möglich. Siehe, für eine Analyse der Argumentation des Piñel: Decock, Elegant Scholastic Humanism? Arias Piñel’s (1515–1563) Critical Revision of Laesio Enormis, in: du Plessis/Cairns (Hrsg.), Reassessing Legal Humanism and its Claims: Petere Fontes? (2016), 150. Siehe auch Wacke, Circumscribere, gerechter Preis und die Arten der List, ZRG RA 94 (1977), 184–246. 7  D. 19.2.22.3 (Paulus 34 ad edictum): „Quemadmodum in emendo et vendendo naturaliter concessum est quod pluris sit minoris emere, quod minoris sit pluris vendere et ita invicem se circumscribere, ita in locationibus quoque et conductionibus iuris est“. Siehe auch Kalb, Objektive Äquivalenzstörung und Arglist bei der laesio enormis, ZRG KA 74 (1988), 285.

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rigen genügte.8 In den Digesten war ja sowohl von lapsi wie auch von circumscripti die Rede.9 Eine weitere wichtige Grenze für dieses Hintergehen wurde von der sogenannten lex secunda gesetzt. Die lex secunda, auch bekannt als die lex Rem maioris (C. 4.44.2), enthält laut der Überschrift im Codex Justinianus eine Verordnung der Kaiser Diokletian und Maximian aus dem Jahre 285. Durch die lex Si voluntate (C. 4.44.8) von 293 haben dieselben Kaiser die Regelung der lex secunda bestätigt. Über den diokletianischen Ursprung dieser beiden leges wurde in der romanistischen Literatur jedoch öfters gestritten.10 Für den heutigen Beitrag ist diese Diskussion über den genauen Ursprung aber von geringerer Bedeutung. In den Fragmenten, wie sie im Codex Justinianus den Glossatoren überliefert wurden, ging es um die Klagemöglichkeit des Verkäufers eines Grundstücks, das zu einem zu niedrigen Preis (minus pretium) verkauft wurde. Mit einem „zu niedrigen Preis“ (minus pretium) war ein Preis von weniger als der Hälfte des „wahren Preises“ (verum pretium) gemeint. Nach Klage des Verkäufers wurde dem Käufer eine Wahlschuld auferlegt. Entweder er gab das Grundstück zurück gegen Zurückerstattung des bezahlten Geldes, oder der Käufer bezahlte den Rest des „gerechten Preises“ (iustum pretium).11 Diese Regelung des römischen Kaufrechts wurde ab dem 12. Jahrhundert auch von kanonistischen Quellen unterstützt. In der Dekretale Cum dilecti (X. 3.17.3) von 1170 und in der Dekretale Cum causa (X. 3.17.6) von 1208 bestätigten die Päpste Alexander III. und Innocenz III. die Lehre der laesio enormis. Auch in diesen Fällen ging es um den Verkauf einiger Grundstücke und der Verkäufer wurde um mehr als die Hälfte benachteiligt. Dazu kommt noch, dass die kanonistischen Quellen die Lehre der restitutio in integrum für Minderjährige auch auf (immer für schutzwürdig gehaltene) Kirchen ausdehnten.12  8  Siehe z.B. Glossa ordinaria ad C. 2.22.5, Minoribus, in v° captos: sui facilitate, vel dolo adversarii sui, ut [D. 4.1.1].  9  D. 4.1.1 (Ulpianus 11 ad edictum): „Utilitas huius tituli non eget commendatione, ipse enim se ostendit. Nam sub hoc titulo plurifariam praetor hominibus vel lapsis vel circumscriptis subvenit, sive metu sive calliditate sive aetate sive absentia inciderunt in captionem“. 10  Siehe dazu in den letzten Jahrzehnten inter alia: Platschek, Bemerkung zur Datierung der laesio enormis, ZRG RA 128 (2011), 406–409; Pennitz, Zur Anfechtung wegen laesio enormis im römischen Recht, in: Schermaier et al. (Hrsg.), Iurisprudentia universalis. Festschrift für Theo Mayer-Maly zum 70. Geburtstag, 2002, 575–590; Mayer-Maly, Pactum, Tausch und laesio enormis in den sog. leges Barbarorum, ZRG RA 108 (1991), 226–231; Sirks, La laesio enormis en droit romain et byzantin, Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis 53 (1985), 291–307; Hackl, Zu den Wurzeln der Anfechtung wegen laesio enormis, ZRG RA 98 (1981), 147–161. 11  Langer, Laesio enormis. Ein Korrektiv im Römischen Recht (2009), 19–44. 12  Siehe z.B. Abbas Panormitanus, Commentaria in Tertium Decretalium Librum (1617), ad X. 3.17.3, Cum dilecti, nr. 4: „Et puto, quod licet competat remedium de iure communi, quando intervenit deceptio ultra dimidiam iusti pretii: nihilominus poterit ecclesia, vel minor petere restitutionem in integrum“.

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III. Die Deutung der mittelalterlichen Juristen und Kanonisten An den europäischen Universitäten des Mittelalters wurden die Stellen der justinianischen Sammlung und des Liber Extra gedeutet und interpretiert. Bezüglich des von den Digestenstellen erlaubten Hintergehens betonten die Glossatoren, dass diese grundsätzliche Erlaubnis keinen Freibrief für Betrug beinhaltet habe. Parteien durften einander nicht absichtlich missleiten. Auch das Wort naturaliter (naturgemäß) wurde strikt ausgelegt: naturaliter meinte für die Glossatoren nicht „laut des Naturrechts“, sondern nur „laut des ius gentium“, also laut des Rechts, das faktisch allen Völkern gemeinsam ist.13 Für die mittelalterlichen gelehrten Juristen stand fest: Bis zu einem bestimmten Punkt war es den Parteien erlaubt, einander zu benachteiligen, solange diese Benachteiligung nicht bewusst dolos geschah. Aus laesio enormis konnte nur bei Übervorteilung von mehr als der Hälfte des gerechten Preises eine Klage erhoben werden. Der berühmte Kanonist Nicolaus de Tudeschis (1386–1445), auch bekannt als Abbas Panormitanus, fasste die mittelalterliche Rechtslehre im fünfzehnten Jahrhundert so zusammen: „bis auf die Hälfte des gerechten Preises tolerieren das römische und das kanonische Recht eine Irreführung“ (usque ad dimidiam enim iura tolerant deceptionem).14 Es war erlaubt, selbst einen größeren Vorteil aus einem Vertrag zu bekommen, soweit die objektive Grenze der Benachteiligung von mehr als der Hälfte nicht überschritten wurde und auch sonst kein „Betrug“ vorlag.15 Erst bei einer Übervorteilung um mehr als die Hälfte wurde das Streben nach Wirksamkeit des Vertrages (ratio favens contractui) von einem „vertraglichen Mangel“ (vitium) übertroffen und konnte der Vertrag angefochten werden.16 13  Glossa ordinaria ad D. 4.4.16.4, v° naturaliter licere: id est de iure gentium […]; Hallebeek, Some Remarks on laesio enormis and Proportionality in Roman-Dutch Law and Calvinistic Commercial Ethics, Fundamina 21 (2015), 22–23. 14  Abbas Panormitanus (Fn. 13), ad X. 3.17.3, Cum dilecti, nr. 2: „Si vero deceptio non esset ultra dimidiam, puta quia vendidi, pro quinque rem valentem 10 non competit remedium rescindendi contractum: usque ad dimidiam enim iura tolerant deceptionem […]“. 15  Bartolus de Saxoferrato, In primam Codicis partem Commentaria (1577), ad C. 4.44.2; Grebieniow, Die laesio enormis und der dolus re ipsa heute: die Verschuldensfrage, Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis 85 (2017), 202–204; Kalb (Fn. 8), 285. 16  Abbas Panormitanus (Fn. 13), ad X. 3.17.6, nr. 3: „Quare autem requiratur deceptio ultra dimidiam, dic, quod ex eo, quia ubi vitium est potentius, quam ratio favens contractui, actus denominatur a potentiori […]. unde contractus iste videtur vitiosus ex tanta deceptione: sed ubi ratio favens contractui est potentior, quia pretium est maius, quam deceptio, vel saltem aequivalens, tunc contractus sustinetur“. Siehe auch Joannes de Anania, Super Secundo et Tertio Decretalium (1553), ad X. 3.17.6: „Ratio autem huius capituli esse potest, quia cum actus participat de pluribus, regulatur a potentiori […]. Ubi ergo ratio favens contractui est potentior, vel aeque potens, statur contractui: ubi vero est potentior ratio infringens contractum, quia excedit vitium, tunc potest peti quod tollatur vitium“.

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Eine Überschreitung des gerechten Preises um mehr als die Hälfte wurde schon von den ersten Glossatoren, wie Irnerius (1050–1125), Vacarius (1120– 1200), Rogerius (aktiv ca. 1150–1170), Azo (1150–1225) und Accursius (1182– 1263) als „Betrug aus der Sache selbst“ (dolus re ipsa) definiert, als eine Art objektive Arglist.17 Die Inspiration für diese Deutung der Rechtsgelehrten – die immer auf die innere Koherenz des Corpus iuris civilis vertrauten18 – kam aus einer anderen Digestenstelle, D. 45.1.36. Diese Digestenstelle enthielt die Möglichkeit, dass derjenige, der sich etwas habe versprechen lassen (stipulans), keinen Betrug begangen habe, sondern dass „ipsa res in se dolum habet“.19 Hier­ aus leiteten die Glossatoren und Kommentatoren, höchstwahrscheinlich aus einer klassischen römischen Perspektive völlig zu Unrecht, 20 die Möglichkeit eines Betruges aus der Sache selbst (dolus re ipsa) ab. Die Kanonisten desselben Zeitalters waren einer ähnlichen Meinung: Auch sie sprachen mit Verweis auf dieselbe Digestenstelle von einem dolus re ipsa und leiteten aus einer Übervorteilung um mehr als die Hälfte eine unwiderlegbare Verschuldensvermutung ab. 21 Anders als die Legisten brauchten die Kanonisten aber keine längere Argumentation, um die Regelungen bezüglich der laesio enormis zu rechtfertigen: für sie war die Situation des se invicem naturaliter circumvenire, also des einander Hintergehens, auf jeden Fall die Ausnahme. Diese bedurfte einer Begründung; die Beschränkung der laesio enormis dagegen, also die Beschränkung eines derartigen Ungleichgewichts, erforderte eine solche Begründung – laut der 17  Grebieniow (Fn. 16), 209. Siehe z.B. Azo, Summa super Codicem (1557), ad C. 4.44: „Ubi autem decipitur quis re ipsa, non alterius proposito, tenet uenditio: sed deceptus ultra dimidiam iusti precii, quod erat tempore venditionis, agit, ut non decipiatur“, ut [C. 4.44.2] [C. 4.44.8]. 18  Ein weiterer Versuch zur Begründung dieser Analogie wurde von den Glossatoren daher nicht erwartet. Siehe Grebieniow (Fn. 16), 207. 19  D. 45.1.36 (Ulpianus 48 ad Sabinum): „Si quis, cum aliter eum convenisset obligari, aliter per machinationem obligatus est, erit quidem suptilitate iuris obstrictus, sed doli exceptione uti potest: quia enim per dolum obligatus est, competit ei exceptio. Idem est et si nullus dolus intercessit stipulantis, sed ipsa res in se dolum habet: cum enim quis petat ex ea stipulatione, hoc ipso dolo facit, quod petit“. Siehe Hallebeek (Fn. 14), 17; Kalb (Fn. 8), 286–288. 20  Die Humanisten kritisierten auch die Deutung der Ulpian’schen Digestenstelle scharf, die zum Begriff des dolus re ipsa geführt hatte. Arias Piñel (1515–1563), zum Beispiel, argumentierte überzeugend, dass Ulpian, der Verfasser der betroffenen Stelle, schon gestorben war vor der Herrschaft des Diokletian. Mit ipsa res in se dolum habet konnte also kein Verweis auf die Regelung der laesio enormis gemeint sein. Er schlug stattdessen vor, dass „res“ als Rechtsstreit gelesen werden sollte. In dem Fall ginge die Digestenstelle nicht um einen „Betrug aus der Sache selbst“, sondern mehr um das dolose Einreichen einer Klage, auch wenn zur Zeit des Vertrages die jetzt klagende Partei nicht arglistig gehandelt hatte. Siehe Decock, (Fn. 7), 137–138 und 146–147; Hallebeek (Fn. 14), 17–18. 21  Zum Beispiel Abbas Panormitanus (Fn. 13), ad X. 3.17.6, nr. 4: „Et licet iste venditor fuerit in culpa, ignorando pretium rei suae, emptor tamen, ita enormiter eum decipiendo, praesumitur in dolo fuisse, vel saltem intervenit dolus re ipsa; et dolus ex proposito et re ipsa aequiparantur […]“. Vgl. auch Grebieniow (Fn. 16), 210–211.

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Kanonisten – nicht. 22 Es blieb ein wichtiger Unterschied zwischen einem dolus ex proposito (subjektive Arglist) und einem dolus re ipsa (objektive Arglist). Im letzteren Falle hatte die übervorteilende Partei nämlich die Möglichkeit hinzuzuzahlen, und so den Vertrag aufrechtzuerhalten, eine Möglichkeit, die im Falle eines ­dolus ex proposito nicht gegeben war.23 Von ausschlaggebender Bedeutung für die Interpretation einer laesio enormis war selbstverständlich der Begriff des iustum pretium. Wann war ein Preis „gerecht“? Wie entschied man über den gerechten Preis? Schon früh waren die mittelalterlichen Rechtsgelehrten davon überzeugt, dass der Marktpreis als iustum pretium angesehen werden sollte. Dieser Preis war also zeit- und platzgebunden. Es musste sich dabei um einen Markt ohne Betrug, Zwang und Irrtum handeln. 24 Andererseits wurde bei der Festsetzung eines Marktpreises, z.B. eines Marktpreises für Dienstleistungen, – ganz im Sinne der Standesordnung des Mittelalters – auch der dignitas personae Rechung getragen. 25 Die Juristen verurteilten also nicht jedwelches Ungleichgewicht. Nichtsdestotrotz wandten sie die laesio enormis immer extensiver an, auf mindestens drei Bereiche. 26 (i) Erstens, wo die lex secunda nur von der Benachteiligung des Verkäufers sprach, wendeten die mittelalterlichen Juristen die laesio enormis auch auf benachteiligte Käufer an. 27 Das Prinzip, dass die Regelung der laesio enormis auch für Käufer galt, war für die meisten Rechtsgelehrten unumstritten. Es gab aber einige Diskussionen darüber, wie man die Benachteiligung um mehr als 22 

Kalb (Fn. 8), 294. Grebieniow (Fn. 16), 214. 24  Siehe z.B. Trusen, Äquivalenzprinzip und gerechter Preis im Spätmittelalter, in: ders. (Hrsg.), Gelehrtes Recht im Mittelalter und in der frühen Neuzeit (1997), 531–547. Diese Deutung des iustum pretium als Marktpreis blieb auch in der Frühmoderne maßgebend, und wurde öfters in der niederländischen Konsilienliteratur aufgegriffen. Vgl. zum Beispiel ­Joannes Wamesius, Responsorum sive consiliorum de iure pontificio Tomus II, cons. 594, nr. 3: „Ita ut in nulla rerum specie magis obtineat id, quod vulgo dici solet, rem tanti valere, quanti communiter vendi potest, si venalis exposita sit […]“. Siehe auch noch Leonardus ­Lessius, De iustitia et iure caeterisque virtutibus cardinalibus libri IV (1621), lib. 2, cap. 23, dub. 4, nr. 27–46. 25  Trusen (Fn. 25), 531–547. 26  Siehe für eine Übersicht Hallebeek (Fn. 14), 21; Meynial, Des conditions requises au Moyen-Âge pour l’application de la rescision de la vente pour lésion d’outre-moitié, in: Mélanges P. F. Girard, Bd. 2 (1912), 201–224 (der daneben auch den Aufgang und Untergang der Bedingung der Ignoranz des Benachteiligten über den genauen Wert der Sache in der mittelalterlichen zivilrechtlichen Lehre betont). 27  Auch in anderen Bereichen entwickelten die mittelalterlichen Juristen (insbesondere Jacques de Revigny im 13. und Baldus de Ubaldis im 14. Jahrhundert) einen vertragsrechtlichen Paritätsgedanken. Siehe dazu Ernst, In connexis debet esse paritas. Die Ausbildung des vertragsrechtlichen Paritätsgedankens in der Lehre von Legisten und Kanonisten des 12. bis 14. Jahrhunderts am Beispiel der exceptio non adimpleti contractus, in: Kästner/Nörr (Hrsg.), Festschrift für Martin Heckel zum siebzigsten Geburtstag (1999), 513–534. 23 

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die Hälfte im Falle eines Käufers genau verstehen sollte. War eine Zahlung von 150 % des gerechten Preises schon genug oder trat laesio enormis erst bei einer Zahlung von mehr als 200 % des gerechten Preises ein? Die Mehrheit bevorzugte die erste Option, auch wenn die zweite selbst im 17. Jahrhundert noch Anhänger fand, zum Beispiel den südniederländischen Juristen Paulus Christinaeus (1553–1631). 28 (ii) Zweitens wurde der Schutz der lex secunda von den Gelehrten auch auf den Kauf beweglicher Güter ausgedehnt. Laut der französischen Spezialisten des Gewohnheitsrechts im 16. und 17. Jahrhundert wurde der Schutz gegen laesio enormis nur auf wertvolle Mobilien angewandt. 29 (iii) Drittens wurden die Regelungen der laesio enormis auch auf Mietverträge und Tauschverträge, im 13. Jahrhundert – schon von Azo30 – sogar auf alle contractus bonae fidei angewandt.31 Schon im selben Jahrhundert wendeten einige Rechtsgelehrte diesen Schutz sogar auf contractus stricti iuris, die eine kommutative rechtliche Verbindung hatten, an. Diese Autoren argumentierten, dass im Falle von Betrug in jedwelchem striktrechtlichen Verfahren eine exceptio doli erhoben werden konnte. Wenn dann doch eine laesio enormis als ein „Betrug aus der Sache selbst“ (dolus re ipsa) gedeutet wurde, war es nicht unlogisch, diese Möglichkeit auch im Falle striktrechtlicher Verträge zu gewährleisten.32 Theoretisch gab es dann aber noch immer Schwierigkeiten: Eine exceptio doli konnte ja nur vor der Erfüllung des Vertrages wirksam eingesetzt werden. Danach brachte diese exceptio nichts mehr. Jacques de Revigny (c. 1230–1296), ein Rechtsgelehrter aus Orléans im 13. Jahrhundert, suchte eine Lösung für dieses Problem. Da der Benachteiligte sich in einem striktrechtlichen Verhältnis nicht auf eine Kontraktsklage berufen konnte (wie die actio venditi oder die actio empti im Falle eines Kaufvertrages), schlug er einen neuen Rechtsbehelf für den 28  Zum Beispiel Paulus Christinaeus, Practicarum quaestionum rerumque in Supremis Belgarum Curiis iudicatarum observatarumque volumen II (1626), dec. 66. 29  Siehe z.B. Diodorus Tuldenus, Commentarius ad Codicem Iustinianeum (1650), ad C. 4.44.2: „Quod ex consuetudine in re mobili locum non habet, nisi sit pretiosa“. Tuldenus verweist zum Beispiel auf Charles Dumoulin (1500–1566) und Pierre Coustau (16. Jh.). In verschiedenen mittelalterlichen französischen städtischen Gewohnheitsrechten wurde eine Reszission im Falle einer laesio enormis eines Verkäufers beweglicher Güter vorgesehen. Siehe Garrison, Lésion et vente de meubles, in: Études historiques à la mémoire de Noël Didier (1960), 135–148. 30  Azo (Fn. 18), ad C. 4.44: „Quod dixi in venditione, ad quemlibet contractum bonae fidei extenditur. In contractu vero stricti iuris contra est“. 31  Siehe z.B., für eine spätmittelalterliche Übersicht der Diskussionen Joannes de Anania (Fn. 17), ad X. 3.17.3. 32  Becker, Die Lehre von der laesio enormis in der Sicht der heutigen Wucherproblematik. Ausgewogenheit als Vertragsinhalt und § 138 BGB (1993), 76; Kalb, Anwendbarkeit der laesio enormis auch bei stricti iuris negotia, in: Morsak/Escher (Hrsg.), Festschrift für Louis Carlen zum 60. Geburtstag (1989), 287.

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Fall, dass der Vertrag schon erfüllt worden war, vor, nämlich eine separate „condictio ex lege secunda“ oder „condictio ex lege Rem maioris“. Dabei ging es um einen Rechtsbehelf auf der Basis der oben genannten diokletianischen Konstitutionen.33 Die Kommentatoren übernahmen diese Theorie; Bartolus de Saxoferrato (1313–1357) schlug im Falle eines striktrechtlichen Vertrages eine exceptio doli vor und eine condictio indebiti nach der Vertragserfüllung vor. Eine condictio ließ – im Gegensatz zu einer actio bonae fidei – keine Rückforderung der Zinsen (usurae) zu.34 Der obengenannte Baldus, ein Schüler des Bartolus, bevorzugte indessen eher eine Berufung auf das officium iudicis, die Amtspflicht des Richters, wobei der Richter ein Urteil im Lichte der aequitas fällen konnte, auch im Rahmen eines striktrechtlichen Vertrages.35 Während die laesio enormis immer weiter ausgelegt wurde, wurde die restitutio in integrum für Minderjährige aber weiter eingeschränkt. Am Anfang des 16. Jahrhunderts forderte der niederländische Jurist und Präsident des Großen Rates von Mechelen, Nicolaus Everhardi (c. 1462–1532), sogar auch für die restitutio in integrum eine laesio enormis mit Missbrauch der Schwäche des Minderjährigen. Eine zufällig auftretende laesio oder selbst eine zufällige laesio enormis führte seiner Ansicht nach nicht zu der restitutio in integrum.36 Andererseits war es umstritten, ob die Parteien von vornherein, zum Beispiel durch einen Eid, auf die Rechtsmittel im Falle einer laesio enormis verzichten konnten. Diese Frage wurde insbesondere behandelt im Rahmen einer Verordnung des Kaisers Frederick I. Barbarossa (1152/5–1190), bekannt als Sacramenta puberum. Diese Konstitution wurde als authentica dem Codex hinzugefügt und verordnete, dass Eide von Minderjährigen älter als 12 Jahre (für Mädchen) oder 14 Jahre (für Jungs) verbindlich waren.37 Wenn sie schwuren, den Vertrag nicht anzugreifen (non venire contra), wurde das von den meisten Glossatoren 33 

Kalb (Fn. 33), 287–288. Bartolus de Saxoferrato (Fn. 16), ad C. 4.44.2: „Quaero tertio quid in contractibus stricti iuris. Dicit gl[osa] quod tunc obstat exceptio doli […]. Dicit Cy[nus] quod in hoc est uis: quia cum exceptio doli sit odiosa, ergo si soluisset, non posset repetere: sed in contactibus bonae fidei etiam post solutionem factam potest agi, ut rescindatur ut hic. Quod non placet, nam illa exceptio doli dicitur odiosa quia oritur ab initio ipso, non illa, quae oritur ex post facto, ubi non est commissus dolus in contrahendo, sed dolo facit in eo quod petit. […] Est ergo differentia inter contractus bonae fidei et stricti iuris. Nam in contractibus bonae fidei, antequam solvat, habet exceptionem […]. Item post rem traditam habet actionem, quae est bonae fidei, ut hic. Ideo in ea veniunt usurae, et aliae accessiones. Sed in contractibus stricti iuris antequam solvat, habet exceptionem; postquam solvit habet condictionem indebiti, quae est stricti iuris et in ea usurae non veniunt […]“. Siehe auch Kalb (Fn. 33), 288. 35  Kalb (Fn. 33), 288–289. 36  Nicolaus Everardi, Responsa siue Consilia (1554), cons. 96. 37  Hallebeek, Sacramenta puberum and laesio enormis. The Oath non venire contra by a Minor in Contracts of Sale according to Some Glossators, Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis 58 (1990), 55. 34 

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aber nur als ein Verzicht auf das Privileg der restitutio in integrum verstanden (wofür ein einfaches Ungleichgewicht genügte) und nicht als ein Verzicht auf die Rechtsmittel der laesio enormis, die ja zum gemeinen Recht gehörten. Dennoch war Azo der Meinung, dass ein ausdrücklicher Verzicht auf die Klage aus laesio enormis – und nur ein solcher – effektiv war, für Minderjährige wie für Erwachsene. Der Verzicht wurde dann einer Schenkung ähnlich. Eine Klage aus Übervorteilung war in einem solchen Falle nicht mehr möglich.38 In der accursischen glossa ordinaria konnte der Verzicht auf die laesio enormis sogar aus den Umständen abgeleitet werden: Accursius vertrat allerdings eindeutig nur die Sicht einer Minderheit der früheren Autoren.39 Die meisten Kommentatoren teilten die Meinung Azos. Für Bartolus, zum Beispiel, war ein eidlicher Verzicht eines Erwachsenen gültig, soweit der Eid nicht durch Arglist oder Furcht herbeigeführt worden war; ein eidlicher Verzicht eines Minderjährigen galt auch, wenn dieser Verzicht genügend klar formuliert worden war.40 Die Kanonisten, unter ihnen auch der vorgenannte Abbas Panormitanus des 15. Jahrhunderts, mahnten zu mehr Vorsicht und entwickelten den Begriff einer laesio enormissima, eine Übervorteilung um mehr als zwei Drittel des gerechten Preises. Sie argumentierten, dass, sogar im Falle eines Eides, eine solche laesio enormissima immer als dolus re ipsa interpretiert werden solle. Ein solcher Betrug aus der Sache selbst war ein angemessener Grund zur Entlassung aus den Eidverpflichtungen. In dem Falle gab es also eine unwiderlegbare Verschuldensvermutung.41 38  Azo (Fn. 18), ad C. 4.44: „Secus dico in minore iurante, quia sacramentum constituit eum loco maioris. Unde sicut quilibet maior praedictum beneficium implorare potest, nisi iuraret se non venturum contra, ratione minoris aetatis vel minoris precii; vel nisi dixerit se donare, quod erat ultra precium conventum: quod semper videtur dici, si sciat rem valere ultra dimidiam. Nec enim videtur deceptus, qui scivit […]“. 39 Siehe Hallebeek (Fn. 38), 62–70. 40  Bartolus de Saxoferrato (Fn. 16), ad C. 4.44.2: „Quaero, quid si maior qui vendidit iuravit non venire contra, an per iuramentum perdat beneficium huius legis? Gl[osa] tenet quod sic. […] Quod intellige, nisi fuerit dolo vel metu inductus, quia tunc etiam de iure canonico non tenetur ad observantiam iuramenti“. 41  Abbas Panormitanus (Fn. 13), ad X. 3.17.6, nr. 13: „Si tamen minor esset enormiter ­laesus, posset petere absolutionem iuramenti […]. Item secundum eum (= Antonium de ­Butrio) si intervenirent verba magis specifica, ut quando dixit minor se velle donare totum, quod plus valet, etiam in quantitate magna: quia in minori praesumitur deceptio […]. Et idem crederem dicendum in maiore, ut possit petere absolutionem a iuramento ratione enormissimae laesionis, intelligendo quod non donaverit, quod plus valebat, quia non praesumitur consensisse in tanta deceptione. Item iuramentum illicitum ex parte recipientis, cum interveniret ex parte sua dolus ex proposito, vel re ipsa, quo casu competit absolutio a iuramento […]“. Siehe auch Kalb, Die Wechselwirkung von Theologie und Kanonistik am Beispiel der laesio enormis, in: Landau/Müller (Hrsg.), Proceedings of the Ninth International Congress of Medieval Canon Law (Munich, 13–18 July 1992) (1997), 963; Kalb, Die laesio enormissima. Eine kanonistische Schöpfung im Rahmen der Lehre von der laesio enormis, Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis 57 (1989), 317–337.

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IV. Die moraltheologische Lehre der ausgleichenden Gerechtigkeit Trotz der sehr extensiven Auslegung der laesio enormis wurde von den Juristen nur sehr selten mit dem Konzept der Gleichheit (aequalitas) argumentiert. Nur eine zu große Ungleichheit (inaequalitas) oder Unbilligkeit (iniquitas) musste vermieden werden (quod inaequaliter factum est, in melius est reformandum).42 Das war anders bei den Moraltheologen. Schon ab dem 13. Jahrhundert arbeiteten Thomas von Aquin (1225–1274) und seine Nachfolger eine Lehre der ausgleichenden Gerechtigkeit heraus. Thomas von Aquin unterschied dabei zwischen dem menschlichen Recht (lex humana) und dem göttlichen Recht (lex divina). Das menschliche Recht tolerierte eine Verletzung des gerechten Preises, solange keine laesio enormis bestand. Laut göttlichem Recht hingegen war jegliche Verletzung der aequalitas iustitiae, d.h. der Gleichheit der Gerechtigkeit, verboten, soweit der Schaden nennenswert (notabile) war.43 Seine Lehre der ausgleichenden Gerechtigkeit sah eine Restitution im Falle einer Unausgewogenheit der vertraglichen Leistungen vor.44 Dazu entwickelte er auch die Idee des gerechten Preises weiter. Für ihn war der gerechte Preis prinzipiell der Marktpreis. Da der Marktpreis aber nicht immer genau bestimmt werden konnte, introduzierte Thomas eine gewisse Bandbreite (latitudo) des „gerechten Preises“, mit einem Mindestpreis (infimum pretium), einem mittleren Preis (medium pretium) und einem Höchstpreis (maxi­mum pretium).45 Die thomistische Lehre wurde von anderen Moraltheologen, ab dem Anfang des 16. Jahrhunderts unter anderen von denjenigen der Schule von Salamanca, weitergehend kommentiert und auf viele unterschiedliche vertragliche Situationen angewandt. Die Thomisten stützten sich vor allem auf alte moraltheologische Argumentationen, auf die aristotelische nikomachische Ethik und auf die Lehre des dominium als absolutes subjektives Recht.46 (i) Thomas und seine Nachfolger knüpften mit dieser Lehre tatsächlich an eine längere Tradition an. Schon der 42  Zum Beispiel Collectio Senensis, XXVIII, in: Gaudenzi (Hrsg.), Scripta Anecdota Glossatorum, vol. 2 (1892), 152: „Si dolus inest re ipsa, distinguendum est utrum equitate pacti possit tolerari annon, ut siquidem equitate pacti tolerari possit, non agatur, quia licet contrahentibus se naturaliter circumvenire. Si autem talis est deceptio que non possit tolerare equitate pacti, puta si emit plus duplo, vel vendidit minus dimidio iusti pretii, quod inequaliter factum est, in melius est reformandum“. Siehe auch Rogerius, in: Palmerio (Hrsg.), Scripta Anecdota Antiquissimorum Glossatorum, vol. 1 (1888), 126: „propter rei iniquitatem rescinditur venditio, ut puta: minus dimidia iusti pretii vendidit“. 43  Kalb (Fn. 8), 291–292. 44 Siehe Thomas von Aquin, Summa Theologiae, 2a 2ae, q. 77, art. 1, ad 1. 45  Becker (Fn. 33), 32. 46  Jansen, Theologie, Philosophie und Jurisprudenz in der spätscholastischen Lehre von der Restitution, Tübingen (2013), 25–42.

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Kirchenvater Augustinus (354–430) betonte die Notwendigkeit einer Restitution für Sündenvergebung im Falle eines Diebstahls, d.h. eines Verstoßes gegen das siebte Gebot. Auch im hohen Mittelalter wurde schon auf die Restitu­tions­ pflicht hingewiesen, zum Beispiel in der Summa de animae consiliis des ­Petrus Cantor (ca. 1150–1197) und in der Summa aurea des Wilhelm von A ­ uxerre (ca. 1145–1231).47 Der Kanonist Sinibaldus Fliscus (ca. 1195–1254), der spätere Papst Innozenz IV., war sich schon in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts einer solchen Restitutionspflicht in foro interno (oder: iure poli) bewusst.48 (ii) Im Zentrum stand in dieser alten moraltheologischen Tradition nicht so sehr der Schadensausgleich zugunsten des Opfers, sondern vielmehr das Seelenheil des Täters.49 Das änderte sich bei Thomas von Aquin – und früher schon ansatzweise bei Albertus Magnus (1200–1280) – unter Einfluss der nikomachischen Ethik. Sie setzten sich für einen eigenen Anspruch des Opfers auf Wiedergutmachung ein.50 (iii) Die späteren Moraltheologen, wie Francisco de Vitoria (c. 1483–1546), stellten darauf ab, dass die Restitution ihre Grundlage in einer Verletzung eines als subjektives Recht geschützten Rechtsgutes hatte, nämlich des dominium der benachteiligten Partei. Hier kamen aber zusätzlich auch römischrechtliche Erwägungen zum Tragen. Viele Spätscholastiker waren gut mit dem römischen Recht vertraut. Manche waren sich unter anderem der Unterschiede zwischen der gängigen Lehre der Bartolisten und den thomistischen Thesen durchaus bewusst. Das sehr begrenzte römische Rechtsmittel der in integrum restitutio war zum Beispiel ganz anderer Art als die thomistische Lehre der restitutio im Sinne eines umfassenden Ausgleichs.51 Den Begriff eines „Betrugs aus der Sache selbst“ kannten die Moraltheologen nicht; sie bevorzugten eher die Theorie der i­ ustitia commutativa, die eine Ausgewogenheit der vertraglichen Leistungen erforderte. Sowohl im Falle einer Bereicherung (ratione rei acceptae) als auch im Falle eines schuldhaft begangenen Unrechts (ratione acceptionis) sollte restitutio geleistet werden.52 Um diesem Unterschied gerecht zu werden, wurde das forum internum anfangs generell vom forum externum unterschieden. Diego de Covarrubias y Leyva (1512–1577), zum Beispiel, argumentierte, dass im externen Rechtsbereich (in foro externo) die aequitas eigentlich nur auf contractus bonae fidei ange47 

Hallebeek (Fn. 14), 18–19; Kalb (Fn. 42), 966–967. Innocentius IV, Commentaria super libros quinque Decretalium (1570), ad X. 5.19.5: „[…] Vel nemo circumveniat in negotio, supple venditionis, ultra dimidiam iusti precii: intra non dimidiam possent se decipere iure fori [X. 3.17.3] sed forsan non iure poli accipiunt“. 49  Jansen (Fn. 47), 25–28. 50 A.a.O., 28–33. 51 A.a.O., 24. 52  Für eine Behandlung des Unterschieds zwischen beiden Kategorien, siehe a.a.O., 49– 142. 48 

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wandt werden dürfe, während im internen Rechtsbereich (in foro interno) – also im Bereich des Beichtsakramentes – alle Verträge dem Billigkeitsprinzip unterlägen.53 Mit Verweis auf denselben Unterschied zwischen dem internen und dem externen Rechtsbereich argumentierte auch der Löwener Moraltheologe Leonardus Lessius (1554–1623), dass die Regelung der laesio enormis im externen Rechtsbereich nur auf Übervorteilung um mehr als die Hälfte des gerechten Preises angewandt werde, um die Zahl der Rechtsstreitigkeiten zu beschränken. In foro interno galt jedweder Verstoß gegen die ausgleichende Gerechtigkeit als sündhaft.54 Eine ähnliche Argumentation wurde übrigens auch von den lutherischen Theologen entwickelt.55 Martin Luther (1483–1546) hatte noch gegen die aristotelischen Einflüsse auf die Theologie reagiert,56 aber eine 2019 erschienene Monographie zeigt, dass Philipp Melanchthon (1497–1560) und seine Nachfolger sich schon wieder auf die Lehre der iustitia commutativa stützten, die sie mit dem siebten Gebot verbanden.57 Auch andere Bibelstellen, wie der erste Brief an die Thessalonicher (1 Thess. 4:6), wurden herangezogen, z.B. in der Dissertatio de contractibus Melanchthons.58 Anders als für die Scholastiker, die die ausgleichende Gerechtigkeit als eine natürliche Tugend ansahen, war iustitia commutativa für die lutherischen Moraltheologen aber eine Art Nächstenliebe (caritas), die Dankbarkeit und Gehorsam gegenüber Gott ausdrückte. Die Sorge um ausgleichende Gerechtigkeit war für die Lutheraner eine Gewissenspflicht, entledigte sich aber größtenteils ihrer theologischen Bedeutung für die Vergebung der Sünden.

V. Aufnahme in der Rechtslehre, auch im externen Rechtsbereich Die thomistische Lehre hat auch die Juristen und Kanonisten inspiriert. Der italienische Jurist Baldus de Ubaldis, von dem schon in der Einführung die Rede war, war einer der ersten zivilrechtlichen Juristen, die von Aristoteles und Thomas maßgebend beeinflusst wurden. Für Baldus war der Begriff aequitas von großer Bedeutung. Aequitas wurde schon von einem der ersten Glossatoren, nämlich Martinus de Gosia (gest. 1167), definiert als eine Symmetrie der Leistungen (convenientia obligationum), die in gleichen Fällen gleiche Rechte ver53 

Kalb (Fn. 33), 291. Leonardus Lessius (Fn. 25), lib. 2, cap. 21, dub. 4.; Kalb (Fn. 8), 298–299. 55  Astorri, Lutheran Theology and Contract Law in Early Modern Germany (ca. 1520– 1720) (2019), 319–320. 56  Jansen (Fn. 47), 8. 57  Astorri (Fn. 56), 173. 58 A.a.O., 176. 54 Siehe

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langt (quae in paribus negotiis paria iura desiderat).59 In seinem Dictionarium iuris hat Baldus’ Zeitgenosse Albericus de Rosate (1290–1360) die aequitas als eine geordnete Gerechtigkeit definiert, die von der Süße der Barmherzigkeit gemäßigt wird (ordinata iustitia, temperata dulcedine misericordiae).60 Baldus schloss sich aber eher der martinischen Tradition an, da er die aequitas als quasi aequalitas bezeichnete, also der Gleichheit ähnlich. Gleichheit war für Thomas von Aquin der Grundsatz der Tauschgerechtigkeit. Obwohl Baldus den Terminus iustitia commutativa in den für diesen Beitrag gelesenen Stellen nicht benutzte, gab er als Hauptbeispiel für aequitas die Regel, dass niemand sich – zumindest im Gewissensbereich – zu Lasten Anderer bereichern dürfe.61 Ein Gleichgewicht der vertraglichen Leistungen sollte erstrebt werden. Wie gesagt, argumentierte Baldus, dass beim Interpretieren und Rechtfertigen von Verträgen die aequitas, bzw. die aequalitas respektiert werden müsse, sowohl die gleiche Stellung der Vertragsparteien wie auch die Gleichheit der vertraglichen Leistungen.62 Die inhaltliche Differenz zwischen forum internum und forum externum war ab dem 15. Jahrhundert bei den Juristen und Kanonisten nicht länger ganz so strikt. Um den Anforderungen des forum internum gerecht zu werden, betonte Abbas Panormitanus zum Beispiel, dass sobald die laesio enormis teilweise durch subjektive Arglist zustandegekommen sei, der übervorteilenden Partei auch in foro externo eine Restitutionspflicht auferlegt werde.63 Derselbe suggerierte sogar, dass das bloße Wissen des Käufers um den höheren Wert des Kaufgegenstands – eben das später auftretende Wissen (scientia superveniens) – den Käufer schon zu solcher Restitution nötige.64 59 

Cortese, Équité et justice. La dynamique bipolaire du droit au Moyen Âge, in: d’Alte­ roche et al. (Hrsg.), Mélanges en l’honneur d’Anne Lefebvre-Teillard (2010), 304–305. 60  Albericus de Rosate, Dictionarium iuris (1573), v° Aequitas. 61  Gordley, Good Faith in Contract Law in the Medieval Ius Commune, in: Zimmermann/Whittaker (Hrsg.), Good Faith in European Contract Law (2000), 108. 62  Baldus de Ubaldis (Fn. 6), ad C. 4.44.2, nr. 48: „In contractibus est servanda aequitas, vel aequalitas, tam in interpretandis, quam in ipsis iustificandis“. Im Kontext dieser Aussage ging es darum, die Wirkung der lex secunda auch auf den Käufer anzuwenden. 63  Abbas Panormitanus, In Quartum et Quintum Decretalium Libros (1617), ad X. 5.19.5: „Ex hoc ergo dicendum, quod ubi coniecturis potest apparere de dolo ex proposito, potest compelli clericus etiam in foro contentioso ad restituendum id, quod habuit ultra verum pretium et idem puto in laicis saltem in foro ecclesiastico“. 64  Abbas Panormitanus (Fn. 13), ad X. 3.49.8: „Si autem dolus non dedit causam con­ tractui, nec incidit in contractum, et tunc autem emptor sciebat rem plus valere, et venditor ignorabat, et dic quod in foro animae tenetur restituere, quod plus valebat, quia agit contra iustitiam naturalem decipiendo saltem proximum in precio. […] Et quod dicitur licitum esse contrahentibus se decipere usque ad dimidiam iusti precii … Dic secundum Innocentium … quod illud procedit iure fori, non iure poli, id est quo ad Deum non procedit, sed ius positivum voluit pro modica laesione dare actionem in odium litium, et quia homines omni die super hoc litigarent […]. Si autem uterque fuit ignorans et emptor, et venditor, sed re ipsa intervenit deceptio in precio, potest dubitari, an scientia superveniente teneatur restituere id, in

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Kanonisten und immer mehr Zivilrechtler wendeten außerdem die extensive Auslegung der aequitas auch im externen Rechtsbereich an. Ein häufig benutztes Prozedere für diese extensive Auslegung mag die denuntiatio evangelica gewesen sein. Dieses Verfahren folgte schon aus einer Dekretale des Papstes Innozenz III. aus dem Jahre 1204 (X. 2.1.13, Novit ille) und erlaubte Offizialitäten sich mit sündhaften Praktiken auseinanderzusetzen.65 Alle Verträge, auch die striktrechtlichen, wurden aus einem Bilateralismus heraus interpretiert: Die ausgleichende Gerechtigkeit (iustitia commutativa) – die für die damaligen Juristen aus dem Prinzip der aequitas folgte – musste in allen synallagmatischen Verträgen beachtet werden.66 Auch der berühmte französische Jurist Charles Dumoulin (Molinaeus, 1500–1566) hielt am Prinzip der Tauschgerechtigkeit fest.67 Aus praktischen Gründen billigte er die etwas begrenztere Lehre der laesio enormis, auch wenn er vorschlug, schon bei Übervorteilung um mehr als ein Drittel des gerechten Preises die Klage aus laesio enormis zuzugestehen.68 Die frühmodernen Juristen lasen selbstverständlich auch die Digestenstellen über das circumvenire, das Hintergehen. Sie versuchten, diese Stelle möglichst beschränkt auszulegen. Mehrere Kanonisten, unter ihnen auch der einflussreiche Löwener Kanonist Andreas Vallensis (1569–1636), argumentierten eben, dass das von einigen Digestenstellen erlaubte circumvenire nur innerhalb des Ermessensraums des gerechten Preises gestattet sei. Damit bezogen sie sich auf die vorgenannte thomistische Theorie, dass der gerechte Preis nicht einen einzigen, festen Betrag, sondern eine gewisse Bandbreite beinhalte, mit einem Mindestbetrag (infimum pretium), einem mittleren Betrag (medium pretium) und einem Höchstbetrag (summum pretium). Nur innerhalb dieser Grenzen war das circumvenire erlaubt. In allen anderen Fällen bestand ein Verstoß gegen die iustitia commutativa und sollte Restitution geleistet werden (entweder durch Zurückerstattung oder durch eine zusätzliche Bezahlung).69 quo alius fuit deceptus. Et credo, quod sic, si a principio emisset pro vero valore, si illud scivisset. Secus puto, si non emisset pro illo precio, debet tamen restituere rem, ex quo vult alter restituere pretium, ex quo non vult supplere iustum precium“. Siehe auch Kalb (Fn. 42), 972. 65  Hallebeek (Fn. 14), 20. 66  Kalb (Fn. 33), 293–294 (mit Verweis auf Engel, Pichler, Laymann und Pinel). 67  Decock (Fn. 7), 149. 68  Becker (Fn. 33), 53. 69  Andreas Vallensis, Paratitla sive summaria et methodica explicatio Decretalium D. Gregorii Papae IX (1722), ad X. 3.17, § 3, nr. 3: „Porro tametsi ob laesionem infra dimidium justi pretii lex, ut dixi, non rescindat venditionem, sed talem laesionem toleret: tamen non ideo licet alterum contrahentium usque ad dimidium justi pretii circumvenire, sed justo pretio res vendi et emi debet. Nec obstat [l. In causa 16 D. De minor.] quia quod ibi dicitur, licere contrahentibus naturaliter se circumvenire, intelligi debet infra latitudinem justi pretii, quod est vel summum, vel medium, vel infimum. Neque enim licet vel pluris vendere, vel minoris emere, quam valeat, ne quidem infra dimidium justi pretii. Ideoque qui vel pluris vendit, quam res summo pretio valeat, vel minoris emerit,quam valeat infra infimum pretium, peccat procul dubio, et tenetur ad restitutionem. D[ominus] Th[omas] 2a 2ae q[uaestione] 77 art[iculo] 1. […] Verum

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Trotzdem gab es aber doch noch viele Juristen, die für eine Restitutionsklage immerhin eine Übervorteilung um mehr als die Hälfte des gerechten Preises forderten. Dazu führten sie eigentlich noch immer die selben Gründe an: Ein zu starkes Erfordernis einer aequalitas beeinträchtige den Handel, wie zum Beispiel der südniederländische Iura-Professor Diodorus Tuldenus (1590–1645) noch argumentierte.70 Derselbe Tuldenus beschränkte den Anwendungsbereich auch wieder auf contractus bonae fidei: Man sollte ja keine Streitigkeiten sähen.71 Auch die Autoren des französischen Gewohnheitsrechts des 17. Jahrhunderts warnten vor einer zu weiten Auslegung des aequitas-Begriffes im Vertragsrecht.72

VI. Die Zentralität der aequalitas bei Grotius Ein weiterer wichtiger Schritt erfolgte im 17. Jahrhundert. Hugo Grotius (1583– 1645) war eine zentrale Figur für die Entwicklung dieses Gleichheitsthemas im Vertragsrecht. Er wurde stark beeinflusst von der spanischen Spätscholastik, obwohl er – wie Jansen bezüglich der Restitutionsverpflichtungen in außervertraglichen Situationen gezeigt hat – in entscheidenden Punkten von der Moraltheologie abwich, oft in Folge seines Bemühens, ein säkulares Naturrecht zu entwickeln.73 In seinem juristischen Hauptwerk De iure belli ac pacis schrieb Grotius, dass die Natur im Vertragsrecht Gleichheit (aequalitas) erfordere (in contractibus natura aequalitatem imperat). Diese Gleichheit bestehe teilweise in Taten (in actibus), teilweise aber auch im Vertragsgegenstand (in eo de quo agitur).74 Was die erste Kategorie anbetrifft, erwartet das Naturrecht zum Beispiel von einem Verkäufer, dass er die Mängel des Kaufgegenstands andeutet, nicht neque lex, neque etiam Canon, rescindit emptionem, licet supra summum pretium, res vendita sit, dummodo non ultra dimidium iusti pretii“. 70  Diodorus Tuldenus (Fn. 30), ad C. 4.44.2: „Et salubri sane temperamento lex secunda prospexit, ne vel immodica inaequalitas justitiam proculcet, vel omnimodae aequalitatis norma refrigeret, turbetque commercia, omni spe lucri extincta“. 71  Diodorus Tuldenus (Fn. 30), ad C. 4.44.2: „Itaque haec reformatio contractus ex aequitate non convenit iis, qui strictam habent formulam, qua Iudicem adstringunt. […] Aliud est in bonae fidei contractibus, qui laxiorem aequitatis interpretationem Iudici permittunt […]“. 72  Drand, L’équité en matière contractuelle selon les auteurs de droit français du XVIe au XVIIIe siècle, in: Garnot/Lemesle (Hrsg.), La justice entre droit et conscience du XIIIe au XVIIIe siècle (2014), 41–49. 73  Jansen (Fn. 47), 176–188. So differenzierte er zum Beispiel stark zwischen dem Bereicherungsrecht und dem Deliktsrecht, zwei Bereiche, die von den Spätscholastikern als Zweige des Restitutionsrechts behandelt wurden. 74  Hugo Grotius, De iure belli ac pacis, Reprint (1993), 2.12.8: „In contractibus natura aequalitatem imperat, et ita quidem ut ex inaequalitate ius oriatur minus habenti. Haec aequalitas partim consistit in actibus, partim in eo de quo agitur: et in actibus, tum praecedaneis, tum principalibus“. Siehe auch Grebieniow (Fn. 16), 216.

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aber dass er andere Informationen – zum Beispiel über die Marktlage – mitteilt. Was die zweite Kategorie anbetriftt, betonte Grotius, dass diese Gleichheit der vertraglichen Leistungen in Tauschverträgen (in permutatoriis omnibus) beachtet werden solle; Schenkung werde nicht vermutet.75 Ein Ungleichgewicht führe zu einer Restitutionspflicht.76 Es soll dann auch nicht verwundern, dass Grotius auch in seiner Inleidinge tot de Hollandsche Rechts-geleertheyd die laesio enormis sehr weit fasst.77 In der Inleidinge brachte Grotius auch verschiedene condictiones des römischen Rechts zusammen unter einem Titel, nämlich Verpflichtungen aus Bereicherung (verbintenisse uit baettrecking). Spätere Naturrechtler, wie Samuel Pufendorf (1632–1694) und Christian Wolff (1679–1754), waren auch der Meinung, dass jede Benachteiligung, auch jedes vertragliches Ungleichgewicht, zu Restitution nötigen könne.78 Es brauche dazu laut des Naturrechts keine Überschreitung der Benachteiligung um mehr als die Hälfte, auch wenn z.B. Pufendorf akzeptierte, dass aus praktischen Gründen kleine Benachteiligungen nicht zu Prozessen führen sollten.79 Daher blieb im Vertragsrecht die gesonderte Lehre der laesio enormis weiterhin von Bedeutung. Auch die Juristen der römisch-holländischen Schule benutzten dazu den Begriff iustum pretium. Sie gingen in der Regel davon aus, dass der übliche Preis, der Marktpreis, mit dem gerechten Preis übereinstimme. Sie wendeten diese Lehre mehrheitlich noch stets auf benachteiligte Käufer an und optierten auch für eine weite Auslegung der laesio enormis-Regelung auf 75  Hugo Grotius (Fn. 75), 2.12.11: „In ipso actu principali haec desideratur aequalitas, ne plus exigatur quam par est. […] At in permutatoriis omnibus sollicite id observandum est, nec est quod dicat quispiam id quod pars altera amplius promittit donatum censeri. Neque enim solet hic esse tales contractus ineuntium animus, nec praesumendus est nisi appareat“. 76 A.a.O., 2.12.12: „Restat aequalitas in eo de quo agitur, in hoc consistens, ut etiamsi nec celatum quicquam sit quod dictum oportuit, nec plus exactum quam deberi putabatur, in re tamen deprehendatur inaequalitas, quanquam sine culpa partium, puta quod vitium latebat, aut de pretio errabatur, ea quoque sit resarcienda, et demendum ei qui plus habet reddendumque minus habenti: quia in contractu id utrimque propositum aut fuit, aut esse debuit, ut uterque tantundem haberent“. 77  Hugo Grotius, Inleiding tot de Hollandsche Rechtsgeleertheid (1631), 3.17: „Ten­ vijfde / indien den kooper ofte verkooper in het koopschat zijn bekocht boven de helft van de rechte waerde / al is ‘t zoo datter gheen bedrog ter eener ofte ter andere zijde is gepleegt / zoo vermag den verkortte den andere de keure te geven of hy de koop will vernietigen / dan of hy ‘t koopschap will vermeerderen ofte verminderen nae de rechte waerde: maer alzoo deze maniere van herstellinge meest alle handelinge raeckt / zal daer van hier nae in ‘t ghemeen breeder gesproken werden“. 78  Samuel Pufendorf, De jure naturae et gentium (1684), lib. 5, cap. 3, § 1 und 8. Siehe auch Christian Wolff, Jus naturae methodo scientifica pertractatum, IV, De actibus ad aliorum utilitatem tendentibus in specie, (1744), § 1052. Siehe auch Becker, Das Problem der Austauschgerechtigkeit, in: Feenstra/Zimmermann (Hrsg.), Das römisch-holländische Recht. Fortschritte des Zivilrechts im 17. und 18. Jahrhundert (1992), 211–212. 79  Samuel Pufendorf (Fn. 79), lib. 5, cap. 3, § 9.

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andere Verträge, insbesondere diejenige bonae fidei.80 Bernardus Schotanus (1598–1652) wendete die Regelung der laesio enormis auch auf striktrechtliche Verträge an, aber ihm wurde darin von späteren Kollegen, wie Johannes Voet (1647–1713), nicht beigetreten.81 Ein Verzicht, eben im Zeitpunkt des Vertragsschlusses selbst, blieb auch für die römisch-holländische Schule möglich. Auch unter den südniederländischen Autoren des 17. Jahrhunderts behielt die Lehre der laesio enormis eine wichtige Rolle. Grotius’ vorgenannter süd-niederländischer Zeitgenosse Tuldenus begründete die Ausdehnung der Klagemöglichkeit wegen laesio enormis auf Käufer aufgrund der Gleichheit (aequalitas) der beiden Vertragsparteien. Die völlige aequalitas der vertraglichen Leistungen selbst wurde von ihm aber nicht gefordert. Gleicherweise schrieb auch sein Löwener Kollege Antonius Perezius (1583–1672) noch immer, dass ein leichtes Ungleichgewicht nicht zu einer Restitutionsklage veranlassen könne. Nur eine immodica laesio führe dazu. Eine Benachteiligung um mehr als die Hälfte des gerechten Preises konstituierte eine solche immodica laesio.

VII. Gegenbewegung: Christian Thomasius Bis ins ausgehende 17. Jahrhundert spielte die laesio enormis also eine sehr bedeutende Rolle. Doch blieb dieses Institut in den meisten bürgerlichen Gesetzbüchern nicht, oder nur in einer sehr beschränkten Fassung, erhalten. Diese geringe Rezeption erklärt sich durch die Entwicklung einer Gegenbewegung ab dem Ende des 17. Jahrhunderts. Schon früher, im 16. Jahrhundert, hatten die französischen Humanisten Jacques Cujas (1522–1590) und Antoine Favre (1557–1624) erneut auf den ursprünglich sehr begrenzten Anwendungsbereich der diokletianischen Reskripte hingewiesen. Sie stellten zurecht fest, dass die Reskripte keine generelle Austauschgerechtigkeit erstrebten. Erst ab dem ausgehenden 17. Jahrhundert kam aber eine wirkliche Gegenbewegung auf. Anders als die meisten seiner römisch-holländischen Kollegen,82 kritisierte der niederländische Jurist und Professor in Franeker, Ulrik Huber (1636–1694), jegliche Ausbreitung der laesio enormis-Lehre außerhalb des Kaufvertrages.83 Und das war erst der Anfang: Zeitgenössische Naturrechtler, wie 80 

Becker (Fn. 79), 214 Bernardus Schotanus, Examen juridicum, Leiden (1657), ad D. 18.5 und C. 4.44: „Habetne etiam in aliis contractibus haec res locum? Utique, sive sit bonae fidei sive stricti juris; sive sit nominatus, sive innominatus: etiam in transactione, in divisione, in venditione ex judicis decreto, et in subhastatione, quia in omnibus bona fides servanda est“. Contra Joannes Voetius, Commentarius ad Pandectas (1698), ad D. 18.5, nr. 14. Siehe auch Becker (Fn. 79), 216. 82  Becker (Fn. 79), 214, mit Bezug auf Antonius Matthaeus (I), Bernardus Schotanus, Simon van Leeuwen und Johannes Voet. 83  Ulricus Huber, Praelectionum juris Romani et hodierni pars II, quae est ad Libros undeviginti priores Pandectarum (1700), ad D. 18.5, nr. 3. Siehe auch Becker (Fn. 79), 213–214. 81 

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Samuel Pufendorf, betonten die Tauschgerechtigkeit, aber zweifelten schon daran, ob ein Gegenstand überhaupt einen „gerechten“, im Gegenstand selbst innewohnenden, Preis habe. Der Naturrechtler Christian Thomasius (1647–1713) lehnte die Anfechtung eines Kaufvertrages wegen laesio enormis sogar prinzipiell ab.84 Laesio enormis wurde von ihm nicht länger als unabhängiger Klagegrund aufgefasst. Thomasius ging davon aus, dass der Preis stets auf einer freien Vereinbarung der Parteien beruhe; die Parteienvereinbarung stimme also prinzipiell immer mit dem iustum pretium überein. Jemand der den wahren Wert der Sache gekannt habe, könne nicht benachteiligt werden, wie Samuel Stryk (1640–1710) auch eher schon betont hatte.85 Die Lehre der laesio enormis wurde von Thomasius als überflüssig und für die Praxis als irrelevant bezeichnet. Er sprach von einer unbegründeten Billigkeit, einer „theoretischen, nur im Gehirn bestehenden Billigkeit“ (aequitas cerebrina), also fast wie ein Gedankenspiel.86 Nur im Falle eines wirklichen Betruges oder im Falle eines „Missbrauchs der Umstände“ konnte noch Klage erhoben werden.87 Thomasius’ Skepsis wurde auch von anderen Juristen geteilt, wie zum Beispiel Nicolaus Hieronymus Gundling (1671–1729). Diese Skepsis blieb auch bei der bürgerlichen Gesetzgebung des 19. Jahrhunderts von großer Bedeutung. Im französischen Code civil (Art. 1674), zum Beispiel, wurde die laesio enormis wieder sehr eng verstanden. Manche anderen Gesetzbücher sprachen der laesio enormis sogar gar keine Bedeutung zu.

VIII. Einige Schlussfolgerungen Dieser Beitrag hat versucht, eine Übersicht der Entwicklung des Gleichheitsbegriffs im gelehrten Vertragsrecht zu bieten. Erstens wurde gezeigt, wie ein römischrechtliches Institut mit einem sehr beschränkten Anwendungsbereich, nämlich die laesio enormis oder Übervorteilung des Verkäufers eines Grundstücks um mehr als die Hälfte, von den mittelalterlichen akademischen Rechtsgelehrten immer weiter ausgelegt wurde. Zweitens wurde auch klar, wie die ausdehnende Auslegung der laesio enormis anfangs mit Berufung auf den „Betrug aus der Sache selbst“ (dolus re ipsa) entwickelt wurde und erst später mit dem Begriff aequitas in Verbindung ge84  Kalb (Fn. 33), 295; Luig, Der gerechte Preis in der Rechtstheorie und Rechtspraxis von Christian Thomasius (1655–1728), in: Diritto e potere nella storia europea. Atti in onore di B. Paradisi, Bd. 2 (1982), 775–803. 85  Christian Thomasius, De aequitate cerebrina l. 2 Cod. de rescindenda venditione eiusque usu practico (1706). Siehe auch Luig, Thomasius als Praktiker auf dem Gebiete des Privatrechts, in: Vollhardt (Hrsg.), Christian Thomasius (1655–1728). Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung (1997), 124–127. 86  Kalb (Fn. 8), 300. 87  Grebieniow (Fn. 15), 193–194.

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bracht wurde. Aequitas erforderte schon im 12. Jahrhundert laut dem Glossator Martinus de Gosia, dass in gleichen Fällen gleiche Rechte gelten. Unter Einfluss der thomistischen Lehre der ausgleichenden Gerechtigkeit oder Tauschgerechtigkeit (iustitia commutativa), die ein Gleichgewicht der vertraglichen Verpflichtungen unterstellte, bezeichnete Baldus im 15. Jahrhundert die aequitas als quasi aequalitas, als der Gleichheit ähnlich. Drittens hat sich auch gezeigt, dass diese quasi aequalitas nicht nur ein inhaltliches Gleichgewicht der vertraglichen Leistungen erwartete, sondern auch eine gleiche Behandlung der Vertragsparteien. Baldus argumentierte mit Bezug auf dieses Gleichheitsprinzip, dass ein Fürst seine vertragliche Pflichten befolgen müsse. Die südniederländischen Juristen des 17. Jahrhunderts plädierten mit Verweis auf die aequalitas für eine gleiche Behandlung von Käufern und Verkäufern. Viertens wurde betont, dass das Gleichheitsprinzip im gelehrten Vertragsrecht seinen Höhepunkt im frühen 17. Jahrhundert erreichte, mit der Naturrechtslehre des Hugo Grotius. Merkwürdigerweise waren es genau die späteren Naturrechtler, die die laesio enormis am schärfsten kritisierten, auch wenn sie prinzipiell noch die Tauschgerechtigkeit verteidigten. Von grundlegender Bedeutung dafür war die geänderte Auffassung vom gerechten Preis (iustum pretium). Wenn man – wie Thomasius – den Preis, der aufgrund einer freien Vereinbarung der Vertragsparteien zustandegekommen ist, immer als den gerechten Preis verstand, war die laesio enormis tatsächlich zu einer „nur theoretischen Billigkeit“, einem einfachen Gedankenspiel, einer aequitas cerebrina, geworden.

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Privatrechtliche Freiheit und Gleichheit im Zeitalter der Kodifikation Entwicklungen im englischen Common Law und auf dem europäischen Kontinent Birke Häcker

I. Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  29

II. „Kodifikation“ – Das theoretische Verhältnis von Freiheit und Gleichheit. . . . . . . . 1. Vernunftrechtliche Grundlagen der kontinentaleuropäischen Kodifikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Kodifikationsdebatte im englischen Common Law und das richterliche Fallrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zwischenergebnis zu Teil II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 30  30  35  44

III. Das praktische Spannungsverhältnis von Freiheit und Gleichheit im Privatrecht ����  44 1. „Freiheit“ – Abschaffung von Sklaverei und Leibeigenschaft und Anerkennung allgemeiner Rechtsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  46 2. „Gleichheit“ – Der Kampf um materielle Gleichberechtigung im Zivilrecht ������  51 IV. Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  61

I. Einführung „Liberté, Égalité, Fraternité“ – „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“, so schallte es im Sommer 1789 durch Paris und von dort aus durch ganz Europa. Doch wie manifestierten sich diese Prinzipien im Privatrecht, in der Theorie und Praxis der rechtlichen Beziehungen der Bürger untereinander, während des damals gerade beginnenden Zeitalters der großen europäischen Kodifikationen? Die Organisatoren der Fachgruppe und Herausgeber dieses Tagungsbandes haben mir die Aufgabe zugedacht, die Postulate der Freiheit und der Gleichheit, und ihr Verhältnis zueinander, rechtsvergleichend zu beleuchten, und zwar sowohl dies- als auch jenseits des Ärmelkanals. Ich beziehe das Kodifikationszeitalter hier auf die Epoche von ca. 1750 bis 1900, also ungefähr von der Entstehung des Codex Maximilianeus Bavaricus Civilis unter Wiguläus von Kreittmayr bis zum Inkrafttreten des BGB. Der Beitrag wird aber darüber hinausgehend auch etwas ins 20. Jahrhundert hinein blicken. Er untergliedert

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sich in zwei Hauptteile, welche schlagwortartig die insgesamt drei im Thema angelegten Begriffe „Kodifikation“, „Freiheit“ und „Gleichheit“ aufgreifen und miteinander verweben. Der erste, mit „Kodifikation“ überschriebene Teil des Beitrags beschäftigt sich mit der theoretischen Beziehung zwischen Freiheit und Gleichheit, vor allem was die vernunftrechtlichen Grundlagen der frühen kontinentalen Kodifikationen anbelangt. Er will zunächst zeigen, dass Freiheit und Gleichheit dort keineswegs in einem unauflöslichen Spannungsverhältnis stehen, sondern geradezu als Komplementär­voraussetzungen verstanden werden müssen. Beide sollten mittels der entstehenden Gesetzeswerke gleichermaßen umgesetzt werden (II.1). Anschließend wird es um die Frage gehen, ob dasselbe Verständnis auch der zeitgleich stattfindenden Kodifikationsdebatte im Common-Law-Raum zugrunde lag und wie es sich mit Blick auf das letztlich doch unkodifiziert gebliebene englische Richterrecht verhält (II.2). Freilich sagt die theoretische Kompatibilität von Freiheit und Gleichheit noch nichts aus über den materiellen Gehalt des Rechts. Der zweite Teil des Beitrags geht deshalb dem in der Praxis durchaus und schon immer bestehenden Spannungsverhältnis zwischen beiden Postulaten nach, und zwar anhand zweier konkreter Entwicklungen. Zum einen fällt in die untersuchte Epoche (genauer gesagt: an ihren Anfang) die Abschaffung von Sklaverei und Leib­ eigenschaft, also das rechtliche „Person“-Werden aller Menschen, sowie die Anerkennung der allgemeinen Rechtsfähigkeit. Dieser Prozess soll unter dem Stichwort „Freiheit“ beleuchtet werden (III.1). Zum anderen garantiert die rein formale Gleichheit aller Rechtssubjekte vor dem Gesetz noch lange nicht ihre tatsächliche Gleichberechtigung im Sinne einer „gleichen Berechtigung“ verschiedener Gruppen. Das Ringen darum ging bis weit ins 20. Jahrhundert weiter und begleitet uns in mancher Hinsicht noch heute. Um seine Ursprünge und Grundlagen geht es im letzten, mit „Gleichheit“ überschriebenen Abschnitt des Beitrags (III.2).

II. „Kodifikation“ – Das theoretische Verhältnis von Freiheit und Gleichheit 1. Vernunftrechtliche Grundlagen der kontinentaleuropäischen Kodifikationen Bekanntermaßen waren die großen kontinentaleuropäischen Kodifikationen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts – also insbesondere das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten (ALR) von 1794, der französische Code civil von 1804 und das österreichische ABGB von 1811 (aber natürlich auch schon der Codex Maximilianeus von 1756, dem insofern eine Art Vorreiterrolle

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zukommt) – vernunftrechtlich geprägt. Der Ausdruck „vernunftrechtlich“ ist hier besser als „naturrechtlich“, denn es ging nicht um das Festschreiben irgendeines göttlichen Ordnungsprinzips oder um die Positivierung naturgegebener Gesetzmäßigkeiten, sondern darum, dass der vernunftbegabte Mensch durch bloße Verstandesanstrengung – durch rationale Überlegung – erkennen kann, was „recht“ ist. Dieses als richtig erkannte Recht sollte systematisiert und allgemein zugänglich gemacht werden. Es war, um mit Franz Wieacker zu sprechen, ein „Bündnis des Vernunftrechts mit der Aufklärung“, das der Kodifikationsidee zum Durchbruch verhalf.1 Die zugrundeliegende Theorie begreift die Freiheit und Gleichheit aller Menschen – oder jedenfalls aller Bürger – nicht nur als kompatibel, sondern als geradezu unerlässliche Komplementärvoraussetzungen.2 Das ist bereits in der Idee des Sozialvertrages angelegt. Nach Rousseau gibt jeder Einzelne durch freiwillige Unterwerfung unter die volonté générale seine natürliche Freiheit auf und erlangt dadurch zugleich rechtliche Freiheit und Gleichheit mit allen anderen, die sich ebenso unterworfen haben.3 So könne der Gesellschaftsvertrag das Grundproblem lösen, das darin liege, „eine Form des Zusammenschlusses [zu finden], die mit ihrer ganzen gemeinsamen Kraft die Person und das Vermögen jedes einzelnen Mitglieds verteidigt und schützt und durch die doch jeder, indem er sich mit allen vereinigt, nur sich selbst gehorcht und genauso frei bleibt wie zuvor.“4 Man mag in diesem Zitat zwar vor allem die Freiheit betont sehen, doch setzt schon das Bild eines Vertrages aller mit allen die grundsätzliche Gleichheit aller Beteiligten voraus.5 Derselbe Gedanke findet sich in der deutschen vernunftrechtlichen Literatur im ersten Teil von Kants Metaphysik der Sitten.6 Dort wird in einer vielzitierten Passage das Recht beschrieben als „Inbegriff der Bedingungen, unter denen 1 

Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. (1967), 312 ff. Siehe z.B. Klippel, Das „natürliche Privatrecht“ im 19. Jahrhundert, in: Klippel (Hrsg.), Naturrecht im 19. Jahrhundert. Kontinuität – Inhalt – Funktion – Wirkung (1997), 221–250, 237 f. 3  Rousseau, Du Contrat Social; ou, Principes du Droit Politique (Marc-Michel Rey, 1762). 4  Deutsche Übersetzung hier nach der klassischen Reclam-Ausgabe: Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, hrsg. u. übers. v. Brockard unter Mitarb. v. Pietzcker (1977) 17. Im Original heißt es bei Rousseau, Du Contrat Social (Fn. 3), 29 f. (Buch 1, Kapitel 6): „[La] difficulté ramenée à mon sujet peut s’énoncer en ces termes[:] ­‚Trouver une forme d’asso­ciations qui défende & prot[è]ge de toute la force commune la personne & les biens de ­chaque associé, & par laquelle chacun s’unissant à tous n’obéisse pourtant qu’à lui-même & reste aussi libre qu’auparavant?‘ Tel est le problème fondamental dont le contrat social donne la solution.“ 5  In diesem Sinne auch Krause, Naturrecht und Kodifikation, Aufklärung 3 (1988), 7–27, 8: „Schon indem das Naturrecht den Anspruch erhebt, alle Menschen zu verbinden und durch die allgemeine gesunde Menschenvernunft erkannt zu werden, setzt es die prinzipielle Gleichheit aller Menschen als vernünftiger Wesen voraus“ (Hervorhebungen im Original). 6  Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (Friedrich Nicolovius, 1797). 2 

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die Willkühr des einen mit der Willkühr des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freyheit zusammen vereinigt werden kann“.7 Ausgangspunkt der Überlegung ist auch bei Kant die Freiheit, doch ist die unbedingte Gleichheit das Kriterium, mittels der die Freiheit erst auf sozialverträgliche Weise maximiert werden kann. Freiheit und Gleichheit stehen also gemeinsam im theoretischen Zentrum des kodifikatorischen Anliegens. Man findet sie gewissermaßen als Zwillingspaar in den Schriften von Carl Gottlieb Svarez,8 dem Schöpfer des Preußischen Allgemeinen Landrechts, ebenso wie in den (Vor)Arbeiten zum ABGB von Franz von Zeiller9 und denen seines Lehrers, Karl Anton von Martini.10 Natürlich sind die beiden Postulate besonders prominent im napoleonischen Code civil, der ja in der Folge eines Verfassungsauftrags von 179111 ausdrücklich den Idealen der Französischen Revolution verpflichtet war. Interessanterweise ist das Verständnis des BGB vom Verhältnis zwischen Freiheit und Gleichheit kein grundlegend anderes, trotz des ansonsten sehr verschiedenen Charakters und Blickwinkels dieser Kodifikation. Ein ganzes Jahrhundert trennt das BGB vom ALR, dem Code civil und dem ABGB, und außerdem eine andere Sichtweise auf das Recht – vermittelt auch durch die zunehmend bewusste Abkehr von der vernunftrechtlichen Vorstellung eines zeitlosen Systems zugunsten der Betonung organisch gewachsener und kulturell verankerter ­Strukturen. Die Historische Rechtsschule hatte das rezipierte römische Recht auf den „heutigen“ Stand gebracht12 und den juristischen Diskurs zugleich um Erkenntnisse der germanistischen geschichtlichen Rechtswissenschaft ange­reichert. Ihre maßgeblichen Vertreter waren jedoch auch stark von der Philo­sophie des deutschen Idealismus geprägt, insbesondere von Kant, Schelling, Hegel und Fichte.13 So muss es nicht verwundern, dass etwa Savignys Begriff vom Recht und seiner Aufgabe als Abgrenzungs­mechanismus individueller Freiheitssphären der kantischen Tradition nahesteht14 oder dass Puchta  7 

Kant, Metaphysische Anfangsgründe (Fn. 6), XXXIII (Einleitung). Svarez, Vorträge über Recht und Staat, hrsg. v. Conrad/Kleinheyer (1960).  9  Zeiller, Das natürliche Privatrecht, 2. verbesserte Aufl. (1806); ders., Commentar über das all­gemeine bürgerliche Gesetzbuch für die gesammten Deutschen Erbländer der Oesterreichischen Monarchie, 4 Bände (1811–1813). 10  Vgl. das auf einem Entwurf Martinis beruhende Westgalizische Gesetzbuch von 1797. 11  Verfassung vom 3.9.1791, Titel 1: „Il sera fait un Code de lois civiles communes à tout le Royaume.“ 12 Insb. Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, 8 Bände (1840–1849). 13  Im Einzelnen ist vieles umstritten: vgl. nur Nörr, Eher Hegel als Kant: Zum Privatrechtsverständnis im 19. Jahrhundert (1991); Kraus, Historische Rechtsschule zwischen Philosophie und Geschichte, Der Staat 36 (1997), 451–479; Rückert, Die Historische Rechtsschule nach 200 Jahren – Mythos, Legende, Botschaft, JZ 65 (2010), 1–9; Haferkamp, Die Bedeutung der Willensfreiheit für die Historische Rechts­schule, in: Lampe/Pauen/Roth (Hrsg.), Willensfreiheit und rechtliche Ordnung (2008), 196–225. 14  Man denke nur an seine Beschreibung einer Obligation, die in der „Herrschaft über  8 

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– wohl inspiriert von Schelling – Freiheit und Gleichheit als sich gegenseitig ergänzende „Grundprincipien“ des Rechts bezeichnet.15 Mit Kant kann man unterscheiden zwischen positiver und negativer Freiheit.16 Während es bei letzterer um den Schutz vor äußerer Einwirkung geht, also um Abwehrrechte des Einzelnen gegen andere oder den Staat, äußert sich die positive Freiheit in der Möglichkeit zur zweckorientierten Handlung. Sie betrifft damit im 18. und 19. Jahrhundert fast ausschließlich (oder jedenfalls ganz vorwiegend)17 die Domäne des Privatrechts. Es ist die positive Freiheit zur Handlung, Gestaltung und sittlichen Selbstbestimmung. Dreh- und Angelpunkt ist die Privatautonomie, in ihren spezifischen Ausprägungen der Eigentums-, Vertrags- und Testierfreiheit. Alle drei werden von den bereits genannten Kodifikationen stark betont. In der Tat war es das Preußische Allgemeine Landrecht, das die Willenserklärung erstmals zu einem „allgemeinen Instrueine fremde Person, ohne Zerstörung ihrer Freiheit“ bestehen soll, nämlich konkret bezogen auf eine einzelne Handlung, und daher „ein Verhältniß der Herrschaft über eine einzelne Handlung der fremden Person“ darstelle: Savigny, System Band 1 (Fn. 12), 339. Siehe dazu Kiefner, Der Einfluß Kants auf Theorie und Praxis des Zivilrechts im 19. Jahrhundert, in: Blühdorn/Ritter (Hrsg.), Philosophie und Rechtswissenschaft. Zum Problem ihrer Beziehung im 19. Jahrhundert (1969), 3–25, 7 ff.; Reis, Zur Rolle des positiven Rechts als Bedingung der Wirkung von Rechten bei Kant und Savigny, in: Rohden/Terra/de Almeida/Ruffing (Hrsg.), Recht und Frieden in der Philosophie Kants, Band 4 (2008), 677–687, 684; Sutschet, Garantiehaftung und Verschuldenshaftung im gegenseitigen Vertrag (2006), 24 f. Haferkamp, Bedeutung der Willensfreiheit für die Historische Rechts­schule (Fn. 13), 200, 202 f., betont, dass „Savigny nicht dem Recht überpositiv die Aufgabe zuwies, Willensfreiheit zu schützen, sondern Willensfreiheit zum Entstehungsgrund des Rechts machte“, dass „[d]ie im Recht für die Historische Rechtsschule zunächst interessierende Freiheit […] nicht Wille des Individuums, sondern ‚Wille einer Nation‘ [war]“ und dass „[d]er Wille des Einzelnen […] nur geschützt [war], ‚sofern er jenem allgemeinen Willen entspricht‘, ‚also den Rechtsvorschriften gemäß ist‘.“ (Fußnoten ausgelassen; alle Binnenzitate stammen von Puchta). Allgemein: ­Rückert, ­Savignys Konzeption von Jurisprudenz und Recht, ihre Folgen und ihre Bedeutung bis heute, Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis 61 (1993), 65–95. 15  Puchta, Cursus der Institutionen, Band 1 (1841), 3–23, insb. 9 ff., 16 ff. Dazu Haferkamp, Recht als System bei Georg Friedrich Puchta (19.11.2003), forum historiae iuris, abrufbar unter https://forhistiur.de/2003-11-haferkamp/ (abgerufen am 8.3.2022), insb. Rn. 34: „Recht entstand […] durch menschliche Freiheit und entwickelte sich unter dem Einfluss der Gleichheit, ohne diese Freiheit […] aufzuheben.“; ders., Georg Friedrich Puchta und die ,,Begriffsjurisprudenz“ (2004), 321 ff., 347 ff., 352 ff.; Mecke, Begriff und System des Rechts bei Georg Friedrich Puchta (2009), 433–586, insb. 470 ff., 550 ff. 16  Dazu eingehend Berlin, Two Concepts of Liberty, in: ders., Four Essays On Liberty (1969), 118–172; Schapp, Über die Freiheit im Recht, AcP 192 (1992), 355–389, 359 ff.; Baum, Positive und negative Freiheit bei Kant, Jahrbuch für Recht und Ethik 16 (2008), 43–56. Es soll im Folgenden nur von der Freiheit des einzelnen Rechtssubjekts die Rede sein und nicht von der menschlichen Freiheit auf Ebene einer „Nation“, die vermittelt durch den „Volksgeist“ im Verständnis der Historischen Rechtsschule (in Puchtas Worten) den „Keim des Rechts“ bildet. Dazu Haferkamp, Bedeutung der Willensfreiheit für die Historische Rechtsschule (Fn. 13), 196–225, insb. 199 ff.; ders., Recht als System bei Puchta (Fn. 15), Rn. 36 ff. 17  Man könnte ggf. die Gewerbe- und die Koalitionsfreiheit unter den positiven Freiheitsbegriff fassen.

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ment der Privatautonomie“ abstrahierte.18 In der Privatautonomie realisiert sich Freiheit durch Recht und Freiheit im Recht. Besonders deutlich zu sehen ist das an einer Formulierung im Code civil, der die Parteien eines rechtmäßig zustande gekommenen Vertrages als durch ein selbsterlassenes Gesetz gebunden betrachtet.19 Man beachte, dass selbst diese Aussage unausgesprochen die formale Gleichheit der so Gebundenen voraussetzt. Genau hierin liegt aber auch der Haken. Es ist eben nur eine formale Gleichheit, ein Konstrukt zur Freiheitsmaximierung. Wie Michael Grünberger schreibt: „Es ging nicht so sehr um rechtliche Freiheit und rechtliche Gleichheit, sondern um gleiche rechtliche Freiheit. Gleichheit bedeutet[e] Gleichheit in der Freiheit.“20 Bezogen auf das kodifikatorische Anliegen ist das sicher richtig. Man kann sich das Ganze vielleicht am ehesten unter Rückgriff auf den positiven und negativen Freiheitsbegriff vergegenwärtigen. Solange die Ausübung der positiven Freiheit durch den einen den anderen nicht in seiner ne­ gativen Freiheit verletzt (ihn also über Gebühr einschränkt), wird der Gleichheitsgedanke kaum gebraucht, um einen Ausgleich zwischen beiden Parteien herzustellen. Beispielhaft gesprochen: Der Eigentümer eines Grundstücks, der seinen Nachbarn schädlichen Einwirkungen aussetzt, kann selbstverständlich zur Beseitigung oder Unterlassung gezwungen werden. Das Nachbarrecht war in den frühen Kodifikationen dementsprechend bereits gut austariert. Derjenige aber, der dem anderen mittels seiner wirtschaftlichen Übermacht unausgewogene Vertragsbedingungen aufzwingt, hatte nach dem dargestellten Verständnis ein fast vollkommen freies Aktionsfeld (von Ex­ tremfällen wie Wucher oder der laesio enormis abgesehen), denn er hat die Freiheit seines Vertragspartners nicht eingeschränkt, sondern ihr – formal gesehen – sogar zur Geltung verholfen. Dem Problem der ökonomischen Übermacht kommt man nur bei, indem man entweder die Austauschgerechtigkeit inhaltlich kontrolliert, etwa durch das Erfordernis eines iustum pretium oder einer extensiven Laesio-enormis-Lehre (doch davon war man im 18. Jahrhundert gerade abgekommen), 21 oder indem man versucht, die „Waffengleichheit“ der Kontrahenten anderweitig herzustellen, wie das im modernen AGB- und Verbraucherschutzrecht geschieht (das allerdings noch ein gutes Jahrhundert auf sich warten ließ). 22 18 So Krause, Aufklärung 3 (1988), 7, 8 f. Vgl. ALR Teil I, Titel 4 („Von Willenserklärungen“). 19 Art. 1103 Cc n.F.: „Les contrats légalement formés tiennent lieu de loi à ceux qui les ont faits.“ Bis zur Reform des französischen Obligationenrechts im Jahr 2016 befand sich diese Regelung im ehemaligen Art. 1134 Abs. 1 Cc. 20  Grünberger, Personale Gleichheit (2013), 77, unter Verweis auf Grimm, Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft (1987), 12. 21  Siehe dazu den vorangehenden Beitrag von Druwé in diesem Band, S. 9 ff. 22  Siehe dazu den nachfolgenden Beitrag von Looschelders in diesem Band, S. 64 ff.

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Während des Kodifikationszeitalters übte man in beiden Punkten Zurückhaltung. Dass der Gleichheitsgedanke sich allerdings trotzdem nicht im rein Formalen erschöpfte, sondern in anderen Bereichen durchaus eine materielle Rolle spielte, davon wird noch zu sprechen sein. 23

2. Die Kodifikationsdebatte im englischen Common Law und das richterliche Fallrecht Weitaus weniger bekannt als die kontinentaleuropäische Kodifikationsgeschichte ist, dass zur selben Zeit auch im Common-Law-Raum eine Kodifikationsdebatte geführt wurde. Ihre Galionsfigur war der englische Jurist und Philosoph Jeremy Bentham. Er ist angeblich sogar derjenige, der den Begriff der „Kodifikation“ in seinem modernen Sinne erstmals benutzt und geprägt hat.24 Mit seiner Forderung, das gesamte Recht zu systematisieren und in einem all­ umfassenden Codex schriftlich niederzulegen (nichts außerhalb dessen sollte als Recht gelten!), 25 wandte er sich Ende des 18. Jahrhunderts gegen die verkrustete und vor allem unübersichtliche Rechtslandschaft seiner Zeit. Das überlieferte Fallrecht war obskur, häufig in sich widersprüchlich und den Herausforderungen seiner Zeit nicht mehr gewachsen. Alte und neue Gesetzestexte rankten unzusammenhängend dazwischen – häufig noch dazu in komplexer zeitlicher Schichtung. Der Juristenstand profitierte von der Unzugänglichkeit der archaischen Materie, Gerichtsverfahren zogen sich nicht selten über Jahre hin 26 und die konservative Richterschaft widersetzte sich jeder Reformbestrebung. Besonders im Fokus von Benthams Kritik stand William Blackstone mit seinen Commentaries on the Laws of England, 27 welche die Missstände nicht nur nicht aufdeckten, sondern den Status quo sogar noch verklärten. 28

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In Teil III unten. Baker, An Introduction to English Legal History, 5. Aufl. (2019), 232 Fn. 174 (ohne Quellenangabe). Es existiert jedenfalls ein Brief Benthams an seinen Bruder Samuel vom 20.8.1806, veröffentlicht in: J.R. Dinwiddy (Hrsg.), The Collected Works of Jeremy ­Bentham, The Correspondence of Jeremy Bentham, Vol. 7, January 1802 – December 1808 (1988), 366– 368 (Erster Teil des Briefs Nr. 1898), in dem der Begriff „Codification“ dreimal ganz selbstverständlich verwendet wird. 25 Dazu Braun, The English Codification Debate and the Role of Jurists in the Development of Legal Doctrines, in: Lobban/Moses (Hrsg.), The Impact of Ideas on Legal Development (2012), 204–225, 205 m.w.N. 26 Später eindrücklich dargestellt und angeprangert von Dickens im Roman „Bleak House“, der in den 1820er Jahren spielt. 27  Blackstone, Commentaries on the Laws of England, 4 Bände (1765–1769). 28 Bentham hatte übrigens bereits als 16-jähriger Student Blackstones Vorlesungen zum Common Law in Oxford besucht und schon damals – wie er später sagte – innerlich gegen seinen Lehrer rebelliert: Alfange Jr., Jeremy Bentham and the Codification of Law, Cornell Law Review 55 (1969), 58–77, 59. 24 

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Bentham sah Gesetzgebung als ein wissenschaftlich anzugehendes Unterfangen an. Dass die Rechtsentwicklung (auch nur in Teilen) einer ungewählten Richterschaft überlassen bleiben sollte, war für ihn mit den Ansprüchen des Rechts unvereinbar. Hier besteht eine gewisse Ähnlichkeit zu Montesquieu, der ja den Richter auch nur als „Sprachrohr“ des Gesetzgebers hatte sehen wollen. 29 Viel weiter indes als die Forderungen nach allgemeiner Zugänglichmachung des Rechts und einer Einschränkung der richterlichen Macht reichen die Parallelen zur kontinentaleuropäischen Aufklärung nicht. Insbesondere war Bentham ein Anhänger der von David Hume geprägten sog. Gefühlsethik,30 die sich von der kantischen Vernunftethik stark unterschied.31 Naturrechtliche Vorstellungen in jeder Form lehnte Bentham strikt ab.32 So ist es nicht verwunderlich, dass er sich über die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 178933 mokierte. Unter der Überschrift Anarchical Fallacies schrieb er in einem Aufsatz von 1791: „Natural rights is [sic] simple nonsense: natural and imprescriptible rights, rhetorical nonsense, – nonsense upon stilts“.34 Sie waren also aus seiner Sicht (frei übersetzt) „Unsinn hoch zehn“. Diesen Aufsatz hat Bentham allerdings zunächst nicht veröffentlicht, wohl weil er hoffte, die Generalstände und später die Nationalversammlung würden ihn mit Reformaufgaben in Frankreich betrauen.35 Doch zerschlug sich diese Perspektive mit dem Beginn der Jakobinerherrschaft. Ebenso liefen seine späteren Versuche ins Leere, sich in den erst kürzlich unabhängig gewordenen 29  Montesquieu, De l’Esprit des Loix, Band 1 (Barrillot & Fils, 1748), 256 (Buch 11, Kapitel 6) : „[L]es Juges de la Nation ne sont […] que la bouche qui prononce les paroles de la Loi, des Etres inanimés qui n’en peuvent modérer ni la force ni la rigueur.“ Das Bild vom Richter als „bouche de la loi“ ist seitdem in Frankreich zum geflügelten Wort avanciert. 30 Siehe Hume, A Treatise Concerning Human Nature, Band 3: Of Morals (Longman, 1740); ders., An Enquiry Concerning the Principles of Morals (Millar, 1751). 31  Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (Hartknoch, 1785) sollte (auch) einen Gegenentwurf zur Moralphilosophie David Humes liefern. 32  So schrieb Bentham zum Beispiel im Jahr 1831: „Rights are […] the fruits of the law, and of the law alone. There are no rights without law – no rights contrary to the law – no rights anterior to the law. Before the existence of laws there may be reasons for wishing that there were laws – and doubtless such reasons cannot be wanting, and those of the s­ trongest kind; – but a reason for wishing that we possessed a right, does not constitute a right. To confound the existence of a reason for wishing that we possessed a right, with the ­existence of the right itself, is to confound the existence of a want with the means of relieving it. It is the same as if one should say, everybody is subject to hunger, therefore everybody has some­ thing to eat. There are no other than legal rights; – no natural rights – no rights of man, anterior or superior to those created by the laws. The assertion of such rights, absurd in ­logic, is pernicious in morals.“ Zitiert nach: Bowring (Hrsg.), The Works of Jeremy Bentham, Band 3 (1843), 221. 33  Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen vom 26.8.1789. 34  Bentham, Anarchical Fallacies. An Examination of the Declaration of Rights Issued During the French Revolution, in: Bowring (Hrsg.), The Works of Jeremy Bentham, Band 2 (1843), 489–534, 501. 35 Siehe Alfange Jr., Cornell Law Review 55 (1969), 58–77, 68 ff.

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Vereinigten Staaten von Amerika als Kodifikator anzudienen (beispielsweise bot er in einem Brief an Präsident Madison im Jahr 1811 seine Dienste erfolglos an)36 oder lateinamerikanische Revolutionsführer für ein konkretes Projekt zu gewinnen.37 Weder in Großbritannien noch in den USA konnte sich die Kodifikationsbewegung letzten Endes durchsetzen.38 Immerhin jedoch kam es diesseits des Atlantiks39 während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer Reihe von Mini-Kodifikationen einzelner Bereiche. Im Privatrecht konzentrierten sich die Anstrengungen vor allem auf das Wirtschaftsrecht.40 Zu dem angestrebten umfassenden Handelsgesetzbuch nach dem Vorbild des ADHGB von 1862 reichte es zwar nicht; jedoch entstanden mit Gesetzen wie dem Bills of Exchange Act 1882, dem Partnership Act 1890 und dem Sale of Goods Act 1893 immerhin relativ bündige Kompilationen, die das existierende Fallrecht systematisierten, in konzise Form fassten und es teilweise auch reformierten. Geholfen hat hierbei die konkrete Erfahrung, die man zuvor mit Kodifikationsprojekten in Indien gewonnen hatte. Bereits im Jahr 1834 war eine Law Commission for British India 41 eingesetzt worden, die nach und nach weite Teile des Straf- und Verfahrensrechts, aber auch des materiellen Privatrechts in Gesetzesform goss.42 Besonders ist hier der Indian Contract Act 1872 hervorzuheben, der in vielen Ländern Süd- und Südostasiens heute noch gilt. Dieser Indian Contract Act war maßgeblich geprägt von einem Mann namens James Fitzjames Stephen.43 An 36  Zu dieser Episode Hart, Bentham and the United States of America, Journal of Law & Economics 19 (1976), 547–567, 565 f. 37  Immerhin scheint er hier wichtige Denkanstöße gegeben zu haben: vgl. McKennan, ­Jeremy Bentham and the Colombian Liberators, The Americas 34 (1978), 460–475; Mirow, The Power of Codification in Latin America: Simon Bolivar and the Code Napoleon, Tulane Journal of International and Comparative Law 8 (2000), 83–116, 97 ff. 38  Zu den Gründen in England Braun, The English Codification Debate (Fn. 25), 212–215; zur Lage in den Vereinigten Staaten Cook, The American Codification Movement: A Study of Antebellum Legal Reform (1981). Für einen Vergleich zwischen Europa und den USA, siehe auch Wagner, Codification of Law in Europe and the Codification Movement in the Middle of the Nineteenth Century in the United States, Saint Louis University Law Journal 2 (1953), 335–359. 39  Jenseits des Atlantiks ist v.a. auf die Arbeit von Field zu verweisen, nach dem der sog. „Field Code“ benannt ist, eine einflussreiche Kodifizierung des Zivilprozessrechts des Staates New York aus dem Jahr 1848. 40 Dazu Braun, The English Codification Debate (Fn. 25), 209 f. Siehe außerdem den Bericht eines maßgeblich Beteiligten an amerikanische Kollegen: Chalmers, Codification of Mercantile Law, Annual Report of the American Bar Association 25 (1902), 282–291. Mit einem schottischen Blickwinkel: Rodger, Codification of Commercial Law in Victorian Britain, Law Quarterly Review 108 (1992), 570–590. 41 Dieser ersten Law Commission folgten eine zweite (1853), dritte (1861) und vierte (1879). 42 Dazu Braun, The English Codification Debate (Fn. 25), 211 f. Ausführlich, aber veraltet: Acharyya, Codi­fi­cation in British India (1914). 43  Zu Stephens Leben (1829–1894) und Wirken C.P. Ilbert, In Memorial Sir James Stephen

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der Stelle schließt sich gewissermaßen ein Kreis zur Französischen Revolution – denn Stephen verfasste, kurz nachdem er die Arbeit an dem Gesetzeswerk abgeschlossen hatte, auf dem Heimweg von Indien ein Buch mit dem Titel Liberty, Equality, Fraternity, in dem er seine Sichtweise der drei Prinzipien in Recht und Gesellschaft darlegte.44 Stephen war ein Anhänger Benthams und sein Buch ein Angriff auf John Stuart Mill,45 dem er eine Überbetonung der Freiheit und eine unrealistische Sichtweise auf ihr Verhältnis zur Gleichheit vorwarf (dazu später mehr).46 Wie genau aber wurden diese Begriffe verstanden, und wie spiegelten sie sich im Recht? Sowohl Bentham als auch Mill und Stephen waren Utilitaristen. Im Gegensatz zum Idealismus Kant- und Hegel’scher Prägung sollten die Handlungsmaximen durch die menschliche Erfahrung und nicht durch irgendeine (subjektive oder objektive) „Vernunft“ bestimmt werden. Nach dem von ­Bentham formulierten principle of utility (Nutzenprinzip), das jeder gesetzgeberischen Tätigkeit zugrunde liegen sollte, ging es um „the greatest happiness of the greatest number“.47 Der Gleichheitsgedanken liegt hier darin, dass „one man is worth just the same as another man“, sodass bei der Nutzenberechnung keiner mehr zählt als der andere.48 Darüberhinausgehend hat die Gleichheit as a Legislator, Law Quarterly Review 10 (1894), 222–227; Roach, James Fitzjames Stephen (1829–94), Journal of the Royal Asicatic Society of Great Britain and Ireland 1956, 1–16; Stapleton, James Fitzjames Stephen: Liberalism, Patriotism and English Liberty, Victorian Studies 41 (1998), 243–263; Heydon, Reflections on James Fitzjames Stephen, University of Queensland Law Journal 29 (2010), 43–65. 44  Stephen, Liberty, Equality, Fraternity, 2. Aufl. (1874). In der hier zitierten zweiten Auflage setzte sich Stephen mit Kritik an der Erstauflage von 1873 auseinander. Sie wird daher als maßgeblich betrachtet. 45  Insbesondere auf Mills spätere Werke: On Liberty (1859); Utilitarianism (1863); The Subjection of Women (1869). 46  Siehe unten, insb. im Text zu Fn. 57 und zu Fn. 149. Warren schreibt in seinem Vorwort zu der von ihm herausgegebenen Ausgabe der zweiten Auflage von Stephens Liberty, ­Equality, Fraternity (1993), xxi f.: „Stephen admired On Liberty when it first appeared in 1859. However, the Reform Bill of 1867, his experience in India, the publication of Mill’s The Subjection of Women, as well as further reflection, moved him to the conclusion that the later Mill had renounced what Stephen understood to be the principles of English Liberalism.“ 47  Bentham hat diesen Ausdruck nicht erfunden, sondern ihn von dem schottischen Moralphilosophen Hutcheson übernommen, der bereits in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts von „the greatest Happiness for the greatest Numbers“ sprach: Hutcheson, An Inquiry into the Original of Our Ideas of Beauty and Virtue in Two Treatises (1726), 177. Bentham selbst hat das Thema immer wieder aufgegriffen, erstmals in seinem Werk „A Fragment on Government“ (1776) und später wieder prominent im Zusammenhang mit seinen Kodifikationsvorschlägen: Bentham, Codification proposal addressed by Jeremy Bentham to all nations professing liberal opinions (1822), in: Bowring (Hrsg.), The Works of Jeremy Bentham, Band 4 (1843), 535–594. Zu alldem Burns, Happiness and Utility: Jeremy Bentham’s Equation, Utilitas 17 (2005), 46–61. 48  Diese vielzitierte Formulierung findet sich (soweit ersichtlich) bei Bentham so nicht,

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eine Rolle zu spielen bei der Frage, was Glück und Nutzen ausmacht. Equality wird auf diesem Wege für Bentham zu einem ausdrücklichen Ziel der Zivilgesetzgebung: „In this distribution of rights and obligations, the legislator … should have for his object the happiness of the body politic. In inquiring more particularly in what this happi­ ness consists, we find four subordinate objects –   Subsistence.   Abundance.   Equality.   Security. The more perfect the enjoyment of all these particulars, the greater the sum of social happiness, and especially of that happiness which depends upon the laws.“49

Jedoch ist das Gleichheitspostulat – und hier erweist sich Bentham ganz als Kind der Hobbes’schen Tradition – im Konfliktfall immer dem überragenden menschlichen Bedürfnis nach Sicherheit unterzuordnen: „When security and equality are in opposition, there should be no hesitation: equality should give way. The first is the foundation of life – of subsistence – of abundance – of happiness; every thing depends on it. Equality only produces a certain portion of happi­ness: besides, though it may be created, it will always be imperfect; if it could exist for a day, the revolutions of the next day would disturb it. The establishment of equality is a chimera: the only thing which can be done is to diminish inequality.“50

Das Spielfeld des Gesetzgebers, innerhalb dessen beide Ziele kompatibel sind, ist dementsprechend eingeschränkt. Bentham nennt als mögliche gleichheitsfördernde Maßnahmen zum Beispiel die Abschaffung von wettbewerbsverzerrenden Monopolen, und er spielt mit dem Gedanken von gewissen Umverteilungsstrategien nach dem Tod, darunter auch (wie wir heute sagen würden) Einschränkungen der Testierfreiheit.51

wird aber als „Bentham’s dictum“ folgendermaßen kolportiert in Mill, Utililarianism (Fn. 45), 91: „everybody to count for one, nobody for more than one“. 49  Bentham, Principles of the Civil Code (1786), in: Bowring (Hrsg.), The Works of Jeremy Bentham, Band 1 (1843), 297–364, 302. 50  Bentham, Principles of the Civil Code (Fn. 49), 311. 51  Bentham, Principles of the Civil Code (Fn. 49), 312 f. Bezüglich der Nachlassverteilung ging es Bentham aber auch um Steuerungseffekte bei der Intestaterbfolge: „When property is vacated by the death of the proprietors, the law may intervene in the distribution to be made, either by limiting in certain respects the power of disposing of it by will, with the design of preventing too great an accumulation of property in the hands of a single person, or by making the right of succession subservient to the purposes of equality, in case the de­ ceased should not leave a husband, or wife, or relations, in the direct line, and should not have made use of his power of disposing of it by will. It passes then to new possessors, whose expectations are not formed, and equality may produce good to all, without deceiving the expectations of any.“

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Weshalb kapriziert sich Bentham ausgerechnet auf Nivellierungen im erbrechtlichen Bereich (wohlgemerkt: noch bevor im Zuge der Revolution von 1789 ähnliche Forderungen in Frankreich52 erhoben wurden)? Die Erklärung könnte in seinem Freiheitsverständnis liegen. Ebenso wie für Hobbes, Mill und Stephen ist Freiheit für Bentham im Kern nur die negative Freiheit im Kant’schen Sinne, also die Abwesenheit von äußerem Zwang.53 Wie er selbst schreibt: „Liberty is neither more nor less than the absence of coercion. This is the genuine, original and proper sense of the word Liberty. The idea of it is an idea purely negative. It is not anything that is produced by positive Law. It exists without Law, and not by means of Law.“54

Die Vertrags- oder Testierfreiheit (freedom of contract bzw. freedom of testa­tion) als Konzept hat sich in England gegen Ende des 18. Jahrhunderts heraus­gebildet und erlebte im 19. Jahrhundert den ideologischen Siegeszug.55 Aus der Warte eines grundsätzlich negativen Verständnisses besteht die Freiheit allerdings nur in der faktischen Möglichkeit, im Rahmen des Rechts Verträge abzuschließen und über erworbenes Eigentum zu verfügen. Staatliche Umverteilungs­maßnahmen zu Lebzeiten stellen hier schnell einen unzulässigen Eingriff dar. Mit dem Tod allerdings – so könnte man nun weitergehend argumentieren – endet diese negative Freiheit (oder wird jedenfalls abgeschwächt). Wer nicht mehr lebt, der hat auch keine Rechte oder Freiheitssphären mehr, die beschnitten werden könnten. Soweit die Rechtsordnung an diesem Punkt eine Umverteilung vornimmt, die die „Testierfreiheit“ des Erblassers kompromittiert, stellt sie sich lediglich in den Weg des intendierten Vermögensübergangs vom Erblasser auf die testamentarisch Begünstigten. Das hat eine weitaus geringere Freiheitsrelevanz als entsprechende Maßnahmen zu Lebzeiten. Der Erblasser ist nicht mehr einschränkungsfähig und die intendierten Empfänger verlieren nur eine Expektanz. Mill hat den negativen Freiheitsbegriff Benthams allerdings später mittels des sog. harm principle in einem gewissen Sinne doch noch positiv aufgeladen. Ihm zufolge sollte jeder tun und walten dürfen wie er mochte, solange er nur 52 Vgl. Mirabeau, Discours de M. de Mirabeau sur l’égalité des partages dans les succes­ sions en ligne directe (1791) sowie unten, Fn. 128 und zugehöriger Text. 53 Dazu Long, Bentham on Liberty. Jeremy Bentham’s Idea of Liberty in Relation to his Utilitarianism (1977). 54  Bentham, MSS University College London, Nr. 69, S. 44, zitiert nach Rosen, Classical Utilitarianism from Hume to Mill (2003), 247. Vgl. die Anmerkung Haferkamps zum Verhältnis zwischen Willensfreiheit und Recht bei Kant (Fn. 54). 55  Atiyah, The Rise and Fall of Freedom of Contract (1985) beschreibt die Periode von 1770 bis 1870 als „The Age of Freedom of Contract“. Zur Testierfreiheit und ihren historischen Hintergründen Dainow, Limitations on Testamentary Freedom in England, Cornell Law Review 25 (1940), 337–360, 339 ff.; vgl. Kerridge, Freedom of Testation in England and Wales, in: Anderson/Arroyo i Amayuelas (Hrsg.), The Law of Succession: Testamentary Freedom. European Perspectives (2011), 129–153, 131 ff.

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niemandem schadete.56 Jeder Eingriff, jede Form der Regulierung sei rechtfertigungsbedürftig. Dieser ultra-liberale Ansatz aber ging anderen Utilitaristen zu weit. So meinte etwa James Fitzjames Stephen, die bloße Existenz rechtlicher Rahmenbedingungen sei per se noch nicht freiheitsbeschneidend: „Liberty means not the bare absence of restraint, but the absence of injurious restraint.“57 Das fokussiert den Freiheitsbegriff im Ergebnis wiederum auf eine Reihe an­ erkannter Rechtspositionen wie das Leben, die körperliche Unversehrtheit und das Eigentum, welches seit John Locke besonders stark ins Bewusstsein gerückt war. (Man hatte natürlich kein Konzept der allgemeinen Handlungsfreiheit oder eines allgemeinen Persönlichkeitsrechts, was im englischen Recht übrigens bis heute so geblieben ist.) Blickt man nun aber auf das Common Law als Ganzes, und insbesondere auch auf die Prinzipien, die das richterliche Fallrecht hervorgebracht hat, erkennt man im späten 18. und vor allem im 19. Jahrhundert eine willenstheoretische Wende, die direkt von kontinentaleuropäischem Denken inspiriert war und damit auch vernunftrechtliches Gedankengut in sich aufnahm. Noch bis gegen Ende des 17. Jahrhunderts war das englische Vertragsrecht überhaupt nicht theoretisiert und seine Klageformen nahmen häufig Anleihen am Deliktsrecht.58 Der Fokus lag auf dem einseitigen Versprechen, das nur deshalb durchsetzbar war, weil der Empfänger irgendeine Gegenleistung dafür erbracht hatte und folglich bei Nichteinhalten des Versprechens geschädigt würde (man erkennt hier die Ursprünge der doctrine of consideration).59 Doch unter dem Eindruck der Hobbes’schen Sozialvertragstheorie und den auch in England einflussreichen Schriften Samuel Pufendorfs richtete sich der Blick zunehmend auf das Einigungselement als Hervorbringer von Rechten und Pflichten.60 Im 19. Jahrhundert verstärkte sich der Ruf nach Systematisierung und dogmati56  Mill, On Liberty (Fn. 45), insb. 22: „[T]he only purpose for which power can be rightfully exercised over any member of a civilized community, against his will, is to prevent harm to others. […] Over himself, over his own body and mind, the individual is sovereign.“ 57  Stephen, Liberty, Equality, Fraternity (Fn. 44), 201. Vgl. Warner, der in seinem Vorwort zur der von ihm herausgegebenen Liberty-Fund-Ausgabe des Buches (Fn. 46) schreibt (auf S. xiv): „A society’s liberties are […] constituted by the restraints that allow for the possib­ ility of choice. For Stephen, […] talk of liberty makes no sense outside of the context of the re­straints of morality, law, and religion.“ 58  Siehe zu alldem Baker, Introduction to English Legal History (Fn. 24), 350–385; Ibbetson, A Historical Introduction to the Law of Obligations (1999), 126–151, 202–244. 59  Baker, Introduction to English Legal History (Fn. 24), 361 ff., 374 f. Zu beachten ist, dass die doctrine of consider­ation zu keinem Zeitpunkt auf die wirtschaftliche Äquivalenz zwischen Leistung und Gegenleistung Rücksicht genommen hat. Die klassische Maxime lautet, dass die consideration zwar irgendeinen Wert, aber keinen bestimmten Mindestwert haben muss: „consideration must be sufficient, but need not be adequate“. Ein Pfefferkorn konnte als Kaufpreis für ein ganzes Landgut ausreichen. Vgl. dagegen Fn. 21 oben und den zugehörigen Text. 60  Ibbetson, Historical Introduction (Fn. 58), 215 ff.

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scher Durchdringung. Besondere Aufmerksamkeit zog Robert Joseph Pothiers Traité des obligations von 1761 auf sich,61 das 1802/1806 erstmals in englischer Übersetzung erschien.62 Später, wenngleich weniger stark, wurden auch Sa­ vignys Werke rezipiert.63 Die Folge war eine Hinwendung zur Willenstheorie.64 Freilich war diese mit den hergebrachten Grundsätzen des englischen Rechts nicht voll in Einklang zu bringen;65 doch trägt das im 19. Jahrhundert aufkommende Schlagwort freedom of contract in der Praxis keineswegs ausschließlich Konnotationen der negativen (auf Abwehr von Eingriffen gerichteten) Freiheit in sich, sondern ist auch positiv besetzt mit dem Ideal der Privatautonomie. Nirgendwo ist die neuzeitliche Bedeutung der rechtsgestaltenden Freiheit besser sichtbar als in Henry Maines berühmtem Motto „from status to contract“.66 Maine charakterisiert die historische Entwicklung so: „Starting, as from one terminus of history, from a condition of society in which all the relations of Persons are summed up in the relations of Family, we seem to have steadily moved towards a phase of social order in which all these relations arise from the free agreement of Individuals.“67

Neben einem derartigen vor allem im Privatrecht sichtbaren Freiheitsverständnis rückt ebenfalls im 19. Jahrhundert eine weitere68 Facette der Gleichheit ins Rampenlicht. Sie hat breitere staatstheoretische Wurzeln und bezieht sich damit auf das gesamte englische Rechtssystem. Konkret stammt sie aus dem Rechtsstaatsprinzip, rule of law genannt. Wenn man bedenkt, dass sich in England eine Abgrenzung von privatem und öffentlichem Recht erst sehr viel später als auf dem Kontinent herauszubilden begann, ist das auch nicht 61 

Pothier, Traité des obligations (Debure 1761). Zunächst in den Vereinigten Staaten und später auch in England: Pothier, A Treatise on Obligations, Considered in a Moral and Legal View, übers. v. Martin (Newburn/N.C. 1802); A Treatise on the Law of Obligations or Contracts, übers. v. Evans (London 1806). 63  Siehe z.B. Brown, Epitome and Analysis of Savigny’s Treatise on Obligations in Roman Law (1872). 64  Ibbetson, Historical Introduction (Fn. 58), 220 ff. Vgl. auch MacMillan, Mistakes in Contract Law (2010), insb. Kapitel 5 und 6, wo Pothiers und Savignys Einfluss auf die eng­ lische Irrtumslehre untersucht wird. 65  Besondere Schwierigkeiten bereiteten insofern die doctrine of consideration und die sog. privity-Doktrin: Ibbetson, Historical Introduction (Fn. 58), 236 ff. 66  Maine, Ancient Law, Its Connection with the Early History of Society, and Its Relation to Modern Ideas (1861), 170. 67  Maine, Ancient Law (Fn. 66), 169 (meine Hervorhebung). 68  Zusätzlich zu den oben (im Text zwischen Fn. 47 und 49) bereits genannten. Einige ­sehen zudem im uralten Richterrecht der sog. common callings, demzufolge z.B. ein Wirt, Kutscher oder Schiffer Kunden nicht beliebig ablehnen durfte, eine Art mittelalterliches Diskriminierungsverbot. Jedoch ging es dabei – wenn man überhaupt eine teleologische Analyse wagen will – wohl eher um die Aufrechterhaltung der Infrastruktur im öffentlichen (gesamtgesellschaftlichen, politischen und ökonomischen) Interesse als um die rechtliche Unter­ mauerung irgendeines individuellen Gleichbehandlungsanspruchs. 62 

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verwunderlich.69 Am bekanntesten ist die Formulierung des rule of law von Albert Venn Dicey, einem prominenten viktorianischen Verfassungsrechtler. Er zählte sie zu den Grundpfeilern der ungeschriebenen britischen Verfassung: „[W]hen we speak of the ‘rule of law’ as a characteristic of our country, [we mean] not only that with us no man is above the law, but (what is a different thing) that here every man, whatever be his rank or condition, is subject to the ordinary law of the realm and amenable to the jurisdiction of the ordinary tribunals.[70] In England the idea of legal equality, or of the universal subjection of all classes to one law administered by the ordinary Courts, has been pushed to its utmost limit. With us every official, from the Prime Minister down to a constable or a collector of taxes, is under the same responsibility for every act done without legal justification as any other citizen.“71

Ein derart rechtsstaatorientiertes Gleichheitsverständnis finden wir auch bei James Fitzjames Stephen. Er moniert, dass dem Postulat der Equality viele unterschiedliche Bedeutungen zugemessen würden,72 plädiert im Ergebnis aber 69  Die endgültige Trennung beider Materien ist bis heute nicht vollzogen, was nach eng­ lischem Verständnis übrigens auch gar nicht wünschenswert wäre. 70  Beachte dazu aber die markante Aussage Marshalls, die im Text zu Fn. 125 zitiert ist. 71  Dicey, Introduction to the Study of the Law of the Constitution, 3. Aufl. (1889), 180 f. Genau genommen hat die „rule of law“ für Dicey drei unterschiedliche Facetten, wie aus der Zusammenfassung auf S. 189 f. hervorgeht: „That ‚rule of law,‘ then, which forms a fundamental principle of the constitution, has three meanings, or may be regarded from three different points of view. It means, in the first place, the absolute supremacy or predominance of regular law as opposed to the influence of arbitrary power, and excludes the existence of arbitrariness, of prerogative, or even of wide discretionary authority on the part of the government. Englishmen are ruled by the law, and by the law alone; a man may with us be punished for a breach of law, but he can be punished for nothing else. It means, again, equality before the law, or the equal subjection of all classes to the ordinary law of the land administered by the ordinary Law Courts; the ‚rule of law‘ in this sense excludes the idea of any exemption of officials or others from the duty of obedience to the law which governs other citizens or from the jurisdiction of the ordinary tribunals; there can be with us nothing really corresponding to the ‚administrative law‘ (droit administratif ) or the ‚administrative tribunals‘ (tribunaux administratifs) of France. The notion which lies at the bottom of the ‚administrative law‘ known to foreign countries is, that affairs or disputes in which the government or its servants are concerned are beyond the sphere of the civil Courts and must be dealt with by special and more or less official bodies. This idea is utterly un­ known to the law of England, and indeed is fundamentally inconsistent with our traditions and customs. The ‚rule of law,‘ lastly, may be used as a formula for expressing the fact that with us the law of the constitution, the rules which in foreign countries naturally form part of a constitutional code, are not the source but the consequence of the rights of individuals, as defined and enforced by the Courts; that, in short, the principles of private law have with us been by the action of the Courts and Parliament so extended as to determine the position of the Crown and of its servants; thus the constitution is the result of the ordinary law of the land.“ 72  Stephen, Liberty, Equality, Fraternity (Fn. 44), 205: „[Equality] is at once the most  



  

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selbst für eine enge Auffassung: „Equality, like Liberty, appears to me to be a big name for a small thing.“73 Es handelt sich für ihn also – wie noch näher zu zeigen sein wird – um die rein formale Gleichheit vor Recht und Gesetz, nicht um eine darüberhinausgehende, materiell aufgeladene Forderung.74

3. Zwischenergebnis zu Teil II Als Zwischenbilanz ist festzuhalten, dass insbesondere die Freiheit im englischen Common Law im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert zwar etwas anders verstanden wurde als in Kontinentaleuropa zur selben Zeit, dass der Befund aber insgesamt ähnlich ist: Freiheit und Gleichheit sind theoretisch kompatibel und sogar komplementär. Allerdings steht in der philosophischen Konstruktion die Freiheit tendenziell im Vordergrund. Zu ihren Gunsten wird der Gleichheitsbegriff ausgedünnt. Besondere Bedeutung kam der Gleichheitsidee vor allem im Zusammenhang mit dem staatstheoretischen Ideal des rule of law zu (seinerseits ein wichtiger Garant der Freiheit) sowie beim abstrakt-generellen Austarieren kollidierender Freiheitssphären von typischerweise ähnlich positionierten Privatleuten (Beispiel: Nachbarrecht).

III. Das praktische Spannungsverhältnis von Freiheit und Gleichheit im Privatrecht Dass Freiheit und Gleichheit auf anderer Ebene – man könnte sagen: in der Realität des Rechts – aber durchaus in einem Spannungsverhältnis stehen können, war schon den Denkern des Kodifikationszeitalters bewusst.75 Um mit Peter emphatic and the least distinct of the three doctrines of which [the modern] creed is com­ posed. It may mean that all men should be equally subject to the laws which relate to all. It may mean that law should be impartially administered. It may mean that all the advantages of society, all that men have conquered from nature, should be thrown into one common stock, and equally divided amongst them. It may be, and I think it is in a vast number of cases, ­nothing more than a vague expression of envy on the part of those who have not against those who have, and a vague aspiration towards a state of society in which there should be fewer contrasts than there are at present between one man’s lot and another’s.“ 73  Stephen, Liberty, Equality, Fraternity (Fn. 44), 270. 74  Siehe unten, Text zu Fn. 77 und zu Fn. 149. In seinem Vorwort zur Liberty-Fund-­ Ausgabe von „Liberty, Equality, Fraternity“ stellt etwa auch Warner (Fn. 46), xviii fest, dass „[t]he equality that Stephen does value is equality under the law, the equality vouchsafed by the rule of law: Treat like cases alike.“ 75  Es ist – wie in jüngerer Zeit zu Recht immer wieder betont worden ist – keineswegs so, dass das Privatrechtsdenken des 19. Jahrhunderts von einer grenzenlosen Freiheitsethik beseelt war, die erst im 20. Jahrhundert von einer Sozialethik abgelöst wurde, wie etwa noch dargestellt von Wieacker, Das Sozialmodell der klassischen Privatrechtsgesetzbücher und die Entwicklung der modernen Gesellschaft, in: ders., Industriegesellschaft und Privat­

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Krause, einem intimen Kenner der Vorarbeiten zum Allgemeinen Landrecht zu sprechen: „Weder der Grundsatz der möglichsten Freiheit noch der gleichermaßen anerkannte Grundsatz der möglichsten Gleichheit läßt sich in einem Land mit entwickelten Rechtsverhältnissen abstrakt verwirklichen. Die Schwierigkeiten resultieren daraus, daß sich Freiheit und Gleichheit im Recht im Erwerb der iura acquisita vollziehen und daher auch in ihnen gewährleistet werden müssen. Sie geraten somit mit sich selbst in Widerstreit.“76

Der Widerstreit der beiden Postulate ist in der zeitgenössischen Literatur besonders eindrücklich bei James Fitzjames Stephen beschrieben (das Zitat erklärt zugleich, weshalb Stephen sowohl das Freiheits- als auch das Gleichheitskonzept inhaltlich so wenig auflud): „If human experience proves anything at all, it proves that, if restraints are minimized, if the largest possible measure of liberty is accorded to all human beings, the result will not be equality but inequality reproducing itself in a geometrical ratio. Of all items of liberty, none is either so important or so universally recognized as the liberty of acquiring property. […] All private property springs from labour for the benefit of the labourer; and private property is the very essence of inequality. Assume that every man has a right to be on an equality with every other man because all are so closely connected together that the results of their labour should be thrown into a common stock out of which they are all to be maintained, and you certainly give a very distinct sense to Equality and Fraternity, but you must absolutely exclude Liberty. Experience has proved that this is not merely a theoretical but also a practical difficulty.“77

Um der Gleichheit neben der Freiheit dennoch größeren praktischen Geltungsraum zu verschaffen, waren zwei Schritte notwendig. Zum einen mussten einige Menschen überhaupt erst in die Lage versetzt werden, zumindest potentiell in der gleichen Weise am Rechtsleben teilzunehmen wie alle anderen. Hierzu bedurfte es der Anerkennung der allgemeinen Rechtsfähigkeit. Zum anderen war der lange Weg zu beschreiten von der formalen Gleichheit vor dem (ggf. differenzierenden) Gesetz hin zur materiellen Gleichberechtigung. rechtsordnung (1974), 9–35. Siehe z.B. Hofer, Freiheit ohne Grenzen? Privatrechtstheoretische Diskussionen im 19. Jahrhundert (2001), insb. 1 ff., 275 ff.; Repgen, Die soziale Aufgabe des Privatrechts: Eine Grundfrage in Wissenschaft und Kodifikation am Ende des 19. Jahrhunderts (2001), 517 ff.; Auer, Der privatrechtliche Diskurs der Moderne (2014), insb. 1 ff., 135 ff.; Rückert in: Historisch-kritischer Kommentar zum BGB (HKK), Band I: Allgemeiner Teil (2003), vor § 1, Rn. 93 ff. Letzterer hat sogar gezeigt, dass das Wort „Vertragsfreiheit“ als solches in den Quellen überhaupt erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts aufzutauchen beginnt und dass die Vertragsfreiheit (oder Privatautonomie im heutigen Sinne) auch inhaltlich in der Rechtsliteratur des 19. Jahrhunderts „erstaunlicherweise kein festes Thema“ war: ders., Die Legitimation der Vertragsfreiheit im 19. Jahrhundert, in: Klippel (Hrsg.), Naturrecht im 19. Jahrhundert (Fn. 2), 135–183, 145 ff. 76  Krause, Aufklärung 3 (1988), 7, 24. 77  Stephen, Liberty, Equality, Fraternity (Fn. 44), 198.

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1. „Freiheit“ – Abschaffung von Sklaverei und Leibeigenschaft und Anerkennung allgemeiner Rechtsfähigkeit Das „Person“-Werden aller Menschen war ein Prozess, der sich in Europa etwa von der Mitte des 18. bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinzog.78 Es setzte zunächst die Überwindung (oder zumindest eine Abschwächung) der sog. „Statuslehre“ voraus, nach der die persönliche Rechtslage des Einzelnen vorrangig von seiner Stellung in der Gesellschaft bestimmt sein sollte.79 Die Aufklärung markiert hier den entscheidenden geistesgeschichtlichen Wendepunkt.80 Wenn man mit Pufendorf, Locke oder Montesquieu von einer natürlichen Freiheit und Gleichheit aller Menschen ausgeht oder wie Kant von einer unveräußerlichen Menschenwürde spricht, die es verbiete, sich selbst und andere als bloße „Mittel“ zu gebrauchen,81 so folgt daraus beinahe zwangsläufig die Ablehnung von Sklaverei und Leibeigenschaft.82 Artikel 1 der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 bekräftigt denn auch an zentraler Stelle, dass die Menschen frei und gleich an Rechten geboren sind und dies auch bleiben.83 Die allgemeine und gleiche Rechtsfähigkeit ist die logische Konsequenz.

78  Überblick bei Hattenhauer, „Der Mensch als solcher ist rechtsfähig“ – Von der Person zur Rechtsperson, in: Klein/Menke (Hrsg.), Der Mensch als Person und Rechtsperson: Grundlage der Freiheit (2011), 39–68, insb. 50–66; Duve, in: Historisch-kritischer Kommentar zum BGB (HKK), Band I: Allgemeiner Teil (2003) §§ 1–14, Rn. 3–12. 79 Dazu Hattenhauer, Von der Person zur Rechtsperson (Fn. 78), 40–50; Coing, Euro­ päisches Privatrecht, Band 1: Älteres Gemeines Recht (1985), 167 ff.; vgl. auch Henry Maines topos „from status to contract“ (Text zu Fn. 66). 80  Es ist strittig, wie weit in der Praxis wirtschaftliche Gründe die Entwicklung (mit) befördert haben: vgl. bezogen auf die Sklaverei Eckert, Aufklärung, Sklaverei und Abolition, in: Hardtwig (Hrsg.), Aufklärung und ihre Weltwirkung (2010: Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 23), 243–262, 251. 81  Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre (Friedrich Nicolovius, 1797), 140 (aus § 38): „Die Menschheit selbst ist eine Würde; denn der Mensch kann von keinem Menschen (weder von Anderen noch sogar von sich selbst) blos als Mittel, sondern muß jederzeit zugleich als Zweck gebraucht werden, und darin besteht eben seine Würde (die Persönlichkeit), dadurch er sich über alle andere Weltwesen, die nicht Menschen sind und doch gebraucht werden können, mithin über alle Sachen erhebt.“ Siehe dazu aber auch von der Pfordten, Zur Würde des Menschen bei Kant, Jahrbuch für Recht und Ethik 14 (2006), 501– 517. 82  Zu beachten ist jedoch, dass Locke die Sklaverei ganz ausnahmsweise für vertretbar hielt („Sklaverei durch Verwirkung“) und dass Kant sogar rassistische und imperiale Anwandlungen vorgeworfen werden: dazu Franke, Sklaverei und Unfreiheit im Naturrecht des 17. Jahrhunderts (2009), 295 f. bzw. Eckert, Aufklärung, Sklaverei und Abolition (Fn. 80), 244 m.w.N. sowie die Beiträge in Flikschuh/Ypi (Hrsg.), Kant and Colonialism: Historical and Critical Perspectives (2014). 83  „Les hommes naissent et demeurent libres et égaux en droits.“ Dementsprechend wurde die Sklaverei in Frankreich bereits im Zuge der Revolution formal abgeschafft, nämlich 1794 durch den Nationalkonvent.

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Allerdings setzte sich diese Erkenntnis nur schrittweise durch, wohl auch deshalb, weil die Naturrechtslehre noch keine notwendige Verbindung zwischen dem Personenbegriff und der Lehre von den Menschenrechten her­ stellte.84 Besonders deutlich ist die Entwicklung anhand der deutschsprachigen Gesetzbücher der hier untersuchten Kodifikationsperiode zu verfolgen.85 Während der bayerische Codex Maximilianeus der Frage noch kaum Aufmerksamkeit schenkte, betont das Preußische Allgemeine Landrecht von 1794 bereits die Unveräußerlichkeit der dem Einzelnen zustehenden (rechtsgeschäftlichen) Freiheit: „Sklaverey soll in den Königlichen Staaten nicht geduldet werden“, heißt es ganz pauschal,86 und der Abschnitt über Willenserklärungen bestimmt speziell, dass „[z]ur Sklaverey oder Privatgefangenschaft […] niemand durch Wil­lens­erklärungen verpflichtet werden [kann]“.87 Die Leibeigenschaft, welche „als eine Art der persönlichen Sklaverey“ umschrieben ist,88 wurde durch das Landrecht eingedämmt, wenn auch erst ein gutes Jahrzehnt später im Zuge der Stein-Hardenberg’schen Reformen mit Wirkung vom Martinitage 1810 endgültig abgeschafft.89 Allerdings erkannte das ALR den Menschen ausdrücklich nur insofern als Person an, als dieser „gewisse Rechte in der bürgerlichen Gesellschaft genießt“.90 Der status civilis blieb also ein besonderer und gliederte sich entsprechend der Ständegesellschaft auf: „Personen, welchen, vermöge ihrer Geburt, Bestimmung, oder Hauptbeschäftigung,

84  Coing, Der Rechtsbegriff der menschlichen Person und die Theorien der Menschenrechte, in: Wolff (Hrsg.), Beiträge zur Rechtsforschung (1950), 191–205, insb. 197 ff.; ­Scheyhing, Zur Geschichte des Persönlichkeitsrechts im 19. Jahrhundert, AcP 158 (1959/1960), 503–525, 510. 85  Dazu ausführlicher Conrad, Individuum und Gemeinschaft in der Privatrechtsordnung des 18. und des beginnenden 19. Jahrhunderts (1856); Roth, Ausgestaltungen der Rechtsfähigkeit im 19. und 20. Jahrhundert: Zur Rechtspersönlichkeit natürlicher Personen in den bedeutenden deutschen Zivilrechtsordnungen (2008). 86  ALR II, 5, § 196. Allerdings erkannte das ALR die in anderen Staaten begründete Sklaverei ausdrücklich an, wie sich aus den unmittelbar nachfolgenden Vorschriften (§§ 197 ff.) ergibt; das änderte sich erst durch Gesetz vom 9.3.1857. 87  ALR I, 4, § 13. 88  ALR II, 7, § 148 spricht konkret davon, dass „die ehemalige Leibeigenschaft, als eine Art der persönlichen Sklaverey, auch in Ansehung der unterthänigen Bewohner des platten Landes, nicht statt[findet]“. Vgl. aber im Hinblick auf das Verhältnis zur Gutsherrschaft die Regelungen in ALR II, 7, §§ 147, 150 ff. 89 § 12 des sog. Oktoberedikts vom 9.10.1807. 90  ALR I, 1, § 1: „Der Mensch wird, in so fern er gewisse Rechte in der bürgerlichen Gesellschaft genießt, eine Person genannt.“ Der Personenbegriff hatte sich in gewisser Hinsicht erst relativ kurz zuvor (etwa ab Mitte des 17. Jahrhunderts) vom allgemeinen Menschenbegriff abgespalten und mit Blick auf die Rechtsfähigkeit ausdifferenziert, auch unter dem Einfluss von Christian Wolffs Begriff der persona moralis: HKK/Duve (Fn. 78) §§ 1–14, Rn. 6. Jedenfalls ist klar, dass das römische Recht Mensch und Person noch ohne Weiteres gleichsetzte, wobei persona allerdings „ein farbloser Allgemeinbegriff“ war: Coing, Rechtsbegriff der menschlichen Person (Fn. 84), 195.

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gleiche Rechte in der bürgerlichen Gesellschaft beygelegt sind, machen zusammen Einen Stand des Staats aus.“91 Einen weiteren Schritt unternahm das österreichische Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch von 1811, indem es Mensch und Person ausdrücklich (wieder)92 gleichsetzte. Sein Schöpfer, Franz von Zeiller, war beeinflusst von der kantischen Rechtslehre93 und hatte zudem das von seinem Lehrer Karl Anton von Martini stammende Westgalizische Gesetzbuch von 1797 vor Augen.94 § 16 ABGB bekennt klipp und klar unter dem Stichwort „Angeborne Rechte“: „Jeder Mensch hat angeborne, schon durch die Vernunft einleuchtende Rechte, und ist daher als eine Person zu betrachten. Sclaverey oder Leibeigenschaft, und die Ausübung einer darauf sich beziehenden Macht, wird in diesen Ländern nicht gestattet.“95

Das Privatrechtliche Gesetzbuch für den Kanton Zürich von 1853–185696 und das Bürgerliche Gesetzbuch für das Königreich Sachsen von 1863 enthielten ähnliche Gleichsetzungen von Mensch und Person. In letzterem ist die Formulierung aber schon deutlich prägnanter. Es heißt dort: „Jeder Mensch ist rechtsfähig“.97 Für den BGB-Gesetzgeber war diese Aussage bereits vollkommen selbstverständlich geworden,98 weshalb § 1 BGB nur noch klarstellt, dass die menschliche Rechtsfähigkeit mit der Vollendung der Geburt beginnt.99 Aus

91  ALR I, 1, § 6. Siehe auch § 2: „Die bürgerliche Gesellschaft besteht aus mehrern kleinern, durch Natur oder Gesetz, oder durch beyde zugleich, verbundnen Gesellschaften und Ständen.“ 92  Vgl. die Anmerkung in Fn. 90 zur Differenzierung zwischen Mensch und Person. 93 Dazu Conrad, Individuum und Gemeinschaft in der Privatrechtsordnung des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts (1956), 21 ff. 94 § 276 des Westgalizischen Gesetzbuches bestimmte: „In den österreichischen Staaten wird weder Leibeigenschaft noch Sklaverei geduldet.“ Zur „Vorreiter“-Rolle dieses Gesetzbuchs auch Grünberger, Personale Gleichheit (Fn. 20), 84 f. 95  Siehe auch § 18 ABGB: „Jedermann ist unter den von den Gesetzen vorgeschriebenen Bedingungen fähig, Rechte zu erwerben.“ In Österreich war die Leibeigenschaft bereits 1781 abgeschafft worden; Reste der Erbuntertänigkeit bestanden allerdings noch bis 1848 fort. 96  Dort § 8: „Jeder Mensch ist in der Regel alles Privatrechtes fähig. Kein Mensch ist ­rechtlos.“ 97 § 30 des sächsischen BGB. § 31 stellte zusätzlich klar: „Sklaverei, Leibeigenschaft und die Ausübung einer darauf sich beziehenden Gewalt sind unstatthaft.“ 98 So Grünberger, Personale Gleichheit (Fn. 20), 86 f., unter Verweis auf Motive I, 25. Allerdings sind von anderer Seite Zweifel angemeldet worden, ob die Väter des BGB mit ihrem Personenbegriff die Statuslehre wirklich komplett aufgeben wollten: Hofer, Zwischen Rechtsfähigkeit und Persönlichkeit. Der Personenbegriff im Privatrecht des 19. Jahrhunderts, in: Spengler/Forschner/Mirschberger (Hrsg.), Die Idee der Person als römisches Erbe? (2016), 117–139, 130 ff. 99  Vgl. bereits § 9 des Privatrechtlichen Gesetzbuchs für den Kanton Zürich sowie § 32 des sächsischen BGB.

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diesem Grunde bezeichnet Michael Grünberger § 1 BGB als „ein grundlegendes Bekenntnis zur Rechtsgleichheit“.100 In England verlief die Anerkennung der allgemeinen Rechtsfähigkeit in ungefähr den gleichen zeitlichen Bahnen, allerdings unter anderen sozioökonomischen, politischen und philosophischen Vorzeichen. Die Leibeigenschaft (serfdom oder villeinage) war bereits im 16. Jahrhundert obsolet geworden,101 doch war die Sklavenarbeit in den Kolonien für das britische Weltreich gerade in den folgenden zwei Jahrhunderten von zentraler wirtschaftlicher Bedeutung. Im Jahr 1729 bestätigte ein (nach zweifelnden Äußerungen von Chief Justice Holt102 in Auftrag gegebenes) Rechtsgutachten die Legalität der Sklaverei,103 und noch 1749 äußerte der spätere Lord Hardwicke104 sich in einem Urteil dahingehend, dass Sklaven ebenso wie das Vieh auf einem Landgut105 oder vormals die Leibeigenen als Eigentumsobjekte behandelt und herausverlangt werden konnten.106 Lord Mansfield entschied 1772 anders. Im Fall Somerset v Stewart erklärte er, die Gefangennahme eines in England entlaufenen Sklaven durch seinen „Herrn“ und seine zwangsweise Verbringung aus der Jurisdiktion sei mit den überlieferten Grundsätzen des Common Law unvereinbar und durch Parlamentsgesetz nicht legitimiert: „The state of slavery is of such a nature, that it is incapable of being introduced on any reasons, moral or political; but only positive law [i.e. durch förmliches Gesetz], which preserves its force long after the reasons, occasion, and time itself from whence it was created, is erased from memory: it’s so odious, that nothing can be suffered to support 100 

Grünberger, Personale Gleichheit (Fn. 20), 87. Prozess, der im 14. Jahrhundert begann, mündete in der endgültigen Bauernbefreiung unter Elisabeth I.: Näheres bei Hilton, The Decline of Serfdom in Medieval England (1969); Baker, Introduction to English Legal History (Fn. 24), 504 ff. 102  Chamberlain v Harvey (1697) 1 Ld Raym 146, 91 ER 994; Smith v Gould (1706) 2 Salk 666, 91 ER 567; 2 Ld Raym 1274, 92 ER 338. 103  In der sog. Yorke-Talbot slavery opinion (benannt nach ihren Autoren Yorke und Talbot) heißt es: „We are of Opinion, that a Slave, by coming from the West-Indies to Great Britain or Ireland, either with or without his Master, doth not become free, and that his Master’s Property, or Right in him, is not thereby determined or varied. And that Baptism doth not bestow Freedom on him, nor make any alteration in his temporal Condition in these Kingdoms. We are also of Opinion, that his Master may legally compel him to return again to the Plantations.“ (Zitiert nach Glasson, „Baptism doth not bestow Freedom“: Missionary Anglicanism, Slavery, and the Yorke-Talbot Opinion, 1701–30, The William and Mary Quarterly 67 (2010), 279–318, 279, seinerseits unter Berufung auf eine zeitgenössische Anzeige in der Boston Gazette vom 7. September 1730.) 104  Es handele sich dabei um keinen anderen als ebendiesen Yorke (vgl. Fn. 103), der 1737 zum Lord High Chancellor aufgestiegen war und dem 1756 der Titel 1st Earl of Hardwicke verliehen wurde. 105  „like stock on a farm“. 106  Pearne v Lisle (1749) Amb 75, 77; 27 ER 47, 48: „There were formerly villains or slaves in England […] and although tenures are taken away, there are no laws that have destroyed servitude absolutely. Trover might have been brought for a villain.“ 101  Der

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it, but positive law. Whatever inconveniences, therefore, may follow from a decision, I cannot say this case is allowed or approved by the law of England; and therefore the black must be discharged.“107

Obwohl Lord Mansfield – wie er selbst später betonte – nur das altehrwürdige Habeas-corpus-Prinzip angewandt hatte,108 wurde das Somerset-Urteil von vielen als Sklavenbefreiungs-Charta (miss)verstanden. In den 1780er Jahren formierte sich eine Abolitionsbewegung, die mit William Wilberforce und Samuel Romilly einflussreiche Köpfe gewinnen konnte. Ihr Einsatz war nach einigen Rückschlägen von Erfolg gekrönt. 1792 erklärte sich das Unterhaus erstmals grundsätzlich bereit, die Sklaverei schrittweise abzuschaffen,109 1807 verbot das Parlament zunächst den Handel mit Sklaven110 und im Slavery Abolition Act 1833111 schließlich die Sklaverei an sich (nahezu) im gesamten Empire.112 So gelangte auch das englische Recht um die Mitte des 19. Jahrhunderts zur Anerkennung der allgemeinen Rechtsfähigkeit. Erwähnenswert ist, dass sich Jeremy Bentham in seinen Werken aus dem späten 18. Jahrhundert nie dezidiert gegen die Sklaverei ausgesprochen hat, obwohl er ihr privat sehr kritisch gegenüberstand und zudem sowohl mit Wilberforce als auch mit Romilly befreundet war.113 Das mag jedoch mit seinem philosophischen Ansatz gut erklärbar sein. Er konnte die Sklaverei gar nicht a priori ablehnen, ohne sich selbst untreu zu werden. Schon seine polemische Kritik an den idealistischen Aussagen der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte deutet das an:

107 

Somerset v Stewart (1772) Lofft 1, 19; 98 ER 499, 510. Das geht bereits aus Somerset v Stewart (Fn. 107) selbst hervor, wurde von Lord Mansfield aber in R v The Inhabitants of Thames Ditton (1785) 4 Doug 300, 301; 99 ER 891, 892 nochmals hervorgehoben: „The determinations go no further than that the master cannot by force compel [the slave] to go out of the kingdom.“ 109  Debate on a Motion for the Abolition of the Slave-Trade in the House of Commons (2. April 1792). Interessanterweise bremste die Französische Revolution in England den Abolitionsprozess eher aus, als dass sie ihn förderte, denn man blickte mit Sorge auf die Unruhen und Gewaltausbrüche, die sie in Frankreich ausgelöst hatte. 110  Slave Trade Act vom 25. März 1807 („An Act for the Abolition of the Slave Trade“). 111  Den Entwurf zu diesem Gesetz hatte der Vater von James Fitzjames Stephen, Sir James Stephen (1789–1859) erstellt. Dessen Vater wiederum, ebenfalls ein James Stephen (1758– 1832), war durch einen Aufenthalt in der Karibik zum überzeugten Verfechter der Abolition geworden, hatte später die Schwester von William Wilberforce geheiratet und gemeinsam mit diesem den Slave Trade Act 1807 erarbeitet. 112 Der Slavery Abolition Act vom 28. August 1833 galt ausdrücklich nicht für die von der East India Company verwalteten Gebiete, ebensowenig für Ceylon und St. Helena (vgl. section LXIV des Gesetzes). 113 Dazu Rosen, Jeremy Bentham on Slavery and the Slave Trade, in: Schultz/Varouxakis (Hrsg.), Utilitarianism and Empire (2005), 33–56, der Bentham diesbezüglich in Schutz nimmt. 108 

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„All men born free? Absurd and miserable nonsense! When the great complaint – a complaint made perhaps by the very same people at the same time – is that so many men are born slaves. Oh! but when we acknowledge them to be born slaves, we refer to the laws in being; which laws being void, as being contrary to those laws of nature which are the efficient causes of those rights of man that we are declaring, the men in question are free in one sense, though slaves in another; – slaves, and free, at the same time: – free in respect of the laws of nature – slaves in respect of the pretended human laws, which, though called laws, are no laws at all, as being contrary to the laws of nature.“114

Bentham bewertete die Sklaverei und den Umgang mit ihr konsequenterweise unter dem rein utilitaristischen Blickwinkel. Zwar kam er (im Gegensatz zu einigen anderen Utilitaristen)115 zu dem Schluss, dass die Emanzipation der Sklaven der „greatest [h]appiness of the greatest [n]umber“ grundsätzlich förderlich sein könne;116 da er jedoch Sicherheit als das überragende gesellschaftliche Ziel und Glückskriterium betrachtete,117 hatte die Abolition in jedem Fall langsam und „sozialverträglich“ von statten zu gehen: „This operation need not be suddenly carried into effect by a violent revolution, which, by displeasing every body, destroying all property, and placing all persons in situations for which they were not fitted, might produce evils a thousand times greater than all the benefits that can be expected from it.“118

2. „Gleichheit“ – Der Kampf um materielle Gleichberechtigung im Zivilrecht Die allgemeine Rechtsfähigkeit alleine und die formale Gleichheit aller vor dem Gesetz führen indes nicht notwendigerweise dazu, dass alle Menschen auch materiell gleichberechtigt – also „gleich berechtigt“ – sind und/oder das Recht als 114  Bentham, Anarchical Fallacies (Fn. 34), 498. Vgl. dazu auch die oben in Fn. 32 zitierte Passage. 115 Dazu Kilbride, Slavery and Utilitarianism: Thomas Cooper and the Mind of the Old South, Journal of Southern History 59 (1993), 469–486. Interessanterweise war ebendieser ­Cooper in jüngeren Jahren, als er noch in England lebte, ein entschiedener Gegner der Sklaverei gewesen: Cooper, Letters on the Slave Trade (1787). 116  Bentham, Principles of the Civil Code (Fn. 49), 345: „If the evil of slavery were not so great, its extent alone would suffice to make it considerable. Generally speaking, […] there can […] be no ground for hesitation between the loss which would result to the masters from enfranchisement, and the gain which would result from it to the slaves.“ 117  Siehe oben, Text vor und zu Fn. 50. 118  Bentham, Principles of the Civil Code (Fn. 49), 346 (im Kapitel „Of Slavery“). Vgl. auch die Aussage auf S. 312 f. im Kapitel über Sicherheit und Gleichheit: „When it regards the correction of a species of civil inequality such as slavery, the same attention ought to be paid to the rights of property; the operation should be gradual, and the subordinate object [i.e. equality] should be pursued without sacrificing the principal object [i.e. security]. The men whom you would render free by these gradations, will be much more fitted for its enjoyment, than if you had led them to trample justice under foot, in order to introduce them to this new social condition.“

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inhaltlich „gerecht“ empfunden wird. Kurz gesagt: So lange Menschen nach gewissen Eigenarten oder Situationen in unterschiedliche Gruppen eingeteilt und je nach Gruppenzugehörigkeit mit unterschiedlichen Rechten und Pflichten ausgestattet werden, sind die Freiheitsbeschneidungen (oder die verwehrten Freiheits­erweiterungen), die die einen hinnehmen müssen, größer als die anderen Gruppen zugemuteten. Man denke nur an das Ständewesen, welches sowohl unter dem preußischen ALR als auch unter dem österreichischen ABGB zunächst beibehalten wurde.119 Bis in die Pandektistik120 und sogar bis in die Vorarbeiten zum BGB hinein121 erstreckten sich noch Überreste der alten Statuslehre.122 Das sächsische BGB konnte sich beispielsweise nur dazu durchringen festzustellen, dass „[d]ie Verschiedenheit der Religion und des Standes […] in der Regel keine Verschiedenheit der bürgerlichen Rechte [begründe].“123 Übrigens war auch das englische Rule-of-law-Prinzip in der bekannten Formulierung von Dicey124 nach verbreiteter Ansicht „concerned primarily with equal access to the courts, not with the nature of the rules which individuals find when they get ­there.“125

119  Vgl.

oben, Text zu Fn. 90–95. Hofer, Zwischen Rechtsfähigkeit und Persönlichkeit (Fn. 98), 121, verweist in diesem Zusammenhang u.a. auf Puchta, Cursus der Institutionen, Band 1 (1841), 79 (§ 28): „[I]ndem das Recht den mannigfaltigen Stoff, welchen die Ungleichheit der Menschen nach Geschlecht, Alter, körperlicher Beschaffenheit, natürlicher Unselbständigkeit darbietet, durch Unterwerfung unter das Princip der Gleichheit bewältigt, kommt durch die Rückwirkung des Stoffs eine Mannigfaltigkeit in die rechtliche Form selbst. Das Recht kann jene natürlichen Verhältnisse nicht ignorieren, da sie eben den Stoff bilden, auf den es zu wirken hat, es soll sie auch nicht aufheben, um eine absolute Gleichheit der Personen durchzuführen. Der Begriff der Persönlichkeit läßt daher verschiedene Stufen derselben zu, also verschiedene Classen von Personen mit verschiedener Rechtsfähigkeit; das Recht giebt gewissen Menschen, um jenen individuellen Rücksichten zu genügen und sie in sich aufzunehmen, eine eingeschränkte Persönlichkeit. Es beherrscht die natürliche Ungleichheit, indem es sie zu einer Ungleichheit der Person als solcher macht.“ 121 Vgl. Gebhard, Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich, Allgemeiner Theil, Begründung zum Zweiten Abschnitt (1881), 55, in: Schubert (Hrsg.), Die Vorlagen der Redaktoren für die erste Kommission zur Ausarbeitung des Entwurfs eines Bürgerlichen Gesetzbuches, Allgemeiner Teil, Teil 1 (1981) 365: die Standeszugehörigkeit komme „im heutigen Rechte für die privatrechtliche Stellung der Person nur ausnahmsweise in Betracht“. Zu den Sonderregelungen im EGBGB, siehe HKK/Duve (Fn. 78) §§ 1–14, Rn. 12; Grünberger, Personale Gleichheit (Fn. 20), 88. 122  Siehe in diesem Zusammenhang auch Hattenhauer, Von der Person zur Rechtsperson (Fn. 78), 59: „Die zivilrechtlichen Darstellungen [im 19. Jahrhundert] bleiben der Systematik der Status-Lehre verhaftet.“; Hofer, Zwischen Rechtsfähigkeit und Persönlichkeit (Fn. 98), 121 f. sowie 130 ff. zur (bereits angerissenen) Frage, ob die Statuslehre mit Inkrafttreten des BGB wirklich vollkommen überwunden war. 123 § 51 sächsisches BGB (Hervorhebung hinzugefügt). Dazu Grünberger, Personale Gleichheit (Fn. 20), 87. 124  Siehe oben, Fn. 71 und zugehöriger Text. 125  Marshall, Constitutional Theory (1971), 137. 120 

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Unter diesen Vorzeichen verlagert sich die Auseinandersetzung um das Gleichheitspostulat (zumindest potentiell) auf die Rechtfertigungsebene.126 Es reicht nicht mehr, alle Mitglieder einer Gruppe mit bestimmten Rechten auszustatten und sie untereinander jeweils gleich zu behandeln; sondern man wird stattdessen fragen: Gibt es gute Gründe, die Rechtsposition der einen Gruppe anders auszugestalten als die der anderen,127 oder noch stärker, ist eine Differenzierung nach gewissen Kriterien in einem bestimmten Bereich überhaupt akzeptabel? Jedenfalls seit der Französischen Revolution konnte die Forderung nach weitergehender rechtlicher Gleichstellung verschiedener Personengruppen nicht mehr überhört werden. In den um das Jahr 1800 entstehenden Kodifikationen hat sich dies an einigen Stellen deutlich niedergeschlagen, etwa im Code civil in der Abschaffung überkommener Adelsprivilegien und der Anordnung gleicher Erbteile.128 Die Gesellschaft des 19. Jahrhunderts wurde so allmählich (in Schritten, die hier nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden können) zu einer Rechtsgemeinschaft gleichberechtigter freier Bürger – allerdings nur männlicher Bürger. Und selbst diese waren, wie sich etwa an der Lage der sog. „Arbeiterklasse“ zeigt, natürlich weit entfernt davon, in ihrer ökonomischen Durchsetzungs­kraft gleich stark, in materiellen Dingen ähnlich begütert oder auch nur mit gleichen Lebenschancen ausgestattet zu sein. Das war von den meisten Zeitgenossen auch gar nicht gewollt, wie etwa der englische Jurist Frederick Pollock mit Blick auf die Parallelfrage im englischen Recht bemerkte: „[T]he Common Law does its best to secure equality of legal rights, but disclaims any power to secure equality of conditions for all men.“129 Gegen die krassen Ungleichheiten, die der Wirtschaftsliberalismus zwischen formal rechtlich gleichgestellten Bürgern hervorzubringen vormochte, regte sich bereits im 19. Jahrhundert Widerstand. Otto von Gierke forderte den berühmten „Tropfen sozialistischen Oeles“, der das individualistisch geprägte Privatrecht „durchsickern“ müsse,130 um einen ungezügelten Freiheitsgebrauch in

126  Diesen Ansatz hat in jüngster Zeit Grünberger, Personale Gleichheit (Fn. 20) besonders deutlich, prägnant und umfassend herausgearbeitet, indem er sich für eine generelle Rechtfertigungsbedürftigkeit jeder privatrechtlichen Ungleichbehandlung ausspricht. 127  So im Kern bereits Planck, Zur Kritik des Entwurfes eines bürgerlichen Gesetzbuches für das deutsche Reich, AcP 75 (1889), 327–429, 406: „Das bürgerliche Gesetzbuch […] darf niemals das Interesse der einen oder anderen Klasse vorzugsweise berücksichtigen, sondern muß unter Abwägung aller in Frage kommenden Interessen die dem Wohle des Ganzen am besten entsprechende Bestimmung treffen.“ 128  Dazu Bürge, Das französische Privatrecht im 19. Jahrhundert: Zwischen Tradition und Pandektenwissenschaft, Liberalismus und Etatismus (1991), 123 ff., insb 124: „Die Ideologie der égalité ließ das Erbrecht als vorzügliches Instrument gesellschaftlicher Umverteilung des Eigentums erscheinen. Der Realteilungszwang unterstreicht dieses rechtspolitische Ziel.“ 129  Pollock, The Genius of the Common Law (1912), 54, der die Aussage „my learned ­friend Mr Phelps“ zuschreibt. 130  Gierke, Die soziale Aufgabe des Privatrechts (1889), 13.

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die Schranken zu weisen.131 Denkt man an das oben erwähnte Beispiel des ökonomisch übermächtigen Vertragspartners, der dem anderen einseitig die Bedingungen diktiert, so erscheinen folgende Zeilen auch heute noch passend: „Wenn das moderne Recht [auf dem Gebiet des Obligationenrechts] den Grundsatz der Vertragsfreiheit durchführt, so kann doch auch hier nicht willkürliche, sondern nur vernünftige Freiheit gemeint sein: Freiheit, die kraft ihrer sittlichen Zweckbestimmung ihr Maaß in sich trägt, – Freiheit, die zugleich Gebundenheit ist. Schrankenlose Vertragsfreiheit zerstört sich selbst. Eine furchtbare Waffe in der Hand der Starken, ein stumpfes Werkzeug in der Hand der Schwachen, wird sie zum Mittel der Unterdrückung des Einen durch den Anderen, der schonungslosen Ausbeutung geistiger und wirthschaftlicher Uebermacht. […] Eine Privatrechtsordnung, die ihres sozialen Berufes eingedenk ist, wird zugleich auf einen materiellen Schutz der durch die Vertragsfreiheit gefährdeten Gesellschaftsschichten gegen den Druck wirthschaftlicher Uebermacht hinarbeiten müssen.“ 132

Man könnte sagen, Gierke führte hier die Idee der „Brüderlichkeit“ oder Solidarität ins Feld (die er als Germanist natürlich deutschrechtlich ableitete), um den beklagten Exzessen Einhalt zu gebieten.133 Gegenüber den weiter bestehenden rechtlichen Ungleichheiten war er jedoch deutlich nachsichtiger: „[D]er Grundsatz der ‚Gleichheit‘ (oder der sogenannten ‚Gleichheit vor dem Gesetz‘) bedeutet richtig verstanden nur Gleichwerthigkeit, nicht mechanische Gleichförmigkeit der Persönlichkeit, schließt daher eine Besonderung der Rechtsfähigkeit nach natürlichen und sozialen Schichten keineswegs aus.“134

131  Vgl. aber die Reaktion Plancks, der einen echten Interessenausgleich verfolgen wollte (siehe Fn. 127), Gierke vorwarf, dem Begriff „social“ eine ganz bestimmte (Sonder)Bedeutung zuzumessen, und im Übrigen darauf hinwies, dass das BGB vorrangig die Aufgabe habe, das bestehende Recht zu kodifizieren, nicht es umzugestalten: Planck, Zur Kritik des Entwurfs (Fn. 127), 405 ff. 132  Gierke, Soziale Aufgabe (Fn. 130), 28 f. 133  Vgl. dagegen aber die differenziertere moderne Bewertung der Entstehung des BGB, auf die etwa Haferkamp hinweist in Basedow/Hopt/Zimmermann (Hrsg.), Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, Band 1 (2009), 232 (unter dem Stichwort „Bürgerliches Gesetzbuch“): „Das BGB orientierte sich nicht an den Besitzbürgern, sondern an der rechtlich gleichen Freiheit aller Privatrechtssubjekte. Mit der Entscheidung für eine Betonung der Privatautonomie und für Korrekturen durch Sondergesetze sprach man sich lediglich für ein in dubio pro libertate aus, nicht für den ‚freien Fuchs im freien Hühnerstall‘. Beachtung hat gefunden, dass auch Max Weber wie das Kommissionsmitglied Gottlieb Planck mit guten Gründen vor den Rationalitätsverlusten warnte, die einer Privatrechtsordnung drohen, die nicht Rechtsgleichheit, sondern Sonderinteressen zum Ausgangspunkt nimmt. Zudem erweist sich das überkommene Bild vielfach als stark überspitzt. Ein schrankenloser ‚Willensformalismus‘ entsprach weder dem Konzept der Pandektistik, noch dem des BGB-Gesetzgebers. Es ging in grundrechtsloser Zeit um einen gesicherten Freiheitsraum gegen den Staat. Freiheit als Chance, nicht als Risiko, bestimmte den Blick.“ Siehe in diesem Zusammenhang bereits die Anmerkung in Fn. 75 oben. 134  Gierke, Deutsches Privatrecht, Band 1: Allgemeiner Teil und Personenrecht (1895), 356 f. Siehe dazu auch Repgen, Die soziale Aufgabe des Privatrechts (Fn. 75), 60, der darauf

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Während die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht oder Religion zu Gierkes Zeiten allerdings längst an rechtlicher Bedeutung verloren hatte,135 bestimmte der status naturalis, das Geschlecht, immer noch ganz maßgeblich den Rechtsrahmen, in dem Mann und Frau – Bürger und Bürgerinnen – sich bewegten und begegneten. So hatte sich beispielsweise die Aufbruchsstimmung der Französischen Revolution schon im Familienrecht des Code civil kaum niedergeschlagen. Das Gesetzbuch von 1804 perpetuierte aufgrund des „primär wirtschaftliche[n] Verständnis[ses] von Freiheit und Gleichheit“ eine „Spaltung des bürgerlichen Rechts entlang der Geschlechterlinie“.136 Das so verstandene Gleichheitsideal war gegenüber der bestehenden unterschiedlichen Behandlung der Geschlechter durch das Recht bestenfalls „indifferent“.137 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass gerade Gierkes Ablehnung des römisch-rechtlichen Individualismus ihn in der deutschen Diskussion Ende des 19. Jahrhunderts zu einem ganz besonders scharfen Kritiker138 des Familienrechts im Ersten Entwurf des BGB und seiner (insgesamt eher bescheidenen) Reformbestrebungen machte. Er schrieb: „Es sind die letzten Konsequenzen des Individualismus, die hier gezogen werden. Mann und Frau treten nicht mehr in irgendeiner Verbundenheit, sondern als zwei vollkommen getrennte und nur mit gewissen Rechten an fremder Person und an fremdem Vermögen gegeneinander ausgestattete Einzelpersonen in die Rechtswelt ein. Von einer hinweist, dass „[a]bstrakte Gleichheit der Individuen […] jedenfalls nicht das Ziel der sozialen Privatrechtsordnung im Sinne Gierkes [war].“ 135  Vgl. z.B. im Hinblick auf die Religion Gierke, Deutsches Privatrecht, Band 1 (Fn. 134), 435 ff. 136  Blasius, Bürgerliche Rechtsgleichheit und die Ungleichheit der Geschlechter, in: Frevert (Hrsg.), Bürgerinnen und Bürger: Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert (1988), 67–84, 70: „So ‚modern‘ die Prinzipien der Rechtssubjektivität waren, die [im Code civil] Eigentums-, Vertrags- und Vererbungsfreiheit gewährleisteten, führte das primär wirtschaftliche Verständnis von Freiheit und Gleichheit doch zu Reformdefiziten bzw. politisch gewollten Reformverzichten in Bereichen, die jenseits des ökonomischen Horizonts der bürgerlichen Gesellschaft lagen. Das zukunftsweisende französische Zivilrecht ruhte im Bereich des Personen- und Familienrechts weiterhin auf dem festen Traditionssockel überkommener Rechtsbestimmungen und -überzeugungen. Diese Bruchstellen im imposanten Kodifikationsgebäude der bürgerlichen Revolution sind frauengeschichtlich von weittragender Wirkung gewesen. In der Geburtsstunde der bürgerlichen Gesellschaft begegnet eine Spaltung des bürgerlichen Rechts entlang der Geschlechterlinie, wird die Geschlechterdifferenz gleichsam durch die Rechtsdifferenz bekräftigt.“ 137  Schwab, Frauenrechte und Naturrecht, in: Klippel (Hrsg.), Naturrecht im 19. Jahrhundert (Fn. 2), 77–98, 78: „Hat man begriffen, daß der Ruf der französischen Revolution nach der ‚Egalité‘ bestimmten Ungleichheiten, nämlich denen des erblichen Feudalsystems, den Kampf ansage, keineswegs aber allen, so versteht sich die Indifferenz, die der brennendste Jakobiner gegenüber der Unterdrückung der Frauen kraft ihres Geschlechts haben konnte und die schließlich in offene Gegenwehr gegen Frauenforderungen überging.“ 138  So auch Riedel, Gleiches Recht für Frau und Mann. Die bürgerliche Frauenbewegung und die Entstehung des BGB (2008), 186: „Eine durch ihre besondere Schärfe vor allem in Ton und Form herausstechende Kritik“.

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nach außen wirkenden personenrechtlichen Gemeinschaft der Ehegatten, von einem Ehepaare, das als solches zu nehmen wäre, weiß der Entwurf nichts“.139

Nach Gierkes Verständnis war die ausschließliche Oberhauptstellung des Mannes innerhalb der Familie (das ehemännische mundium, auch „Mundwalt“ oder „Mundschaft“ genannt), die der Entwurf endgültig beseitigen wollte,140 in jedem Fall zu bewahren bzw. wiederherzustellen.141 Dass dem Entwurf trotz der darin vorgesehenen rechtsgeschäftlichen Aufwertung der Frau142 nach ausdrücklichem Bekunden der Ersten Kommission eigentlich „nichts ferner [lag], als der Gedanke der sog. Emanzipation der Frauen“,143 besänftigte seine Kritiker kaum.144 139  Gierke, Der Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuchs und das deutsche Recht, veränderte und vermehrte Aufl. (1889), 404. 140  Die allgemeine Geschlechtsvormundschaft (cura sexus), die auch ledige Frauen erfasste, war in vielen deutschen Staaten schon bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts abgeschafft worden; die eheliche Geschlechtsvormundschaft (cura maritalis) hielt sich dagegen deutlich länger: siehe Holthöfer, Die Geschlechtsvormundschaft. Ein Überblick von der Antike bis ins 19. Jahrhundert, in: Gerhard (Hrsg.), Frauen in der Geschichte des Rechts: Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart (1997), 390–451, insb. 438 ff.; Sabean, Allianzen und Listen: Die Geschlechtsvormundschaft im 18. und 19. Jahrhundert, in: Frauen in der Geschichte des Rechts (a.a.O.), 460–479; Dölemeyer, Frau und Familie im Privatrecht des 19. Jahrhunderts, in: Frauen in der Geschichte des Rechts (a.a.O.), 633–658, 640 ff.; Arne Duncker, Gleichheit und Ungleichheit in der Ehe: Persönliche Stellung von Frau und Mann im Recht der ehelichen Lebensgemeinschaft 1700–1914 (2003), 551 ff., insb. 555 ff., sowie 985 ff. 141  Gierke, Der Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuchs (Fn. 139), 403 f.: „Entspricht es unserem deutschen Rechts­bewußtsein, daß der Mann nicht mehr als der geborene Vertreter der Frau gelten soll, sondern für sie nur in gleicher Weise wie für Herrn X und Y als Mandatar oder negotiorum gestor auftreten kann? Einer solchen Rechtsordnung liegt die römische, nicht die deutsche Auffassung der Ehe zugrunde!“ 142  Beispielsweise setzte das BGB auch dem (auf das römische Recht zurückgehenden) sog. Interzessionsverbot ein Ende, demzufolge eine Frau keine fremde Verbindlichkeit übernehmen oder diese besichern konnte und insbesondere als Bürgin für Schulden ihres Mannes ausgeschlossen war. Dazu Duncker, Gleichheit und Ungleichheit in der Ehe (Fn. 140), 992 ff. 143  Motive zu dem Entwurfe eines Bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich, Band 4 (1888), 737: „Die Mutter soll [durch Zuerkennung der elterlichen Gewalt über die Kinder nach dem Tod des Vaters] nicht aus ihrem natürlichen Berufe herausgehoben, sondern im Gegentheil nur von Schranken befreit werden, welche sie bisher in der Erfüllung des ihr eigenen Berufes beengten. Dem Entwurfe liegt nichts ferner, als der Gedanke der sog. Emanzipation der Frauen. Er geht vielmehr von der Erwägung aus, daß das Mißtrauen, welches frühere Jahrhunderte in die Fähigkeit der Frau zu einer vollen Erfüllung ihres elterlichen Berufes setzen und bei der Unsicherheit der Zustände, der Schwierigkeit der Rechtsverfolgung u.s.w. vielfach setzen mußten, nach den Verhältnissen der Gegenwart nicht mehr berechtigt ist.“ 144  Vielmehr sah Gierke in ihm die wahre Natur der Ehe missverstanden, wie die Passage zeigt, die unmittelbar auf die oben (im Text zu Fn. 139) zitierte folgt: „[Der Entwurf] glaubt mit der Beseitigung der ehemännischen Gewalt lediglich ein Überbleibsel der veralteten Geschlechtsvormundschaft zu tilgen und die deutschen Frauen von einer nicht mehr zeitgemäßen Fessel zu befreien. Es entgeht ihm völlig, daß wenn die ehemännische Munt-

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Unter diametral entgegengesetzten Vorzeichen hatte sich interessanterweise zwei Jahrzehnte zuvor John Stuart Mill in England geäußert. Sein ultra-liberaler Individualismus war gepaart mit einem besonders prominenten Eintreten für Frauenrechte.145 1869 hatte er einen Essay mit dem Titel The Subjection of Women veröffentlicht146 und darin die rechtliche Besserstellung des weiblichen Geschlechts gefordert, auch und gerade im Bereich des Familienrechts.147 Bereits die Einleitung war ein Paukenschlag: „[T]he principle which regulates the existing social relations between the two sexes – the legal subordination of one sex to the other – is wrong in itself, and now one of the chief hindrances to human improvement; […] it ought to be replaced by a principle of perfect equality, admitting no power or privilege on the one side, nor disability on the other.“148

Es war dieses starke, inhaltlich aufgeladene Gleichheitspostulat das James Fitzjames Stephen in Liberty, Equality, Fraternity unter den Stichwort „Equality“ angriff.149 Seiner Meinung nach ging es nicht an, an den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen vorbei „wesentlich Ungleiches“ gleich behandeln zu wollen:

schaft auch nach dem Wegfall der Unmündigkeit der Weiber sich fast in ganz Deutschland in der einen oder anderen Form erhalten hat, darin ein ganz anderer Gedanke fortwirkt; daß es sich dabei heute lediglich noch um die Rechte und Pflichten des Hauptes der ehelichen Gemeinschaft handelt, deren Einheit nicht durch eine gesonderte zwiespältige Geschäftsfähigkeit zerrissen werden soll; daß aber die Behandlung der Ehegatten als eines zur Personeneinheit verbundenen und im Rechtsverkehr regelmäßig durch das Gemeinschaftshaupt dargestellten Menschenpaares auch heute unseren deutschen Sitten und Anschauungen entspricht.“ 145 Für Mill ergab sich Letzteres wohl aus der radikal zu Ende gedachten Idee des Individualismus: Nicholson, The Reception and Early Reputation of Mill’s Political Thought, in: Skorupski (Hrsg.), The Cambridge Companion to Mill (1998), 464–496, 470 ff. 146  Mill, The Subjection of Women (1869). Es wird darüber spekuliert, welchen Anteil Mills Ehefrau Harriet Taylor Mill und deren Tochter aus erster Ehe, Mills Stieftochter Harriet Taylor, an der Entstehung des Werks hatten. Dass sie daran mitgearbeitet haben, ist bekannt. 147  Mill, Subjection of Women (Fn. 146), 53 ff. (Kapitel 2). Siehe insb. S. 55: „[T]he wife’s position under the common law of England is worse than that of slaves in the laws of many countries: by the Roman law, for example, a slave might have his peculium, which to a certain extent the law guaranteed to him for his exclusive use.“ Auf S. 59 beschreibt Mill das Los der Ehefrau als das eines „personal body-servant of a despot“. 148  Mill, Subjection of Women (Fn. 146), 1. 149 Vgl. Stephen, Liberty, Equality, Fraternity (Fn. 44), 4: „[Mill’s] works on Utilitarianism and the Subjection of Women afford excellent illustrations of the forms of the doctrines of equality and fraternity to which I object.“ Insbesondere – so führt Stephen (auf S. 219 f.) weiter aus – sei „the whole of his essay on the Subjection of Women […] a work from which I dissent from the first sentence to the last.“

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„[I]f the rights and duties which laws create are to be generally advantageous, they ought to be adapted to the situation of the persons who enjoy or are subject to them. They ought to recognize both substantial equality and substantial inequality, and they should from time to time be so moulded and altered as always to represent fairly well the exist­ing state of society. Government, in a word, ought to fit society as a man’s clothes fit him. To establish by law rights and duties which assume that people are equal when they are not is like trying to make clumsy feet look handsome by the help of tight boots.“150

Am nachhaltigsten eingesetzt für die rechtliche Gleichstellung der Geschlechter haben sich freilich die Betroffenen selbst, genauer gesagt, einige Mutige aus ihren Reihen. Eine Vorreiterin der bürgerlichen Frauenbewegung war die Französin Olympe de Gouges, die als Reaktion auf die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte im Jahr 1791 ein Manifest schrieb, das für Frauen und Bürgerinnen die gleichen Rechte einforderte wie für Männer.151 Eine andere war in England Mary Wollstonecraft, die Mutter der berühmten Frankenstein-Autorin Mary Shelley. Sie publizierte ein Jahr nach de Gouges ein Buch mit dem Titel A Vindication of the Rights of Woman,152 in dem sie zwar nicht die sofortige rechtliche Gleichstellung verlangte, aber doch eine bessere Ausbildung von Frauen, ihre volle Beteiligung am Berufs- und Wirtschaftsleben sowie die Einbindung in politische Entscheidungen.153 Richtiggehend organisiert hat sich die Frauenbewegung erst deutlich später – unterschiedlich stark und unterschiedlich schnell in verschiedenen Ländern und Regionen. 1865 etwa wurde der Allgemeine Deutsche Frauenverein gegründet. Dessen Arbeit konzentrierte sich zunächst vorwiegend auf Bildungsthemen, aber bereits 1875 widmete sich die Generalversammlung der rechtlichen Stellung der Frau154 und kurz darauf erschien eine Denkschrift speziell zu familienrecht150 

Stephen, Liberty, Equality, Fraternity (Fn. 44), 225. De Gouges, Déclaration des droits de la femme et de la citoyenne (1791). Dazu ­Gerhard, Menschenrechte auch für Frauen: Der Entwurf der Olympe de Gouges, Kritische Justiz 20 (1987), 127–149. 152  Wollstonecraft, A Vindication of the Rights of Woman: With Strictures on Political and Moral Subjects (1792). Dazu Bergès, The Routledge Guidebook to Wollstonecraft’s A Vindication of the Rights of Woman (2013); Janes, On the Reception of Mary Woll­stone­craft’s A Vindication of the Rights of Woman, Journal of the History of Ideas 39 (1978), 293–302. Bereits 1790 hatte Wollstonecraft als Reaktion auf die Ereignisse in Frankreich und deren Rezeption in England mit einem hochpolitischen Pamphlet reagiert: Wollstonecraft, A Vindication of the Rights of Men, in a Letter to the Right Honourable Edmund Burke; Occasioned by His Reflections on the Revolution in France (1790). 153  Siehe insb. Wollstonecraft, Vindication of the Rights of Woman (Fn. 152) Kapitel 9 („Of the pernicious effects which arise from the unnatural distinctions established in society“) und Kapitel 12 („On national education“). 154  Vorausgegangen waren die Schriften des schlesischen Kreisrichters Wachler, Zur rechtlichen Stellung der Frauen (1869) und von Weil, Die Frauen im Recht. Juristische Unterhaltungen am Damentisch (1872), auch veröffentlicht in Der Frauen-Anwalt 2 (1872), 407–419, 448– 455. Dazu Riedel, Gleiches Recht für Frau und Mann (Fn. 138), 40 ff., 59 ff., 78 ff. 151 

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lichen Fragen.155 Die wohl bedeutendsten (und jedenfalls bekanntesten) politischen Vordenkerinnen hierzulande waren Hedwig Dohm156 und Helene Lange;157 auf der juristischen Seite sind insbesondere Louise Otto-Peters,158 r ianne Emilie Kempin,159 Marie Raschke,160 Anita Augspurg161 und Ma­ ­Weber162 zu nennen.163 155  Otto-Peters, Ein Rechenschaftsbericht des allgemeinen deutschen Frauenvereins, Neue Bahnen 11 (1876), 105–108. Einzelheiten bei Riedel, Gleiches Recht für Frau und Mann (Fn. 138), 112 ff. 156  Siehe insb. Dohm, Der Frauen Natur und Recht: Zur Frauenfrage (1876). Dohm war die Großmutter von Katia Pringsheim, der späteren Frau Thomas Manns. Zu ihr Martinsen, Hedwig Dohm (1831–1919): Radikale Frauenrechtlerin und polemische Schriftstellerin, in: Kritische Justiz (Hrsg.), Streitbare JuristInnen: Eine andere Tradition (2016), 143–161. 157 Siehe insb. Lange, Frauenbildung (1889); Lange/Bäumer (Hrsg.), Handbuch der Frauen­bewegung, 5 Bände (1901–1906). Zu ihr Frandsen, Helene Lange: Ein Leben für das volle Bürgerrecht der Frau (1980). 158 Siehe, neben den bereits in Fn. 155 genannten Schriften, Otto-Peters, Das Recht der Frauen auf Erwerb: Blicke auf das Frauenleben der Gegenwart (1866) sowie das mutmaßlich von ihr verfasste Werk des Deutschen Allgemeinen Frauenvereins (Hrsg.), Einige Deutsche Gesetz-Paragraphen über die Stellung der Frau (1876). Zu Louise Otto-Peters Boetcher Joeres (Hrsg.), Die Anfänge der deutschen Frauenbewegung: Louise Otto-Peters (1983). 159  Siehe insb. Kempin, Die Stellung der Frau nach den zur Zeit in Deutschland gültigen Gesetzes-Bestimmungen sowie nach dem Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich, hrsg. vom Allgemeinen Deutschen Frauenverein (1892); dies., Die Stellung der Frau im Entwurf des Bürgerlichen Gesetzbuches, Die Post 31 (1896) 1. Beilage 20.3., 25.3, 3.4., 8.4., 9.4. Zu ihr Delfosse, Emilie Kempin-Spyri (1853–1901). Das Wirken der ersten Schweizer Juristin. Unter besonderer Berücksichtigung ihres Einsatzes für die Rechte der Frau im schweizerischen und deutschen Privatrecht (1994); Riedel, Gleiches Recht für Frau und Mann (Fn. 138), 242 ff. 160 Siehe insb. Proelß/Raschke, Die Frau im neuen bürgerlichen Gesetzbuch (1895); Raschke, Rückschritte in der Gesetzgebung, Die Frauenbewegung 1895, 161–164; dies., Das eheliche Güterrecht, Die Frauenbewegung 1896, 33–34; dies., Die elterliche Gewalt, Die Frauen­bewegung 1896, 67–69; dies., Frauenbewegung und Güterrecht, Die Frauenbewegung 1896, 158–160. Zu ihr Henke, Marie Raschke (1850–1935): „Die Juristin […] ist die berufenste Frauen­befreierin“, in: Streitbare JuristInnen (Fn. 156), 393–407. 161  Siehe insb. Augspurg, Das Recht der Frau, in: Cauer u.a. (Hrsg.), Der Internationale Kongress für Frauenwerke und Frauenbestrebungen in Berlin, 19. bis 26. September 1896 (1897), 327–331; dies., Die Frau und das Recht, Die Frauenbewegung 1896, 157–160, 167–168, 184–185, 200–203. Zu ihr Gerhard, Anita Augspurg (1857–1943): Juristin, Feministin, Pazifistin, in: Kritische Justiz (Hrsg.), Streitbaren Juristen: Eine andere Tradition (1988), 92–103. 162  Siehe insb. Marianne Weber, Ehefrau und Mutter in der Rechtsentwicklung (1907). Marianne Weber war mit dem Soziologen Max Weber verheiratet. Ihr ist es zu verdanken, dass dessen Werke nach seinem frühen Tod geordnet, erhalten und einem breiten Publikum zugänglich gemacht wurden. Zu ihr Meurer, Marianne Weber: Leben und Werk (2010), insb. 243 ff. Speziell zu der von Marianne Weber nach Inkrafttreten des BGB am ehelichen Güterrecht geäußerten Kritik Lehmann, Die Ehefrau und ihr Vermögen. Reformforderungen der bürgerlichen Frauenbewegung zum Ehegüterrecht um 1900 (2006), 295 ff. 163  Vgl. zu alldem auch Berneike, Die Frauenfrage ist Rechtsfrage: Die Juristinnen der deutschen Frauenbewegung und das Bürgerliche Gesetzbuch (1995); Riedel, Gleiches Recht für Frau und Mann (Fn. 138); Meder/Duncker/Czelk (Hrsg.), unter Mitwirkung v. Aigner, Frauenrecht und Rechtsgeschichte. Die Rechtskämpfe der deutschen Frauenbewegung

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Das materielle Recht machte indes nur langsam Fortschritte. Die im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts eigentlich schon weitgehend abgebaute Geschlechtsvormundschaft blieb – soweit sie Ehefrauen und damit das ehemännische mundium betraf – in manchen Teilen Europas bis ins 20. Jahrhundert hinein bestehen.164 Insbesondere die vom französischen Code civil geprägten Rechtsordnungen behandelten die (verheiratete) Frau als „ewig minderjährig“.165 Im englischen Recht verbesserte sich ihre Stellung vor allem durch den Erlass der Married Women’s Property Acts von 1870, 1882 und 1893, welche eine gewisse wirtschaftliche Unabhängigkeit versprachen. Für Deutschland brachte – wie bereits angedeutet – das Inkrafttreten des BGB in dieser Hinsicht die Wende; doch viele andere Forderungen der Frauenbewegung verhallten ungehört. Die vollkommene privatrechtliche Gleichstellung von Männern und Frauen ließ noch lange auf sich warten. Besonders schön ist das an einer Episode bei den Beratungen über das Grundgesetz zu erkennen. Elisabeth Selbert ist mit ihrem Antrag, in Artikel 3 Abs. 2 GG den schlichten Satz zu verankern „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ (und damit deutlich über das allgemeine Gleichberechtigungspostulat in Art. 3 Abs. 1 hinauszugehen), im Parlamentarischen Rat zunächst mehrfach gescheitert.166 Grund war, dass der Satz viele Bestimmungen des damals geltenden Ehe- und Familienrechts im BGB mit einem Mal verfassungswidrig erscheinen lassen musste.167 Doch das ist eine (2006); Meder/Duncker/Czelk (Hrsg.), Die Rechtsstellung der Frau um 1900: Eine kommentierte Quellensammlung (2010); Meder in: Historisch-kritischer Kommentar zum BGB (HKK), Band IV: Familienrecht (2018) Einleitung III: Das BGB und die Frauenbewegung, insb. Rn. 1–13. Unter den Männern, die sich für die Rechtsstellung der Frau und die juristischen Forderungen der Frauenbewegung einsetzten, ist neben Wachler und Weil (Fn. 154) v.a. Carl Bulling zu nennen. Zu ihm HKK/Meder (a.a.O.) sowie jüngst Ihlefeldt, Carl Bulling (1822–1909): Pandektist und Vordenker der Gleichberechtigung (2020), insb. 125 ff. 164  Siehe dazu die in Fn. 140 genannten Beiträge m.w.N. sowie der Überblick bei Martens, Kurze Geschichte der Frau im Recht, JA 2018, 1191–1199, 1196 ff. 165 Vgl. (Mme Paul de) Lauribar, Le Code de l’éternelle mineure (1922). Martens, JA 2018, 1191, 1197 resümiert: „In den dem Code civil unterstehenden oder von ihm beeinflussten Rechtsordnungen setzte der Emanzipationsprozess der Ehefrau erst verhältnismäßig spät ein.“ 166  Über diese Mutter des Grundgesetzes Meyer, Elisabeth Selbert (1896–1986): „Gleichberechtigung ohne Wenn und Aber“, in: Streitbare Juristen (Fn. 161), 427–439; Die Hessische Landesregierung (Hrsg.), Ein Glücksfall für die Demokratie: Elisabeth Selbert (1896–1986): Die große Anwältin der Gleichberechtigung (1999). 167  Es wird berichtet, dass der CDU-Abgeordnete Albert Finck zu dem abgelehnten Antrag im Dezember 1948 wie folgt Stellung genommen habe („Um die Gleichberechtigung der Frau“, Drucks. Parlamentarischer Rat 12.48/345): „Die übrigen Parteien hatten gute Gründe, gegen die sozialdemokratische Formulierung sich auszusprechen. Diese sieht zunächst harmlos aus und stellt im allgemeinen vom menschlichen und sozialen Gesichtspunkte aus eigentlich eine Selbstverständlichkeit dar. Dagegen hätte dieser Satz, als gesetzliche Bindung im Staatsgrundgesetz verankert, unabsehbare zivilrechtliche und sozialpolitische Folgen. Fast alle Bestimmungen des seit beinahe 50 Jahren in Geltung stehenden Bürgerlichen Gesetzbuches über Ehe-und Familienrecht würden dadurch über den Haufen geworfen und außer

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andere Geschichte,168 die deutlich über den mir zugedachten Betrachtungszeitraum hinausreicht.

IV. Schlussbetrachtung Je nachdem, was man unter „Freiheit“ und besonders „Gleichheit“ versteht, ist es möglich, die beiden Prinzipien in der Periode zwischen ca. 1750 und 1900 entweder als sich gegenseitig ergänzende ideengeschichtliche Katalysatoren für die Begründung und Entwicklung des Rechts zu begreifen, oder aber als zwei diametral entgegengesetzte Pole, in deren Spannungsfeld um das eigentliche, materielle Privatrecht hart gerungen wurde.169 Das Prinzip der Gleichheit ist einerseits die formale „Gleichheit vor dem Gesetz“; andererseits beinhaltet es ein tiefergehendes Postulat nach rechtlicher Anerkennung als Subjekt und (rechtlicher) Gleichstellung verschiedener Gruppen. Bemerkenswerterweise gilt die beobachtete Ambivalenz zwischen Kompatibilität und Gegensätzlichkeit unabhängig davon, ob man den Freiheitsbegriff positiv auflädt, wie vor allem in der kontinentalen Tradition geschehen, oder ihm, wie im englischen Common Law üblich, eine rein negative Abwehrfunktion zumisst. Das Verdienst des Kodifikationszeitalters war es jedenfalls, das moderne Privatrecht für den Diskurs über beide Prinzipien und ihr Verhältnis zueinander zu öffnen.

Kraft gesetzt werden.“ Leider konnte ich die Quelle bei der Verfassung dieses Beitrags nicht selbst einsehen. Sie ist hier zitiert nach Sacksofsky, Das Grundrecht auf Gleichberechtigung: Eine rechtsdogmatische Untersuchung zu Artikel 3 Absatz 2 des Grundgesetzes, 2. Aufl. (1996), 328. 168  Besonders hingewiesen sei in diesem Zusammenhang nur auf Maria Hagemeyer, „der erste weibliche Richter überhaupt in deutschen Landen“ (wie es damals hieß), die zum „Spiritus Rector“ späterer Reformbestrebungen im Ehe- und Familienrecht wurde, was ihr den Spitznamen „Gleichberechtigungsmariechen“ einbrachte: Röwekamp, Die ersten deutschen Juristinnen (2011), 454, 577, 587, sowie WDR ZeitZeichen vom 17.4.2021. 169  Was den Diskurs darüber anbelangt, so stellt Haferkamp, Bedeutung der Willensfreiheit für die Historische Rechts­schule (Fn. 13), 197, allerdings fest, dass in Deutschland (erst) „seit etwa 1880 […] der stete Hinweis auf Konflikte zwischen rechtlicher Gleichheit der Freiheitssubjekte und faktischer Ungleichheit [dominierte]“.

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Gleichheit und Materialisierungstendenzen im Privatrecht des 20. und 21. Jahrhunderts Dirk Looschelders I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   64 1. Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   64 2. Schwerpunkte der Betrachtung und Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . .   66 II. Vertragsrecht und Eigentum – Länderberichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   67 1. Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   67 a) Das liberale Vertragskonzept des BGB von 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   67 b) Einschränkungen der Privatautonomie nach dem Ersten Weltkrieg . . . . . . .   69 c) Entwicklungen im Dritten Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   69 d) Nachkriegszeit (ab 1945) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   70 e) Ansätze zu einer sozialstaatlichen Neukonzeption des Vertragsrechts . . . . .   70 f) Warnung vor Paternalismus und zu großer Machtkonzentration beim Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   72 g) Versöhnung von Vertragsfreiheit und Materialisierung . . . . . . . . . . . . . . . . .   73 h) Schutz vor Diskriminierung – das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz ��  76 2. Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   76 a) Das liberale Vertragskonzept des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   77 b) Einschränkungen der Vertragsfreiheit und Schutz der schwächeren Partei ��  78 c) Neuere Entwicklungen (ab 1980) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   78 3. England . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   83 a) Freedom of Contract und Laissez-Faire . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   83 b) Abkehr vom Konzept der uneingeschränkten Vertragsfreiheit . . . . . . . . . . .   84 c) Neuere Entwicklungen (ab 1980) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   86 4. Vereinigte Staaten von Amerika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   89 a) Liberty of Contract und Laissez-Faire . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   89 b) Entwicklungen von der Weltwirtschaftskrise bis in die 1970er Jahre . . . . . .   91 c) Schutz vor Diskriminierung im US-amerikanischen Privatrecht . . . . . . . . .   95 d) Neuere Entwicklungen (ab 1980) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   96 5. Recht der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   98 a) Vertragsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   98 b) Verbraucherschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   99 c) Schutz vor Diskriminierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  101 d) Generalklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  101 e) Konstitutionalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  102 III. Vertragsrecht und Eigentum – vergleichende Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  103 1. Rechtslage am Beginn des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  103 2. Vom Ersten Weltkrieg bis zum Ende der 1970er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  103 3. Neuere Entwicklungen (ab den 1980er Jahren) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  105 a) Anerkennung des „Werts“ der Vertragsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  105

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Dirk Looschelders b) Sicherung der Voraussetzungen eines freien und fairen Vertrages . . . . . . . . .  105 c) Bedeutung des „Informationsmodells“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  106 d) Subjektives und objektives Äquivalenzprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  106 e) Ethische Schranken der Vertragsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  109 f) Materialisierung durch Konstitutionalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  109 g) Rechtstechnische Mittel zur Verwirklichung der Materialisierung . . . . . . . .  110 h) Anerkennung des „Werts“ von privatrechtlichem Eigentum . . . . . . . . . . . . .  111 i) Gewährleistung materieller Gleichheit durch Antidiskriminierungsrecht ��  112 Das Vertragsrecht zwischen ausgleichender und distributiver Gerechtigkeit �� 114

IV. Grundlinien der Entwicklung im Familien- und Erbrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  116 1. Familienrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  116 2. Erbrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  116 V. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  117

I. Einführung 1. Problemstellung Das Privatrecht des 19. Jahrhunderts geht vom Grundsatz der formalen Freiheit und Gleichheit aus. Repräsentativ ist im deutschen Recht § 1 BGB. Indem die Vorschrift die Rechtsfähigkeit des Menschen voraussetzt und nur deren Beginn regelt, erkennt das BGB an, dass alle Menschen gleichermaßen Träger von Rechten und Pflichten sein können.1 Im Verlauf des 20. Jahrhunderts hat sich in allen westlichen Privatrechtsordnungen ein „Wandel“ hin zu einer stärkeren Beachtung der tatsächlichen Freiheit und Gleichheit der Privatrechtssubjekte eingestellt. In der Literatur wird diese Entwicklung im Anschluss an Max Weber 2 als „Materialisierung“ des Privatrechts bezeichnet.3 Der Begriff der Materialisierung erscheint dabei al1 Vgl. Looschelders, Diskriminierung und Schutz vor Diskriminierung im Privatrecht, JZ 2012, 105. Zur geschichtlichen Entwicklung des Begriffs der „allgemeinen Rechtsfähigkeit“ vgl. Staudinger/Kannowski, BGB, Neubearb. (2018), Vorbem. zu § 1 Rn. 2. Noch deutlicher in diesem Sinne formuliert § 16 ABGB von 1811: „Jeder Mensch hat angeborne, schon durch die Vernunft einleuchtende Rechte, und ist daher als eine Person zu betrachten. Sklaverei oder Leibeigenschaft, und die Ausübung einer darauf sich beziehenden Macht wird in diesen Ländern nicht gestattet.“ 2  Max Weber hat schon Anfang des 20. Jahrhunderts in seinem Werk „Wirtschaft und Gesellschaft“ (1921/22) in der modernen Rechtsentwicklung Tendenzen festgestellt, die eine „Auflösung des Rechtsformalismus“ begünstigen und ein „individualisierendes und (relativ) materiales Moment in den Rechtsformalismus hinein[tragen]“ (Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Studienausgabe, 5. Aufl. (1980), 504 f.). Im Weiteren spricht Weber von „antiformalen Normen, die nicht juristischen oder konventionellen oder traditionellen, sondern rein ethischen Charakter haben: materiale Gerechtigkeit statt formaler Legalität beanspruchen“ (506). 3 Vgl. Canaris, Wandlungen des Schuldvertragsrechts – Tendenzen zu seiner „Materialisierung“, AcP 200 (2000), 273 (276 ff.); Grünberger, Personale Gleichheit. Der Grundsatz der Gleichbehandlung im Zivilrecht (2013), 34; Kehrberger, Die Materialisierung des Zivil-

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lerdings schillernd. Bei einem weiten Verständnis beschreibt er allgemein den Einfluss außerrechtlicher (insbesondere ethischer) Wertungen auf das als formal verstandene Privatrecht.4 Spezifischer zielt die Materialisierung darauf ab, das Vorliegen der tatsächlichen Voraussetzungen für einen freien Vertragsschluss unter gleichberechtigten Parteien sicherzustellen.5 Es geht also um das Prinzip der „gleichen Freiheit“. Insofern bestehen Berührungspunkte mit dem allgemeinen Gleichheitsgedanken, der nicht zuletzt auch in den Diskriminierungsverboten des modernen Privatrechts zum Ausdruck kommt. Anderen Autoren geht es bei der Materialisierung um die Gewährleistung eines „gerechten“ Ergebnisses.6 In Deutschland hat Wieacker die infrage stehende Entwicklung als „Rückkehr zu einer materialen Vertragsethik“ verstanden.7 Damit verbunden war bei Wieacker die weitergehende Vorstellung des Übergangs zu einem neuen „Sozialmodell“,8 nach dem „auch das Privatrecht außerhalb seiner selbst gelegenen gesellschaftlichen Zwecken zu dienen“ hat.9 Die dargelegten Materialisierungstendenzen setzen in den westlichen Rechtsordnungen schon im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ein. Sie wirkten sich im Laufe des 20. Jahrhunderts immer stärker auf Gesetzgebung und Rechtsprechung aus. Die damit verbundene – wirkliche oder auch nur scheinbare – Abkehr vom liberalen (individualistischen) Konzept des Vertragsrechts wurde zwischenzeitig mit einem „Niedergang der Vertragsfreiheit“ assoziiert.10 In Frankreich hat Batiffol schon 1968 über „La ‚crise du contrat‘ et sa portée“ prozessrechts (2019), 7 ff.; Haferkamp, in: Schmoeckel (Hrsg.), Historisch-kritischer Kommentar zum BGB, Bd. II/1 (2007), § 242 Rn. 21; Stürner, Europäisches Vertragsrecht (2021), § 11 Rn. 1 ff., 6; krit. Rückert, in: Schmoeckel (Hrsg.), Historisch-kritischer Kommentar zum BGB, Bd. I (2003), Vor § 1 Rn. 105; MüKoBGB/Ernst, BGB, Bd. 2, 8. Aufl. (2019), Einl. SchuldR Rn. 53.  4  Weber (Fn. 2), 506; vgl. dazu Kehrberger (Fn. 3), 10.  5 Vgl. Canaris, Wandlungen des Schuldvertragsrechts – Tendenzen zu seiner „Materialisierung“, AcP 200 (2000), 273, 287; Looschelders, Sanierungsinstrument „Vertragsbeendigung“, ZIP 2021, 2461, 2466.  6 Vgl. Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit (2005), 23, die im Anschluss an Canaris (Wandlungen des Schuldvertragsrechts – Tendenzen zu seiner „Materialisierung“, AcP 200 [2000], 273, 276 ff., 282 ff.) zwischen einem materialen Verständnis der Vertragsgerechtigkeit und der Materialisierung der Vertragsfreiheit unterscheidet.  7  Wieacker, Das Sozialmodell der klassischen Privatrechtsbücher und die Entwicklung der modernen Gesellschaft (1953), 19, 24 f. Der Text ist auch abgedruckt in: Grundmann/ Micklitz/Renner (Hrsg.), Privatrechtstheorie, Bd. 1 (2015), 832 ff.  8 So Wieacker (Fn. 7), 18 ff.; hieran anknüpfend Schön, Zwingendes Recht oder informierte Entscheidung – zu einer (neuen) Grundlage unserer Zivilrechtsordnung, FS Canaris, Bd. 1 (2007), 1191; krit. zum Begriff des Sozialmodells Canaris, Wandlungen des Schuldvertragsrechts – Tendenzen zu seiner „Materialisierung“, AcP 200 (2000), 273, 289; Auer, Der privatrechtliche Diskurs der Moderne (2014), 4.  9  Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. (1967), 540. 10 Vgl. Renner, in: Grundmann/Micklitz/Renner (Hrsg.), Privatrechtstheorie, Bd. 1 (2015), 821, 829.

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nachgedacht.11 Kurz darauf hat E. A. Kramer sich mit der „Krise des liberalen Vertragsdenkens“ (1974) beschäftigt.12 Aus dem englischen Recht ist Atiyahs Analyse „The Rise and Fall of Freedom of Contract (1979) hervorzuheben.13 In den USA hat Gilmore 1974 sogar den Tod des Vertrages („The Death of Contract“) heraufbeschworen.14 Die Diskussion ist bei diesen negativen Befunden aber nicht stehen geblieben. In neuerer Zeit finden sich in allen westlichen Rechtsordnungen Ansätze, die die Bedeutung der Privatautonomie betonen und auf eine Integration der modernen Ansätze zur Materialisierung des Vertragsrechts in das klassische (liberale) Vertragsverständnis abzielen. Dabei hat sich das Privatrecht der EU für die Mitgliedstaaten als wichtige Quelle der Inspiration erwiesen. In terminologischer Hinsicht ist zu beachten, dass der Begriff der „Materialisierung“ nur im deutschsprachigen Schrifttum verbreitet ist.15 Die damit verbundenen Entwicklungen lassen sich jedoch in allen untersuchten Rechtsordnungen mehr oder weniger stark feststellen.

2. Schwerpunkte der Betrachtung und Gang der Untersuchung Im Vordergrund der nachfolgenden Überlegungen steht das Vertragsrecht. Einen engen Zusammenhang damit hat die Diskussion über Spannungen zwischen Freiheit und Gleichheit beim Eigentum, auf die daher mit eingegangen werden soll. Auf die Entwicklungen im Familien- und Erbrecht kann dagegen am Ende nur noch ein kurzer Blick geworfen werden. Die Länderberichte zu Vertragsrecht und Eigentum (II.) konzentrieren sich auf die Grundlinien der Entwicklung in Deutschland, Frankreich, England und in den Vereinigten Staaten. Außerdem wird das Privatrecht der EU einbezogen. Auf andere Rechtsordnungen (Österreich, Schweiz) kann nur vereinzelt hingewiesen werden. Auch sonst muss die Betrachtung oft punktuell und grobmaschig bleiben. Eine umfassende Analyse der einschlägigen Rechtsprechung sowie der in der Literatur entwickelten theoretischen Ansätze ist nicht zu leisten. Der Vortrag mündet in eine vergleichende Würdigung (III.) und endet nach 11 

13 ff.

12 

Batiffol, La „crise du contrat“ et sa portée, Archives de philosophie du droit (13) (1968),

E. A. Kramer, Die „Krise“ des liberalen Vertragsdenkens (1974). Atiyah, The Rise and Fall of Freedom of Contract (1979); vgl. auch Atiyah/Smith, Atiyah’s Introduction to the Law of Contract, 6. Aufl. (2005), 11: „gradual decline in belief in freedom of contract“. 14  Gilmore, The Death of Contract (1974), 3: „We are told, that Contract, like God, is dead. And so it is“. Krit. dazu Hillman, The Triumph of Gilmore’s The death of contract, 90 Nw. U. L. R. (1995), 32, 38 ff.; Scott, The death of contract law, University of Toronto Law Journal 54 (2004), 369 ff. 15  Zum englischen Recht aber Collins, The Law of Contract, 4. Aufl. (2003), 39: „Mate­ riali­zation of the modern law of contract“. 13 

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einigen knappen Anmerkungen zum Familien- und Erbrecht (IV.) mit einem Fazit (V.).

II. Vertragsrecht und Eigentum – Länderberichte Bei der rechtsvergleichenden Betrachtung der Entwicklungen im 20. und 21. Jahrhundert zu Fragen des Vertragsrechts und des Eigentums wird zwischen drei Zeiträumen unterschieden: dem frühen 20. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg bzw. bis zur Weltwirtschaftskrise, der Zeit zwischen dem Ersten Weltkrieg bzw. der Weltwirtschaftskrise und dem Ende der 1970er Jahre und den modernen Entwicklungen ab den 1980er Jahren.16 Der erste Einschnitt erklärt sich daraus, dass der Erste Weltkrieg und die Weltwirtschaftskrise zu tiefgreifenden gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und sozialen Umbrüchen geführt haben, die für das Privatrecht nicht ohne Folgen geblieben sind. Der zweite Einschnitt beruht auf der Beobachtung, dass in den 1960er und 1970er Jahren in allen untersuchten Rechtsordnungen eine „Krise des Vertragsrechts“ oder gar der „Tod des Vertrages“ konzediert wurde.17 Es fragt sich daher, welche Entwicklungen zur Überwindung dieser Wahrnehmung geführt haben.

1. Deutschland a) Das liberale Vertragskonzept des BGB von 1900 Am Beginn des 20. Jahrhunderts wird das deutsche Vertragsrecht durch ein liberales Konzept beherrscht, so wie es durch das BGB verwirklicht worden ist.18 Der Vertrag wird dabei als Ausdruck privatautonomer Gestaltung verstanden. Geltungsgrund des Vertrages ist der Wille der Parteien.19 Dabei wird entweder ganz von der „Vernünftigkeit“ dieses Willens abgesehen, wie Flume es in der prägnanten Formulierung „stat pro ratione voluntas“ zum Ausdruck gebracht 16  Zu einem ähnlichen Drei-Phasen-Modell Schön, Zwingendes Recht oder informierte Entscheidung – zu einer (neuen) Grundlage unserer Zivilrechtsordnung, FS Canaris, Bd. 1 (2007), 1191 ff. Die ersten beiden Phasen sind auch bei Wieacker (Fn. 9), 514 ff. angelegt. Zum englischen Vertragsrecht haben Atiyah/Smith (Fn. 13), 11, ein paralleles Drei-Phasen-Modell entwickelt, das auf die Untersuchung von Atiyah (Fn. 13) zurückgeht. Zum französischen Vertragsrecht Terré/Simler/Lequette/Chénedé, Droit Civil, 12. Aufl. (2019), Rn. 45 ff. 17 S. oben, I.1. 18  Vgl. MüKoBGB/Säcker, BGB, Bd. 1, 9. Aufl. (2021), Einl. BGB Rn. 35 ff.; Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 12. Aufl. (2020), § 10 Rn. 42. 19  Zur Willenstheorie vgl. Neuner (Fn. 18), § 30 Rn. 2; Zimmermann, „Heard melodies are sweet, but those unheard are sweeter …“: Condicio tacita, implied condition und die Fortbildung des europäischen Vertragsrechts, AcP 193 (1993), 121, 129 ff.

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hat, 20 oder es wird davon ausgegangen, dass der von freien und gleichen Individuen geschlossene Vertrag eine „Richtigkeitsgewähr“ in sich trägt. 21 Der letztere Ansatz leitet freilich zu Fragen der Vertragsgerechtigkeit über, 22 auf die noch zurückzukommen ist. 23 Zur Klarstellung ist darauf hinzuweisen, dass die verbreitete Kritik am „liberalistischen“ Charakter des BGB24 zu weit geht.25 Das BGB kennt seit jeher Mechanismen, die auf die Begrenzung der Privatautonomie abzielen. Zu nennen sind insbesondere die Vorschriften über die Sittenwidrigkeit (§§ 138 Abs. 1, 826 BGB) und den Wucher (§ 138 Abs. 2 BGB). Spezielle Vorschriften zum Schutz der schwächeren Partei fanden sich von Anfang an im Miet- und im Dienstvertragsrecht des BGB sowie im Abzahlungsgesetz von 1894, das als Antwort auf ein dringendes sozialpolitisches Problem der damaligen Zeit zu verstehen ist.26 Im Übrigen sollten soziale Fragen mit Hilfe der ab 1883 eingeführten Sozialversicherungen bewältigt werden.27 Die privatrechtlichen Schutzmechanismen blieben zwar zunächst punktuell. Zu beachten ist aber, dass Max Weber schon vor dem Ersten Weltkrieg Tendenzen zur Auflockerung des „Rechtsformalismus“ durch „materiale Momente“ festgestellt hat. 28

20  Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Bd. II, Das Rechtsgeschäft, 4. Aufl. (1992), § 1, 5. Flume erkennt dabei zwar an, dass die Freiheit der autonomen Gestaltung idealiter „als Freiheit im Sinne sittlicher Bindung“ zu verstehen ist; die rechtliche Anerkennung der privatautonomen Gestaltung sei aber „davon unabhängig, ob die Freiheit in diesem idealen Sinne ausgeübt wird“. 21 So Schmidt-Rimpler, Grundfragen einer Erneuerung des Vertragsrechts, AcP 147 (1941), 130 ff.; vgl. auch Schmidt-Rimpler, Zum Vertragsproblem, FS Raiser (1974), 3, 5 ff. 22  Krit. insoweit Flume (Fn. 20), § 1, 6 a; dagegen Säcker (Fn. 18), Einl. BGB Rn. 40. 23  Dazu unten, I.1.e. 24 Vgl. Wieacker (Fn. 9), 478 ff.; krit. gegenüber dem formalen Verständnis von Freiheit und Gleichheit im BGB schon O. v. Gierke, Die soziale Aufgabe des Privatrechts (1889), Nachdruck (1943), 22 ff. 25 HKK/Rückert (Fn. 3), Vor § 1 Rn. 79; Haferkamp, in: Schmoeckel (Hrsg.), Historisch-kritischer Kommentar zum BGB, Bd. I (2003), § 138 Rn. 5 ff.; Neuner (Fn. 18), § 3 Rn. 16 und § 10 Rn. 42; Auer (Fn. 8), 4; Grünberger (Fn. 3), 113. Zur Diskussion über den Schutz des Schwächeren bei der Schaffung des BGB vgl. auch Repgen, Die soziale Aufgabe des Privatrechts (2001), 68 ff. 26 Vgl. Larenz, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 7. Aufl. (1989), § 3 II b. Zur sozialpolitischen Bedeutung des Abzahlungsgesetzes Schubert Savigny-Zeitschrift, Germ. Abt., Bd. 102 (1985), 138 ff. 27  Zur Aufgabenteilung mit dem Sozialversicherungsrecht HKK/Rückert (Fn. 3), vor § 1 Rn. 93 ff.; zur Notwendigkeit einer Berücksichtigung der Gesamtrechtsordnung vgl. auch Repgen (Fn. 25), 519 ff. 28 Zu Max Weber s. oben, I. 1. (Fn. 2). Vgl. auch Kehrberger (Fn. 3), 9 Fn. 23 mit dem Hinweis, dass das erst nach dem Tod von Max Weber veröffentlichte Werk im Wesentlichen vor dem Ersten Weltkrieg entstanden ist.

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b) Einschränkungen der Privatautonomie nach dem Ersten Weltkrieg Für die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg ist eine rasante Zunahme zwingender Gesetze auf den Gebieten des Arbeitsrechts, des Mietrechts und des Bodenrechts festzustellen. 29 Gleichzeitig finden sich Tendenzen, den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umwälzungen über die Generalklauseln des BGB Rechnung zu tragen. Besonders hervorzuheben ist die Lehre von der Störung der Geschäftsgrundlage, die das Reichsgericht nach dem Ende des Ersten Weltkriegs als Reaktion auf die Inflation auf der Grundlage des § 242 BGB anerkannt hat.30

c) Entwicklungen im Dritten Reich Dass die dem BGB zugrunde liegende liberale und individualistische Konzeption des Vertragsrechts und des Eigentums (§ 903 BGB) im Nationalsozialismus aus ideologischen Gründen auf strikte Ablehnung traf, kann nicht überraschen. Stattdessen wurde der völkische Gemeinschaftsgedanke betont.31 Ein wichtiger Ansatzpunkt waren die Generalklauseln des BGB, über welche die nationalsozialistische Weltanschauung in das Privatrecht transformiert werden ­sollte.32 Rechtstechnisch betrachtet geht es also auch hier um die Implementierung außerprivatrechtlicher Wertungen und damit um eine Form der „Materialisierung“ – wenn auch um eine pervertierte. Aus methodischer Sicht lassen sich daher Kontinuitäten mit früheren und späteren Entwicklungen feststellen.33 Letztlich handelt es sich aber um eine eigenständige Thematik, die in diesem Vortrag nicht weiter verfolgt werden kann.

29 Vgl. Wieacker (Fn. 9), 545 ff.; Neuner (Fn. 18), § 9 Rn. 6; speziell mit Blick auf die Entstehung des Arbeitsrechts Bergmann, in: Schlinker/Ludyga/Bergmann, Privatrechtsgeschichte (2019), § 10 Rn. 14. 30 RG, Urt. v. 3.2.1922, RGZ 103, 328, 332 mit Verweis auf Oertmann, Die Geschäftsgrundlage (1921). 31 Vgl. Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 7. Aufl. (2012), 351 ff., 362 ff.; Rüthers/­ Fischer/Birk, Rechtstheorie, 11. Aufl. (2020), § 2 Rn. 69; Hattenhauer, Grundbegriffe des Bürgerlichen Rechts, 2. Aufl. (2000), 16 ff.; vgl. aber auch den Ansatz zur Rechtfertigung der Vertragsfreiheit von Schmidt-Rimpler, Grundfragen einer Erneuerung des Vertragsrechts, AcP 147 (1941), 130 ff. 32 HKK/Haferkamp (Fn. 3), § 242 Rn. 71; Rüthers (Fn. 31), 216 ff., 370 ff. 33  Rüthers (Fn. 31), 431 ff.; Haferkamp, Zur Methodengeschichte unter dem BGB in fünf Systemen, AcP 214 (2014), 60, 72 ff.; Auer (Fn. 8), 133 Fn. 52; speziell zu § 242 BGB Haferkamp (Fn. 3), § 242 Rn. 89 mit dem Hinweis, dass die Vorschrift „nach Austausch der zu implementierenden höherrangigen Werteordnung“ ihre Transformationsfunktion nach 1945 behalten hat.

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d) Nachkriegszeit (ab 1945) Die Tendenz zur Einschränkung der Privatautonomie durch zwingendes Recht setzte sich in der Nachkriegszeit fort. Wichtige Beispiele sind die Wiederaufnahme der Wohnraumbewirtschaftung34, die später durch das soziale Mietrecht abgelöst wurde, der Ausbau des Schutzes der Arbeitnehmer sowie die stärkere Betonung der Sozialpflichtigkeit des Eigentums (Art. 14 Abs. 2 GG), die freilich schon in der Weimarer Reichsverfassung verankert war.35 Erste Ansätze zum Verbraucherschutz wurden ebenfalls vorwiegend unter sozialpolitischen Gesichtspunkten diskutiert.36 Ziel war der Schutz des unaufgeklärten und unmündigen Verbrauchers.37 Große Beunruhigung verursachte die rasch zunehmende Bedeutung Allgemeiner Geschäftsbedingungen (AGB). Diese Entwicklung galt insofern als problematisch, als der Vertrag bei Verwendung von AGB nicht „frei ausgehandelt“ ist. Die Verwendung von AGB widerspricht somit dem Leitbild des freien Vertragsschlusses unter gleichberechtigten Privatrechtssubjekten. Man sprach daher von „privatem Normdiktat“38 und „Verträgen auf Unterwerfung“.39 Abhilfe wurde zunächst durch die Rechtsprechung über eine Inhaltskontrolle mithilfe der Generalklausel des § 242 BGB geschaffen. Der Gesetzgeber reagierte dann schließlich mit dem AGBG vom 9.12.1976, das am 1.4.1977 in Kraft trat.

e) Ansätze zu einer sozialstaatlichen Neukonzeption des Vertragsrechts Die vorstehend dargelegten Entwicklungen führten in der Literatur zu einem Nachdenken darüber, ob das liberale Vertragskonzept noch geeignet ist, die Herausforderungen der modernen Gesellschaft zu bewältigen. Wieacker hat hierzu schon am 12.12.1952 in seinem Vortrag zum Thema „Das Sozialmodell der klassischen Privatrechtsgesetzbücher und die Entwicklung der modernen

34  Wieacker (Fn. 9), 548; Roquette, Neue Grundlagen der Wohnraumbewirtschaftung, JZ 1953, 257 ff. 35  Vgl. dazu Larenz (Fn. 26), § 3 IV. 36 Grundlegend v. Hippel, Der Schutz des Schwächeren (1982); Simitis, Verbraucherschutz (1976); Weitnauer, Der Schutz des Schwächeren im Zivilrecht (1975); vgl. auch Dauner-Lieb, Verbraucherschutz durch Ausbildung eines Sonderprivatrechts für Verbraucher (1983), 109 ff., wonach die Herausbildung eines Sonderprivatrechts für Verbraucher nur durch das soziale Verbraucherschutzmodell gerechtfertigt werden kann. 37  Tamm, Verbraucherschutzrecht (2011), 63. 38  Kramer (Fn. 12), 12 ff. 39  Pawlowski, Allgemeiner Teil des BGB, 7. Aufl. (2003), Rn. 457 m.w.N. Der BGH (BGHZ 41, 151, 154) hat früher ebenfalls davon gesprochen, dass AGB „ihre Rechtswirksamkeit nicht von einer (nicht bestehenden) Privatautonomie, sondern nur von der Unterwerfung des anderen Vertragsteils ableiten können“.

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Gesellschaft“ festgestellt, dass der Geltungsanspruch des bürgerlichen Rechts und seiner Rechtsideale „in allen [Bereichen], die das Wohl und Wehe der wirtschaftlich Unselbständigen betreffen, […] verschwunden [sei]“.40 Aus Sicht von Wieacker äußert sich in der Einschränkung des subjektiven Berechtigungsgehaltes des Einzelnen „der Kern des Sozialstaatsprinzips: die Inpflichtnahme nicht nur der Gesellschaft, sondern auch des Individuums selbst für die soziale Existenz und Wohlfahrt der anderen“.41 Als besonders drastischen Ausdruck dieser Entwicklung sieht Wieacker die gesetzlichen Einschränkungen des Privateigentums unter dem Aspekt der Sozialbindung an. Nach seiner Einschätzung hat „die soziale Inpflichtnahme des Grundeigentums ein Ausmaß erreicht, das in der Geschichte des Privateigentums ohne Beispiel“ ist.42 Wieacker verweist darüber hinaus aber auch auf neuere Entwicklungen in der Rechtsprechung wie die Beschränkung der Gläubigerrechte unter dem Aspekt der Zumutbarkeit, die Erweiterung der Schutzpflichten in der Vertragsbeziehung,43 die Herleitung vertraglicher Wirkungen aus sozialen Tatbeständen sowie die Erweiterung der Eigentümerpflichten im Verhältnis zu anderen.44 Die Materialisierung stellt sich für Wieacker als Hinwendung zu einem neuen „Sozialmodell“ dar. Nach seiner Ansicht ist das „liberalistische Privatrechtsmodell“ des BGB auch nicht mit der Demokratie vereinbar, weil Freiheit und Gleichheit bei der Verfügung über die wirtschaftlichen Güter nicht zu versöhnen seien.45 Die Analyse von Wieacker erscheint aus heutiger Sicht einseitig und „überzeichnet“.46 Dies gilt insbesondere für die Feststellung, dass das Vertragsmodell des BGB nicht mit der Demokratie vereinbar sei. Die Sichtweise von Wieacker hat sich in der weiteren Diskussion aber gleichwohl als sehr „wirkmächtig“ erwiesen.47 Auch bei anderen Autoren finden sich Ansätze zu einer am Sozialstaatsprinzip orientierten Neukonzeption des Vertragsrechts. So hat Eike Schmidt bei der Neubearbeitung des Lehrbuchs zum Allgemeinen Schuldrecht von Josef Esser ab 1976 die Auffassung vertreten, das Schuldrecht diene der „sozialen Gerechtigkeit“ und müsse über die Vorstellung eines „sozial ‚richtigen‘ Rechts“ konzipiert werden.48 Dagegen hat Larenz wesentlich vorsichtiger 40 

Wieacker (Fn. 7), 23. Wieacker (Fn. 9), 540. 42  Wieacker (Fn. 9), 553. 43  Zum Verständnis von Schutz- und Verkehrspflichten als Ausdruck der „sozialen Gerechtigkeit“ vgl. auch Lomfeld, Die Gründe des Vertrages (2015), 252. 44  Wieacker (Fn. 9), 540; ebenso schon Wieacker (Fn. 7), 18 ff. 45  Wieacker (Fn. 7), 7. 46  Krit. HKK/Haferkamp (Fn. 27), § 138 Rn. 5; Repgen (Fn. 25), 519 ff.; Auer (Fn. 8), 135 ff. 47  Grünberger (Fn. 3), 112 f.; HKK/Haferkamp (Fn. 3), § 242 Rn. 23. 48  Esser/E. Schmidt, Schuldrecht Allgemeiner Teil, Teilband 1, 5. Aufl. (1976), 4 ff.; krit. J. Schmidt, Ein soziales „Obligationsmodell“ im Schuldrecht? Gedanken zur Neuauflage des Esserschen Lehrbuches, AcP 176 (1976), 381 ff. In neueren Auflagen hat E. Schmidt (Schuld41 

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von einer „Verstärkung der sozialen Komponente im Vertragsrecht“ gesprochen.49

f) Warnung vor Paternalismus und zu großer Machtkonzentration beim Staat Die mit dem sozialen Verständnis des Vertragsrechts verbundenen Freiheitseinschränkungen wurden freilich auch kritisch gesehen. So beschreibt der Philosoph Jürgen Habermas in seinem Werk „Faktizität und Geltung“ aus dem Jahr 1992 die Gefahr eines „sozialstaatlichen Paternalismus“.50 Als paternalistisch bezeichnet Habermas dabei jedes Rechtsprogramm, das gegen die freiheitseinschränkenden Nebenfolgen der staatlichen Kompensation faktischer Ungleichheiten unempfindlich ist.51 Indem das sozialstaatliche Paradigma des Rechts sich im Sinne der distributiven Gerechtigkeit ausschließlich an der gerechten Verteilung der Lebenschancen orientiere, verfehle es den freiheitsverbürgenden Sinn legitimer Rechte.52 Ähnliche Kritik findet sich bei Franz Bydlinski. Bydlinski sieht zwar, dass die Vertragsfreiheit durch ungleiche Macht- und Informationsverteilung für einen Beteiligten in „massenhaften Situationen“ „verdünnt“ ist. Er beklagt aber, dass der rechtliche Abbau von Ungleichgewichten zwischen Privaten durch hoheitliche Beschränkungen inzwischen zu noch größeren und daher noch bedenklicheren Machtkonzentrationen bei den „politischen Zentral­ instanzen“ tendiert. Die Zusammenballung aller politischen und wirtschaftlichen Macht bei den „Staatsfunktionären“ dürfte im Allgemeinen die weitaus größere Gefahr sein.53

recht Allgemeiner Teil, Teilband 1, 8. Aufl. (1995), 8 ff.) weiter die „soziale Aufgabe des Schuldrechts“ im Hinblick auf die Herstellung sozialer Gerechtigkeit betont und für eine „sozialstaatliche Konzeptualisierung des Schuldvertragsrechts“ (11) plädiert. Zur „sozialen Aufgabe des Privatrechts“ vgl. schon O. v. Gierke (Fn. 34), 3 ff.; zur neueren Diskussion über die „sozialpolitische Inpflichtnahme von Privatrecht“ Eichenhofer, Die sozialpolitische Inpflichtnahme von Privatrecht, JuS 1996, 857 ff. 49  Larenz (Fn. 26), § 3 II. 50  Habermas, Faktizität und Geltung (1992), 490 ff. 51  Habermas (Fn. 50), 503. 52  Habermas (Fn. 50), 504. 53  Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff (1982/1991), 359. Die Warnung vor zu großer Machtkonzentration ist ein klassisches Argument für (Vertrags-) Freiheit; vgl. etwa John Stuart Mill, On Liberty (1859), in: Philip/Rosen (Hrsg.), On Liberty, Utilitarianism and Other Essays (2015), 1, 107 ff.

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g) Versöhnung von Vertragsfreiheit und Materialisierung (1) „Richtigkeitschance“ des Vertrages und Störung der Vertragsparität Seit Mitte der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts finden sich vermehrt Ansätze, die darauf abzielen, den Gegensatz zwischen liberalen und sozialpolitischen Privatrechtskonzeptionen zu überwinden und die Gedanken der Vertragsfreiheit und der Vertragsgerechtigkeit miteinander zu versöhnen.54 Ein wichtiger Anknüpfungspunkt ist die von Schmidt-Rimpler entwickelte These der „Richtigkeitsgewähr des Vertrages“. Diese Konzeption misst der Selbstbestimmung der Parteien einen Eigenwert bei; sie erkennt aber auch an, dass der Vertrag nur dann eine „Richtigkeitsgewähr“ oder „Richtigkeitschance“ bietet, wenn sich bei den Verhandlungen zwei annähernd gleichstarke Parteien gegenüberstehen.55 Nach diesem Verständnis geht es bei der Materialisierung des Vertragsrechts darum, adäquate Ausgleichsmechanismen für Fälle zu entwickeln, in denen die Verhandlungsparität zwischen den Parteien gestört ist.56 Wichtige Beispiele für ein strukturelles Ungleichgewicht zwischen den Parteien bilden Verträge, bei denen eine Partei auf den Vertragsgegenstand existenziell angewiesen ist. Hierher gehören Miet- und Arbeitsverträge. Die Verhandlungsparität ist außerdem infrage gestellt, wenn eine Partei die andere mit vorformulierten Vertragsbedingungen (AGB) konfrontiert.57 Ein strukturelles Ungleichgewicht wird schließlich auch im Verhältnis von Verbrauchern und Unternehmern angenommen. Der Eingriff des Staates in den Vertragsmechanismus dient bei diesem Verständnis keinem sozialpolitischen Verteilungsgedanken, sondern der Gewährleistung selbstbestimmter Entscheidungen.58

54 Vgl. Schön, Zwingendes Recht oder informierte Entscheidung – zu einer (neuen) Grundlage unserer Zivilrechtsordnung, FS Canaris, Bd. 1 (2007), 1191, 1193 f.; Stürner (Fn. 3), § 11 Rn. 1 ff.; vgl. mit Blick auf die Verbraucherschutzdebatte auch Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers (1998), 43 ff. 55  Vgl. die Präzisierungen des Konzepts von Schmidt-Rimpler, Zum Vertragsproblem, FS Raiser (1974), 3, 5 ff.; einschränkend Canaris, Die Bedeutung der iustitia distibutiva im deutschen Vertragsrecht (1997), 49: allenfalls „Richtigkeitschance“. 56 Zum Gedanken der gestörten Verhandlungsparität vgl. BVerfGE 81, 242 (255); ­MüKoBGB/Busche, BGB, Bd. 1, 9. Aufl. (2021), § 145 Rn. 7; Looschelders, Schuldrecht Allgemeiner Teil, 19. Aufl. (2021), § 3 Rn. 5 ff.; Canaris, Grundrechte und Privatrecht, AcP 184 (1984), 201, 225 ff.; ders. AcP 200 (2000), 273, 300; Looschelders, Sanierungsinstrument „Vertragsbeendigung“, ZIP 2021, 2461, 2465 f.; desgleichen zum schweizerischen Recht Berger, Allgemeines Schuldrecht, 3. Aufl. (2018), Rn. 190 ff. 57  Vgl. MüKoBGB/Busche (Fn. 56), Vor § 145 Rn. 7; Erman/Roloff/Looschelders, BGB, 16. Aufl. (2020), Vor § 305 Rn. 1 f.; Wendland, Vertragsfreiheit und Vertragsgerechtigkeit (2019), 265 ff. 58 Vgl. Drexl, in: Schlechtriem (Hrsg.), Wandlungen des Schuldrechts (2002), 97, 117; ­Stürner (Fn. 3), § 11 Rn. 3.

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(2) Konstitutionalisierung – die Drittwirkung der Grundrechte Das BVerfG hat den Gedanken der gestörten Vertragsparität in den Bürgschaftsentscheidungen vom 19.10.199359 und vom 5.8.199460 aufgegriffen. Es hat dabei der Gewährleistung der Privatautonomie in Art. 2 Abs. 1 GG die Pflicht des Gesetzgebers bzw. des Richters entnommen, die kollidierenden Grundrechtspositionen der Parteien bei gestörter Vertragsparität zu einem Ausgleich zu bringen.61 Wenn der Inhalt des Vertrages ungewöhnlich belastend und als Interessenausgleich offensichtlich unangemessen sei, müssten die Gerichte klären, ob die Regelung eine Folge strukturell ungleicher Verhandlungsstärke sei, und ggf. im Rahmen der Generalklauseln des BGB korrigierend eingreifen. Diese Grundsätze hat das BVerfG später auf Eheverträge übertragen.62 Der BGH hat diese Vorgaben jeweils über §§ 138 Abs. 1 BGB und 242 BGB umgesetzt.63 Die Materialisierung des Privatrechts wird somit durch die Grundrechte verstärkt.64 Man spricht auch von einer „Konstitutionalisierung“ des Privatrechts.65 Dahinter steht der Gedanke, dass die Grundrechte eine objektive Wertordnung konstituieren, die auch im Privatrecht Geltung beansprucht.66 Dogmatischer Ansatzpunkt ist die mittelbare Drittwirkung der Grundrechte, die im Privatrecht vor allem über die Generalklauseln zu verwirklichen ist.67

59  BVerfGE

89, 214 = NJW 1994, 36. BVerfG NJW 1994, 2749. 61  Daneben wird zwar auch auf das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 GG) abgestellt. Das Sozialstaatsprinzip hat dabei letztlich aber nur untergeordnete Bedeutung (vgl. Drexl [Fn. 58], 97, 115). 62  BVerfGE 103, 89 = NJW 2001, 957, 958; BVerfG NJW 2001, 2248. 63 Zu Bürgschaften vgl. Looschelders/Olzen, in: Staudinger (Begr.), BGB, Neubearb. (2019), § 242 Rn. 878 ff. mwN; zu Eheverträgen BGHZ 158, 81, 93 ff.; NJW 2005, 139, 140; NJW 2005, 2386, 2387. 64  Näher dazu Micklitz, in: Grundmann/Micklitz/Renner (Hrsg.), Privatrechtstheorie, Bd. 1 (2015), 623 ff. 65  Zum Begriff der „Konstitutionalisierung“ vgl. Micklitz (Fn. 64), 626. Micklitz versteht unter dem Begriff der „Konstitutionalisierung“ die Mobilisierung der Menschen- und Grundrechte zur Verwirklichung einer gerechteren Privatrechtsordnung. Aus rechtsvergleichender Sicht zu dieser Entwicklung Trstenjak, in: Trstenjak/Weingerl (Hrsg.), The Influence of Human Rights and Basic Rights in Private Law (2016), 3, 7. 66  Grundlegend die Lüth-Entscheidung BVerfGE 7, 198, 205 = NJW 1958, 257. Zum Einfluss der Grund- und Menschenrechte auf das deutsche Privatrecht vgl. Looschelders/Makowsky, in: Trstenjak/Weingerl (Hrsg.), The Influence of Human Rights and Basic Rights in Private Law (2016), 295 ff. 67  Zur mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte im Privatrecht vgl. Jarass, in: Jarass/ Pieroth, GG, 16. Aufl. (2020), Art. 1 Rn. 52 ff.; Säcker (Fn. 18), Einl. BGB Rn. 64 ff.; Canaris, Grundrechte und Privatrecht, AcP 184 (1984), 201 ff.; krit. Honsell, in: Staudinger, BGB (2018), Einl. zum BGB Rn. 186 ff.; Neuner, Das BVerfG im Labyrinth der Drittwirkung, NJW 2020, 1851 ff.; für Begründung der Drittwirkung aus der „privatrechtlichen Eigenlogik heraus“ Rödl, Gerechtigkeit unter freien Gleichen (2015), 400 ff. 60 

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(3) Informationspflichten und Widerrufsrechte Ein wichtiger Grund für die Störung der Vertragsparität sind Informations­ asymmetrien. Die Rechtsprechung hat diesem Defizit schon früh durch Begründung von vorvertraglichen Informationspflichten bei den Vertragsverhandlungen entgegengewirkt.68 Dogmatischer Ansatzpunkt war zunächst meist § 242 BGB oder die culpa in contrahendo. Nach der Schuldrechtsreform werden Informationspflichten meist § 241 Abs. 2 BGB zugeordnet.69 Auch bei Verbraucherverträgen beruht die unterlegene Stellung des Verbrauchers häufig auf Informationsdefiziten. Der deutsche Gesetzgeber hat daher in Umsetzung europäischer Richtlinien eine Vielzahl vorvertraglicher Informationspflichten des Unternehmers gegenüber dem Verbraucher statuiert. Das „Informationsmodell“ lässt sich dabei als „fortgeschrittene Alternative“ zu formaler Vertragsfreiheit und staatlicher Fürsorge verstehen.70 Damit einher geht ein Wandel des Verbraucherleitbilds hin zum Bild eines aufgeklärten und mündigen Verbrauchers, der seine Rechte bei entsprechender Information selbst wahrnehmen kann.71 In einigen Bereichen wird dem Verbraucher darüber hinaus noch ein Widerrufsrecht eingeräumt, das ihm Gelegenheit geben soll, seine Vertragsentscheidung noch einmal zu überdenken.72 Solche Widerrufsrechte werden oft als sozialpolitisch motivierte Eingriffe in die Vertragsfreiheit verstanden.73 Soweit Widerrufsrechte erforderlich sind, um die strukturelle Unterlegenheit des Verbrauchers in bestimmten Konstellationen zu kompensieren, stellen sie jedoch (auch) ein wichtiges Instrument zur Stärkung der materiellen Vertragsfreiheit dar.74

(4) Die Schuldrechtsreform von 2002 Bei der Schuldrechtsreform von 2002 wurden das AGB-Recht und die bisher in besonderen Gesetzen verankerten Regelungen zum Verbraucherschutz in das BGB integriert. Damit wurde dem schon seit Langem beklagten „Zerfall der 68  Vgl. RGZ 120, 249, 252; 111, 233, 234 f.; BGHZ 47, 207, 210 f.; 96, 302, 311; 123, 126, 128 ff. 69  Eingehend dazu Olzen, in: Staudinger, BGB, Neubearb. (2019), § 241 Rn. 437 ff. 70  So treffend Schön, Zwingendes Recht oder informierte Entscheidung – zu einer (neuen) Grundlage unserer Zivilrechtsordnung, FS Canaris, Bd. 1 (2007), 1191, 1193. 71  Tamm (Fn. 37), 63. 72  Vgl. MüKoBGB/Busche (Fn. 56), Vor § 145 Rn. 8. 73 Vgl. Eidenmüller, Die Rechtfertigung von Widerrufsrechten, AcP 210 (2010), 67, 102; Honsell, Die Erosion des Privatrechts durch das Europarecht, ZIP 2008, 621, 623; Kroll-Ludwigs, Die Zukunft des verbraucherschützenden Widerrufsrechts in Europa, ZEuP 2010, 509, 511. 74  So auch M.-P. Weller, Die Vertragstreue (2009), S. 294 ff.; Stürner (Fn. 3), § 10 Rn. 8; Canaris, Wandlungen des Schuldvertragsrechts – Tendenzen zu seiner „Materialisierung“, AcP 200 (2000), 273, 343 ff.; Looschelders, Sanierungsinstrument „Vertragsbeendigung“, ZIP 2021, 2461, 2465 f.

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inneren Einheit des Privatrechts“75 entgegengewirkt. Gleichzeitig hat die Integration des Verbraucherrechts in das BGB die allgemeine Tendenz zur Materialisierung des Vertragsrechts bestätigt und verstärkt.76

h) Schutz vor Diskriminierung – das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz Im Hinblick auf das Gleichheitsgebot stellt das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) vom 14.8.200677 einen entscheidenden Einschnitt dar. Das Gesetz dient der Umsetzung von insgesamt vier europäischen Antidiskriminierungsrichtlinien und ist in der deutschen Literatur zunächst auf heftige Kritik gestoßen. Bei der Würdigung dieses Meinungsstreits ist davon auszugehen, dass Gleichbehandlungspflichten von Privatrechtssubjekten bei einem liberalen Verständnis dem Grundsatz der Privatautonomie widersprechen und daher nur in sehr engen Grenzen gerechtfertigt werden können. Diese Grenzen ergaben sich zunächst vor allem aus dem Verdikt der Sittenwidrigkeit nach §§ 138 Abs. 1 und 826 BGB sowie aus dem Kartellrecht.78 Im Arbeitsrecht waren die Richtlinien über die Gleichbehandlung von Männern und Frauen am Arbeitsplatz allerdings schon durch Gesetz vom 13.8.198079 umgesetzt worden. Gleichwohl ist nicht zu verkennen, dass das AGG den Diskriminierungsschutz im Privatrecht deutlich ausgeweitet hat. Die Drittwirkung der Gleichheitsgrundrechte ist traditionell umstritten. In neuerer Zeit hat das BVerfG aber für einen Sonderfall anerkannt, dass auch den Gleichheitsgrundrechten eine mittelbare Drittwirkung zukommen kann.80

2. Frankreich Auch im französischen Privatrecht lassen sich für das 20. und 21. Jahrhundert mit Blick auf das Verhältnis von Freiheit und Gleichheit grob drei unterschiedliche Phasen unterschieden. 75 Dazu

Wieacker (Fn. 9), 543 ff. Drexl (Fn. 58), 97, 116 f.; vgl. auch Jauernig/Stadler, BGB, 18. Aufl. (2021), § 311 Rn. 8, wonach der Grundsatz des Verbraucherschutzes zu den Grundlagen rechtsgeschäftlicher Schuldverhältnisse gehört. 77  BGBl. I, 1897. 78  Looschelders, Diskriminierung und Schutz vor Diskriminierung im Privatrecht, JZ 2012, 105, 106. 79  BGBl. I, 1308. Das Gesetz fügte u.a. die §§ 611a, 611b, 612 Abs. 3 und 612a BGB a.F. in das BGB ein. 80  So jetzt BVerfG NJW 2018, 1667 Rn. 41 (Stadionverbot); vgl. auch BGHZ 140, 118 (132); Bezzenberger, Ethnische Diskriminierung, Gleichheit und Sittenordnung im bürgerlichen Recht, AcP 196 (1996), 395, 408 ff.; Canaris, Grundrechte und Privatrecht, AcP 184 (1984), 201, 235 ff.; Looschelders, Diskriminierung und Schutz vor Diskriminierung im Privatrecht, JZ 2012, 105, 106. 76 

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a) Das liberale Vertragskonzept des 19. Jahrhunderts Der Code Civil von 1804 ist ein Produkt der Aufklärung und wird daher traditionell von einer individualistischen Grundhaltung beherrscht.81 Im Vertragsrecht gilt das Prinzip der Vertragsfreiheit („liberté contractuelle“), das auf die Willensfreiheit des Einzelnen („principe de l’autonomie de la volonté“) gestützt wird.82 Art. 1134 Abs. 1 Code Civil a.F. (Art. 1103 CC n.F.) sah vor, dass Verträge zwischen den Parteien „Gesetzeskraft“ haben. Dabei wurde zunächst davon ausgegangen, dass der Vertrag gleichsam automatisch zu einem gerechten Ergebnis führt. „Qui dit contractuel dit juste“, lautet eine geflügelte Wendung.83 Äußere Grenze der Vertragsfreiheit ist seit jeher die Sittenwidrigkeit („cause illicite“) gemäß Art. 1133 CC a.F.84 Daneben wurde schon früh die Lehre vom Rechtsmissbrauch („abus des droit“) entwickelt.85 Dabei handelte es sich ursprünglich um keine besondere Ausprägung der „bonne foi“, sondern um ein deliktsrechtliches Institut. Gesetzlicher Anknüpfungspunkt war Art. 1382 CC a.F. (Art. 1240 CC n.F.). Der in Art. 1134 Abs. 3 CC a.F. verankerte Grundsatz der „bonne foi“ wurde zunächst primär dahingehend verstanden, dass die Parteien ihre vertraglichen Vereinbarungen nach Treu und Glauben einzuhalten haben.86 Konzepte wie die Störung der Geschäftsgrundlage wurden von der Rechtsprechung abgelehnt.87 Eine Ausnahme galt aus historischen Gründen für den Grundstückskauf, bei dem schon der Code Civil 1804 zum Schutz des Grundeigentümers eine laesio enormis vorgesehen hat (Art. 1674 ff. CC a.F.).

81 

Hübner/Constantinesco, Einführung in das französische Recht, 4. Aufl. (2001), 156. Terré/Simler/Lequette/Chénedé (Fn. 16), Rn. 29; Sefton-Green, in: Howells/Janssen/Schulze (Hrsg.), Information Rights and Obligations (2005), 171, 172 Fn. 8 mit Verweis auf Gounot, Le principe de l’autonomie de la volonté en droit privé (1912). 83  Terré/Simler/Lequette/Chénedé (Fn. 16), Rn. 34 mit Verweis auf Alfred Fouillée (1838– 1912). 84  Hübner/Constantinesco (Fn. 81), 167. 85 Vgl. Josserand, De l’abus des droits (1905); näher dazu Staudinger/Looschelders/Olzen (Fn. 63), § 242 Rn. 1171 f.; Terré/Simler/Lequette/Chénedé (Fn. 16), Rn. 968 ff.; Ranieri Revue internationale de droit comparé (1998), 1055, 1082; Jung, in: Baldus/Müller-Graff, Die Generalklausel im Europäischen Vertragsrecht (2006), 37, 51 ff.; Sonnenberger, Treu und Glauben – ein supranationaler Grundsatz? Deutsch-französische Schwierigkeiten der Annäherung, FS Odersky (1996), 703, 711. 86 Vgl. Whittaker/Zimmerman, in: Zimmermann/Whittaker (Hrsg.), Good Faith in European Contract Law (2000), 7, 34; Sonnenberger, Die Reform des französischen Schuldvertragsrechts, des Regimes und des Beweises schuldrechtlicher Verbindlichkeiten durch Ordonnance Nr. 2016–131 vom 10.02.2016 – Erster Teil, Quellen der Schuldverhältnisse, ZEuP 2017, 6, 19 f. 87  Cour Cass. v. 6.3.1976, D. 1876 I, 193: „Canal de Craponne“; vgl. dazu Hübner/Con­ stantineco (Fn. 81), 178. 82 Vgl.

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b) Einschränkungen der Vertragsfreiheit und Schutz der schwächeren Partei Auch in der französischen Diskussion wurde dem Konzept der Willensfreiheit schon früh entgegengehalten, dass die Menschen tatsächlich nicht gleich sind. Im Verhältnis zwischen den Reichen und den Armen sei es die Freiheit, die unterdrückt, das Recht, das befreit.88 Die nach dem Ersten Weltkrieg immer deutlicher hervortretenden gesellschaftlichen Umwälzungen führten auch in Frankreich zu einem Wandel des Privatrechts.89 Der Staat reagierte mit zahlreichen neuen Gesetzen, die die Vertragsfreiheit aus wirtschaftlichen und sozialen Gründen stark einschränkten.90 Dabei wurde auch der Inhalt der Verträge zwischen Parteien mit ungleicher Vertragsstärke reguliert. Hierzu gehörten Arbeitsverträge, Mietverträge und Versicherungsverträge.91 In einigen Bereichen wurde ein Kontrahierungszwang eingeführt.92 Seit den 1970er Jahren wurden zudem verschiedene Sondergesetze zum Schutz von Verbrauchern erlassen.93 Zu nennen ist insbesondere das „Loi Scrivener“ Nr. 78–23 vom 10.1.1978, das eine erste Regelung zum Schutz gegen missbräuchliche Klauseln in AGB enthielt.94 In der Rechtsprechung gewann das Verbot des Rechtsmissbrauchs („abus de droit“) schon sehr früh Bedeutung.95 Außerdem erfolgten eine Ausweitung der deliktischen Haftung nach Art. 1382 CC a.F. und die Entwicklung einer gefährdungshaftungsrechtlichen Generalklausel über Art. 1384 CC a.F.96

c) Neuere Entwicklungen (ab 1980) (1) Ausgleich von Vertragsfreiheit und Vertragsgerechtigkeit Seit dem Beginn der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts gibt es auch in der französischen Diskussion die Tendenz, einen Ausgleich zwischen dem Grundsatz der Vertragsfreiheit und den wirtschaftlichen und sozialen Aspekten zu schaffen, die mit dem Begriff der Vertragsgerechtigkeit („justice contractuelle“) 88  Lacordaire (1802–1861): „Entre le fort et le faible, c’est la liberté qui asservit, la loi qui affranchit“, zitiert nach Terré/Simler/Lequette/Chénedé (Fn. 16), Rn. 34. 89  Hübner/Constantinesco (Fn. 81), 156. 90  Terré/Simler/Lequette/Chénedé (Fn. 16), Rn. 45 f. 91  Terré/Simler/Lequette/Chénedé (Fn. 16), Rn. 36; Hübner/Constantinesco (Fn. 81), 167 und 194 ff. 92  Terré/Simler/Lequette/Chénedé (Fn. 16), Rn. 37 mit Verweis auf die Kfz-Haftpflichtversicherung. 93 Vgl. Witz, in: Bien/Borghetti (Hrsg.), Die Reform des französischen Vertragsrecht (2018), 119, 120. 94  Hübner/Constantinesco (Fn. 81), 169. 95 Staudinger/Looschelders/Olzen (Fn. 63), § 242 Rn. 1171 f.; Hübner/Constantinesco (Fn. 81), 177. 96  Näher dazu Hübner/Constantinesco (Fn. 81), 201 ff.

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verbunden sind. Nach dem „Prinzip der vertraglichen Gleichheit“ („principe d’égalité contractuelle“) ist davon auszugehen, dass der Vertrag von gleichberechtigten Partnern frei ausgehandelt worden ist. Sofern diese Prämisse nicht zutrifft, sind Korrekturmechanismen zu entwickeln, die es dem Richter ermöglichen, den wirtschaftlichen und sozialen Kontext des Vertrages einzubeziehen.97 Dies entspricht zumindest im Ausgangspunkt der deutschen Lehre von der gestörten Vertragsparität.

(2) Informationspflichten, Widerrufsrechte und Verbraucherschutz Ein weiterer Mechanismus zum Ausgleich gestörter Verhandlungsparität ist die Statuierung von Informationspflichten. Dieser Ansatz ist auch im französischen Vertragsrecht im Vordringen.98 Dies gilt nicht zuletzt für das Verbraucherrecht, das ebenso wie in Deutschland unter dem Einfluss des europäischen Privatrechts steht. Der Gedanke, die Autonomie des Verbrauchers durch Informationspflichten und Widerrufsrechte zu stärken, hat daher auch in Frankreich große Bedeutung erlangt.99 Das französische Verbraucherschutzrecht ist allerdings nicht im Code Civil, sondern im Code de la Consommation von 1993/1995 geregelt. Die diesbezüglichen Entwicklungen haben den allgemeinen Diskurs über das Verhältnis von Vertragsfreiheit und Vertragsgerechtigkeit daher weniger als in Deutschland beeinflusst.100

(3) Materialisierungstendenzen in Rechtsprechung und Literatur Materialisierungstendenzen lassen sich auch in der französischen Rechtsprechung und Literatur feststellen. Ein gutes Beispiel ist der Grundsatz von Treu und Glauben („bonne foi“), der bis zur Reform des Code Civil von 2016 in Art. 1134 Abs. 3 CC geregelt war. Der Wortlaut der Vorschrift stimmt zwar weitgehend mit § 242 BGB überein. Gleichwohl hat der Grundsatz in Frankreich bis in die 1980er Jahre ein „Schattendasein“ geführt.101 Dies gipfelte in der Formulierung, dass es sich um ein „concept mort“ handelt.102 Dahinter stand der Gedanke, dass es nicht Sache des Richters ist, an die Stelle des Gesetzgebers zu treten und den Parteien seine eigenen Gerechtigkeitsvorstellungen vorzugeben.103 In neuerer Zeit hat die Bedeutung der „bonne foi“ in Frankreich aber  97 

Terré/Simler/Lequette/Chénedé (Fn. 16), Rn. 47. Terré/Simler/Lequette/Chénedé (Fn. 16,) Rn. 40.  99 Vgl. Kötz, Europäisches Vertragsrecht, 2. Aufl. (2015), 168 m.w.N. 100  Terré/Simler/Lequette/Chénedé (Fn. 16), Rn. 47. 101  Vgl. die Bestandaufnahme bei J. Schmidt, in: Staudinger, BGB, Neubearb. (1995), § 242 Rn. 111. 102 Vgl. Sonnenberger, Treu und Glauben – ein supranationaler Grundsatz? Deutsch-französische Schwierigkeiten der Annäherung, FS Odersky (1996), 703, 705 f. 103  Vgl. Staudinger/Looschelders/Olzen (Fn. 63), § 242 Rn. 1166.  98 

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erheblich zugenommen.104 Dabei wurde der Anwendungsbereich des Art. 1134 Abs. 3 CC a.F. entgegen dem Wortlaut auf den vorvertraglichen Bereich ausgedehnt.105 Eine der culpa in contrahendo vergleichbare Haftung kann im fran­ zösischen Recht aber weiter nur über das Deliktsrecht begründet werden.106

(4) Insbesondere: die Theorie des vertraglichen Solidarismus In der französischen Literatur ist darüber hinaus die Auffassung verbreitet, dass Verträge durch eine allgemeine Loyalitäts- und Kooperationspflicht beherrscht werden, aus der für die Parteien konkrete Nebenpflichten abgeleitet werden können.107 Ein wichtiges theoretisches Fundament dieses Ansatzes ist die von René Demogue (1872–1938) entwickelte Theorie des „vertraglichen Solidarismus“ („solidarisme contractuel“),108 die in Frankreich seit den 1990er Jahren großen Anklang gefunden hat. Die Theorie zielt darauf ab, einen Mittelweg zwischen einem „liberalistischen“ und einem „dirigistischen“ Vertragsverständnis zu schaffen. Der Vertrag wird als „Schmelzkessel“ der gemeinsamen Interessen der Parteien betrachtet, wobei jede Partei auf die Interessen der anderen Rücksicht zu nehmen hat, um das mit dem Vertrag gemeinsam verfolgte Ziel zu verwirklichen.109 Die „solidaristische“ Vertragstheorie geht dabei von dem richtigen Gedanken aus, dass das klassische Willensdogma nicht ausreicht, um die Wirkungen der tatsächlichen Ungleichheiten zwischen den Parteien zugunsten des schwächeren Teils abzumildern.110 Bei anderen französischen Autoren ist die „solidaristische“ Vertragstheorie allerdings auf erhebliche Kritik 104 Vgl.

Terré/Simler/Lequette/Chénedé (Fn. 16), Rn. 42 ff. (Fn. 63), § 242 Rn. 1167 m.w.N. 106  Cour Cass. 28.5.2008, Bull. civ. 2008 I No. 154 = ZEuP 2009, 800 m. Anm. Looschelders. 107  Vgl. Staudinger/Looschelders/Olzen (Fn. 63), § 242 Rn. 1169; Jaluzot, La bonne foi dans le contrats (2001), Rn. 543 ff., 1145 ff.; Fauvarque-Cosson/Mazeaud (Hrsg.), European Contract Law – Materials for a Common Frame of Reference: Terminology, Guiding Principles, Model Rules (2008), 549 f. 108  Zu diesem Zusammenhang Fauvarque-Cosson/Mazeaud (Fn. 107), 549 Fn. 214. Ausführlich zur Theorie des solidarisme contractuel die Beiträge in Grynbaum/Nicod (Hrsg.) Le solidarisme contractuel (2004); Tabi Tabi, Ajustement nécessaire du volontarisme contractuel: Du voluntarisme au solidarisme?, R.D.U.S. 44 (2014), 71 ff. In der Schweiz hat Arthur Meier-Hayoz (Das Vertrauensprinzip beim Vertragsschluss, 1948) das Vertrauensprinzip auf eine „solidaristische“ Vertragskonzeption gestützt, die einen Ausgleich zwischen Liberalismus und Sozialismus schaffen soll; vgl. dazu Benedict, Culpa in Contrahendo, Bd. 1 (2018), 481 ff. In neuerer Zeit hat Lurger (Vertragliche Solidarität (1998), 128 ff.) den Grundsatz der vertraglichen Solidarität als „Entwicklungschance“ für das allgemeine Vertragsrecht in Österreich und in der EU betont. 109 Vgl. Terré/Simler/Lequette/Chénedé (Fn. 16), Rn. 48. 110  Cédras, Le solidarisme contractuel en doctrine et devant la Cour de cassation, in: Publications de la Cour, abrufbar unter: https://www.courdecassation.fr/files/files/Publications/ Rapport%20annuel/rapport-annuel_ 2003.pdf. Alle URLs wurden zuletzt am 24.01.22 abgerufen. 105 Staudinger/Looschelders/Olzen

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gestoßen. Beanstandet wird insbesondere, dass sie die Funktion des Austauschvertrages verkennt und nur für Kooperationsverträge passt.111 Die Cour de Cassation greift ebenfalls nicht auf diese Theorie zurück, sondern argumentiert mit den traditionellen vertragsrechtlichen Instrumenten wie der „bonne foi“.112

(5) Störung der Vertragsparität und „Drittwirkung“ der Grundrechte Das Problem der Störung der Vertragsparität wird in der neueren französischen Rechtsprechung und Literatur ebenfalls reflektiert. In der Literatur wird dabei auch ein Einfluss von Grundrechten und Grundfreiheiten („droits et liberté fondamentaux“) in Erwägung gezogen.113 Solche Ansätze haben in der Rechtsprechung bislang aber keinen Anklang gefunden.114 Das mag damit zusammenhängen, dass die „Grundrechte“ in Frankreich traditionell vor allem als Rechte des Bürgers gegen den Staat verstanden werden, sodass eine „Drittwirkung“ schwer zu begründen ist.115 Davon abgesehen gibt es in Frankreich keine Verfassungsbeschwerde, mit der eine Partei eine Gerichtsentscheidung angreifen kann.116

(6) Insbesondere: Bürgschaften naher Angehöriger In der französischen Literatur finden sich auch Ansätze, Bürgschaften naher Angehöriger einer Kontrolle zu unterziehen. So hat die Pariser Cour d’Appel mit Urteil vom 18.1.1978117 einer 73-jährigen Witwe, die eine Bürgschaft für die Schulden ihres Schwiegersohns übernommen hatte, ein Anfechtungsrecht wegen Irrtums zugebilligt. Dabei hat das Gericht auf das grobe Missverhältnis zwischen der Leistungsfähigkeit der Betroffenen und der Höhe der übernommenen Verbindlichkeit sowie das Fehlen einer besonderen Belehrung abgestellt. Die Problematik hat 2003 eine Sonderregelung im Code de la Consommation erfahren.118 111 

Terré/Simler/Lequette/Chénedé (Fn. 16), Rn. 49. Cédras (Fn. 110). 113 Vgl. Helleringer/Garcia, in: Trstenjak/Weingerl (Hrsg.), The Influence of Human Rights and Basic Rights in Private Law (2016), 247, 257 f. 114 Vgl. Helleringer/Garcia (Fn. 113), 258; Micklitz (Fn. 64), 623, 628. 115  Hübner/Constantinesco (Fn. 81), 168; zu neueren Entwicklungen Neumann/Berg, Einführung in das französische Recht (2020), § 4 Rn. 89. 116 Vgl. Hübner/Constantinesco (Fn. 81), 67 ff.; zur richterlichen Gesetzeskontrolle durch den Verfassungsrat Starck, Der Schutz der Grundrechte durch den Verfassungsrat in Frankreich, AöR 113 (1988), 632 ff. 117  Zitiert nach Kötz (Fn. 99), 168. 118  Der durch das Gesetz Nr. 2003–721 vom 1.8.2003 geschaffene Art. 341–4 Code de la Consommation wurde durch die Ordonnance Nr. 2106–301 vom 14.3.2016 aufgehoben. Entsprechende Regelungen finden sich seitdem in Art. 332–1 und Art. 343–4 Code de la Consommation. 112 Vgl.

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(7) Die Reform des Vertragsrechts von 2016 Bei der Reform des französischen Vertragsrechts von 2016 hat der Verordnungsgeber nicht den Versuch unternommen, das Verhältnis zwischen Vertragsfreiheit und Vertragsgerechtigkeit grundsätzlich neu zu bestimmen119 oder den Streit zwischen liberaler und solidaristischer Vertragstheorie aufzulösen.120 Das neue Recht hält vielmehr einerseits am Grundsatz der Vertragsfreiheit fest. Andererseits gibt es aber einige neue Regelungen, um die Stellung der schwächeren Partei zu verbessern oder einen angemessenen Interessenausgleich zwischen den Parteien zu verwirklichen.121 Dabei ergeben sich teilweise deutliche Parallelen zum deutschen Recht. Dies gilt etwa für die Ausweitung des Grundsatzes von Treu und Glauben auf den vorvertraglichen Bereich in Art. 1104 CC n.F. Art. 1112 CC n.F. stellt hierzu klar, dass die Parteien bei den Vertragsverhandlungen frei sind, aber die Erfordernisse von Treu und Glauben zu beachten haben. Weitere Beispiele sind die generelle Anerkennung der Lehre von der Geschäftsgrundlage (Art. 1195 CC n.F.) und den Ausschluss der Leistungspflicht des Schuldners bei offensichtlichem Missverhältnis zwischen dem Aufwand für den Schuldner und dem Interesse des Gläubigers (Art. 1221 CC n.F.). Darüber hinaus führt Art. 1112–1 CC n.F. erstmals eine allgemeine Informationspflicht der Parteien ein.122 Von besonderem Interesse ist die Integration der Inhaltskontrolle von AGB in den Code Civil. So schreibt Art. 1171 CC n.F. für vorformulierte Verträge i.S.d. Art. 1110 Abs. 2 CC (sog. „contrats d’adhésion“) vor, dass jede Klausel als nicht vereinbart gilt, die ein deutliches Ungleichgewicht („déséquilibre signi­ficatif“) zwischen den Rechten und Pflichten der Parteien schafft.123 Die Vorschrift tritt neben die AGB-Kontrolle im Verhältnis von Verbrauchern und Unternehmern nach dem Code de la Consommation, in den auch die ­Vorschriften zur Umsetzung der Klausel-Richtlinie124 integriert worden 119  So auch die Einschätzung von Bien/Borghetti, in: Bien/Borghetti (Hrsg.), Die Reform des französischen Vertragsrechts (2018), VII, IX. 120 Vgl. Chantepie/Latina, Le nouveau droit des obligations, 2. Aufl. (2018), Rn. 40. 121  Zur Bedeutung des Schwächerenschutzes im Rahmen der Reform Chantepie/Latina (Fn. 120), Rn. 36 ff. 122  Näher dazu Chantepie/Latina (Fn. 120), Rn. 180 ff.; Babusiaux/Witz, Das neue französische Vertragsrecht – Zur Reform des Code civil, JZ 2017, 496, 499; Sonnenberger, Die Reform des französischen Schuldvertragsrechts, des Regimes und des Beweises schuldrechtlicher Verbindlichkeiten durch Ordonnance Nr. 2016–131 vom 10.02.2016 – Erster Teil, Quellen der Schuldverhältnisse, ZEuP 2017, 6, 23 f. 123  Vgl. dazu Chantepie/Latina (Fn. 120), Rn. 440 ff.; Babusiaux/Witz, Das neue französische Vertragsrecht – Zur Reform des Code civil, JZ 2017, 496, 499, 502 f.; Sonnenberger, Die Reform des französischen Schuldvertragsrechts, des Regimes und des Beweises schuldrechtlicher Verbindlichkeiten durch Ordonnance Nr. 2016–131 vom 10.02.2016 – Erster Teil, Quellen der Schuldverhältnisse, ZEuP 2017, 6, 41. 124  Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5.4.1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen.

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sind.125 Für das Verhältnis zwischen Unternehmern enthält der Code de Commerce seit 2004 eine Regelung, wonach der Verwender einer Klausel, die ein erhebliches Missverhältnis zwischen den Rechten und Pflichten der Parteien hervorruft, dem anderen Teil schadensersatzpflichtig ist.126

(8) Gleichheit und Umsetzung der Antidiskriminierungsrichtlinien Die Antidiskriminierungsrichtlinien wurden von Frankreich in mehreren Gesetzen umgesetzt. Zentrale Bedeutung hat das Loi n° 2001–1066 vom 16.11.2001 relative à la lutte contre les discriminations,127 das zur Umsetzung der Richtlinien 2000/43/EG und 2000/78/EG zahlreiche Vorschriften des Code du travail modifiziert oder eingefügt hat. So findet sich ein allgemeines arbeitsrechtliches Diskriminierungsverbot in Art. 1132–1 Code du travail.128

3. England a) Freedom of Contract und Laissez-Faire Das englische Vertragsrecht beruht im 19. Jahrhundert ebenfalls auf dem Grundsatz der Vertragsfreiheit und dem Willensdogma.129 Vertragsfreiheit und Individualismus werden dabei als Selbstzwecke betrachtet.130 Philosophischer Hintergrund sind die Überlegungen von John Stuart Mill „On Liberty“.131 Im Übrigen herrschte Vertrauen darauf, dass der freie Markt für einen „gerechten“ Interessenausgleich sorgt. Dahinter stand das wirtschaftsliberale Konzept eines von staatlichen Eingriffen freien Marktes („laissez-faire“).132 Die Aufgabe 125 Vgl.

Hübner/Constantinesco, Einführung in das französische Vertragsrecht, 4. Aufl. (2001), 168. 126  Näher dazu Witz (Fn. 93), 119, 129. Zum Nebeneinander von Code Civil, Code de la Consommation und Code de Commerce bei der AGB-Kontrolle nach französischem Recht vgl. auch Chantepie/Latina (Fn. 120), Rn. 444; Beil, Personale Differenzierung im Kaufrecht, 2018, 78. 127  Basedow, Der Grundsatz der Nichtdiskriminierung im europäischen Privatrecht, ZEuP 2008, 230, 239 Fn. 43 128  Eingehend dazu Lade, Die Begründung von Beschäftigungsverhältnissen nach französischem Recht (2011), 140 ff.; zum französischen Antidiskriminierungsrecht vgl. auch Bailly/Feuerborn, Aktuelle französische Gesetzgebung und Rechtsprechung im Bereich der Antidiskriminierung, EuZA 2008, 68 ff. 129  Whittaker, in: Chitty on Contracts, Bd. 1, General Principles, 33. Aufl. (2018), Rn. 1-031. Zur geschichtlichen Entwicklung Zimmermann, „Heard melodies are sweet, but those unheard are sweeter …“: Condicio tacita, implied condition und die Fortbildung des europäischen Vertragsrechts, AcP 193 (1993), 121, 131 ff. 130 Vgl. Atiyah (Fn. 13), 260; Whittaker, in: Chitty on Contracts (Fn. 129), Rn. 1-031: „end in itself“. 131  Mill (Fn. 53), 1 ff. Zur Bedeutung von John Stuart Mill in diesem Zusammenhang vgl. Atiyah (Fn. 13), 261. 132 Vgl. Atiyah/Smith (Fn. 13), 9; Collins (Fn. 15), 22; einschränkend Atiyah (Fn. 13), 231 ff.

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des Staates beschränkte sich danach auf die Durchsetzung der Parteivereinbarungen.133 Tatsächliche Ungleichheiten zwischen den Parteien wurden außer Acht gelassen. Entscheidend war allein, dass die Parteien den Vertrag „freiwillig“ geschlossen hatten.134 Grenzen ergaben sich nur aus der Gesetz- oder Sittenwidrigkeit des Vertragsinhalts135 oder aus equity-Instituten wie „misrepresentation“ und „undue influence“.136 In diesem Zusammenhang wird auch das Erfordernis der „consideration“ genannt,137 dessen Wirksamkeit bei der Gewährleistung eines fairen Güteraustauschs aber umstritten ist, weil es nach allgemeiner Ansicht nicht auf die Angemessenheit der Gegenleistung ankommt.138

b) Abkehr vom Konzept der uneingeschränkten Vertragsfreiheit (1) Grundproblem In England setzte die Abkehr vom Konzept der uneingeschränkten Vertragsfreiheit und des wirtschaftsliberalistischen Laissez-Faire nach der Untersuchung Atiyahs schon um 1870 ein.139 Dies mag auf der besonderen wirtschaftlichen und sozialen Situation Englands im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts beruhen. Atiyah merkt aber auch an, dass die Einsicht in die Notwendigkeit einer Regulierung des Marktes durch die ökonomischen Probleme nach den Weltkriegen deutlich verstärkt wurde.140 Damit einher ging die Überlegung, dass das klassische Vertragsrecht keine ausreichenden Mechanismen kennt, um einen wirklich „freien“ und „freiwilligen“ Vertragsschluss sicherzustellen. Beim bestehenden Verständnis von „frei“ und „freiwillig“ gebe es keine Garantie für die Fairness und Gerechtigkeit des Vertrages.141

(2) Schaffung zwingenden Rechts zum Schutz schwächerer Parteien Folge dieses gewandelten Verständnisses war eine rasante Zunahme spezieller Gesetze zum Schutz der schwächeren Partei. Dazu gehören Arbeitnehmer, Mieter, Versicherungsnehmer und in der weiteren Entwicklung auch Ver-

133  Whittaker, in: Chitty on Contracts (Fn. 129), Rn. 1-031; Atiyah (Fn. 13), 261; Atiyah/ Smith (Fn. 13), 9 f. 134 Vgl. Atiyah, Contract and fair exchange, University of Toronto Law Journal 35 (1985), 1, 18. 135  Whittaker, in: Chitty on Contracts (Fn. 129), Rn. 1-031. 136  Treitel/Peel, Treitel on the Law of Contract, 15. Aufl. (2020), Rn. 1–005. 137 So Collins (Fn. 15), 23 f. 138 Vgl. Macdonald/Atkins, Koffman & Macdonald’s Law of Contract, 9. Aufl. (2018), Rn. 4.19 ff. 139  Atiyah (Fn. 13), 571 ff., 613 ff.; Atiyah/Smith (Fn. 13), 11 ff. 140  Atiyah (Fn. 13), 625. 141  Atiyah/Smith (Fn. 13), 11.

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braucher.142 Beispiele sind der Misrepresentation Act 1967, der Consumer ­Credit Act 1974 und der Unfair Contract Terms Act 1977. Beim Schutz der Verbraucher gewann das Problem des Informationsdefizits Bedeutung.143 Die vertraglichen Schutz­mechanismen wurden von einer Ausweitung der deliktischen Haftung und der sozialen Sicherungssysteme begleitet.144 Der letztere Aspekt ist aus kontinentaleuropäischer Sicht zwar weder bemerkenswert noch gar beunruhigend. So wurde die Vertragsfreiheit in Deutschland schon vor dem Inkrafttreten des BGB durch das Sozialversicherungsrecht flankiert.145 Für das englische Recht ergab sich hieraus jedoch eine weitreichende Einschränkung des bisherigen Anwendungsbereichs der hergebrachten Prinzipien des Vertragsrechts nach Common Law.146

(3) Auswirkungen auf das Vertragsrecht des Common Law Außerhalb des Anwendungsbereichs dieser speziellen Gesetze hielt man dagegen an den traditionellen Prinzipien des Common Law fest. So wurde in Rechtsprechung und Literatur weiter betont, dass das Vertragsrecht des Common Law keinen allgemeinen Grundsatz von Treu und Glauben kennt.147 Mit Blick auf die Rechtsprechung wird allerdings eine gewisse Ausweitung der von der Equity entwickelten Grundsätze zur Vermeidung unangemessener Ergebnisse (duress, misrepresentation, undue influence, estoppel) festgestellt.148

(4) Nationale Antidiskriminierungsgesetzgebung Seit dem ersten Race Relations Act von 1965 (Neufassung 1976) gibt es in Großbritannien auch eine umfangreiche Antidiskriminierungsgesetzgebung. Zu nennen sind der Equal Pay Act 1970, der Sex Discrimination Act 1975 und der Disability Discrimination Act 1995. Diese und weitere Gesetze wurden schließlich im Equality Act 2010 zusammengeführt.

142 Vgl.

Treitel/Peel (Fn. 136), Rn. 1–006. Atiyah (Fn. 13), 703: „Consumer Ignorance“. 144  Atiyah (Fn. 13), 703 ff.; Atiyah/Smith (Fn. 13), 14 f. 145 S. oben, I.1.a. 146  Zur traditionell vertragsrechtlichen Einordnung des Arbeitnehmerschutzes bei Arbeitsunfällen („workmen’s compensation“) vgl. Atiyah (Fn. 13), 703 ff. mit Hinweis auf den Employer’s Liability Act von 1880. 147  National Westminster Bank v. Morgan [1985] AC 686; Walford v. Miles [1992] AC 128, 138; Staudinger/Looschelders/Olzen (Fn. 63), Rn. 1204; in neuerer Zeit Treitel/Peel (Fn. 136), Rn. 1–004 m.w.N. 148  Atiyah/Smith (Fn. 13), 15; Collins (Fn. 15), 30 ff. 143 

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c) Neuere Entwicklungen (ab 1980) (1) Wiedererstarken der Vertragsfreiheit und des freien Wettbewerbs Seit dem Beginn der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts lässt sich auch in der englischen Diskussion eine gewisse „Wende“ feststellen. Dabei werden – nicht zuletzt unter dem Einfluss neuerer ökonomischer Theorien – die Bedeutung der Vertragsfreiheit und des freien Wettbewerbs mit den daraus resultierenden Effizienzgewinnen wieder in den Vordergrund gerückt.149 Ob parallel dazu die Regulierung der Wirtschaft in England ab den 1980er Jahren tatsächlich nachhaltig abgenommen hat, wird in der neueren Literatur allerdings mit guten Gründen in Zweifel gezogen.150 Mit einem gewissen zeitlichen Abstand spricht vieles dafür, dass die eher punktuellen Reformen der Thatcher-Ära nicht überbewertet werden dürfen.

(2) Einfluss des Rechts der EU Fest steht jedenfalls, dass das Recht der EU zwischenzeitig großen Einfluss auf das englische Privatrecht gewonnen hat.151 Dies gilt insbesondere für das Verbraucherrecht. Damit haben die in den Richtlinien statuierten Informationspflichten der Unternehmer und Widerrufsrechte der Verbraucher Einzug gehalten. Die Umsetzung der Klausel-Richtlinie152 durch die Unfair Terms in Consumer Contracts Regulations 1994/99 153 hat auch den Begriff des „good faith“ in das englische Recht transformiert und dort eine lebhafte Diskussion ausgelöst.154 Die Regulations von 1999 wurden dann 2015 in den Consumer Rights Act integriert,155 der die diversen britischen Verbraucherschutzregelungen konsolidiert hat.156 Auf dem Gebiet des Arbeitsrechts ist in neuerer Zeit ebenfalls eine eingehende gesetzliche Regulierung zu verzeichnen, die weitgehend auf europäische Richtlinien 149 Vgl. Atiyah/Smith (Fn. 13), 16: „new trend towards a revival of early nineteenth century freedom of contract“; ähnlich Collins (Fn. 15), 26 ff. 150  Koffman/Macdonald, The Law of Contract, 7. Aufl. (2010), Rn. 1.11. 151 Vgl. Collins (Fn. 15), 40 ff.; Macdonald/Atkins (Fn. 138), Rn. 1.13; Whittaker, in: Chitty on Contracts (Fn. 129), Rn. 1-011; Kischel, Rechtsvergleichung (2015), § 5 Rn. 249 ff. 152  Richtlinie 93/13/EWG. 153 Die Unfair Terms in Consumer Contracts Regulations 1994 trat am 1.7.1995 in Kraft und wurde vier Jahre darauf durch die Unfair Terms in Consumer Contracts Regulations 1999 ersetzt. Vgl. dazu Whittaker, in: Chitty on Contracts (Fn. 129), Rn. 15-063. 154  Atiyah/Smith (Fn. 13), 25 f., 322 ff.; Collins, Oxford Journal of Legal Studies (1994), 229, 249 ff.; Teubner, The Modern Law Review (1998), 11 ff.; vgl. auch House of Lords v. 15.10.2011, The Director General of Fair Trading v. First National Bank plc (2001) UKHL 52, in: ZEuP 2003, 865 m. Anm. Micklitz. 155 Zum Consumer Rights Act 2015 vgl. Twigg-Flesner, Consolidation rather than Codification – or just Complication? – The UK’s Consumer Rights Act 2015, ZEuP 2019, 170 ff.; zum Verhältnis des Consumer Rights Act 2015 zum Unfair Terms Act 1977 Whittaker, in: Chitty on Contracts (Fn. 127), Rn. 15-064. 156 Vgl. Treitel/Peel (Fn. 136), Rn. 7-086 ff.

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zurückgeht.157 Der Equality Act 2010 hat die vier Antidiskriminierungsrichtlinien der EU in britisches Recht implementiert. Dabei sind auch die zahlreichen nationalen Antidiskriminierungsgesetze integriert worden.158 Welche Konsequenzen der zum Ablauf des 31.1.2020 vollzogene Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU für die weitere Entwicklung des englischen Privatrechts im Allgemeinen und des englischen Verbraucherrechts im Besonderen haben wird, lässt sich noch nicht abschätzen.159 Der durch den European Union (Withdrawal Agreement) Act 2020 ergänzte European Union (With­ drawal) Act 2018 sieht jedenfalls vor, dass die zur Umsetzung europäischer Richtlinien erlassenen Vorschriften grundsätzlich als innerstaatliches Recht fortgelten und unmittelbar geltendes EU-Recht in nationales Recht transformiert wird.160

(3) Umsetzung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) Von besonderem Interesse ist auch, dass das Vereinigte Königreich nach langem Zögern die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) durch den ­Human Rights Act 1998 umgesetzt hat.161 Ob damit eine Konstitutionalisierung des Privatrechts verbunden ist, erscheint fraglich. Im Vertragsrecht wird dem Recht auf Achtung des Eigentums (Art. 1 des Zusatzprotokolls vom 20.3.1952) und der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (Art. 11 EMRK) allerdings besondere Bedeutung beigemessen.162 Im Deliktsrecht hat das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK) Einfluss gewonnen.163 Das Gleiche gilt für das Familienrecht. Im Zusammenhang mit dem Brexit ist allerdings dafür plädiert worden, den Human Rights Act durch eine neue British Bill of Rights zu ersetzen.164 157 Vgl. Whittaker, in: Chitty on Contracts (Fn. 129), Rn. 1-011; Treitel/Peel (Fn. 136), Rn. 1-006. 158  Vgl. Equality Act 2010 – Explanatory Notes, abrufbar unter: http://www.legislation. gov.uk/ukpga/2010/15/notes/contents. 159  Zum Verbraucherrecht vgl. die Einschätzung von Freeman, UK Consumer Law after Brexit – the End or the Beginning?, EuCML 2020, 1 f. 160 Vgl. Treitel/Peel (Fn. 136), Rn. 1-013; Stürner (Fn. 3) § 3 Rn. 48 f.; Ernst, Miniatur: „RETAINED EU-LAW“ Probleme einer neuen Rechtserscheindung, ZfPW 2018, 369 ff. 161 Vgl. Whittaker, in: Chitty on Contracts (Fn. 129) Rn. 1-064 ff.; Youngs, in: Trstenjak/ Weingerl (Hrsg.), The Influence of Human Rights and Basic Rights in Private Law (2016), 559 ff. 162 Vgl. Collins (Fn. 15), 44. 163 Vgl. Kischel (Fn. 151), § 5 Rn. 252; eingehend dazu G. Kirchhoff, Möglichkeiten einer europaweiten Vereinheitlichung des Persönlichkeitsschutzes vor der Presse – eine vergleichende Untersuchung zum englischen und deutschen Recht des Persönlichkeitsschutzes bei Verletzungen durch die Presse (2005). 164 The Telegraph vom 22.8.2016, abrufbar unter: https://www.telegraph.co.uk/ news/2016/08/22/new-british-bill-of-rights-will-not-be-scrapped-insists-liz-trus/.

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(4) Auswirkungen auf das Vertragsrecht des Common Law Welche Auswirkungen diese Entwicklungen auf das allgemeine Vertragsrecht haben, ist unklar. Da sich die einschlägigen Regelungen in speziellen Gesetzen finden, lässt sich ein unmittelbarer Einfluss auf das allgemeine Vertragsrecht nicht nachweisen.165 So wird in der Literatur daran festgehalten, dass das englische Recht keinen allgemeinen Grundsatz von „good faith“ kennt.166 Die künftige Entwicklung der Rechtsprechung ist unklar. In einer neueren Entscheidung hat der High Court of Justice bei einem Vertrag zwischen Unternehmern die Annahme eines „general implied term to perform in good faith“ in Erwägung gezogen.167 In der englischen Literatur wurde diese Entscheidung allerdings meist noch einschränkend dahingehend interpretiert, dass der Grundsatz von Treu und Glauben bei einzelnen Vertragstypen über die Erwartungen der Parteien Bedeutung gewinnen kann.168 In einer aktuellen Entscheidung des Court of Appeal wird aber erneut damit argumentiert, „that ­persons who make a contract have to observe certain standards of good faith“.169 Eine wichtige Ausnahme bildet der Versicherungsvertrag, der von Rechtsprechung und Literatur als „contract of the utmost good faith“ (uberrimae fidei) angesehen wird. Hierbei handelt es sich aber um einen Sonderfall, der schon seit dem 18. Jahrhundert anerkannt ist.170 Dahinter steht ebenso wie im deutschen Recht der Gedanke, dass bei Versicherungsverträgen jede Partei in besonderem Maße auf die Loyalität der anderen Partei angewiesen ist.171 Das in der Literatur172 diskutierte Konzept der „inequality of bargaining power“ hat sich in der Rechtsprechung ebenfalls nicht durchsetzen können.173 Eine andere Frage ist jedoch, inwieweit Materialisierungstendenzen von den Gerichten über die klassischen Institute des englischen Vertragsrechts wie 165 Treffend

Collins (Fn. 15), 34. Whittaker, in: Chitty on Contracts (Fn. 129), Rn. 1-044; Treitel/Peel (Fn. 136), Rn. 1-004; Macdonald/Atkins (Fn. 138), Rn. 16.19 ff. 167  High Court of Justice Yam Seng Pte Ltd v. International Trade Corp Ltd [2013] EWHC 111 (QB) (Leggatt). 168  Whittaker, in: Chitty on Contracts (Fn. 129), Rn. 1-058; weitergehend Landbrecht, Treu und Glauben im englischen Vertragsrecht, RIW 2013, 592 ff. 169  Court of Appeal (Civil Division) FSHC Group Holdings Ltd v. Glas Trust Corp Ltd [2019] EWCA Civ 1361 Rn. 146 (Leggatt) (zur Zulässigkeit einer gerichtlichen „rectification“ bei gemeinsamem Irrtum der Parteien). 170  MacLeod, in: Hellwege (Hrsg.), A Comparative History of Insurance Law in Europe (2018), 149, 164. 171  MacDonald Eggers, in: Chitty on Contracts, Bd. 2, Specific Contracts, 33. Aufl. (2018), Rn. 42-030. 172 Repräsentativ Macdonald/Atkins (Fn. 138) Rn. 1.11; Collins (Fn. 15), 28 ff. 173  Zu einer Ausnahme vgl. Lord Denning in Lloyd’s Bank Ltd. v. Bundy [1975] 1 Q. B. 326 (CA). 166 

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„implied terms“, „hardship“ „economic duress“, „undue influence“ oder „unconscionability“ verwirklicht werden.174 Die Antwort darauf erfordert eine eingehende Analyse der Rechtsprechung, die hier nicht geleistet werden kann. In der englischen Literatur wird jedenfalls darauf hingewiesen, dass die Gerichte durchaus auf die Fairness der Vertragsverhandlungen achten. Der Inhalt des Vertrages wird zwar als solcher nicht kontrolliert. Wenn sich bei den Vertragsverhandlungen eine „Störung“ ausmachen lässt, so liegt aber ein Rückgriff auf „Korrekturmechanismen“ nahe.175 H. Collins spricht in diesem Zusammenhang von einem „revised notion of liberty or autonomy“.176 Aus deutscher Sicht könnte man wohl von einer Materialisierung der Vertragsfreiheit sprechen.

4. Vereinigte Staaten von Amerika Die Entwicklung der Rechtsprechung und Literatur zum Verhältnis von Freiheit und Gerechtigkeit im Privatrecht im 20. und 21. Jahrhundert zeichnet sich in den USA durch eine besondere Komplexität aus. Grob lassen sich aber auch hier drei Phasen unterscheiden.

a) Liberty of Contract und Laissez-Faire In den USA ist der Begriff der Vertragsfreiheit besonders stark mit dem Gedanken des wirtschaftlichen Liberalismus verbunden.177 Die Notwendigkeit eines Schutzes des „Schwächeren“ wurde in vielen Bundesstaaten allerdings früh erkannt. So wurden schon Ende des 19. Jahrhunderts Vorschriften zum Schutz besonders gefährdeter Arbeiter eingeführt. Parallel dazu hat der Supreme Court beispielsweise in Holden v. Hardy (1898)178 ein Gesetz über die Höchstarbeitszeit von Minenarbeitern als verfassungskonform anerkannt.

(1) Die Lochner-Rechtsprechung des Supreme Court Der Supreme Court ging seit Mitte der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts davon aus, dass die Vertragsfreiheit unter dem Aspekt der „Liberty of Con­ tract“ durch die „Due Process Clause“ des XIV. Amendment der Verfassung 174  Zu entsprechenden Ansätzen Collins (Fn. 15), 33 f. und 39; Macdonald/Atkins (Fn. 138) Tz. 16.2 ff.; krit. Atiyah, Contract and fair exchange, University of Toronto Law Journal 35 (1985), 1, 9 wonach die Gerichte nicht offen anerkennen, dass sie bemüht sind, über die traditionellen Institute des Common Law einen „fairen“ Austausch sicherzustellen. 175 Vgl. Macdonald/Atkins (Fn. 138), Rn. 16.6 ff. mit Beispielen aus der Rechtsprechung. 176  Collins (Fn. 15), 29. 177  Zum Zusammenhang von „freedom of contract“ und der „idea of economic individualism“ vgl. Scheiber, in: Scheiber (Hrsg.), The State and Freedom of Contract (1998), 1 ff. 178  Holden v. Hardy 169 U.S. 366 (1898).

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geschützt wird.179 Ab dem Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte sich daraus eine sehr restriktive Rechtsprechung, die sozialpolitisch motivierte Einschränkungen zum Schutz der schwächeren Partei in vielen Fällen für verfassungswidrig erklärte.180 Zentrale Bedeutung hat die Lochner-Entscheidung des US-Supreme Court von 1905,181 in der eine Regelung des Staates New York für verfassungswidrig erklärt wurde, die für Bäcker eine Höchstarbeitszeit von täglich 10 Stunden und wöchentlich 60 Stunden festsetzte. Der Unterschied zu Holden v. Hardy wurde darin gesehen, dass der Beruf des Bäckers – anders als der des Minenarbeiters – mit keinen besonderen Gesundheitsgefahren verbunden sei. Außerdem gebe es keine Anhaltspunkte dafür, dass Bäcker nicht über gleiche Intelligenz und Fähigkeiten wie Angehörige anderer Berufe verfügen, um ihre Rechte und Interessen selbst wahrzunehmen.182 Aus Sicht des Supreme Court beschränken die einschlägigen Regelungen demnach nicht nur die Vertragsfreiheit der Unternehmer, sondern auch diejenige der Arbeitnehmer.183 Er argumentiert also strikt mit der formalen Freiheit und Gleichheit der Parteien. In der Folgezeit wurden weitere Schutzvorschriften für schwächere Parteien für unwirksam erklärt. Hierzu gehörten gesetzliche Verbote von Klauseln in Arbeitsverträgen, die den Arbeitnehmern den Beitritt zu einer Gewerkschaft untersagten,184 sowie Vorschriften gegen Kinderarbeit185 und über einen Mindestlohn für Frauen.186

(2) Abweichende Voten und Kritik in der Literatur Die einseitige Betonung der „Liberty of Contract“ ist früh auf Kritik gestoßen.187 Berühmt sind die Sondervoten zu den Entscheidungen Lochner und Adair, in denen Oliver Wendell Holmes sich gegen die Überbetonung der „Li-

179 Vgl. Frisbie v. United States, 157 U.S. 160 (1895); Allgeyer v. Louisina, 165 U.S. 578 (1897). 180  Zur Entwicklung D. P. Weber, Restricting the Freedom of Contract: A Fundamental Prohibition, Yale Hum. Rts. & Dev. L. J. 16 (2013), 51, 56 ff.; McCurdy, in: Scheiber (Hrsg.), The State and Freedom of Contract (1998), 161, 163 ff.; Casper, Juristischer Realismus und politische Theorie im amerikanischen Rechtsdenken (1967), 68 ff.; Bernstein, Freedom of Contract, George Mason University Law and Economics Research Paper Series 08–51, abrufbar unter: https://ssrn.com/abstract/id=1239749. 181  Lochner v. New York, 198 U.S. 45 (1905). 182  Lochner v. New York, 198 U.S. 45, 57 (1905). 183 Vgl. D. P. Weber, Restricting the Freedom of Contract: A Fundamental Prohibition, Yale Hum. Rts. & Dev. L. J. 16 (2013), 51, 59: „impingement of the rights of the protected party“ (Hervorhebung im Original). 184  Adair v. United States, 208 U.S. 161 (1908). 185  Hammer v. Dagenhart, 247 U.S. 251 (1918). 186  Adkins v. Children’s Hospital, 261 U.S. 525 (1923). 187  Vgl. vor allem Pound, Liberty on Contract, Yale L. J. 18 (1909), 454 ff.

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berty of Contract“ wandte.188 Der Supreme Court setzte die Lochner-Rechtsprechung gleichwohl bis in die 1930er Jahre fort.189

b) Entwicklungen von der Weltwirtschaftskrise bis in die 1970er Jahre (1) Überwindung der „Liberty of Contract-Doktrin“ Ein Wandel trat erst ab Mitte der 30er Jahre ein. Hintergrund sind die zahlreichen staatlichen Interventionen zur Überwindung der Weltwirtschaftskrise, die mit dem wirtschaftspolitischen Konzept des „New Deal“ von Präsident Franklin D. Roosevelt verbunden sind. Der Supreme Court hat zunächst einige dieser Gesetze für verfassungswidrig erklärt. Der Wandel ergab sich erst aus einem Wechsel der Besetzung des Supreme Courts.190 Als Wendepunkt gilt die Entscheidung „West Coast Hotel Co. v. Parrish“ von 1937,191 in der der Supreme Court sich von der Ansicht verabschiedet hat, dass die Vertragsfreiheit ein verfassungsrechtlich geschütztes Recht sei.192 Die Parrish-Entscheidung ist auch insofern von besonderem Interesse, als sie den Schutz der schwächeren Partei betrifft. Konkret bezieht sie sich auf Vorschriften des Staates Washington über den gesetzlichen Mindestlohn von Frauen. Der Supreme Court hat einen Verstoß gegen die „Due Process Clause“ verneint. Maßgeblich war die Erwägung, dass es sich bei Frauen um die am schlechtesten bezahlte Gruppe von Arbeitnehmern handelt, die eine schwache Verhandlungsmacht hat.193 Chief Justice Hughes verweist weiter darauf, dass die Verfassung keine absolute und unkontrollierbare Freiheit gewährleistet. Die geschützte Freiheit sei vielmehr „liberty in a social organization“, die den gesetzlichen Schutz gegen Gefahren erfordert, welche der Gesundheit, der Sicherheit, der Moral und dem Wohlstand der Menschen drohen.194 Diese Argumentation zeigt eine Tendenz zur Materialisierung des Vertragsrechts. Zu beachten ist aber, dass der Supreme Court in dieser Hin188  Lochner v. New York, 198 U.S. 45, 74 ff. (1905); Adair v. United States, 208 U.S. 161, 190 ff. (1908); näher dazu D. P. Weber, Restricting the Freedom of Contract: A Fundamental Prohibition, Yale Hum. Rts. & Dev. L. J. 16 (2013), 51, 58 f.; vgl. auch Casper (Fn. 180), 70 mit dem Hinweis, dass die abweichenden Voten von Holmes nicht durchweg „sozial“ motiviert waren. In der Tat lässt sich der Argumentation von Holmes eine starke Betonung der Prärogative des Gesetzgebers entnehmen. 189 Vgl. New State Ice Co. v. Liebmann, 285 U.S. 262 (1932). 190 Vgl. Burnham/Reed, Introduction to the Law and Legal System of the United States, 7. Aufl. (2021), 17 f. 191  West Coast Hotel Co v. Parrish, 300 U.S. 379 (1937). 192  Näher zu dieser Entwicklung McCurdy (Fn. 180), 161, 193 ff. 193  West Coast Hotel Co v. Parrish, 300 U.S. 379, 398 (1937). 194  West Coast Hotel Co v. Parrish, 300 U.S. 379, 581 (1937): „the Constitution does not recognize an absolute and uncontrollable liberty. […] the liberty safeguarded is liberty in a social organization which requires the protection of the law against the evils which menace the health, safety, morals, and welfare of the people.“

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sicht keine eigenen Akzente setzt. Er erkennt vielmehr nur an, dass die Lösung sozialer Probleme dem Gesetzgeber obliegt.195 In der Folgezeit wurde jedenfalls eine Vielzahl weiterer sozialpolitischer Gesetze geschaffen, die vor dem Supreme Court Bestand hatten.

(2) Rechtssoziologische Schule und Rechtsrealismus Die Überwindung der „Liberty of Contract“-Doktrin in der Rechtsprechung geht mit einer Wende in der vorherrschenden Rechtstheorie einher, die durch das Aufkommen der „rechtssoziologischen Schule“ und des „Rechtsrealismus“ gekennzeichnet ist.196 Es handelt sich dabei um vielschichtige Strömungen, die hier nicht im Einzelnen dargestellt werden können.197 Gemeinsames Anliegen war die Abkehr von einer „formalistischen“ und „mechanischen“ Anwendung des Rechts. Stattdessen wurden die realen Rahmenbedingungen und die gesellschaftlichen Auswirkungen gerichtlicher Entscheidungen in den Vordergrund gestellt. Dahinter stand die Überzeugung, dass Recht sozialen Zwecken in einer dem Wandel unterworfenen Gesellschaft dient und sich neuen politischen Konzepten nicht verschließen darf.198 Das gewandelte Verständnis lässt sich an der Kritik von Roscoe Pound an der Lochner-Rechtsprechung verdeutlichen. Zum einen wendet sich Pound gegen die begriffliche Ableitung der „Liberty of Contract“ aus der Wendung „Liberty“ im XIV. Amendment.199 Zum anderen wird die Außerachtlassung der tatsächlichen Machtverhältnisse zwischen den Betroffenen und die Verharmlosung der gesundheitlichen Gefahren für Bäcker beanstandet. 200

(3) Verbraucherschutz Auch der Gedanke des Verbraucherschutzes hat in den USA schon früh Beachtung gefunden. Zu nennen ist insbesondere der Federal Trade Commission Act 1914 (FTCA), der die Federal Trade Commission ermächtigte, gegen unfairen

195 Vgl.

McCurdy (Fn. 180), 161, 193 ff. Grechenig/Gelter, Divergente Revolution des Rechtsdenkens – Von amerikanischer Rechtsökonomie und deutscher Dogmatik, RabelsZ 72 (2008), 513, 522. Der Einfluss dieser Konzepte auf die Rechtsprechung des Supreme Court ist allerdings unklar. So geht ­McCurdy (Fn. 180), 161, 196 davon aus, dass der Supreme Court das Konzept der „sociolo­gical jurisprudence“ im Sinne von Pound in keiner Weise anerkannt hat. 197 Zu einem Überblick vgl. Kischel (Fn. 151), § 5 Rn. 254 ff.; eingehend dazu Casper (Fn. 180), 13 ff. 198  Zu den Gemeinsamkeiten beider Schulen bzw. Strömungen vgl. Auburtin, Amerikanische Rechtsauffassung und die neueren amerikanischen Theorien der Rechtssoziologie und des Rechtsrealismus, ZaöRV 1933, 550 ff. 199  Pound, Liberty on Contract, Yale L. J. 18 (1909), 454, 455 ff. 200  Pound, Liberty on Contract, Yale L. J. 18 (1909), 454, 481. 196 Vgl.

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Wettbewerb vorzugehen. 201 Daneben gab es bereits seit Anfang des 20. Jahrhunderts einzelne Gesetze, die auf den Schutz der Verbraucher abzielten. 202 Bis in die 1960er Jahre handelte es sich meistens um einzelstaatliches Recht. Seitdem gibt es aber auch auf der Bundesebene verschiedene Gesetze zum Schutz des Verbrauchers. 203 Ein Beispiel ist der Consumer Credit Protection Act 1968 (CCPA). Der Vereinheitlichung der einzelstaatlichen Gesetze auf dem Gebiet des Verbraucherschutzes dient der Uniform Consumer Credit Code 1968/1974 (UCCC). In vielen Bundesstaaten gibt es darüber hinaus umfassende Consumer Protection Acts. Der Uniform Consumer Sales Practices Act 1971 (UCSPA) wurde allerdings nur von drei Bundesstaaten (Kansas, Utah, Ohio) umgesetzt, auch wenn einige andere Bundesstaaten immerhin Teile davon übernommen haben.204

(4) Ausweitung des deliktsrechtlichen Schutzes von Verbrauchern Ein wesentliches Instrument zum Schutz von Verbrauchern ist in den USA das Deliktsrecht. Die rasante Erweiterung des deliktischen Schutzes insbesondere im Bereich der Produkthaftung205 hat dazu geführt, dass die Bedeutung des Vertragsrechts in diesem Bereich zeitweise stark zurückgedrängt wurde. Die Hinwendung zum Deliktsrecht wurde insbesondere dadurch gefördert, dass die Geschädigten Ansprüche auf „punitive damages“ geltend machen können. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung hat Gilmore 1974 ein Verschmelzen beider Materien festgestellt, das letztlich zum „Tod des Vertrages“ führt.206

(5) Anerkennung eines allgemeinen Grundsatzes von „good faith“ Im US-amerikanischen Common Law wird – anders als im englischen Common Law – seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts auch der Grundsatz von „good faith“ anerkannt. 207 Maßgebliche Bedeutung für diese Entwicklung hat 201  Zum verbraucherschützenden Zweck dieses Gesetzes Blumberg 34 Am. J. Comp. L. Supp. 99 (1986). 202  Zur Entwicklung des Verbraucherschutzrechts in den USA vgl. Waller/Brady/Acosta, Consumer Protection in the United States: An overview (Stand: Januar 2011), abrufbar unter: https://www.researchgate.net/publication/228208216. 203  Hierzu und zum Folgenden Burnham/Reed (Fn. 190), 719 ff. 204 Vgl. Burnham/Reed (Fn. 190), 730 f.; weitere Informationen zum UCSPA auf der Homepage der Uniform Law Commission, abrufbar unter: https://www.uniformlaws.org. 205 Zur Entwicklung der Produkthaftung in den USA vgl. Hay, US-Amerikanisches Recht, 7. Aufl. (2020), Rn. 394 ff.; Burnham/Reed (Fn. 190), 752 ff. 206  Gilmore (Fn. 14), 93: „it is the fate of contract to be swallowed up by torts (or for both of them to be swallowed up in a generalized theory of civil obligation)“; krit. dazu Scott, The death of contract law, University of Toronto Law Journal 54 (2004), 369 ff. mit der Feststellung, dass die Voraussagen Gilmores sich nicht bewahrheitet haben. Zur Problemstellung vgl. auch Markovits, in: Stanford Encyclopedia of Philosophy (2015), unter 3.1. 207 Vgl. Summers, in: Zimmermann/Whittaker (Hrsg.), Good Faith in European Con-

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der Uniform Commercial Code (UCC), dessen erste Fassung 1952 vom American Law Institute verabschiedet wurde und der ab den 1960er Jahren von allen US-amerikanischen Bundesstaaten übernommen worden ist. 208 Section 1-203 UCC lautet: „Every contract or duty within this Act imposes an obligation of good faith in its performance and its enforcement.“ Die Bedeutung von Treu und Glauben wird verstärkt durch Section 205 des Restatement (Second) of Contracts von 1979, wonach jeder Vertrag beiden Parteien eine „duty of good faith and fair dealing“ auferlegt. 209 Der Grundsatz von Treu und Glauben ist auch von der Rechtsprechung rezipiert worden. Seit den 1980er Jahren findet sich eine Vielzahl von Entscheidungen, die hierauf Bezug nehmen. 210 Der Inhalt des Grundsatzes von „good faith“ lässt sich auch in den USA nicht abschließend festlegen. 211 Als Kriterien werden der Schutz des Vertrauens auf den vereinbarten gemeinsamen Zweck des Vertrages, die Wahrung der berechtigten Erwartungen der anderen Partei sowie die Vereinbarkeit des Verhaltens mit den gesellschaftlichen Standards der guten Sitten (decency), der Fairness und der Billigkeit (reasonableness) genannt. 212 Der Grundsatz von Treu und Glauben dient damit auch im US-amerikanischen Recht als Einfallstor außerrechtlicher Wertungen. In der Literatur wird teilweise kritisiert, den Parteien dürfe nicht über die vage Formel von Treu und Glauben ein Altruismus aufgedrängt werden, zu dem sie sich nicht verpflichtet hätten. 213 Andere sehen die Gefahr, dass der Austauschvertrag mit den Treuhandgeschäften vermengt wird.214 Dem wird aber entgegengehalten, dass der Grundsatz von Treu und Glauben nicht den Standard des „fiduciary behaviour“ erreicht, bei dem der Treuhänder die eigenen Interessen hinter denen des Begünstigten zurückstellen muss. 215 Das amerikanische Common Law kennt noch weitere Institute wie „fraud“, „duress“, „undue influence“, „promissory estoppel“ und „unconscionability“, die es den Gerichten erlauben, im Einzelfall einen fairen Interessenausgleich zwischen den Parteien herzustellen. 216 Dabei kommt dem Gedanken der „ine-

tract Law (2000), 118 ff.; Farnsworth, The Concept of Good Faith in American Law (1993), 1 ff.; ­Perillo, Calamari and Perillo on Contracts, 6. Aufl. (2009), 412 ff.; Palmieri, Good Faith Disclosures required during precontractual negotiations, Seton Hall L. Rev. 24 (1993), 70. 208  Zum Uniform Commercial Code vgl. Burnham/Reed (Fn. 190), 704 ff.; Hay (Fn. 205), Rn. 315 ff. 209  Näher dazu Staudinger/Looschelders/Olzen (Fn. 63), § 242 Rn. 1216. 210  Zur Entwicklung vgl. Summers (Fn. 207), 118, 120. 211 Vgl. Summers (Fn. 207), 118, 125 ff.; Farnsworth (Fn. 207), 1 ff. 212  Perillo (Fn. 207), 414. 213 So Gillette, Limitations on the Obligation of Good Faith, Duke Law Journal 4 (1981), 619. 214  Zur Problemstellung Markovits, Stanford Encyclopedia of Philosophy, Theories of the Common Law of Contracts (2015), unter 3.2. 215  Perillo (Fn. 207), 415. 216  Burnham/Reed (Fn. 190), 688, 697 ff.; zur „unconscionability“ vgl. auch die kritische

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quality of bargaining power“ in der Praxis große Bedeutung zu. 217 Diese Institute können auch im vorvertraglichen Stadium herangezogen werden, in dem der Grundsatz von Treu und Glauben nach überwiegender Ansicht nicht anwendbar ist. 218

c) Schutz vor Diskriminierung im US-amerikanischen Privatrecht (1) Diskriminierung aus Gründen der Rasse Auch die Diskussion über den Schutz vor Diskriminierung hat im US-amerikanischen Recht eine lange Tradition. Nach der Abschaffung der Sklaverei stellte sich vor allem das Problem, die rassische Diskriminierung von Schwarzen zu beenden. Wichtige Ansätze waren das XIII. Amendment von 1865, der Civil Rights Act von 1866 und die Equal Protection Clause des XIV. Amendment von 1868. Dabei ging es nicht zuletzt um den Schutz gegen Gesetze einzelner Bundesstaaten, welche die Vertragsfreiheit Schwarzer einschränkten (sog. Black Codes). 219 Trotz dieser verheißungsvollen Ansätze dauerte die „legale“ Diskriminierung von Schwarzen im Privatrecht aber bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein an. 220 Ein zentrales Hindernis war, dass der Bund nach der Rechtsprechung des Supreme Court für die Regelung der Problematik keine Gesetzgebungskompetenz hatte. Der Civil Rights Act 1875 wurde daher schon 1883 vom Supreme Court für verfassungswidrig erklärt. 221 Ein weiteres Problem bestand darin, dass die Equal Protection Clause des 14. Zusatzartikels und der Civil Rights Act von 1866 auf das Verbot staatlicher Diskriminierung beschränkt sind. Sie bieten also keine Handhabe gegen Diskriminierungen durch Privatpersonen. Dies gilt auch für Verträge. 222 Dahinter steht der Gedanke, dass das US-amerikanische Verfassungsrecht keine Drittwirkung der Grundrechte kennt. 223 Der Schutz gegen private Diskriminierung musste also durch die Gesetzgebung erfolgen. Ein Meilenstein ist dabei Untersuchung von Fleming, The Rise and Fall of Unconscionability as the „Law of the Poor“, Geo. L. J. 102 (2014), 1383. 217  Krit. dazu Barnhizer, Inequality of bargaining Power, U. Col. L. Rev. 76 (2005), 139 ff. mit dem Fazit, dass die von der Rechtsprechung entwickelten Kriterien nicht ausreichen, um die Existenz und das Ausmaß solcher Ungleichgewichtslagen und die Notwendigkeit rechtlicher Konsequenzen angemessen zu beurteilen. 218  Vgl. Staudinger/Looschelders/Olzen (Fn. 63), § 242 Rn. 1218. 219  Vgl. dazu D. P. Weber, Restricting the Freedom of Contract: A Fundamental Prohibition, Yale Hum. Rts. & Dev. L. J. 16 (2013), 51, 69 ff. 220  Zur Entwicklung des Antidiskriminierungsrechts in den USA Grünberger (Fn. 3), 153 ff.; Monen, Das Verbot der Diskriminierung (2008), 245 ff.; vgl. auch Miller, in: Trstenjak/Weingerl (Hrsg.), The Influence of Human Rights and Basic Rights in Private Law (2016), 577, 584 ff. 221  Civil Right Cases, 109 U.S. 3 (1883). 222  Corrigan v. Buckley, 271 U.S. 326 (1926). 223  Grünberger (Fn. 3), 198.

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der C ­ ivil Rights Act 1964, der Diskriminierungen aus Gründen der Rasse „in places of public accomodation“ sowie in Arbeitsverhältnissen verbietet. 224 Im Hinblick auf den Verkauf oder die Vermietung von Wohnraum wurden Diskriminierungen wegen der Rasse, der Hautfarbe, der Religion oder der nationalen Herkunft durch den Civil Rights Act 1968 untersagt. 225

(2) Diskriminierung wegen des Geschlechts Ein weiteres zentrales Problem der Ungleichbehandlung ist die Diskriminierung wegen des Geschlechts.226 Im Vordergrund stand lange Zeit die Benachteiligung von Frauen in Arbeitsverhältnissen. Abhilfe wurde erst durch den Equal Pay Act von 1963 und den Civil Rights Act von 1964 geschaffen, dessen Titel VII. das Verbot der Diskriminierung in Arbeitsverhältnissen auf Frauen erstreckt. Einschränkungen der Freiheit verheirateter Frauen zum Abschluss von Verträgen wurden von den Gerichten bis in die 1960er Jahre anerkannt. 227 In neuerer Zeit zeichnet sich aber auch hier ein Wandel der Rechtsprechung ab. 228

(3) Weitere Antidiskriminierungsgesetze Ab den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts wurden zahlreiche weitere Gesetze gegen Diskriminierung geschaffen. Wichtige Beispiele sind insbesondere der Age Discrimination in Employment Act von 1967 und der Americans with Disabilities Act von 1990.

d) Neuere Entwicklungen (ab 1980) (1) Vertragsfreiheit und ökonomische Effizienz In neuerer Zeit wird die Bedeutung der Vertragsfreiheit auch in den Vereinigten Staaten wieder stärker betont. Ein wichtiger Grund dafür ist der Siegeszug des „law and economics approach“, 229 der in der deutschen Literatur als „Ökonomische Analyse des Rechts“ diskutiert wird. Nach Ansicht vieler Vertreter 224  Vgl. dazu Grünberger (Fn. 3), 205 ff. Weitere verbotene Kriterien sind die Hautfarbe, die Religion und die nationale Herkunft, in Arbeitsverhältnissen auch das Geschlecht (s. unten, II.4.c.(2)). 225 Vgl. Grünberger (Fn. 3), 217. 226  Burnham/Reed (Fn. 190), 606 ff.; Weber, Restricting the Freedom of Contract: A Fundamental Prohibition, Yale Hum. Rts. & Dev. L. J. 16 (2013), 51, 69 ff. 227  Weber, Restricting the Freedom of Contract: A Fundamental Prohibition, Yale Hum. Rts. & Dev. L. J. 16 (2013), 51, 74 mit Verweis auf United States v. Yazell, 382 U.S. 341 (1966). 228  Weber, Restricting the Freedom of Contract: A Fundamental Prohibition, Yale Hum. Rts. & Dev. L. J. 16 (2013), 51, 74 f. 229  Zum Zusammenhang mit dem „legal realism“ vgl. Grechnig/Gelter, Divergente Revolution des Rechtsdenkens – Von amerikanischer Rechtsökonomie und deutscher Dogmatik, RabelsZ 72 (2008), 513, 527 ff.

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dieses Ansatzes ist das Konzept der Vertragsfreiheit und des freien Marktes vorzugswürdig, weil es eine effiziente Organisation des Güteraustauschs ermöglicht. Der autonome Austausch von Gütern dient dabei nicht nur den Interessen beider Parteien, sondern führt auch zu einer Steigerung des gesamtgesellschaftlichen Wohlstands. 230 Die Vertragsfreiheit hat bei dieser Betrachtung eine vornehmlich dienende Funktion. 231 Fällen der gestörten Vertragsparität wird von den meisten Vertretern dieses Konzepts keine zentrale Bedeutung beigemessen. So beschränkt sich das Problem nach Ansicht von Posner im Wesentlichen auf monopolistische Markt­ situationen. 232 Posner legt weiter dar, dass auch einseitige „form contracts“ aus Sicht der ökonomischen Analyse optimal sein können. 233 Andere Vertreter des law and economics approach erkennen allerdings an, dass die Vertragsfreiheit nur bei „fairen“ Verträgen den Nutzen beider Parteien erhöht. Ausnahmen gelten daher bei Störungen des Verhandlungsprozesses (Zwang, Informationsasymmetrien) und in Fällen des Marktversagens.234 Darüber hinaus werden auch ethische Grenzen der Vertragsfreiheit wie der Handel mit menschlichen Organen diskutiert. 235 Hiermit wird eine seit Langem diskutierte Problematik in den law and economics approach integriert. So war schon im 19. Jahrhundert anerkannt, dass niemand sich vertraglich der Sklaverei unterwerfen kann. 236 Die Indienstnahme des Privatrechts zur Herstellung eines sozialen Ausgleichs wird aus rechtsökonomischer Sicht abgelehnt. 237 Hierfür sei das Steuerrecht besser geeignet. 238 230 Grundlegend Posner, Economic Analysis of Law, 8. Aufl. (2011). Zum Zusammenhang zwischen dem law and economics approach und der Stärkung des Grundsatzes der Vertragsfreiheit Scott, The death of contract law, University of Toronto Law Journal 54 (2004), 369 f. Als weiterer Grund für die Stärkung der Vertragsfreiheit wird die Deregulierung der Wirtschaft unter Präsident Reagan in den 1980er Jahren genannt (Hillman, The Triumph of Gilmore’s The death of contract, Nw. U. L. R. 90 [1995], 32, 39). 231 Vgl. Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Rechts, 6. Aufl. (2020), 471. 232 Repräsentativ Posner (Fn. 230), 147. 233  Posner (Fn. 230), 145; vgl. aus deutscher Sicht Schäfer/Ott (Fn. 231), 620, wonach eine gerichtliche Kontrolle von AGB unter ökonomischen Gesichtspunkten „nicht schlechthin empfehlenswert“ ist. 234  Eingehend dazu Trebilcock, The Limits of Freedom of Contract (1993), 78 ff.; Cserne, Freedom of Contract and Paternalism (2012), 90 ff.; Schäfer/Ott (Fn. 227), 472. Die Konzeption von Trebilcock ist allerdings auch auf Kritik gestoßen; vgl. dazu die Erwiderung von Trebilcock, Critiques of The Limits of Freedom of Contract: A Rejoinder, Osgoode Hall Law Journal 33.2 (1995), 353 ff. 235  Trebilcock (Fn. 234), 33 ff. 236 Vgl. Trebilcock (Fn. 234), 23 mit Verweis auf John Stuart Mill, On Liberty (1859); die einschlägigen Überlegungen finden sich bei John Stuart Mill, in: Philip/Rosen (Fn. 53), 1, 99 f. 237 Vgl. Schmolke, in: Towfigh/Petersen (Hrsg.), Ökonomische Methode im Recht, 2. Aufl. (2017), Rn. 324. 238  Kaplow/Shavell, Should Legal Rules Favor the Poor? (2000), abgedruckt in: Grundmann/Micklitz/Renner (Hrsg.), Privatrechtstheorie, Bd. 1 (2015), 933 ff.

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(2) Behavioral Law and Economics Approach In neuerer Zeit haben die Anhänger des „behavioral law and economics ap­ proach“ herausgearbeitet, dass der Einzelne sich auch bei freien und gleichberechtigten Verhandlungen nicht immer für Lösungen entscheidet, die seinen „wirklichen“ Zielen entsprechen und den gesamtwirtschaftlichen Nutzen fördern. 239 Dies führt zurück zu der Frage, wann „paternalistische“ Eingriffe gegen den Willen der Parteien gerechtfertigt sind. 240

5. Recht der Europäischen Union Das Recht der Europäischen Union ist bei der Darstellung der europäischen Rechtsordnungen schon wiederholt angesprochen worden. Ich kann mich daher an dieser Stelle kurzfassen.

a) Vertragsfreiheit Das Vertragsrecht der EU beruht auf dem Grundsatz der Vertragsfreiheit. 241 Im Sekundärrecht steht zwar das Verbraucherrecht im Vordergrund. Dies beruht jedoch vor allem auf kompetenzrechtlichen Gründen. Die Vertragsfreiheit wird im Übrigen über die Grundfreiheiten und die gemeinsamen Traditionen der Mitgliedstaaten vorausgesetzt. 242 Der Grundsatz der Vertragsfreiheit wird auch im Draft Common Frame of Reference (DCFR) betont. 243 Art. II. – 1:102 (1) DCFR stellt allerdings zugleich klar, dass die Vertragsfreiheit nicht schrankenlos ist, sondern durch zwingendes Recht begrenzt wird. Der gescheiterte Vorschlag der Kommission für ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht (GEKR) hatte den Grundsatz der Vertragsfreiheit in Art. 1 GEKR – wiederum „vorbehaltlich einschlägiger zwingender Vorschriften“ – ebenfalls an die Spitze der materiellen Regelungen gesetzt. 244 239 Zum behavioral law and economics approach vgl. Eidenmüller, Der homo oeconomicus und das Schuldrecht: Herausforderungen durch Behavioral Law and Economics, JZ 2005, 216 ff.; krit. Posner (Fn. 230), 22 ff. 240  Zur Paternalismus-Diskussion vgl. Cserne (Fn. 234), 80 ff.; Trebilcock (Fn. 234), 147 ff.; Dworkin, Stanford Encyclopedia of Philosophy (2002/2017), Paternalism. 241 Vgl. Stürner (Fn. 3), § 10 Rn. 1 ff.; Basedow, Freedom of Contract in the European Union, Eur. Rev. Private L. 16 (2008), 901 ff . 242 Vgl. Riesenhuber, EU-Vertragsrecht (2013), § 1 Rn. 13 und § 2 Rn. 20; Heiderhoff, Europäisches Privatrecht, 5. Aufl. (2020), Rn. 237 ff.; krit. Gozzo, in: Howells/Janssen/ Schulze (Hrsg.), Information Rights and Obligations – A Challenge for Party Autonomy and Transactional Fairness (2005), 17, 29: Vertragsfreiheit im Unionsrecht als „vague notion“. 243 Vgl. v. Bar/Clive (Hrsg.), Draft Common Frame of Reference (DCFR), Full Edition, Bd. 1 (2009), 38 f. 244  Näher dazu Looschelders, Das allgemeine Vertragsrecht des „Common European ­Sales Law“, AcP 212 (2012), 581, 589 ff.; zum Vorschlag der Kommission für ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht s. noch unten, II. 5. d.

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b) Verbraucherschutz (1) Funktion des Verbraucherschutzes im Recht der EU Das Verbraucherrecht stellt bislang den Kern des materiellen Europäischen Privatrechts dar. Zentrales Ziel der verbraucherschützenden Richtlinien ist die Verwirklichung des Binnenmarktes. Der Verbraucher soll dadurch zu grenzüberschreitenden Vertragsschlüssen ermuntert werden, dass er sich auf einen einheitlichen Schutzstandard verlassen kann. 245 Dieser Ausgangspunkt beruht aber ebenfalls weitgehend auf kompetenzrechtlichen Gründen. Zentrale Kompetenzgrundlage für Maßnahmen zur Förderung der Interessen der Verbraucher und zur Gewährleistung eines hohen Verbraucherschutzniveaus ist Art. 114 AEUV, 246 der die EU zum Erlass von Rechtsvorschriften zur Rechtsangleichung im Binnenmarkt ermächtigt. 247 Dass die EU dem Verbraucherschutz darüber hinaus einen eigenständigen Wert beimisst, zeigt sich daran, dass der Verbraucherschutz in die Charta der Grundrechte (Art. 38 GR-Charta) aufgenommen wurde. 248 Eine parallele Vorschrift findet sich in Art. 12 AEUV.

(2) Schutz des Verbrauchers durch Informationspflichten und Widerrufsrechte Das europäische Privatrecht geht vom Leitbild des aufgeklärten und mündigen Verbrauchers aus, der seine Rechte selbst wahrnehmen kann. 249 Es sieht aber das Problem der gestörten Verhandlungsparität. Die Disparität beruht nach der Rechtsprechung des EuGH auf der schwächeren Verhandlungsposition und dem unterlegenen Wissen des Verbrauchers. 250 Der letztere Aspekt erklärt die vielfältigen Informationspflichten, die Unternehmern vor dem Vertragsschluss mit Verbrauchern auferlegt werden. 251 Nach dem Vertragsschluss wird den Verbrauchern zum Teil eine zusätzliche Überlegungsfrist (Coolingoff-­Periode) zugebilligt, die durch ein Widerrufsrecht verwirklicht wird. Ein solches Widerrufsrecht besteht allerdings nur bei besonderen Vertriebsformen 245 Vgl. Heiderhoff (Fn. 242), Rn. 17, 273 ff.; Looschelders (Fn. 56), § 41 Rn. 3; Stürner (Fn. 3), § 2 Rn. 22. 246  Vgl. auch Art. 169 Abs. 1, Abs. 2 lit. b AEUV mit Verweis auf Art. 114 AEUV. 247 Vgl. Riesenhuber (Fn. 242), § 2 Rn. 20. 248 Einschränkend Heiderhoff (Fn. 242), Rn. 271 f.: kein eigenständiges Prinzip des Europäischen Privatrechts. 249  Vgl. EuGH 20.9.2018 – C-51/17, NJW 2019, 207 Rn. 78 – OTP Bank u.a.; 20.9.2017 – C-186/16, BKR 2018, 201 Rn. 47 – Andriciuc; 8.2.2017 – C-562/15, NJW 2017, 1657 Rn. 31 – Carrefour Hypermarchés, wonach unter einem „Durchschnittsverbraucher“ ein „normal informierter, angemessen aufmerksamer und verständiger Verbraucher“ zu verstehen ist; zusammenfassend dazu Riesenhuber (Fn. 242), § 5 Rn. 35 ff. 250  EuGH 10.09.2014 – C-34/13, WM 2015, 324 = BeckRS 2014, 81841 Rn. 48 – Kušinova. 251 Vgl. Stürner (Fn. 3), § 11 Rn. 21 ff.; Heiderhoff (Fn. 242), Rn. 252 ff.; eingehend dazu Gozzo (Fn. 242), 17 ff.

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(Außer­geschäftsraum- und Fernabsatzverträge) und besonders gefährlichen oder komplexen Verträgen (Verbraucherkredit-, Teilzeitwohnrechte- und Versicherungsverträge). Mit diesen Instrumenten will der europäische Gesetzgeber sicherstellen, dass der Verbraucher eine freie und informierte Entscheidung treffen kann. Das EU-Recht folgt damit dem Gedanken der materiellen Vertragsfreiheit. 252 Der damit verbundene Schutz wird durch die Missbrauchskontrolle nach der Klausel-Richtlinie ergänzt.

(3) Schutz des Verbrauchers durch zwingendes Recht Auf der anderen Seite ist allerdings nicht zu verkennen, dass die Verbraucherschutzrichtlinien der EU in einigen Bereichen einseitig zwingendes Recht vorschreiben, das unabhängig von Informationsasymmetrien eingreift. Wichtigstes Beispiel war bislang die Verbrauchsgüterkauf-Richtlinie (RL 1999/44/EG). Das Gleiche gilt jetzt für die Richtlinie über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte der Bereitstellung digitaler Inhalte und digitaler Dienstleistungen vom 20.5.2019 (RL 2019/770/EU) und die Richtlinie über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte des Warenkaufs vom 20.5.2019 (RL 2019/771/EU). 253 Der zwingende Charakter dieser Richtlinien lässt sich nicht mit dem Ziel erklären, den Verbrauchern eine informierte Entscheidung über den Vertragsschluss zu ermöglichen. Der Verbraucherschutz dient hier vielmehr in erster Linie dazu, die Ziele des Binnenmarktes zu verwirklichen.254 Die Digitale Inhalte-RL und die Warenkauf-RL legen dabei einen besonderen Akzent darauf, einen „echten digitalen Binnenmarkt“ zu erreichen. 255 Hierbei handelt es sich um eine Zielsetzung, die weit über die Materialisierung des Vertragsrechts hinausgeht. In der Literatur wird daher bereits von einer neuen Phase der Entwicklung des europäischen Vertragsrechts unter dem Vorzeichen der „Digitalen Revolution“ gesprochen. 256

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So auch Tamm (Fn. 37), 64. Überblick vgl. Schulze/Zoll, Europäisches Vertragsrecht, 3. Aufl. (2021), § 1 Rn. 61 ff.; Bach, Neue Richtlinien zum Verbrauchsgüterkauf und zu Verbraucherverträgen über digitale Inhalte, NJW 2019, 1705 ff. Der deutsche Gesetzgeber hat diese Richtlinien durch das Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte der Bereitstellung digitaler Inhalte und digitaler Dienstleistungen vom 25.6.2021 (BGBl. I, 2123) sowie das Gesetz zur Regelung des Verkaufs von Sachen mit digitalen Elementen und anderer Aspekte des Kaufvertrags vom 25.6.2021 (BGBl. I, 2133) mit Wirkung zum 1.1.2022 umgesetzt. Die Verbrauchsgüterkauf-RL wurde durch Art. 23 Warenkauf-RL ab dem 1.1.2022 aufgehoben. 254  Vgl. dazu bereits oben, II.5.b.(1). 255  Vgl. Erwägungsgrund 3 RL 2019/770/EU; Erwägungsgrund 3 RL 2019/771/EU. 256  Schulze/Zoll (Fn. 253), § 1 Rn. 80. 253 Zum

Gleichheit u. Materialisierungstendenzen im Privatrecht des 20. u. 21. Jahrhunderts 101

c) Schutz vor Diskriminierungen Ein weiteres zentrales Ziel des Unionsrechts ist der Schutz gegen Diskriminierungen. 257 Ein wichtiger Anknüpfungspunkt war zunächst der Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen im Arbeitsrecht, der schon in der ursprünglichen Fassung des EWGV von 1957 (Art. 119 EWGV = Art. 157 AEUV) geregelt war. 258 Die ersten einschlägigen Richtlinien wurden Mitte der 1970er Jahre erlassen und konzentrierten sich auf die Gleichstellung von Frauen im Arbeitsrecht. Konkret handelte es sich um die Entgeltgleichheitsrichtlinie (Richtlinie 75/117/EWG) vom 10.2.1975 und die Gleichbehandlungsrichtlinie (Richtlinie 76/207/EWG) vom 9.2.1976. Besondere Bedeutung haben die vier ab dem Jahr 2000 erlassenen Antidiskriminierungsrichtlinien erlangt, die in Deutschland durch das AGG von 2006 umgesetzt worden sind.259 Die GR-Charta statuiert jetzt in Art. 20 die Gleichheit vor dem Gesetz und regelt in Art. 21 den Grundsatz der Nichtdiskriminierung. Art. 23 GR-Charta schreibt vor, dass die Gleichheit von Frauen und Männern in allen Bereichen, einschließlich der Beschäftigung, der Arbeit und des Arbeitsentgelts sicherzustellen ist.

d) Generalklauseln Das Privatrecht der EU enthält zahlreiche Generalklauseln, die eine Berücksichtigung materieller Wertungen ermöglichen. Wichtigstes Beispiel ist Art. 3 Abs. 1 der Klausel-Richtlinie (RL 93/13/EWG), wonach eine Vertragsklausel als missbräuchlich anzusehen ist, „wenn sie entgegen dem Gebot von Treu und Glauben zum Nachteil des Verbrauchers ein erhebliches und ungerechtfertigtes Missverhältnis der vertraglichen Rechte und Pflichten der Vertragspartner verursacht“. Ein allgemeiner Grundsatz von Treu und Glauben hat sich im europäischen Privatrecht allerdings noch nicht durchgesetzt. 260 Die Principles of European Contract Law (PECL) und der Draft Common Frame of Reference (DCFR) messen dem Grundsatz von Treu und Glauben aber große Bedeutung zu. 261 Desgleichen sah der Vorschlag der Kommission für ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht an prominenter Stelle (Art. 2 Abs. 1 GEKR) die Pflicht jeder Partei vor, „im Einklang mit dem Gebot von Treu und Glauben und des redlichen Geschäftsverkehrs zu handeln“. 262 Der Vorschlag ist aber am Wider257 Näher dazu Stürner (Rn. 3), § 11 Rn. 7 ff. und § 19 Rn. 4 ff.; Heiderhoff (Fn. 242), Rn. 265 ff.; Schulze/Zoll (Fn. 253), § 2 Rn. 148 ff.; Grünberger (Fn. 3), 40 ff.; Basedow, Der Grundsatz der Nichtdiskriminierung im europäischen Privatrecht, ZEuP 2008, 230 ff. 258 Vgl. Krebber, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Aufl. (2022), Art. 157 AEUV Rn. 1; Riesenhuber (Fn. 242), § 6 Rn. 6. 259  Näher dazu oben, II.1.h. 260  Vgl. Staudinger/Looschelders/Olzen (Fn. 63), § 242 Rn. 1243. 261  Näher dazu Staudinger/Looschelders/Olzen (Fn. 63), § 242 Rn. 1229 ff. 262  Zur Bedeutung des Grundsatzes von Treu und Glauben im GEKR Staudinger/Loo-

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stand der Mitgliedstaaten gescheitert. Die neuen Richtlinien über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte der Bereitstellung digitaler Inhalte und digitaler Dienstleistungen (Richtlinie 2019/770/EU) und über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte des Warenkaufs (Richtlinie 2019/771/EU) vom 20.5.2019 enthalten spezifische Vorschriften zum Schutz des Verbrauchers, verzichten aber auf Regelungen über den Grundsatz von Treu und Glauben. Das Verbot des Rechtsmissbrauchs ist im Privatrecht der EU ebenfalls nur vereinzelt ausdrücklich geregelt. Es stellt nach der Rechtsprechung des EuGH aber ein allgemeines Prinzip des Unionsrechts dar. 263

e) Konstitutionalisierung Mit dem Inkrafttreten der Charta der Grundrechte der EU am 1.12.2009 hat auch im Privatrecht der EU eine „Konstitutionalisierung“ eingesetzt. 264 Im wirtschaftlichen Bereich haben die Berufsfreiheit (Art. 15 Abs. 1 GR-Charta), die unternehmerische Freiheit (Art. 16 GR-Charta) und die Eigentumsgarantie (Art. 17 GR-Charta) besondere praktische Relevanz. 265 Die Gleichheitsgrundrechte sind in Art. 20–26 GR-Charta geregelt. 266 Die Gewährleistung des Verbraucherschutzes in Art. 38 GR-Charta enthält dagegen nur einen „Grundsatz“ i.S.d. Art. 52 Abs. 5 GR-Charta. Es handelt sich also um kein unmittelbar einklagbares Recht. 267 Die Vertragsfreiheit ist in der GR-Charta nicht ausdrücklich erwähnt. Teilaspekte werden aber durch andere Grundrechte abgedeckt. 268 Im Übrigen bleibt es dabei, dass die Vertragsfreiheit durch die Grundfreiheiten garantiert wird. 269 Inwieweit der GR-Charta Drittwirkung zukommt, ist nicht geklärt. 270 Der EuGH hat in neuerer Zeit allerdings klargestellt, dass Art. 21 GR-Charta sich auch gegen Diskriminieschelders/Olzen (Fn. 63), § 242 Rn. 1249 ff.; Looschelders, Das allgemeine Vertragsrecht des „Common European Sales Law“, AcP 212 (2012), 581, 594 ff. 263  Vgl. EuGH 12.5.1998 – C-367/96, Slg. 1998, I-2843 Rn. 19 ff. – Kefalas; 23.3.2000 – Rs. C-373/97, Slg. 2000, I-1705 Rn. 33 ff. – Diamantis; 6.2.2018 – C-359/16, ECLI:EU:C:2018:63 Rn. 49 – Altun; Looschelders/Olzen (Fn. 63), § 242 Rn. 1244 ff.; Heiderhoff (Fn. 242), Rn. 299; Stürner (Fn. 3), § 11 Rn. 43 ff.; Fleischer, Der Rechtsmißbrauch zwischen Gemeineuropäischem Privatrecht und Gemeinschaftsprivatrecht, JZ 2003, 865, 870 ff. 264  Vgl. die Beiträge in Micklitz (Hrsg.), Constitutionalization of European Private Law (2014); krit. zu dieser Entwicklung Hesselink, Private Law and the European Constitutionalisation of Values (May 25, 2016), Amsterdam Law School Research Paper No. 2016–26; Centre for the Study of European Contract Law Working Paper Series No. 2016–07, abrufbar unter: https://ssrn.com/abstract=2785536. 265 Vgl. Jarass, Charta der Grundrechte der EU, 4. Aufl. (2021), Art. 16 Rn. 2. 266 S. dazu oben, II.1.h. 267  Jarass (Fn. 265), Art. 38 Rn. 3. 268 Vgl. Riesenhuber (Fn. 242), § 2 Rn. 20, der zusätzlich auf Art. 1 GR-Charta (Menschenwürde) verweist. 269  Vgl. oben, II.5.a. 270  Trstenjak (Fn. 65), 3, 9; Riesenhuber (Fn. 242), § 2 Rn. 21.

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rungen wendet, die aus Verträgen zwischen Privaten resultieren. Beim Grundsatz des Verbraucherschutzes ergibt sich eine mittelbare Drittwirkung jedenfalls ­daraus, dass der EuGH bei der Auslegung von Richtlinien im Rahmen von Vorab­entscheidungen mit Art. 38 GR-Charta argumentiert. 271

III. Vertragsrecht und Eigentum – vergleichende Würdigung Der Überblick über die verschiedenen Rechtsordnungen offenbart gemeinsame Entwicklungslinien. Grob kann man für alle Rechtsordnungen drei Phasen unterscheiden.

1. Rechtslage am Beginn des 20. Jahrhunderts Den Ausgangspunkt bildet im 19. Jahrhundert ein weitgehend formales Verständnis von Freiheit und Gleichheit im Privatrecht. Das Vertragsrecht baut dabei auf dem Grundsatz der Vertragsfreiheit und der Geltung des Willensdogmas auf. In England und in den USA ging der Grundsatz der Vertragsfreiheit überdies mit dem liberalistischen Marktmodell des Laissez-Faire einher. Tendenzen zur Materialisierung des Vertragsrechts setzten aber in allen Rechtsordnungen schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein. Die einschlägigen Sonderregelungen blieben zwar noch eher punktuell. Das Privatrecht kann aber schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht (mehr) als „liberalistisch“ qualifiziert werden. Dies gilt insbesondere auch für das BGB. Einen Sonderfall bildet die Lochner-Rechtsprechung des US-Supreme Court, die aber auch in den USA von Anfang an sehr umstritten war.

2. Vom Ersten Weltkrieg bis zum Ende der 1970er Jahre Die zweite Phase beginnt in den meisten Rechtsordnungen nach dem Ersten Weltkrieg und setzt sich nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die 1970er Jahre fort. Sie lässt sich durch eine starke Zunahme von Einschränkungen der Vertragsfreiheit durch spezielle wirtschafts- und sozialpolitische Gesetze kennzeichnen. In den USA setzte diese Phase mit etwas Verspätung erst Mitte der 1930er Jahre ein. Dies dürfte vor allem darauf beruhen, dass der Erste Weltkrieg in den USA mit geringeren wirtschaftlichen und sozialen Umbrüchen verbunden war als in Europa. Der „Einschnitt“ erfolgt daher erst durch die Weltwirt-

271  Zur Berücksichtigung von Art. 38 GR-Charta bei der Auslegung der Klausel-Richtlinie EuGH 10.09.2014 – C-34/13, WM 2015, 324 = BeckRS 2014, 81841 Rn. 48 – Kušinova.

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schaftskrise zum Ende der 1920er Jahre und die hieran anschließende Politik des „New Deal“. Die dargelegten Einschränkungen der Vertragsfreiheit haben dazu geführt, dass in den 1960er und 1970er Jahren in allen Rechtsordnungen von einer „Krise des Vertragsrechts“ gesprochen wurde. Die Wahrnehmung einer „Krise“ beruhte weitgehend darauf, dass der „Vertrag“ mit einem „liberalistischen“ Konzept des Vertragsrechts und dem Willensdogma gleichgesetzt wurde. 272 Das so verstandene Vertragsrecht erschien nicht geeignet, das geltende Recht zu erklären und die modernen Probleme zu bewältigen. 273 Der Eindruck der „Krise“ wurde dadurch verstärkt, dass die Regelungen zum Schutz der schwächeren Partei als staatliche Eingriffe in die Vertragsfreiheit „von außen“ verstanden wurden. 274 Es handelte sich in der Tat meist um Sondergesetze, die nicht am allgemeinen Diskurs über Vertragsrecht nach dem BGB, dem Code Civil oder dem Common Law teilnahmen und daher als „Fremdkörper“ verstanden wurden. 275 In Deutschland und Frankreich finden sich daraufhin Überlegungen, das Vertragsrecht unter den Aspekten der sozialen Gerechtigkeit oder des Solidarisme zu konzipieren. Diese Ansätze schränken die Vertragsfreiheit aber zu stark ein. Außerdem sehen sie sich dem Vorwurf des Paternalismus und der übermäßigen Stärkung staatlichen Einflusses auf das Privatrecht ausgesetzt. Letztlich hat sich daher die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Gegenüberstellung von „liberalem“ und „sozialem“ Privatrecht nicht weiterhilft. 276 Im Hinblick auf das englische Recht sind einige Besonderheiten zu beachten. Wichtig ist zunächst die Erkenntnis, dass die Wahrnehmung einer „Krise“ der Vertragsfreiheit historisch von einem extrem wirtschaftsliberalen Verständnis ausgeht, das staatliche Eingriffe in die Freiheit des Marktes strikt ablehnt. Davon abgesehen ist die Unterscheidung von Privatrecht und öffentlichem Recht dem Common Law traditionell fremd, sodass sich Entwicklungen wie der Ausbau des Sozialversicherungsrechts als Abkehr vom Vertragsrecht des Common Law darstellten. Auch das Kartellrecht lässt sich bei einem extrem wirtschaftsliberalen Ansatz als Einschränkung der Vertragsfreiheit der Kartellanten ver272  Terré/Simler/Lequette/Chénedé (Fn. 16), Rn. 46; Atiyah (Fn. 13), 779. Gilmore (Fn. 14), 95 f. führt aus: „The decline and fall of the general theory of contract and, in most quarters, of laissez-faire economics, may be taken as remote reflection of the transition from nineteenth century individualism to welfare state and beyond.“ 273  Sehr klar zum englischen Recht Atiyah (Fn. 13), 778 f.: „The present conceptual apparatus of the law is, I suggest, still essentially that of the classical model, and for the reasons I have given no longer accords with the way the law is developing, nor with the value system underlying present day ideas“. 274 Vgl. Kramer (Fn. 12), 40 („Korrektur der Vertragsfreiheit von außen“), der selbst für eine stärkere Akzentuierung der „immanenten Grenzen der Vertragsfreiheit“ plädiert (48 ff.). 275 Treffend Lieb, Sonderprivatrecht für Ungleichgewichtslagen? Überlegungen zum Anwendungsbereich der sogenannten Inhaltskontrolle privatrechtlicher Verträge, AcP 178 (1978), 196. 276 Vgl. Auer (Fn. 8), 4: Wandel jenseits der Attribute „liberal“ und „sozial“.

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stehen. 277 Es hat sich letztlich aber als wichtiges Mittel bewährt, um die notwendigen Rahmenbedingungen der Vertragsfreiheit zu gewährleisten. Trotz der Thesen von Atiyah erscheint der „Wandel“ im englischen Recht weniger tiefgreifend als in den anderen Rechtsordnungen. So blieb das Vertragsrecht des Common Law weitgehend unbeeinflusst. Jedenfalls wird ein allgemeiner Grundsatz von „good faith“, der als Einfallstor materieller Wertungen dienen könnte, weiter nicht anerkannt.

3. Neuere Entwicklungen (ab den 1980er Jahren) a) Anerkennung des „Werts“ der Vertragsfreiheit Ab den 1980er Jahren lässt sich in allen Rechtsordnungen eine Tendenz feststellen, die Vertragsfreiheit wieder stärker zu betonen. Dabei lässt sich zwischen zwei Grundansätzen unterscheiden. In den europäischen Rechtsordnungen wird die Vertragsfreiheit primär als Ausfluss der Autonomie des Einzelnen gewürdigt. In den Vereinigten Staaten wird dagegen unter dem Einfluss des „law and economics approach“ eher der ökonomische Nutzen in den Vordergrund gestellt, der sich aus einem frei ausgehandelten Vertrag für die Parteien und die Gesellschaft ergibt.278 Dieser Gedanke hat auch in Europa viele Anhänger gewonnen.

b) Sicherung der Voraussetzungen eines freien und fairen Vertrages In der neueren Diskussion wird gleichzeitig hervorgehoben, dass der Vertrag nur dann eine „Richtigkeitschance“ bietet, wenn die tatsächlichen Voraussetzungen für einen freien Vertragsschluss vorliegen. Die Diskussion über die „Materialisierung“ des Vertragsrechts konzentriert sich dabei auf die Frage, unter welchen Voraussetzungen eine privatautonome Vertragsgestaltung in beiderseitiger Selbstbestimmung real möglich ist. 279 Zwei Grundbedingungen stehen im Vordergrund: die Existenz eines „offenen Marktes“ und die Gewährleistung annähernder Vertragsparität. Zum ersten Aspekt kann auf Canaris verwiesen werden, der den Wettbewerb treffend als „das effizienteste Mittel zur Gewährleistung materialer Vertragsfreiheit“ bezeichnet hat.280 Wichtigstes Instrument zur Gewährleistung eines funktionierenden Wettbewerbs ist das Kartellrecht. Beim zweiten Aspekt geht es dagegen darum, die „immanenten“ Grenzen der

52.

277  Zu

diesem Zusammenhang vgl. Atiyah/Smith (Fn. 13), 11; vgl. auch Kramer (Fn. 12),

278  Zur Konvergenz beider Ansätze Schmolke, Grenzen der Selbstbindung im Privatrecht (2014), 135. 279 MüKoBGB/Säcker (Fn. 18), Einl. Rn. 38. 280  Canaris, Wandlungen des Schuldvertragsrechts – Tendenzen zu seiner „Materialisierung“, AcP 200 (2000), 273, 293; zur Bedeutung des Wettbewerbs vgl. auch ders. (Fn. 55), 48.

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Vertragsfreiheit zu bestimmen. Entgegen dem früher herrschenden Verständnis geht es also gerade nicht um einen Eingriff „von außen“ zur Verwirklichung außerhalb des Privatrechts gelegener gesellschaftlicher oder sozialer Zwecke. Die neueren Ansätze zur Materialisierung des Vertragsrechts lassen sich somit nahtlos in das traditionelle Konzept der Privatautonomie und der Austauschgerechtigkeit einfügen. 281 Aus rechtstheoretischer Sicht ist von Interesse, dass das Problem der gestörten Vertragsparität bei den meisten Vertretern des „law and economics approach“ in den USA eine untergeordnete Rolle spielt. Es gibt jedoch auch Vertreter dieses Ansatzes, die trotz des abweichenden methodischen Grundkonzepts zu dem Ergebnis gelangen, dass der Vertrag in zwei Fällen seine „Richtigkeitsgewähr“ – hier freilich verstanden im Sinne ökonomischer Effizienz – verliert: bei Marktversagen und bei Störungen des Verhandlungsprozesses. 282

c) Bedeutung des „Informationsmodells“ In den Zusammenhang mit der Sicherung der Vertragsparität gehört auch das „Informationsmodell“ des europäischen Verbraucherschutzrechts, 283 das in allen Mitgliedstaaten der EU umgesetzt wurde. Da die Unterlegenheit des Verbrauchers zu einem großen Teil auf Informationsasymmetrien beruht, entfaltet der Vertrag nur dann eine Richtigkeitschance, wenn er vom Unternehmer über die wesentlichen Aspekte informiert wird. Das „Informationsmodell“ gibt auch eine Antwort auf den in allen Rechtsordnungen diskutierten „Paternalismusvorwurf“. Der Verbraucherschutz stellt keinen paternalistischen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht des Verbrauchers dar. Mit dem Informationsmodell sollen für den Verbraucher vielmehr die Voraussetzungen geschaffen werden, um eine freibestimmte Entscheidung über den Vertragsschluss zu treffen. Es bleibt der von den Vertretern des „behavioral law and economics approach“ formulierte Einwand, dass der Einzelne auch bei optimalen Bedingungen nicht immer „vernünftige“ Entscheidungen trifft.

d) Subjektives und objektives Äquivalenzprinzip (1) Grundtendenz: Vorrang der Kontrolle des Verhandlungsprozesses In allen Rechtsordnungen wird auch darüber diskutiert, was der Gegenstand der „Kontrolle“ sein soll: allein die Fairness des Verhandlungsprozesses oder auch die Angemessenheit des Vertragsinhalts. In der neueren Diskussion be281 

So auch Rödl, in: Grünberger/Jansen (Hrsg.), Privatrechtstheorie heute (2017), 178 ff. oben, II.4.d.(1). 283  Schön, Zwingendes Recht oder informierte Entscheidung – zu einer (neuen) Grundlage unserer Zivilrechtsordnung, FS Canaris, Bd. 1 (2007), 1191, 1193 ff.; Ackermann, Das Informationsmodell im Recht der Dienstleistungen, ZEuP 2009, 230 ff. 282  Vgl.

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steht eine deutliche Tendenz zu der Annahme, dass die Kontrolle in erster Linie beim Verhandlungsprozess ansetzen muss. 284 Lässt sich beim Verhandlungsprozess keine „Störung“ feststellen, so kann der Vertrag grundsätzlich nicht mit dem Argument „korrigiert“ werden, dass er nicht mit der ausgleichenden Gerechtigkeit vereinbar ist. 285 Dies entspricht auch dem Grundgedanken des § 138 Abs. 2 BGB, dem für das deutsche Recht ein gewisser Modellcharakter beigemessen werden kann. 286 Das grobe Missverhältnis von Leistung und Gegenleistung führt hiernach nur dann zur Nichtigkeit des Vertrages, wenn auf Seiten des Benachteiligten Umstände vorlagen, durch die seine Entscheidungsfreiheit beeinträchtigt wurde. Außerdem folgt aus dem Merkmal „Ausbeutung“, dass der Wucherer sich die Unterlegenheit des Benachteiligten bewusst zunutze gemacht haben muss. Dahinter steht der Gedanke, dass die „Richtigkeit“ des Vertragsinhalts nicht an objektiven Kriterien gemessen werden kann. Im Ausgangspunkt gilt also das „subjektive Äquivalenzprinzip. 287 Dieses Verständnis ist Ausfluss einer langen Diskussion über den gerechten Preis („iustum pretium“). 288 Im Common Law entspricht es dem „Bargain-Prinzip“, die Angemessenheit der consideration nicht zu überprüfen. 289 Bei der praktischen Rechtsanwendung ist eine klare Trennung beider Aspekte indes nicht immer möglich. 290 So deutet das Missverhältnis von Leistung und Gegenleistung auf eine Störung des Verhandlungsprozesses hin, die dann doch eine „Korrektur“ rechtfertigen kann. 291

284  Zum primär prozeduralen Charakter der Vertragsgerechtigkeit Canaris, Wandlungen des Schuldvertragsrechts – Tendenzen zu seiner „Materialisierung“, AcP 200 (2000), 273, 283 ff.; aus Sicht des englischen Rechts Macdonald/Atkins (Fn. 138), Rn. 16.3. 285 Vgl. J. W. Flume, Marktaustausch: Grundlegung einer juristisch-ökonomischen Theorie des Austauschverkehrs (2019), 113; Macdonald/Atkins (Fn. 138), Rn. 16.3. 286  BVerfGE 89, 214 = NJW 1994, 36, 39; Canaris, Wandlungen des Schuldvertragsrechts – Tendenzen zu seiner „Materialisierung“, AcP 200 (2000), 273, 287: ders. (Fn. 55), 51 f. Zur parallelen Vorschrift des § 879 Abs. 2 Ziff. 4 ABGB Perner/Spitzer/Kodek, Bürgerliches Recht, 6. Aufl. (2019), 92. 287  Zur Unterscheidung von subjektivem und objektivem Äquivalenzprinzip Canaris, Wandlungen des Schuldvertragsrechts – Tendenzen zu seiner „Materialisierung“, AcP 200 (2000), 273, 283; zum österreichischen Recht vgl. Perner/Spitzer/Kodek (Fn. 286), 205: „subjektive Richtigkeitsgewähr“. 288 Vgl. Säcker (Fn. 18), Einl. BGB Rn. 40; Canaris, Wandlungen des Schuldvertragsrechts – Tendenzen zu seiner „Materialisierung“, AcP 200 (2000), 273, 280, 286. 289  Macdonald/Atkins (Fn. 138), Rn. 4.19. 290  Canaris, Wandlungen des Schuldvertragsrechts – Tendenzen zu seiner „Materialisierung“, AcP 200 (2000), 273, 286 ff.; Atiyah, Contract and fair exchange, University of Toronto Law Journal 35 (1985), 1, 18 ff. 291 Vgl. Macdonald/Atkins (Fn. 138), Rn. 4.20; ebenso aus Sicht des law and economics approach Posner (Fn. 230), 126, wonach die Unangemessenheit der „consideration“ ein Indiz für „duress“, „mistake“, „fraud“ oder eine andere Störung des Verhandlungsprozesses darstellt.

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(2) Anwendungsfelder des objektiven Äquivalenzprinzips In allen untersuchten Rechtsordnungen wird auch darüber diskutiert, unter welchen Voraussetzungen eine Kontrolle des Vertragsinhalts als solchen (im Sinne objektiver Äquivalenz) gerechtfertigt ist. Paradigmatisch ist für das deutsche Recht die Äquivalenzkontrolle bei Darlehensverträgen unter dem Aspekt des wucherähnlichen Geschäfts (§ 138 Abs. 1 BGB). Die Rechtsprechung trägt damit dem Umstand Rechnung, dass die strengen Anforderungen des § 138 Abs. 2 BGB an die Unterlegenheit der anderen Partei und die subjektiven Voraussetzungen auf Seiten des Darlehensgebers häufig nicht vorliegen. 292 Weitere Beispiele sind die Einschränkung der Leistungspflicht bei grobem Missverhältnis von Aufwand und Leistungsinteresse (§ 275 Abs. 2 BGB) und die Anpassung des Vertrages bei Störung der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB). Entsprechende Korrekturmechanismen gibt es seit der Reform des Vertragsrechts von 2016 auch im französischen Recht.293 Im österreichischen Recht ist die laesio enormis nach § 934 ABGB ein weiteres traditionelles Mittel zur objektiven Äquivalenzkontrolle. 294 Für das Common Law ist auf die Institute der „hardship“, der „economic duress“ und der „unconscionability“ zu verweisen. In all diesen Fällen geht es aber nicht um eine positive Richtigkeitskontrolle. Es wird nur groben Missverhältnissen bzw. grob ungerechten Ergebnissen entgegengetreten. 295 Bei Allgemeinen Geschäftsbedingungen erfolgt in allen untersuchten Rechtsordnungen eine Inhaltskontrolle. Diese lässt sich allerdings damit rechtfertigen, dass der Verhandlungsprozess durch die Verwendung von vorformulierten Klauseln gestört wird. 296 Davon abgesehen ist der Inhalt der Hauptleistungspflichten (insbesondere der Preis) einer Inhaltskontrolle entzogen. Die hier allein zulässige Transparenzkontrolle zielt wieder darauf ab, dem Vertragspartner des Verwenders eine „fehlerfreie“ Entscheidung über den Vertragsschluss zu ermöglichen. Auch insoweit lässt sich aber oft eine Wechselwirkung feststellen: Je problematischer der Inhalt der Klausel ist, desto transparenter müssen die Nachteile dargestellt werden. 297 292  Vgl. BGHZ 80, 153, 160; 128, 256, 257; 146, 298, 302; NK-BGB/Looschelders, Bd. 1, 4. Aufl. (2021), § 138 Rn. 222 ff.; parallel dazu hat die österreichische Rechtsprechung den Wuchertatbestand des § 879 Abs. 2 Ziff. 4 ABGB auf fahrlässiges Verhalten des Wucherers ausgedehnt (Perner/Spitzer/Kodek [Fn. 286], 92). 293 S. oben, II.2.b. 294 Vgl. Welser/Zöchling-Jud, Bürgerliches Recht, Bd. II, 14. Aufl. (2015), Rn. 441 ff.; Perner/Spitzer/Kodek (Fn. 286), 205 f.; Bydlinski (Fn. 53), 360; zur laesio enormis im französischen Recht s. oben, II.2.b. 295  Für das deutsche Recht Neuner (Fn. 18), § 10 Rn. 30. 296  Vgl. Erman/Roloff/Looschelders (Fn. 57), Vor § 305 Rn. 1 f.; Canaris, Wandlungen des Schuldvertragsrechts – Tendenzen zu seiner „Materialisierung“, AcP 200 (2000), 273, 321. 297  Krit. zu diesen Tendenzen mit Blick auf das deutsche Versicherungsvertragsrecht

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e) Ethische Schranken der Vertragsfreiheit Ein Ausdruck der Materialisierung besteht auch darin, dass in allen Rechtsordnungen ethische Schranken der Vertragsfreiheit diskutiert werden. Dies gilt selbst für solche Autoren, die grundsätzlich der ökonomischen Analyse des Rechts folgen. Dabei handelt es sich freilich um keine neue Erscheinung. Alle Rechtsordnungen kennen vielmehr seit jeher Institute (z.B. Sittenwidrigkeit), die auf die Einhaltung eines rechtsethischen Mindeststandards abzielen. In modernen, pluralistischen Gesellschaften bereitet die Definition des Mindeststandards aber Probleme. Ein aktuelles Beispiel ist in Deutschland die Diskussion über die Leihmutterschaft. 298

f) Materialisierung durch Konstitutionalisierung In Deutschland geht die „Materialisierung“ des Vertragsrechts mit einer Konstitutionalisierung über die Drittwirkung der Grundrechte einher. Damit ist es in Deutschland gelungen, die in der Verfassung verankerten materiellen Werte in das Vertragsrecht zu übertragen. Oechsler hat die Verfassung daher treffend als „Katalysator“ der Gerechtigkeit im Vertragsrecht bezeichnet. 299 In den anderen untersuchten Rechtsordnungen lässt sich keine vergleichbare Entwicklung feststellen.300 So hat die französische Rechtsprechung die Kontrolle von Bürgschaften naher Angehöriger nicht auf verfassungsrechtliche Prinzipien gestützt.301 Das House of Lords hat in einem ähnlichen Fall mit „undue influence“ argumentiert. Dabei hat es maßgeblich darauf abgestellt, dass die Ehefrau keine unabhängige rechtliche Beratung erhalten hat.302 Umgekehrt hätten die für die Unwirksamkeit von Bürgschaften naher Angehöriger maßgeblichen Kriterien – psychische Zwangslage, Missverhältnis zwischen der Leistungsfähigkeit des Bürgen und der Höhe der Verbindlichkeit, Fehlen ausreichender Information – auch in Deutschland ohne Rückgriff auf verfassungsrechtliche Grundsätze über die Generalklauseln des BGB (§§ 138 Abs. 1, 242 BGB) entwickelt werden können.303 Das BVerfG hat allerdings ­ runs, in: Langheid/Wandt (Hrsg.), Münchener Kommentar zum VersicherungsvertragsgeB setz, Bd. 3, 2. Aufl. (2017), § 307 BGB Rn. 91. 298  Näher dazu MüKoBGB/Wellenhofer, BGB, Bd. 10, 8. Aufl. (2020), § 1591 Rn. 54 ff.; Engel, Internationale Leihmutterschaft und Kindeswohl, ZEuP 2014, 538 ff. 299  Oechsler, Gerechtigkeit im modernen Austauschvertrag (1997), 140. 300  In Österreich wird die Drittwirkung der Grundrechte allerdings ebenfalls diskutiert. So zieht die österreichische Rechtsprechung die Grundrechte bei der Konkretisierung von Generalklauseln (z.B. „gute Sitten“ in § 879 Abs. 1 ABGB) heran (vgl. Perner/Spitzer/Kodek [Fn. 286], 12, 91). 301 S. oben, II.2.c.(5). 302  Royal Bank of Scotland v Etridge (No. 2) [2001] UKHL 44. 303  So auch Unberath, Vertragsfreiheit, in: Basedow/Hopt/Zimmermann (Hrsg.), Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, Bd. II (2009), 1692, 1694. In Österreich geht der

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nur die Möglichkeit, seine Entscheidungen unter Rückgriff auf die Grundrechte zu begründen. Deutlich wird damit, dass die Materialisierung des Vertragsrechts nicht notwendig mit einer Konstitutionalisierung verbunden sein muss. Die Entwicklung in Deutschland dürfte vor allem darauf zurückzuführen sein, dass es in Deutschland ein Bundesverfassungsgericht gibt, das von dem Einzelnen unter dem Aspekt der Grundrechtsverletzung auch gegen die letztinstanzlichen Entscheidungen der Zivilgerichte angerufen werden kann. Ein entsprechendes Instrument steht in Frankreich und England nicht zur Verfügung. Der US-amerikanische Supreme Court prüft zwar auch die Verletzung von Grundrechten; eine mittelbare Drittwirkung von Grundrechten ist jedoch auch im US-amerikanischen Verfassungsrecht nicht anerkannt.304 Welche Auswirkungen die Grundrechte-Charta auf das europäische Privatrecht haben wird, ist noch nicht abzusehen. Der Rechtsprechung des EuGH lässt sich aber bereits entnehmen, dass die Grundrechte und Grundsätze der Charta für die Auslegung große Bedeutung haben.

g) Rechtstechnische Mittel zur Verwirklichung der Materialisierung (1) Sonderprivatrecht für Ungleichgewichtslagen In allen Rechtsordnungen stellt die Schaffung von Sonderprivatrecht für Ungleichgewichtslagen ein wichtiges Instrument zur Umsetzung materieller Ziele dar. Dies gilt vor allem für das Arbeitsrecht, das Mietrecht und das Verbraucherschutzrecht. In den meisten Rechtsordnungen ist das Verbraucherschutzrecht bis heute in besonderen Gesetzen geregelt. Zu nennen sind der Code de la Consommation (Frankreich), der Consumer Rights Act 2015 (Großbritannien) sowie die diversen bundes- und einzelstaatlichen Verbraucherschutzgesetze in den Vereinigten Staaten von Amerika. In Deutschland wurden das AGBG und die Verbraucherschutzgesetze (HWiG, FernAbsG, VerbrKrG, TzWRG) dagegen bei der Schuldrechtsreform in das BGB integriert. Das Verbraucherschutzrecht stellt damit in Deutschland zumindest systematisch keine „Sondermaterie“ mehr dar. In die gleiche Richtung geht die Entscheidung des französischen Gesetzgebers, bei der Reform von 2016 eine Regelung über die AGB-Kontrolle bei contrats d’adhesion in Art. 1171 CC aufzunehmen.

OGH (SZ 68/64) davon aus, dass die vom BVerfG herausgestellten Wertungen „auch für den österreichischen Rechtsbereich anwendbar“ sind, weil das Prinzip der Privatautonomie durch § 879 ABGB („gute Sitten“) begrenzt wird. In der Literatur werden die Kriterien des § 879 Abs. 2 Ziff. 4 ABGB (Wucher) auf Angehörigenbürgschaften entsprechend angewendet (vgl. Welser/Zöchling-Jud [Fn. 294], Rn. 700; Perner/Spitzer/Kodek [Fn. 286], 92). 304  Zu den Gründen für die geringe Bedeutung von Grund- und Menschenrechten im USamerikanischen Privatrecht vgl. Miller (Fn. 220), 577, 579 ff.

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(2) Generalklauseln und „equitable principles“ In Deutschland wurde die Materialisierung von Anfang an auch über Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe verwirklicht. Zentrale Bedeutung haben die Sittenwidrigkeit (§§ 138 Abs. 1, 826 BGB) und der Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB).305 In der französischen Rechtsprechung lässt sich dagegen erst seit den 1980er Jahren eine zunehmende Bedeutung der „bonne foi“ feststellen. Hierbei handelt es sich um eine Entwicklung, die der Gesetzgeber bei der Reform von 2016 in Art. 1104 CC n.F. bestätigt hat. Die englische Rechtsprechung zeigt bei der Verwendung allgemeiner Konzepte zum Ausgleich von „Ungleichgewichtslagen“ große Zurückhaltung. So wird etwa ein allgemeines Konzept der „inequality of bargaining power“ überwiegend abgelehnt.306 Dahinter steht die Überzeugung, dass die Einschränkung der Vertragsfreiheit in erster Linie dem Gesetzgeber obliegt.307 Die englische Rechtsprechung hat daher bislang auch kein allgemeines Prinzip von „good faith“ anerkannt. In neuerer Zeit finden sich aber Entscheidungen, in denen mit „good faith“ argumentiert wird. Bei der AGB-Kontrolle hat der Grundsatz von Treu und Glauben durch die Umsetzung der Klausel-Richtlinie Einzug in das englische Recht gehalten. Im Übrigen gibt es im englischen Recht einige von der Equity entwickelte Grundsätze, die zur Gewährleistung eines „fairen“ Vertrages im Einzelfall herangezogen werden können. In den Vereinigten Staaten von Amerika wird der Grundsatz von „good faith“ in neuerer Zeit von Sect. 1-203 UCC und Sect. 205 Restatement (Second) of Contracts (1979) anerkannt. In der Folge hat der Grundsatz von „good faith“ seit Beginn der 1980er Jahre auch in der US-amerikanischen Rechtsprechung große Bedeutung gewonnen. Daneben enthält das Common Law auch in den Vereinigten Staaten verschiedene von der Equity entwickelte Grundsätze, auf die die Gerichte im Einzelfall zur Vermeidung unbilliger Härten zurückgreifen können.

h) Anerkennung des „Werts“ von privatrechtlichem Eigentum Auch der „Wert“ des privatrechtlichen Eigentums wird in der neueren Diskussion kaum noch infrage gestellt. Die Gesetzgebung hat die Freiheit des Eigentümers zwar in allen westlichen Rechtsordnungen erheblichen Einschränkungen unterworfen, die auf die Sozialbindung des Eigentums gestützt werden. Die 305  Zu vergleichbaren Ansätzen im schweizerischen Recht Berger (Fn. 56), Rn. 195; die österreichische Rechtsprechung ist insoweit dagegen weitaus zurückhaltender (vgl. G. Koziol/H. Koziol, Austrian Private Law [2017], Rn. 47 ff.; Koziol, Glanz und Elend der deutschen Zivilrechtsdogmatik: Das deutsche Zivilrecht als Vorbild für Europa?, AcP 212 [2012], 1, 56 ff.; Staudinger/Looschelders/Olzen [Fn. 63], § 242 Rn. 1173 ff.). 306 S. oben, II.3.c.(4). 307 Vgl. Macdonald/Atkins (Fn. 138), Rn. 16.28.

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Akzentuierung dieser Schranken lässt sich nicht als Ausdruck der kommutativen Gerechtigkeit verstehen. Es handelt sich vielmehr um öffentlich-rechtliche Eingriffe, die den Kriterien der distributiven Gerechtigkeit unterliegen.308 Innerhalb dieses Rahmens ist es aber bei der privatrechtlichen Freiheit des Eigentümers geblieben.309

i) Gewährleistung materieller Gleichheit durch Antidiskriminierungsrecht (1) Einführung von Diskriminierungsverboten Ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts finden sich in allen untersuchten Rechtsordnungen spezielle Gesetze, die sich gegen eine Diskriminierung bestimmter Personengruppen im Hinblick auf die Rasse, das Geschlecht oder andere persönliche Merkmale wenden. Ausgangspunkt dieser Entwicklung sind die USA mit dem Equal Pay Act von 1963 und dem Civil Rights Act von 1964. In Großbritannien haben Antidiskriminierungsgesetze ebenfalls eine lange Tradition. Frühe Beispiele sind der Race Relations Act von 1965, der Equal Pay Act von 1970 und der Sex Discrimination Act von 1975. Im europäischen Recht wird der Grundsatz der Lohngleichheit von Frauen und Männern schon durch den EWGV von 1957 festgeschrieben. Erste Richtlinien wurden ab Mitte der 1970er Jahre erlassen. Besondere Bedeutung haben ab dem Jahr 2000 die vier Antidiskriminierungsrichtlinien erlangt, die in Deutschland durch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz von 2006 umgesetzt wurden.310

(2) Antidiskriminierungsrecht und Materialisierung des Vertragsrechts In welchem Verhältnis Antidiskriminierungsrecht und Materialisierung des Vertragsrechts stehen, wird in der Literatur unterschiedlich beurteilt. Nach einem verbreiteten Verständnis fügt sich das Antidiskriminierungsrecht in die Tendenz zur Materialisierung des Vertragsrechts – verstanden als Mittel zur Gewährleistung der tatsächlichen Voraussetzungen gleicher Vertragsfreiheit – ein.311 Für diese Auffassung lässt sich anführen, dass die Vertragsfreiheit nur im Zusammenwirken mit anderen Privatrechtssubjekten verwirklicht werden kann. Es widerspricht daher der Idee der Vertragsfreiheit, bestimmte Privat308 

Rödl (Fn. 67), 405 ff., 418 ff. Eingehend dazu Auer (Fn. 8), 135 ff., 167. 310 S. oben, II.1.h. 311  So etwa Neuner, Diskriminierungsschutz durch Privatrecht, JZ 2003, 57, 60 ff.; Lomfeld (Fn. 43), 193; Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, 2. Aufl. (2006), Rn. 896b; Stürner (Fn. 3), § 11 Rn. 6 ff.; vgl. auch Coester, Diskriminierungsschutz im Privatrechtssystem, FS Canaris, Bd. 1 (2007), 115, 125; Wendehorst, Privatrechtsdogmatik und Verbraucherschutzrecht, FS Canaris (2017), 681, 684. 309 

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rechtssubjekte aus sachlich nicht gerechtfertigten Gründen zu benachteiligen und damit ihre Chancen auf Abschluss eines frei ausgehandelten Vertrages zu beeinträchtigen.312 Bei genauerer Betrachtung zeigt sich indes, dass das Antidiskriminierungsrecht nicht primär darauf abzielt, die tatsächlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Vertragsfreiheit auf einem „offenen Markt“ abzusichern. Im Vordergrund steht vielmehr der Gedanke, die Menschenwürde und die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen zu schützen. Diskriminierungsverbote greifen daher auch dann ein, wenn die tatsächlichen Voraussetzungen der Vertragsfreiheit und die Funktion des offenen Marktes gewahrt sind, weil der Betroffene nicht existenziell auf das infrage stehende Gut angewiesen ist oder er sich das Gut ohne Weiteres bei anderen Anbietern beschaffen kann. Entscheidend ist, dass der Betroffene sich nicht auf einen anderen Anbieter verweisen lassen muss.313 Der Bekämpfung von Diskriminierungen kommt somit ein eigenständiger Gerechtigkeitswert zu. Es geht nicht um die Gewährleistung gleicher Freiheit, sondern um die Schaffung materieller Gleichheit.314 Zu beachten ist weiterhin, dass die Funktion von Diskriminierungsverboten auch nicht auf die Bekämpfung „sozial verwerflicher Diskriminierungen“ beschränkt ist.315 Mit den Diskriminierungsverboten wird das Privatrecht vielmehr auch „in Dienst genommen“, um bestimmte gesellschaftspolitische Ziele – z.B. die Bekämpfung von Ungleichbehandlungen aus Gründen der Rasse oder der ethnischen Herkunft316 oder die Förderung der Gleichstellung von Frauen und Männern – zu verwirklichen.317 In diesem Sinne sehen Art. 3 Abs. 3, Abs. 2 EUV und Art. 8 AEUV ausdrücklich vor, dass die Union die Gleichstellung von Männern und Frauen fördert. Parallel dazu enthält Art. 23 GR-Charta einen Schutzauftrag, wonach die Gleichheit von Frauen und Männern in allen Bereichen sicherzustellen ist.

312 Vgl. Looschelders, Diskriminierung und Schutz vor Diskriminierung im Privatrecht, JZ 2012, 105, 106. 313  Looschelders, Diskriminierung und Schutz vor Diskriminierung im Privatrecht, JZ 2012, 105, 106 f. 314 Vgl. Coester, Diskriminierungsschutz im Privatrechtssystem, FS Canaris, Bd. 1 (2007), S. 115, 123: „‚Materialisierung‘ der Gleichheit in der Privatrechtsgesellschaft“; Grünberger (Fn. 3), 940: „‚materiales‘ Prinzip personaler Gleichheit“. 315  Missverständlich daher zum AGG Begr. RegE, BT-Drucks. 16/1780, 41. 316  Vgl. Erwägungsgrund 12 Richtlinie 2000/3/EG. 317  Zu gesellschaftspolitischen Diskriminierungsverboten im europäischen Privatrecht vgl. Basedow, Der Grundsatz der Nichtdiskriminierung im europäischen Privatrecht, ZEuP 2008, 230, 236 ff.; speziell zum AGG und zu den zugrunde liegenden Richtlinien Mansel, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz – persönlicher und internationaler Anwendungsbereich, FS Canaris, Bd. 1 (2007), 809, 829; speziell mit Blick auf die Gleichstellung von Frauen Coester-Waltjen, Geschlecht – kein Thema mehr für das Recht?, JZ 2010, 852, 853; krit. Lobinger, in: Isensee (Hrsg.), Vertragsfreiheit und Diskriminierung (2007), 99, 151 ff.

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Für Versicherungsverträge hat der EuGH hieraus den Schluss gezogen, dass eine geschlechtsspezifische Tarifierung auch dann gegen Primärrecht verstößt, wenn die Ungleichbehandlung auf anerkannten versicherungsmathematischen Grundsätzen beruht.318 In den USA findet sich eine parallele Entscheidung des Supreme Court aus dem Jahre 1978. Konkret hat das Gericht auf der Grundlage des Civil Rights Acts 1964 (Titel VII.) eine Ungleichbehandlung wegen des Geschlechts bei der betrieblichen Altersversorgung für unzulässig erklärt. Die tatsächlichen Unterschiede zwischen Männern und Frauen bei der durchschnittlichen Lebenserwartung wurden dabei bewusst außer Betracht gelassen.319 Die vorstehenden Überlegungen zeigen, dass das Antidiskriminierungsrecht nicht nur der kommutativen Gerechtigkeit dient, sondern auch distributive Zwecke verfolgt. Es lässt sich daher nicht vollständig in das Konzept der materiellen Vertragsfreiheit integrieren.320

4. Das Vertragsrecht zwischen ausgleichender und distributiver Gerechtigkeit In allen Rechtsordnungen wird ein intensiver Diskurs über das Verhältnis von kommutativer und distributiver Gerechtigkeit im Vertragsrecht geführt. 321 Das Ergebnis ist nach wie vor offen. Der moderne Sozialstaat hat immerhin dafür gesorgt, dass das Vertragsrecht von der Sorge für die Grundbedürfnisse des Einzelnen weitgehend entlastet wurde.322 Eine gewisse Ausnahme mag für bestimmte Versicherungsverträge gelten. Soweit Versicherungsverträge bei der Absicherung existenzieller Risiken an die Stelle der Sozialversicherung treten (substitutive Krankenversicherung, private Pflegeversicherung), lassen sich jedenfalls besonders starke distributive Elemente feststellen.323 Im Übrigen erscheint es aber gerechtfertigt, das moderne Vertragsrecht primär an den Grundsätzen der ausgleichenden Gerechtigkeit auszurichten. Die neueren Tendenzen zur Materialisierung des Vertragsrechts lassen sich in dieses Konzept integrie318 

EuGH 1.3.2011 – C-236/09, Slg. I 2011, 800 = NJW 2011, 907 – Test Achat. City of Los Angeles Department of Water & Power v. Manhart, 735 U.S. 702 (1978); vgl. dazu Monen (Fn. 220), 268 f. mit dem Hinweis, dass es allein auf die Merkmale des benachteiligten Individuums ankommt. 320  So auch Rödl, in: Grünberger/Jansen (Fn. 281), 178, 185 Fn. 18. 321  Zur Unterscheidung zwischen kommutativer und distributiver Gerechtigkeit Aristoteles, Nikomachische Ethik, übersetzt und kommentiert von Franz Dirlmeier, 4. Aufl. (1967), 1129a ff.; aus der US-amerikanischen Diskussion vgl. etwa Kennedy, Distributive and Paternalist Motives in Contract and Tort Law, with Special Reference to Compulsory Terms and Unequal Bargaining Power, Maryland Law Review 41 (1982), 563 ff.; Kaplow/Shavell (Fn. 234), 933 ff. 322 MüKoBGB/Säcker (Fn. 18), Einl. Rn. 36. 323 Vgl. Looschelders, in: Langheid/Wandt (Hrsg.), Münchener Kommentar zum VVG, Bd. 1, 2. Aufl. (2016), § 1 Rn. 99. 319 

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ren.324 Sie stärken nämlich die ausgleichende Gerechtigkeit. Formale Vertragsfreiheit hat dagegen (unerwünschte) distributive Effekte.325 Der Gesetzgeber ist allerdings nicht daran gehindert, distributive Elemente in das Privatrecht einfließen zu lassen.326 Hiervon hat er in allen untersuchten Rechtsordnungen Gebrauch gemacht. Dies zeigt sich etwa bei der Gefährdungshaftung, deren distributive Wirkungen oft durch die Statuierung einer Pflicht-Haftpflichtversicherung verstärkt werden.327 Dass das Antidiskriminierungsrecht zum Teil auch distributive Ziele verfolgt, wurde bereits dargelegt.328 Im Allgemeinen lassen sich distributive Ziele indes besser über eine öffentlich-rechtliche Regulierung verwirklichen.329 Ein aktuelles Beispiel ist die Organspende.330 Die Abgrenzung von kommutativer und distributiver Gerechtigkeit bleibt allerdings oft schwierig oder undurchführbar.331 So kann Antidiskriminierungsrecht der ausgleichenden oder der distributiven Gerechtigkeit dienen.332 Auch das Verbraucherschutzrecht wird teilweise als Ausdruck der distributiven Gerechtigkeit verstanden.333 Die Zuordnung hängt davon ab, welcher Aspekt in den Vordergrund gestellt wird. So ist etwa der Ausgleich von Informationsasymmetrien ein Akt der verteilenden Gerechtigkeit.334 Er dient aber dazu, die Funktionsbedingungen des Austauschvertrages zu gewährleisten. Da es nur um verschiedene Ausprägungen einer Gerechtigkeit geht, ist die genaue Zuordnung indes nicht entscheidend. 324 

So auch Rödl (Fn. 67), 273; Rödl, in: Grünberger/Jansen (Fn. 281), 178, 185 ff. Prägnant dazu Gilmore (Fn. 14), 95: „It seems apparent to the twentieth century mind, as perhaps it did not to the nineteenth century mind, that a system in which everybody is invited to do his own thing, at whatever cost to his neighbor, must work ultimately to the rich and powerful“. 326 Vgl. Rödl (Fn. 67), 168 ff., 451; Grünberger, Verträge über digitale Güter, AcP 218 (2018), 213, 242; einschränkend Canaris (Fn. 55), 125, wonach die Verwirklichung distributiver Zielsetzungen im Privatrecht besonderer Legitimierung bedarf. 327 Vgl. zum deutschen Recht Larenz/Canaris, Lehrbuch des Schuldrechts, Bd. II/2 (1994), § 84 I 2 c; Rödl (Fn. 67), 168 ff.; Looschelders, Bewältigung des Zufalls durch Versicherung?, VersR 1996, 529, 534. 328 Oben, III.3.i. 329 Vgl. (aus rechtsökonomischer Sicht) Schmolke (Fn. 237), Rn. 324. 330  Auer (Fn. 8), 159; vgl. zu dieser Diskussion auch Trebilcock (Fn. 234), 33 ff. 331  Bydlinski (Fn. 53), 360; Canaris (Fn. 55), 14; Auer (Fn. 8), 68; Grünberger (Fn. 3), 886 ff.; Coester, Diskriminierungsschutz im Privatrechtssystem, FS Canaris, Bd. 1 (2007), 115, 118 ff.; Atiyah, Contract and fair exchange, University of Toronto Law Journal 35 (1985), 1, 2. 332  Zur ambivalenten Einordnung des Antidiskriminierungsrechts Grünberger (Fn. 3), 886 ff. 333 So Wendehorst, Privatrechtsdogmatik und Verbraucherschutzrecht, FS Canaris (2017), 681, 683 ff.; vgl. auch Grünberger AcP 218 (2018), 213, 241. 334  Wendehorst, Privatrechtsdogmatik und Verbraucherschutzrecht, FS Canaris (2017), 681, 683. 325 

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IV. Grundlinien der Entwicklung im Familienund Erbrecht 1. Familienrecht Im Eherecht hat die Gleichberechtigung von Frauen und Männern in allen westlichen Rechtsordnungen Einzug gehalten. In neuerer Zeit lässt sich zudem eine allgemeine Tendenz zur Anerkennung gleichgeschlechtlicher Ehen oder Partnerschaften verzeichnen.335 Die Gleichberechtigung der Frau schlägt sich auch bei der Ausgestaltung der elterlichen Sorge nieder.336 Gleichzeitig wurden die Rechte der Kinder gestärkt. Dies zeigt nicht zuletzt die UN-Kinderrechtskonvention vom 20.11.1989, die von fast allen Mitgliedstaaten der UNO ratifiziert worden ist. Wichtigste Ausnahme sind die Vereinigten Staaten von Amerika. Im deutschen Kindschaftsrecht stellt das Kindeswohl das zentrale Kriterium dar, das in zahlreichen Vorschriften (z.B. § 1626 Abs. 3, 1666 Abs. 1, 1697a BGB) verwendet wird.337 Es handelt sich um eine Generalklausel, bei deren Konkretisierung dem Grundrecht des Kindes auf Schutz und Achtung seiner Persönlichkeitsentfaltung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) maßgebliche Bedeutung zukommt. In diesem Licht ist auch das Elternrecht nach Art. 6 Abs. 2 GG zu verstehen.338 Insofern kann für das deutsche Recht wieder von einer Konstitutionalisierung des Privatrechts gesprochen werden. In der EU stellt Art. 24 der GR-Charta das Kindeswohl in den Vordergrund. Für die Rechtsstellung nichtehelicher Kinder hat die Rechtsprechung des EGMR zur EMRK in Europa große Bedeutung erlangt.339

2. Erbrecht Im Erbrecht wurde die Diskriminierung nichtehelicher Kinder im Lauf des 20. Jahrhunderts ebenfalls überwunden.340 Bei der Testierfreiheit lassen sich keine Materialisierungstendenzen feststellen. Hier ist es bei den äußeren Gren-

335 Rechtsvergleichende Darstellungen der Entwicklung bei Dethloff, Familienrecht, 32. Aufl. (2018), § 3 Rn. 60 f.; Coester-Waltjen, Die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe in ausgewählten Rechtsordnungen, ZEuP 2018, 320 ff. 336  Zu diesem Zusammenhang Schwab, Familienrecht, 29. Aufl. (2021), Rn. 640. 337  Dethloff (Fn. 335), § 13 Rn. 2; Schwab (Fn. 336), Rn. 798 ff. 338  Vgl. dazu BVerfG NJW 2010, 2336 Rn. 25 ff. 339  Vgl. insbes. EGMR 1979, 2449 – Marckx; zusammenfassend Dethloff (Fn. 335), § 9 Rn. 13 ff. 340  Zum deutschen Recht Olzen/Looschelders, Erbrecht, 6. Aufl. (2020), Rn. 26 ff.; aus der Rechtsprechung des EGMR vgl. zuletzt EGMR ZEuP 2018, 948 m. Anm. Hergenröder – Wolter und Safert/Deutschland.

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zen der Privatautonomie geblieben.341 So kommt auch dem Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) im deutschen Erbrecht keine große Bedeutung zu.342 Da die Aussicht der potentiellen Erben auf die Erbschaft rechtlich nicht geschützt ist, können deren Interessen im Allgemeinen außer Acht gelassen werden. Die nächsten Angehörigen werden in den kontinentaleuropäischen Staaten durch Pflichtteils- oder Noterbrechte geschützt.343 Dem englischen Recht sind solche Rechte dagegen fremd. Der Ehegatte und die nächsten Verwandten werden aber dadurch geschützt, dass die Gerichte ihnen eine finanzielle Unterstützung aus dem Nachlass nach dem Inheritance (Provision for Family and Dependance Act) 1975 zusprechen können.344 In den USA sehen fast alle Bundesstaaten für Abkömmlinge keine Pflichtteilsrechte vor. Der überlebende Ehegatte kommt dagegen meist in den Genuss eines Pflichtteils oder einer güterrechtlichen Versorgung.345 Distributive Gerechtigkeit wird mit dem Erbrecht durchweg nicht angestrebt. Für diese Zwecke stellt das Erbschaftssteuerrecht geeignetere Instrumente zur Verfügung.346

V. Fazit Zusammenfassend ist festzustellen, dass im Verlauf des 20. Jahrhunderts in allen untersuchten Rechtsordnungen eine mehr oder weniger starke Einflussnahme materieller Wertungen auf das Vertragsrecht festzustellen ist. Die Parallelität dürfte vor allem darauf beruhen, dass die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen in den betreffenden Ländern vergleichbare Gerechtigkeitsfragen hervorriefen.347 Diese Entwicklung wurde zunächst von vielen als systemfremder Eingriff in das hergebrachte Vertragsrecht verstanden 341 Vgl. Olzen/Looschelders (Fn. 340), Rn. 244 ff.; Looschelders, Diskriminierung und Schutz vor Diskriminierung im Privatrecht, JZ 2012, 105, 112. 342 Staudinger/Looschelders/Olzen (Fn. 63), § 242 Rn. 976 ff. 343 Vgl. Olzen/Looschelders (Fn. 340), Rn. 1050 ff.; zum österreichischen Pflichtteilsrecht Welser/Zöchling-Jud (Fn. 288), Rn. 1830. Die meisten romanischen Rechtsordnungen sehen Noterbrechte vor, vgl. zum französischen Recht NK-BGB/Frank, Bd. 5, 6. Aufl. (2022), Länderbericht Frankreich, Rn. 125 ff. 344  Vgl. NK-BGB/Odersky, Bd. 5, Erbrecht, 6. Aufl. (2022), Länderbericht Großbritannien Rn. 52 ff. 345  Zu den Einzelheiten NK-BGB/Odersky (Fn. 344), Länderbericht USA Rn. 49 ff. 346  Zum deutschen Erbschaftssteuerrecht vgl. NK-BGB/Reichthalhammer, Bd. 5, 6. Aufl. (2022), Anh. I zu §§ 1922 ff. Rn. 1 ff.; Olzen/Looschelders (Fn. 340), Rn. 1330 ff.; zu Frankreich Gottschalk ZEV 2011, 464. 347  Zu einem frühen soziologischen Erklärungsansatz vgl. M. Weber (Fn. 2), 506 mit dem Hinweis, dass „mit dem Erwachen moderner Klassenprobleme materiale Anforderungen an das Recht“ entstehen. In neuerer Zeit wird oft darauf verwiesen, dass die Entwicklung des modernen Wohlfahrtstaats in den westlichen Staaten auch das Gerechtigkeitsdenken im Privatrecht entscheidend geprägt hat (vgl. etwa Renner [Fn. 10], 821, 829).

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und als „Krise des liberalen Vertragsdenkens“ wahrgenommen. In neuerer Zeit ist es aber gelungen, die Materialisierung des Vertragsrechts mit dem Gedanken der Vertragsfreiheit in Einklang zu bringen. Die Materialisierung hat dabei die Aufgabe, die tatsächlichen Voraussetzungen für einen freien und selbstbestimmten Vertragsschluss durch den Einzelnen zu schaffen. Dabei kommt dem Konzept der „gestörten Verhandlungsparität“ eine zentrale Rolle zu. Im Einzelfall kann auch die grobe Unangemessenheit des Vertragsinhalts relevant werden. Auch die Indienstnahme des Vertragsrechts für distributive Ziele ist grundsätzlich legitim. Seit den 1960er Jahren gibt es in den USA und in Großbritannien Antidiskriminierungsrecht. Deutschland und Frankreich sind später unter Umsetzung europäischer Richtlinien gefolgt. Im Vordergrund stand in allen Rechtsordnungen zunächst das Verbot von Diskriminierungen aus Gründen der Rasse oder wegen des Geschlechts; weitere Merkmale (z.B. Alter, Behinderung, sexuelle Orientierung) kamen erst später hinzu. Das Antidiskriminierungsrecht zielt nicht primär darauf ab, die tatsächlichen Voraussetzungen für einen „selbstbestimmten“ Vertragsschluss sicherzustellen. Es geht um die personale Anerkennung der Betroffenen im Sinne materieller Gleichheit. Teilweise tritt die Verwirklichung gesellschaftspolitischer Ziele hinzu. Das Antidiskriminierungsrecht dient damit auch der distributiven Gerechtigkeit. Im Familien- und Erbrecht steht der Gedanke der Gleichheit im Vordergrund. Dazu gehören die Gleichberechtigung von Frauen, die Gleichstellung nichtehelicher Kinder sowie die Anerkennung gleichgeschlechtlicher Ehen oder Partnerschaften. Bei der Prüfung des Kindeswohls lassen sich Tendenzen zu einer Materialisierung feststellen. Im Erbrecht hat der Gedanke der Materialisierung dagegen nicht zu Einschränkungen der Testierfreiheit geführt.

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Gleichheit bei Rechtsvielfalt? Rechtsvergleichung, Rechtsvereinheitlichung, Internationales Privatrecht Ralf Michaels I. Thema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Disziplinen der Rechtsvielfalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Probleme der Gleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Konstellationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Gegensätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Kontingenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Struktur des Artikels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Gleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Rechtsvergleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Dogmatische Gleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Funktionale Gleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Politik der Gleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Rechtsvereinheitlichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Nationale Rechtsvereinheitlichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Internationale Rechtsvereinheitlichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Internationales Privatrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allseitige Kollisionsnormen als Ausdruck der Gleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Friktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Gleichheitssatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Gleichheitssatz als Grundlage des IPR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Gleichheitssatz als Beschränkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der Gleichheitssatz als Inhalt des ordre public . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Entscheidungseinklang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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III. Singularität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Rechtsvergleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Affektive Singularität: Recht als Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) „Differenztheoretiker“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rationale Singularität: Demokratische Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . B. Rechtsvereinheitlichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Affektive Singularität: Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Singularität als Argument gegen Rechtsvereinheitlichung . . . . . . . . . . . . . b) Gegenargumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rationale Singularität: Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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a) Nationale politische Selbstbestimmung als Argument gegen Rechtsvereinheitlichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Wettbewerb der Rechtsordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Internationales Privatrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Affektive Singularität: Kulturelles Kollisionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rationale Singularität 1: Kollektive Selbstbestimmung durch Governmental Interests . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rationale Singularität 2: Individuelle Selbstbestimmung durch Rechtswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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IV. Gleichheit in Differenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Rechtsvergleichung: Funktionale Äquivalenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Funktionale Rechtsvergleichung und Funktionsäquivalenz . . . . . . . . . . . . . . 2. Gleichwertigkeit der Rechtsordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Rechtsvereinheitlichung: Harmonisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Harmonisierung als Gleichheit in Differenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gegenseitige Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Funktionale Äquivalenz in der Rechtsvereinheitlichung . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Internationales Privatrecht: Gleichwertigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Dogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gleichwertigkeit der Rechtsordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. „Dritte Schule“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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V. Jenseits von Gleichheit und Singularität? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Projektion von Gleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rechtsvergleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtsvereinheitlichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Internationales Privatrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Projektion von Differenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rechtsvergleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtsvereinheitlichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Internationales Privatrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Dekolonialität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gleichheit und Differenz als Erzeugnisse europäischer Moderne . . . . . . . . . 2. Pluriversalität und Delinking . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Eine Skizze möglicher Auswirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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VI. Zusammenfassung in Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  190

I. Thema Am 10. Oktober 2017 entschied das deutsche Bundesverfassungsgericht, der Gesetzgeber müsse es Intersexuellen ermöglichen, für sich ein drittes Geschlecht eintragen zu lassen.1 Das Gericht entschied damit für das deutsche Recht anders als die französische Cour de Cassation in Frankreich, die im Mai 1  BVerfG 10.10.2017 1 BvR 2019/16, BVerfGE 147, 1. Ebenso in Österreich VerfGH G 77/2018, VfSlg 20258; in Belgien Cour const. 19.6.2019 – Nr. 99/2019, https://www.constcourt.be/public/f/2019/2019-099 f.pdf (alle URLs wurden zuletzt am 15.02.22 abgerufen); vgl. Schulz, Geschlechtervielfalt in Europa – Art. 8 EMRK als Katalysator der mitgliedstaatlichen Rechtsentwicklung, ZEuP 64 (2021), 64, 70 f., 71 f.

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desselben Jahres einen dementsprechenden Antrag abgelehnt hatte. 2 Ein französischer Wissenschaftler nahm beide Urteile zum Anlass zu einer vergleichenden Anmerkung mit dem Titel „Autre sexe outre-Rhin? Plaisante justice qu’une rivière borde…“ 3 Zitiert wird ersichtlich Blaise Pascal: „Plaisante justice qu’une rivière borne! Vérité au-deçà des Pyrénées, erreur au-delà.“4 Rechtsvereinheitlicher berufen sich gern auf dieses Zitat, um die Vereinheitlichung des Rechts zu begründen.5 Rechtsvergleicher stellen damit die Rechtsunterschiede als begründungsbedürftig dar, die Gleichheit als im Grunde natürlicher.6 Und Kollisionsrechtler zitieren nicht nur Pascal,7 sondern auch die spöttischen Verse von Thurman Arnold, in denen dieser mit dem scheinbaren Paradox hinkender Statusverhältnisse die ganze Disziplin aufs Korn nimmt:8 Liable one place but not in another Son of his father, but not of his mother Married in Sweden, but only a lover in Pious dominions of Great Britain’s Sovereign. 2  Civ.

1re, 4 mai 2017, D. 2017.1399; Schulz (Fn. 1), 73 f. Moron-Puech, Autre sexe outre-Rhin „Plaisante justice qu’une rivière borde …“, Rec. Dalloz 2018, 73–74. Siehe auch ders., The Legal Status of Intersex Persons in France, in: Scherpe/Dutta/Helms (Hrsg.), The Legal Status of Intersex Persons (2018), 305–318. 4  Pascal, Pensées (3. Aufl. 1671), 185, http://kaempfer.free.fr/oeuvres/pdf/pascal-pensees. pdf. Vgl. dazu Schneider, Pascals plaisante justice, ARSP 39 (1950/1951), 79–89. Obwohl regelmäßig Pascal zitiert wird, stammt das Bild ursprünglich von de Montaigne, Les Essais (1580/1965) II, 12, S. 579 f.: „Quelle bonté est-ce que je voyois hyer en credit, et demain plus, et que le trajet d’une riviere faict crime? Quelle verité que ces montaignes bornent, qui est mensonge au monde qui se tient au delà? Mais ils sont plaisans quand, pour donner quelque certitude aux loix, ils disent qu’il y en a aucunes fermes, perpetuelles et immuables, qu’ils nomment naturelles, qui sont empreintes en l’humain genre par la condition de leur propre essence.“ 5 Vgl. Philips, Erscheinungsformen und Methoden der Privatrechts-Vereinheitlichung (1965), 7; Kötz, Rechtsvereinheitlichung – Nutzen, Kosten Ziele, RabelsZ 50 (1986), 1,1; Deth­ loff, Arguments for the Unification and Harmonisation of Family Law in Europe, in: Boele-­ Woelki (Hrsg.), Perspectives for the Unification and Harmonisation of Family Law in Europe (2003), 37 (37); Calliess/Buchmann, Global commercial law between unity, pluralism, and competition: the case of the CISG, Unif. L. Rev. 21 (2016), 1, 6. 6 Etwa Ancel, La fonction judiciaire et le droit comparé, Rev. int. dr. comp. (1949), 57, 64; Merryman, On the Convergence (and Divergence) of the Civil Law and the Common Law, Stan. J. Int’l L. 17 (1981), 357, 357; Glenn, Quel droit comparé?, Revue de droit Université de Sherbrooke 43 (2013), 23, 25; Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode (2009), 31 Fn. 173; Canaris, Theorienrezeption und Theorienstruktur, in: Leser (Hrsg.), Wege zum japanischen Recht, FS Kitagawa (1992), 59, 92 f. 7 Schon Mailher de Chassat, Traité des Statuts (1845), 18; daneben etwa Neuhaus, Legal Certainty versus Equity in the Conflict of Laws, Law & Contemp. Probs. 28 (1963), 795, 806; Kreuzer, La propriété mobilière en droit international privé, Rec. des Cours 259 (1996), 9, 141; Lalive, Tendances et méthodes en droit international privé, Rec. des Cours 155 (1977), 38; Siehr, International Art Trade and the Law, Rec. des Cours 243 (1993), 9, 56. 8  Arnold, Fair Fights and Foul: A Dissenting Lawyer’s Life (1965), 21. 3 

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A. Disziplinen der Rechtsvielfalt Pascal verbindet also die drei Disziplinen, deren Thema die Rechtsvielfalt ist und die ich im Folgenden als „Disziplinen der Rechtsvielfalt“ zusammenfassen möchte.9 Rechtsvielfalt (oder Rechtspluralität) bezeichnet dabei nicht mehr und nicht weniger als das Phänomen, dass es mehr als ein Recht gibt und dass die verschiedenen Rechte in einem Verhältnis zu einander stehen. Dieses Verhältnis ist freilich in den unterschiedlichen Disziplinen jeweils ein anderes. Der Umgang mit Intersexuellen betrifft Fragen der Rechtsvergleichung (was erklärt, was legitimiert die Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich?),10 des Internationalen Privatrechts (was ist der Status eines Intersexuellen, der die Grenze überschreitet?)11 und der Rechtsvereinheitlichung – muss die Frage europaweit einheitlich geregelt werden?12 Man könnte meinen, zwischen den drei Disziplinen bestünde bezüglich ihres Verhältnisses zur Gleichheit, jedenfalls zwischen den Rechten, eine Form der Arbeitsteilung. Danach wäre dann die Rechtsvereinheitlichung für die Gleichheit zuständig, das internationale Privatrecht für die Differenz (den conflict of laws, die Rechtskollision) und die Rechtsvergleichung dafür festzustellen, ob Gleichheit oder Differenz vorliegt. Tatsächlich ist es aber komplizierter. Alle drei Disziplinen haben ein durchaus komplexes Verhältnis zur Gleichheit. Zur Rechtsvereinheitlichung gehört die Rechtspluralität als notwendiges Gegenstück: wenn die Rechtsvereinheitlichung Differenz überwinden will, muss sie sich schon deshalb damit befassen. Rechtsvereinheitlichung wird – notwendigerweise – nur da relevant, wo Rechtspluralität existiert. Und ihre Legitimität muss sie daher immer primär gegenüber der Pluralität beweisen. Zudem erzeugt  9  Die vierte Disziplin der Rechtsvielfalt, so könnte man sagen, sei der Rechtspluralismus (umfassend dazu Seinecke, Das Recht des Rechtspluralismus [2015]; Berman [Hrsg.], The Oxford Handbook of Global Legal Pluralism [2020]; Tamanaha, Legal Pluralism Explained: History, Theory, Consequences [2021]). M.E. bestehen wichtige Verbindungen zur Rechtsvereinheitlichung (Michaels, Legal Unification – Form and Substance [unveröffentlicht]), zur Rechtsvergleichung (Michaels, Transnationalizing Comparative Law, MJ 23 [2016], 352) und zum Internationalen Privatrecht (Michaels, Global Legal Pluralism and Conflict of Laws, in: Berman [diese Fn.], 629). Selbstverständlich ist auch für den Rechtspluralismus das Thema der Gleichheit relevant; siehe nur etwa Shepard, Equality Through the Prism of Legal Pluralism, in: Provost/Sheppard (Hrsg.), Dialogues on Human Rights and Legal Pluralism (2013), 129–143. Aber gerade weil der Begriff des Rechtspluralismus gern umfassend mit dem hier verwandten Oberbegriff der Rechtsvielfalt synonym verwandt wird, ist eine separate Behandlung entbehrlich. 10 Scherpe/Dutta/Helms (Fn. 3); Gössl/Völzmann, Legal Gender Beyond the Binary, International Journal of Law, Policy and The Family 33 (2019), 403– 429. 11  Gössl, From question of fact to question of law to question of private international law: the question whether a person is male, female, or …?, J. Priv. Int’l L. 12 (2016), 261– 280; Dutta/Pintens, Private International Law Aspects of Intersex, in: Scherpe/Dutta/Helms (Fn. 3), 413 ff. 12 So Moron-Puech (Fn. 3) auf Basis des deutschen Rechts; vgl. auch Schulz (Fn. 1).

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Rechtsvereinheitlichung immer auch Ungleichheit mit dem nicht vereinheitlichten Recht. Das CISG, um ein bekanntes Beispiel zu nennen, erzeugt Gleichheit zwischen den Vertragsstaaten, aber Ungleichheit innerhalb ihrer Rechtsordnung, nämlich zwischen internationalen und nationalen Sachverhalten. Eine ähnliche Ambivalenz zeigt sich im Internationalen Privatrecht. Ebenso wie die Rechtsvereinheitlichung nicht nur mit Gleichheit, sondern auch mit Pluralität zu tun hat, so geht das internationale Privatrecht zwar von einer Situation der Pluralität aus,13 antwortet aber häufig mit Gleichheit: im Entscheidungseinklang etwa, aber auch etwa im Institut des false conflict, der – jedenfalls in seiner einen Variante – Gleichheit der jeweiligen governmental interests voraussetzt. Und ebenso wie bei der Rechtsvereinheitlichung stellt sich auch im Internationalen Privatrecht immer der Konflikt zwischen äußerem und innerem Entscheidungseinklang, geht also Gleichheit in der einen Richtung immer mit Pluralität in der anderen Richtung einher.14 Offensichtlich wird das Zusammengehen schließlich in der Rechtsvergleichung. Hier fragt man häufig, ob es um Gleichheit oder Differenz gehe.15 Das erscheint zunächst bizarr. Offensichtlich, so sollte man meinen, geht es um beides. „Comparability requires unity and plurality“ sagt Catherine Valcke zurecht;16 Ruth Sefton-Green bezeichnet die Rechtsvergleichung als „zweiköpfiges Monster“, das sowohl Gleichheit als auch Unterschied erkennen soll.17 Andererseits zeigt sich gerade in der Schwerpunktsetzung, wie die Disziplin sich selbst und ihre Aufgabe versteht, ob sie also eher auf die Feststellung von Gleichheit oder von Differenz achten soll. 13  Boden, Le pluralisme juridique en droit international privé, Arch. phil. droit 49 (2005), 275–316 ; van Hoek, Managing Legal Diversity – New Challenges for Private International Law, Hague Yearbook of International Law 24 (2011), 25–45 und NIPR 30 (2012), 362–370; Muir Watt, Jurisprudence Without Confines: Private International Law as Global Legal Pluralism, Cam. J. Int’l. L. 5 (2016), 388–403. 14  Kegel/Schurig, Internationales Privatrecht (9. Aufl. 2004), 139 ff. 15  Nachweise bei Dannemann, Comparative Law: Study of Similarities or Differences?, in: Reimann/Zimmermann (Hrsg.), The Oxford Handbook of Comparative Law (2. Aufl. 2018), 390–422. 16  Valcke, Comparative Law as Comparative Jurisprudence – The Comparability of Legal Systems, Am. J. Comp. L. 52 (2004), 713–740, 720 f.; etwas anders dies., Comparing Law – Comparative Law as Reconstruction of Collective Commitments (2018), 61: Distinctness and connectedness. Zust. etwa Hirschl, Comparative Matters – The Renaissance of Comparative Constitutional Law (2014), 204 f. 17  Sefton-Green, Compare and Contrast: Monstre à deux têtes, Revue internationale de droit comparé, 54 (2002), 85–95; englische Version unter demselben Titel in Global Jurist ­Advances 1/3 (2001). Genauer spräche man vielleicht von der „Janusköpfigkeit“, wo Gleichheit und Differenz gleichermaßen begründungsbedürftig sind, so zum Gleichheitssatz etwa Pöschl, Über Gleichheit und Verhältnismäßigkeit, JBl 1997, 413–434. Aber selbst damit ist noch nicht ausgedrückt, dass Gleichheit und Differenz einfach nur zwei Seiten einer Differenzierung sind; vgl. Luhmann, Der Gleichheitssatz als Form und als Norm, ARSP 77 (1991), 435–445 und sogleich unter B.3.

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Kurz gesagt: weil der Frage nach der Gleichheit immer diejenige nach ihrem Gegenstück, der Differenz, notwendig innewohnt, lässt sich der Umgang mit Gleichheit nicht einfach durch Arbeitsteilung zwischen den Disziplinen lösen. Jede der Disziplinen behandelt beide Seiten der Medaille. Eine sinnvolle Forschungsfrage ist dann nicht die, ob eine Disziplin der Gleichheit oder der Differenz verhaftet ist, sondern vielmehr, in welcher Form sie das Verhältnis von Gleichheit und Differenz verhandelt. Da nun die Disziplinen der Rechtsvielfalt sich ganz wesentlich durch Rechtspluralität und damit Differenz zwischen Rechtsordnungen definieren, geht eine solche Untersuchung notwendig an die Grundlagen der Disziplinen. Damit kann sie aber vielleicht, und das ist das zweite Forschungsinteresse, auch Licht auf die Frage werfen, warum das Thema der Gleichheit und der Differenz so prominent ist, und zwar in der Form, in der es behandelt wird. Damit verbunden ist die Frage, ob Alternativen zu diesem Fokus bestehen.

B. Probleme der Gleichheit Dass das Verhältnis der drei Disziplinen zur Gleichheit kompliziert ist, hängt damit zusammen, dass der Begriff der Gleichheit seinerseits Probleme aufwirft, und zwar besonders auch im Rahmen der Rechtsvielfalt.

1. Inhalt Erste Probleme betreffen den Inhalt der Gleichheit.18 Was ist gemeint? Formale Gleichheit oder inhaltliche Gleichheit? Ist die materiale Gleichheit umfasst?19 Gleichheit der Ausgangsposition oder Gleichheit des Ergebnisses?20 Wie ist das Verhältnis zwischen similarity und equality, die man beide als Gleichheit übersetzen kann, die aber ganz Unterschiedliches ausdrücken? Ist das rechtsphilosophische und verfassungsrechtliche Postulat, man müsse Gleiches gleich behandeln, Ungleiches aber ungleich, nur eine Tautologie, oder verbindet es unterschiedliche Konzepte der Gleichheit? All das sind Fragen, die im Rahmen dieses Textes nicht abstrakt diskutiert werden, sondern nur in konkreten Konstellationen immer wieder angesprochen werden. Denn es sind Fragen, die nicht speziell für die Disziplinen der Rechtsvielfalt sind, freilich auch für diese wichtig sind. 18  Vgl. z.B. Satz, Equality of What among Whom? Thoughts on Cosmopolitanism, Statism and Nationalism, NOMOS 41 (1999), 67–85; Waldron, One Another’s Equals – The Basis of Human Equality (2017), 9 ff. und passim. 19  Ein Thema, das in letzter Zeit verstärkt Interesse erzeugt hat; siehe nur Piketty, Ökonomie der Ungleichheit – eine Einführung (2016). 20 Vgl. Menke, Spiegelungen der Gleichheit (2004), 22 ff. und passim.

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2. Konstellationen Spezifisch für die Rechtsvielfalt ist dagegen, dass die Frage der Gleichheit in mehreren Konstellationen auftreten kann. Die Frage nach dem Recht Intersexueller auf Eintrag zeigt das deutlich. In Deutschland wird ein solches Recht (unter anderem) mit dem Erfordernis begründet, Intersexuelle den herkömmlichen Geschlechtern (männlich/weiblich) gleichzustellen. 21 Aus transnationaler Sicht stellt sich dagegen die Frage, ob Intersexuelle in Frankreich wie diejenigen in Deutschland behandelt werden müssen. Innerstaatlich fordern wir Gleichheit im Recht. Bei Rechtsvielfalt fragt sich sogleich: vor welchem Recht? Innerstaatlich bildet das bestehende Recht die Grundlage für Beurteilungen, muss aber seinerseits seine Legitimität nicht erst begründen. Bei Rechtsvielfalt hingegen stellt sich zudem die Frage nach der Gleichheit der Rechtsordnungen. Der Autor der französischen Anmerkung argumentiert implizit, dass die Gleichbehandlung innerhalb Deutschlands notwendig die Gleichbehandlung zwischen Frankreich und Deutschland erfordere. Und in der Tat scheint ja der Gleichheitssatz zunächst einmal keinen Unterschied zwischen innerstaatlichen und zwischenstaatlichen Situationen zu machen. In der Realität kann das aber durchaus einen Unterschied machen und zu Spannungen führen. 22 Wenn mehrere Relationen angesprochen sind, besteht die Möglichkeit, dass Gleichheit in einer Relation durch Ungleichheit in einer anderen Relation erkauft werden muss, dass also Gleichheit ihrerseits notwendig relativer Art ist. Wenn etwa, wie weitreichend bis Mitte des 20. Jahrhunderts und teilweise noch heute, alle Staaten einander darin gleichen, Männer und Frauen ungleich zu behandeln, dann bewirkt die Gleichstellung von Männern und Frauen innerhalb eines besonders progressiven Staates gleichzeitig die Gleichheit von Frauen mit Männern innerhalb des Staates und die Ungleichheit von Frauen innerhalb des Staates mit Frauen in anderen Staaten. Wengler hat in einem frühen scharfsinnigen Aufsatz zum Thema drei verschiedene Bereiche der (Un-)gleichbehandlung unterschieden: die Ungleichbehandlung innerhalb einer Rechtsordnung, die (interregionale oder internationale) Ungleichbehandlung zwischen verschiedenen Rechtsordnungen und die (Un-)gleichbehandlung nationaler und internationaler Sachverhalte. 23 Er hat damit auch schon erkannt, dass die Frage nach Gleichheit und Ungleich21 

Mangold, Demokratische Inklusion durch Recht (2021), 415. Vgl. zum Problem im IPR Dannemann, Die ungewollte Diskriminierung in der internationalen Rechtsanwendung (2004), 153 ff. 23  Wengler, Rechtsgleichheit und Vielheit der Rechte, in: von Caemmerer/Friedenhahn/ Lange (Hrsg.), Hundert Jahre Deutsches Rechtsleben – Festschrift zum hundertjährigen Bestehen des Deutschen Juristentages (1960), 239–304; etwas andere englische Fassung Wengler, The Significance of the Principle of Equality in the Conflict of Laws, L. & Contemp. Probs 28 (1963), 822–859. 22 

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heit nicht allgemein mit ja oder nein beantwortet werden kann. 24 Freilich taucht auch schon bei Wengler der Gedanke auf, dass ein Postulat vollständiger Gleichbehandlung die Rechtsetzung fast völlig unmöglich machen würde, weil das Recht, wann immer es an bestimmte Tatbestandsmerkmale bestimmte Rechtsfolgen knüpft, diese Tatbestandsmerkmale als Kriterien für die Diskriminierung, also die Ungleichbehandlung, nutzt. 25 Eine wichtige Frage innerhalb des Staates ist demnach diejenige, welche Kriterien für die Ungleichbehandlung nicht herangezogen werden dürfen. Zwischen unterschiedlichen Rechten entspricht dem die Frage, ob aufgrund bestimmter kollisionsrechtlicher Anknüpfungen ungleich behandelt werden darf. Wer die internationalprivatrechtliche Anknüpfung, wie teilweise vor dem Spanier-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vertreten, als rein technische Operation ohne normativen Gehalt versteht, für den stellt sich diese Frage überhaupt nicht. 26 Wer andererseits jedwede Unterscheidung aufgrund irgendwelcher Anknüpfungskriterien ablehnt, muss dann Rechtsvielfalt insgesamt aufheben und Einheitsrecht an ihre Stelle setzen. Eine andere wichtige Frage ist diejenige, was Ungleichbehandlung bedeutet. Bedeutet Gleichheit Gleichmacherei oder umgekehrt, die diskriminierte Person gerade in ihrer Eigenheit gleichzusetzen? Auch diese Frage besteht nicht nur im Staat (und lässt sich in der Diskussion zum dritten Geschlecht besonders gut erkennen); sie besteht auch bei der Rechtsvielfalt. Bedeutet Gleichheit, dass verschiedene Rechtsordnungen als einander gleich erkannt, vielleicht sogar einander gleich gemacht werden müssen? Oder bedeutet sie umgekehrt, dass verschiedene Rechtsordnungen gerade in ihrer Eigenständigkeit anerkannt werden müssen?

3. Gegensätze Damit zeigt sich indes im Thema schon die Dialektik des Gleichheitskonzepts. Der logische Gegensatz zur Gleichheit wäre die Ungleichheit, 27 oder die Differenz. Insbesondere in der Rechtsvergleichung ist die Frage nach Gleichheit oder Differenz relativ weit verbreitet, wie weiter unten ausgeführt wird. Besonders ertragsreich ist die Frage nach der Präferenz so abstrakt indes nicht, denn die Frage nach der Differenz ist ja bei der Frage nach der Gleichheit notwendig mitbetroffen: „Wer Gleichheit sagt, sagt auch Ungleichheit; oder zumindest setzt er sich der Frage aus, was denn in Bezug auf das, was er als gleich bezeichnet, ungleich 24 

Wengler (Fn. 23), 240. Wengler (Fn. 23), 241 f. 26  BVerfGE 31, 58; vgl. Fischer, Die Gleichberechtigung im IPR nach dem Spanier-Beschluss des BverfG, JZ 1974, 661–665. 27 Vgl. Ritsert, Gerechtigkeit, Gleichheit, Freiheit und Vernunft: Über vier Grundbegriffe (2012), 37 ff. 25 

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sei.“28 Luhmann, von dem das Zitat stammt, geht noch weiter: „mehr Gleichheit heißt mehr Ungleichheit. Man kann das eine nicht ohne das andere haben.“29 Mehr verspricht der häufig behauptete Gegensatz zwischen Gleichheit und Freiheit, der indes auch nicht überall passt. Gewiss kann hier ein Spannungsverhältnis bestehen, insbesondere, wenn man im privatrechtlichen Grundsatz der Privatautonomie die Freiheit sieht, von der Allgemeingültigkeit und Gleichbehandlung des objektiven Rechts abweichende Regelungen zu treffen.30 Der Gegensatz von Freiheit und Gleichheit wurde in der Bundesrepublik zur Chiffre des Kampfes zwischen Kapitalismus und Kommunismus. Aber der Gegensatz ist nicht allgemein: Unfreiheit kann mit Ungleichheit einhergehen wie etwa im Ständesystem der europäischen Rechtsgeschichte; hier spielte die liberale Betonung der Freiheit eine wesentliche Rolle im Ermöglichen der Gleichheit. Und in der Tat legt die europäische Ideen- und Rechtsgeschichte nahe, dass Freiheit und Gleichheit einander nicht widersprechen, sondern zusammengehören.31 Schon der Sachsenspiegel suggeriert, dass der Mensch frei und gleich geschaffen sei; die Ungleichheit erfolge erst durch Zwang.32 Dieser Gedanke der Gleichursprünglichkeit von Freiheit und Gleichheit findet sich auch später im Naturrecht.33 In Kants Rechtsphilosophie, die für das deutsche Privatrecht einflussreich war, bedingen Freiheit und Gleichheit einander.34 John Rawls postuliert equal liberty als erstes seiner zwei Gerechtigkeitsprinzipien (begleitet freilich von einem Differenzprinzip);35 Etienne Balibar spricht von Gleichfreiheit (équiliberté), um die notwendige Verbindung beider Prinzipen zu formulieren,36 und fragt, unter welchen Bedingungen sie in unserer Zeit denkbar wäre.37 28 

Luhmann, Der Gleichheitssatz als Form und als Norm, ARSP 77 (1991), 435, 436. 437. 30 Etwa Looschelders, Diskriminierung und Schutz vor Diskriminierung im Privatrecht, JZ 2012, 105–114; umfassend Grünberger, Personale Gleichheit – Der Grundsatz der Gleichbehandlung im Zivilrecht (2013). 31 Etwa Nida-Rümelin, Eine Verteidigung von Freiheit und Gleichheit, ZfP 53 (2006), 3–25. 32  Sachsenspiegel III 42; vgl. dazu etwa Kolb, Über den Ursprung der Unfreiheit. Eine Quaestio im Sachsenspiegel, Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur, 103 (1974), 289, 297–301; Seybold, Dass jemand des anderen solle sein: Unfreiheit im Sachsenspiegel, ZRG (GA) 132 (2015), 479, 480 ff. 33 Dazu Grünberger (Fn. 30), 71 ff. 34 Etwa Luf, Freiheit und Gleichheit. Die Aktualität im politischen Denken Kants (1978); Kersting, Wohlgeordnete Freiheit: Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie (1993), 96 ff.; aktualisiert bei Rödl, Gerechtigkeit unter freien Gleichen. Eine normative Rekonstruktion von Delikt, Eigentum und Vertrag (2015). 35  Rawls, A Theory of Justice (rev’d ed. 1999), 53, 214 ff. 36  Balibar, Gleichfreiheit (2012), 91: „Buchstäblich genommen sagt die Déclaration [des Droits de l’Homme et du Citoyen 1789] tatsächlich aus, dass die Gleichheit der Freiheit gleich, mit Freiheit identisch ist und umgekehrt. Jede der beiden ist das exakte ‚Maß‘ der anderen.“ (Hervorhebungen im Original). 37 Ebda., 98 ff. 29  Ebda.

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Hier wird vorgeschlagen, einem Gedanken zu folgen, den der Soziologe Thomas Reckwitz populär gemacht hat, vor ihm aber schon Pierre Rosanvollon formuliert hat: dem Konzept der Gleichheit dasjenige der Singularität entgegenzusetzen.38 Rosanvollon definiert Singularität als Relation, bei der Differenz das Verbindende ist, nicht das Trennende: Singularität „bezeichnet keine Tendenz des Individuums, sich von der Gesellschaft zu distanzieren…, sondern begründet vielmehr eine Erwartung auf Reziprozität, auf wechselseitige Anerkennung,“39 und damit „implizierte Gleichheit.“40 Reckwitz erkennt innerhalb der (europäischen) Moderne zwei soziale Logiken – die des Allgemeinen und die des Besonderen. Nach seiner Beobachtung ist seit etwa den 1970er Jahren ein Strukturwandel zu beobachten, weg von der Verallgemeinerung und Rationalisierung und hin zur Individualisierung und Betonung der Identität. Reckwitz erklärt das als Kulturalisierung und Affektintensivierung, die die abstrakte Rationalität ersetzen. Man müsste das wohl noch durch die individuelle Rationalität ergänzen: Rationalisierung wird ja nicht (nur) ersetzt, sondern auch singularisiert; ein Schritt von der allgemeinen Rationalisierung zur individuellen Zweckrationalität.41 Damit ist die Singularität auch nicht nur ein Zeichen einer Postmoderne, sondern zugleich Ausdruck einer gesteigerten marktbasierten Rationalität. Auch hier gibt es ideologisch also sowohl eine linke als auch eine rechte Variante: die linke Variante betont (wie bei Rosanvollon) ein Recht auf Anerkennung in der eigenen Singularität,42 die rechte Variante betont das Recht, die eigenen Präferenzen mit den eigenen Mitteln durchzusetzen. Diese Tendenz zur Singularität sieht Reckwitz sowohl auf der Ebene von Subjekten und Objekten wie auch derjenigen von Zeitlichkeiten, Räumen und Kollektiven. Sie lässt sich also für die Rechtswissenschaft anhand der Behandlung sowohl von Personen als auch von Rechtsordnungen überprüfen. Wie sehr werden in den jeweiligen Disziplinen das Allgemeine und die Gleichheit präferiert – in der Erkenntnis und in der Bewertung – wie sehr dagegen das Singuläre und die Differenz?

38  Rosanvallon, Die Gesellschaft der Gleichen (2017, frz. Original 2011), 307 ff. („Die Gesellschaft der Singularitäten“); Thomas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne (2017). 39  Rosanvollon (Fn. 38), 307. 40  Rosanvollon (Fn. 38), 321 ff. 41 So verstehe ich Reckwitz Antwort auf Hohnsträter, https://www.soziopolis.de/ beobachten/kultur/artikel/reckwitz-buchforum-10-die-gesellschaft-der-singularitaeten/: „Allerdings ergab sich im Fortgang der Analyse im Buch, dass in der Gegenwartsgesellschaft auch Singularisierungen existieren, die nicht mit Wert und Affekt aufgeladen, sondern vielmehr Teil einer zweckrationalen Logik sind.“ 42  Nichts gesagt werden kann hier zur umfangreichen Debatte dazu, inwieweit Anerkennung echter Gerechtigkeit entgegensteht; dazu insbesondere Honneth/Fraser, Umverteilung oder Anerkennung? – Eine politisch-philosophische Kontroverse (2003).

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4. Kontingenz Dass Reckwitz den von ihm erkannten Strukturwechsel zeitlich in den Übergang von Moderne zu Spätmoderne einordnet, lässt schließlich eine weitere Perspektive für die Untersuchung zu. Zum einen ergibt sich daraus die Hypothese, dass die Betonung von Gleichheit oder Singularität jedenfalls tendenziell in eine bestimmte Zeit gehört. Damit verbunden ist die Frage, wann und warum überhaupt Rechtsunterschiede begründungsbedürftig werden. Gewiss gibt es Diskussionen zur Gleichheit in Europa seit der Antike; auch wird die Forderung nach Gleichheit durch die Geschichte hindurch immer wieder gestellt.43 Faktisch aber war die Gesellschaft des Mittelalters und der frühen Neuzeit eine Gesellschaft der Ungleichheit, und zwar sowohl innerhalb von Gruppen als auch zwischen Gruppen.44 In den meisten Gesellschaften wurden Menschen verschiedener Religionen, verschiedener Stämme seit jeher nach ihrem eigenen Recht behandelt, ohne dass das zu Überraschungen geführt hätte. Das Christentum stellte solche Unterschiede in Frage, verlegte aber ihre Überwindung weitgehend in die Zeit nach dem Tode. Wirklich rechtfertigungsbedürftig wurde die Ungleichheit erst in der Moderne und Aufklärung, mit ihrer Betonung der Rationalität und ihrem Fokus auf die prinzipielle Gleichheit aller Menschen.45 Es ist also ein bestimmtes Denken – dasjenige der europäischen Aufklärung –, innerhalb dessen die Gleichheit gefordert wird, und das gilt es herauszuarbeiten. Das bedeutet nicht, dass der Schritt zur Singularität nicht seinerseits aus der kontinentaleuropäischen Moderne käme. Vielmehr ist der Gegensatz selbst eine Folge der europäischen Moderne. Genau diese Zeit- und Ortsbezogenheit des Spannungsverhältnisses erlaubt nun aber insbesondere für die Disziplinen der Rechtsvielfalt ihrerseits eine weitere kritische Perspektive. Wenn das Spannungsverhältnis der europäischen Moderne entstammt, liegt es gleichzeitig nahe, dass es nicht universell ist, dass es also in dieser Form nicht unbedingt auch für den Rest der Welt gelten muss. Wenn man mit Thomas Duve „den Topos von ‚Einheit und Vielfalt‘ als Charakteristikum der europäischen Rechtsgeschichte“ erkennen kann,46 deutet sich an, dass es sich bei diesem Topos gerade nicht um eine Selbstverständlichkeit handelt, die in jedem Recht weltweit zu finden wäre, sondern um eine spezifische Errungenschaft gerade der europäischen Geschichte. Wenn man dem begegnet, 43 

Dann, Gleichheit und Gleichberechtigung (1980), 31 ff. zur rechtlichen Konstitutierung und Behandlung des Phänomens etwa Oestmann, Rechtsvielfalt vor Gericht. Rechtsanwendung und Partikularrecht im Alten Reich (2002); Dolan/Heirbaut (Hrsg.), The Laws’ Many Bodies (2015). 45  Vgl. nur Kelly, A Short History of Western Legal Theory (1992), 291; allgemein Rosanvollon (Fn. 38), 23 ff. 46  Duve, Von der Europäischen Rechtsgeschichte zu einer Rechtsgeschichte Europas in globalhistorischer Perspektive, RG 20 (2012), 18, 35. 44  Siehe

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indem man das spezifische Charakteristikum europäischer Geschichte universalisiert, läuft man Gefahr, in eine Form des intellektuellen Imperialismus und der Kolonialisierung zu verfallen. Denn die Kategorien der europäischen Geistesgeschichte lassen sich nicht ohne Transpositionsprozesse dem Rest der Welt überstülpen. Für Disziplinen der Rechtsvielfalt hätte diese Hypothese weitreichende Folgerungen. Einerseits stellt sich dann die Frage, ob die Gleichheit innerhalb Europas nicht ihrerseits erkauft wurde durch die Ungleichheit gegenüber dem Rest der Welt. Das ist ein Hauptthema der postkolonialen und der dekolonialen Theorie. Andererseits ergibt sich die Frage, ob man dem Rest der Welt mit dem Paar Gleichheit/Ungleichheit oder auch dem Paar Gleichheit/Singularität gerecht werden kann, ob nicht vielmehr die Verwendung dieser Paare zur Analyse schon droht, kolonial zu sein. Beide Fragen werden im letzten Hauptteil des Textes aufgegriffen.

C. Struktur des Artikels Alle drei Disziplinen der Rechtspluralität müssen sich mit diesen Themen auseinandersetzen. Mehr noch: es lässt sich zeigen, dass bei dieser Auseinandersetzung mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede zwischen den Disziplinen bestehen. Die Analyse anhand dieser Themen ermöglicht es damit, solche Gemeinsamkeiten aufzuzeigen. Ich möchte daher nicht die Frage der Gleichheit für jede Disziplin gesondert untersuchen, sondern anders vorgehen. In den ersten beiden Teilen dieses Aufsatzes behandle ich die beiden Pole des Gegensatzes – die Gleichheit und die Differenz – als übergreifende thematische Ausrichtungen, die sich in allen drei Disziplinen zeigen. Dabei lassen sich durchaus ideologisch-thematische und auch zeitliche Unterschiede zeigen. Kurz gesagt, so die These des ersten Teils, ist die Gleichheit eine Frucht der europäischen Aufklärung und Moderne, die alle drei Disziplinen der Rechtsvielfalt bis etwa zur zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts prägt. Gleichheit wird zum Standard, Singularität zur begründungsbedürftigen Ausnahme. Dass diese Prägung keinen uneingeschränkten Vorrang der Gleichheit vor der Differenz bezeichnet, dass zudem die Differenz in die Gleichheit eingewoben ist, steht dem nicht entgegen. Die Differenz wird dann ein Thema nicht nur der Gegenaufklärung, sondern auch der Postmoderne, und beeinflusst in stärkerer Art und Weise alle drei Disziplinen seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Es lassen sich Tendenzen hin zur von Rosanvollon und Reckwitz benannten Gesellschaft der Singularitäten erkennen: alle Disziplinen der Rechtsvielfalt etablieren nun die Singularität als wenigstens gleichberechtigt. Mehr als Tendenzen sind es nicht; die Singularität wird nicht gleichermaßen zur Leitidee, wie es die Gleichheit vorher war,

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auch weil Gleichheit nicht gleichermaßen abgelehnt wird, wie es vorher bezüglich der Singularität erfolgte. Ein dritter Teil beschäftigt sich dementsprechend mit dem Zusammenwirken von Gleichheit und Differenz in Moderne und Postmoderne.47 Die Dialektik von Gleichheit und Differenz, die für beide charakteristisch ist (wenn auch auf unterschiedliche Art und Weise) wird in allen drei Disziplinen auf letztlich ganz ähnliche Art und Weise aufgehoben durch etwas, das man Gleichheit in Differenz oder Äquivalenz nennen kann. Ist damit also das Problem von Gleichheit und Differenz gewissermaßen transzendiert und damit gelöst? Nicht ganz. Ein vierter Teil weitet die Perspektive im Lichte dekolonialer Theorie und versucht zu eruieren, inwieweit Gleichheit im globalen Norden möglich gemacht wird durch Ungleichheit gegenüber dem globalen Süden – ganz ähnlich wie etwa die Freizügigkeit innerhalb Europas erkauft wird durch eine brutal reglementierte Grenze zum nichteuropäischen Ausland. Es zeigt sich, dass auf dieses Verhältnis zum globalen Süden sowohl absolute Gleichheit als auch absolute Differenz projiziert werden – ein Zeichen dafür, dass die für Verhältnisse innerhalb des globalen Südens entwickelten Relationen nicht ausreichen. Als Alternative wird die Möglichkeit einer dekolonialen Rechtsvergleichung angedeutet, die ohne das Begriffspaar von Gleichheit und Differenz auskommt. Dabei schwingen, bei allem Fokus auf Gleichheit und Identität, Fragen der Freiheit immer im Hintergrund mit, weil Freiheit nicht im Gegensatz zu Gleichheit verstanden wird. Gleichheit ermöglicht freiheitlichen Zugang zum anderen; Differenz und Identität ermöglichten die Freiheit von Übergriffen anderer. Gleichheit in Differenz ermöglicht, bis zu einem gewissen Grade, beides zugleich: Rechtsordnungen sind frei, ihre eigene Identität zu bewahren, und gleichzeitig in Kontakt mit anderen zu treten. Und die Dekolonialität schließlich ermöglicht die radikalste Form der Freiheit durch das Delinking, dass es Gesellschaften und Rechtsordnungen erlaubt, sich nicht in Abhängigkeit von anderen zu verstehen. Diese Unabhängigkeit ist freilich nicht nur epistemischer oder methodologischer Natur; sie setzt auch politische und wirtschaftliche Freiheit voraus, und das dürfte regelmäßig bedeuten: echte politische und wirtschaftliche Gleichheit. Der Ausschluss von Fragen materialer Gleichheit erweist sich daher letzlich als unmöglich: wahre Gleichheit ist, auch im Recht, ohne weitgehende materiale Gleichheit wohl nicht zu haben.

47  Kritisch zu Ideen postmoderner Rechtsvergleichung Peters/Schwenke, Comparative Law Beyond Post-Modernism, Int. Comp. L. Q. 49 (2000), 800–834; Riechers, Postmoderne Theorie in der Rechtsvergleichung?, ZaöRV 67 (2007), 509–540.

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Nicht nur hier gerät daher vielleicht das Recht an seine Grenzen. Auch den hier so genannten Disziplinen der Rechtsvielfalt dürfte es schwerfallen, ohne radikales Umdenken zu Disziplinen der Pluriversalität zu werden. Insofern kann diese Studie nur die Grenzen andeuten, ohne schon selbst Alternativen zu entwickeln. Das bleibt ein Forschungsdesiderat für die Zukunft.

II. Gleichheit A. Rechtsvergleichung 1. Dogmatische Gleichheit Angesichts eines universalen Menschenbildes und – so muss man erweitern – einer angenommenen universalen Gleichheit auch unterschiedlicher Gesellschaften – wird die Unterschiedlichkeit von Rechtsordnungen, wie schon bei Pascal, als etwas Zufälliges, Begründungsbedürftiges angesehen. Teilweise hat diese Betonung der Gleichheit natur- und vernunftrechtliche Grundlagen. Pascal argumentiert im 17. Jahrhundert von der Unteilbarkeit der Gerechtigkeit her und ordnet damit die Rechtsvergleichung der Rechtsphilosophie zu: Rechte mögen ungleich sein, die zugrundeliegenden Fragen der Gerechtigkeit sind es nicht, ein Gedanke, den im 20. Jahrhundert etwa Radbruch aufgreift. Und wenn James Gordley meint, zwischen Rechtsvergleichung und Rechtsauslegung bestehe kein Unterschied: französische, deutsche, englische Regeln seien gut oder schlecht, aber dass sie französisch, deutsch oder englisch seien, mache keinen Unterschied,48 so formuliert er auf vernunftrechtlicher Grundlage, die Differenzen zwischen Rechtsordnungen als letztlich irrelevant erachtet. Argumentieren diese Gleichheitskonzepte abstrakt aus der Natur des Menschen, so betonen andere die gemeinsame Rechtskultur, insbesondere die Herkunft des europäischen Privatrechts aus dem römischen Recht.49 Mit solcher Besonderheit ist Ungleichheit verbunden: hier geht tendenziell die Gleichheit zwischen europäischen Gesellschaften und ihren Rechtsordnungen einher mit der Ungleichheit gegenüber anderen, nichteuropäischen Rechtsordnungen. Beiden Ansätzen liegt die gleiche Annahme zugrunde: Positives Recht ist ungleich, aber diese Ungleichheit ist kontingent, und die Aufgabe der Rechtsver48 

Gordley, Is Comparative Law a Distinct Discipline?, Am. J. Comp. L. (1992), 607–615. Koschaker, Europa und das römische Recht (4. Aufl. 1966); Stein, Römisches Recht und Europa – Die Geschichte einer Rechtskultur (1996); Zimmermann, The Law of Obligations (1996); ders., Savignys Vermächtnis: Rechtsgeschichte, Rechtsvergleichung und die Begründung einer Europäischen Rechtswissenschaft, JBl 1998, 273–293; ders., Europa und das römische Recht, AcP 202 (2002), 243–316; ders., Römisches Recht und europäische Kultur, JZ 2007, 1–12. 49 

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gleichung ist es dann, die tiefere Gleichheit aufzuzeigen. Die Nationalisierung des Privatrechts in Kodifikationen – ein Prozess, der von vielen Rechtsvergleichern bedauert wird – verdeckt dann diese Gleichheit. Die Aufgabe einer gleichheitsorientierten Rechtsvergleichung ist es, die Differenzen zwischen Rechtsordnungen als kontingent zu überwinden und die Gemeinsamkeiten wieder aufzudecken, die unter dem „Geröll von zweihundert Jahren jeweils nationaler Rechtsfortbildung“50 begraben liegen.

2. Funktionale Gleichheit Neben diese eher rechtsdogmatisch geprägten Gleichheitskonzepte, die sich auf die anthropologische Gleichheit der Menschen oder die kulturelle Gleichheit der Europäer stützen, tritt die soziologisch geprägte Idee des Funktionalismus, die die Gleichheit anders begründet. Wenn Jhering sagt, nur ein Narr werde die Chinarinde aus dem Grunde zurückweisen, weil sie nicht auf seinem Kraut­ acker gewachsen sei,51 begründet er eine universale Jurisprudenz aus dem Vergleich mit der Medizin und damit letztlich einer Idee, dass wirksame Heilmittel universell sein müssten.52 Diese Idee der Gleichheit findet sich im 20. Jahrhundert auch bei soziologisch geprägter Rechtsvergleichung. So formuliert Konrad Zweigert ein „rechtsvergleichendes Grundgesetz“: „Verschiedene Rechtsordnungen kommen trotz aller Unterschiede in ihrer historischen Entwicklung in ihrem systematisch-theoretischen Aufbau und im Stil ihrer praktischen Anwendung dennoch in den gleichen Lebensfragen oft bis in Einzelheiten hinein zu gleichen oder doch verblüffend ähnlichen Lösungen.“53 Darauf aufbauend formuliert er die berühmte (und umstrittene) praesumptio similitudinis, eine „Vermutung für die Ähnlichkeit der praktischen Lösungen.“54 Hier taucht also die Gleichheit an zwei Punkten auf: 50  Zimmermann, „Heard melodies are sweet, but those unheard are sweeter…“ Condicio tacita, implied condition und die Fortbildung des europäischen Vertragsrechts, AcP 193 (1993), 121, 172. 51  von Jhering, Geist des Römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, Bd. 1 (4. Aufl. 1878), 8 f.; zit. etwa bei Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung (3. Aufl. 1996), 16; Janssen, Die Bedeutung der Rechtsvergleichung für die deutsche Zivilrechtslandschaft im 21. Jahrhundert, in: ders./Schulte-Nölke (Hrsg.), Researches in European Private Law and Beyond (2020), 299, 309 f. 52  Zur Bedeutung der Rechtsvergleichung für Jhering vgl. auch Zweigert, Jherings Bedeutung für die Entwicklung der rechtsvergleichenden Methode, in: Wieacker/Wollschläger (Hrsg.), Jherings Erbe-Göttinger Symposium zur Wiederkehr des Geburtstages von Rudolph von Jhering (1970), 240 (englische Version: Zweigert/Siehr, Jhering’s Influence on the Development of Comparative Legal Method, Am. J. Comp. L. 19 (1971), 215–331); Holler, „Ist die Jurisprudenz eine Wissenschaft?“ – Zum 150-jährigen Jubiläum von Jherings Wiener Antrittsvorlesung am 16. Oktober 2018, ZJS 2018, 503–513. 53  Zweigert/Kötz (Fn. 51), 38. 54  Zweigert/Kötz (Fn. 51), 39.

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die Probleme sind gleich,55 und die Lösungen sind es auch, jedenfalls im Entscheidenden. Die praesumptio – die nur heuristische Funktion haben soll56 – ist vielfach kritisiert worden, und sie ist methodisch auch nicht unproblematisch. Ob verschiedene Gesellschaften wirklich die gleichen Probleme haben, erscheint zweifelhaft. Versuche in der Soziologie, zu zeigen, dass alle Systeme notwendig die gleichen Probleme haben,57 dürften als gescheitert gelten.58 Die funktionale Rechtsvergleichung löst das Problem mitunter pragmatisch, indem sie einfach nur solche Rechtsordnungen vergleicht, die einander ähnlich sind;59 damit ist freilich eine gewisse Zirkularität verbunden.60 Ich habe vorgeschlagen, den Gedanken hermeneutisch-interpretativ zu verstehen: Gesellschaften haben nicht notwendig dieselben Probleme, aber wir interpretieren/vergleichen sie so, als wäre es so.61 Freilich ignoriert die Kritik häufig, auf wie vielfältige Weise die praesumptio schon bei Zweigert beschränkt ist. Inhaltlich soll sie nicht gelten für solche Gebiete des menschlichen Zusammenlebens, die durch besonders starke moralische und sittliche Wertungen gefärbt sind. Das Gleiche gilt auch für Bereiche von wirtschaftspolitischer Bedeutung wie der gesellschaftsrechtlichen Mitbestimmung.62 Letztlich besteht hier also eine Beschränkung auf das Kernprivatrecht. Zudem ist die praesumptio auf alle „entwickelten“ Rechtsordnungen beschränkt, was wohl bedeutet: europäische und von diesen geprägte Rechte. Damit ist eine gewisse Zirkularität erreicht: die Vermutung für die Gleichheit gilt weitgehend nur für die Rechte und Fragen, die gleich sind. Zudem ist die Gleichheit mit Differenz verbunden. In der Formulierung seines „Grundgesetzes“ selbst nennt Zweigert Unterschiede zwischen den Rechtsordnungen „in ihrer historischen Entwicklung, in ihrem systematisch-theoretischen Aufbau und im Stil ihrer praktischen Anwendung“. Betroffen sind damit 55  Zweigert/Kötz (Fn. 51), 45: „Wenn das Recht funktional als Regelung sozialer Sachverhalte gesehen wird, sind Rechtsprobleme in jedem Land von der gleichen Art“. 56  Zweigert/Kötz (Fn. 51), 39; Kötz, The Common Core of European Private Law, Pre­ sented at the Third General Meeting of the Trento Project: Hastings Int. Comp. L. Rev. 21 (1998), 803, 807; kritisch de Coninck, The Functional Method of Comparative Law: Quo ­Vadis?, RabelsZ 74 (2010), 318, 337 ff. 57  So etwa Parsons’„AGIL“ System universeller Bedürfnisse (Adaptation, Goal Attainment, Integration, Latency). Parsons/Bales/Shils, Working Paper in the Theory of Social Action (1953); Parsons, The Social System (1951). 58  Siehe etwa Aberle et al., The Functional Prerequisites of a Society, Ethics 60 (1950), 100–111; Levy, The Structure of Society (1950), 34–55. 59  Zweigert, Des solutions identiques par des voies différentes, RIDC 18 (1966), 5–18. 60  Vgl. unten V. 61  Michaels, The Functional Method of Comparative Law, in: Reimann/Zimmermann (Hrsg.) (Fn. 15), 371 f., 374 f., 386 ff.; ders., Explanation and Interpretation in Functionalist Comparative Law – A Response to Julie de Coninck, RabelsZ 74 (2010), 351–359. 62  Zweigert/Kötz (Fn. 51), 39.

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die Kriterien, die Zweigert selbst anderswo zur Unterscheidung heranzieht, nämlich in der Makrovergleichung zwischen den Rechtskreisen.63 Differenz auf der Makroebene und Gleichheit auf der Mikroebene stehen so in einem komplexen Spannungsverhältnis, das Zweigert nur dadurch aufrechterhalten kann, dass er einen eher naiven Stilbegriff in der Makrovergleichung und einen eher schwachen Funktionalismus in der Mikrovergleichung vertritt.64 Dass diese Unterschiede auf der Mikroebene irrelevant sind, hängt für Zweigert damit zusammen, dass für ihn die Lösung mehr zählt als der Weg dahin.65

3. Politik der Gleichheit Damit gesellt sich zum naturrechtlich geprägten rechtsdogmatischen Gleichheitsparadigma hier ein dogmatisch-kritisches soziologisches Gleichheitsparadigma. Beide sind durchaus gegensätzlich. Gordley sagt, die Dogmatik sei gleich, ihre Ergebnisse aber unterschiedlich, während Zweigert umgekehrt sagt, die Ergebnisse seien gleich, trotz Unterschieden in der Dogmatik. Was beide trennt ist also nicht nur die Methodik, sondern auch die Ergebnisse. Was sie verbindet ist die Betonung der Gleichheit. Beiden gemein ist die Abstraktion im Sinne der von Reckwitz erklärten Präferenz für Allgemeinheit. Im 19. Jahrhundert wurde in der „législation comparée“ das Recht beschränkt auf Gesetzesrecht, wo sich Gleichheiten leichter finden; als um 1900 das common law mit einbezogen wurde, ging die Rechtsvergleichung über auf eine rechtdogmatische Betrachtungsweise. Auch Zweigerts Funktionalismus ist, in seiner Beschränkung von Rechtsregeln auf ihre Funktionalität, bewusst reduktiv, abstrahierend. Gleichheit geht hier einher mit einer modernen rationalen Abstraktion und Verallgemeinerung. Vor dieser Perspektive sind – wie bei der formalen Gleichheit – die Unterschiede kontingent und nicht wichtig, die Gemeinsamkeiten das Entscheidende. Man muss diese rhetorische Priorisierung der Gleichheit wohl aus der Situation heraus verstehen, in der Zweigert schreibt: Erstens wurde Rechtsdogmatik allgemein sehr hoch, vielleicht zu hoch, geschätzt, so dass die Unterschiede zu 63  Zweigert, Zur Lehre von den Rechtskreisen, in: Nadelmann et al. (Hrsg.), XXth Century Comparative and Conflicts Law: Legal Essays in Honour of Hessel E. Yntema (1961), 42–55; Zweigert/Kötz (Fn. 51), 62 ff. 64  Cserne, Conceptualising ‚style‘ in legal scholarship: the curious case of Zweigert’s ‚style doctrine‘, Int’l J. of Law in Context 15 (2019), 297–309; Michaels (Fn. 61), 340–380. 65 Zu Zweigerts geringer Meinung von der Rechtsdogmatik siehe Zweigert, Rechtsvergleichung, System und Dogmatik, in: Bettermann/Zeuner (Hrsg.), FS Bötticher (1969), 443– 449; siehe aber auch Zweigert, Die kritische Wertung in der Rechtsvergleichung, in: Fabricius (Hrsg.), Law and International Trade: Festschrift für Clive M. Schmitthoff (1973), 403 ff. Zweigerts Koautor steht der Rechtsdogmatik freundlicher, der praesumptio similtudinis kritischer gegenüber: Kötz, Rechtsvergeichung und Rechtsdogmatik, RabelsZ 54 (1990), 203– 216; vgl. auch zum Verhältnis ders., Ein Leben als undogmatischer Jurist, ZEuP 2011, 94–108.

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anderen Rechtsordnungen stärker erschienen, als sie wirklich waren. Gleichzeitig lässt sich die Priorität der Gleichheit aber auch politisch deuten. Zwei Stränge lassen sich feststellen. Der eine betont die Gleichheit als ein Element des Friedens. Nach den Weltkriegen ging es der Rechtswissenschaft darum, Gemeinsamkeiten aufzuzeigen, um Konflikte zu verhindern. 66 Im Kalten Krieg wollte man ebenso die Rechtsvergleichung in den Dienst des Friedens stellen. André Tunc etwa meinte, bessere gegenseitige Kenntnis könne den Frieden bewahren: „il s’agit de diminuer les tensions en montrant qu’elles sont largement des survivances aujourd’hui artificielles.“67 Deutlich zeigt sich das in den Versuchen der sogenannten intersystemaren Rechtsvergleichung, zu zeigen, dass kapitalistische und sozialistische Rechtsordnungen in den entscheidenden Fragen (und jedenfalls im Privatrecht) so gleich seien, dass man sie trotz ideologischer Unterschiede miteinander vergleichen könne.68 Hier wurde also Gleichheit in der Mikrovergleichung betont, auch wenn man in der Makrovergleichung mehrheitlich einen eigenständigen sozialistischen Rechtskreis annahm.69 Nach dem Fall der Mauer konnte man so scheinbar unproblematisch die osteuropäischen Privatrechte wieder in die Familie des civil law einordnen. Das andere Element betrifft umgekehrt den Konflikt. Mattei hat die Betonung der Gleichheit des als unpolitisch verstandenen Privatrechts ihrerseits als Mittel des kalten Krieges interpretiert.70 Es waren ja sozialistische Rechts­theo­ retiker, die auf dem Systemgegensatz zwischen sozialistischem und kapitalistischem Privatrecht beharrten.71 Damit verbunden war die Überwindung der Trennung von öffentlichem Recht und Privatrecht, die – politisch begründet und durch Revolution erworben – durchaus als politische Entscheidung ange66 

Curran, Cultural Immersion, Difference and Categories in U. S. Comparative Law, Am. J. Comp. L. 46 (1998), 67 ff. 67  Tunc, La contribution possible des études juridiques comparatives à une meilleure compréhension entre nations, Rev. int. dr. comp. 16 (1964), 47, 59, wiederabgedruckt in: Zweigert/ Puttfarken (Hrsg.), Rechtsvergleichung (1978), 282, 299; vgl. ders., Comparative Law, Peace and Justice, in: Nadelmann et al. (Hrsg.), XXth Century Comparative and Conflicts Law (Fn. 63), 80–91. 68  Bartels, Methode und Gegenstand intersystemarer Rechtsvergleichung (1982); Drobnig, Rechtsvergleichung zwischen Rechtsordnungen verschiedener Wirtschaftssysteme: Zum Problem der intersystemaren Rechtsvergleichung, RabelsZ 48 (1984), 233, 239 f.; vgl. auch Zweigert/Puttfarken, Zur Vergleichbarkeit analoger Rechtsinstitute in verschiedenen Gesellschaftsordnungen, in: dies. (Hrsg.) (Fn. 67), 395; Loeber, Rechtsvergleichung zwischen Ländern mit verschiedener Wirtschaftsordnung, RabelsZ 26 (1961), 201. 69 Siehe Quigley, Socialist Law and the Civil Tradition, Am. J. Comp. L. 37 (1989), 781– 808 mwN; Butler, What Makes Socialist Legal Systems Socialist ?, Право України (Law of Ukraine) 2019, 131–157. 70  Mattei, The Cold War and Comparative Law: A Reflection on the Politics of Intellectual Discipline, Am. J. Comp. L. 65 (2017), 567. 71 Vgl. Quigley (Fn. 69), 796 ff.; Mattei (Fn. 70), 588; Ma ń ko, We Do Not Recognise Any­thing ‚Private‘: Public Interest and Private Law Under the Socialist Legal Tradition and Beyond, (2015), 31–65.

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sehen werden kann. Wenn man dem in der intersystemaren Rechtsvergleichung ein unpolitisches und universelles Privatrecht entgegenhielt, so leugnete man damit die Singularität des sozialistischen Rechts. (Dass die Gleichheit hier ausgerechnet vom auf das Individuum fixierten kapitalistischen Privatrecht betont wurde, gegenüber dem auf Gleichheit zwischen den Menschen bestehenden sozialistischen Privatrecht, ist dabei eine dialektische Ironie.)

B. Rechtsvereinheitlichung Solche Gedanken der Gleichheit ähneln nicht durch Zufall denen zur Rechtsvereinheitlichung: auch lange Zeit sah ja die Rechtsvergleichung eine wichtige, vielleicht ihre wichtigste, Aufgabe darin, die Rechtsvereinheitlichung vorzubereiten.72 Rabels Arbeiten zum Kaufrecht, die das Einheitliche Kaufrecht von 1964 und das CISG von 1980 vorbereiteten, und die Arbeiten zum europäischen Privatrecht, die bislang indes nicht zu einer echten europäischen Privatrechtskodifikation geführt haben, sind nur die berühmtesten, aber bei weitem nicht einzigen Beispiele.73 Rabel selbst ging von Gleichheit aus: „Der Kauf ist das tägliche Geschäft der ganzen Verkehrswelt. Sein wirtschaftlicher Charakter und die Rechtsfolgen, die sich an Abschluß und Vollzug knüpfen, sind überall im Grunde identisch. Die nationalen Besonderheiten von Recht und Wirtschaft treten im Leben des Handels derart zurück, daß manche ja eben glauben, sie seien vom Handel schon überwunden.“74

Und die Privatrechtsvergleichung zum europäischen Privatrecht stellte ganz wesentlich auf die Gleichheit europäischer Privatrechtsordnungen ab, wobei ausdrücklich auch die Gleichheit zwischen common law und civil law betont wurde.

1. Nationale Rechtsvereinheitlichung Vor der internationalen stand indes die nationale Rechtsvereinheitlichung. Der aufgeklärte Rationalismus, der seinen Ausdruck in Pascals Formulierung 1670 fand, lag etwas mehr als ein Jahrhundert später auch dem wichtigsten Rechtsvereinheitlichungsprojekt Europas zugrunde, nämlich der Schaffung des Code

72 

Zweigert/Kötz (Fn. 51), 23 ff. Kaufrecht Rösler, Siebzig Jahre Recht des Warenkaufs von Ernst Rabel: Werkund Wirkgeschichte, RabelsZ 70 (2006), 793–805; zum europäischen Privatrecht Zimmermann, Comparative Law and the Europeanization of Private Law, in: Reimann/Zimmermann (Hrsg.) (Fn. 15), 557–598, 586–588. 74  Rabel, Die Arbeiten zur Vereinheitlichung des Kaufrechts (1932), in: ders., Gesammelte Aufsätze Bd. III (1967) 496, 498. 73  Zum

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Civil.75 Die französische Revolution hatte das Ancien Régime als eine auf Unterschieden beruhende Rechtsordnung überwunden und die Gleichheit neben der Freiheit und der Brüderlichkeit zu einem ihrer drei Motti gemacht.76 Schon Montesquieu meinte, die Menschen seien von Natur aus gleich, die Gesellschaft mache sie ungleich, erst das Recht könne sie wieder gleichmachen;77 auch Rousseau sah in der (auf der volonté générale beruhenden) allgemeinen Gesetzgebung die Überführung der natürlichen in die rechtliche Gleichheit.78 Die französische Erklärung der Menschenrechte übernahm in ihrem Artikel 1 diesen Zusammenhang zwischen Naturzustand und Aufgabe des Rechts.79 Und der Code Civil machte sich daran, dieses Prinzip in die Praxis umzusetzen. Der französische Code Civil, das erste wichtige Werk umfassender moderner legislativer Rechtsvereinheitlichung, war dabei vor allem ein Werk der Überwindung der Unterschiede.80 Das betraf, und das ist wichtig, gleichermaßen die Unterschiede zwischen Ständen und die Unterschiede zwischen Territorien: der Code Civil vereinigte nicht nur das südliche droit écrit mit dem nördlichen droit coutumier,81 sondern ersetzte auch die regionalen Identitäten durch eine nationale.82 In den Worten von Portalis: „Nous ne sommes plus Provençaux, Bretons, Alsaciens, mais Français … la loi est la mère commune des citoyens, elle leur accorde un égale protection a tous.“83 Beide Unterschiede waren gleichermaßen mit den Forderungen des Natur- und Vernunftrechts nicht vereinbar.84 Diese Zusammenbehandlung von territorialer Rechtsvereinheitlichung und gesellschaftlicher Gleichbehandlung machte die Attraktion wie auch die Gefahr des Code Civil für die europäischen Staaten aus. Gewiss könnte man theoretisch das Recht territorial vereinheitlichen und dabei Unterschiede zwischen Personen bestehen lassen. Gewiss ist auch, dass der Code Civil selbst solche Unterschiede etwa zwischen Frau und Mann bestehen ließ, indem er der verheirateten Frau die bürgerlichen Rechte nahm (ebenso wie Minderjährigen, Verbrechern und geistig Behinderten) und sie dem Mann unterordnete, ein Beispiel für 75 

Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit (2. Aufl. 1967), 339 ff. Rosanvollon (Fn. 38), 23 ff. 77  De Montesquieu, L’esprit des lois (1748/1772) Buch 2 Kap. 3: „Dans l’état de la nature, les hommes naissent bien dans l’égalité: mais ils n’y sçauroient rester. La société la leur fait perdre, et ils ne redeviennent égaux que par les loix.“ 78 Vgl. Dann (Fn. 43), 134 ff. 79 Art. 1: „Les hommes naissent et demeurent libres et égaux en droits.“ 80  LeClair, Le Code civil des français de 1804: Une transaction entre révolution et réaction, Revue Juridique Thémis 36 (2002), 1, 24. 81 Dazu Halpérin, L’impossible code civil (1992), 19–30. 82  Rouland, L’Etat français et le pluralisme: histoire politique des institutions publiques de 476 à 1792 (1995), 332 ff. 83  Portalis, Motifs, in: Code civil français: Discours et exposé des motifs, Bd. 4 (1804), 497, 498. 84  Grimm, Historische Erfahrungen mit Rechtsvereinheitlichung – das frühe 19. Jahrhundert in Deutschland, RabelsZ 50 (1986), 61, 62. 76 

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die Unvollkommenheit der Aufklärung.85 Auch die materielle Gleichheit wurde durch den Code Civil nicht erreicht, ja nicht einmal erleichtert. Ungeachtet dessen war es jetzt aber begründungsbedürftig geworden, wenn man geographische Gleichheit bejahen, interpersonale Gleichheit aber ablehnen würde. Eine deutsche Privatrechtsvereinheitlichung scheiterte daher zunächst auch daran, dass ein solches Zivilgesetzbuch mit der deutschen Ständegesellschaft nicht vereinbar gewesen wäre;86 die französische Betonung der Gleichheit wurde in Deutschland mit Misstrauen betrachtet.87 Die österreichische Kodifikation andererseits konnte deshalb territoriale Gleichheit mit personaler Ungleichheit verbinden, weil deren Fortbestehen durch zahlreiche öffentlich-rechtliche Spezialgesetze erhalten blieb.88 Diesem Ansatz an einem universalistischen Menschenbild (das dann sogleich wieder zwischen den Geschlechtern in Frage gestellt wurde) gesellte sich ein zweiter Gedanke hinzu: die Idee des Friedens. Frieden, so der Gedanke, werde durch Gleichheit erleichtert: wo wir im anderen nicht mehr den Feind sehen, müssen wir ihn auch nicht mehr bekriegen. Für die nationale Rechtsvereinheitlichung findet sich der Gedanke schon im frühen 19. Jahrhundert. Portalis begründete die Notwendigkeit der Rechtsvereinheitlichung auch soziologisch: „les hommes qui dépendent de la même souveraineté, sans être régis par les mêmes lois, sont nécessairement étrangers les uns aux autres; ils sont soumis à la même puissance, sans être membres du même Etat; ils forment autant de nations diverses qu’il y a de coutumes différentes. Ils ne peuvent nommer une patrie commune.“89 Ganz ähnlich meinte in Deutschland Thibaut 1814: „Gesetze erzeugen aber gleiche Sitten und Gewohnheiten, und diese Gleichheit hat immer zauberischen Einfluß auf Völkerliebe und Völkertreue gehabt.“90

2. Internationale Rechtsvereinheitlichung Die vernunftrechtliche Idee der Gleichheit war nun nicht an Staatsgrenzen gebunden. Aus Sicht des Vernunftrechts gab es keinen echten Grund dafür, dass unterschiedliche Staaten unterschiedliche Rechtsordnungen haben sollten. 85  Vogel, Gleichheit und Herrschaft in der ehelichen Vertragsgesellschaft – Widersprüche der Aufklärung, in: Gerhard (Hrsg.), Frauen in der Geschichte des Rechts (1997), 265, 284– 290; Martin, Misogynie des rédacteurs du Code Civil: une tentative d’explication, Droits 41 (2005), 69–89. 86  Grimm (Fn. 84), 65. 87  Dann (Fn. 43), 143 ff. 88  Grimm (Fn. 84), 70 f. 89  Portalis (Fn. 83), 325 f., 489, 497. Zum universalistischen Nationalismus der Autoren des Code Civil vgl. Desrayaud, Le sentiment patriotique dans le discours des législateurs de 1801, Napoleonica 9 (2010), 32–90. 90  Thibaut, Ueber die Nothwendigkeit eines allgemeinen bürgerlichen Rechts für Deutschland (1814), 48.

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Schon Napoléon war der Ansicht, sein Code Civil könne als Vorbild für eine europäische Kodifikation dienen, da er nicht auf Unterschieden zwischen Franzosen und anderen (europäischen) Völkern beruhte.91 Es ist daher nicht überraschend, wenn der Gleichheitsgedanke, wie er sich in der französischen Revolution und der Aufklärung fand, auf die internationale Rechtsvereinheitlichung ausgedehnt wurde.92 Zitelmann etwa gründete seine Aussicht auf ein Weltrecht auf dem Gedanken, die Grundinteressen des Menschen seien von Natur aus überall die gleichen.93 Auch die moderne Privatrechtsvereinheitlichung basiert auf solchen Ideen der Gleichheit. Oft werden diese – entsprechend der genannten Lesart von Pascal – als geradezu selbstverständlich angesehen. So meint etwa Kropholler: „Die Rechtsübereinstimmung liegt im Sinne der generalisierenden Tendenz der Gerechtigkeit, wonach eine unterschiedliche Regelung eine unerträgliche Andersbehandlung von Gleichem wäre“.94 Und auch das Projekt eines europäischen Zivilgesetzbuchs beruht auf solchen Ideen der Gleichheit, die denen der nationalen Kodifikation nachkommen. Einerseits übernimmt man Erkenntnisse der Rechtsvergleichung, die europäischen Privatrechtsordnungen seien schon weitgehend gleich, die Vereinheitlichung des Privatrechts insofern nur noch eine Formalität.95 Andererseits meint man, die bestehende Ungleichheit der Rechtsordnungen sei eine vor dem (nunmehr europäischen) Diskriminierungsverbot nicht zu rechtfertigende Ungleichbehandlung der Bürger unterschiedlicher Staaten. Das Argument der Gleichheit basiert hier nur noch selten naturrechtlich auf der natürlichen Gleichheit der Menschen in Europa; häufiger geht es um Gleichheit in der Form der Wettbewerbsgleichheit im Binnenmarkt.96 Auch hier geht die territoriale mit der personalen Gleichheit einher; Gleichheit ist ein umfassendes Prinzip des Gemeinschaftsrechts.97 Das europäische 91  Zit. in de Las Cases, Mémorial de Sainte-Hélène, Bd 7 (1828), 353 : „Pourquoi mon Code Napoléon n’eût-il pas servi de base à un Code européen. . . ? De la sorte, nous n’eussions réellement, en Europe, composé qu’une seule et meme famille. Chacun, envoyageant, n’eût pas cessé de se trouver chez lui.“; vgl. Bart, Le Code Napoléon, un Code à vocation européenne?, in: Dunand/Winiger (Hrsg.), Le code civil Français dans le droit européen (2005), 65 ff. 92 Zweifelnd Neuhaus/Kropholler, Rechtsvereinheitlichung – Rechtsverbesserung?, RabelsZ 45 (1981), 73, 77. 93  Zitelmann, Die Möglichkeit eines Weltrechts (1917). 94  Kropholler, Internationales Einheitsrecht: allgemeine Lehren (1975), 9. Kropholler meint aber aaO., auf internationaler Ebene habe dieser Gedanke geringere Bedeutung. 95  Vgl. oben bei Fn. 49. 96  Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts (2004), 53 f. 97  Aus dem umfänglichen Schrifttum Kischel, Zur Dogmatik des Gleichheitssatzes in der Europäischen Union, EuGRZ 24 (1997), 1 ff.; Dann, Menschenwürde, Freiheit, komplexe Gleichheit: Dimensionen grundrechtlichen Gleichheitsschutzes: der Gleichheitssatz im europäischen Gemeinschaftsrecht sowie im deutschen und US-amerikanischen Verfassungsrecht (2005), 299 ff.; Tomuschat, Gleichheit in der Europäischen Union, ZaöRV 68 (2008), 327–346; Rossi/Casolari (Hrsg.), The Principle of Equality in EU Law (2017).

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Recht beruht maßgeblich darauf, den Unionsbürger gerade nicht als Bürger eines Staates zu behandeln. Und die Nichtdiskriminierung ist ein wesentliches Element nicht nur des Primärrechts, insbesondere im Rahmen der Grundfreiheiten und als allgemeiner Rechtsgrundsatz,98 sondern auch im Sekundärrecht, und diente nicht nur zu Marktordnungszwecken, sondern ganz wesentlich auch zur Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern.99 Zitelmanns Idee eines Weltrechts als „international gleiches Recht“ war auch eine Friedensidee;100 auch das europäische Rechtsvereinheitlichungsprojekt beruhte auf der Idee Europas als einer Gemeinschaft des Friedens und des Rechts. Walter Hallstein machte das deutlich „Die Majestät des Rechts soll schaffen, was Blut und Eisen in Jahrhunderten nicht vermochten. Denn nur die selbstgewollte Einheit hat Aussicht auf Bestand, und Rechtsgleichheit und -einheit sind untrennbar miteinander verbunden. Keine Rechtsordnung ohne Gleichheit vor dem Gesetz, Gleichheit aber bedeutet Einheit. Auf dieser Einsicht beruht der Vertrag von Rom, und darum schafft er eine Friedensordnung par excellence.“101

C. Internationales Privatrecht Im Internationalen Privatrecht schließlich stellt sich das Gleichheitsproblem mit besonderer Brisanz. Denn das internationale Privatrecht geht ja nicht nur von (Rechts-) Unterschieden aus, es macht diese auch operabel, ohne sie aufzuheben. Insofern scheint es der Rechtsvereinheitlichung als Umgang mit Rechtspluralität unterlegen zu sein, eine Art second best.102 Teilweise rechtfertigt es sich mit anderen der Gleichheit entgegenstehenden Erwägungen, entweder normativer Art (die sogleich besprochen werden) oder praktischer Art: Internationales Privatrecht brauchen wir (leider), weil und solange die Pluralität der Rechte nicht überwunden werden kann. Teilweise aber finden sich Gleichheitsgedanken auch im Internationalen Privatrecht selbst. Ideengeschichtlich ist das nicht überraschend. Denn das moderne internationale Privatrecht, wie es sich im 19. Jahrhundert bildete, ist ein Geschöpf der europäischen oder zumindest europäisch inspirierten Moderne.  98 

EuGH verb. Rs. 66, 127 und 128/79 – Salumi Vasanelli, Slg. 1980, 1237, Rn. 14. Siehe auch Basedow, Der Grundsatz der Nichtdiskriminierung im europäischen Privatrecht, ZeuP 16 (2008), 230 ff.; Metzger, General Principles of Law in Europe – An Inquiry in Light of the Principle of Non-discrimination, RabelsZ 74 (2011). 100  Zitelmann (Fn. 93), 3; vgl. ders., Der Name „Internationales Privatrecht“, Niemeyers Zeitschrift 27 (1917–18), 1 ff. 101  Hallstein, Der unvollendete Bundesstaat (1969), 33. 102  Taupitz, Privatrechtsvereinheitlichung durch die EG: Sachrechts- oder Kollisionsrechtsvereinheitlichung?, JZ 48 (1993), 533–539.  99 

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1. Allseitige Kollisionsnormen als Ausdruck der Gleichheit Art. 3 des französischen Code Civil von 1804, die erste französische Kodifikation des Internationalen Privatrechts, formulierte noch (wie fast hundert Jahre später das EGBGB)103 einseitige Kollisionsnormen: er regelte die Anwendung französischen Rechts auf Franzosen und in Frankreich, sagte aber nicht, was außerhalb geschehen soll.104 Andere europäische Rechte gewährten dem Fremden gleiche Rechte aufgrund von comitas-Erwägungen.105 Der Code Civil tat das nur entweder aufgrund von Staatsverträgen (Art. 11) oder für Ausländer, die mit staatlicher Genehmigung ihr Domizil in Frankreich nahmen (Art. 13). Folge war etwa, dass Ausländer nur erben und vererben konnten, insoweit Gegenseitigkeit gegeben war (Art. 726, 912 CC).106 Diese Ungleichbehandlung von Fremden zeigt, wie der Code civil die oben diskutierte Gleichheit im Inneren mit der Ungleichheit nach außen erkaufte.107 Der Code civil war ein fortschrittliches Gesetzbuch; die in ihm erkämpften Rechte zwar potentiell universell, faktisch aber ein Fremdkörper im Europa seiner Zeit. Es wäre so gesehen geradezu widersinnig gewesen, von einer Gleichheit der Rechte auszugehen; die Anwendung ausländischen Rechts musste daher, wo sie erfolgte, auf anderen Überlegungen beruhen. Die Überwindung solcher Diskriminierung durch ein auf Souveränitätsgedanken beruhendes System einseitiger Kollisionsnormen erkannte schon die IPR-Wissenschaft des 19. Jahrhunderts als Aufgabe, für die die Gleichbehandlung des Fremden ein wesentliches Ziel war.108 Das Streben nach allseitigen Kollisionsnormen im 19. Jahrhundert beruhte so nicht nur auf der (völkerrechtlich gedachten) Gleichwertigkeit aller Rechtsordnungen als Wert an sich, sondern nutzte die Annahme dieser Gleichwertigkeit als Mittel, die Gleichbehandlung von Fremden und Einheimischen unabhängig von der Gegenseitigkeit zu ge103  Behn, Die Entstehungsgeschichte der einseitigen Kollisionsnormen des EGBGB unter besonderer Berücksichtigung der Haltung des badischen Redaktors Albert Gebhard und ihre Behandlung durch die Rechtsprechung in rechtsvergleichender Sicht (1980), 294 ff. zum Vergleich mit Frankreich und anderen Staaten mit einseitigen Kollisionsnormen; vgl. Keller/ Siehr, Allgemeine Lehren des internationalen Privatrechts (1986), 73. 104  Halpérin, Entre nationalisme juridique et communauté de droit (1999), 24–26. 105  Ziegler, Völkerrechtliche Verpflichtung zur Anwendung oder nur „freundliche Beachtung“ fremden Rechts? Die comitas-Lehre heute (Betrachtungen eines Rechtshistorikers), in: Leible/Ruffert (Hrsg.), Völkerrecht und IPR (2006), 43–54. 106  Die Artikel 726 und 912 wurden 1819 aufgehoben; siehe Glasson, Condition civile des étrangers en France, J. Dr. Int. Privé & Juris. Comp. 32 (1905), 513, 513. Artikel 11 existiert noch, wird aber einschränkend ausgelegt. 107  Lochak, L’étranger dans le Code civil, in: Bloch/Duvert/Sauphanor-Brouillaud (Hrsg.), Différenciation et indifférenciation des personnes dans le code civil (2006), 107–122. 108  von Savigny, System des heutigen Römischen Rechts VIII (1849), 25; Gebauer, Der Fremde im Internationalen Privatrecht des neunzehnten Jahrhunderts, in: ders./Mansel/ Schulze (Hrsg.), Die Person im Internationalen Privatrecht (2019), 89–117.

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währen.109 Insofern beruht die Form der allseitigen Kollisionsnorm nicht nur auf Praktikabilität und Rechtssicherheit;110 sie lässt sich vielmehr als Verwirklichung des Gleichheitssatzes verstehen. Es ist dies freilich eine eigenartige Gleichbehandlung, eine „Gleichheit durch Beachtung der Unterschiede“.111 Denn wenn die französische transsexuelle Person nach französischem, die deutsche nach deutschem Recht behandelt wird, so sind die auf sie anwendbaren Regeln und deren Ergebnis ja gerade verschieden. Gleich behandelt werden sie nur insofern, als nicht nur jede von ihnen grundsätzlich als rechtsfähig erachtet wird, sondern jede von ihnen, insofern gleichartig, dem Recht ihres Heimatstaates unterworfen wird. Die Gleichheit der Rechtsordnungen und die Gleichheit der Personen stehen insofern in einem Spannungsverhältnis, das sich nicht völlig aufheben lässt.

2. Friktionen Auslandsrechtsanwendung bedeutet also immer auch Ungleichbehandlung: insoweit auf einen ansonsten gleichen Sachverhalt nicht das Recht des Inlandes angewandt wird, wird er ungleich behandelt. Das ist, wie gesehen, in der Regel gewollt: die Auslandsbeziehung macht den Sachverhalt eben wesentlich anders. Teilweise macht es das im IPR notwendig, zu entscheiden, ob man inneren oder äußeren Entscheidungseinklang bevorzugen will,112 so etwa in der Frage, ob Vorfragen selbständig oder unselbständig angeknüpft werden sollen.113 Hier ist eben beides nicht zu erreichen; das Recht muss sich entscheiden. Diese Entscheidung fällt dann leichter, wenn die Anwendung des ausländischen Rechts ihrerseits einen Gleichheitsverstoß bewirkt, weil das ausländische Recht seinerseits diskriminiert.114 Das Spannungsverhältnis bleibt. Manchmal ist das allerdings nicht der Fall: die Auslandsrechtsanwendung führt insbesondere deshalb zu Friktionen mit dem Gleichheitssatz, weil sie in Kombination mit der lex fori zu ungewollter Ungleichheit führt: ein Wechsel verjährt später als in jeder Rechtsordnung (oder gar nie); die Witwe erbt durch Kombination von Güterrechts- und Erbstatut mehr (oder weniger), als nach einer der beteiligten Rechtsordnungen allein, usw. In diesen Fällen, die Danne109  Von Bar, Das Fremdenrecht und seine volkswirthschaftliche Bedeutung (1893); Brüning, Die Beachtlichkeit des fremden ordre public (1997), 74; Jayme, Internationales Privatrecht: Ideengeschichte von Mancini und Ehrenzweig (2009), 13. 110  So aber etwa von Bar/Mankowski, Internationales Privatrecht Band 1: Allgemeine Lehren (2003), § 4 Rn. 38; kritisch auch Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht (1981), 56. 111  Jayme, Internationales Privatrecht und Völkerrecht (2003), 9. 112  Kegel/Schurig (Fn. 14), 139 ff. 113  von Bar/Mankowski (Fn. 110), § 7 Rn. 193 f.; Nietner, Internationaler Entscheidungseinklang im europäischen Kollisionsrecht (2016), 199 ff. 114 Dazu Lüttringhaus, Grenzüberschreitender Diskriminierungsschutz – Das internationale Privatrecht der Antidiskriminierung (2010).

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mann als Fälle „ungewollter Diskriminierung“ bezeichnet hat, 115 muss das IPR helfen, und das wichtigste Institut dabei ist dasjenige der Anpassung. Die Anpassung entzieht sich streng logischer Vorschriften, weil sie zwischen den Logiken unterschiedlicher Sachrechte und der des IPR vermitteln muss; sie kann manchmal auf kollisionsrechtlicher und manchmal auf sachrechtlicher Ebene einsetzen. Immer aber geht es darum, Gleichheit zu erreichen, oder jedenfalls nicht größere Ungleichheit als nötig.

3. Gleichheitssatz a) Der Gleichheitssatz als Grundlage des IPR Ungeachtet solcher Schwierigkeiten hat es immer wieder Versuche gegeben, das gesamte Internationale Privatrecht als Ausdruck des Gleichheitssatzes zu erkennen. In Deutschland haben insbesondere Wengler und Lorenz für den Gleichheitssatz als Grundlage des IPR argumentiert.116 Wengler folgerte aus dem Gleichheitssatz für Rechtsordnungen den Grundsatz der paritätischen Behandlung von eigenem und fremdem Recht, und wollte einen solchen Grundsatz der Verfassung für innerstaatliche Rechtskollisionen entnehmen; im Völkergewohnheitsrecht sah er einen solchen Satz nicht.117 Ähnlich argumentierte Egon Lorenz für allseitige Kollisionsnormen: als „rechtliche Grundlage für die Nichtanwendung der lex fori und die Anwendung eines ausländischen Rechts.“118 Wengler ging noch darüber hinaus: Auch die Begünstigung eigener über fremde Bürger hielt er für einen Verstoß und bezweifelte daher das Staatsangehörigkeitsprinzip als Anknüpfungskriterium119 – ein Gedanke, der später im EU-Recht fruchtbar wurde. Schließlich brachte er noch einen etwas überraschenden Gedanken: das Gebot der Gleichbehandlung nationaler und internationaler Situationen erfordere es grundsätzlich, immer nur ein einziges Recht auf einen Sachverhalt anzuwenden.120 Ausnahmen galten für freiheitsbeschränkende Regeln im öffentlichen Interesse.121 In den USA hat – allerdings für Rechtskollisionen zwischen den Einzelstaaten – Douglas Laycock einen ähnlichen Vorschlag gemacht, das IPR auf den 115 

Dannemann (Fn. 22). Wengler (Fn. 23), 239–304; ders., Das Gleichheitsprinzip im Kollisionsrecht, in: Eranion in honorem Georgii S. Maridakis Bd. III (1964), 323–379; ders., Internationales Privatrecht (1981), § 7. 117  Wengler (Fn. 116). 118  Lorenz, Zur Struktur des internationalen Privatrechts (1977), 60. 119  Wengler (Fn. 116), 339. 120  Gerade umgekehrt meint Neuhaus, Die Grundbegriffe des Internationalen Privatrechts (1962), 192, die Beachtung mehrerer Rechtsordnungen könne dazu führen, dass „keine der in Betracht kommenden Rechtsordnungen zurückgesetzt wird“, und so auch der Gleichberechtigung der Geschlechter Genüge tun. 121  Wengler (Fn. 116), 347 f. mit Ausnahmen. 116 

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Gleichheitssatz zu stützen.122 Layock meinte, die Verfassungsprinzipien der Gleichheit von Bürgern und von Staaten schlössen grundsätzlich aus, dass ein Staat seine eigenen Bürger bevorzuge, wie es insbesondere im Rahmen der Governmental Interest Analysis vorkommen kann. Solche Argumente sind nur zum Teil überzeugend. Die Form der Kollisionsnorm als allseitige lässt sich, wie gesehen, durchaus aus einem Gleichheitssatz folgern, sofern man ihn als „Gleichheit durch Beachtung der Unterschiede“ versteht.123 Die Bevorzugung der lex fori – das Heimwärtsstreben – ist insofern jedenfalls verdächtig, oder begründungsbedürftig. Ob etwa die bessere Kenntnis des Rechts allein hier ausreicht,124 erscheint zweifelhaft. Der Inhalt der Kollisionsnorm dagegen, insbesondere das gewählte Anknüpfungskriterium, lässt sich aus einem solchen formal verstandenen Gleichheitssatz nicht ableiten. Konkret: welche der gleichen Rechtsordnungen im konkreten Rechtsfall zur Anwendung kommen soll, kann der Gleichheitssatz nicht entscheiden.125 Dafür braucht es andere Argumente. Laycock etwa folgerte aus einem weiteren verfassungsrechtlichen Prinzip, nämlich der Territorialität staatlicher Autorität, dass kollisionsrechtliche Regeln grundsätzlich territorial sein müssten.126 Zwingend ist das nicht: versteht man Recht eher national, so ist das relevante Anknüpfungskriterium die Staatsangehörigkeit; auch das ist dann mit dem Gleichheitssatz vereinbar.

b) Der Gleichheitssatz als Beschränkung Wenn also der bloß formale Gleichheitssatz allein nicht als Grundlage des IPR dienen kann, dann doch als Beschränkung. Für Mankowski etwa ist dieses lediglich ein Willkürverbot. 127 Seine Ansicht, auf Gleichheit zwischen Rechtsordnungen als höherrangiges Rechtsprinzip komme es deshalb nicht an, weil es im Internationalen Privatrecht wesentlich nicht um Souveränität gehe,128 erscheint allerdings zu stark. 122  Laycock, Equal Citizens of Equal and Territorial States: The Constitutional Foundations of Choice of Law, Colum. L. Rev. 92 (1992), 249 ff. 123  Das umgekehrte Argument – der Gleichheitssatz verbiete die Anwendung ausländischen Rechts – wird soweit ersichtlich nicht vertreten; vgl. Beitzke, Grundgesetz und Internationalprivatrecht (1961), 19; Makarov, Der Gleichbehandlungsgrundsatz und das internationale Privatrecht, in: Eranion Maridakis III (Fn. 116), 231, 241. 124  Für lex fori insbesondere Flessner, Interessenjurisprudenz im internationalen Privatrecht (1990); kritisch Schurig, Interessenjurisprudenz contra Interessenjurisprudenz im IPR, RabelsZ 59 (1995), 229, 240 ff. 125  Neuhaus nennt das den „wohl unvermeidliche[n] Preis einer Reduzierung der Gerechtigkeit auf den rein formalen Gleichheitssatz.“ Kollisionsrechtliche Besinnung – Zu Wilhelm Wengler, Internationales Privatrecht, RabelsZ 45 (1981), 627, 635. 126  Laycock (Fn. 122), 315 ff. 127  Von Bar/Mankowski (Fn. 110), § 4 Rn. 37, 220. 128 Ebda., § 4 Rn. 38, 221.

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Freilich besteht in einem System allseitiger Kollisionsnormen für eine zusätzliche Anwendung des Gleichheitssatzes eher wenig Bedarf. Wichtiger wird das in Systemen, in denen die lex fori bevorzugt wird. Das betrifft insbesondere die interest analysis, die – jedenfalls in der extremeren Variante, wie sie Brainerd Currie vortrug129 – im Grunde eine Theorie der Ungleichheit ist: ein Richter muss das eigene Recht dem fremden vorziehen, sofern ein Interesse an seiner Anwendung besteht, und das ist insbesondere dann so, wenn die eigenen Bürger oder das eigene Territorium betroffen sind. Currie selbst sah diese Theorie der Ungleichheit eingeschränkt durch die Diskriminierungsverbote der US-Verfassung und hielt diese Verbote für ein hilfreiches Bollwerk gegen zu großen Egois­ mus der Einzelstaaten.130 Aber auch im deutschen Internationalen Privatrecht kann es auf die Gleichbehandlung ankommen. So hält der BGH den 2017 eingeführten Art. 13 Abs. 3 EGBGB unter anderem deshalb für verfassungswidrig, weil im Ausland geschlossene Minderjährigenehen mit stärkeren Sanktionen behaftet werden als im Inland geschlossene Minderjährigenehen.131

c) Der Gleichheitssatz als Inhalt des ordre public Wenn der Gleichheitssatz als Beschränkung des Kollisionsrechts auftritt, so ist sein plausibelster Platz in der ordre-public-Klausel. Der ordre public ist ein rechtsvergleichendes Institut: er fordert den Vergleich des ausländischen Rechts (beziehungsweise der Ergebnisse seiner Anwendung) mit dem inländischen Recht (beziehungsweise dessen Grundsätzen) und greift ein, wenn die Ungleichheit zu groß ist.132 So gesehen betrifft jede Anwendung der ordre-public-Klausel auch Fragen der Gleichheit zwischen Rechtsordnungen. Gleichzeitig gehört zu den durch den ordre public durchzusetzenden Grundwerten auch der interpersonale Gleichheitsgrundsatz, und zwar sowohl bei ausländischem Sachrecht als auch bei ausländischen Kollisionsnormen.133 Auch 129  Spielarten der Interest analysis, bei denen die einmal festgestellten Interessen der Staaten gegeneinander abgewogen werden oder Konflikte nach dem Prinzip des comparative impairment aufgelöst werden, führen nicht in diesem Sinne zu Ungleichheit. Aus diesem Grunde schlägt etwa Peari sie den formalen Methoden zu: Peari, The Foundation of Choice of Law – Choice and Equality (2018), 4–5. Siehe auch Brilmayer/Listwa, A Common Law of Choice of Law, Fordham Law Review 89 (2020), 889. 130  Currie/Schreter, Unconstitutional Discrimination in the Conflict of Laws: Privileges and Immunities, 69 Yale L.J. (1960), 1323 ff.; dies., Unconstitutional Discrimination in the Conflict of Laws: Equal Protection, U. Chi. L. Rev. 28 (1960), 1–52. 131  Vgl. dazu Toman/Olbing, Die ausländische Frühehe vor dem allgemeinen Gleichheitssatz, in: Yassari/Michaels (Hrsg.), Die Frühehe im Recht (2021), 217–240. 132 Siehe Michaels, Comparative Law and Private International Law, in: Elgar Encyclopedia of Private International Law Bd. 1 (2016), 417, 422. 133 BGH FamRZ 1986, 1200; BGH NJW 1988, 638; ausführlich Lorenz, Deutscher Gleichberechtigungsgrundsatz und fremdes Kollisionsrecht oder: Soll am deutschen (Grund-

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hier wird, wie beim ordre public üblich, nur das Ergebnis der Anwendung des ausländischen Rechts am ordre public überprüft, nicht die ausländische Norm selbst (bei ausländischen Kollisionsnormen ist das allerdings umstritten). Beide Prinzipien – Gleichheit der Rechtsordnung und Gleichbehandlung der Individuen – wirken manchmal zusammen. Der talaq des islamischen Rechts etwa verstößt gegen den deutschen ordre public, weil er nur dem Ehemann zusteht und nicht auch der Ehefrau.134 Der Verstoß entfällt aber, wenn auch nach deutschem Recht eine Scheidung möglich gewesen wäre, denn wo das ausländische Recht im Ergebnis dem inländischen gleicht, kann seiner Anwendung der deutsche ordre public nicht entgegenstehen. Wegen Ergebnisgleichheit zwischen deutschem und ausländischem Recht entfällt also der ordre-public-Verstoß. Andererseits soll die Regel des iranischen Rechts, wonach männliche Nachkommen doppelt so viel erben wie weibliche, am deutschen ordre public scheitern, selbst wenn im Ergebnis die weiblichen Nachkommen nach iranischem Recht immer noch mehr erben würden als bei hypothetischer Anwendung des deutschen Erbrechts. 135 Hier regte das Gericht an, die Ungleichbehandlung wegen des Geschlechts zwischen Töchtern und Söhnen aufzulösen, nicht aber die Ungleichbehandlung zwischen Kindern und Ehefrau (die nur ein Achtel erbt). Indes ist der Konflikt zwischen personaler Gleichheit und internationaler Singularität manchmal ein scheinbarer. In der englischen Oppenheimer-Entscheidung etwa argumentierte der Kläger, er solle im Rahmen des Steuerrechts als deutsch-englischer Doppelstaatsangehöriger behandelt werden.136 Zwar hatte er seine deutsche Staatsangehörigkeit 1941 verloren, dies aber nur aufgrund eines antisemitischen Gesetzes des nationalsozialistischen Deutschlands. Das englische House of Lords folgte dem Argument mit einer an die Radbruch-Formel erinnernden Formulierung: „a law of this sort constitutes so grave an infringement of human rights that the courts of this country ought to refuse to recognize it as a law at all.“137 Hier wird offenbar die Gleichwertigkeit der Rechtsordnungen eingeschränkt und damit scheinbar gegen den Gleichheitssatz verstoßen: ausländisches Recht bleibt unanwendbar, obwohl es doch formal gleichwertig ist. Gleichzeitig beruft das Gericht aber mit den Menschenrechten einen Gleichbehandlungsanspruch mit universellem Geltungsanspruch: die Unanwendbarkeit nationalsozialistischen Rechts beruht damit auf rechts)Wesen die Welt genesen?, in: Mélanges Fritz Sturm II (1999), 1559, 1565–1572; Gebauer, Gesamtverweisung und ordre public, in: Mansel et al. (Hrsg.), Festschrift für Erik Jayme (2004) Bd. 1, 223–229. 134  Voltz, in: Staudinger (2012), Art. 6 EGBGB Rn. 177 („offensichtlich“). 135  OLG München, Beschl. v. 08.12.2020 – 31 Wx 248/20, NZFam 2021, 94 m. Anm. Mankowski (unterschiedliche gesetzliche Erbquoten für männliche und weibliche Kinder). 136  Oppenheimer v. Cattermole (Inspector of Taxes) [1976] AC 249. 137  [1976] AC 278.

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dessen Verstoß gegen eben diesen Gleichheitssatz. Peari sieht darin die Anwendung eines kantischen Universalismus.138 Wengler, der sein ganzes IPR auf dem Gleichheitssatz aufbaut, sieht es beachtlicherweise ähnlich: Gerade im ordrepublic-Vorbehalt finde man einen Ausfluss des Gleichheitsgedankens, weil der Vorbehalt nur dann zum Tragen komme, wenn das ausländische Recht in einem unerträglichen Maße von der lex fori unterschiedlich sei.139 Damit zeigt sich: im ordre-public-Vorbehalt geht es regelmäßig nicht um den Gegensatz zwischen Singularität (der lex fori) und Gleichheit der Rechtsordnungen. Vielmehr stehen unterschiedliche Gleichheitssätze – formale Gleichheit zwischen den Rechtsordnungen als Gleichwertigkeit einerseits, inhaltliche Gleichheit zwischen den Rechtsordnungen als Anwendungserfordernis andererseits – im Widerspruch.

4. Entscheidungseinklang Eine besondere Rolle spielt der Gleichheitssatz schließlich im Rahmen des (äußeren) Entscheidungseinklangs.140 Savigny formulierte als Ziel des IPR, dass „die Rechtsverhältnisse, in Fällen einer Collision der Gesetze, dieselbe Beur­ theilung zu erwarten haben, ohne Unterschied, ob in diesem oder jenem Staate das Urtheil gesprochen werde.“141 Dieses Prinzip der Gleichbehandlung von Fällen unabhängig vom Forum ist ein Grundprinzip des kontinentaleuropäischen Internationalen Privatrechts, dabei aber keineswegs selbstverständlich. Die potentielle Verallgemeinerbarkeit der Kollisionsnorm wird dabei häufig als „second best“ angesehen; angestrebt wird die tatsächliche Vereinheitlichung des Kollisionsrechs, um den Entscheidungseinklang auch tatsächlich zu garantieren. Dass die Gleichheit der Normen noch nicht die Gleichheit ihrer Anwendung bewirkt, wird als misslich empfunden.142 Dem damit verbundenen Prinzip allseitiger und universalisierbarer Kollisionsnormen liegt nach einigen Kants kategorischer Imperativ zugrunde,143 inklusive seiner Verankerung in der Idee der Gleichheit vor dem (hypothetischen) 138 

Peari (Fn. 129), 174–76. Wengler (Fn. 23), 372 f.; Lorenz (Fn. 133), 67, der allerdings alternativ auch vertritt, der Gleichheitssatz sei nur eines von mehreren Verfassungsprinzipien. 140  Nietner (Fn. 113). 141  von Savigny (Fn. 108), 27. 142  Beaumont et al. (Hrsg.), Cross-Border Litigation in Europe (2017); Kramer, A Common Discourse in European Private International Law? A View from the Court System, in: von Hein/Kieninger/Rühl (Hrsg.), How European is European Private International Law? (2019), 215–234; de Miguel Asensio, National Court Systems and Uniform Application of European Private International Law, ebda. 235–251. 143  De Nova, Historical and Comparative Introduction to Conflict of Laws, Rec. des Cours 118 (1966), 437, 463 („Kantian flavor“); Kropholler, Internationales Privatrecht (6. Aufl. 2006) § 6 II.2, S. 38; Dörfelt, Gesetzgebungsziele im internationalen Privatrecht (2017), S. 6. 139 

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allgemeinen Gesetz, womit in diesem Fall das Kollisionsrecht gemeint ist. Kantisch ist die Herleitung auch bei Cavers, der seinen Grundsatz, Kollisionsnormen sollten grundsätzlich verallgemeinerbar sein, auf John Rawls’ Gerechtigkeitstheorie zurückführt und damit mittelbar auch auf kantische Ideen.144 Insofern greift es zu kurz, wenn man das Prinzip nur als Folge aus der Theorie vom „Sitz des Rechtsverhältnisses“ versteht oder es nur instrumental zur Verhinderung von forum shopping verwendet. Der Grundsatz des Entscheidungseinklangs ist insofern ein Grundsatz der Gerechtigkeit.145 Erreicht wird der äußere Entscheidungseinklang indes nicht nur durch einheitliche Kollisionsnormen sondern auch insbesondere durch das Institut der Rück- und Weiterverweisung (freilich nur als eines von mehreren Zielen).146 Die damit angestrebte Gleichheit der Entscheidungen unterschiedlicher Gerichte findet ihre Extremvariante in der foreign court theory: das entscheidende Gericht gleicht sich und sein Urteil gänzlich dem ausländischen Gericht an.147 Zugleich liegt hier der Anerkennung (auch) ein Gleichheitsprinzip zugrunde: Parteien sollen sich darauf verlassen können, dass ihr Sachverhalt überall gleich behandelt wird. Freilich ist der Gleichheitsgrundsatz hier ein bloß formaler, der über den Inhalt nicht viel aussagt; das zeigt sich im bekannten Problem des Renvoizirkels. Ganz klar ist die Verbindung zwischen Entscheidungseinklang und Gleichheit indes nicht. Einerseits ist der verlangte äußere Entscheidungseinklang nur ein hypothetischer.148 Regelmäßig wird ja nicht wirklich mehrmals über dieselbe Frage entschieden; vielmehr wird das Urteil des entscheidenden Gerichts in den meisten Fällen im Ausland anerkannt. 149 Folge dieser Anerkennung ist, dass die Parteien in der Tat in allen Staaten gleich behandelt werden, nämlich gemäß demselben Urteil. Anderseits kann der äußere Entscheidungseinklang mit dem inneren Entscheidungseinklang im Konflikt stehen, wenn nämlich je nach Auslandsbezug auf ansonsten gleiche Fälle unterschiedliches Recht angewandt wird.150 Und schließlich ist die durch Entscheidungseinklang durchgesetzte Gleichheit eine rein formale; über den Inhalt wird nichts ausgesagt (was 144  Cavers, Contemporary Conflicts Law in Modern Perspective (1970), 153; vgl. von Mehren, Recent Trends in Choice-of-Law Methodology, Cornell L. Rev. 60 (1975), 927, 953; Banu, Conflicting Justice in Conflict of Laws, Vand. J. Transnat’l L. 53 (2020), 461, 510–517. 145  Braga, Kodifikationsgrundsätze des internationalen Privatrechts, RabelsZ 23 (1958), 421–448, 438 f. 146  Sonnentag, Der Renvoi im Internationalen Privatrecht (2001), 116 ff., mwN 119 Fn. 16–19, 137 ff.; Nietner (Fn. 113), 76 ff. 147  Collier v. Rivas, (1841) 2 Curt. Ecc. 855, 862. 148  Michaels, Der Abbruch der Weiterverweisung im internationalen Privatrecht, RabelsZ 61 (1997), 685, 691; Sonnentag (Fn. 146), 123. Deshalb ablehnend Mäsch, Der Renvoi – Plä­ doyer für die Begrenzung einer überflüssigen Rechtsfigur, RabelsZ 61 (1997), 285, 297. 149  Deshalb geht auch der Vergleich bei Braga (oben Fn. 145) mit dem Prinzip des ne bis in idem fehl. 150 Vgl. Sonnentag (Fn. 146), 124 ff.

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eben beim double renvoi zum Problem führt, dass ein solcher Inhalt gar nicht erzeugt wird).

III. Singularität Es würde zu weit gehen, zu behaupten, Gleichheit sei das ungefragte Paradigma der Moderne gewesen. Aber es fällt doch auf, dass von 1800 bis in die 1980er Jahre in allen Disziplinen der Rechtsvielfalt immer mehr die Differenz, nicht die Gleichheit, begründungsbedürftig erschien. Weiterbestehende Rechtsvielfalt war ein bedauerliches Übel – sogar im IPR, wo Kegel das Fehlen eines vereinheitlichten IPR einen „Krebsschaden“ nannte.151 Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gab es verstärkt auch normative Argumente für Singularität und Differenz. Das betrifft nicht nur einzelne Individuen, sondern auch Rechtsordnungen: ebenso wie die Identität von Personen wurde auch die Identität von Gesellschaften und ihren Rechtsordnungen betont. Dabei finden sich zwei Formen solcher Singularität: zum einen eine solche, die aus der Identität herkommt und so gewissermaßen vorgegeben ist, zum anderen eine, die rationale Selbstbestimmung betont und so der Gleichheit entgegensetzt.

A. Rechtsvergleichung 1. Affektive Singularität: Recht als Kultur Die Singularität ist im Grunde ein altes Thema in der Rechtsvergleichung. Wenn Montesquieu betonte, jeder Staat habe sein eigenes Recht, das zu seiner klimatischen und geographischen, kulturellen und religiösen, ökonomischen, moralischen und politischen Lage passe,152 so formulierte er zwar nicht ausschließlich, aber doch ganz hauptsächlich Einflussfaktoren, die wir heute als kulturelle bezeichnen würden.153 Der frühen Rechtsvergleichung des 19. Jahrhunderts ging es wesentlich darum, die Eigenarten verschiedener Rechtsordnungen oder Rechtsfamilien herauszustellen; es ging also in dem Sinne um Singularitäten. Noch im 20. Jahrhundert betonte insbesondere Makrovergleichung weitgehend kulturelle Eigenheiten. In England und Frankreich wird der Gegensatz zwischen common law und civil law (das man häufig auf französisches 151  Kegel/Schurig, Internationales Privatrecht (8. Aufl. 2000), 122, in der 9. Aufl. (2004) nicht mehr enthalten. 152  Ebenso auch etwa Bodin, vgl. Hirschl (Fn. 16), 119 f. 153 Vgl. Launay, Montesquieu: The Spectre of Despotism and the Origins of Comparative Law, in: Riles (Hrsg.), Rethinking the Masters of Comparative Law (2001), 22–38.

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Recht beschränkt) thematisiert; die französische Tradition der „Grands Systèmes“154 neigt seit jeher dazu, Eigenheiten zu betonen. Und selbst als solche Unterschiede zwischen civil law und common law im Namen eines europäischen ius commune überwunden werden sollten, ging es, gerade bei der Betonung einer gesamteuropäischen Rechtskultur, gleichzeitig um die Abgrenzung zu nichteuropäischen Rechten – zum US-amerikanischen Recht etwa,155 aber auch zum Recht asiatischer und afrikanischer Staaten.156 Freilich wirkt auch hier die Dialektik fort: Unterschiede zwischen Rechtskreisen lassen sich nur dadurch finden, dass Gemeinsamkeiten innerhalb der Rechtskreise betont werden.

a) „Differenztheoretiker“ Insbesondere gegen solche Bestrebungen zur Überwindung der Gegensätze richten sich im Namen der Kultur Stimmen, manchmal „difference theorists“ genannt,157 seit den 1980er Jahren, also genau im von Reckwitz genannten Zeitraum. 1985 kritisierte Günther Frankenberg die herrschende funktionale Rechtsvergleichung dafür, sie suche große Gemeinsamkeiten anstatt Unterschiede im Detail158 und postulierte demgegenüber eine Rechtsvergleichung als „exercise in difference“.159 Richard Hyland setzte Zweigerts „praesumptio simi­ litudinis“ eine „propositio differentiae“ entgegen.160 Am radikalsten betont die Differenz und Singularität seit den 90er Jahren Pierre Legrand, der in zahlreichen Publikationen fordert, Rechtsvergleicher müssten der Versuchung der Gemeinsamkeiten widerstehen und stattdessen die Alterität und Singularität des fremden Rechts anerkennen.161 Ideengeschichtlich stützt sich diese Betonung von Differenz häufig auf den französischen Poststrukturalismus oder die Postmoderne, aber auch auf cultural studies und andere Interdisziplinarität. Betont 154  Fauvarque-Cosson, Development of Comparative Law in France, in: Reimann/Zimmermann (Hrsg.) (Fn. 15), 29, 43. 155  Zimmermann, Amerikanische Rechtskultur und europäisches Privatrecht: Impressionen aus der Neuen Welt (1995). 156 Vgl. Corcodel, Modern Law and Otherness (2019), 172 ff. 157  Zusammengefasst als „Difference Theory“ von Dannemann, Comparative Law: Study of Similarities or Differences?, in: Reimann/Zimmermann (Hrsg.) (Fn. 15), 390, 396; Hyland, Gifts (2009), 68 f.; als „postmodern approaches“ bei Siems, Comparative Law (2. Aufl. 2018), 115 ff. 158  Frankenberg, Critical Comparisons: Rethinking Comparative Law, Harv. J. Int’l L. 26 (1985), 411, 436 f. 159 Ebda., 414. 160  Hyland, Comparative Law, in: Patterson (Hrsg.), A Companion to Philosophy of Law and Legal Theory (1996), 184, 193 ff. 161 Paradigmatisch etwa Legrand, Comparative Legal Studies and Commitment to ­T heory, Modern Law Review 58 (1995), 262; ders., The same and the different, in: ders./ Munday (Hrsg.), Comparative Legal Studies: Traditions and Transitions (2003), 240–311; ders., On the Singularity of Law, Harv. J. Int’l L. 47 (2006), 517 ff.; ders., Comparative Legal Studies and the Matter of Authenticity, J. Comp. L. 1 (2006), 365–460.

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wird, wie sehr das Recht in der Kultur verhaftet sei. Genau das, was die Rechtsvergleicher des Allgemeinen durch Rationalisierung überwinden wollten, wird hier also wieder in den Vordergrund gerückt. Dahinter steht die Idee, dass Personen von ihrer Kultur und dem darauf beruhenden Recht geprägt sind und in dieser „embeddedness“ Anerkennung verdienen. Für die Rechtsvergleichung bedeutet das zunächst einfach nur, dass Rechtsordnungen allenfalls oberflächlich einander gleichen, in einem nicht bloß oberflächlichen Sinne aber unterschiedlich, singulär sind. Rechtsvergleichung, so wird gefordert, solle sich diesen Singularitäten widmen, um Rechtsordnungen in ihrer Eigenart zu verstehen und zu erfassen. Dieser Fokus auf Differenz hat dann Auswirkungen auf die Rechtsvergleichung als Prozess. Denn die Rechtsvergleicherin selbst ist ja innerhalb ihrer eigenen Kultur, ihres eigenen Rechts positioniert und betrachtet von dort, nicht von einem neutralen Punkt, das fremde Recht. Wegen ihrer eigenen Singularität ist es ihr also gar nicht möglich, die Differenz ganz zu überwinden, selbst wenn sie das wollte. Frankenberg schlägt demgegenüber einen Prozess vor, den er „distanc­ing and differencing“ nennt: „Distancing/differencing calls on the comparatist to decenter her worldview and to consciously establish subjectivity and context in the comparative space, that is, to take into account the observer’s perspective. Only then may the comparatist be able to transgress the borders and the pull of the familiar/accustomed/own system and experience and perceive the differences ‚out there‘.“162

Indes geht es bei der Betonung von Singularität gegen Gleichmacherei um das Verhältnis nicht nur zwischen Rechten, sondern auch zwischen Personen: die französische transsexuelle Person soll ein Recht darauf haben, in ihrer Eigenheit als transsexuell und in ihrer Eigenheit als Französin anerkannt zu werden. Der Zusammenhang etwa mit critical race theory und feministischer Theorie wird teilweise explizit gezogen.163

b) Probleme Nicht gelöst wird damit indes das Problem, das daraus entstehen kann, wenn die Identitäten in einem Spannungsverhältnis stehen. Legrand erklärt das französische Gesetz von 2004 gegen den hijab in der Schule durch einen Prozess, den er (etwas pompös) nach Derrida „tracing“ nennt: das Gesetz folge einer langen französischen laizistischen Tradition.164 Das ist sicherlich im

162  Frankenberg, Stranger than Paradise: Identity and Politics in Comparative Law, Utah Law Review 2 (1997), 259 ff.; vgl. ders. (Fn. 158), 439 ff. 163 Etwa Curran, Cultural Immersion, Difference and Categories in U.S. Comparative Law, Am. J. Comp. L. 46 (1998), 43, 44. 164  Legrand, Siting Foreign Law: How Derrida Can Help, Duke J. Comp. L. 21 (2011),

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Grunde richtig.165 Insgesamt aber birgt der Fokus auf affektive Singularität Probleme. Ein erstes Problem betrifft die Singularität selbst. Einerseits droht eine Art kultureller Essentialismus. Das fremde (in diesem Fall französische) Recht und seine Kultur werden einheitlicher dargestellt, als sie sind. Interne Gegenbewegungen und Gegenargumente werden unterbewertet. Besonders stark taucht dieses Problem oberhalb des Staates auf, wenn common law und civil law (wie etwa bei Legrand) in ihrer jeweiligen Singularität einander entgegengesetzt sind, weil damit bestehende relevante Unterschiede zwischen Rechtsordnungen innerhalb dieser Traditionen heruntergespielt werden. Ob etwa das englische Recht sich wirklich vom Recht kontinentaleuropäischer Staaten mehr unterscheidet als vom US-amerikanischen Recht, hat man mit einigem Gewicht in Zweifel gezogen. Andererseits droht eine Übertreibung der Unterschiede zu ausländischer Kultur. Das Abstellen auf eine spezifisch nationale Kultur und Identität können dazu führen, transnationale Einflüsse zu ignorieren. Das muss nicht immer so extrem sein wie im Deutschland des 19. Jahrhunderts, als das importierte römische Recht als wesentlich für den deutschen Volksgeist angesehen wurde, oder bei Versuchen, die aus dem französischen Code Civil übernommenen Schenkungsvorschriften des japanischen Zivilgesetzbuchs aus der japanischen Kultur herzuleiten. Aber auch der französische Laizismus ist ja nicht komplett autark in Frankreich entstanden, sondern im Zusammenhang mit Diskussionen anderswo. Die Idee, dass Kulturen national sind, lässt sich im Grunde nur noch mit großen Einschränkungen aufrechterhalten. Hinzu kommt ein zweites Problem: die Gefahr der Zirkularität. Nicht selten werden Rechtsunterschiede aus behaupteten kulturellen Besonderheiten heraus erklärt, die indes unabhängig von ihrem Ausdruck im Recht gar nicht festgestellt werden können: die USA gewähren besonders starken Schutz für die Redefreiheit, weil sie die freie Rede besonders wichtig finden; als Beweise für diese kulturelle Präferenz dient dann wiederum die Tatsache, dass sie sich im Recht verwirklicht habe. Dadurch kommt ein weiteres Problem hinzu, das auch aus der Diskussion zur Identitätstheorie bekannt ist: wenn alle Wahrheit standortabhängig ist, bedeutet das, dass sowohl der Zugang zum als auch die Kritik am fremden Recht erschwert werden. Der Relativismus, der einer nur auf Singularität ausgelegten Rechtsvergleichung innewohnt, schreckt davor zurück, Ungleichheiten dort zu kritisieren, wo es richtig wäre. Letztlich kann danach nur der Teilnehmer des fremden Rechts selbst sein Recht verstehen und damit kritisieren. Insofern kann 595, 626–629; ders., Tracing the French Statute on Religious Dress at School (Detail), https:// www.pierre-legrand.com/tracing-detail-2.pdf. 165  Bowen, Why the French Don’t Like Headscarves (2007); Scott, The Politics of the Veil (2007); Michaels, Banning Burqas: The Perspective of Postsecular Comparative Law, Duke J. Int’l & Comp. L. 28 (2018), 213–245.

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die Betonung von Alterität und Singularität zu einem unpolitischen Konservatismus führen: das fremde Recht wird als solches anerkannt, eben weil nur das seiner Singularität entspricht. Überzeugend ist das nicht: manchmal hat der Außenseiter gerade wegen seiner Außenseiterposition ein besseres Verständnis von einem Recht.166 Die Akzeptanz der französischen Identität in ihrer Gesetzgebung zur Verschleierung167 geht ja einher mit der Weigerung ebendieser Gesetzgebung, die muslimische Schülerin in ihrer muslimischen Identität anzuerkennen. Hier ist das schwierige Verhältnis von Feminismus und Multikulturalismus angesprochen.168 Wer fordert, die Singularität des französischen Rechts zu akzeptieren, macht es sich damit unmöglich, vom französischen Gesetzgeber zu fordern, die Identität der muslimischen Frau zu schützen. Auch hat man eine Zeitlang den Menschenrechten die sogenannten Asian Values als angeblichen Ausdruck einer spezifischen asiatischen Identität entgegengehalten. Mittlerweile wissen wir, dass die Betonung von Asian Values ihrerseits oft einer politischen Präferenz der Regierenden in asiatischen Ländern entspringt.169

2. Rationale Singularität: Demokratische Selbstbestimmung Neben dieser affektiven Singularität von Gesellschaften und ihrem kulturell verstandenen Recht steht auch eine rationale Singularität, verkörpert in der politischen Selbstbestimmung von Gesellschaften. In der Rechtsvergleichung ist ein solcher Fokus auf politische Unterschiede als Grundlage für Rechtsunterschiede insbesondere im öffentlichen Recht einleuchtend. Schon Montesquieu trennte seine drei vergleichenden Verfassungstypen aufgrund dreier politischer Modelle; auch heute gilt als selbstverständlich, dass Verfassungen auf politischer Selbstbestimmung beruhen und daher die Identität eines Staates widerspiegeln. In der Privatrechtsvergleichung dagegen – wie in der kontinentaleuropäi­ schen Privatrechtswissenschaft insgesamt – ist die Idee einer Verbindung zwischen Recht und Politik eher verdächtig.170 Privatrechtsvergleichung und -vereinheitlichung sollen ja gerade deshalb Gleichheit zwischen Rechtsordnungen feststellen können, weil politische Differenzen jedenfalls im Privatrecht keine großen Unterschiede machen. Versuche im nationalsozialistischen Deutschland und in der DDR, das Privatrecht politisch zu revolutionieren, fanden bald ihre 166 

167 

177.

Whitman, The neo-Romantic turn, in: Legrand/Munday (Hrsg.) (Fn. 161), 312–344. Legrand, Foreign Law: Understanding Understanding, J. Comp. L. 6 (2011), 67, 175–

168  Zusammenfassung der Debatte bei Knop/Michaels/Riles, From Multiculturalism to Technique: Feminism, Culture, and the Conflict of Laws Style, Stan. L. Rev. 64 (2012), 589, 596–609. 169  Zur Debatte Michaels, How Asian Should Asian Law Be?, in: Low (Hrsg.), Convergence and Divergence of Private Law in Asia (im Ersch.), Kap. 11. 170  Ebenso für das Verfassungsrecht Kischel, Rechtsvergleichung (2015), § 1 Rn. 50.

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Grenzen; die Zivilgesetzbücher in den osteuropäischen Staaten sahen auch zu Zeiten des Sozialismus nicht groß anders aus als die in Westeuropa. Der Gedanke, dass Privatrecht unpolitisch sei, ist indes spätestens seit dem frühen 20. Jahrhundert zweifelhaft geworden, nicht nur in den USA. Und dass auch Privatrecht der demokratischen Legitimation bedarf, ist in Europa seit dem französischen Code Civil weitgehend anerkannt. Wenn die Sonderbeilage der DJZ zum Inkrafttreten des BGB den Titel trug „Ein Volk – Ein Reich – Ein Recht“, drückte sie diese Idee der politischen Gründung plastisch aus.171 Beides – politischer Charakter des Privatrechts und Notwendigkeit demokratischer Legitimation – garantiert indes noch nicht, dass der Inhalt des Zivilrechts die politischen Präferenzen des Staates widerspiegelt, anstatt lediglich ihre kulturelle Identität. Das würde umfassende politische Diskussionen voraussetzen, die zwar für spezielle Fragen im Privatrecht immer wieder behandelt werden, für Fragen des allgemeinen Privatrechts dagegen selten sind. Die Idee, dass das Privatrecht eines Staates inhaltlich insgesamt auf seiner demokratischen Selbstbestimmung beruhte, lässt sich daher nur eingeschränkt aufrechterhalten. Indes greift diese Analyse wohl zu kurz. Denn einerseits muss die Selbstbestimmung eines Staates ja nicht demokratischer Art sein, sondern umgekehrt entspringt die Idee der demokratischen Verankerung einer bestimmten politischen Konstellation. Und andererseits ist die Idee der Politikfreiheit des Privatrechts seinerseits, ebenso wie die Trennung des Privatrechts vom öffentlichen Recht, eine Errungenschaft einer bestimmten politischen Konstellation. Es ist also möglich und auch manchmal nützlich, Unterschiede zwischen Privatrechten nicht nur auf kulturelle Eigenheiten, sondern auch auf politische Entscheidungen zurückzuführen, in ihnen also eine rationale und nicht nur eine affektive Singularität zu erblicken. Freilich erfolgt auch hier häufig die gleiche Zirkularität in der Argumentation wie bei der affektiven Singularität: Gesetze werden schon deshalb als politische Entscheidungen verstanden und validiert, weil sie in irgendeinem Verfahren erlassen wurden. Ohne Analyse des speziellen politischen Prozesses ist das nicht nützlich. Zudem besteht auch hier das Risiko des Konservatismus: ein Recht sei schon deshalb zu akzeptieren, weil es politisch gewollt sei. Aber nur weil der Rechtsvergleicher nicht Teil des politischen Prozesses im Ausland ist, muss er ja nicht gehindert sein, dessen Ergebnis inhaltlich zu kritisieren.

171 Vgl. Jansen, Binnenmarkt, Privatrecht und europäische Identität (2004), 20; Martens, 27 Rechtsordnungen oder mehr?, RW 3 (2012), 432, 433–435.

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B. Rechtsvereinheitlichung 1. Affektive Singularität: Kultur a) Singularität als Argument gegen Rechtsvereinheitlichung In der Rechtsvergleichung hat die Betonung affektiver Singularität offensichtliche Konsequenzen als Argument gegen die Rechtsvereinheitlichung.172 Sie begründet, dass die Unterschiede zwischen verschiedenen Rechten nicht kontingent sind, sondern Ausdruck bestehender Singularitäten. Rechtsvereinheitlichung würde dann zur Gleichbehandlung wesentlich ungleicher Sachverhalte führen. Ein solches kulturalistisches Argument wird in verschiedenen Konstellationen verschiedenen Rechtsvereinheitlichungsprojekten entgegengebracht. Gegen eine europäische Privatrechtsvereinheitlichung setzte man die Unterschiede zwischen common law und civil law als unüberwindbare Kulturunterschiede.173 Auch seien die einzelnen nationalstaatlichen Privatrechtskodifika­ tionen Ausdruck der jeweiligen nationalen Kultur.174 Hier geht es also im Grunde um die Kultur von Kollektiven (Staaten), die aber oft auch auf Individuen übertragen wird; die Singularität Frankreichs begründet die Singularität jedes Franzosen. Hugh Collins wies schon früh in der Debatte zu einer europäischen Zivilrechtsvereinheitlichung darauf hin, dass die persönliche Identität des Einzelnen eine kulturelle Identität sei und daher die Singularität der mitgliedstaatlichen Rechtsordnung mittelbar die Singularität des Einzelnen schütze.175

b) Gegenargumente Man hat solchen Argumenten aus der kulturellen Eigenheit der Nationalstaaten drei Gegenargumente entgegengesetzt. Das erste Argument ist, jedenfalls beim Privatrecht gehe es gar nicht um Kultur; deshalb sei Vereinheitlichung auch kein Kulturproblem. So argumentiert man für die Vereinheitlichung von „kulturfernen“ Rechtsbereichen wie dem Vertragsrecht und gegen die Vereinheitlichung von angeblich kulturell geprägtem Recht wie dem Familien- und dem Straf-

172 

Kropholler (Fn. 94), 22. Legrand, Against a European Civil Code, Mod. L. Rev. 60 (1997), 44–63; ders., Antivonbar, J. Comp. L. 1 (2006), 13; Sefton-Green, Cultural Diversity and the Idea of a European Civil Code, in: Hesselink (Hrsg.), The Politics of a European Civil Code (2006), 71–88. 174 Etwa Collins, European Private Law and the Cultural Identity of States, Eur. Rev. Priv. L. 3 (1995), 353–365. Zur französischen Opposition Michaels, Code vs Code: Nationalist and Internationalist Images of the Code Civil in the French Resistance to a European Codification, ERCL 3 (2012), 277–295. 175  Collins, European Private Law and the Cultural Identity of States, Eur. Rev. Priv. L. 3 (1995), 353, 357–359. 173 

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recht. Eine solche Trennung zwischen kulturfernem und kulturell geprägtem Recht erscheint indes durchaus zweifelhaft.176 Ein zweites Argument leugnet denn auch nicht, dass Privatrecht von Kultur beeinflusst sei, sondern nur, dass diese Kultur nationaler Art sein müsse. Insbesondere in Europa wird ein europäisches Privatrecht oft auf einer europäischen Kultur gegründet,177 die man teilweise auf gemeinsame Ursprünge im römischen Recht und im ius commune zurückführt, teilweise auf die Idee von Europa als einer Kulturgemeinschaft.178 Dafür muss man freilich nicht nur argumentieren, dass auch das englische common law im Wesentlichen zur selben Rechtskultur gehört, sondern auch, dass die europäische Kultur stärker sei als die jeweiligen nationalen Kulturen. Ein drittes Argument ist wiederum anders. Hierbei wird anerkannt, dass nationale Rechte Ausdruck nationaler Kultur seien, dies wird aber gerade als Zustand angesehen, der überwunden werden müsse. Das deutsche Reinheitsgebot etwa ist sicherlich nicht nur frühes Verbraucherschutzrecht, sondern auch Ausdruck einer deutschen Kultur;179 der Deutsche Brauer-Bund wollte es zeitweise gar zum Weltkulturerbe erhöhen lassen.180 Die kulturelle Singularität wird dann aus europäischer Perspektive als Handelshindernis angesehen. Ähnlich gelagert sind Vorschläge, die Singularität einzelner Rechtsordnungen durch Rechtsvereinheitlichung zu überwinden, wenn das gerade dazu führen kann, die Singularität Einzelner anzuerkennen. So wurde wie gesehen etwa der Vorschlag gemacht, die Anerkennung intersexueller Personen europaweit zu vereinheitlichen, und zwar auf Basis des deutschen Rechts (das solche Personen in ihrer Identität anerkennt) und zu Lasten des französischen Rechts (das das nicht tut).181 Letztlich findet sich hier ein liberales Argument, das schon für die nationale Rechtsvereinheitlichung genutzt wurde: ein einheitliches liberales Recht ermöglicht mehr Individualität als ein System lokaler Maßnahmen.

176  Collins (Fn. 175), 359; Legrand, Counterpoint: Law is also Culture, in: Ferrari (Hrsg.), The Unification of International Commercial Law (1987), 245. 177  Zimmermann, Savignys Vermächtnis (1998); Basedow, Rechtskultur – zwischen nationalem Mythos und europäischem Ideal, ZeuP 4 (1996), 379–382, Grossfeld, Rechtsvergleichung (2001), 24 f.; allgemein zur europäischen Rechtskultur Häberle, Europäische Rechtskultur (1997). 178  Zimmermann, Römisches Recht und europäische Kultur, JZ 62 (2007), 1; Häberle (Fn. 177). 179  Aigner, Bayerisches Bier – mehr als ein Getränk, Bayernkurier 22.4.2016. 180  2020 wurde das handwerkliche Bierbrauen als Immaterielles Kulturerbe in Deutschland anerkannt. www.unesco.de/kultur-und-natur/immaterielles-kulturerbe/immaterielles-kulturerbe-deutschland/bierbrauen. Die belgische Bierkultur wurde 2016 als Weltkultur­ erbe anerkannt: https://ich.unesco.org/en/RL/beer-culture-in-belgium-01062. 181  Oben Fn. 12.

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2. Rationale Singularität: Selbstbestimmung a) Nationale politische Selbstbestimmung als Argument gegen Rechtsvereinheitlichung Während in der Rechtsvergleichung die politische Selbstbestimmung nur eine geringe Rolle spielt, ist sie in der Diskussion zur Rechtsvereinheitlichung sehr präsent. Im nationalen Rahmen war politische Selbstbestimmung teilweise noch ein Argument für die Vereinheitlichung: der französische Code civil machte diese Selbstbestimmung möglich. Schon in föderalen Systemen wie den USA wird aber die politische Selbstbestimmung im Sinne eines Subsidiaritätssystems bei den Einzelstaaten angelegt und steht nationaler Vereinheitlichung entgegen. In der Diskussion über die europäische Privatrechtsvereinheitlichung schließlich war neben der Betonung kultureller Eigenheiten ein wesentliches Argument dasjenige, dass auch Privatrecht der demokratischen Legitimation bedürfe und diese bislang nur im Rahmen der Mitgliedstaaten erfolgen könne.182 Diversität der Rechtsordnungen ermöglicht es dagegen den Einzelstaaten, ihre eigenen politischen Präferenzen durchzusetzen.183 Inwieweit allerdings Rechtsunterschiede auf politische Präferenzen und nicht auf kulturelle Unterschiede oder auf Zufall zurückzuführen sind, lässt sich wie gesehen für weite Bereiche des Privatrechts bezweifeln.184 Der Gedanke, dass nur unpolitisches Privatrecht unproblematisch vereinheitlicht werden könne, findet sich auch im soft law, in den Privatkodifikationen des europäischen und Internationalen Privatrechts. So enthalten sowohl PECL als auch UNIDROIT Principles jeweils Öffnungsklauseln für die „mandatory rules“, die der politischen Bestimmung durch Nationalstaaten unterliegen.185 Sogar im CISG verzichtete man ja auf die Vereinheitlichung der Zinshöhe deshalb, weil die Mitgliedstaaten sich nicht einigen konnten und auf ihrer eigenständigen Bestimmung beharrten. Insofern bietet sich auch bei der Rechtsvereinheitlichung eine Trennung an zwischen (angeblich) politischem Privatrecht, das der politischen Selbstsetzung unterliegt, und einem unpolitischen Privatrecht, das als solches vereinheitlicht werden könnte, weil Unterschiede zwischen den einzelnen Rechtsordnungen zufällig sind. Denkbar wäre also ein Meer von transnationalem Privatrecht in Form eines ius commune, unterbrochen nur von Inseln politischen Privatrechts, 182 Dazu Remien, Europäisches Privatrecht als Verfassungsfrage, EuR 40 (2005), 699, 704.

183  Van den Bergh, Subsidiarity as an Economic Demarcation Principle and the Emergence of European Private Law, MJ 5 (1998), 129, 132 ff. 184  Kieninger, Wettbewerb der Privatrechtsordnungen im Europäischen Binnenmarkt (2002), 35–37; Starck, Law for Sale: A Philosophical Critique of Regulatory Competition (2019), 76. 185 Art. 1.4, 3.3.1 UPICC; vgl. Michaels, The UNIDROIT Principles as global back­ ground law, Unif. L. Rev. 19 (2014), 643, 660.

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in dem die Einzelstaaten ihre eigenen Präferenzen setzen.186 In Wirklichkeit ist die Zuordnung allerdings komplizierter. Denn einerseits ist ja auch das angeblich unpolitische Privatrecht mittlerweile in nationalen Kodifikationen erfasst; um es als gemeinsames zu erkennen, muss man also erst mühsam Rechtsvergleichung betreiben. Und andererseits ist das politische Privatrecht nicht einfach dem Ermessen der Staaten überlassen. Innerhalb der Europäischen Gemeinschaft ist es gerade dieser Teil des Rechts, der europaweit geregelt wird, und zwar mit dem expliziten Ziel, politische Selbstbestimmung zu reduzieren. Weltweit führen Netzwerkeffekte und Konditionalprogramme bei der Wirtschaftshilfe zu einem Zwang für Staaten, ihr Recht einschließlich des Privatrechts einheitlichen Standards anzupassen.

b) Wettbewerb der Rechtsordnungen Indes liegt in der Marktrationalität, die eine solche Konvergenz unterstützt, zugleich auch ein Grund für weiterbestehende Singularität, diesmal auf der Ebene nicht von Einzelstaaten, sondern von Individuen. Betroffen ist hier die Idee des Wettbewerbs der Rechtsordnungen. Der Wettbewerb der Rechtsordnungen appelliert an die Selbstbestimmung der Individuen in Form der Präferenzenbefriedigung durch Rechtswahl: unterschiedliche Rechtsordnungen sollen unterschiedliche Präferenzen befriedigen können. Obwohl dieser Wettbewerb oft als Gegenstück zur Rechtsvereinigung dargestellt wird, ist er traditionell eng mit dieser verbunden. Ursprünglich war der Wettbewerb der Rechtsordnungen, im föderalen System der USA, als Vorbereitung zur Rechtsvereinheitlichung gedacht. Einzelstaaten sollten mit verschiedenen Regelungen experimentieren nicht, um ihre eigenen Präferenzen zu verwirklichen, sondern um dem Bundesstaat zu zeigen, welche Regelung sich am besten als Einheitslösung eignet. Faktisch zur Gleichheit führt auch eine zweite Idee des Wettbewerbs der Rechtsordnungen, nämlich derjenigen, dass er zu einem „race to the top“ oder einem „race to the bottom“ führe, also in beiden Fällen die ursprüngliche Diversität zugunsten einer Siegerlösung hinter sich lässt.

C. Internationales Privatrecht 1. Affektive Singularität: Kulturelles Kollisionsrecht Schließlich findet sich die Betonung kultureller Identität und Singularität auch im Internationalen Privatrecht. Dem Savignyschen Ideal von Rechtskollisionen innerhalb eines kulturell einheitlichen (weil christlichen) Raumes setzt man die 186  Zu dieser Zweiteilung des Privatrechts Michaels, Of Islands and the Ocean: The Two Rationalities of European Private Law, in: Roger Brownsword et al. (Hrsg.), The Foundations of European Private Law (2011), 139–158.

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Idee entgegen, dass solche Rechtskollisionen auch Kulturkonflikte sind: der conflict of laws als clash of cultures.187 So begründet etwa Jayme für das IPR, ähnlich wie Collins gegen die Rechtsvereinheitlichung, die von ihm favorisierte Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit explizit damit, dass so die kulturelle Identität, vermittelt durch die Anknüpfung an die Nationalität, rechtlich durchgesetzt werden könne.188 Die Folge – häufigere Auslandsrechtsanwendung, größere Unterschiede in der rechtlichen Behandlung von Mitgliedern der Gesellschaft – nimmt er nicht nur in Kauf, er sieht in ihr die rechtliche Umsetzung von Ideen einer pluralen Gesellschaft, einer Gesellschaft der Singularitäten anstatt der Gleichheit. Ganz klar ist allerdings nicht, dass die kulturelle Identität eines Menschen eher durch seine Staatsangehörigkeit als durch seinen Wohnort vermittelt wird; die Diaspora vermittelt häufig Identitäten zwischen Herkunftsund Wohnort, was für eine alternative oder kumulative Anwendung sprechen könnte.189 Jedenfalls Geflüchteten mutet man die Identität ihrer alten Staatsangehörigkeit kollisionsrechtlich nicht ausnahmslos zu.190 Das IPR ist nun traditionell aufgrund seiner Responsivität offener als andere Disziplinen, Singularität anzuerkennen.191 In Statusfragen zeigt sich das deutlich: anwendbar ist hier regelmäßig das Heimatrecht, und ein einmal erworbener Status bleibt erhalten, selbst wenn die Person in ein anderes Land zieht. In der Debatte zur Behandlung der sogenannten Kinderehe im IPR zeigt sich das deutlich.192 Traditionell ist auf materielle Ehevoraussetzungen nach Art. 13 (1) EGBGB das Heimatrecht der Nupturienten anwendbar, allerdings unter dem Vorbehalt der ordre-public-Klausel des Art. 6 EGBGB. Zur Ehemündigkeit hatten deutsche Gerichte bislang unterschiedlich und fallspezifisch geurteilt. Die Anwendung des Heimatrechts entspricht der Idee, dass Statusfragen wie diejenige der Ehe zum Kulturkreis der Eheschließenden gehört und daher grundsätzlich diesem zur Bewertung überlassen werden sollten. Der Richter muss hier also einerseits die Verhaftung im Kulturkreis dadurch bestimmen, dass er die Staatsangehörigkeit als Anknüpfungspunkt ermittelt, und andererseits den Inhalt des ausländischen Rechts ermitteln und dieses anwenden – was 187  Kreuzer, Clash of civilizations und Internationales Privatrecht, RW 1 (2010), 143–183; Gannagé, Les méthodes du droit international privé à l’épreuve des conflits des cultures (2013). 188  Jayme, Identité culturelle et intégration: le droit international privé postmoderne, Rec. des cours 251 (1995); ders., Die kulturelle Dimension des Rechts – ihre Bedeutung für das Internationale Privatrecht und die Rechtsvergleichung, RabelsZ 67 (2003), 211–230; ders. (Hrsg.), Kulturelle Identität und internationales Privatrecht (2003); ders., Zugehörigkeit und kulturelle Identität: Die Sicht des internationalen Privatrechts (2012). 189  Chander, Diaspora Bonds, 76 N.Y.U. L. Rev. (2001), 1005. 190  Vgl. Art. 12 Abs. 1 Genfer Flüchtlingskonvention. 191  Michaels, Private International Law as an Ethic of Responsivity, in: Ruiz Abou-Nigm/ Noodt Taquela (Hrsg.), Diversity and Integration in Private International Law (2019) 11–27. 192 Umfassend Yassari/Michaels (Fn. 131).

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bedeutet, dass er sich in die ausländische Kultur hineinversetzen muss. In der Anwendung des ordre public andererseits ist der Richter dann verpflichtet, durch Vergleich der Anwendung des syrischen Rechts mit den Grundsätzen des deutschen Rechts dessen Akzeptabilität zu bestimmen. Konkret ist das die Frage, inwiefern die Lösung des ausländischen Rechts mit inländischen Werten zu vereinbaren ist. Der Gesetzgeber hielt die damit verbundene Ungleichbehandlung – zwischen Ausländern und Deutschen ebenso wie zwischen unterschiedlichen ausländischen Paaren – für inakzeptabel und änderte das Gesetz dergestalt, dass im Ausland von Ausländern vor dem 18. Lebensjahr geschlossene Ehen aufzuheben, vor dem 16. Lebensjahr geschlossene unwirksam sind.193 Damit bewirkt wurde eine eurozentrische Rechtsvereinheitlichung, die aus kulturalistischer Perspektive suspekt ist, weil sie westliche Vorstellungen auch dem ausländischen Kulturkreis aufzwingt.194

2. Rationale Singularität 1: Kollektive Selbstbestimmung durch Governmental Interests Auch rationale Singularität, also Differenz aufgrund von Selbstbestimmung, ist im Internationalen Privatrecht enthalten. Insoweit es um kollektive Selbstbestimmung geht, ist das am deutlichsten der Fall in der nicht zu Unrecht so genannten governmental interest analysis. Rechtskollisionen sollen demnach so gelöst werden, dass zunächst festgestellt wird, welche Staaten überhaupt ein Interesse an der Anwendung ihres Rechts haben. Für den Fall, dass das für mehrere Staaten der Fall ist, gibt es unterschiedliche Antworten, die radikalste – Anwendung der lex fori – wird im Grunde nicht mehr vertreten. Der interest analysis ist vorgehalten worden, Staaten hätten nur selten Interessen an der Frage, ob ihr Privatrecht auf einen bestimmten Sachverhalt angewandt werde; tatsächlich diene die Theorie dazu, ein Heimwärtsstreben zu legitimieren. Beide Kritiken sind dann plausibel, wenn man ein unpolitisches Verständnis des IPR zugrunde legt, verfehlen aber häufig die politischen und demokratischen Grundlagen der interest analysis. Im Gedanken, Staaten im ersten Schritt selbst zu überlassen, wie weit sie den Anwendungsbereich ihres eigenen Rechts ziehen, liegt die Anerkennung, dass nicht nur der Inhalt, sondern auch die Reichweite des Rechts auf selbstbestimmter Setzung beruht. Insofern jedenfalls haben unilaterale Ansätze an das IPR ein (demokratisches) Selbstbestimmungspotential, das bei multilateralen Kollisionsnormen fehlt. Und die 193  Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen vom 17.07.2017, Bundesgesetzblatt 2017 I, 2429–2433. 194 Vgl. Horii, A blind spot in international human rights framework: a space between tradition and modernity within the child marriage discourse, International Journal of Human Rights 24 (2020), 1057–1079; John, Child Marriage in an International Frame (2021).

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Priorisierung der lex fori entspricht einem klassischen Argument der Gewaltenteilung: auf einen Sachverhalt, für den der Rechtssetzer sein Recht vorgesehen hat, kann der Richter nicht eigenständig ein fremdes Recht anwenden.

3. Rationale Singularität 2: Individuelle Selbstbestimmung durch Rechtswahl Steht insofern die interest analysis für kollektive rationale Singularität, so wird individuelle rationale Singularität vor allem durch Rechtswahlfreiheit ausgedrückt. Dann nämlich ermöglicht es der Wettbewerb der Rechtsordnungen dem Einzelnen, seine persönlichen Präferenzen durch die Wahl des geeigneten Rechts zu erfüllen195. Eine aus dem entstehenden Wettbewerb folgende Konvergenz oder gar Vereinheitlichung der Rechte ist in diesem Modell misslich, weil sie diese Befriedigung unterschiedlicher Präferenzen gerade unmöglich machen würde; sie ist aber aus demselben Grund dann auch unwahrscheinlich.196 Vielmehr würde es eine Diversität von Rechtsordnungen, verbunden mit einer Diversität individueller Präferenzmuster, dem Einzelnen ermöglichen, seine eigenen Präferenzen durch Rechtswahl unabhängig vom objektiv anwendbaren Recht durchzusetzen. Gleichzeitig – das ist bekannt und braucht nicht lang ausgeführt zu werden – kann die Rechtswahlfreiheit in nicht akzeptabler Weise der Gleichheit zwischen den Parteien entgegenstehen. Dort, wo zwischen den Parteien ein Verhandlungsungleichgewicht besteht, muss das IPR gegenhalten, damit nicht eine Partei durch faktisch unilaterale Bestimmung des anwendbaren Rechts die Ungleichheit verstärkt.197 Insofern sind Schutzbestimmungen des IPR wie der Günstigkeitsvergleich im internationalen Verbrauchervertragsrecht Versuche, eine Gleichheit (wieder-)herzustellen, die durch die faktisch einseitige Rechtswahl des Vertragspartners unterwandert würde. Singularität als stärkere Verhandlungsposition wird also vom IPR im Prinzip nicht akzeptiert; insofern dient Gleichheit als Korrektiv. Auch aus Sicht der Singularität als Selbstbestimmung ist das zu rechtfertigen, da nur so die Selbstbestimmung der schwächeren Partei garantiert werden kann. Hinzu kommt, dass Rechtswahlfreiheit nur für internationale Sachverhalte besteht, mit der Folge einer Ungleichheit gegenüber nationalen Sachverhalten. Vorschläge, diese Ungleichheit durch Gewähr von Rechtswahlfreiheit auch im reinen Binnensachverhalt aufzuheben, sehen sich dem Vorwurf entgegen, dass damit zwingendes nationales Recht (und damit kollektive Selbstbestimmung) 195  Kieninger (Fn. 184), 34 ff.; Wagner, The Virtues of Diversity in European Private Law, in: Smits (Hrsg.), The Need for a European Contract Law – Empirical and Legal Perspectives (2005), 1, 3 f. 196  Kieninger (Fn. 184), 42 f. 197  Sahner, Materialisierung der Rechtswahl im Internationalen Familienrecht (2020).

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insgesamt aufgehoben werden könnte.198 Freilich ist das im Grunde ein Argument gegen die Rechtswahlfreiheit, insofern sie es ermöglicht, sich vom sachnähesten Recht zu entfernen; es ist nicht überraschend, dass gerade in der interest analysis die Rechtswahl sehr kritisch gesehen wird. Mit diesem letzten Punkt ist auch erkenntlich, warum Rechtswahl vor allem rationale, weniger affektive Rationalität betrifft. Zwar meint man zum Teil, auch kulturelle Identität könne durch die Gewährung von Rechtswahlfreiheit gewählt werden.199 Das ist indes nur eingeschränkt der Fall. Das Recht kann sich zwar des Instituts der Rechtswahl dort bedienen, wo die objektive Anknüpfung nicht zum Recht der Identität führt. Aber Rechtswahl als Zugang zum Recht der eigenen Identität ist im Grunde nicht rationale Wahl unter unterschiedlichen Optionen, sondern gerade umgekehrt Eingang in das, was man ohnehin schon ist.200 Echte Rechtswahl erfolgt hier sinnvoll nur als Wahl einer neuen Identität, etwa durch Wechsel der Religion. Dabei sei unbestritten, dass die Grenze zwischen rationaler und affektiver Selbstbestimmung hier fließend verläuft: auch die Religion wird häufig aus instrumentellen Gründen gewählt, etwa um Heiratsverbote der Religionsverschiedenheit zu vermeiden.

IV. Gleichheit in Differenz Mehrfach hat sich gezeigt, dass der Gegensatz zwischen Differenz und Gleichheit etwas steril ist. In allen Disziplinen geht es notwendig um beides; die eigentliche Frage ist, wie Singularität und Differenz sowie Gleichheit miteinander verbunden werden. Der Gegensatz zwischen Gleichheit und Singularität, der hier bislang in den Mittelpunkt gestellt wurde, kann rhetorische Präferenzen in der Rechtswissenschaft und -praxis darstellen, aber auch innerhalb dieser beiden Paradigmen muss die Verhandlung zwischen Differenz und Gleichheit erfolgen. Nur teilweise werden Gleichheit und Singularität voneinander abgegrenzt, nur teilweise als Gegensatz konzipiert. Mindestens ebenso oft werden beide verbunden. Alle drei Disziplinen behandeln das Spannungsverhältnis durch Mechanismen, die unter dem Titel der Äquivalenz zusammengefasst werden; man könnte auch, je nach Blickwinkel, von Gleichheit in Differenz oder um198 Vgl. dazu Michaels, Die Struktur der kollisionsrechtlichen Durchsetzung einfach zwingender Normen, in: ders., Solomon (Hrsg.), Liber Amicorum Klaus Schurig (2012), 191–211. 199  Weller, Vom Staat zum Menschen: Die Methodentrias des Internationalen Privatrechts unserer Zeit, RabelsZ 81 (2017), 757; ders., Das Personalstatut in Zeiten der Massenmigration, in: Dethloff u.a. (Hrsg.), Rückblick nach 100 Jahren und Ausblick – Migrationsbewegungen (2018), 247, 259 ff. 200 Siehe Michaels, Mehr Freiheit wagen im Recht der Privatautonomie? Rechtswahlfreiheit und religiöse Rechte, in: Dutta/Heinze (Hrsg.), „Mehr Freiheit wagen“ FS Basedow (2018), 247–277.

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gekehrt von Differenz in Gleichheit sprechen. Diese Form des Mechanismus ist so charakteristisch für alle drei Disziplinen, dass die thematische Verengung auf Gleichheit und Differenz, die viele Debatten prägt, völlig unvollständig ist. Mechanismen der Äquivalenz – wörtlich übersetzt: der Gleichwertigkeit – verbinden die Idee getrennter und schon damit unterschiedlicher Rechtsordnungen mit derjenigen einer Gleichheit, die aber nicht zur Identität führt. Gleichheit unterschiedlicher Rechtsordnungen ist immer nur Gleichheit hinsichtlich bestimmter Aspekte oder Faktoren. Und sie führt dann und deshalb zur Gleichwertigkeit, wenn die Unterschiedlichkeit sich für die Bewertung nicht auswirkt. Die Gleichwertigkeit ist damit der wichtigste Grund dafür, dass die Differenz anerkannt werden kann.

A. Rechtsvergleichung: Funktionale Äquivalenz 1. Funktionale Rechtsvergleichung und Funktionsäquivalenz Die ausführlichste Entwicklung des Gedankens von Gleichheit in Differenz findet sich in der Rechtsvergleichung, und dort vor allem im Institut der sogenannten Funktionsäquivalenz, das der funktionalen Rechtsvergleichung entstammt. 201 Die funktionale Rechtsvergleichung wird häufig mit dem Ideal der Gleichheit verbunden (und dafür kritisiert). 202 Gleich sind nach diesem Ansatz indes zwar sowohl die Probleme als auch die Lösungen und Ergebnisse, nicht aber die Lösungswege dorthin. Diese Idee der Funktionsäquivalenz entstammt dabei dem soziologischen Funktionalismus und wurde ursprünglich für die Evolution einzelner Systeme entwickelt.203 Sie ist, in ihrer modernen Formulierung, eine Antwort auf die Kritik, funktionale Theorien enthielten eine versteckte Teleologie, weil sie eine notwendige Entwicklung voraussagten.204 Notwendig, so die Antwort, ist nur, dass das System Probleme löse. In welcher Form diese Lösung erfolge, sei aber eben nicht teleologisch vorbestimmt, sondern eine Eigenleistung des jeweiligen Systems. Die verschiedenen möglichen Lösungen desselben Problems sind eben nicht gleich, sondern funktionsäquivalent. Die Übertragung dieser Gedanken auf die Rechtsvergleichung205 hilft zu erklären, inwiefern dieselben Probleme im Ergebnis gleich gelöst werden. Was bei 201 Ausführlich

Michaels (Fn. 61). Oben II.A.2. 203  Luhmann, Funktion und Kausalität, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozial­ psychologie 14 (1962), 617–644; auch in ders., Soziologische Aufklärung Bd. 1 (2005), 1–38. 204 Vgl. Teubner, Recht als autopoietisches System (1989), 64 f. 205  Zweigert, Die ‚praesumptio similitudinis‘ als Grundsatzvermutung rechtsvergleichender Methode, in: Rotondi (Hrsg.), Inchieste di diritto comparato II (1973), 735, 756; vgl. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft (1993), 573. 202 

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Zweigert als (umstrittene) Überraschung auftaucht, liegt in Wirklichkeit schon in der Konstruktion begründet: Die Formulierung eines Problems impliziert nämlich schon, jedenfalls im weitesten Sinne, wie die Lösung aussehen muss. Dass das Problem lösbar ist, liegt in der Natur des Problems: Das „unlösbare Problem“ ist im strengen Sinne kein Problem, sondern schlicht eine Beschränkung. Wie das Problem gelöst wird, ist, jedenfalls im Allgemeinen, aber auch bereits impliziert. Wenn das Problem so definiert wird, dass es zu viele Autounfälle gibt, so ist die Lösung zwangsläufig die Reduzierung der Anzahl an Autounfällen, durch welche Mittel auch immer. Wer eine andere Lösung „des Problems“ vorschlägt – zum Beispiel Airbags, die die Folgen von Autounfällen abmildern – formuliert in Wirklichkeit ein neues Problem: nicht die Anzahl der Autounfälle, sondern ihre Auswirkungen auf die Autoinsassen. Daraus folgt zweierlei. Erstens: Rechtsordnungen, die die gleichen Probleme gelöst haben, müssen sie also notwendig gleich gelöst haben. Die vielkritisierte praesumptio similitudinis, die „Vermutung für die Ähnlichkeit der praktischen Lösungen“, 206 ist dann eben nicht, wie vielfach behauptet, das Ergebnis einer Voreingenommenheit, sondern ein „heuristisches Prinzip.“207 Überspitzt kann man sagen, dass die Lösung oft dem Problem vorhergeht: erst dadurch, dass wir Rechtsregeln als (funktionale) Lösungen von Problemen verstehen, können wir überhaupt die Probleme erkennen und benennen, die da gelöst werden. Zweitens bedeutet das aber, dass die Formulierung von Problemen selbst ein ganz entscheidender interpretatorischer Schritt ist. Probleme existieren nicht von sich aus: sie werden erst dadurch zu Problemen gemacht, dass die Gesellschaft sie als solche versteht und entweder löst oder jedenfalls ihre Lösung diskutiert. Das hat den Nachteil, dass der Rechtsvergleicher sich nicht auf einen etwaigen soziologischen, beobachtenden Blick beschränken kann: er ist immer auch Konstrukteur des von ihm Beobachteten. Es hat damit aber den Vorteil, dass die Gleichheit von Problemen zwischen Rechtsordnungen ihrerseits keinen methodischen Mangel bedeutet, denn sie ist ihrerseits ja ein Interpreta­ tionsergebnis. Bei diesem Fokus auf das, was gleich ist, gerät nun leicht aus dem Blickfeld, dass etwas Entscheidendes ungleich ist, nämlich die Wege, auf denen die Probleme den Ergebnissen zugeführt werden. In der Tat ist es missverständlich, wenn etwa Zweigert ausführt, verschiedene Rechtsordnungen kämen „in den gleichen Lebensfragen oft bis in Einzelheiten hinein zu gleichen oder doch verblüffend ähnlichen Lösungen.“208 Dass nämlich diese Ähnlichkeit mit Differenz verbunden ist, zeigt sich in der von Zweigert anderswo formulierten 206 

Zweigert/Kötz (Fn. 51), 39.

207 Ebda.

208  Zweigert/Kötz (Fn. 51), 38; vgl. auch ebda. 39 zur Kontrolle der Richtigkeit danach, ob man „Gleichheit oder mindestens Ähnlichkeit“ findet.

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„rechtsvergleichenden Grunderfahrung, daß zwar jede Gesellschaft ihrem Recht im wesentlichen die gleichen Probleme aufgibt, daß aber die verschiedenen Rechtsordnungen diese Probleme, selbst wenn am Ende die Ergebnisse gleich sind, auf sehr unterschiedliche Weise lösen.“209

Trust und Treuhand, 210 consideration und Schenkungsformvorschriften, 211 um berühmte Beispiele funktional äquivalenter Rechtsinstitute zu nennen, sind eben gerade nicht identisch; in ihrer Form sind sie nicht einmal ähnlich. Genauer: sie sind gleich bezüglich bestimmter Aspekte – Problem und Ergebnis –, aber eben nur bezüglich dieser. 212 Unterschiedlich sind sie insbesondere in der rechtlichen Dogmatik, mit der sie die Probleme benennen und behandeln. Die Gleichheit zeigt sich erst durch die rechtsvergleichende Analyse; sie ist Gleichheit in Differenz. Es ist daher mindestens irreführend und eigentlich falsch, wenn man Zweigert vorwirft, Gleichheit auf Kosten von Differenz zu betonen. Gewiss betont Zweigert schwerpunktmäßig die Gleichheit und behandelt die Differenz eher nebenbei. 213 Aber schon bei Zweigert ist funktionale Äquivalenz Einheit in Differenz: die Bewahrung der Singularität einzelner Rechtsordnungen und die Gleichheit der Resultate sind miteinander verbunden.

2. Gleichwertigkeit der Rechtsordnungen Mit dieser Gleichheit in Differenz geht einher die Gleich-wertigkeit der Rechtsordnungen. Teilweise kann man diese ganz formal sehen: verschiedene Lösungen auf dasselbe gesellschaftliche Problem sind schon deshalb und insofern gleichwertig – wörtlich: äqui-valent – als sie bezüglich dieses Problems denselben Wert haben; sie lösen es nämlich. Insoweit ist Gleichwertigkeit nicht mehr als eine Reformulierung von Einheit in Differenz. Gleichzeitig hat aber Gleichwertigkeit auch noch einen wichtigen norma­ tiven Inhalt: Ohne mehr zu wissen, kann man nämlich nicht sagen, welche von verschiedenen rechtlichen Lösungen besser ist. 214 Insofern ist es nicht un­ problematisch, wenn Vertreter einer funktionalen Rechtsvergleichung meinen, gerade die Funktionsanalyse ermögliche die Bestimmung des besseren 209  Zweigert/Kötz (Fn. 51), 33, vgl. auch ebda. 38: „Unterschiede in ihrer historischen Entwicklung, in ihrem systematisch-theoretischen Aufbau und im Stil ihrer praktischen Anwendung“. 210  Kötz, Trust und Treuhand: eine rechtsvergleichende Darstellung des anglo-amerikanischen trust und funktionsverwandter Institute des deutschen Rechts (1963). 211  Von Mehren, Civil-Law Analogues to Consideration: an Exercise in Comparative Analysis, Harv. L. Rev. 72 (1959), 1009–1078. 212 Vgl. Luhmann (Fn. 203), 25: „Einzelne funktionale Leistungen sind nur in einer bestimmten analytischen Perspektive äquivalent“. 213  Oben Fn. 65. 214 Vgl. Michaels (Fn. 61), 379–381.

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Rechts. 215 Denn wenn die funktionale Methode in einem ersten Schritt die Gleichwertigkeit begründet hat, ist schwer zu sehen, wie dieselbe Methode in einem zweiten Schritt eine Ungleichwertigkeit ermitteln können sollte, die die Bewertung des besseren Rechts ermöglichen würde. Zweigert selbst sah das übrigens ähnlich: für die Bewertung, meinte er, sei „der Rechtsvergleicher … nicht klüger als derjenige Jurist, der nur den Boden des heimischen Rechts beackert.“216 Damit ist freilich eine gewisse Endogenität in die funktionale Rechtsvergleichung eingekehrt: über die Definition gleicher Probleme hat man identifiziert, welche Lösungen unterschiedlicher Rechtsordnungen gleichwertig sind, nicht weniger, aber auch nicht mehr. So gesehen erreicht die funktionale Rechtsvergleichung im Wesentlichen nur die Bestimmung dessen, was vergleichbar ist. Die Vergleichung selbst dagegen muss auf andere Weise erfolgen – oder sogar Platz machen für eine grenzüberschreitende Diskussion von Rechtsfragen innerhalb eines als einheitlich verstandenen ius commune. 217

B. Rechtsvereinheitlichung: Harmonisierung Zweigert selbst sah die funktionale Rechtsvergleichung noch als Vorbereitung für die Rechtsvereinheitlichung. Er meinte, die Funktionsäquivalenz ermög­ liche auch die „Bildung einer Systematik,“218 die dann ihrerseits als Grundlage eines „gemeineuropäischen Privatrechts“ dienen könnte, 219 und sich so als Modell für ein Einheitsrecht anbieten würde. Zum Teil folgt dem die Rechtsvereinheitlichung, wenn sie versucht, auf rechtsvergleichender Grundlage basierende Erkenntnisse in Begriffe umzusetzen, die nach Möglichkeit nicht denjenigen der nationalen Rechtsordnungen entsprechen.

215  Zweigert/Kötz (Fn. 51), 46 f.; Gordley, The Functional Method, in: Monateri (Hrsg.), Methods of Comparative Law (2012), 107, 109. 216  Zweigert/Kötz (Fn. 51), 46, die Metapher vom Acker bezieht sich auf das Jhering-Zitat ebda. 16; siehe oben Fn. 51. 217 Vgl. Zweigert/Kötz (Fn. 51), 44 f.; Gordley, Is Comparative Law a Distinct Discipline?, Am. J. Comp. L. 46 (1998), 607; siehe auch Zimmermann, Comparative Law and the Europeanization of Private Law, in: Reimann/Zimmermann (Hrsg.), The Oxford Handbook of Comparative Law (1. Aufl. 2008), 53, 577 f. („Beyond Comparative Law?“) (umgekehrt dagegen ders. in der 2. Aufl. 2018 (Fn. 15), 557, 596, „The European private law discourse … will have to dissolve itself at least to some extent and become part of the general comparative study of private law.“). 218  Zweigert/Kötz (Fn. 51), 43. 219  Zweigert, Grundsatzfragen der europäischen Rechtsangleichung, ihrer Schöpfung und Sicherung, in: ders./von Caemmerer/Nikisch (Hrsg.), Vom deutschen zum Europäischen Recht: Festschrift für Hans Dölle, Bd. II (1963), 401 ff.; Kötz, Gemeineuropäisches Zivilrecht, in: Bernstein/Drobnig/Kötz (Hrsg.), Festschrift für Konrad Zweigert (1981), 481 ff.

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Tatsächlich liegt aber in der Erkenntnis der funktionalen Äquivalenz ein starkes Argument gegen die Rechtsvereinheitlichung. Denn einerseits ist ja die Äquivalenz auf explizit antidogmatischer Ebene entstanden: gleich sind Rechtsordnungen nur dann, wenn man die dogmatische Formulierung der Lösungen vernachlässigt. 220 Und andererseits macht die Tatsache, dass unterschiedliche Rechtsordnungen im Ergebnis schon jetzt die gleichen Ergebnisse erreichen, eine Rechtsvereinheitlichung weit weniger erforderlich. 221 Die wichtigsten Ziele der Rechtsvereinheitlichung – Gleichbehandlung gleicher Tatbestände über die Grenzen, keine Diskriminierung zwischen Aus- und Inländern – lassen sich dann ohne formale Rechtsvereinheitlichung erreichen. Die Erkenntnis der funktionalen Äquivalenz ermöglicht trotzdem Alternativen zur Rechtsvereinheitlichung, die Gleichheit in Differenz ermöglicht. Politisch ist das deshalb attraktiv, weil es, idealerweise, zur Einheit führen kann, ohne dass den Einzelstaaten die Entscheidungsfreiheit geraubt werden müsste.

1. Harmonisierung als Gleichheit in Differenz Zwei verbundene Methoden sind insbesondere gefragt, um Gleichheit in Differenz zu ermöglichen. Die erste ist die Harmonisierung. Der Unterschied zwischen Rechtsvereinheitlichung und Rechtsangleichung (oder Harmonisierung) wird häufig als graduell beschrieben: Rechtsangleichung ist dann ein graduelles „weniger“ gegenüber der Rechtsvereinheitlichung, 222 und „Rechtsvereinheit­ lichung stellt die stärkste Form der Rechtsangleichung dar.“223 Das ist indes eine eher unscharfe und auch nicht immer zutreffende Differenzierung. Genauer sind mit Harmonisierung Prozesse gemeint, in denen einzelnen Staaten vorgeschrieben wird, gleiche Ergebnisse zu erreichen, ohne dass sie ihr Recht formal vereinheitlichen müssen. Wichtigstes Beispiel dafür ist die Rechtsharmonisierung im Europarecht, die den Leitspruch der EU, „In Vielfalt geeint“ (Art. I-8 EU-Verfassungsvertrag) rechtlich umsetzt. Zur Schaffung des Gemeinsamen Marktes ist nämlich eine umfassende Rechtsvereinheitlichung nicht erforderlich (und deshalb auch aufgrund des Subsidiaritätsprinzips nicht rechtlich zulässig). Es reicht aus, wenn die verschiedenen Rechtsordnungen erstens äquivalent sind und zweitens eine Pflicht zur gegenseitigen Anerkennung besteht. Für den ersten Schritt – die Herstellung von Äquivalenz – ist im EU-Recht traditionell das Institut der Richtlinie vorgesehen. Die Richtlinie schreibt bekanntlich Ziele vor, überlässt den Mitgliedstaaten aber die Wahl der Form und 220 

Zweigert (oben Fn. 65), 448. Siehe aber unten 3. Michaels (Fn. 61), 381–383. 222  So schon Kropholler (Fn. 94), 18–20; ebenso Mittwoch, Vollharmonisierung und europäisches Privatrecht – Methode, Implikationen und Durchführung (2013), 7 f. 223  Mittwoch (Fn. 222), 7 f. 221 Siehe

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der Mittel (Art. 288 Abs. 3 EUV); sie vereinheitlicht also das Ergebnis, nicht aber die dogmatische Herleitung. Teilweise betrifft das formale Fragen. So wurde etwa die Produkthaftungsrichtlinie in Frankreich durch Änderung des Code Civil, in Deutschland durch ein Sondergesetz umgesetzt. 224 Teilweise betrifft es Randbereiche wie den Ersatz immateriellen Schadens bei der Produkthaftung, der in Frankreich und Deutschland unterschiedlich bleiben kann, weil er sich nicht im Kern der Harmonisierung befindet.225 Und teilweise betrifft es sogar inhaltliche Unterschiede, wenn etwa Art. 17 der Handelsvertreterrichtlinie den Mitgliedstaaten ausdrücklich ermöglicht, dem Handelsvertreter nach Beendigung der Geschäftsbeziehungung entweder einen Ausgleichsanspruch nach deutschem oder einen Schadensersatzanspruch nach französischem Vorbild zuzusprechen. 226 In dieser Form wird der Gedanke funktionaler Äquivalenz operationalisiert.227 Mitgliedstaaten erhalten ihre Singularität, aber gleichzeitig wird Gleichheit der Resultate erreicht.

2. Gegenseitige Anerkennung Von der Harmonisierung unterschieden wird oft ein anderes Instrument der Marktzugangserleichterung: die Pflicht zur gegenseitigen Anerkennung. Nach diesem Anerkennungsprinzip sind Staaten verpflichtet, bestimmte Maßnahmen oder auch Rechtsregeln anzuerkennen, die von anderen Staaten getroffen wurden. Eine solche Pflicht enthält die „Full Faith and Credit“ Clause der US-Verfassung. 228 Sie findet sich an vielen Stellen im Recht der europäischen Gemeinschaft229 (auch wenn man ein oft postuliertes „Anerkennungsprinzip“ nicht a priori postulieren, sondern lediglich a posteriori aus den einzelnen spezifischen Rechtsvorschriften herauslesen kann). 230 Auch das Welthandelsrecht enthält 224  Frankreich: Art. 1386-1-1386-18, eingeführt durch L-n-98-389 v. 19.5.1998; vgl. (kritisch) Witz/Wolter, Die Umsetzung der EG-Produkthaftungs-Richtlinie in Frankreich, RIW 1998, 832. Deutschland: Gesetz über die Haftung für fehlerhafte Produkte (Produkthaftungsgesetz) v. 15. Dezember 1989, BGBl. I S. 2198. 225  Rogmann, Möglichkeiten und Grenzen nationaler Produkthaftungsregeln (2017), 36 f. 226  Richtlinie 86/653/EWG des Rates vom 18. Dezember 1986 zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die selbständigen Handelsvertreter, ABl L-382, 17; vgl. etwa Fock, Die europäische Handelsvertreter -Richtlinie (2001), 139 ff. 227  Scheiwe, Was ist ein funktionales Äquivalent in der Rechtsvergleichung? Eine Diskussion an Hand von Beispielen aus dem Familien- und Sozialrecht, KritV 83 (2000), 30, 31 f. 228  US Const., Art. IV, Sec. 1: „Full Faith and Credit shall be given in each State to the public Acts, Records, and judicial Proceedings of every other State. And the Congress may by general Laws prescribe the Manner in which such Acts, Records and Proceedings shall be proved, and the Effect thereof.“ 229  Siehe etwa Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament – Die gegenseitige Anerkennung im Rahmen der Folgemaßnahmen zum Aktionsplan für den Binnenmarkt, KOM/99/0299 endg. 230 Ebda.

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solche Verpflichtungen – teilweise als Ausfluss des Grundsatzes der non-discrimination, teilweise in spezifischen Abkommen. 231 Solche Anerkennungspflichten scheinen zunächst nicht viel mit Gleichheit zu tun zu haben: anerkannt werden muss ja auch und gerade dasjenige, das unterschiedlich ist. Gerade deshalb aber setzt die Anerkennungspflicht normativ eine gewisse Gleichheit voraus: die Pflicht ist nur dann zumutbar, wenn fundamental Gleichheit besteht, wenn also das anerkannte Recht mit der einheimischen Rechtsordnung vereinbar ist. Für die Full Faith and Credit Clause der US-Verfassung haben das von Mehren und Trautmann in der Diskussion zur „nationally unifying role“ der Klausel deutlich gemacht: „Full faith and credit, overcoming the technical hurdles, viewed the problem functionally and found substantial equivalence between the relevant rules and institutions of Georgia and South Carolina as they came to bear in the particular context“.232 In den USA besteht diese Gleichheit nicht nur in der Rechtskultur, sondern auch durch die US-Verfassung, die auch dem Recht der Einzelstaaten gewisse Grenzen setzt. Im EU-Recht und im Welthandelsrecht finden sich Ausnahmen von der Anerkennungspflicht insbesondere dort, wo die Anerkennung mangels Äquivalenz nicht zumutbar ist. Das Anerkennungsprinzip ist damit eng mit der Harmonisierung verbunden: wenn Äquivalenz nicht schon gegeben ist, kann sie durch Harmonisierung hergestellt werden. So bestehen konkrete Anerkennungspflichten im EURecht typischerweise im Rahmen des minimalharmonisierten Rechts. 233 In Bereichen, die nicht harmonisiert sind, braucht es andere Maßnahmen, um die Pflicht normativ abzusichern, zum Beispiel intensivierte Zusammenarbeit von Regierungsstellen. 234 Damit ist indes auch hier die Herstellung von Gleichheit in Differenz bis zu einem gewissen Grade zirkulär und begrenzt: möglich ist sie nur dort, wo sie mit einer fundamentalen Gleichheit der betroffenen Rechtsordnungen zusammengeht. Eine unbeschränkte Anerkennungspflicht auch bei Differenz erscheint problematisch.

3. Funktionale Äquivalenz in der Rechtsvereinheitlichung Gleichheit in Differenz ist allerdings nicht auf Harmonisierung und gegenseitige Anerkennung begrenzt; sie kann sich auch in moderneren Formen der Rechtsvereinheitlichung finden. Seit jeher besteht etwa das Postulat, in der Rechtsvereinheitlichung eine Terminologie zu nutzen, die sich von denjeni231 Vgl. Correia de Brito/Kauffmann/Pelkmans, The contribution of mutual recognition to international regulatory co-operation (2016), OECD Regulatory Policy Working Papers, No. 2, OECD Publishing, Paris. http://dx.doi.org/10.1787/5jm56 fqsfxmx-en. 232  Von Mehren/Trautman, The Law of Multistate Problems (1965), 1460. 233 Vgl. Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht (8. Aufl. 2018), § 32 Rn. 39. 234  Vgl. KOM(1999) 299 endgültig – Gegenseitige Anerkennung im Binnenmarkt.

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gen der nationalen Rechtsordnungen unterscheidet, damit das vereinheitlichte Recht unabhängig verstanden und ausgelegt werden kann. Gesucht werden oft Begriffe, die so umfassend sind, dass sie funktionale Äquivalente in den einzelnen Rechtsordnungen, die sie ersetzen sollen, sämtlich erfassen. Gesucht wird damit eine funktionale Rechtsvereinheitlichung. 235 Ansätze in dieser Richtung finden sich schon im einheitlichen Kaufrecht, das auf Ernst Rabels funktional-vergleichender Vorarbeit aufbaute. 236 Ein explizit funktionaler Ansatz lag der Cape Town Convention von 2001 und später dem Genfer Wertpapierübereinkommen von 2009 zugrunde. 237 Die Cape Town Convention entwickelt in ihrem Art. 2 das Institut des „international interest“ (internationales Sicherungsrecht), 238 das ganz unterschiedliche nationale Institute als Vorbilder umfassen soll: Sicherungsübereignung, Eigentumsvorbehalt und Recht des Leasinggebers (Art. 2 Abs. 2 Cape Town Convention). Das Sicherungsrecht besteht aufgrund des Einheitsrechts (Art. 1 Abs. 1);239 welche Rechtsnatur es hat, bemisst sich aber nach dem kollisionsrechtlich anwendbaren nationalen Recht (Art. 2 Abs. 4). Ähnlich regelt das Genfer Wertpapierabkommen in seinem Art. 9 nur allgemein bestimmte Rechte des Konteninhabers aufgrund einer Gutschrift auf seinem Konto unabhängig von deren dogmatischer Gestaltung als Eigentum, beneficial interest oder entitlement, und überlässt in Art. 9 Abs. 1(d) weitere Rechtsfolgen dem jeweiligen nationalen Recht. 240 Dieser funktionale Ansatz geht über ein Verfahren der Anerkennung hinaus, indem er auf internationaler Ebene ein (funktional definiertes) eigenes Rechts235  Kronke, The „Functional Approach“ in Comparative Law, Private International Law and Transnational Commercial Law: Promises and Challenges, Annales Universitatis Scientiarum Budapestiensis De Rolando Eötvös Nominatae, sec. iur. 47 (2006), 41–55; ders., Der funktionale Ansatz in der Rechts-„Vereinheitlichung“: Kritik und Bewährung am Beispiel des Rechts intermediärverwahrter Effekten, in: Mankowski/Wurmnest (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Magnus (2014), 231–241. 236  Roesler, Siebzig Jahre Recht des Warenkaufs von Ernst Rabel – Werk und Wirkgeschichte, RabelsZ 70 (2006), 795 ff. 237  Convention on International Interests in Mobile Equipment, Cape Town, 16 November 2001, https://www.unidroit.org/instruments/security-interests/cape-town-con vention/; UNIDROIT Convention on substantive rules for intermediated securities, 9 Oct 2009, https://www.unidroit.org/instruments/capital-markets/geneva-convention/; vgl. Erw. 6 („Believing that a functional approach in the formulation of rules to accommodate the various legal traditions involved would best serve the purposes of this Convention“). 238  Goode, The International Interest as an Autonomous Property Interest, ERPL 12 (2004), 18–25, 22 ff.; zur Entstehungsgeschichte Didenko, A Historical Overview of the Basic Concepts of the Cape Town Convention (Part 1): ‚International Interest‘ and ‚Internationality‘, Cape Town Convention Journal 6 (2017), 136, 138 ff. 239  Goode, Official Commentary on the Convention on International Interests in Mobile Equipment and Protocol thereto on Matters Specific to Aircraft Equipment (5. Aufl., 2022) – paragraph 2.49. 240  Vgl. dazu Risch, Die Regelungen des redlichen Erwerbs und des Rangs in der Genfer Wertpapierkonvention (2017), 208 ff.

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institut einführt, dessen inhaltliche Ausgestaltung aber dem nationalen Recht überlässt. Differenz und Einheit sind hier also nicht auf verschiedene Stufen verteilt, sondern erscheinen innerhalb desselben Rechts. Dass darin eine erfolgreiche Verbindung läge, ist indes nicht offensichtlich; es handelt sich wohl nur um einen Kompromiss zwischen Vereinheitlichung und Anerkennung.241

C. Internationales Privatrecht: Gleichwertigkeit Vielleicht am deutlichsten zeigt sich das Prinzip der Äquivalenz, der Gleichheit in Differenz, im Internationalen Privatrecht. Das ist kein Wunder: man kann geradezu davon sprechen, dass das internationale Privatrecht in seiner Grundkonzeption dazu da ist, eine solche Gleichheit in Differenz herzustellen. Denn Internationales Privatrecht geht ja in seiner Grundkonzeption davon aus, dass Rechte unterschiedlich sind und bleiben, und gleichzeitig davon, dass die Gleichheit ein Prinzip nicht nur materieller, sondern auch kollisionsrechtlicher Gerechtigkeit ist und daher durch das Recht bewahrt oder erzeugt werden muss. Anders gesagt: das IPR behandelt unterschiedliche Rechte gleich nicht wegen ihrer vorbestehenden Gleichheit, sondern gerade eingedenk ihrer Differenz.

1. Dogmatik Es würde hier zu weit führen, im Einzelnen auszuführen, wie sich die Gleichheit in Differenz in einzelnen dogmatischen Figuren des Internationalen Privatrechts auswirkt. Besonders deutlich findet sie sich, wenig überraschend, in der funktionalen Qualifikation, die ja schon Rabel mit der funktionalen Rechtsvergleichung verbunden hat: „Der Tatbestand der Kollisionsnormen bezieht sich nicht auf eine Erscheinung der lex fori, der dann Erscheinungen fremder Rechte gleichzustellen sind, sondern von vornherein auf das Gemeinsame dieser Rechtserscheinungen.“242 Man hat diesem Ansatz mehreres vorgeworfen: solche Rechtsvergleichung sei durch den Richter nicht zu leisten; sie führe nicht zu objektiven Rechtserscheinungen (die gewissermaßen hinter den nationalen Regeln als bloßen Phänomenen als eigentliche Essenz wohnten), der Verweis auf die Rechtsvergleichung könne und dürfe nicht verbergen, dass es auch beim 241 

Kritisch etwa Risch (Fn. 240); Verteidigung bei Kronke (Fn. 235), 235 ff. Rabel, Das Problem der Qualifikation, RabelsZ 5 (1931), 241, 257; zur These des Ursprungs funktionaler Rechtsvergleichung aus dem IPR insbesondere Graziadei, The Func­ tional Heritage, in: Legrand/Munday (Hrsg.), Comparative Legal Studies: Traditions and Transitions (2003), 100, 104–106; Gebauer, Zu den methodischen Ursprüngen funktionaler Rechtsvergleichung – Sachnorm, Kollisionsorm und Qualifikation, in: Benicke/­Huber (Hrsg.), National, International, Transnational: Harmonischer Dreiklang im Recht, Festschrift für Herbert Kronke (2020), 813, 817 ff.; zur Qualifikation als Rechtsvergleichung ­Michaels (Fn. 132), 424. 242 

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IPR letztlich um Wertungen gehe, und zwar solche, die das Forum anstelle. 243 Das mag alles so sein. Kaum zu leugnen ist indes, dass die Zusammenfassung unterschiedlicher Rechtsinstitute in verschiedenen Rechtsordnungen unter einem gemeinsamen Begriff (wie „Delikt“ oder „Adoption“) ein notwendiges Urteil der Gleichheit enthält: diese Institute sind in ihrer Natur so gleich, dass sie unter denselben Systembegriff passen, und sie sind normativ in der Art gleich zu behandeln, dass dasselbe Anknüpfungsmoment für sie angemessen ist. Die Wertung des Forums ist also eine Gleichheitswertung: Gleichheit wird nicht erkannt, sondern durch das Forum konstruiert; sie ist aber nicht verzichtbar. Ein weiteres Beispiel einer dogmatischen Figur, bei der Gleichheit und Singularität zusammenkommen, ist die Substitution, also die Ausfüllung der Tatbestandsmerkmale einer Sachnorm des anwendbaren Rechts durch ein Rechtsinstitut einer anderen Rechtsordnung. Ein vielgenutztes Beispiel ist die Auslandsbeurkundung, bei der das Erfordernis notarieller Beurkundung nicht auf deutsche Notare beschränkt wird, die der Gesetzgeber im Auge hatte, sondern auch durch Schweizer Notare erfüllt werden kann.244 Ein anderes ist die Frage, ob etwa die Verjährung durch Erhebung einer Klage oder Beantragung eines Mahnbescheids im Ausland gehemmt wird. 245 Voraussetzung dafür ist die Gleichwertigkeit der Rechtsinstitute, faktisch also die funktionelle Äquivalenz. 246 Eng verbunden ist die Frage, ob beim Statutenwechsel ein nach einem Recht erworbenes Recht oder ein erworbener Status einem neuen Recht unterstellt werden können. Nach dem BGH können etwa „fremde dingliche Rechte nur entsprechend ‚dem funktionsäquivalenten deutschen Sachenrechtstyp‘ ausgeübt werden“.247 Hier ist die Gleichheit also Voraussetzung und damit auch Folge der Anerkennung: weil die italienische Autohypothek dem Sicherungseigentum des deutschen Rechts entspricht, bewirkt ihre Behandlung nach dem Grenzüber243  Zur jüngeren Auseinandersetzung etwa kritisch von Bar/Mankowski (Fn. 110), 649– 653; positiver Kegel/Schurig (Fn. 151), 343–346; von Hein, in: Münchener Kommentar zum BGB Bd. 12 (8. Aufl, 2020), Einl. IPR, Rn. 117. 244  Spellenberg, Zur Ersetzbarkeit deutscher notarieller Formen im Ausland, in: Geimer/ Kaissis/Thümmel (Hrsg.), Ars aequi et boni in mundo, Festschrift für Rolf. A. Schütze (1999), 887 ff.; Grüneberg/Thorn (81. Aufl. 2022), Art. 11 EGBGB Rn. 9. 245  Linke, Die Bedeutung ausländischer Verfahrensakte im deutschen Verjährungsrecht, in: Beiträge zum internationalen Verfahrensrecht und zur Schiedsgerichtbarkeit: Festschrift für Heinrich Nagel (1987), 209. 246  Kropholler (Fn. 143), § 33 II 2. 247  BGH 11.3.1991 – II ZR 88/90, NJW 1991, 1415, 1416 (das Zitat stammt von Kreutzer, in: Münchener Kommentar zum BGB, Anh. I nach Art. 38 Rn. 62); BGH 13.5.2015 – IV ZB 30/14, NJW 2015, 2185, 2187; ähnlich schon BGHZ 109, 1, 6; ausführlich zur Funktionsäquivalenz Mansel, Substitution im deutschen Zwangsvollstreckungsrecht, in: Pfister/Will (Hrsg.), FS Werner Lorenz (1991), 689, 697–699; Seifer, Ausländische Mobiliarkreditsicherungsrechte im inländischen Rechtsverkehr (2020), 131 ff.; von Bar/Mankowski (Fn. 110), § 7 Rn. 243; Bureau/Muir Watt, Droit international privé Bd. 1 (5. Aufl. 2021), Rn. 479–481.

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tritt als Sicherungseigentum auch keine wesentliche Ungleichheit gegenüber ihrer ursprünglichen Rechtsnatur.

2. Gleichwertigkeit der Rechtsordnungen Grundlage des klassischen Internationalen Privatrechts ist dabei die Gleichwertigkeit der Rechtsordnungen. Schurig, der sich damit ausführlich auseinandergesetzt hat, macht klar, dass es sich um eine normative Grundentscheidung und nicht eine empirische Erkenntnis handelt: Rechtsordnungen sind nicht von sich aus gleichwertig, sondern der IPR-Gesetzgeber entscheidet sich, sie als solche anzusehen. 248 Er muss das nicht tun und kann etwa der lex fori den Vorzug geben, wie es im US-amerikanischen Recht weitverbreitet bleibt. Mit der Entscheidung für die Gleichwertigkeit der Rechtsordnungen ist indes auch die Entscheidung dafür getroffen, das ausländische Recht als Recht anzuwenden: Gleichwertigkeit impliziert Anerkennung des Rechtscharakters und der prinzipiellen Anwendbarkeit. Es kann dann nicht um die spontane Kreation inländischen Rechts gehen, in dem das ausländische Recht repliziert wird, wie es die local law theory postuliert. 249 Ebenso kann es nicht darum gehen, das ausländische Recht als bloßes (normatives oder empirisches) Faktum zu berücksichtigen, weil auch mit der Behandlung des ausländischen Rechts als Faktum eine Ungleichheit geschaffen wird. Gleichwertigkeit bedeutet allerdings nicht Gleichheit, sondern wiederum, wörtlich, Äquivalenz. Rechtsordnungen haben in ihrer jeweiligen Singularität den gleichen Wert. Damit ist nicht mehr gesagt, aber auch nicht weniger, als dass die Gerichte eines Staates grundsätzlich bereit sind, das Recht eines anderen Staates anzuwenden, wenn dieses besser zur Regulierung des konkreten Sachverhalts geeignet ist. Diese Eignung kann sich aus formalen Kriterien ergeben, also etwa einem Anknüpfungsmoment, oder aber aus materiellen Kriterien, etwa dem größeren Schutz des Klägers, dem größeren Regulierungsinteresse des Staates oder sogar der besseren Qualität des Rechts. Gleichzeitig ist aber auch gesagt, dass die Unterschiede zwischen den Rechtsordnungen bestehen bleiben und anerkannt werden. Es ist also keineswegs, was die Rede von der Gleichwertigkeit nahelegen könnte, gleichgültig, welches Recht angewandt wird. Im Gegenteil: es geht darum, dem singulären Sachverhalt das passende singuläre Recht zuzuweisen. In diesem Sinne vertritt Internationales Privatrecht insgesamt eine Gleichheit in Differenz. Diese Erkenntnis ist hilfreich zum Verständnis der Diskussion darüber, ob Parteien insbesondere im Vertragsrecht anstatt staatlicher Rechte ein nichtstaatliches Recht wählen können sollen. Befürworter argumentieren gern mit 248 Eingehend 249 

Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht (1980), 51–57. Kropholler (Fn. 143), § 21 I 1.

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der Gleichwertigkeit nichtstaatlichen Rechts; in den Hague Principles of International Commercial Contracts ist eine materielle Gleichwertigkeit sogar ausdrücklich als Erfordernis genannt. 250 Das ist eine Neuerung: traditionell wird formale Gleichheit wählbarer Rechtsordnungen gefordert (Staatlichkeit), gerade um materielle Differenz tolerieren zu können. Solche materielle Differenz ist ein wesentlicher Grund für Rechtswahl: Parteien wählen ja ein anwendbares Recht jedenfalls auch aus materiellen Gründen, weil es sich vom durch objektive Anknüpfung bestimmten Recht unterscheidet. Die Ersetzung des formalen Kriteriums der Staatlichkeit durch das materielle der inhaltlichen Gleichwertigkeit bewirkt daher faktisch eine Ungleichbehandlung nichtstaatlicher Rechte gegenüber staatlichen, bei denen der Inhalt des gewählten Rechts ja kein Kriterium für die Wählbarkeit ist; sie erlegt auch dem Richter oder Schiedsrichter eine schwierige Beurteilung auf. 251

3. „Dritte Schule“ Wenn nun die Gleichwertigkeit der Rechtsordnungen keine intrinsische Eigenschaft des Internationalen Privatrechts ist, sondern eine normative Entscheidung, so liegt sie auch nicht jedem IPR-Verständnis zugrunde. Für ein lex-fori-Verständnis des Internationalen Privatrechts oder ein System unilateraler Kollisionsnormen ergibt sie sich nicht; hier wird die Ungleichheit zwischen eigenem und fremdem Recht betont. Gleichwertigkeit ergibt sich dagegen typischerweise aus einem internationalen Verständnis des Internationalen Privatrechts, in dem Rechtsverhältnisse gewissermaßen von höherer Warte aus den einzelnen Rechtsordnungen zugeteilt werden. Ein solches Verständnis ist insbesondere in föderalen oder quasiföderalen Systemen möglich, so etwa im europäischen IPR. 252 Sie ist indes auch in einem solchen System nicht notwendig – in den Vereinigten Staaten etwa existiert kein umfassendes föderales IPR; die US-Verfassung setzt nur äußere Grenzen für die kollisionsrechtliche Entscheidung der einzelnen Staaten. 253 Und sie ist dort nicht zu erreichen, wo ein höheres System fehlt, also insbesondere außerhalb von Staatsverträgen.

250 Art. 3 Hague Principles on Choice of Law in International Contracts; Hoekstra, NonState Rules in International Commercial Law – Contracts, Legal Authority and Application (2021), 121 ff. 251  Michaels, Non-State Law in the Hague Principles on Choice of Law in International Commercial Contracts, in: Purnhagen/Rott (Hrsg.), Varieties of European Economic Law and Regulation – Liber Amicorum for Hans Micklitz (2014), 43–70. 252  Michaels, Die europäische IPR-Revolution. Regulierung, Europäisierung, Mediatisierung, in: Baetge/von Hein/von Hinden (Hrsg.), Die richtige Ordnung, FS Kropholler (2008), 151, 158 ff. 253  Basedow, Federal Choice of Law in Europe and the United States – A Comparative Account of Interstate Conflicts, Tul. L. Rev. 82 (2008), 2119.

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In Reaktion auf diese Probleme bildete sich nun das, was Zweigert 1948 die „Dritte Schule“ des Internationalen Privatrechts genannt hat und auf Rabel zurückführt, die aber vielleicht schon auf Franz Kahn zurückgeht. 254 Man kann darin ein Element der ersten europäischen IPR-Revolution sehen, 255 und man kann sagen, dass diese Revolution sich durchgesetzt hat. Die Idee dieser Schule ist, verkürzt gesagt, die Vermittlung zwischen dem nationalen Charakter des Internationalen Privatrechts und seiner notwendig internationalen Ausrichtung. Ein so verstandenes Kollisionsrecht ist zwar staatlich, unterliegt aber anderen Wertungen als das staatliche Sachrecht. Es verbindet also die Singularität des nationalen (Kollisions-) Rechts als Ausdruck autonomer Setzung mit der (autonom gefundenen) Akzeptanz der grundsätzlichen Gleichwertigkeit ausländischer Rechtsordnungen. Schurig spricht von „rechtsvergleichend aufgeklärtem Autonomismus.“256 Nicht zufällig ist dabei, dass die Schule mit Ernst Rabel auf einen Rechtsvergleicher zurückgeführt wird, für den die Wertungen, denen das internationale Privatrecht folgen soll, aus Erkenntnissen der funktionalen Rechtsvergleichung folgen. 257 Eine fundamentale Gleichheit der Ergebnisse wird hier also gleichzeitig zur Grundlage kollisionsrechtlicher Entscheidung herangezogen und umgekehrt dann wiederum durch das Kollisionsrecht bewirkt. Es war also einerseits übertrieben, in der Dritten Schule nichts anderes als die Natur des Internationalen Privatrechts insgesamt zu sehen, 258 weil ein Verständnis des Internationalen Privatrechts als Gleichheit in Differenz nicht selbstverständlich ist. Es ist aber andererseits auch nicht erforderlich, das klassische internationale Privatrecht, wie es etwa Gaudemet-Tallon erwogen hat, durch eine Äquivalenzmethode zu ersetzen, 259 weil eben diese Äquivalenz schon jetzt dem herrschenden Verständnis entspricht. Das herrschende Verständnis ist nur eben in zweierlei Hinsicht kontingent. Erstens beruht es auf einer normativen Ent-

254  Zweigert, Die Dritte Schule im internationalen Privatrecht – Zur neueren Wissenschaftsgeschichte des Kollisionsrechts, in: Ipsen (Hrsg.), Festschrift für Leo Raape (1948), 35; kritisch zur behaupteten Neuheit schon Lewald, Eine „Dritte Schule“ im Internat. Privatrecht? NJW 1949, 644–647. Zum Ursprung Schurig (Fn. 248), 130, 134. 255  Michaels (Fn. 252), 156 f. 256  Schurig (Fn. 248), 134. 257  Vgl. etwa Rabel, Comparative Conflicts Law, Ind. L.J. 24 (1949), 353, 355 f.: „If comparative research teaches us anything, it is to look to the essentials. It ascertains throughout the world the facts common to all, the common life problems, the common functions of the legal institutions. This is the necessary basis for rules intended to distribute the phenomena of life to the various jurisdictions“. 258  Lewald (Fn. 254); Vischer, Die rechtsvergleichenden Tatbestände im internationalen Privatrecht (1953), 19 f. 259  Gaudemet-Tallon, De Nouvelles fonctions pur l’équivalence en droit international privé?, in: Le droit international privé, Esprit et Méthodes, Mélanges en l’honneur de P. Lagarde (2005), 303.

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scheidung. 260 Und zweitens setzt es für seine Durchführbarkeit voraus, dass die betroffenen Rechtsordnungen von vornherein ein gewisses Maß an Gleichartigkeit aufweisen, wie es schon Savigny postulierte und auch Bartin zur Voraussetzung des IPR erklärte. 261

V. Jenseits von Gleichheit und Singularität? Es lohnt sich vielleicht, ein Zwischenfazit zu ziehen. Gleichheit und Singularität stehen in den Disziplinen der Rechtsvielfalt in einem dialektischen Verhältnis. Zwar lässt sich beobachten, dass zu bestimmten Zeiten, in bestimmten Situationen, von bestimmten Diskursteilnehmern, entweder die Gleichheit oder die Singularität betont wird. Verschiedene Ansätze zu allen drei Disziplinen lassen sich insofern der einen oder der anderen Richtung zuordnen. Aber das geschieht immer im Bewusstsein, dass keines der beiden Prinzipien absolut gelten kann: Gleichheit kann nicht Singularität, Singularität nicht Gleichheit verdrängen. Die Präferenz für das eine oder das andere beruht dann auch häufig auf argumentativen Zielen. Insofern jedenfalls ist es nicht überraschend, dass alle drei Disziplinen Methoden hervorgebracht haben, die den Unterschied zwischen Gleichheit und Singularität zu transzendieren versuchen, indem sie Gleichheit in Differenz (oder Differenz in Gleichheit) als Äquivalenz möglich machen. Die (funktionale) Äquivalenz scheint sich in allen drei Disziplinen als die Ideallösung zu präsentieren. Leider ist das nicht unproblematisch. Denn Äquivalenz beruht regelmäßig auf einem gewissen Maß an Endogenität: Im Ergebnis beruht die Äquivalenz regelmäßig darauf, dass ein Mindestmaß an Gleichheit von Anfang an schon bestanden hat oder aktiv erzeugt wird. In der Rechtsvergleichung zeigt sich das darin, dass nur Rechtsordnungen auf der gleichen Entwicklungsstufe verglichen werden. In der gegenseitigen Anerkennung besteht es darin, Gleichheit, die nicht schon vorher existiert, durch Harmonisierung zuvor herzustellen. Und im Internationalen Privatrecht zeigt es sich in der Herkunft der Disziplin aus einem christlich-europäischen Kulturkreis: die Disziplin wurde für Kollisionen zwischen relativ gleichen Rechtsordnungen geschaffen. 260 

Schurig (Fn. 248). Bartin, De l’impossibilité d’arriver à la suppression définitive des conflits de lois, Journal de droit international (1897), 227: „L’identité complète des différentes législations civile le ferait disparaître en fait, puisqu’elle le rendrait sans objet en supprimant toute cause de conflit entre législations semblables. Mais la différence trop grande de ces mêmes legislations le fait également disparaître en ce sens, qu’elle en rend l’application juridiquement impossible, puisqu’il repose sur l’idée de communauté internationale entre les états auxquels ces législations appartiennent, et qu’aucune communauté de ce genre ne se conçoit entre les états dont les lois civiles sont essentiellement différentes l’une de l’autre“. 261 Vgl.

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Immer ist das Ergebnis der Gleichheit in Differenz also jedenfalls zum Teil einfach eine Folge dessen, dass die Gleichheit schon als Voraussetzung da war. Differenz kann grundsätzlich akzeptiert werden, weil sie sich in Grenzen hält – typischerweise den Grenzen der westlichen Rechtstraditionen. Diese Gleichheit als Voraussetzung der Disziplinen wird teuer erkauft. Denn insofern die Disziplinen der Rechtsvielfalt ein Mindestmaß an Gleichheit bereits voraussetzen, müssen sie notwendig jene Rechtsordnungen ausschließen, die diese Gleichheit nicht aufweisen. Genauer: solche Rechtsordnungen werden entweder angeglichen – durch Projektion als gleicher verstanden, als sie es wirklich sind – oder eben als „ganz anders“ aus der Behandlung ausgeschlossen – durch Projektion von Differenz.

A. Projektion von Gleichheit 1. Rechtsvergleichung In der Rechtsvergleichung wird Gleichheit projiziert, wenn Recht des Globalen Südens in die Kategorien der bekannten europäischen Rechte eingeordnet wird. Das geschieht zum Beispiel dann, wenn die Differenz zwischen droit écrit und droit coutumier, die ursprünglich aus der europäischen Rechtsgeschichte stammt, 262 auf die afrikanischen Kolonien und postkolonialen Staaten übertragen und damit scheinbar universalisiert wird. 263 Sicherlich ist es möglich, auf hohem Abstraktionsniveau generell zwischen geschriebenem und nichtgeschriebenem Recht zu unterscheiden. Aber historisch bezeichnet die Differenz etwas Konkretes – die Differenz zwischen römischem und außerrömischem Recht – das sich nicht ohne weiteres auf andere Kontexte übertragen lässt. (Selbst hier ist im Übrigen die Differenzierung ungenau: einerseits existierte das nichtrömische droit coutumier selbst auch oft in geschriebener Form, andererseits hatte auch das römische Recht als ius commune insofern den Charakter eines Gewohnheitsrechts, als es nicht selbst unmittelbar band.)264 Wenn man von dieser historischen Kontingenz abstrahiert und die Differenz universalisiert, geht dieser konkrete Kontext verloren. Und wenn die Differenz auf das Verhältnis zwischen kolonialem und postkolonialem Recht angewandt wird, wo das geschriebene Recht historisch das der Kolonialmacht ist und das 262  Du Rousseaud de La Combe, Recueil de jurisprudence civile du pays de droit écrit et coutumier (1762); Bühler, Coutumes, HRG I (2010) 907, www.HRGdigital.de/HRG.cou­ tumes; zweifelnd etwa Hilaire/Terré, La vie du droit (1994), 157 ff. 263  Lampué, Droit écrit et droit coutumier en Afrique francophone, Penant 89 (1979), 245– 288; Melone, Les juridictions mixtes de droit écrit et de droit coutumier dans les pays en voie de développement. Du bon usage du pluralisme judiciaire en Afrique: l’exemple du Cameroun, Revue internationale de droit comparé 38 (1986), 327–346. 264 Vgl. Glenn, On Common Laws (2005), 16 ff., 97 ff.

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Gewohnheitsrecht dasjenige der Kolonisierten, ergibt sich eine Parallelität, die nur oberflächlich ist und damit wichtige Unterschiede verschweigt. Gewiss: die Ablehnung des römischen Rechts und die Ablehnung des Kolonialrechts waren beide Ablehnungen eines „fremden“ Rechts. Gewiss: es war die Schriftform, die es dem römischen Recht wie auch dem Kolonialrecht erlaubten, übertragen zu werden. Aber das sind Parallelen, die erst erarbeitet werden müssten und in den abstrakten Begriffen von geschriebenem und Gewohnheitsrecht verdeckt werden. Ein verwandtes Beispiel betrifft die Differenz von civil law und common law. Bisweilen zur summa differentia des Rechts erklärt, 265 beschreibt die Differenz doch – zumal im Verhältnis zur nichteuropäischen Welt – relativ subtile technische Unterschiede zwischen westlich-kapitalistischen hochentwickelten Rechtsordnungen innerhalb einer europäischen Rechtskultur oder deren Tochterrechtsordnungen. An der Oberfläche lassen sich vielleicht tatsächlich alle Rechtsordnungen der Welt der einen oder anderen Rechtstradition zuordnen, wie es prononciert in der Legal-Origins-Literatur geschah. 266 Das kann auch insbesondere praktisch wertvolle Informationen bieten wie etwa bei einem schwerpunktmäßig dogmatischen Vergleich der Vertragsrechte asiatischer Länder. 267 Gleichzeitig ist ein solcher Vergleich notwendig eurozentrisch. 268 Indem europäische Differenzen auf Asien erweitert werden, werden teilweise wichtigere Unterschiede zwischen asiatischen und europäischen Rechten tendenziell eingeebnet. Ein ähnliches Problem besteht beim Begriff des Rechts. Die Debatte zur Wählbarkeit nichtstaatlichen Rechts etwa krankt daran, dass nichtstaatliche Rechte wie die lex mercatoria mit staatlichen gleichgesetzt werden, obwohl die lex mercatoria gar nicht alle Funktionen staatlichen Rechts, insbesondere die Durchsetzung öffentlicher Interessen, erfüllen will oder kann. Insofern zeigt sich im Verhältnis zu nichtstaatlichen Rechtsordnungen der europäische Charakter traditioneller Definitionen. 269 Ein erweiterter Begriff des Rechts, der auch nichteuropäische Ordnungen umfasst, kann dem Imperialismusvorwurf ebenfalls nicht entkommen, insofern er diesen Ordnungen eine Definition vorschreibt, die sie selbst unter Umständen nicht wählen würden. 270 Und auch in der Mikrovergleichung lassen sich Beispiele finden. So sieht sich etwa die Rechtsvergleichung im Familienrecht mit der Schwierigkeit konfron265  Legrand, European Legal Systems Are Not Converging, Int’l & Comp. L. Q 45 (1996), 52, 63. 266 Dazu Michaels, Comparative Law by Numbers? Legal Origins Thesis, Doing Business Reports, and the Silence of Traditional Comparative Law, Am. J. Comp. L. 57 (2009), 765, 780 ff. 267  Studies in the Contract Laws of Asia (2016 ff.). 268 Vgl. Michaels (Fn. 169). 269 Etwa Allott, The Limits of Law (1980). 270  Roberts, After Government? On Representing Law Without the State, Mod. L. Rev. 68 (2005), 1–24.

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tiert, dass Familien- und Verwandtschaftsstrukturen in der Welt gänzlich unterschiedlich sind. 271 Was wir „Ehe“ nennen hat nicht nur ganz unterschiedliche Funktionen, sondern auch ganz unterschiedliche Bedeutungen. Teilweise kann man mit funktionaler Äquivalenz arbeiten und etwa ausländische Regeln zur Ehemündigkeit als Zugangsregeln zur Sexualität verstehen – so dass das Vergleichsobjekt im deutschen Recht eigentlich im Sexualstrafrecht läge (§§ 176, 182 StGB). Aber funktionale Äquivalenz kann symbolische Differenzen nur teilweise auffangen. Die Minimalgleichheit, die für ein vergleichendes Eherecht erforderlich ist, kann häufig nicht vorausgesetzt werden.

2. Rechtsvereinheitlichung Ganz ähnlich ist die Situation im Rahmen der Rechtsvereinheitlichung. So gibt es etwa den Versuch, nach dem Vorbild der Principles of European Private Law (PECL) asiatische Prinzipien des Vertragsrechts zu entwerfen. 272 Dabei dienen die PECL auch inhaltlich als Vorbild. 273 Obwohl die asiatischen Prinzipien auf Rechtsvergleichung zwischen asiatischen Vertragsrechten beruhen, sind sie doch inhaltlich dem europäischen Vorbild sehr ähnlich. Ein Grund mag darin bestehen, dass das kodifizierte Vertragsrecht in Asien wie oben angedeutet seinerseits stark europäischen Vorbildern ähnelt. Zwar gibt es eine Debatte zwischen den Hauptinstigatoren zur Frage, ob die Prinzipien eine „Asian voice“ repräsentieren sollten 274 oder ein spezifisch asiatischer Charakter pure Illusion wäre und die Hauptprobleme in der Verbindung von civil und common law liegen. 275 Aber auch die erstgenannte Ansicht bezieht die „Asian voice“ mehr auf die Autoren und weniger auf den Inhalt. Weder findet sich ein spezifisch asiatischer Inhalt, noch gehen die Prinzipien gesondert auf etwaige Erfordernisse der (doch sehr unterschiedlichen) asiatischen Staaten ein, für die sie formuliert werden. Ähnlich sieht es in Afrika aus. Marcel Fontaine, der für OHADA einen Vertragsrechtskodex auf Grundlage der UNIDROIT Principles entwarf, fand – außer einem hohen Grad an Analphabetismus und einem Mangel an „Rechtskultur“ – keine afrikanischen Besonderheiten, die eine unterschiedliche 271 

Godelier, Métamorphoses de la parenté (2004). Han, Principles of Asian Contract Law: An Endeavor of Regional Harmonization of Contract Law in East Asia, 58 Villanova Law Review (2013), 589–599; Grebieniow, Principles of Asian Contract Law at the Crossroads of Standardization and Legal Pluralism, Asian Journal of Law and Society (2021), 1–33. 273  Explizit für solche Vorbildfunktion Durovic, Harmonization of Contract Law in Eastern and South-Eastern Asia: What Can Be Learned from the CISG and the ECL Experience?, Global Journal of Comparative Law 7 (2018), 207–231. 274  Han (Fn. 272), 591. 275  Kanayama, PACL (Principles of Asian Contract Law), in: Jaluzot (Hrsg.), Droit japonais, droit français – Quel dialogue? (2014), 185–196. 272 

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Regelung legitimieren würden. 276 Das OHADA-Kaufrecht ist im Wesentlichen eine Kopie des CISG; auch hier erfolgt also im Rahmen regionaler Rechtsvereinheitlichung in Wirklichkeit Angleichung an europäisches Recht. Das Projekt europäischer Moderne wird hier also weitgehend unverändert in die ehemaligen Kolonien getragen. Dass der Inhalt dieses Einheitsrechts sich ganz weitgehend an europäischen Vorbildern orientiert, ist dabei nicht der einzige koloniale Einfluss. Auch die Prinzipien der Rechtsvereinheitlichung werden aus Europa übernommen, obwohl sie dort anders wirksam waren. In Europa gibt es seit jeher eine recht weitgehende einheitliche Rechtskultur; Rechtsvereinheitlichung kann dazu dienen, jedenfalls teilweise zufällige Rechtsunterschiede einzuebnen. In Afrika, vom Mittelmeer bis zum Kap, ist eine solche einheitliche Rechtskultur wesentlich zweifelhafter (auch wenn sie aus der Fernsicht der europäischen Rechtsvergleichung gern behauptet wird); für Asien gilt das gleiche. Das mag nun für die Vereinheitlichung des Vertragsrechts sekundär erscheinen. Vertragsrecht gilt gemeinhin als relativ kulturunabhängig. Zudem bietet die Nähe zu anderweitigen Modellen den Vorteil größerer Anschlussfähigkeit, was insbesondere für den internationalen Handel wichtig werden kann („Netzwerkeffekte“). Aber damit ist das Problem nicht gelöst, sondern nur verschoben, weil sich die Rechtsvereinheitlichung nämlich dann auf Rechtsgebiete konzentriert, die eurozentrisch vorgeprägt sind. Um solche Gleichheit zu erzeugen, die diese Form der Rechtsvereinheitlichung möglich macht, ist es dann nötig, Rechtsregeln und -institute ganz weitgehend von ihrem kulturspezifischen Inhalt zu befreien und auch von den konkreten Kämpfen abzulösen, aus denen sie entstanden sind. Günther Frankenberg hat diesen Prozess in der von ihm so bezeichneten IKEA-Theorie der legal transplants zusammengefasst. 277 In diesem Prozess werden Rechtsinstitute zunächst dekontextualisiert und damit von ihrem Ursprung getrennt und sodann in ein „globales Reservoir“ an Rechtslösungen eingespeist, an dem sich dann Rechtsreformer in anderen Ländern bedienen können, weil diese dekontextualisierten Rechtsinstitute so wie IKEA-Möbel in jeden beliebigen Kontext passen. Die in ein neues Umfeld eingefügte Rechtsinstitution kann dort freilich nur erfolgreich sein, wenn sie rekontextualisiert wird. Im Ergebnis sind 276  Fontaine, Law harmonization and local specificities – a case study: OHADA and the law of contracts, Unif. L. Rev. 18 (2013), 50, 53 f.; mit Diskussion anderer Positionen ebda., 55 ff.; vgl. auch ders., The Draft OHADA Uniform Act on Contracts and the UNIDROIT Principles of International Commercial Contracts, Unif. L. Rev. 9 (2004), 573, 577 f. und Les objectifs de l’harmonisation du droit des contrats – Deux projets OHADA et les Principes OHADAC: objectifs contrastés, ERPL 3–4 (2016), 393, 398–400. 277  Frankenberg, Autorität und Integration. Zur Grammatik von Recht und Verfassung (2003), 124–132; ders., Constitutional Transfer: The IKEA Theory Revisited, Int’l J. Const. L. 8 (2010), 563–579; ders. Constitutions as commodities: notes on a theory of transfer, in: ders. (Hrsg.), Order From Transfer: Comparative Constitutional Design and Legal Culture (2013), 1–26.

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die Rechtsinstitute in der Herkunfts- und der Zielrechtsordnung oberflächlich gleich, durch den Kontext freilich erhalten sie unterschiedliche Bedeutung. In einem solchen neoliberalen Modell der Rechtsvereinheitlichung, in dem Rechtsinstitute letztlich wie Waren gehandelt werden, 278 werden Staaten zu bloßen Teilnehmern am globalen Rechtsmarkt. 279 Als solche sind sie formal gleich, ungeachtet der beträchtlichen substantiellen Unterschiede und ungeachtet auch der erheblichen Marktbeeinträchtigungen auf einem solchen unregulierten und extrem ungleichen Markt. Das Ergebnis ist häufig eine Universalisierung solcher Regelungen, die europäischem und nordamerikanischem Rechtsdenken entsprechen.

3. Internationales Privatrecht Auch im Internationalen Privatrecht finden wir die Projektion von Gleichheit. Savigny entwarf es ausdrücklich insbesondere für Kollisionen zwischen christlichen Rechtsordnungen. 280 Nur insofern kann demnach die Gleichheit vorausgesetzt werden, die die Gleichwertigkeit von Rechtsordnungen und damit die Bereitschaft zur Anwendung ausländischen Rechts ermöglicht. Heute besteht diese Beschränkung selbstverständlich nicht mehr; auch das Recht von Ländern außerhalb Europas, sogar von Ländern ohne christliche Prägung wird vom Internationalen Privatrecht erfasst. Die meisten europäischen IPR-Verordnungen sind nicht auf europäische Rechtsordnungen beschränkt; zwischen dem Recht von Frankreich und dem Recht von Saudi-Arabien wird jedenfalls formal kein Unterschied gemacht. Das kann durchaus zu Verzerrungen führen. So sind etwa die Anforderungen an die Erforschung des Inhalts ausländischen Rechts am Modell europäischer Rechtsordnungen entwickelt worden. Für nichteuropäische Rechte sind sie oft nicht zu erfüllen – sei es, weil das gleiche Maß an wissenschaftlicher und gerichtlicher Durcharbeitung der Rechtsordnung fehlt, sei es, weil das Maß an Exaktheit überhaupt nicht zu erreichen ist. Letzteres ist besonders bei nichtstaatlichen Rechten der Fall, wenn es an einer Letztentscheidungsinstanz fehlt. Und es kann die angestrebte Gleichbehandlung ausländischer Rechtsordnungen und der ihnen Unterworfenen unterlaufen. Wenn Beklagte im Rahmen 278  Michaels, Make or Buy – A Public Market for Legal Transplants?, in: Eidenmüller (Hrsg.), Regulatory Competition in Contract Law and Dispute Resolution (2013), 40–55; Eidenmüller, Law as a Product, in: Micklitz u.a. (Hrsg.), New Private Law Theory (2021), 437–453; Stark, Law for Sale: A Philosophical Critique of Regulatory Competition (2019), 125–175. 279  O’Connor/Ribstein, The Law Market (2009). 280 Vgl. Michaels, Globalizing Savigny? The State in Savigny’s Private International Law and the Challenge from Europeanization and Globalization, in: Stolleis/Streeck (Hrsg.), Aktuelle Fragen politischer und rechtlicher Steuerung im Kontext der Globalisierung (2007), 119–137.

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eines Forum-non-conveniens-Einwands begründen müssen, warum ein ausländisches Forum angemessen sei, behaupten sie regelmäßig, dass dort gleichwertiger Rechtsschutz erhältlich sei, etwas anderes zu behaupten sei unter Umständen sogar eine Herabwürdigung des Auslands. Faktisch indes wurden bis vor relativ kurzer Zeit Klagen, bei denen sich das erstangerufene Gericht zum forum non conveniens erklärt hatte, im Ausland nicht noch einmal neu eingebracht. Die Behauptung der Gleichheit wird hier oft prozesstaktisch angebracht und überbeansprucht. Ein besonders drastisches Beispiel findet sich in den Chevron-Verfahren zur Umwelthaftung wegen Ölschäden in Ecuador, in denen das beklagte US-amerikanische Unternehmen sich in New York darauf berief, der richtige Gerichtsstand sei in Ecuador, und dann später gegenüber der Vollstreckung des erfolgten ecuadorianischen Urteils auf einmal vorbrachte, dieses sei wegen Korruption nicht vollstreckbar. 281

B. Projektion von Differenz 1. Rechtsvergleichung Wird so einerseits oft Gleichheit projiziert, so ist das Gegenteil auch oft der Fall: die Projektion (absoluter) Differenz. Das war einst der Fall im Verhältnis zwischen civil law und common law, später im Verhältnis zwischen kapitalistischen und sozialistischen Rechtsordnungen; es gilt noch heute teilweise im Verhältnis säkularer und religiöser Rechte. 282 Absolute Differenz heißt nicht, dass die Rechtsvergleichung Unterschiede feststellt, sondern dass eine Vergleichbarkeit insgesamt nicht möglich sein soll. Man sprach in den 1980er Jahren zuweilen vom „law in radically different cultures“ als Problem der Rechtsvergleichung.283 Begründet ist das in der Regel methodisch, aber der tiefere Grund ist oft politisch. Die Unvergleichlichkeit des common law mit dem civil law spiegelte einst ein englisches Misstrauen gegenüber dem als katholisch geprägten römischen Recht wider. Später beruhte sie eher auf methodischen Problemen: Ein Verständnis der Rechtsvergleichung als Gesetzesvergleichung hatte keinen Platz für das common law; dessen Einbeziehung bedurfte einer erweiterten Methode. Die angebliche Unvergleichlichkeit sozialistischer Rechtsordnungen dagegen entsprang umgekehrt der Sorge, man könne diese Rechtsordnungen 281  Zu diesem dogmatischen Spannungsverhältnis zwischen forum non conveniens und Anerkennungsvoraussetzungen Whytock/Robertson, Forum Non Conveniens and the Enforcement of Foreign Judgments, Colum. L. Rev. 111 (2011), 1444. 282  Michaels, Religiöse Rechte und postsäkulare Rechtsvergleichung, in: Zimmermann (Hrsg.), Zukunftsfragen der Rechtsvergleichung (2016), 39, 53 ff. 283  Barton u.a., Law in Radically Different Cultures (1993). Der Fokus lag auf Kalifornien, Ägypten, Botswana und der Volksrepublik China.

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nicht einfach dem civil law zuschlagen (zu dem sie aufgrund von Historie und Charakteristika gehört hätten). Als Folge wurde in die Theorie der Rechtsfamilien das zusätzliche Kriterium der ideologischen Ausprägung eingeführt. 284 Die Rechtsvergleichung freilich betonte Vergleichbarkeit im Rahmen der sogenannten intersystemaren Rechtsvergleichung. 285 Die behauptete Unvergleichbarkeit säkularer und religiöser Rechte erklärt sich auch politisch; sie lässt sich dadurch stark reduzieren, wenn man sie auf die Letztbegründung des Rechts beschränkt und die Vergleichung einfachen Rechts auf dessen Inhalt beschränkt. 286 In allgemeinerer Form wird die Projektion absoluter Differenz unter dem Begriff des legal orientalism diskutiert. 287 Gemeint ist damit, in ausdrücklicher Anlehnung an Edward Said, 288 eine Form des „Othering“: das nichteuropäische Recht wird als ganz anders exotisiert. Das kann in kritischer Form existieren (wenn angezweifelt wird, dass China überhaupt Recht habe) oder aber auch in idealisierender Form (wenn nichteuropäische Gesellschaften dafür bewundert werden, angeblich ohne Streit auszukommen). Legal Orientalism ist also nicht immer die Herabsetzung des nichteuropäischen Rechts. Wohl aber bedeutet die Projektion der Andersheit, dass das nichteuropäische Recht nicht in seiner Eigenheit wahrgenommen werden kann, sondern Erwartungen und Stereotype des europäischen oder nordamerikanischen Rechtsvergleichers widerspiegelt.

2. Rechtsvereinheitlichung Auch in der Rechtsvergleichung gibt es die projizierte absolute Differenz, die einer Rechtsvergleichung grundsätzlich entgegenstehen soll. Die extremste Version dieser Ansicht ist diejenige, dass schon zwischen common law und civil law keine Vereinheitlichung möglich sei;289 eine Ansicht, die empirisch widerlegt ist. Wichtiger sind solche Positionen, die Rechtsvereinheitlichung auf bestimmte Länder beschränken und andere wegen angenommener prinzipieller Andersheit ausschließen. Solche Argumente werden etwa immer wieder gegen die Einbeziehung der Türkei in die Europäische Union angeführt, die als primär muslimisches Land grundsätzlich nicht nach Europa passe. Und sie werden dort relevant, wo Ländern insbesondere des globalen Südens die Fähigkeit abgesprochen wird, an bestimmten Rechtsvereinheitlichungsprojekten teilnehmen zu können. Im Völkerrecht wird das deutlich in Art. 38 Abs. 1 lit. c IGHSt, wo 284 Siehe Mattei (Fn. 70), 582 ff.; Esquirol/David, At the Head of the Legal Family, in: ­R iles (Hrsg.), Rethinking the Masters of Comparative Law (2001), 212, 225 ff. 285  Oben Fn. 68. 286  Michaels (Fn. 282), 62 ff. 287  Ruskola, Legal Orientalism: China, the United States, and Modern Law (2013); Coendet, Critical Legal Orientalism: Rethinking the Comparative Discourse on Chinese Law, Am. J. Comp. L. 67 (2019), 775–824. 288  Said, Orientalism (1978); Ruskola (Fn. 287), 4–6. 289  Vgl. etwa Legrand, On the Singularity of Law, Harv. Int’l L. J. 47 (2006), 517 ff.

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die „general principles of law recognized by civilized nations“ als Rechtsquelle genannt werden. Obwohl mittlerweile alle UN-Mitgliedstaaten als „civilized“ anerkannt werden, gibt es die angedeutete Hierarchie faktisch immer noch. 290 Es wäre zu einfach, zu behaupten, es wäre rassistisch, bestimmten Ländern bestimmte Fähigkeiten abzusprechen. Denn natürlich erfordern bestimmte Rechtsvereinheitlichungsprojekte juristische Kompetenzen und Institutionen, die nicht überall vorhanden sind. Bestimmte Vereinheitlichungsprojekte erfordern eine gewisse Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse, um erfolgreich sein zu können. Rechtsvereinheitlichung ist dort nicht möglich, wo Länder sich deshalb nicht einigen können, weil sie zu weit auseinanderliegen. Problematisch ist die Position aus anderen Gründen. Der wichtigste: wenn Ländern a priori die Fähigkeit zur Teilnahme abgesprochen wird, werden sie in ihrer vermeintlichen Andersheit essentialisiert. Das bedeutet nämlich auch, dass man ihnen den Wandel nicht zutraut, der durch Vereinheitlichung möglich sein könnte. Der zweite Grund: ein Vereinheitlichungsprojekt, das nicht jedenfalls theoretisch für alle Länder offen sein könnte, sieht sich dem Verdacht ausgesetzt, exklusiv zu sein und damit nicht wirklich universalistisch.

3. Internationales Privatrecht Auch im Internationalen Privatrecht schließlich existiert die Projektion absoluter Differenz, wenn auch nicht immer offensichtlich. Offen findet sie sich in englischen Urteilen, die dem islamischen Recht grundsätzlich die Rechtsqualität absprechen, oder bei US-Richtern, die während des kalten Krieges erklärten, sie wollten grundsätzlich nicht sowjet-russisches Recht anwenden, weil es Feindesrecht sei. Peari formuliert, auf Kant aufbauend, eine „barbarism exception“ zu seinem Gleichheitskonzept des IPR. 291 Hier wird die Außengrenze der traditionellen Beschränkung des Internationalen Privatrechts auf christliche (Savigny) bzw. „entwickelte“ Rechtsordnungen ausdrücklich sichtbar gemacht. Ähnliche Differenzen existieren auch auf der Mikroebene. So waren schon bei Savigny wesensfremde Institute des ausländischen Rechts im Inland nicht anzuerkennen oder anzuwenden. 292 Solche Ansichten sind indes selten geworden: die grundsätzliche Weigerung, das Recht bestimmter Staaten anzuwenden, widerspricht der formalen Gleichwertigkeit der Rechtsordnungen, und fremde Institute können regelmäßig durch Qualifikation, Substitution und ähnliche Instrumente bewältigt werden. Spätfolgen zeigen sich aber etwa in der Behandlung der Privatscheidung im aktuellen Internationalen Privatrecht, die nicht als Scheidung angesehen und da290  Umfassend dazu Tzouvala, Capitalism as Civilization – A History of International Law (2021). 291  Peari (Fn. 129), 128–133. 292  von Savigny (Fn. 108), § 346 B, S. 37 f.

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mit weitgehend wirkungslos gemacht wird. Und faktisch indes gibt es solche absolute Differenz noch immer. Insbesondere kann auch der odre-public-Vorbehalt absolute Differenz umsetzen. Zwar enthält die festgestellte Ordrepublic-­Widrigkeit gerade kein absolutes Verdikt über das ausländische Recht: Unvereinbarkeit des Ergebnisses der Anwendung mit inländischen Grundsätzen. Trotzdem ist in der Geschichte des ordre public immer wieder eine solche absolute Andersheit behauptet worden – besonders deutlich im Rahmen der repugnancy clause in kolonialen Verhältnissen. Auch im IPR führt indes die absolute Differenz allerdings nicht immer zur Ablehnung. Ebenso wie in der Rechtsvergleichung der legal orientalism das nichteuropäische Recht auch glorifizieren kann, gibt es im IPR solche Tendenzen im Rahmen eines extremen Relativismus, was nicht weniger problematisch ist. In Alhaji Mohamed v. Knott etwa führte Lord Parker aus, die mit dreizehn Jahren in Nigeria geschlossene Ehe sei zwar für Engländer undenkbar, nicht aber für Nigerianerinnen, die sich eben früher entwickelten. 293 Der benevolente Rassismus, der diesem Verdikt zugrundeliegt, führte zwar zu großer Toleranz gegenüber ausländischem Recht, 294 machte es aber unmöglich, die betroffene Ehefrau selbst im konkreten Einzelfall adäquat zu beurteilen und zu schützen. 295 Die projizierte Andersheit machte also eine Verbindung faktisch unmöglich.

C. Dekolonialität 1. Gleichheit und Differenz als Erzeugnisse europäischer Moderne Das Ergebnis ist ein auf den ersten Blick überraschendes: Gleichheit und Differenz sind gleichermaßen problematisch. Projizierte Gleichheit ist problematisch, weil sie die Eigenheiten des ausländischen Rechts und seiner Hintergründe marginalisiert. Projizierte Differenz andererseits exotisiert das ausländische Recht (man spricht von „Othering“) und macht es unmöglich, dieses in seiner Eigenheit zu verstehen. Tatsächlich ist das Problem von Gleichheit und Differenz dasselbe. Es liegt darin, dass das ausländische Recht in Abhängigkeit vom eigenen definiert wird. Denn Gleichheit und Differenz sind gleichermaßen relationale Begriffe, 296 und im Verhältnis zwischen euro293  Alhaji Mohamed v. Knott [1969] 1 QB 1; vgl. auch Ellger, Die Frühehe im Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland, in: Yassari/Michaels (Hrsg.), Die Frühehe im Recht (2021), 397, 420 f. 294  Siehe auch Murphy, Rationality and Cultural Pluralism in the Non-Recognition of Foreign Marriages, Int’l & Comp. L. Q. 49 (2000), 643. 295  Zur Diskussion siehe Freeman, The Morality of Cultural Pluralism, Int’l J. of Children’s Rights 3 (1995), 1–17 mwN. 296  Zum Unterschied zwischen Differenz und Diversität Deleuze, Différence et répétition (1968), 286 ff.

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päischem und nichteuropäischen Recht wird das europäische zum Standard, an dem das andere gemessen wird. Hintergrund sind zwei Entwicklungen der europäischen Moderne. Das erste ist die prominente Rolle von Gleichheit und Differenz selbst. Auch die vormoderne Gesellschaft kannte selbstverständlich Differenzen; der mittelalterliche Rechtspluralismus ist nur eines von vielen Beispielen. Aber erst durch die Moderne, verstärkt durch die Aufklärung, wurde dieser Differenz die Gleichheit als Ideal entgegengesetzt.297 Und erst mit dieser Betonung der Gleichheit erhielt auch die Differenz ihre Bedeutung. Überspitzt kann man sagen: in dem Moment, in dem die Gleichheit einen höheren Wert erhält, geschieht das Gleiche mit der Differenz. Man sieht das in der Kolonialgesellschaft, wo Differenzen häufig erst durch Zusammenstoß mit der Kolonialmacht erfolgten: die Starrheit des indischen Kastenwesens, die strikte Separierung von Hutu und Tutsi, selbst die essentielle Unterscheidung der Geschlechter im Islamischen Recht und natürlich die Bildung nationalstaatlicher Grenzen in Afrika lassen sich auch als Ergebnisse modern-westlicher Konstruktion ansehen. Damit ist die zweite wichtige Entwicklung angesprochen: die Abgrenzung von der Vormoderne. Denn die Gesellschaft, die die Gleichheit als Ideal etabliert, definiert damit notwendig eine echte summa differentia von der Gesellschaft, die das nicht tut. Damit ist zum einen die vormoderne europäische Gesellschaft gemeint, zum anderen aber die nichteuropäische, die als modern nur verstanden werden kann, wenn sie sich der europäischen angleicht. Die europäische Moderne hat also eine zeitliche und eine räumliche Komponente: sie grenzt sich ab gegen das, was vorher war, und gegen das, was anderswo noch nicht so weit entwickelt ist, und sie setzt – in dieser angenommenen Andersheit ihre eigene Vorgeschichte mit der Jetztzeit anderer Regionen gleich. Nur so lassen sich bizarre Gleichstellungen erklären wie etwa die Behauptung, die Taliban in Afghanistan lebten im Mittelalter.

2. Pluriversalität und Delinking Damit sind Erkenntnisse dekolonialer Theorie angesprochen. 298 Die dekoloniale Theorie sieht die Kolonialität als die Schattenseite der Moderne, als davon untrennbaren Teil. Sie kritisiert nicht europäische politische und philosophisch-ethische Positionen als solche, betont aber, dass diese Positionen aus einem konkreten historischen und sozioökonomischen Kontext heraus entstanden sind und in dessen Rahmen zu verstehen sind. Was sie daher sehr wohl kriti297 Vgl. Rosanvollon (Fn. 38), 21 ff.; vgl. allgemein Dann (Fn. 41); ders., Gleichheit, in: Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland Bd. 2 (1975), 997–1046; Stuurman, The Invention of Humanity: Equality and Cultural Difference in World History (2017). 298  Mignolo/Walsh, On Decoloniality – Concepts, Analysis, Praxis (2018).

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siert, ist, dass solche Positionen zu universalen gemacht werden und damit auch anderen Gesellschaften vorgeschrieben werden, obwohl deren Kontext ein anderer ist und andere Positionen hervorgebracht hat. Der kantische Universalismus etwa ist nicht so sehr wegen seines Inhalts verdächtig als deswegen, weil er als Universalismus koloniales Potential hat – er definiert sich gegen die Barbarei und legitimiert deren Kolonialisierung. Die Antwort der Theorie auf diese Kritik ist die Dekolonialität. Zwei Elemente sind insbesondere wichtig. Das erste ist die Pluriversalität, das Anerkennen einer Welt vieler Welten, wie es die mexikanischen Zapatisten ausgedrückt haben. 299 Pluriversalität wird also dem Universalismus westlicher Prägung entgegengesetzt: die europäische Moderne wird vielmehr als lediglich eine von vielen Welten eingeordnet. Um eine solche Pluriversalität zu ermöglichen, hält die dekoloniale Theorie zweitens ein delinking für erforderlich, also eine Abkopplung der Gesellschaften des globalen Südens vom Universalismus europäischer Prägung. Teilweise bedeutet das Unabhängigkeit nicht nur von der politischen Herrschaft der Kolonialmacht, sondern auch von der ökonomischen Herrschaft des globalen Kapitalismus und seiner Institutionen wie Weltbank und IMF. Teilweise bedeutet es aber auch einfach die Möglichkeit, Ideen zu entwerfen und zu testen außerhalb des Rahmens des westlichen Universalismus.

3. Eine Skizze möglicher Auswirkungen Auch wenn die dekoloniale Theorie sich bislang nur selten mit dem Recht aus­ einandersetzt, hat sie doch auch hier erhebliches Potential. Gerade für die Dis­ ziplinen der Rechtsvielfalt sollte dekoloniale Theorie anschlussfähig sein. 300 Die Idee der Pluriversalität hat Entsprechungen in der Rechtsvielfalt – insbesondere dann, wenn man Recht nicht nur als Regelung sieht, sondern als nomos, als Welt.301 Jedenfalls Rechtsvergleichung und Internationales Privatrecht erkennen dieser Rechtspluralität grundsätzliche Berechtigung zu. Schwieriger ist Pluriversalität mit Rechtsvereinheitlichung zu vereinbaren. Scheinbar handelt es sich um einen direkten Gegensatz; Rechtsvereinheit­ lichung, so sollte man meinen, muss notwendig Pluriversalität vernichten. Ganz notwendig ist das vielleicht nicht. Formale Rechtsvereinheitlichung 299 Vgl. Schacherreiter, Un mundo donde quepan muchos mundos: A Postcolonial Perspective Inspired by the Zapatistas, Global Jurist 9 Issue 2 Article 10 (2009). 300  Siehe auch die Symposiumsbeiträge in RabelsZ 86 (2022), 166–253; vgl. auch Theurer/ Kaleck (Hrsg.), Dekoloniale Rechtskritik und Rechtspraxis (2020), allerdings methodisch mit weiterem Fokus. 301 Vgl. Cover, Foreword: Nomos and Narrative, Harv. L. Rev. 97 (1983), 4 und in: Minow u.a. (Hrsg.), Narrative, Violence, and the Law: The Essays of Robert Cover (1995), 95 ff.; dt. Übersetzung im Ersch. als Nomos und Narrativ: Studien zur Theorie des Rechts (2022).

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kann unter Umständen auch Freiräume erst schaffen, zum Beispiel in einem dekolonialen System echter gegenseitiger Anerkennung, wobei hier der problematische Begriff der Anerkennung noch näher konkretisiert werden müsste. Gebraucht würde eine Anerkennung, die nicht ihrerseits Abhängigkeit des Anerkannten vom Anerkennenden repliziert.302 Und gebraucht würde eine echte Gegen-Anerkennung, die zwischen globalem Norden und globalem Süden Symmetrie erzeugen könnte.303 Schwieriger als die Pluriversalität ist das delinking – der Schritt, das ausländische Recht wirklich unabhängig vom eigenen zu machen. Für die Rechtsvergleichung ist es noch am ehesten denkbar. Freilich müsste delinking bedeuten, dass das ausländische Recht wirklich aus sich selbst heraus verstanden werden müsste. Das stößt nicht nur auf die bekannten Schwierigkeiten, zwischen Beobachter- und Teilnehmerperspektive zu vermitteln. Vielmehr stellt es fundamentaler den gesamten Prozess der Vergleichung in Frage. Denn die Vergleichung führt, wie gesehen, notwendig dazu, das andere im Verhältnis zum Eigenen zu sehen. Notwendig wäre also etwas wie eine Rechtsvergleichung, die ohne die Beurteilung von Gleichheit und Differenz auskommt und so die Eigenständigkeit des ausländischen Rechts bestehen lassen kann – eine Rechtsvergleichung ohne Vergleichung sozusagen. Wie das genau aussehen könnte, bleibt zu erarbeiten. Für das internationale Privatrecht ist ein solches delinking noch schwieriger. Denn das internationale Privatrecht geht ja notwendig von einer Verschränkung des ausländischen mit dem inländischen Recht aus. Zwar liegt in dem Erfordernis, das ausländische Recht so anzuwenden, wie das im Ausland erfolgt, ein Ansatz zum Erfordernis, das ausländische Recht aus sich selbst heraus zu verstehen. Aber vollständig kann das eben nie ganz gelingen – zum einen, weil eine Verknüpfung mit der lex fori immer über deren IPR und deren Prozessrecht besteht, zum anderen, weil der deutsche Richter eine normativ richtige und nicht bloß deskriptiv richtige Entscheidung treffen muss.304 Wirkliches delinking würde wohl als ersten Schritt erfordern, dass Rechtsstreitigkeiten, die primär Interessen des globalen Südens betreffen, auch dort geführt werden können. Auch hier bleibt freilich noch vieles zu erarbeiten.

302  Povinelli, The cunning of recognition: Indigenous alterities and the making of Au­ stralian multiculturalism (2002); Coulthard, Red skin, white masks: Rejecting the colonial politics of recognition (2014). 303 Vgl. Swartz, Counter-Recognition in Decolonial Struggle, Psychoanalytical Dia­ logues 28 (2018), 520–527; Fraser, Amazonian Struggles for Recognition, Transactions of the Institute of British Geographers 42 (2018), 718–732. 304  Jansen/Michaels, Die Auslegung und Fortbildung ausländischen Rechts, ZZP 116 (2003), 3–55.

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VI. Zusammenfassung in Thesen Zu I. Thema 1. Rechtsvergleichung, Rechtsvereinheitlichung und Internationales Privatrecht lassen sich alle als Disziplinen der Rechtsvielfalt verstehen (I.A.). 2. Alle drei Disziplinen der Rechtsvielfalt haben ein komplexes Verhältnis zu Gleichheit und Differenz. Zur Rechtsvereinheitlichung gehört die Rechtspluralität als notwendiges Gegenstück. Das internationale Privatrecht geht zwar von einer Situation der Pluralität aus, antwortet aber häufig mit Gleichheit (I.A.). 3. Eine sinnvolle Forschungsfrage ist nicht die, ob eine Disziplin der Gleichheit oder der Differenz verhaftet ist, sondern vielmehr, in welcher Form sie das Verhältnis von Gleichheit und Differenz verhandelt. Damit kann sie auch Licht auf die Frage werfen, warum das Thema der Gleichheit und der Differenz so prominent ist und ob Alternativen zu diesem Fokus bestehen (I.A.). 4. Der Begriff der Gleichheit wirft seinerseits Probleme auf. Probleme inhalt­ licher Natur sind wichtig, aber nicht spezifisch für Disziplinen der Rechtsvielfalt (I.B.1.). 5. Spezifisch für die Rechtsvielfalt ist dagegen, dass die Frage der Gleichheit in mehreren Konstellationen auftreten kann: innerhalb einer Rechtsordnung, zwischen Rechtsordnungen, zwischen nationalen und internationalen Fällen. Gleichheit in einer Konstellation geht häufig mit Ungleichheit in einer anderen Konstellation zusammen (I.B.2.). 6. Das Gegensatzpaar Gleichheit-Differenz ist eher unergiebig, weil es einen Gegensatz beschreibt; das Gegensatzpaar Gleichheit-Freiheit dagegen ist unergiebig, weil beide in der europäischen Ideen- und Rechtsgeschichte zusammengehören. Hier wird vorgeschlagen, dem Konzept der Gleichheit dasjenige der Singularität entgegenzusetzen (I.B.3.). 7. Das Spannungsverhältnis zwischen Gleichheit und Singularität entstammt der europäischen Moderne und muss nicht universell gelten. Damit stellen sich die Fragen, ob die Gleichheit innerhalb Europas ihrerseits nicht erkauft wurde durch die Ungleichheit gegenüber dem Rest der Welt und ob man dem Rest der Welt mit dem Paar Gleichheit/Ungleichheit oder auch dem Paar Gleichheit/Singularität gerecht werden kann, ob nicht vielmehr die Verwendung dieser Paare zur Analyse schon droht, kolonial zu sein (I.B.4.).

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Zu II. Gleichheit   8. In der modernen Rechtsvergleichung ist positives Recht ungleich, aber diese Ungleichheit ist kontingent, und die Aufgabe der Rechtsvergleichung ist es dann, die tiefere naturrechtlich begründete dogmatische Gleichheit aufzuzeigen (II.A.1.).   9. Daneben tritt die Idee funktionaler Gleichheit, wonach Probleme und Lösungen in unterschiedlichen Gesellschaften gleich sind und nur die dogmatischen Formulierungen unterschiedlich (II.A.2.). 10. Projekte nationaler Rechtsvereinheitlichung wie etwa der französische Code civil basierten ganz wesentlich auf Ideen sowohl persönlicher als auch territorialer Gleichheit und bringen diese zusammen (II.B.1.). 11. Eine solche Kombination personaler und territorialer Gleichheit findet sich auch in Projekten internationaler Rechtsvergleichung; diese Gleichheit soll zu Frieden führen. 12. Im Internationalen Privatrecht beruht die Form der allseitigen Kollisionsnorm nicht nur auf Praktikabilität und Rechtssicherheit; sie lässt sich vielmehr als Verwirklichung des Gleichheitssatzes verstehen. Es ist dies freilich eine eigenartige Gleichbehandlung, eine „Gleichheit durch Beachtung der Unterschiede“. (II.C.1.). 13. Auslandsrechtsanwendung bedeutet also immer auch Ungleichbehandlung: insoweit auf einen ansonsten gleichen Sachverhalt nicht das Recht des Inlandes angewandt wird, wird er ungleich behandelt. Ungewollte Ungleichheit vermeidet das Institut der Anpassung. 14. Ungeachtet solcher Schwierigkeiten hat es immer wieder Versuche gegeben, das gesamte Internationale Privatrecht als Ausdruck des Gleichheitssatzes zu erkennen. Solche Argumente sind nur zum Teil überzeugend. Die Form der Kollisionsnorm als allseitige lässt sich durchaus aus einem Gleichheitssatz folgern, sofern man ihn als „Gleichheit durch Beachtung der Unterschiede“ versteht. Der Inhalt der Kollisionsnorm dagegen, insbesondere das gewählte Anknüpfungskriterium, lässt sich aus einem solchen formal verstandenen Gleichheitssatz nicht ableiten (II.C.3.a). 15. Wenn also der bloß formale Gleichheitssatz allein nicht als Grundlage des IPR dienen kann, dann doch als Beschränkung. Freilich besteht in einem System allseitiger Kollisionsnormen für eine zusätzliche Anwendung des Gleichheitssatzes eher wenig Bedarf. 16. Wenn der Gleichheitssatz als Beschränkung des Kollisionsrechts auftritt, so ist sein plausibelster Platz in der ordre-public-Klausel. Im ordre-public-Vorbehalt geht es regelmäßig nicht um den Gegensatz zwischen Singularität (der lex fori) und Gleichheit der Rechtsordnungen. Vielmehr stehen unterschiedliche Gleichheitssätze – formale Gleichheit zwischen den Rechtsordnungen als Gleichwertigkeit einerseits, inhaltliche Gleichheit

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zwischen den Rechtsordnungen als Anwendungserfordernis andererseits – im Widerspruch. 17. Eine besondere Rolle spielt der Gleichheitssatz schließlich im Rahmen des (äußeren) Entscheidungseinklangs. Dem damit verbundenen Prinzip allseitiger und universalisierbarer Kollisionsnormen liegt nach einigen Kants kategorischer Imperativ zugrunde, inklusive seiner Verankerung in der Idee der Gleichheit vor dem (hypothetischen) allgemeinen Gesetz, womit in diesem Fall das Kollisionsrecht gemeint ist (II.C.4.). 18. Erreicht wird der äußere Entscheidungseinklang indes nicht nur durch einheitliche Kollisionsnormen, sondern auch insbesondere durch das Institut der Rück- und Weiterverweisung. Ganz klar ist die Verbindung zwischen Entscheidungseinklang und Gleichheit hier indes nicht.

Zu III. Singularität 19. Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gab es verstärkt auch normative Argumente für Singularität und Differenz. Das betrifft nicht nur einzelne Individuen, sondern auch Rechtsordnungen: ebenso wie die Identität von Personen wurde auch die Identität von Gesellschaften und ihren Rechtsordnungen betont. Dabei finden sich zwei Formen solcher Singularität: zum einen eine solche, die aus der Identität herkommt und so gewissermaßen vorgegeben ist, zum anderen eine, die rationale Selbstbestimmung betont und so der Gleichheit entgegensetzt (III.). 20. Die affektive Singularität ist im Grunde ein altes Thema in der Rechtsvergleichung. Insbesondere gegen Bestrebungen zur Überwindung der Gegensätze richten sich im Namen der Kultur Stimmen, manchmal „difference theorists“ genannt, seit den 1980er Jahren. Dahinter steht die Idee, dass Personen von ihrer Kultur und dem darauf beruhenden Recht geprägt sind und in dieser „embeddedness“ Anerkennung verdienen (III.A.1.a). 21. Insgesamt aber birgt der Fokus auf affektive Singularität Probleme. Erstens droht eine Art kultureller Essentialismus. Zweitens droht Zirkularität: Nicht selten werden Rechtsunterschiede aus behaupteten kulturellen Besonderheiten heraus erklärt, die indes unabhängig von ihrem Ausdruck im Recht gar nicht festgestellt werden können. Dazu kommt die Gefahr des Relativismus (III.A.1.b). 22. Es ist also möglich und auch manchmal nützlich, Unterschiede zwischen Privatrechten nicht nur auf kulturelle Eigenheiten, sondern auch auf politische Entscheidungen zurückzuführen, in ihnen also eine rationale und nicht nur eine affektive Singularität zu erblicken. Freilich erfolgt auch hier häufig die gleiche Zirkularität in der Argumentation wie bei der affektiven Singularität (III.A.2.).

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23. Die Betonung affektiver Singularität hat offensichtliche Konsequenzen als Argument gegen die Rechtsvereinheitlichung. Sie begründet, dass die Unterschiede zwischen verschiedenen Rechten nicht kontingent sind, sondern Ausdruck bestehender Singularitäten. Rechtsvereinheitlichung würde dann zur Gleichbehandlung wesentlich ungleicher Sachverhalte führen (III.B.1.a). 24. Man hat solchen Argumenten aus der kulturellen Eigenheit der Nationalstaaten drei Gegenargumente entgegengesetzt. Erstens gehe es jedenfalls beim Privatrecht gar nicht um Kultur; deshalb sei Vereinheitlichung auch kein Kulturproblem. Zweitens müsse Kultur nicht national sein. Drittens könne die Überwindung nationaler Kulturunterschiede auch erstrebenswert sein (III.B.1.b). 25. Während in der Rechtsvergleichung die politische Selbstbestimmung nur eine geringe Rolle spielt, ist sie in der Diskussion zur Rechtsvereinheitlichung sehr präsent. Eine Trennung zwischen (angeblich) politischem Privatrecht, das der politischen Selbstsetzung unterliegt, und einem unpolitischen Privatrecht, das als solches vereinheitlicht werden könnte, weil Unterschiede zwischen den einzelnen Rechtsordnungen zufällig sind, erscheint zweifelhaft (III.B.2.a). 26. Der Wettbewerb der Rechtsordnungen appelliert an die Selbstbestimmung der Individuen in Form der Präferenzenbefriedigung durch Rechtswahl. Das führt freilich auch manchmal zu Konvergenz, nämlich zu einem „race to the top“ oder einem „race to the bottom“ (III.B.2.b). 27. Im Internationalen Privatrecht findet sich die Betonung kultureller Identität und Singularität in der Idee, dass Rechtskollisionen auch Kulturkonflikte sind: der conflict of laws als clash of cultures. Das IPR ist traditionell aufgrund seiner Responsivität offener als andere Disziplinen, Singularität anzuerkennen. 28. Rationale Singularität durch kollektive Selbstbestimmung findet sich im IPR in der governmental interest analysis. Deren Heimwärtsstreben ist in Wirklichkeit Ausdruck demokratischer Selbstbestimmung und Gewaltenteilung. 29. Individuelle rationale Singularität drückt sich vor allem durch Rechtswahlfreiheit aus. Gleichzeitig kann die Rechtswahlfreiheit in nicht akzeptabler Weise der Gleichheit zwischen den Parteien entgegenstehen. Hinzu kommt, dass Rechtswahlfreiheit nur für internationale Sachverhalte besteht, mit der Folge einer Ungleichheit gegenüber nationalen Sachverhalten (III.C.3.).

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Zu IV. Gleichheit in Differenz 30. Alle drei Disziplinen behandeln das Spannungsverhältnis durch Mechanismen, die unter dem Titel der Äquivalenz zusammengefasst werden; man könnte auch, je nach Blickwinkel, von Gleichheit in Differenz oder umgekehrt von Differenz in Gleichheit sprechen (IV.). 31. In der Rechtsvergleichung erscheint Gleichheit in Differenz vor allem in Form der funktionalen Rechtsvergleichung: für sie sind Probleme und Lösungen gleich, die Wege zur Lösung dagegen unterschiedlich, nämlich funktionsäquivalent (IV.A.1.). 32. Mit dieser Gleichheit in Differenz geht einher die Gleich-wertigkeit der Rechtsordnungen. Ohne mehr zu wissen, kann man daher nicht sagen, welche von verschiedenen rechtlichen Lösungen besser ist. Damit ist freilich eine gewisse Endogenität in die funktionale Rechtsvergleichung eingekehrt. So gesehen erreicht die funktionale Rechtsvergleichung im Wesentlichen nur die Bestimmung dessen, was vergleichbar ist (IV.A.2.). 33. In der Erkenntnis der funktionalen Äquivalenz liegt ein starkes Argument gegen die Rechtsvereinheitlichung, denn deren wichtigste Ziele – Gleichbehandlung gleicher Tatbestände über die Grenzen, keine Diskriminierung zwischen Aus- und Inländern – lassen sich ohne formale Rechtsvereinheitlichung erreichen (IV.B.). 34. Gleichheit in Differenz wird erreicht durch Harmonisierung – Prozesse, in denen einzelnen Staaten vorgeschrieben wird, gleiche Ergebnisse zu erreichen, ohne dass sie ihr Recht formal vereinheitlichen müssen. Es reicht aus, wenn die verschiedenen Rechtsordnungen erstens äquivalent sind und zweitens eine Pflicht zur gegenseitigen Anerkennung besteht (IV.B.1.). 35. Von der Harmonisierung unterschieden wird oft die Pflicht zur gegenseitigen Anerkennung. Anerkennungspflichten scheinen zunächst nicht viel mit Gleichheit zu tun zu haben: anerkannt werden muss ja auch und gerade dasjenige, das unterschiedlich ist. Gerade deshalb aber setzt die Anerkennungspflicht normativ eine gewisse Gleichheit voraus: die Pflicht ist nur dann zumutbar, wenn fundamental Gleichheit besteht. Damit ist indes auch hier die Herstellung von Gleichheit in Differenz bis zu einem gewissen Grade zirkulär und begrenzt: möglich ist sie nur dort, wo sie mit einer fundamentalen Gleichheit der betroffenen Rechtsordnungen zusammengeht (IV.B.2.). 36. Gleichheit in Differenz kann sich auch in moderneren Formen der Rechtsvereinheitlichung finden. Ein explizit funktionaler Ansatz lag der Cape Town Convention von 2001 und später dem Genfer Wertpapierübereinkommen von 2009 zugrunde. Dass darin eine erfolgreiche Verbindung läge, ist indes nicht offensichtlich; es handelt sich wohl nur um einen Kompromiss zwischen Vereinheitlichung und Anerkennung (IV.B.3.).

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37. Man kann geradezu davon sprechen, dass das Internationale Privatrecht in seiner Grundkonzeption dazu da ist, Gleichheit in Differenz herzustellen. Denn Internationales Privatrecht geht ja in seiner Grundkonzeption davon aus, dass Rechte unterschiedlich sind und bleiben, und gleichzeitig davon, dass die Gleichheit ein Prinzip nicht nur materieller, sondern auch kollisionsrechtlicher Gerechtigkeit ist und daher durch das Recht bewahrt oder erzeugt werden muss (IV.C.). 38. Gleichheit in Differenz wirkt sich in vielen dogmatischen Figuren des Internationalen Privatrechts aus, darunter beispielsweise die funktionale Qualifikation, die Substitution und die Behandlung des Statutenwechsels (IV.C.1.). 39. Grundlage des klassischen Internationalen Privatrechts ist dabei die Gleichwertigkeit der Rechtsordnungen. Gleichwertigkeit bedeutet allerdings nicht Gleichheit, sondern wiederum, wörtlich, Äquivalenz (IV.C.2.). 40. Nach der „Dritten Schule“ ist das Kollisionsrecht zwar staatlich, unterliegt aber anderen Wertungen als das staatliche Sachrecht. Es verbindet also die Singularität des nationalen (Kollisions-) Rechts als Ausdruck autonomer Setzung mit der (autonom gefundenen) Akzeptanz der grundsätzlichen Gleichwertigkeit ausländischer Rechtsordnungen. Es beruht auf einer normativen Entscheidung und setzt voraus, dass die betroffenen Rechtsordnungen von vornherein ein gewisses Maß an Gleichartigkeit aufweisen (IV.C.3.).

Zu V. Jenseits von Gleichheit und Singularität? 41. Gleichheit in Differenz ist zum Teil einfach eine Folge dessen, dass die Gleichheit schon als Voraussetzung da war. Differenz kann grundsätzlich akzeptiert werden, weil sie sich in Grenzen hält – typischerweise den Grenzen der westlichen Rechtstraditionen. Insofern die Disziplinen der Rechtsvielfalt ein Mindestmaß an Gleichheit bereits voraussetzen, müssen sie notwendig jene Rechtsordnungen ausschließen, die diese Gleichheit nicht aufweisen (V.). 42. In der Rechtsvergleichung wird Gleichheit projiziert, wenn Recht des Globalen Südens in die Kategorien der bekannten europäischen Rechte eingeordnet wird. Wenn man indes europäisches Recht von seiner historischen Kontingenz abstrahiert und daher universalisiert, geht dessen konkreter Kontext verloren (V.A.1.). 43. In einem neoliberalen Modell der Rechtsvereinheitlichung, in dem Rechtsinstitute wie Waren gehandelt werden, werden Staaten zu bloßen Teilnehmern am globalen Rechtsmarkt. Als solche sind sie formal gleich, ungeachtet der beträchtlichen substantiellen Unterschiede und ungeachtet auch der

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erheblichen Marktbeeinträchtigungen auf einem solchen unregulierten und extrem ungleichen Markt. Das Ergebnis ist häufig eine Universalisierung solcher Regelungen, die europäischem und nordamerikanischem Rechtsdenken entsprechen (V.A.2.). 44. Die Universalisierung des Internationalen Privatrechts, das für relativ gleiche Rechtsordnungen entworfen wurde, kann zu Verzerrungen führen. Beispiele sind unerfüllbare Anforderungen an die Ermittlung ausländischen nichteuropäischen Rechts und falsche Erwartungen an die Gleichwertigkeit des ausländischen Gerichts im Recht des forum non conveniens (V.A.3.). 45. In der Rechtsvergleichung wird die Projektion absoluter Differenz unter dem Begriff des legal orientalism diskutiert, einer Form des „Othering“, in der das nichteuropäische Recht als ganz anders exotisiert wird. Hier bedeutet die Projektion der Andersheit, dass das nichteuropäische Recht nicht in seiner Eigenheit wahrgenommen werden kann, sondern Erwartungen und Stereotype des europäischen oder nordamerikanischen Rechtsvergleichers widerspiegeln (V.B.1.). 46. Auch in der Rechtsvergleichung gibt es die projizierte absolute Differenz, die einer Rechtsvergleichung grundsätzlich entgegenstehen soll. Problematisch ist einerseits, wenn man Ländern den Wandel nicht zutraut, der durch Vereinheitlichung möglich sein könnte, andererseits, dass ein Vereinheitlichungsprojekt, das nicht jedenfalls theoretisch für alle Länder offen sein könnte, dem Verdacht unterliegt, exklusiv zu sein und damit nicht wirklich universalistisch (V.B.2.). 47. Auch im Internationalen Privatrecht existiert die Projektion absoluter Differenz – wenn ausländischem Recht die Rechtsqualität abgesprochen wird, aber auch, wenn in extremem Kulturrelativismus auf die Wertung des ausländischen Rechts ganz verzichtet wird (V.B.3.). 48. Tatsächlich ist das Problem von Gleichheit und Differenz dasselbe. Es liegt darin, dass das ausländische Recht in Abhängigkeit vom eigenen definiert wird. Hintergrund sind zwei Entwicklungen der europäischen Moderne: die prominente Rolle von Gleichheit und Differenz selbst und die Abgrenzung von der vormodernen europäischen Gesellschaft und von der nichteuropäischen, die als modern nur verstanden werden kann, wenn sie sich der europäischen angleicht (V.C.1.). 49. Die Antwort dekolonialer Theorie auf diese Kritik ist zum einen Pluriversalität, das Anerkennen einer Welt vieler Welten, zum anderen delinking, also eine Abkopplung der Gesellschaften des globalen Südens vom Universalismus europäischer Prägung (V.C.2.). 50. Die Idee der Pluriversalität hat Entsprechungen in der Rechtsvielfalt. Delinking dürfte für die Rechtsvergleichung bedeuten, dass das ausländische Recht wirklich aus sich selbst heraus verstanden werden müsste. Im IPR

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würde wirkliches delinking wohl als ersten Schritt erfordern, dass Rechtsstreitigkeiten, die primär Interessen des globalen Südens betreffen, auch dort geführt werden können. Auch hier bleibt freilich noch vieles zu erarbeiten. (V.C.3.).

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Autorenverzeichnis Wouter Druwé, Professor an der KU Leuven Martin Gebauer, Professor an der Eberhard Karls Universität Tübingen Birke Häcker, Professor of Comparative Law und Director of the Institute of European and Comparative Law an der University of Oxford Stefan Huber, Professor an der Eberhard Karls Universität Tübingen Dirk Looschelders, Professor an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Ralf Michaels, Direktor am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht in Hamburg, Chair in Global Law an der Queen Mary University London, Professor an der Universität Hamburg