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German Pages 168 Year 1929
Kritik der Soziologie Freiheit und Gleichheit als Ursprungsproblem der Soziologie
Von Siegfried Landshut
Duncker & Humblot reprints
Siegfried
Landshut
Kritik der Soziologie
K r i t i k der Soziologie Freiheit und Gleidiheit als Ursprungsproblem der Soziologie Von
Siegfried Landshut
MÜNCHEN VERLAG
VON
UND
LEIPZIG
DUNCKER
&
1929 HUMBLOT
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t Pierersche Hofbuchdruckerei Stephan Geibel & Co., Altenburg, Thür.
Eduard Heimann i n Verehrung u n d D a n k b a r k e i t zugeeignet
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M i t den vorliegenden Untersuchungen ist nicht der Umkreis aller möglichen Probleme einer soziologischen Forschung abgegrenzt, sondern nur die Wurzel ihrer möglichen Entfaltung aufgedeckt. Dies geschieht im Vollzug einer Auseinandersetzung mit den überkommenen und bestehenden Forschungstendenzen und in einer Klärung der sie eigentlich motivierenden sachlichen Fragezusammenhänge. Der Anregung der Herren Verleger, der Arbeit den Obertitel „Kritik der Soziologie" zu geben, habe ich deshalb, trotz einiger Bedenken, stattgegeben.
Hamburg, September 1929.
S. Landshut
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I. Die Forschungssituation der heutigen Soziologie 1 a) Forschungsgebiet und Frageart bei M a x Weber als erste Handhabe für die eigene Fragestellung 2 b) Abhebung gegen die Forschungsrichtung und Frageart der bekannten soziologischen Theorien 11 c) Besondere Exemplifikation an Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft 22 d) Exkurs über Geschichte und Soziologie 30 D. Die Sicherung des Weberschen Frageansatzes gegen seinen eigenen Abfall 34 a) Max Webers Forschungsthema 35 b) Die Zusammenhanglosigkeit von Wirklichkeit und Idealtypus 38 c) Die Irrationalität der Wirklichkeit und ihr an den rationalen Zusammenhang gebundenes Verständnis 44 d) Die Herkunft der Unterscheidung rational - irrational aus dem zentralen Forschungsthema: Der moderne Kapitalismus 54 e) Die Identität im Thema mit Marx 61 IE. Der thematische Sachzusammenhang und seine methodische Erfassung bei M a r x und Weber 64 a) Marx' Tendenz auf Veränderung der Welt 64 b) Die entsprechende Struktur der Wirklichkeit nach „ W i r kungsfaktoren" im Hinblick auf die „Emanzipation des Menschen" 68 c) Die Übernahme der Struktur durch Weber ohne die'Marxsche Fragestellung 77 IV. Die „Gesellschaft" als T i t e l des entdeckten Problemzusammenhangs von Freiheit, Gleichheit und Persönlichkeit bei Lorenz Stein 82 a) Drei konstitutive Forschungscharaktere und ein Exkurs über Wissenssoziologie (Karl Mannheim) 84 b) Die „Gesetze" der sozialen Bewegung aus dem Gegensatz von Staat und Gesellschaft 96 c) Der fundierende Anspruch auf Freiheit und Gleichheit . . 108
Seite
V. Die Idee von Freiheit und Gleichheit als Voraussetzung einer möglichen sozialen Problematik a) Der Begriff der „Persönlichkeit" und seine Bestimmung durch Freiheit und Gleichheit bei Stein b) Die Tradition von Freiheit und Gleichheit im Zusammenhang mit der Bestimmung des Menschen c) Freiheit und Gleichheit in der naturrechtlichen Auslegung der Gesellschaft d) Die „natürliche" Freiheit u n d Gleichheit als positive und negative Orientierung für die Bestimmung der faktischen Unfreiheit und Ungleichheit e) Die Entwicklung des Konfliktes in der Bestimmung der Salus publica f) Die theoretische Gewaltlösung Rousseaus • • •
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Schluß: Das Aufbrechen des Widerspruchs in der „Gesellschaft als der wahre Quell aller Freiheit und Unfreiheit" und die drei konstitutiven Charaktere der Wissenschaft von der Gesellschaft . . . 150 Personen- und Sachregister I56
I.
D i e Forschungssituation der h e u t i g e n Soziologie. Die Ausbildung einer wissenschaftlichen Forschung ist wesentlich von zwei Faktoren beherrscht: E i n m a l lebt der Forscher selbst i n seiner Zeit. Ihre bestimmte Bewegung, die Fülle der gewordenen Tatsachen begrenzen den U m kreis, aus dem heraus dem Forscher die Möglichkeit einer bestimmten Frage u n d eines Weiterfragens erwächst. D i e Zeit selbst charakterisiert sich durch die sie beherrschenden Gegensätzlichkeiten, die aufdringliche Konkretion der Schwierigkeiten, die der lebendige I m p u l s z u m suchenden Bemühen sind. A u f solch ursprünglicher Forschungsbasis bildet sich n u n zweitens der Zusammenhang der Fragen aus, die Probleme werden artikuliert, Thesen u n d Antithesen f o r m u l i e r t , die Selbständigkeit einer Forschung konstituiert. Diese Selbständigkeit eines ausgebildeten Problemzusammenhangs, einer fertigen Wissenschaft, die die folgende Generation j e weils schon vorhanden vorfindet, sei es i n den niedergelegten W e r k e n früherer Forscher, sei es gar i n Dogmengeschichten über diese Werke, bietet die ständige Möglichkeit einer unbesehenen Übernahme der formulierten, innerhalb der Wissenschaft diskutierten Problematik u n d damit die Gefahr des Verlustes des Zusammenhangs m i t der u r s p r ü n g lichen Ausgangssituation, aus der die originäre Frageabsicht u n d Fragestellung erwachsen war. Die notwendige AuseinLandshut, Kritik der Soziologie.
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2 andersetzung aus der i m m e r neuen Lebenssituation m i t dem fertig überlieferten Frageansatz w i r d versäumt, u n d während die Wissenschaft von der lebendigen Bewegung des Lebens überholte Problematiken fortspinnt u n d die Sackgassen verfehlter Fragestellungen ständig verlängert, w i r d der Rückanschluß aus der Wissenschaft heraus an die Notwendigkeiten des mitgelebten Lebens stets schwieriger. Aus dieser mehrfachen Schwierigkeit u n d V e r w i r r u n g heraus wollen w i r versuchen, durch rückwärts aufklärende Untersuchung der überlieferten Frageansätze der Soziologie u n d durch die B e m ü h u n g u m das Verständnis der u r s p r ü n g l i c h den ganzen Frageansatz motivierenden Problematik der W i r k l i c h k e i t eine Orientierung zu gewinnen, die zu neuer Fragestellung behilflich sein soll.
a) Forschungsgebiet und Frageart bei M a x Weber als erste Handhabe für die eigene Fragestellung. Als i m Jahre 190/4. das A r c h i v f ü r Sozialwissenschaft u n d Sozialpolitik i n die Hände einer neuen Redaktion überging, empfand Max Weber damals als einer der neuen Herausgeber es als notwendig, nicht nur den Aufgabenkreis der Zeitschrift aufs neue zu umgrenzen, sondern damit zugleich eine grundsätzliche Besinnung über die Ausgangsorientier u n g u n d das Ziel sozialwissenschaftlicher Forschung anzustellen. E i n solches Unternehmen erwies sich gerade i n der damaligen wissenschaftlichen Situation, der verworrenen Ungeklärtheit aller prinzipieller Vorfragen nach Fragestellung, Zugangsweise u n d Thema sozialwissenschaftlicher Arbeit, u n d dementsprechend der Orientierungslosigkeit der sachlichen Arbeiten als dringlich. V o r allem hätten diese Ausführungen über „ D i e Objektivität sozial wissenschaftlicher u n d sozialpolitischer Erkenntnis" gerade f ü r die sich
3 als Soziologie bezeichnende Forschungsrichtung von ausschlaggebender Bedeutung sein müssen, wenn auch nicht i n dem Sinne, daß sie mangels anderer eigener D i r e k t i v e n die Gesichtspunkte Webers automatisch übernahm, so doch dadurch, daß sie durch diese erstmalige Orientierung i n einem Chaos die Möglichkeit eigener Selbstartikulierung zugänglicher gemacht erhielt. Denn, daß diese Ausführungen die Soziologie i m besonderen angehen, ist nicht n u r aus M a x Webers eigener Lebensarbeit ersichtlich, sondern w i r d i n diesem Aufsatz auch aus dem inhaltlich Ausgeführten deutlich, wenn auch der Name Soziologie selbst sich nicht darin findet. W e n n auch der ganze Aufsatz sehr stark unter dem Gesichtspunkt des S o z i a l - ö k o n o m i s c h e n steht, so zielen die Erörterungen doch n i c h t darauf ab, u n d nehmen vor allem auch nicht i h r e n Ausgang, speziell die Arbeitsintention u n d Methode der ökonomischen Theorie zu klären, so, daß das Ökonomische als solches seinem speziellen Sachcharakter nach maßgebend wäre, sondern vielmehr ist das Ökonomische f ü r Weber n u r insofern relevant, als es T e i l hat an den s o z i a l e n Verhältnissen. Es sind Fragen des „menschlichen Gemeinschaftslebens" 1 , f ü r deren I n a n g r i f f n a h m e u n d Zugangsmöglichkeit die K l ä r u n g zu gewinnen ist u n d zwar insofern, als jene „Vorgänge des menschlichen Lebens unter dem Gesichtspunkt ihrer K u l t u r b e d e u t u n g " z u m Thema werden können. „ U n z w e i f e l h a f t bedeutet die Heraushebung der s o z i a l - ö k o n o m i s c h e n Seite des K u l t u r lebens eine sehr fühlbare Begrenzung unserer Themata." Diese „ E i n s e i t i g k e i t " ist aber nicht etwa durch das Bestehen von Disziplinen bedingt, die durch einen besonderen U m kreis von etwa ein f ü r allemal schon festgelegten P r o blemen determiniert sind — i m Gegenteil: „ w o m i t neuer 1 Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1922, S. i 6 5 .
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4 Methode einem neuen Problem nachgegangen w i r d u n d dadurch Wahrheiten entdeckt werden, welche neue bedeutsame Gesichtspunkte eröffnen, da entsteht eine neue Wissenschaft." Jene Einseitigkeit ist vielmehr durch ganz andere Arbeitsvoraussetzungen bestimmt, u n d diese Arbeitsvoraussetzungen aus dem Ziel sozialwissenschaftlicher Arbeit heraus klar zu legen, ist das Unternehmen des Aufsatzes. Diese Einseitigkeit ist eine solche der konkreten Orientierung u n d gerade f ü r jene Arbeiten u m so bedeutungsvoller, die als Soziologie sich u m Methode, Forschungsabsicht, Thema u n d u m einzelne Begriffe i n einem fortdauernden Streit befinden, der bisher kein anderes Resultat gehabt hat als eine völlige Planlosigkeit i n der Aufstellung von Systemen, Programmen u n d i n der W a h l der Themata f ü r Einzelarbeiten 2 . Angesichts dieser Tatsache ist es notwendig, festzustellen u n d zu erweisen, daß während der fünfundzwanzig Jahre, die seit dem Erscheinen der grundlegenden Arbeit Max Webers verflossen sind, die Soziologie keinerlei positive Auseinandersetzung m i t den dort gewonnenen Klärungen erfahren hat u n d daß die Forschungsintention der heute bekanntesten soziologischen W e r k e stillschweigend i n einer Richtung geht, die Max Weber i n dieser Arbeit ein f ü r allemal als 2
Angesichts der kleinen Auswahl, die die Erinnerungsgabe f ü r Max Weber unter dem T i t e l „Hauptprobleme der Soziologie" unter den heutigen Arbeiten traf, ist die Orientierungslosigkeit der Arbeiten deutlich genug, die Eduard Spranger i n einer Besprechung dieses Sammelwerkes zu der Bemerkung veranlaßte, daß es schlechtweg unmöglich sei, i n den vorliegenden Bänden n u r zwei Autoren zu finden, die unter Soziologie annähernd dasselbe verstünden. „Ja, es ist nicht einmal möglich, die Anfänge gemeinsam zugreifender, wenn auch methodisch noch ungeklärter Arbeit zu finden." Schmollers Jahrbuch N. F. 49, S. 1080. Bezeichnend dafür ist, daß der Herausgeber selbst eine Gelegenheitsarbeit über „Das Wesen der Inflation" anscheinend zu den „Hauptproblemen der Soziologie" rechnet.
5 dem eigentlichen Sinn sozialwissenschaftlicher Erkenntnis unangemessen erwiesen hat. So wollen w i r diese Untersuchung Max Webers als erste Orientierung benutzen, u m von da aus die Gewinnung einer Fragestellung zu versuchen, die so weit i n sich selbst geklärt ist, daß sie die Aussicht eröffnet, ,,die uns umgebende W i r k l i c h k e i t des Lebens, i n welches w i r hineingestellt sind, i n i h r e r E i g e n a r t zu verstehen" 3 . Die Situation, i n der sich die Soziologie als Wissenschaft heute befindet, gibt, wie w i r sehen werden, keinen Anhalt zur Ausbildung einer solchen Fragestellung. Deshalb lassen w i r unsere Untersuchung zunächst von der Frage leiten: W i e k o m m t die heutige Soziologie zu i h r e m Thema u n d welches ist i h r Thema? Der Aufsatz Max Webers über ,,Die Objektivität sozialwissenschaftlicher u n d sozialpolitischer Erkenntnis" gibt uns deshalb die beste Handhabe zur Beantwortung dieser Frage, weil er selbst von der Frage nach dem Ziel sozial wissenschaftlicher Erkenntnis seinen Ausgang n i m m t . Dieses Ziel ist, wie eben schon zitiert, die Erkenntnis der W i r k l i c h k e i t des Lebens, i n welches w i r hineingestellt sind, i n i h r e r E i g e n a r t . U n d zwar ist dies gerade deshalb die E r f ü l l u n g des sozialwissenschaftlichen Interesses, w e i l es auch von da seinen A u s g a n g n i m m t : „Ausgangspunkt des sozialwissenschaftlichen Interesses ist n u n zweifellos die w i r k l i c h e , also individuelle Gestaltung des uns umgebenden sozialen Kulturlebens i n seinem Zusammenhang" (S. 172). Denn eben aus der Undurchsichtigkeit dieser W i r k l i c h k e i t n i m m t das Fragen seinen Ausgang u n d bleibt i n seiner Frageabsicht stets auf sie u n d ihre A u f k l ä r u n g orientiert. Die nähere B e s t i m m u n g dieser W i r k l i c h k e i t n u n , i n die w i r selbst hineingestellt sind, d . h . die w i r als die, die 3
Weber, a. a. 0 . S. 170.
6 w i r i n i h r leben, selbst m i t sind, so weit als diese Bestimm u n g ausschlaggebend ist f ü r die W e i s e ihres Verständnisses, ist n u n die Voraussetzimg f ü r die Gewinnung eines sachlichen Anhalts zur Auseinandersetzung m i t der heutigen Soziologie als einer Forschungsrichtung, die insbesondere auf die Erkenntnis der Zusammenhänge des Miteinanderlebens abzielt. Zunächst gibt W e b e r selbst eine Charakteristik der Ausgangssituation f ü r die Gewinnung des Themas: „ N u n bietet uns das Leben, sobald w i r uns auf die A r t , i n der es uns unmittelbar entgegentritt, zu besinnen suchen, eine schlechthin unendliche Mannigfaltigkeit von nach- u n d nebeneinander auftauchenden u n d vergehenden Vorgängen ,in' uns u n d ,außer' u n s " (S. 171). U m m i c h i n der „ a b soluten Unendlichkeit dieser Mannigfaltigkeit" orientieren zu können, bedarf ich eines Gesichtspunktes oder eines P r i n zips, durch das jeweils n u r ein gewisser T e i l als Gegenstand wissenschaftlicher Erfassung ausgesondert w i r d . D i e Aussonderung dieses Teils bedingt gerade die Notwendigkeit der „ E i n s e i t i g k e i t " wissenschaftlicher Fragestellung. Diese E i n seitigkeit ist aber keine der sachlichen Zusammenhänge der Dinge, sondern der gedanklichen Zusammenhänge der P r o bleme (S. 166): Der sachliche Zusammenhang ist eben ein unendlicher. Jener Gesichtspunkt also, durch den der Forscher seinen Gegenstand aussondert, m u ß v o n „ a u ß e r h a l b " gleichsam an den „Stoff herangebracht" werden. Erst durch diesen Gesichtspunkt w i r d der an sich farblose „ S t o f f " b e d e u t s a m . Diese Gesichtspunkte sind die „ W e r t i d e e n " , die der Forscher m i t b r i n g t , „welche das Stück W i r k l i c h k e i t , welches i n jenen Begriffen gedacht w i r d , f ü r uns b e d e u t s a m m a c h e n " (S. 181). M i t welchen Wertideen der Forscher unter der Fülle der Tatsachen seine Auswahl trifft, ist ganz von i h m selbst abhängig, u n d „ o b es sich u m reines Gedankenspiel oder u m eine wissenschaftlich fruchtbare Be-
7 griffsbildung handelt, kann a p r i o r i niemals entschieden werden" (S. 193). Deshalb ist die Fragestellung des F o r schers restlos subjektiv bedingt, u n d es gibt keinen „ o b j e k t i v e n " , d. h. aus den Sachen selbst stammenden Anhalt f ü r ihre Gewinnung. S o f e r n n u n u n s e r e e i g e n e , diese g a n z e A r b e i t l e i tende F r a g e s t e l l u n g gerade d a r i n besteht, die die S o z i o l o g i e als W i s s e n s c h a f t u r s p r ü n g l i c h m o t i v i e rende Fragestellung zu e r m i t t e l n , u n d zwar n i c h t l e d i g l i c h u m i h r e r F e s t s t e l l u n g als T a t s a c h e w i l l e n , sondern i n der A b s i c h t k r i t i s c h e r S i c h e r u n g gegen i h r e V e r f e h l u n g i n der h e u t i g e n F o r s c h u n g s r i c h t u n g , ergibt sich zunächst die Aufgabe der Sicherung unserer eigenen Fragestellung selbst gegen den Ansatz Webers. Denn unsere Nachforschung nach einer Fragestellung v o l l zieht sich gerade unter der Voraussetzung, daß eine solche Fragestellung n i c h t durchaus w i l l k ü r l i c h ist, sondern daß sie m i t dem Gegenstand der wissenschaftlichen Arbeit i n einem ganz bestimmten Zusammenhang steht, u n d zwar nicht i n einem Zusammenhang, den der Forscher selbst sich ausdenkt, sondern der i n irgend einer Weise doch i n den Sachen selbst gründet. U n d i n der Tat ist die W i r k l i c h k e i t des Lebens, „sobald w i r uns a u f die A r t , i n der es uns u n mittelbar entgegentritt, zu besinnen suchen", e i n m a l keineswegs ein so w ä h l - u n d ordnungsloses Neben- u n d Nacheinander einer unendlichen Mannigfaltigkeit u n d dann — oder gerade deshalb — t r i t t es uns nie entgegen, sondern w i r befinden uns schon i m m e r m i t t e n i n i h m d r i n , u n d dies u m so mehr, als w i r selbst j a m i t diese W i r k l i c h k e i t u n d dieses Leben sind. Denn i m m e r schon, wo i c h gehe u n d stehe, ist die W i r k l i c h k e i t „ i n " m i r u n d „ a u ß e r " m i r i n irgendeiner Weise schon plaziert, i n irgendeiner konkreten Bedeutung der Brauchbarkeit, Unzuträglichkeit, der A n n e h m l i c h k e i t
8 u n d Unbeliebtheit m i r zugänglich. Dazu bedarf es keines fremden u n d herangebrachten Wertgesichtspunktes an einen „ a n sich" bedeutungs- u n d farblosen „ S t o f f " , sondern dieser Stoff ist die W i r k l i c h k e i t selbst i n a l l ihrer konkreten Bedeutsamkeit, die sie gerade deshalb hat, w e i l sie „ W i r k lichkeit ist. O b w o h l n u n Weber von einem solchen phänomenal verfehlten Sachverhalt ausgeht, bleibt der eigentliche doch nicht etwa ungesehen. I m Gegenteil, w i r werden zeigen, daß alle Aussagen, die i n dem Aufsatz über das Arbeitsverfahren der Sozialwissenschaften getroffen werden, gerade erst dadurch sich rechtfertigen, daß Weber i m Grunde von nichts anderem als der eben charakterisierten Ausgangssituation geleitet war. Es w i r d dann an späterer Stelle deutlich werden, i n w i e f e r n unsere eigene Fragestellung ganz u n d gar diesen Ausgang von der konkreten Bedeutsamkeit der W i r k l i c h k e i t zur Voraussetzung h a t 4 . W a s ist es aber, was n u n das Forschen veranlaßt, was das Fragen i n Bewegung setzt? Gerade die Tatsache, daß die W i r k l i c h k e i t ein „ V e r h a l t " ist, daß sie sich so u n d so verhält, daß sie zwar ein universeller, aber nichtsdestoweniger i n d i v i d u e l l gestalteter Zusammenhang (S. 172) ist, m . a. W . , daß die T a t s a c h e des Verflochtenseins i n Bezüge u n d Verhalte schon vor allem Anfang vorgegeben ist, daß aber gerade die Ungewißheit über das W i e der Z u sammenhänge u n d gerade deshalb, w e i l sie bedeutsam s i n d u n d es schon i m m e r i n bestimmten Richtungen waren, daß 4
Daß Weber die Scheu vor der Statuierung des „Geltens 4 von Wertschätzungen rein aus der Feststellung ihres tatsächlichen Vorhandenseins zu dieser Trennung von „ W e r t " und „ W i r k l i c h k e i t " veranlaßt hat, die der Sauberkeit seines wissenschaftlichen Gewissens Bedürfnis war, soll hier n u r deshalb erwähnt werden, u m uns von vornherein gegen den Verdacht zu sichern, w i r wollten diese Reinlichkeit durch eine neue Unsauberkeit ersetzen.
9 diese Tatsache m i c h selbst i n einer Problematik i n dieser W i r k l i c h k e i t vorfinden läßt, das gerade ist es, was meine Forschung veranlaßt. U n d diese P r o b l e m a t i k i n i h r e r k o n k r e t e n A u s g e s t a l t u n g selbst erst e i n m a l zu e n t decken, ist eben eine A u f g a b e besonderer A r t . W e i l etwas fraglich ist — nämlich die W i r k l i c h k e i t des Miteinanderlebens — deshalb w i r d gefragt, u n d es kann aus i h r selbst heraus gefragt werden, weil sie artikulationsfähig ist nach ihrer spezifischen Motivations- u n d Bedeutungsstruktur, deren Klarlegung das „Verstehen" dieser W i r k l i c h k e i t ausmacht. Nichts anderes jneint n u n Weber, wenn er davon spricht, daß die Kausalfrage i n der sozialwissenschaftlichen F o r schung nie eine Frage nach Gesetzen, sondern i m m e r n u r — i h r e m eigenen Sinne nach — nach konkreten Z u sammenhängen sein kann (S. 178). Ist die W i r k l i c h k e i t ein Motivations- u n d Bedeutungszusammenhang, so ist die W i r k l i c h k e i t des Miteinanderlebens dies nicht weniger. Ist dieser Zusammenhang ein jeweils aktueller des Lebens m i t einander so, daß jede Situation n u r durch die Motivationsu n d Bedeutungszusammenhänge der vorhergehenden, die die alleinigen Möglichkeiten f ü r deren Entstehung i n sich enthielt, verständlich w i r d , so ist damit nichts anderes gesagt, als daß das Sachgebiet, m i t dem die Soziologie es zu t u n hat, seinem ganzen U m f a n g nach ein geschichtliches ist. So ist die Erkenntnis dieser geschichtlichen W i r k l i c h k e i t stets ein Verständnis von Zusammenhängen u n d damit etwas grundsätzlich anderes — u n d durch keinerlei K o m p r o m i ß aufzuheben — als alle Feststellung genereller Regeln des Geschehens u n d B i l d u n g allgemeiner Begriffe. D e n n gerade, was eine Tatsache zu d i e s e r macht u n d einen speziellen Zusammenhang der W i r k l i c h k e i t i n seiner E i g e n a r t ausmacht, kann j a i n keinem allgemeinen Begriff u n d i n keiner
10 generellen Regel nicht n u r n i c h t enthalten sein, sondern w i r d auch durch keine Operation aus i h n e n abzuleiten sein 5 . Der Beweisführung Webers (S. 1 7 1 — 1 7 7 ) ist hier nichts h i n zuzufügen: „Gesetzt den Fall, es gelänge einmal, alle j e mals beobachteten u n d weiterhin auch alle i n irgendeiner Z u k u n f t denkbaren ursächlichen V e r k n ü p f u n g e n von V o r gängen des menschlichen Zusammenlebens auf irgendwelche einfache letzte ,Faktoren' h i n zu analysieren, u n d dann i n einer ungeheuren Kasuistik von Begriffen u n d streng gesetzlich geltenden Regeln erschöpfend zu erfassen — was w ü r d e das Resultat f ü r die Erkenntnis der g e s c h i c h t l i c h gegebenen K u l t u r w e l t . . . besagen?" Aus diesen Darlegungen ergibt sich f ü r unsere Aufgabe folgendes: 1. Jede echte Frage hat ihren Ursprung i n einer faktischen Fraglichkeit der W i r k l i c h k e i t u n d jede sozialwissenschaftliche Forschung, die sich i n Problemen bewegt, n i m m t ihren Ausgang von einer faktischen Problematik der W i r k l i c h k e i t . Aus ihrer Erfassung u n d K l ä r u n g ergibt sich das Thema der Forschung. 2. Der Sachcharakter ihres thematischen Gebietes kennzeichnet sich als ein historischer, u n d die Erkenntnis ist dementsprechend ein Verständnis konkreter Zusammenhänge., D a w i r es uns n u n zur Aufgabe gemacht haben, n a c h d e r d e r E n t s t e h u n g d e r S o z i o logie zugrunde liegenden geschichtlichen Problemat i k z u f r a g e n , so wiederholen w i r jetzt die schon oben gestellte Frage u n d untersuchen a u f G r u n d der m i t Max Weber getroffenen V o r k l ä r u n g das Thema der heute als Soziologie sich anzeigenden Forschungsrichtungen i m H i n blick a u f die gewonnenen Voraussetzungen. 5
Über die B i l d u n g des Idealtypus später.
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b) Abhebung gegen die Forsdiungsriditung und Frageart der bekannten soziologischen Theorien. B e i der Unerschöpflichkeit u n d inneren Zusammenhanglosigkeit der i n den soziologischen u n d sozialwissenschaftlichen Zeitschriften, i n Erinnerungsgaben u n d selbständigen Publikationen erschienenen Einzelarbeiten, die die disparatesten Themen behandeln von „ P r o b l e m e n des K u l t u s " , völkerpsychologischen Arbeiten bis zur „Soziologie des Geheimnisses" usw., sind w i r genötigt, uns an die größeren Gesamtdarstellungen zu halten, die teils auf G r u n d des Namens der Verfasser, teils auf G r u n d ihres sachlichen Inhalts der heutigen soziologischen Forschung i h r e n eigentlichen Charakter gegeben haben. Dazu gehören vor allem Paul Barth, Philosophie der Geschichte als Soziologie; Oppenheimer, System der Soziologie; Georg Simmel, Soziologie; Othmar Spann, Gesellschaftslehre; Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft u n d Gesellschaft u n d A l f r e d Vierkandt, Gesellschaftslehre. Dabei k o m m e n die speziellen Differenzen z w i schen diesen einzelnen Vertretern der Wissenschaft f ü r u n sere Fragestellung u m so weniger i n Betracht als es sich meist u m solche terminologischer A r t handelt, wie sich zeigen w i r d 6 . Den von Max Weber einmal festgestellten Forschungsansatz verfehlen n u n alle angeführten Arbeiten i n beiden gekennzeichneten Richtungen. Denn selbst jene U n t e r 6
Überhaupt spielt die Frage der Terminologie i m soziologischen Schriftt u m merkwürdigerweise eine solch führende Rolle wie i n keiner anderen Wissenschaft. Das geht soweit, daß es Schriftsteller gibt, deren ganze Arbeit sich darin aufzulösen scheint, die absonderlichsten Wortbildungen zu ersinnen und etwa die öffentliche Meinung zu zerlegen i n : „ d i e offensame Meinung", „die offenliche Meinung", „das Meinsumm", „das Nebenund das Hauptmeinsumm". H . L . Stoltenberg, „ D i e öffentliche Meinung", Schmolles Jahrb. N. F . Bd. 48, S. g63ff.
12 suchungen, die sich noch i n irgendeiner Weise dessen bew u ß t sind, daß i h r Thema ein historisches ist, glauben doch, daß es wissenschaftlich faßbar erst dadurch würde, daß es seiner Geschichtlichkeit entkleidet w i r d , d. h. dadurch, wie Paul B a r t h 7 es als selbstverständlich ansieht, daß die geschichtlich-gesellschaftliche W i r k l i c h k e i t so angesehen w i r d wie die Natur, d. h. aber d i e Natur, die Gegenstand der exakten Naturwissenschaft ist, d. h. n u r hinsichtlich ihrer Meßbarkeit i n Betracht steht. Dementsprechend soll auch das, was an i h r w i c h t i g ist, das sein, was sich quantitativ bestimmen läßt als Maßstab der „ E r h a l t u n g " , der „reicheren E n f a l t u n g " oder der „ Z e r s t ö r u n g " des Lebens einer Gesellschaft 8 . Dazu dient die Herausstellung einer möglichst großen Anzahl von „Gesetzen" der Entwicklung, d. h. genereller Regeln des Geschehens, die das Gemeinsame u n d Gleichförmige hervorheben (S. 78), während alles andere als „ z u f ä l l i g " zurücktritt. W i e von hier aus ein Verständnis der konkreten W i r k l i c h k e i t möglich sein soll, bleibt u m so dunkler, als dazu, u m m i t einem Beispiel Barths zu sprechen, nicht die Konstatierung jener allgemeinen Entw i c k l u n g zu größerer Freiheit (S. 8 6 f . ) dienen kann (die an sich so zweifelhaft ist, daß sich etwa auch das Umgekehrte m i t analoger Argumentation beweisen l ä ß t ) , sondern gerade der spezifische Bedeutungszusammenhang, i n dem Freiheit als das, als was sie jeweils gemeint w i r d , i n ganz verschiedener Weise w i r k s a m ist. Was aber als Freiheit j e weils angesprochen u n d i n welchem Motivationszusammenhäng sie w i r k s a m ist oder gefordert w i r d , das gerade kann m i r durch keine Regel von Gleichförmigkeiten verständlich 7
Paul Barth, Philosophie der Geschichte als Soziologie, 2. Aufl., Leipzig 1915. 8 „ D a m i t diese Wichtigkeit so objektiv als, möglich bestimmt werde, kann sie n u r rein q u a n t i t a t i v bemessen werden." A . a. 0 . S. 77.
13 werden. Diese Geschichte als Soziologie ist n u r möglich dadurch, daß zunächst alles Geschichtliche, das heißt alle i n d i viduellen Wirkungszusammenhänge eliminiert werden, u n d das, was ü b r i g bleibt, zum Gegenstand einer Wissenschaft gemacht w i r d . U n d diese Verfahrensweise ist ihrerseits n u r dadurch möglich, daß die Forschungsaufgabe nicht etwa aus der Eigenart der Sachverhalte erwächst, sondern daß umgekehrt von der vorgängig festgestellten Aufgabe der Wissenschaft aus die Sachen präpariert werden, wie sie f ü r eine solche Wissenschaft thematisch werden können: „ W e n n aber die Geschichte Wissenschaft ist oder als Wissenschaft der Geschichtschreibung zugrunde liegt, so m u ß sie auch w i r k l i c h die Forderung erfüllen, daß sie Begriffe u n d Gesetze enthalte" 9 (S. 6 7 ) . I n gleicher Weise verhält es sich m i t F. Oppenheimer, der i n seinem System der Soziologie (Jena 1922) es untern i m m t , die Gesetze „des sozialen Prozesses" aus ,,vorsozialen" u n d vorhistorischen Tatsachen abzuleiten. A l l e i n seine Darlegungen sind weniger eigene selbständige E r wägungen als vielmehr eine Zusammensetzung aus u n zähligen Zitaten. A u c h i h m k o m m t es aber darauf an, soziale Gesetze von quantitativer Bestimmtheit zu gewinnen (S. 190), obwohl er erklärt, daß es i h m a u f die E r k l ä r u n g der W i r k l i c h k e i t a n k o m m t , die dann erfolgt sei, wenn sie a u f i m m e r allgemeinere Gesetze zurückgeführt sei (S. i 8 4 ) . V o r aller Untersuchung der spezifischen Eigenart des Gegenstandsgebietes geht die ganze Untersuchung von der stillschweigenden Voraussetzung eines sich aus phantastischen 9 Besonders merkwürdig ist bei den ganzen Ausführungen Barths, daß er bei allen Besprechungen über das „Objektive" i n der Geschichtsforschung die Arbeit Max Webers vollständig übergeht, obwohl er i h n i n seinen anderen Arbeiten, die zur selben Zeit und sogar am selben O r t erschienen sind (Protestantismus), mehrfach zitiert.
14 Urzeiten her nach b e s t i m m t e n / i n der „ L o g i k der D i n g e " liegenden Gesetzen sich entwickelnden Prozesses d e r menschlichen Gesellschaft aus, der m i t dem Menschen selbst n u r insofern etwas zu t u n hat, als dieser dabei der leidende T e i l ist — oder vielmehr der Teil, der den V o r t e i l davon hat. D e n n diese E n t w i c k l u n g ist nach Oppenheimer ein F o r t schritt, der f ü r i h n zu den nicht mehr diskutabeln Selbstverständlichkeiten des „historischen Prozesses" zu gehören scheint. Das besonders Eigentümliche aber seines Ansatzes ist, daß dieser ganze Entwicklungsprozeß aus gewissen konstanten vorsozialen u n d vorhistorischen Anlagen des Menschen abgeleitet w i r d so, daß auch die „tierischen Gesellschaften" m i t einbezogen werden, „ u m die Anfänge der menschlichen besser zu verstehen" (S. 69). Dieses Verfahren besagt nichts anderes als daß, u m die W i r k l i c h k e i t recht zu verstehen — die als solche i m m e r geschichtlich ist — , sie zunächst weggestrichen w i r d , u m sie dann später aus den Elementen der vorsozialen Triebe, letztlich Abstoßung u n d Anziehung, durch eine günstige Mischung zusammenzusetzen, (S. 2 I 0 f f . ) 1 0 Machen es sich diese Vertreter der Soziologie zur A u f gabe, die veränderlichen Verhältnisse der menschlichen Gesellschaft aus einer Reihe von vornherein festgestellter allgemein gültiger Kausalketten zu deduzieren, so k o m m t f ü r 10
So k o m m t es dazu, daß zwar der homo sapiens nicht Gegenstand der Sozialwissenschaften, sondern der Naturwissenschaft ist (S. 2/16), daß aber die Soziologie doch durch eine Individualpsychologie f u n d i e r t wird, nachdem vorher am Beispiel der Amöbe bewiesen worden war, daß das I n d i v i d u u m „eigentlich" eine Abstraktion sei (S. 83ff.). Z u m Unglück zitiert dann Oppenheimer noch zu seiner Unterstützung Dilthey, ohne zu bemerken, daß er seine eigene Widerlegung zitiert, wenn es da heißt: „ D e r Mensch als eine der Geschichte und Gesellschaft voraufgehende Tatsache ist eine F i k t i o n der genetischen Erklärung" (S. 90).
15 eine andere Forschungsrichtung die W i r k l i c h k e i t als Geschichte u n d Veränderung überhaupt nicht als Thema i n Betracht. D i e „ F o r m e n der Vergesellschaftung", die f ü r S i m m e l 1 1 ) das Thema der Soziologie sind u n d die er unter Absehung von i h r e m jeweiligen „ I n h a l t " herausstellt, sind etwa: Unterordnung, Überordnung, Konkurrenz, Parteibildung, Vertretung, Gleichordnung. W e n n diese U n t e r suchungen nie sich dazu versteigen, irgendwelche errechenbaren Regeln oder Begriffe nach dem Muster genus p r o x i m u m et differentia specifica aufzustellen oder nach „ h i n t e r " den Tatsachen befindlichen Grundkräften zu fragen, so deshalb, w e i l die außerordentliche Anschauungskraft Simmeis sich doch stets an die menschliche W i r k l i c h k e i t hält. Was aber dieses B u c h enthält, sind eine Reihe von Exkursen über anregende u n d interessante Tatsachen des menschlichen Lebens, die beliebigen Anregungen ihre Entstehung verdanken, nicht aber der Ansatz zu einer systematischen soziologischen Forschung. Seine von allem „ I n h a l t " entleerten Formen der Vergesellschaftung sagen deshalb über die f a k tische W i r k l i c h k e i t gar nichts aus, bei der es eben stets darauf ankommt, wie, aus welchen Gründen u n d welchen Menschen sich gerade diese Partei bildet u n d was ihre Forderungen u n d die dadurch angezogenen Menschen f ü r die W i r k l i c h k e i t des Miteinanderlebens bedeuten. D a aber über a l l die von Simmel gewählten Themen sich n u r aus der W i r k l i c h k e i t heraus etwas aussagen läßt, so w i r d sie z u m B e i s p i e l degradiert. Dabei „ k o m m t es n u r darauf an, daß diese Beispiele m ö g l i c h , aber weniger darauf, daß sie w i r k l i c h sind" (S. 48, A n m . ) . Denn die geschichtliche W i r k l i c h k e i t ist bei dieser Aufgabe n u r „ d e r an sich i r r e levante Gegenstand einer Analyse" (ebenda). 11
Geog Simmel, Soziologie, Leipzig 1908.
6 Aus welcher ursprünglichen Frageabsicht heraus die W i r k l i c h k e i t z u m irrelevanten Gegenstand einer Analyse werden kann, das ist auch die Frage, die an die übrigen Vertreter der Wissenschaft zu stellen ist. Das kann sie jedenfalls n u r , sofern nicht unmittelbar aus i h r selbst u n d ihrer eigenen Problematik heraus g e f r a g t w i r d , sondern sie von außen her b e t r a c h t e t u n d z u m Anlaß irgendwelcher i h r selbst ganz fremder Fragestellungen genommen w i r d . Aus solcher, dem Sachgebiet von außen her begegnender Stell u n g heraus kann es allein zu solch undifferenzierter Frage k o m m e n wie etwa nach dem „ W e s e n " d e r Gesellschaft 1 2 . Eine solche Frage setzt durch ihre Stellung schon stillschweigend voraus, daß Gesellschaft so etwas sei wie ein unveränderliches D i n g m i t konstanten Merkmalen. Deshalb w i r d auch eine Definition der Gesellschaft gegeben nach dem Muster des genus p r o x i m u m et differentia specifica: „ E i n e Gesellschaft ist eine Gruppe von Menschen, sofern sie der Träger von innerlich gegründeten Wechselwirkungen zwischen ihren einzelnen Mitgliedern ist (S. 2 8 ) . " Aber nicht n u r ist das spezifische Miteinander i n keiner Weise gekennzeichnet, wenn i c h es unter ein allgemeineres Genus subsummiere, noch besagt i n diesem Falle die spezielle Differenz dieses Genus mehr, als das allgemeine Genus selbst schon besagt. D e n n eine Gruppe von Menschen ohne irgendwelche Wechselwirkungen wäre keine Gruppe von Menschen mehr, sondern höchstens ein Haufe toter Körper, u n d unter äußerlichen Wechselwirkungen wäre bei M e n s c h e n gar nichts zu verstehen. Aber nicht n u r das, sondern menschliches Miteinander ist seiner ganzen Seins weise nach so, daß die Begriffe, , die es selbst i n der Aktualität des Lebens miteinander ausbildet, i h r e m ganzen Bedeutungs12
A l f r e d Vierkandt, Gesellschaftslehre, Stuttgart
1923, S. 270.
17 Zusammenhang nach eben n u r m i t diesem Leben verständlich sind. Begriffe wie Gesellschaft, Klasse, Stand usw. sind n u r dann i n zeit- u n d raumentbundener Bedeutung zu verwenden, wenn ihnen alles das entzogen w i r d , was sie i m w i r k l i c h e n Leben, das heißt i n der Geschichte bedeutsam gemacht h a t 1 3 . D a n n w i r d die W i r k l i c h k e i t eben z u m „irrelevanten Gegenstand einer Analyse", irrelevant insofern, als sie eben f ü r die Frageabsicht der Analyse als W i r k l i c h k e i t gar nicht i n Betracht k o m m t . Diese F l u c h t vor der W i r k l i c h k e i t zu einem „ h i n t e r " i h r stehenden Kräftespiel der Wechselwirkungen (S. 17) macht dann eben jene Lebensferne dieser Forschung aus, die Vierkandt selbst (S. 3) feststellt. Daß aber jene „ h i n t e r " der W i r k l i c h k e i t aufzusuchenden Aprioritäten gar eine Entdeckung der Phänomenologie seien, ist ein Mißverständnis des eigentlichen Sinnes der Phänomenologie, die eben über nichts anderes aussagen soll als über das, was sich aus den Sachen selbst unmittelbar entnehmen läßt, das heißt „ d e n strengen Ausschluß aller Aussagen, die nicht phänomenologisch (das heißt i n der Anschauung der „Sachen selbst") v o l l u n d ganz realisiert werden k ö n n e n " 1 4 . Typen aufzustellen, „ d i e aus dem Wesen der Dinge f o l g e n " ( ! ) , ist gänzlich unphäno13
So ist der V o r w u r f des Dilettantismus, den Vierkandt gegen M . Weber erheben zu können glaubt (S. 7), weil seine Begriffe von einem historischen Stoff „von außen" genommen und zu systematischen Begriffen verwandt worden seien, u m so erstaunlicher, als V . selbst (S. 2 45 u. 273) einen n u r aus der Geschichte verständlichen Begriff dazu benutzt, u m „echtes" und „unechtes" Klassenwesen zu unterscheiden, wobei das „unechte" gerade das ist, das allein i n der W i r k l i c h k e i t f ü r die Bedeutung des Begriffes Klasse maßgebend war. Daß bei diesem V o r w u r f noch ein völliges Mißverständnis des Weberschen Idealtypus vorliegt, dem V . stillschweigend dieselben Absichten unterstellt, wie seinen eigenen „Wesensbegriffen", w i r d später deutlich werden. 14
Ed. Husserl, Logische Untersuchungen, Halle 1913, I I . 1, S. 19.
Landshut, Kritik der Soziologie.
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18 menologisch (S. I I I ) , phänomenologisch dagegen, das Wesen selbst zu bestimmen, nicht unter der stillschweigenden V o r aussetzung, daß es so etwas wie ein D i n g sei, sondern so, daß zunächst aus dem Sachverhalt selbst ermittelt w i r d , was i h n wesentlich als solchen ausmacht. Diese Vorausnahme jedoch, als handle es sich bei gewissen Phänomenen der gesellschaftlich-geschichtlichen W i r k l i c h k e i t u m „ D i n g e " , f ü h r t dann zu der Frage, woraus sie „zusammengesetzt" sind, das heißt es f ü h r t dazu, daß sich die Untersuchung von vornherein von dem Schema T e i l u n d Ganzes leiten läßt. Das g i l t sowohl f ü r Vierkandt als auch f ü r S p a n n 1 5 . V o n dem aristotelischen, ontologisch gemeinten Satz aus, daß das Ganze notwendig f r ü h e r sei als der T e i l (S. k ^ ) 1 6 , k o m m t es dann dazu, daß aus dem Ganzen auch der T e i l erklärt werden müsse, „ d a ß das Ganze alle Einzelheiten kausal b e s t i m m t " 1 7 . V o n diesem Gesichtspunkt aus ist dann nicht mehr der Mensch i m w i r k l i c h e n Miteinanderleben m i t seinen Erwartungen, Wünschen u n d Bestrebungen thema15
Othmar Spann, Gesellschaftslehre 1923, Leipzig. Das Aristotelische Zitat aus der Politik 12 53 a 20ff. läßt sich i n der von Spann geführten Argumentation n u r unter Verkennung des ganzen Zusammenhangs bei Aristoteles selbst verwenden, t o yap 0X0 v 7rpOT£pov avayxoaov elvou t o u (ispoix; besagt an der angeführten Stelle dasselbe wie kurz vorher avöpcorax; (piaet, ttoXitbcov ( i 2 5 3 a 2 ) : nur i m Miteinanderleben m i t anderen Menschen ist der Mensch ein Mensch, das heißt zum Menschen gehört cpiiaei, daß er i n der xoivcowa = 7t6Ai£ lebt und zwar deshalb, weil erst i n i h r sein eigentliches Sein (cpiitTK;) zur Vollendung k o m m t (teXsioc; 1262b 32). Deshalb, weil er außerhalb der xoivcovux gar nicht eigentlich ein Mensch, sondern n u r ein Tier oder ein Gott ( i 2 Ö 3 a 2 9 ) sein kann, deshalb ist die 7ToXius dem literarischen Nachlaß von K a r l Marx, Friedrich Engels u n d Ferdinand Lassalle (zitiert L i t . Nachl.), herausgegeben von Franz Mehring, Stuttgart 1902, Bd. I, S. 2 K a r l Marx, K r i t i k der politischen Ökonomie, Stuttgart und B e r l i n 1922, S. L I I I . L a n d s h u t , Kritik der Soziologie.
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66 handelt es sich n u n darum, daß der Mensch selbst „seine wahre W i r k l i c h k e i t sucht u n d suchen m u ß " 3 . A u f der Suche nach dieser „ w a h r e n W i r k l i c h k e i t " entwickelt sich seine Interpretation dieser W i r k l i c h k e i t , u n d ihre Entdeckung soll f ü h r e n zur endgültigen „ E m a n z i p a t i o n des Menschen". Diese Leidenschaft des Dranges zur Entdeckung der „ w a h r e n W i r k l i c h k e i t " des Menschen, der Abbau aller UnWirklichkeit, die völlige Desillusion steht von vornherein unter einer elementaren Voraussetzung, der Voraussetzung nämlich, daß diese Entdeckung nicht n u r eine „platonische" Konstatierung, ein Resultat der reinen Erkenntnis sei, sondern daß sie unmittelbar eine faktische u n d praktische Veränderung des Menschen bedeute, das heißt, daß die Entdeckung dieser wahren W i r k l i c h k e i t nichts anderes sei als die w i r k l i c h e Emanzipation des Menschen selbst. D a r u m genügt die K r i t i k der Religion nicht, u n d zwar i n zweifacher Weise. E i n m a l : „ A b e r der Mensch, das ist kein abstraktes, außer der W e l t hockendes Wesen. Der Mensch, das ist die W e l t des Menschen" u n d diese W e l t des Menschen, i n der er eigentlich als er selbst zu finden ist, seine eigentliche Realität, das ist „Staat, Sozietät". „Dieser Staat, diese Sozietät produzieren die Religion, ein verkehrtes Weltbewußtsein, w e i l sie eine verkehrte W e l t sind." D a m i t ist das Feld gekennzeichnet, i n dem sich die Entdeckung der „ w a h r e n W i r k l i c h k e i t " zu vollziehen hat, u n d deshalb ist der K a m p f gegen die Religion n u r „ m i t t e l b a r der K a m p f gegen jene W e l t , deren geistiges A r o m a die Religion i s t " . Diese „ M i t t e l b a r k e i t " , die aus dem eigenartigen Verhältnis der Religion zu jener eigentlichen W e l t des Menschen resultiert, i m p l i z i e r t eine zweifach abgestufte W i r k l i c h k e i t , eine A b s t u f u n g nach der Realität dieser W i r k l i c h k e i t , die dann später auch charak3 L i t . Nachl. Bd. I , S. 384.
67 terisiert w i r d als „ B e w u ß t s e i n " u n d „ S e i n " . Z w a r gehört das Bewußtsein u n d seine Manifestation i n Religion u n d Wissenschaft m i t zu den „bestehenden Zuständen" (a. a. 0 . S. 390), aber i n der Weise einer minderen W i r k l i c h k e i t als „ i h r e moralische Sanktion, ihre feierliche Ergänzung, i h r allgemeiner Trost- u n d Rechtfertigungsgrund" (a. a. 0 . S. 384)- Jene — wie Marx später sagt — ideologische Rechtfertigung der W i r k l i c h k e i t gehört aber m i t zur ganzen W i r k l i c h k e i t , sie ist eben — als Rechtfertigung — kennzeichnend f ü r diese W i r k l i c h k e i t selbst, sie ist „ d e r Geist geistloser Zustände", sie ist als solche, als Ideologie der Index einer W e l t , die eben einer Rechtfertigung bedarf, die „eine verkehrte W e l t " ist. Ihre Negation also, ihre K r i t i k kann nicht eine immanente sein, nicht eine K r i t i k , die k r i t i siert; soll sie die Emanzipation des Menschen von dieser verkehrten W e l t bewirken, so m u ß sie beides tun, sie m u ß die Theorie als T h e o r i e vernichten, i n d e m sie ihre W e l t vernichtet. Daher der V o r w u r f gegen die Theoretiker der Hegeischen L i n k e n : „ S i e glaubten, die Philosophie v e r w i r k lichen zu können, ohne sie aufzuheben" (a. a. 0 . S. 391). So prätendiert die kritische Analyse der „ W e l t des Menschen" die Veränderung dieser W e l t selbst. Deshalb „ v e r l ä u f t sich die K r i t i k der spekulativen Rechtsphilosophie nicht i n sich selbst, sondern i n Aufgaben, f ü r deren Lösung es n u r ein Mittel gibt: die P r a x i s " ( i b i d . ) . A u f diese Veränderung der W i r k l i c h k e i t selbst ist von vornherein Marx' ganze Arbeit angelegt. Allein von i h r aus erschließt sich sein ganzer Frageansatz u n d sofern er auf der Suche nach der wahren W i r k l i c h k e i t ist u n d er nie müde w i r d zu betonen, daß es a u f die Konkretion, das hic et nunc ankommt, zeigt sich i h m diese W i r k l i c h k e i t von vornherein n u r u n t e r d e m A s p e k t i h r e r m ö g l i c h e n V e r ä n d e r b a r k e i t . Marx' wissenschaftliche Methodik ist — wie n u n zu zeigen sein w i r d — ganz 5*
68 bestimmt von dem her, wonach er auf der Suche ist, sie ist m i t anderen W o r t e n nichts anderes als eine Auslegungsmöglichkeit der W i r k l i c h k e i t , sofern sie als eine zu verändernde von vornherein i m Bereich seiner Aufmerksamkeit liegt. D i e Änderung dieser W i r k l i c h k e i t hat aber zur A u f gabe letzten Endes die Emanzipation des Menschen.
b) D i e Struktur der Wirklichkeit nach Wirkungsfaktoren im Hinblick auf die „Emanzipation des Menschen". I n diesem ganzen Forschungsansatz: Veränderung der W i r k l i c h k e i t i m H i n b l i c k a u f die Emanzipation des Menschen liegen n u n eine Reihe von Voraussetzungen beschlossen, die vorerst zu klären sind. W i e jene W i r k l i c h k e i t n ä m l i c h strukturiert ist u n d welche Erwartungen der Veränderungsmöglichkeit i n Bezug auf sie gehegt werden können, das m u ß offenbar abhängig sein von dem, w o r u m w i l l e n sie überhaupt verändert werden soll: der Emanzipation des Menschen. Daß aber überhaupt von der Veränderung der W i r k l i c h k e i t f ü r die Emanzipation des Menschen etwas erwartet w i r d , enthält i m voraus schon eine ganz bestimmte Auffassung über die Situation des Menschen i n der W e l t : Mensch u n d W e l t sind i n die D i s j u n k t i o n gebracht, als Potenzen f ü r sich angesetzt u n d dann durch ein bestimmtes Schema der Beziehungen miteinander i n Verb i n d u n g gebracht. Es ist zunächst zu sehen, als was der Mensch bei Marx angesetzt ist, was also überhaupt Emanzipation f ü r i h n bedeutet. Emanzipation ist die Befreiung des Menschen aus der U n freiheit zur F r e i h e i t 4 . F r e i zu sein ist die wahre ontische 4
F ü r die folgende Analyse ist der Verlust der „ K r i t i k der Hegeischen Rechtsphilosophie" ein empfindlicher Mangel. Nach Marx' Äußerung i n
69 Bestimmung des Menschen. Was es n u n f ü r den Menschen heißt, f r e i zu sein, das geht als Gegensatz aus der Bestimm u n g derjenigen Charaktere hervor, die die Unfreiheit des Menschen konstituieren. A l s d e r e n t s c h e i d e n d e Z u s a m m e n h a n g f ü r d i e B e s t i m m u n g d e r U n f r e i h e i t zeigt sich aber i n der Auseinandersetzung m i t dem tradierten Stand der Frage nach Freiheit u n d Gleichheit die G e s e l l s c h a f t oder die „ b ü r g e r l i c h e G e s e l l s c h a f t " . Freiheit u n d Gleichheit, das war schon die Aufgabe der „politischen Emanzipation", gelöst durch die Herausstellung der Menschenrechte — wenn auch praktisch noch nicht i n Deutschland, so doch da, w o die öffentlichen Zustände nicht „ u n t e r dem Niveau der Geschichte" zurückgeblieben w a r e n 5 ; F ü r die politische Emanzipation war die Befreiung des Menschen erreicht, wenn der Mensch i n seinem Privatleben, das heißt i n seinem w i r k l i c h e n alltäglichen Leben von anderen Direktiven als denjenigen f ü r sein eigenes Interesse befreit war u n d alle Bürger als Bürger (citoyens) i m H i n blick a u f die allgemeinen Angelegenheiten gleich waren, das heißt „ w o der politische Staat seine wahre Ausbildung erreicht hat, f ü h r t der Mensch nicht n u r i n Gedanken, i m Bewußtsein, sondern i n der W i r k l i c h k e i t , i m Leben ein doppeltes, ein himmlisches u n d ein irdisches Leben, das Leben i m politischen Gemeinwesen, w o r i n er sich als Gemeinwesen gilt, u n d das Leben i n der bürgerlichen Gesellder Einleitung zur „ K r i t i k der politischen Ökonomie" über ihren I n h a l t wäre sie die gegebene Auskunftsquelle f ü r unsere Fragestellung, da sie f ü r Marx die grundlegende „Selbstverständigung" über den notwendigen Weg seiner Forschung bedeutete. So bleibt f ü r uns als Anhalt f ü r unsere Analyse hauptsächlich der Aufsatz „ Z u r Judenfrage" aus den Deutsch-Französischen Jahrbüchern, wo allein dasjenige zur Sprache kommt, was dann als stillschweigende Voraussetzung der ganzen Analyse der politischen Ökonomie i m „ K a p i t a l " zugrunde liegt. 5 L i t . Nachl. Bd. I , S. 386.
70 schaft, w o r i n er als Privatmensch tätig ist, die anderen Menschen als Mittel betrachtet, sich selbst zum Mittel herabw ü r d i g t u n d z u m Spielball fremder Mächte w i r d " (S. 4o8). I n d e m die politische Emanzipation das Privateigentum, die individuelle Tätigkeit, die persönliche Macht dem politischen Einfluß entzieht u n d dort den Menschen n u r i n einer u n w i r k l i c h e n Allgemeinheit gelten läßt, emanzipiert sie gleichzeitig die Sphäre des individuellen Vorteils, des persönlichen Eigennutzes, des Kampfes aller gegen alle von jeder allgemeinen Beschränkung: diese v o m Staate f r e i gelassene, j a von i h m vorausgesetzte Sphäre des bellum o m n i u m contra comnes, das ist die bürgerliche Gesellschaft. I n i h r lebt der Mensch v o m Menschen getrennt i n der persönlichen A b sonderung, n u r f ü r sich, „ w ä h r e n d er die anderen als Mittel betrachtet, sich selbst z u m M i t t e l h e r a b w ü r d i g t " , kurz, i n der bürgerlichen Gesellschaft lebt der Mensch i n der U n freiheit. Ist der Mensch als einzelner, seinen Privatzwecken lebend, unfrei, w i r d er von der bürgerlichen Gesellschaft i n der Unfreiheit gehalten, so ist damit auch der Sinn einer wahren Emanzipation, einer nicht „ n u r " politischen, sondern menschlichen Emanzipation bestimmt: liegt seine U n freiheit i n seiner Absonderung u n d Vereinzelung, so kann seine Freiheit n u r darin bestehen, daß auch sein Privatleben ein allgemeines w i r d , daß er ein reines Gattungswesen w i r d . „ C h r i s t l i c h ist die politische Demokratie, i n d e m i n i h r der Mensch, nicht n u r e i n Mensch, sondern jeder Mensch als souveränes, als höchstes Wesen gilt, aber der Mensch i n seiner unkultivierten zufälligen Existenz, der Mensch, wie er geht u n d steht, der Mensch, wie er durch die ganze Organisation unserer Gesellschaft verdorben, sich selbst verloren, veräußert, unter die Herrschaft unmenschlicher Verhältnisse u n d Elemente gegeben ist, m i t einem W o r t , der Mensch, der noch kein wirkliches Gattungswesen i s t " (S. 4 i 4 ) . „ E r s t ,
71 wenn der w i r k l i c h e individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger i n sich z u r ü c k n i m m t u n d als individueller Mensch i n seinem empirischen Leben . . . Gattungswesen geworden ist, erst wenn der Mensch seine forces propres als gesellschaftliche Kräfte erkannt u n d organisiert u n d daher die gesellschaftlichen Kräfte nicht mehr i n der Gestalt der politischen K r a f t von sich trennt, erst dann ist die menschliche Emanzipation vollbracht" (S. 4 ^ 4 ) . D i e wahrhaft menschliche Emanzipation, die den Menschen i n seine wahre Bestimmung bringt, das ist die, die i h n z u m Gattungswesen macht: die wahre W i r k l i c h k e i t des Menschen ist, Exemplar einer Gattung sein. F ü r Marx w i r d der Mensch überhaupt n u r relevant als Exemplar, sei es auch als Exemplar der Vereinzelung, der Privatexistenz — als Bourgeois 6 . Ist es die wahre Emanzipation des Menschen, als Exemplar i n der Gattung aufzugehen, so ist die Frage, als was u n d wodurch sich dieses Gattungsmäßige charakterisiert. Was macht denn die „ w a h r e W i r k l i c h k e i t " des Menschen aus, wenn sie sich gattungsmäßig bestimmt? — D i e „ V e r hältnisse"! Die „ w a h r e W i r k l i c h k e i t " des Menschen ist eben gar nicht er selbst, sondern: „ D e r Mensch — das ist die W e l t des Menschen — Staat, Sozietät". V o n i h r aus ist überhaupt der Mensch i n seiner konkreten Bestimmtheit als das, 6
Wenn Marx sich i n der Meinung aufhielt, daß sein Grundansatz des Menschen von demjenigen der bisherigen „bürgerlichen" Emanzipation grundverschieden sei, so beruht das n u r darauf, daß die „wahre W i r k l i c h keit" des Menschen von Rousseau und Marx insofern verschieden gesehen werden, als Marx sie i n der „Gesellschaft", Rousseau i m corps social = etat sieht. Bei beiden aber ist die wahre und eigentliche Bestimmung des Menschen sein völliges Aufgehen i n der Gattung: „ L ' h o m m e civil n'est qu'une unite fractionnaire qui tient au denominateur et dont la valeur est dans son rapport avec l'entier q u i est le corps social." (Siehe die Arbeit des Verfassers „Über einige Grundbegriffe der P o l i t i k " , Archiv f. Sozialw. u. Sozialpol. Bd. 54, S. 54 u. 57.)
72 was er ist, zuerst bestimmbar. Das heißt aber nichts anderes als: soll über den Menschen, die Tatsache seiner Unfreiheit u n d die Möglichkeit seiner Emanzipation etwas ausgemacht werden, soll sie allererst überhaupt verstanden werden, so ist das n u r möglich durch eine Analyse der „ W e l t " , die den Menschen zu dem macht, was er ist. — D i e „ W e l t " also w i r d Thema der Untersuchung sein müssen, soll verstanden werden, was die Unfreiheit des Menschen bedingt u n d was demnach seine Emanzipation erfordert. Eine solche Untersuchung zielt aber, w i r w i r schon oben dargelegt haben, von vornherein darauf ab, die „ W e l t " z u m Verständnis zu bringen i m Hinblick auf ihre mögliche Veränderbar keit. D i e Veränderung der W e l t ist j a die alleinige Voraussetzung einer möglichen Emanzipation des Menschen. Der A u f b a u u n d der Zusammenhang dieser W e l t ergibt sich von selbst aus diesem leitenden Gesichtspunkt. Ist nämlich der Mensch als der, der er w i r k l i c h ist, determ i n i e r t durch die Verhältnisse, i n denen er lebt, durch die „ W e l t " , so m u ß die Suche nach einer möglichen Veränder u n g dieser W e l t i n i h r selbst die treibende K r a f t suchen, die diese W e l t zu dem macht, was sie ist. Ihre Untersuchung w i r d also von der Tendenz geleitet sein a u f Entdeckung eines movens, eines stimulans, von dem aus sich die W i r k l i c h k e i t so strukturiert, daß die Entdeckung dieses agens der geschichtlich-gesellschaftlichen Welt eben zugleich der Schlüssel zu ihrer möglichen Änderung ist. D i e schon oben erwähnte Abstufung der W i r k l i c h k e i t nach dem Grade der Realität ist n u r das Resultat einer Differenzierung der zu verändernden W e l t a u f den bewegenden Faktor h i n , der als die „ e i g e n t l i c h e " , das heißt aber die W i r k l i c h k e i t i n i h r e m So-Sein bewirkende W i r k l i c h k e i t , die „ w a h r e W i r k l i c h k e i t " ist. Welches aber m u ß dieser, die W i r k l i c h k e i t bestimmende Faktor sein? Es kann n u r der sein, der die Menschen i n
73 ihrer Unfreiheit bestimmt. Der besondere Stand der U n freiheit aber, derjenige Stand, i n dem sich alles Unmenschliche der Absonderung u n d Vereinzelung der f ü r sich gesetzten Menschen gleichsam zum Begriff konstituiert, das ist das Proletariat. I n i h m verneint die bürgerliche Gesellschaft sich selbst, i n i h m vollzieht sich ,,die B i l d u n g einer Klasse der bürgerlichen Gesellschaft, welche keine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft ist, eines Standes, welcher die Auflösung aller Stände ist, einer Sphäre, welche i n keinem einseitigen Gegensatz zu den Konsequenzen, sondern i n einem allseitigen Gegensatz zu den Voraussetzungen des deutschen Staatswesens steht, einer Sphäre endlich, welche sich nicht emanzipieren kann, ohne sich von allen übrigen Sphären der Gesellschaft zu emanzipieren" 7 . D i e Frage also, was das Proletariat sei, kann ausdrücklich u n d i n w i r k l i c h e r Bestimmtheit n u r beantwortet werden durch die Analyse derjenigen Faktoren der „gesellschaftlichen Verhältnisse", die das Proletariat z u m Proletariat machen. Das Proletariat ist aber diejenige Klasse von Menschen, die notwendig ist, die a u f dem Privateigentum u n d damit dem Kapital basierenden Produktionsverhältnisse zu ermöglichen u n d a u f recht zu erhalten — ohne selbst Eigentum zu besitzen — , j a , es ist selbst ein integrierender Bestandteil dieser P r o d u k tionsverhältnisse, i h r eigenes ständig reproduziertes P r o d u k t . D i e Bestimmung des Proletariats als des Kennzeichens f ü r die Unfreiheit der menschlichen Gesellschaft, also die E r kenntnis der Möglichkeit ihrer Emanzipation — die letzte kapitale Absonderung u n d Vereinzelung der Menschen ist eben die i n Proletariat u n d Bourgeois; sofern sie dies sind, sind sie Exemplare ihrer Gattung i n ihrer letzten u n d unversöhnlichsten Vereinzelung vor dem Umschlag zur Gattungseinheit der Menschheit — , hat zur Voraussetzung 7
Zitat m i t Auslassungen, L i t . Nachl. Bd. I , S. 897.
74 die Analyse derjenigen W i r k l i c h k e i t , die die Bedingungen der Existenz des Proletariats enthält. Das aber sind die P r o duktionsverhältnisse, sie sind also das agens der die W i r k lichkeit i n i h r e m bestimmten So-Sein bewirkenden W i r k lichkeit, sie sind die ,,wahre W i r k l i c h k e i t " . Die Gesetze ihrer Struktur u n d ihrer Bewegung sind die Gesetze, die das Schicksal des Menschen i n seiner eigentlichen Bes t i m m u n g entscheiden. Alle andere W i r k l i c h k e i t ist nur durch sie — die Produktionsverhältnisse — bewirkte W i r k lichkeit. So f ü h r t d i e S u c h e n a c h d e m agens d e r ges c h i c h t l i c h e n E n t w i c k l u n g dazu, daß sich die , , W e l t " i n verschiedene W i r k u n g s r e g i o n e n s t r u k t u r i e r t : die w i r t s c h a f t l i c h e , p o l i t i s c h e , r e l i g i ö s e usw. Es ist n u n folgendes von entscheidender Bedeutung f ü r den Gang u n d Zusammenhang unserer Untersuchung: Jene Voraussetzungen, die i n d e m ganzen Marxschen Frageansatz: Emanzipation des Menschen durch Veränderung der W e l t u n d seiner Beantwortung durch die Ökonomie als „ A n a tomie der bürgerlichen Gesellschaft" beschlossen lagen u n d die w i r n u n i n i h r e m ganzen Zusammenhang geklärt haben, sind kurz folgende: D i e erste u n d allgemeinste Voraussetzung ist die, daß überhaupt von einer T r e n n u n g von Mensch u n d W e l t ausgegangen w i r d , einer Trennung, bei der der Mensch F u n k t i o n der W e l t ist. Dieser Grundsatz hat seine besondere Geschichte u n d f ü h r t zurück i n die Problematik der „Sozialphilosophie" des 17. u n d 18. Jahrhunderts 8 . D i e zweite Voraussetzung ist die T r e n n u n g der p o l i tischen von der menschlichen Emanzipation, das heißt aber die Gegenüberstellung von Staat u n d Gesellschaft. Die dritte endlich ist die Differenzierung der W e l t nach W i r k u n g s regionen. Diese drei Voraussetzungen hängen n u n unter8
Siehe Kapitel Y .
75 einander wieder zusammen, u n d die Herausstellung dieses Zusammenhangs w i r d aufklärend sein f ü r die Möglichkeit der Loslösung eines Teils aus dem speziell Marxschen Frageansatz. D i e Hegeische Identität von Bewußtsein u n d Sein, die zunächst wie das Gegenteil einer D i s j u n k t i o n von W e l t u n d Mensch aussieht, ist nichts desto weniger gerade der Boden f ü r seine schroffste Ausbildung. Sie ist f ü r Hegel j a gerade der Rechtfertigungsgrund v o m ,,Geist" als „ o b j e k t i v e m " i n einer Weise zu handeln, i n der er sich als nichts anderes als die Entfaltung der i n der W e l t (das heißt i m Sein) waltenden eigenbestimmten dialektischen Bewegung darstellt, f ü r die der Mensch n u r das Organ ist, dessen sich die „ L i s t der V e r n u n f t " bedient. A u f diese Weise werden alle Bedeutungs- u n d Motivationszusammenhänge zu kausalgesetzlichen W i r k u n g s z u s a m m e n h ä n g e n , deren A u f k l ä r u n g an die Entdeckung der sie beherrschenden G e s e t z l i c h k e i t geknüpft ist. B e i der Übernahme des ganzen Hegelschen Ansatzes bedeutet das aber f ü r Marx folgendes: durch die Entdeckung der „Gesellschaft" als des f ü r die E n t w i c k l u n g der Geschichte — die Emanzipation des Menschen — entscheidenden Zusammenhangs, die sich auf dem Wege der Abhebung gegenüber den politischen, durch den Staat u n d seine Struktur bestimmten Zusammenhängen vollzieht, verlegt sich die Aufgabe der Erforschung der „ w a h r e n W i r k l i c h k e i t " i n die die Gesellschaft beherrschende Gesetzlichkeit. Diese Aussonderung derjenigen Zusammenhänge, die f ü r die Emanzipation des Menschen irrelevant sind u n d deren i n ihnen waltende Gesetzlichkeit nicht die Gesetzlichkeit der „ w a h r e n W i r k l i c h k e i t " ist, das heißt vor allem f ü r M a r x die politischen i m Gegensatz zu den gesellschaftlichen Verhältnissen, sondert dadurch die W e l t nach Regionen, die unter dem Hinblick der Veränderbarkeit der W e l t sich als
76 Wirkungsregionen kennzeichnen 9 . Daß n u n die Analyse der die „Gesellschaft", das heißt die „bürgerliche Gesellschaft" (der bei Rousseau bedeutungslose h o m m e civil) beherrschenden Gesetzlichkeit, das heißt die „ A n a t o m i e der bürgerlichen Gesellschaft", i n den Gesetzen der politischen Ökonomie gesucht u n d gefunden w i r d , daß also der ganze Fragezusammenhang von M a r x i m „ K a p i t a l " seine Lösung findet u n d damit seine Geschichtsinterpretation eine ökonomische w i r d , das hat eben i n der schon von Hegel stammenden Bestimmung der bürgerlichen Gesellschaft als des Systems der Bedürfnisse u n d ihrer Befriedigung seinen Grund. D i e Gesetzlichkeit, die i n der bürgerlichen Gesellschaft waltet, ist eben diejenige der Produktionsverhältnisse. M i t der A u f k l ä r u n g dieses ganzen Zusammenhangs, aus dem allein die „ ö k o n o m i s c h e " Interpretation der historischen Situation sich als zwingend aufdrängt, m u ß gleichzeitig der unmittelbare U r s p r u n g der Fragestellung u n d Methode von Marx aus seinem sachlichen Thema sichtbar geworden sein. N u r aus der Absicht auf unmittelbare Veränderung der W e l t u n d dem gekennzeichneten Begriff einer Emanzipation des Menschen, der Herauslösung der „Gesellschaft" i m Gegensatz z u m Staat ist die „ M e t h o d e " von Marx plausibel, sie ist nichts weiter — ich zitiere m i c h selbst — „als eine Auslegungsmöglichkeit der W i r k l i c h k e i t , sofern sie als eine zu verändernde ( u n d zwar sich aus sich selbst verändernde) von vornherein i m Bereich seiner Aufmerksamkeit l i e g t " . W i r haben zu sehen, wie sich die Soziologie heute 9
„Meine Untersuchung mündet i n dem Ergebnis, daß Rechtsverhältnisse wie Staatsformen weder aus sich selbst zu begreifen sind noch aus der sogenannten allgemeinen E n t w i c k l u n g des Geistes, sondern vielmehr i n den materiellen Lebensverhältnissen wurzeln, deren Gesamtheit H e g e l . . . unter dem Namen „bürgerliche Gesellschaft" zusammenfaßt.. Marx, Z u r K r i t i k der politischen Ökonomie, V o r w o r t S. L I V , Stuttgart u. Berlin 1922.
77 noch dieser Methode bedient, ohne doch den ganzen thematischen Fragezusammenhang m i t übernommen zu haben. Dies soll sich zunächst schon an Max Weber erläutern.
c) D i e Übernahme der Struktur durch Weber ohne die Marx'sche Fragestellung. Max Weber k n ü p f t nicht n u r verschiedentlich an die sogenannte „materialistische Geschichtsauffassung" von Marx an, sondern der ganze Ansatz seiner religionssoziologischen Forschungen ist j a eine „positive K r i t i k " der materialistischen Geschichtsauffassung. Bei dieser K r i t i k vollzieht sich n u n aber unter der H a n d eine Loslösung der Marxschen Geschichtsinterpretation aus dem ganzen soeben gekennzeichneten Zusammenhang, eine Loslösung, der allerdings Engels u n d sogar Marx selbst i m kommunistischen Manifest V o r schub geleistet haben. Diese Loslösung besteht darin^ daß die Interpretation der historischen Situation durch die Analyse der ökonomischen Verhältnisse als eine U n i v e r s a l m e t h o d e angesehen w i r d , daß die ökonomischen Bedingungen nicht mehr n u r i n i h r e r Bedeutung f ü r die „bürgerliche Gesellschaft", sondern grundsätzlich f ü r die Situation des Menschen i n der W e l t überhaupt angesetzt werden. D a m i t erhalten die Produktionsverhältnisse gleichsam eine metaphysische Präponderanz u n d ihre Analyse w i r d n u n z u m Schlüssel des Verständnisses jeder historischen Situation überhaupt. D a m i t erst w i r d die „ A n a t o m i e der bürgerlichen Gesellschaft", die die Bedingungen einer Emanzipation des Menschen aufzuweisen die Aufgabe hatte, zu einer geschichtsphilosophischen Maxime, eben der „materialistischen Geschichtsauffassung". D a ß bei Marx selbst sich diese Bezeichnung gar nicht findet, ist also keineswegs zufällig. Diese „materialistische Geschichtsauffassung" als geschichtsphilosophische Maxime ist n u n der eigentliche Gegen-
78 stand der Weberschen K r i t i k . Diese K r i t i k ist aber eine „ p o s i t i v e " insofern, als durch konkrete historische Analyse sich die „ E i n s e i t i g k e i t " jener Geschichtsauffassung von selbst demonstrieren soll. A m Leitfaden der Frage nämlich, wie es überhaupt i m Okzident — u n d n u r da — zu einer solch ausschlaggebenden Bedeutung des Wirtschaftens, der „ P r o duktionsverhältnisse" k o m m e n konnte, zu dem „ ö k o n o mischen Rationalismus", „ d e r den Okzident als eine Teilerscheinung der dort heimisch gewordenen A r t der bürgerlichen Lebensrationalisierung seit dem 17. u n d 18. Jahrhundert zu beherrschen begann" (Relsoz. S. 205), werden die Beziehungen u n d Einflüsse anderer „ F a k t o r e n " auf die Wirtschaftsweise i n den bedeutendsten K u l t u r e n vergleichsweise umfassend untersucht. Es soll dabei sichtbar werden, wie gewisse „richtunggebende Elemente der Lebensführung" (Relsoz. S. 239) den ökonomischen Verhältnissen jeweils eine ganz andere Ausbildung gegeben haben, die aus der Eigengesetzlichkeit der E n t w i c k l u n g der ökonomischen Faktoren allein unverständlich bliebe. So w i r d gleich i m Beginn hervorgehoben, daß da, w o die Lebensführung der Menschen „ d u r c h bestimmte Hemmungen seelischerArt obstruiert w a r " , ein ökonomischer Rationalismus i m abendländischen Sinne sich nicht entwickeln konnte, selbst wenn die ökonomischen Bedingungen dazu durchaus gegeben waren. V o n diesen die Wirtschaftsweise beeinflussenden „Elementen der Lebensf ü h r u n g " werden die „ethischen PflichtvorStellungen" herausgehoben. W ä h r e n d i n den beiden ersten Arbeiten über den Protestantismus i h r Einfluß auf die W i r t s c h a f t s f ü h r u n g aufgewiesen w i r d , also „ n u r der e i n e n Seite der Kausalbeziehungen nachgegangen" w i r d (Relsoz. S. 12), sollen die Aufsätze über die Wirtschaftsethik der Weltreligionen b e i d e n Kausalbeziehungen nachgehen, das heißt also auch die E i n w i r k u n g e n ökonomischer Faktoren auf die Ausbil-
79 dung der „ethischen PflichtvorStellungen" untersuchen. A u c h diese Arbeiten beschränken sich natürlich darauf, die gegenseitige Bedingtheit n u r einiger „ F a k t o r e n " der W i r k l i c h k e i t z u m Thema zu machen, da eine allseitige Untersuchung aller „ F a k t o r e n " i n ihrer gegenseitigen Beeinflussung u n d Bedingtheit ins Unendliche führen würde. „ Z u den Determinanten der Wirtschaftsethik gehört als eine — w o h l bemerkt: n u r e i n e — auch die religiöse Bestimmtheit der Lebensführung. Diese selbst aber ist n a t ü r l i c h wiederum innerhalb gegebener geographischer, politischer, sozialer, nationaler Grenzen durch ökonomische u n d politische M o mente tief beeinflußt. Es wäre ein Steuern ins Uferlose, wollte man diese Abhängigkeit i n all ihren Einzelheiten vorf ü h r e n " (Relsoz. S. 2 3 8 f . ) . Der Aufweis dieser gegenseitigen Bedingtheit u n d Beeinflussung aller „ F a k t o r e n " der gesellschaftlich-geschichtlichen W i r k l i c h k e i t ist eo ipso eine „positive K r i t i k " der materialistischen Geschichtsauffassung. Die „ P o s i t i v i t ä t " dieser K r i t i k ist aber Weber n u r möglich dadurch, daß er a u f dem von Marx einmal vorgegebenen Frageansatz selbst einsetzt. W e n n auch Weber selbst betont, daß „ o b j e k t i v " keinem dieser „ F a k t o r e n " vor dem anderen eine Vorzugsbedeutung zukommt, so liegt doch tatsächlich sowohl i n der sachlichen D u r c h f ü h r u n g der Untersuchung über den Protestantismus u n d seine Bedeutung f ü r den Kapitalismus als auch i n der Auswahl der religiösen „ V e r k ü n d i g u n g u n d V e r h e i ß u n g " , der „Soteriologie" als bestimmenden Faktor f ü r den p r a k tischen Antrieb zum Handeln u n d zwar vor allem z u m w i r t schaftlichen Handeln, eine vorzügliche Bewertung des einen aller möglichen Faktoren. Das wäre gleichsam eine U m kehrung der materialistischen Geschichtsauffassung. U n d dies u m so mehr, als die S t r u k t u r der W i r k l i c h k e i t nach Wirkungsregionen oder — was nichts anderes bedeutet —
nach „ F a k t o r e n " vollständig von Marx übernommen ist, ohne daß doch dabei die ganze Marxsche Frageabsicht auf Veränderung der W e l t m i t übernommen wäre. Diese Strukt u r der W i r k l i c h k e i t ergibt sich aber n u r als die alleinige Konsequenz aus dem Aspekt ihrer möglichen Veränderbarkeit. D i e aus dem Marxschen Fragezusammenhang sich ergebende Struktur der W i r k l i c h k e i t i n Wirkungsregionen, nämlich der«ökonomischen, politischen, religiösen usw., w i r d von Weber i m Ansatz seiner „positiven K r i t i k " stillschweigend m i t übernommen, das heißt Webers K r i t i k setzt nicht ein bei den Voraussetzungen, als deren konsequente Ausb i l d u n g sowohl die S t r u k t u r nach Wirkungsregionen als auch die ökonomische Interpretation allein sich ergibt, sondern er ü b e r n i m m t die Konsequenzen, ohne die Voraussetzungen m i t zu übernehmen. Nur die eine Voraussetzung, die D i s j u n k t i o n von Mensch u n d W e l t , geht unter der Hand auch i n die Fragestellung Webers über, da sie i n der Gliederung der W i r k l i c h k e i t nach Wirkungsregionen, die auch Weber vorgegeben ist, m i t angelegt ist. Auch Weber spricht von der „Eigengesetzlichkeit" der Wirtschaftsethik, die als ein „kompliziertes Gebilde" überaus vielseitig bedingt zu sein pflegt (Relsoz. S. 238), eine Redeweise, die n u r unter der Abstraktion vom Menschen möglich ist. Andererseits durchbricht aber Weber völlig das Schema der eigengesetzlich wirkenden „ F a k t o r e n " u n d die daraus sich ergebende Untersuchung ihrer „Gesetzlichkeit" schon allein dadurch, daß seine konkreten historischen Analysen f r e i von jeder konstruktiven Theorie ihre ganze Aufmerksamkeit den „psychologischen u n d pragmatischen Zusammenhängen" (S. 238) zuwenden, was nichts anderes heißt, als daß das zu gewinnende Verständnis aus der Analyse der Motivationsu n d Bedeutungszusammenhänge erwartet w i r d , deren einziges Thema allein der Mensch sein kann, der i n dieser seiner
81 konkreten W e l t lebt, plant u n d sich verändert. Es w u r d e schon i m ersten Kapitel dargelegt, wie die meisten Richtungen heutiger Soziologie hinter diesem D u r c h b r u c h zurückgeblieben sind. W ä h r e n d also Weber den fundamentalen Ansatzpunkt einer K r i t i k des ganzen Marxschen Fragezusammenhangs dadurch versäumt, daß er die D i s j u n k t i o n von W e l t u n d Mensch u n d die daraus resultierende Eigengesetzlichkeit der „ W e l t " zumindest dadurch mitmacht, daß seine eigene Fragestellung auf „ Z u r e c h n u n g " kausaler Faktoren auf die einzelnen Phänomene (Relsoz. S. 12 f . ) hinausläuft, macht er doch gerade jene aktivistische Fragestellung, unter deren Aspekt sich erst die W e l t i n Wirkungszusammenhängen gliedert, nicht m i t . I h m k o m m t es j a nicht auf die Veränderung der W e l t an, sondern zunächst auf das reine Verständnis ihrer „psychologischen u n d pragmatischen" Z u sammenhänge. Dieses Verständnis aber, j a schon die Ausbildung einer w i r k l i c h originären Fragestellung w i r d allein dadurch behindert, daß die gesellschaftlich-geschichtliche W i r k l i c h k e i t von vornherein unter einem Aspekt aufgefaßt w i r d , der aus einer ganz heterogenen Fragetendenz resultierend unbestritten übernommen wurde. A n dem Ergebnis dieser Untersuchung ist die hier leitende Fragestellung i n verschiedener Weise interessiert: E i n m a l sind eine ganze Anzahl der heutigen Arbeitstendenzen der Soziologie i n ihrer Verfehltheit aus dem B r u c h aufzuklären zwischen der Übernahme einer „ M e t h o d e " ohne die sachlichen Fragezusammenhänge, an denen sie ausgebildet wurde. Dieser Bruch ist ein vielfältiger u n d wiederholt sich an den verschiedenen Fortbildungsansätzen der Soziologie (als Geschichtsphilosophie, Lehre von der Gesellschaft, Totalitätsanalyse oder als „bestimmte Betrachtungsweise" [soziologische]). Es wäre zu zeigen, welche m i t dem A u f L a n d s h u t , Kritik der Soziologie.
6
82 tauchen der „Gesellschaft" als Thema unmittelbar verbundenen Fragetendenzen heute ganz fallen gelassen w u r d e n u n d m i t welchem Recht. Andererseits ergibt sich aus dem bis hierher entwickelten „soziologischen" Forschungszusammenhang das Bedürfnis, den U r s p r u n g der von Marx eigentlich schon vorgefundenen Gegenüberstellung von Staat u n d Gesellschaft aufzuklären u n d die Richtung der Aufmerksamkeit zu bestimmen, aus der die „Gesellschaft", zunächst als „bürgerliche Gesellschaft"; überhaupt hat z u m Thema werden können. D a n u n diese letzte Frage u n d ihre Beantwortung Voraussetzung dafür ist, daß sich auch die heutigen soziologischen Arbeiten i n ihrer Fragestellung u n d der i h r zugrunde liegenden P r o blematik auf dem Boden der soziologisch-wissenschaftlichen T r a d i t i o n genauer charakterisieren lassen u n d der Umkreis möglicher neuer Fragestellung sich deutlicher bestimmen läßt, so soll die nächste Aufgabe die Untersuchung der von M a r x schon vorgefundenen Problematik der „Gesellschaft" u n d ihrer schon entwickelten wissenschaftlichen Auslegung sein.
IV. D i e „Gesellschaft" als T i t e l des entdeckten Problemzusammenhangs v o n Freiheit, Gleichh e i t u n d P e r s ö n l i d i k e i t b e i L o r e n z Stein. D i e Entstehung der Verschiedenartigkeit der sich heute unter dem T i t e l Soziologie oder Gesellschaftswissenschaft anzeigenden Forschungsrichtungen — von e i n e r Richtung kann j a nicht die Rede sein — , die die heterogensten Themata bearbeiten: die Psychologie der U r v ö l k e r ebenso wie die ,, Soziologie" des Geheimnisses, u n d solche, die bei der
83 Bemühung kein Thema auszuschließen, sich schließlich n u r noch an das formale u n d darum auch gänzlich inhaltsleere Schema der „ B e z i e h u n g " 1 halten, — die Möglichkeit der Entstehung der Beliebigkeit i m Thematischen einerseits, i n der Verfahrensweise andererseits ist eine ganz eigenartige u n d zu detaillieren ein so komplizierter Vorgang, daß seine A u f k l ä r u n g einen A u f w a n d an Arbeit u n d Scharfsinn erforderte, der i n keinem Verhältnis zu dem zu stehen scheint, was dabei zu gewinnen wäre. Das Einzige, was auf dem Wege unserer Untersuchung i n dieser Hinsicht sich a u f klären läßt, ist die Verselbständigung bestimmter Charaktere u n d Fragetendenzen aus i h r e m ursprünglichen thematischen Zusammenhang heraus zu einzelnen soziologischen Forschungsrichtungen, eine Entwicklung, bei der der u r sprünglich einheitliche sachliche Fragezusammenhang allmählich verloren geht. Dieser Problemzusammenhang, der sich bei M a r x schon abgezeichnet hatte, soll n u n i n der Weise gewonnen werden, daß die soziale Problematik der geschichtlichen W i r k l i c h keit i m Zusammenhang m i t ihrer wissenschaftlichen E r fassung u n d Auslegung sichtbar w i r d . D a m i t werden zugleich diejenigen Tendenzen deutlich werden, die zur K o n stituierung einer Wissenschaft von der Gesellschaft geführt haben. Dementsprechend laufen i m Folgenden eine Reihe von Gedankengängen i m selben Darstellungszug zusammen, deren gesonderte Abhebung von i h r e m einheitlichen F u n 1
Die Bedeutung von „Beziehung" ist an sich schon so f o r m a l leer, daß sie nicht einmal n u r f ü r menschliches Miteinander g i l t ; vielmehr ist Beziehung überall, wo etwas auf etwas anderes „bezogen" ist, etwas auf etwas anderes verweist: der Schlüssel aufs Schlüsselloch zum Beispiel. Siehe K . L ö w i t h , Das I n d i v i d u u m i n der Rolle des Mitmenschen, München 1928,
s.
59. *
84 dierungszusammenhang zu wiederholten Rückgriffen auf diesen zwingt. Nachdem n ä m l i c h vorweg drei, f ü r die gesamte soziologische Forschung konstitutive Charaktere herausgestellt sind, m u ß es sich erweisen, daß diese Charaktere ihren ursprünglichen Bedeutungsgrund i n einer ganz bestimmten Problematik haben u n d n u r aus dieser Problem a t i k verständlich sind. Diese Problematik ist i n i h r e m sachlichen Zusammenhang zu analysieren. I n eins damit aber gibt die Analyse der ursprünglichen sozialen Problematik die Handhabe z u m Verständnis der der Soziologie innewohnenden Tendenz a u f Herausstellung allgemeiner Gesetzlichkeiten: diese erweist sich als Verabsolutierung eines bestimmten psychologisch-pragmatischen Motivationszusammenhangs. Zuletzt aber zeigt sich bei der Rückverfolgung dieser Motivations- u n d Bedeutungszusammenhänge der eigentlich fundamentale Boden der ganzen Problematik: die Bedingungen ihrer Möglichkeit. Dieser formale A u f r i ß ist n u n inhaltlich zu konkretisieren.
a) D r e i konstitutive Forsdiungscharaktere und ein Exkurs über „Wissenssoziologie" (Karl Mannheim). W i r nehmen zunächst voraus, daß f ü r die Soziologie oder Gesellschaftswissenschaft drei Eigenheiten sich abheben lassen als charakteristisch f ü r die Eigenart ihrer Fragetendenz : 1. daß die „Gesellschaft" thematisch w i r d als reziproker Begriff z u m Staat; 2. der wissenschaftliche Fundamentalcharakter der Soziologie, u n d 3. ihre Aufgabe der historischen Interpretation. Schon bei der Gewinnung des Marxschen Forschungszusammenhangs zeigt sich die „Gesellschaft" als der zen-
85 trale Bedeutungszusammenhang, von dessen Strukturanalyse allein die A u s k u n f t über die die gesamte Forschung beherrschende Idee der E m a n z i p a t i o n des M e n s c h e n beansprucht wurde. D i e „ A n a t o m i e " dieser bürgerlichen Gesellschaft hatte jene f ü r die Unfreiheit ides Menschen wesentlichen Zusammenhänge herauszustellen. Unter dieser leitenden Idee wurde die Gesetzlichkeit, die i n den gesellschaftlichen Zusammenhängen waltete, zu dem Kanon eines möglichen historischen Verständnisses überhaupt. Trotz des Fortfalls dieser leitenden Idee aus dem ausdrücklichen Forschungszusammenhang bei Max Weber bleibt bei i h m doch die W i r k l i c h k e i t i n der Struktur vorgegeben, i n der sie von Marx aus seiner Fragetendenz gesehen wurde, während die Identifizierung der gesellschaftlichen Verhältnisse m i t den Produktionsverhältnissen u n d damit deren Gesetzlichkeit als die die historische W i r k l i c h k e i t erschließende Gesetzlichkeit aufgegeben w i r d . D a m i t weitet sich der Begriff der Gesellschaft zu dem universalen Zusammenhang aller menschlichen Tätigkeit, Gestaltung u n d Organisation, deren Verständnis methodisch durch die Zurechnung einzelner „ F a k t o r e n " dieser gesellschaftlichen W i r k l i c h k e i t zu bestimmten „ k o m p l e x e n Gebilden" erzielt werden soll. So bleibt diese formale S t r u k t u r der W i r k l i c h k e i t nach Wirkungsfaktoren der Boden f ü r diejenige A r t der Analyse der gesellschaftlich-geschichtlichen W i r k l i c h k e i t , die unter dem Begriff der „Totalitätsanalyse" der Kanon einer soziologischen Forschungsrichtung geworden i s t 2 . I n diesem Zusammenhang verbleibt auch die von K a r l 2
Ernst Troeltsch, Z u m Begriff und zur Methode der Soziologie, W e l t w i r t s c h a f t . Archiv, Bd. V I I I , i , S. 2 6off. u. S. 275. K a r l Mannheim, Historismus, Archiv f . Sozialw u. Sozialpol. Bd. 52, 1, S. 5 und passim, und derselbe, Das Problem einer Soziologie des Wissens, Archiv f . Sozialw. u. Sozialpol. Bd. 53, 3, S. 6 3 8 f .
86 Mannheim neuerdings gegebene A u s f ü h r u n g einer „Wissenssoziologie", die i n der Analyse fundamentaler B e w u ß t seinsphänomene, der „ I d e o l o g i e " u n d der „ U t o p i e " , beansprucht, „ d i e wichtigsten Ansatzpunkte einer soziologischen Strukturgeschichte des modernen Bewußtseins zu fixieren"3. D a auch unsere Arbeit sich m i t diesem A n spruch identifizieren könnte, so sei hier einer etwas ausführlicheren Klarlegung der Forschungsgrundlagen Raum gegeben. Mannheims Forschungsmethode, „die wichtigsten Ansatzpunkte einer soziologischen Strukturgeschichte des modernen Bewußtseins zu fixieren" nennt er selbst eine „Wissenssoziologie". Die Aufgabe dieser Wissenschaft besteht darin, alle Selbstauslegungsweisen des geschichtlich-gesellschaftlichen Lebens i n ihren Ausdrucksäußerungen, das heißt vorwiegend i m theoretischen Denken (Wissen), aber auch i m künstlerischen Gestalten (s. S. 2 o 3 f . ) daraufhin zu untersuchen, wie sich i n ihnen die eigene W i r k l i c h k e i t des Denkenden u n d Gestaltenden kundtut. Die wissenssoziologische Analyse zielt darauf ab, den Zusammenhang durchsichtig zu machen, i n dem sich die W i r k l i c h k e i t des Denkenden nicht n u r zu der Bedeutung des Gedachten (dem I n h a l t ) , sondern auch zu seinem ganzen A u f b a u (der „Kategorialapparatur") verhält. Eine soziologische Aufgabe soll dies i n sofern sein, als die „ W i r k l i c h k e i t " , die „Seinslage" stets eine geschichtlich-gesellschaftlich determinierte ist u n d aus dieser Determination die spezifische „ P a r t i k u l a r i t ä t " eines jeden theoretischen Zusammenhangs, j a aller Kategorien, i n denen er überhaupt W i r k l i c h k e i t , das heißt eben seine W i r k l i c h k e i t erfaßt, sich bestimmen läßt. So soll auf diese Weise der Anspruch der „ A l l g e m e i n g ü l t i g k e i t " , der jedem Denken innewohnt, a u f seine besondere gesellschaftlich3
K a r l Mannheim, Ideologie und Utopie, Bonn 1929, S. i 8 3 .
87 geschichtliche Bedingtheit reduziert werden können u n d so durch allseitige Destruktion aller Wirklichkeitsauslegung ein neuer Horizont überhaupt eröffnet werden, der sich als solcher gerade bestimmt durch diese „dynamische" D e n k position (S. 3 2 — [ \ 9 ) . Das eigentliche Gebiet solcher F o r schung ist also die Beziehung oder vielmehr das jeweilige „Entsprechen" (S. 10) von „ D e n k e n " u n d „ S e i n " . „ I d e o logie" u n d „ U t o p i e " sind n u n aber nach Mannheim zwei besondere Weisen, i n denen Bewußtsein sich z u m Sein verhält, es sind zwei Weisen, i n denen das Bewußtsein sich an „seinstranszendenten" oder „wirklichkeitstranszendenten" Faktoren orientiert, das heißt i n denen die denkende Orientierung der i m faktischen Leben verwirklichten Seinsordnung nicht entspricht, sich m i t i h r „ n i c h t i n Deckung befindet" (S. 169). Den spezielleren Unterschied zwischen Ideologie u n d U t o pie lassen w i r hier zunächst unerwähnt, es k o m m t uns a u f die Konzeption als solche an. N u n ist aber das Phänomen der Ideologie i n den Analysen u n d Darlegungen kein einheitliches. W ä h r e n d i n der allgemeinen Charakteristik der Ideologie stets von ihrer „ I n k o n g r u e n z " zur „ W i r k l i c h k e i t " gesprochen w i r d , von einem „seinstranszendenten" u n d „ w i r k l i c h k e i t s f r e m d e n " Bewußtsein — welche Bedeutimg j a ursprünglich dem Begriff innewohnt: M a r x : die Rechtfertigung haltloser Zustände — w i r d sie i n der Untersuchung über das verschieden ausgelegte Verhältnis von Theorie u n d Praxis zu nichts anderem als der Bezeichnung f ü r die Selbstauslegung als solche, eben f ü r das „Entsprechen" von Sein u n d Bewußtsein (S. 35). Diese Bedeutungsdifferenz ist durch die Unterscheidung eines „wertenden" u n d eines „ w e r t f r e i e n " Ideologiebegriffes nicht zu rechtfertigen. Denn wenn es schön einmal bei solcher Forschung nicht auf die „ o b j e k t i v e " W a h r h e i t einer theoretischen
88 Selbstauslegung ankommt (S. 35), sondern auf ihre Ausdrucksfunktion, dann transzendiert ein „falsches" B e w u ß t sein so wenig seine eigene W i r k l i c h k e i t wie ein „richtiges", so wenig, daß "vielmehr gerade dies falsche Bewußtsein die eigene W i r k l i c h k e i t i s t . Ideologie ist entweder Selbstauslegung schlechthin — adäquate u n d inadäquate — oder n u r „falsches Bewußtsein". D i e Lösung dieses „ W i d e r s p r u c h s " liegt aber darin, daß sie eben f ü r M's. Grundeinstellung beides zugleich ist, nämlich i m Hinblick a u f die „eigentliche" Realität: letzten Endes ist f ü r i h n nämlich jedes „ B e wußtsein" eigentlich ein minderes Sein — es ist eben nicht eigentlich wirkliches Sein, sondern „ n u r " Bewußtsein: Ideologie. „ I m Ideologie- u n d U t o p i e g e d a n k e n . . . w i r d eigentlich letzten Endes die Realität gesucht" (S. 54). Ist es aber die Aufgabe der Wissenssoziologie zu untersuchen, wie W i r k lichkeit jeweils gesehen w i r d u n d welche W i r k l i c h k e i t i n ihrer theoretischen Auslegung jeweils erfaßt w i r d , dann m u ß es gerade fundamental f ü r diese Forschungsaufgabe sein, festzustellen, wie die W i r k l i c h k e i t sich i n ihren eigenen Kategorien zeigt. N u n ist die Ideologie nicht n u r der Gegenstand der Untersuchung, sondern am Phänomen der Ideologie w i r d auch zugleich die eigene Methode u n d F o r schungsabsicht gewonnen u n d expliziert. Das Phänomen der Ideologie ist nämlich das Fundamentalphänomen, auf dem die Möglichkeit einer solchen „Wissenssoziologie" überhaupt beruht. D i e Strukturen, die also aus diesem Begriff zu gew i n n e n sind, müssen zeigen, wie denn diejenige W i r k l i c h keit aussieht, die Voraussetzung f ü r die Möglichkeit solch wissenssoziologischer Untersuchungen ist, das heißt als was f ü r ein Strukturzusammenhang die W i r k l i c h k e i t i n solcher Wissenschaft überhaupt i n Erscheinung t r i t t (vgl. S. 17 bis 24 u n d 3g-—43). M's. eigene Darlegungen geben uns dafür
89 die Handhabe: der B e g r i f f der Ideologie ist eine Schöpfung des 19. Jahrhunderts u n d der Index f ü r die Politisierung des öffentlichen Bewußtseins, das heißt der Absorption aller Fragen der menschlichen Existenz durch die Praxis der Machteroberung u n d Machterhaltung. „ D e r Begriff der Ideologie i m modernen Sinne wurde erst i n dem Augenblick geboren, als Napoleon diese P h i l o s o p h e n g r u p p e . . . i n verächtlichem Sinne ,Ideologen' schalt" (S. 2Ö) 4 . Mannheim stellt fest, daß i n diesem Ausspruch das Denken des Gegners entwertet w i r d , besser wäre es zu sagen, daß der Gegner entwertet w i r d , w e i l er denkt oder „ n u r " denkt. Dieses „ N u r - D e n k e n " w i r d entwertet als irreal gegenüber der eigentlichen Realität. I n dieser Bedeutung von Ideologie liegt die stillschweigende Setzung einer e i g e n t l i c h e n W i r k lichkeit gegenüber einer uneigentlichen, eben jener W i r k lichkeit der Machteroberung u n d Machterhaltung, der Pol i t i k gegenüber aller anderen W i r k l i c h k e i t . Der Umkreis der 4 Bacons Lehre von den idola kann unmöglich als „ V o r a h n u n g der modernen Ideologiekonzeption" ausgelegt werden ( i 4 ) . Bei Bacon handelt es sich darum, daß „die schlechte und törichte Beilegung der Namen den Geist (!) i n merkwürdiger Weise behindert", d. h. es handelt sich u m die Rolle fester, übernommener Begriffe f ü r die Behinderung der freien E r kenntnis, nicht aber u m ein „Verhältnis" von Bewußtsein und Sein, das eine Aufgliederung des Seins i n bestimmte Regionen impliziert. Diese Aufgliederung ist aber fundamental f ü r den Begriff der Ideologie. Dieser Begriff läßt sich nicht auflösen i n die Bedeutung von „Täuschung" überhaupt. — So ist auch die gewaltsame Interpretation der Bewußtseinsphilosophie ( f ü r die wieder der andere Begriff von Ideologie maßgebend ist) eine — sit venia verbo — Unmöglichkeit, die ich hier n u r feststellen, aber auf die ich nicht eingehen kann. Was soll es heißen, daß (wohl bei Kant) die Einheit des Subjekts die Prinzipien der W e l t f o r m u n g „ i n Spontaneität weitgehend (!) aus sich erzeugt"!? (19). Sind die „ P r i n z i p i e n der W e l t f o r m u n g " etwa die Kategorien des reinen Verstandes? Was M . darunter aber versteht und was Kant meint, liegt i n einer toto coelo verschiedenen Dimension der Anschauung.
90 f ü r die Machtausübung relevanten Bedeutsamkeiten usurpiert so den Begriff von W i r k l i c h k e i t überhaupt u n d alle anderen Weisen menschlicher Lebensäußerung sind von da aus gesehen — Ideologien. B e i Marx, wo — wie w i r sahen — dieser Ansatz methodisch durchgeführt ist u n d zwar eben aus der Tendenz auf Veränderung der Machtpositionen i n der W e l t , da werden denn auch die Begriffe „ m a t e r i e l l " u n d „ w i r k l i c h " identisch. A l l e Voraussetzungen der von M. i n augurierten Wissenssoziologie als einer Forschung nach den Beziehungen zwischen „ S e i n " u n d „ B e w u ß t s e i n " sind also selbst dieser Auslegung der W i r k l i c h k e i t entnommen u n d der Horizont aller Untersuchungen, die auf diesem Boden unternommen werden, bleibt durch diese Voraussetzungen begrenzt, trotz mancher einzelner darüber hinaus weisender Bemerkungen. Die ganzen von M. verwandten Kategorien: das „ B e w u ß t s e i n " , das dem „ S e i n " — dem eigentlichen Sein, der W i r k l i c h k e i t — „entspricht", die „soziale Seinslage", die „sozial-vitale G r u n d l a g e des Denkens", das das Sein „transzendierende" Denken usw. entstammen samt u n d sonders der i n ihrer inneren Begründung von uns klargelegten W e l t s t r u k t u r bei Marx. Die W e l t , das heißt die Lebenswelt des Menschen w i r d hier nicht gesehen als die W e l t des Menschen, die so aussieht, weil der Mensch so i s t , w e i l sie selbst nichts ist als die Manifestation seines Selbstverständnisses, nichts anderes als der Mensch selbst i n seinen gelebten Ansprüchen, Erwartungen u n d all dem, was er daraufhin m i t sich selbst u n t e r n i m m t , sondern „ W e l t " ist hier konzipiert als ein „ A u f b a u " von Seinsregionen, ein „ G e f ü g e " , i n dem der Mensch — an sich ein leeres X — w o h n t : Mensch u n d W e l t i n der D i s j u n k t i o n . V o n den einzelnen Seinsgebieten u n d ihrer F u n k t i o n zur Totalität w i r d bei M. nichts anderes gesagt, als daß sie sich „entsprechen" (S. 10) u n d ihre „ G r u n d l a g e " i n dem , , w i r t -
91 schaftlich-machtmäßigen Gefüge" (S. 171) haben. Dies ist insofern ein Schritt hinter Max Weber zurück, als einmal bei diesem die aus dem agitatorischen Ursprung dieser ganzen Wirklichkeitskonzeption stammende Abhängigkeit aller anderen Regionen von der den Vorrang habenden Seinsregion weggefallen war u n d auch ihre gegenseitige „Entsprechung" als eine „psychologisch-pragmatische", das heißt motivationsmäßige interpretiert war. M. macht beides wieder rückgängig. Das „Entsprechen" des jeweiligen Bewußtseins u n d der dazugehörigen Seinslage, das W i e dieser Abhängigkeit bleibt bei i h m i m D u n k e l des Terminus „ n o ologisch" verborgen. Psychologisch soll das Verhältnis nicht sein, weil m a n das n u r von einzelnen I n d i v i d u e n sagen könne, es sich hier aber u m „ K o l l e k t i v i t ä t e n " handle (Seite 9 f . ) 5 . Andererseits hält aber Mannheim auch an j e n e m Aspekt der W i r k l i c h k e i t fest, der aus der Perspektive der physischen Machtwirklichkeit gewonnen ist. U n d i n der Tat ist es kein Zufall, daß die zentrale Abhandlung seines B u ches den T i t e l trägt: W i e ist P o l i t i k als Wissenschaft m ö g l i c h ? Die Gesamtheit aller Untersuchungen u n d D a r legungen bleibt i m Horizont der politischen „ P a r t i k u l a r i täten", die das 19. Jahrhundert ausgebildet hat u n d deren P r o d u k t der Begriff der Ideologie selbst ist. I n d e m M. als „ S e i n " sich eben diese W i r k l i c h k e i t als Basis seiner eigenen E r f a h r u n g zu eigen macht, die n u r die W i r k l i c h k e i t der politischen A k t i o n ist, verlegt er sich aber auch die Möglichkeit, die politisch-partikularen Standpunkte w i r k l i c h i n einem weiteren Horizont zu sehen. D e n n bei 5
Ob diese „ K o l l e k t i v i t ä t " aber nicht vielleicht selbst ein Bewußtseinsphänomen ist, d. h. obwohl kollektiv, dennoch n u r beim lebendigen Menschen w i r k l i c h seiend, und also die Meinung, Soziologie dürfe es i h r e m Namen nach n u r m i t „ K o l l e k t i v i t ä t e n " zu t u n haben, n u r ein V o r u r t e i l u n d Mißverständnis ist?
92 noch so viel Destruktion aller politischer Wirklichkeitsauslegung u n d ihrer Relativierung auf eine bestimmte gesellschaftlich-politische Situation, das heißt dem Nachweis der Partikularität aller dieser theoretischen Einsichten w i r d doch keine Totalitätsorientierung erreicht. Denn das „Ganze", dessen Partikularitäten die politischen Standpunkte sein sollen (S. n 5 f . ) ist von ihrer eigenen Ebene aus gar nicht zu sehen. Dieses „Ganze" liegt toto coelo jenseits der Ebene aller möglicher Partikulareinsichten u n d kann durch deren Zusammenstückung niemals i n den Blick kommen. Diese Totalitätsorientierung bleibt selbst i m m e r auf der Ebene der politischen Antithesen trotz endloser Relativierung u n d k o m m t nie dahin, dieses ,,seinsgebundene D e n k e n " 6 zu transzendieren u n d die Analyse dahin zu treiben, daß das historische Prinzip f r e i w i r d , von dem aus die Mannigfaltigkeit der politischen Positionen aus der Einheit eines geschichtlich-gesellschaftlichen Motivs oder Motivationszusammenhangs als der Bedingung der Möglichkeit ihrer Ausbildung verstanden werden kann. Erst damit k o m m t m a n selbst i n die Dimension der geisteswissenschaftlichen Verstehensmöglichkeit. V o n da aus aber zeigt sich gerade M's. Unternehmen bei aller gedanklicher Schärfe u n d Umsicht als der unmögliche Versuch, aus der Partikularität seines W i r k lichkeitsbegriffes heraus über seinen eigenen Schatten zu springen 7 . 6
Es sollte heute eigentlich kein wissenschaftliches thema probandum mehr sein, daß alles Denken, auch das abstrakteste „seinsgebunden" ist, d. h. nicht etwa die F u n k t i o n eines bestimmten Seinsgebietes, einer „Lager u n g " , sondern selbst ein Charakter des So-Seins des Menschen, daß also „Bewußtsein" selbst „Sein" ist, j a sogar spezifisch das Sein des Menschen. 7 Da diese Auseinandersetzung hier n u r so weit verfolgt wird, als sie zum Verständnis des eigenen Zusammenhangs beiträgt, so bleibt die K r i t i k der von M . vollzogenen Enthistorisierung der Geschichte hier außerhalb. Der Nachweis, daß M . i n seiner Geschichtsauffassung zur Stufentheorie nach
93 I n den verschiedenen Spielarten der heutigen soziologischen Forschungsrichtungen, die i n i h r e m Thema sich z u m T e i l v ö l l i g von dem ursprünglichen sachlichen Fragezusammenhang losgelöst haben, sind dennoch manche Charaktere, die jener Fragezusammenhang der Forschung gegeben hat, i n formaler Weise erhalten geblieben. E i n m a l schon der besonders nahe Zusammenhang m i t der Ökonomie, der nicht n u r durch Marx gestiftet worden ist, sondern — wie w i r alsbald sehen werden — i n dem Sachzusammenhang selbst begründet ist, aus dem heraus die sozialen Fragen z u m Thema der wissenschaftlichen B e m ü h u n g geworden waren. Dann kehren aber auch die drei oben als konstitutiv bezeichneten Charaktere i n verschiedener K o m b i n a t i o n u n d häufig m i t Wissenschaftstendenzen ganz anderer H e r k u n f t — naturwissenschaftlicher, rassenbiologischer usw. — zusammengekoppelt i m m e r wieder. D i e als Totalitätsanalyse gekennzeichnete soziologische Forschungsrichtung, die sich w o h l auch als morphologische bezeichnet, zeigt den ,,Fundamentalcharakter 4 4 i n ihrer Tendenz der universalen Gesamtanalyse aller „gesellschaftlichen Erscheinungen" u n d hat dementsprechend die historische Interpretation zur Morphologie umgebildet. Der ursprüngliche Fundamentalcharakter kehrt bei Oppenheimer m i t wesentlich Comteschen Zügen wieder i n der Idee einer alle anderen sozialen Einzelwissenschaften krönenden Generalwissenschaft, der „ K ö n i g i n " der Sozialwissenschaften, während die historische Interpretation zur Gewinnung von Entwicklungsgesetzen abgewandelt ist. Diese formale Übernahme, der n u r aus der Sacheigenart der Probleme resultierenden Forschungscharaktere auf ganz Comteschem Schema zurückkehrt — siehe z. B. die E n t w i c k l u n g von der „Schicksalsethik" zur „Verantwortungsethik", S. 167, die E n t w i c k l u n g zur Einengung des irrationalen Spielraums u. a. — bleibt anderweitiger P u b l i kation vorbehalten.
94 andere Fragetendenzen u n d Forschungsabsichten, w i r d sich noch deutlicher abheben, wenn jene f ü r die „Wissenschaft v o n der Gesellschaft" (Lorenz v. Stein) konstitutiven Bestimmungen aus den fraglichen Phänomenen selbst heraus ihre nähere A u f k l ä r u n g finden werden. A n dieser Stelle jedoch soll eine Tendenz der wissenschaftlichen Forschung noch zur Sprache kommen, die zwar nicht n u r innerhalb des von uns dargestellten soziologischen Forschungszusammenhanges w i r k s a m w i r d , sondern auch philosophisch sowohl bei D i l t h e y 8 als auch bei Nietzsche lebendig ist i n i h r e n Bemühungen u m das Verständnis leitender Ideen u n d sittlicher Kategorien aus den psychologisch-pragmatischen Motivationen der Menschen u n d unter F o r t f a l l f r e i schwebender Deduktionen des „ r e i n e n " Begriffes aus einem konstruierten System des Geistes. Diese Verlebendigung der Wissenschaft hat auch aus dem soziologischen Forschungszusammenhang entscheidende Anstöße erhalten. Marx hat von Feuerbach den I m p u l s zur Entdeckung der „ W i r k l i c h keit des Menschen" erhalten, u n d er hat sie gefunden i n den Erwartungen, Wünschen u n d stillen Ansprüchen, i n denen die Menschen i n der W e l t leben u n d die Marx bestimmt sieht durch ihre von den gesellschaftlichen, das heißt bei i h m wirtschaftlichen Verhältnissen ermöglichte oder verhinderte V e r w i r k l i c h u n g . So mündet seine Untersuchung i n dem E r gebnis, „ d a ß Rechtsverhältnisse wie Staatsformen weder aus sich selbst zu begreifen sind, noch aus der sogenannten allgemeinen E n t w i c k l u n g des Geistes, sondern vielmehr i n den materiellen Lebensverhältnissen wurzeln, deren Gesamt8
Aber ganz besonders i n den Anregungen York von Wartenburgs i n seinem Briefwechsel m i t Dilthey. Siehe Briefwechsel zwischen W i l h e l m Dilthey und dem Grafen Y o r k von Wartenburg, Halle 1923, S. 167 und passim.
95 heit Hegel . . . unter dem Namen ^bürgerliche Gesellschaft 4 zusammenfaßt 4 4 . D i e Analyse der „gesellschaftlichen 4 4 Lebensverhältnisse als der w i r k l i c h e n W e l t des Menschen ist von da aus leitend geworden f ü r die Soziologie u n d hat sich über Max Weber i n früheren Arbeiten von K a r l M a n n h e i m 9 fruchtbar erwiesen. Aber nicht erst von Marx geht diese Tendenz aus. Das Verständnis leitender Ideen aus den pragmatisch-psychologischen Zusammenhängen der gesellschaftlichen W i r k lichkeit drängt sich dem aufmerksamen u n d offenen Sinn des Forschers aus den Phänomenen selbst auf, sofern sie erst einmal überhaupt f ü r i h n thematisch werden. Trotz der von Hegel stark beeinflußten Zugangsweise Steins ist seine ganze Sachbehandlung tatsächlich nichts anderes als eine i m gekennzeichneten Sinn unternommene A u f k l ä r u n g der sozialistischen Ideen, u n d ausdrückliche Bemerkungen zeigen i m m e r wieder, daß er sich der Auskunftsquelle über die Bedeutung staatlicher Institutionen oder über die W i r k u n g s möglichkeit von Persönlichkeiten u n d ihrer Ideen bewußt ist10. 9
K a r l Mannheim, Das konservative Denken, Archiv f . Sozialw. u. Sozialpol. Bd. 57. 10
I n „ D e r Sozialismus und Gommunismus des heutigen Frankreichs* E i n Beitrag zur Zeitgeschichte, Leipzig 1842, S. V heißt es, nachdem alle einzelnen Einrichtungen menschlicher Gesellschaft i n ihrer selbständigen wissenschaftlichen Behandlung aufgezählt wurden: „Stehen sie nicht unmittelbar, täglich, gegenseitig bestimmend miteinander i n Berührung, zugleich auf demselben Boden, i n demselben Ganzen arbeitend u n d w i r kend? . . . W o ist n u n die Idee, die dieses wirkliche Ganze zu einem Ganzen i n der Anschauung erhebt? — W i r haben sie bis jetzt n i c h t ; ein einziges W o r t m u ß uns diesen Mangel verdecken und es verdeckt i h n schlecht. Es ist die Gesellschaft, i n deren Begriff die Lösung jener Aufgabe liegt. 4 4 Deshalb ist auch „ d i e Gesellschaftslehre die unentbehrliche Grundlage u n d Voraussetzung der Rechtswissenschaft"; System der Staatswissenschaft
96 W i r werden diese Forschungstendenzen sogleich bei der Vergegenwärtigung der von Stein gesehenen Sachzusammenhänge als ständig leitende erkennen, denn es gilt jetzt, diese Sachzusammenhänge selbst zu gewinnen, nicht nur u m zu erkennen, wie später trotz der formalen Übernahme der f ü r ihre Forschung grundsätzlichen Merkmale der Sachzusammenhang selbst verloren gegangen ist, sondern auch, u m zu verstehen, daß die gekennzeichneten drei konstitutiven Charaktere der wissenschaftlichen Bemühungen u m das Phänomen der Gesellschaft n u r aus dem Sachzusammenhang selbst heraus sinnvoll sind.
b) D i e „Gesetze" der sozialen Bewegung aus dem Gegensatz zwischen Staat und Gesellschaft. Selten findet sich i n der jüngeren Geschichte der Wissenschaft eine solch fast vollständige Übereinstimmung nicht n u r i m Thema, sondern auch i m Zusammenhang seiner E r fassung, wie es bei Marx u n d Lorenz Stein der F a l l ist. Einige Punkte dieser Übereinstimmung sind schon von Ernst G r ü n f e l d i n seiner Arbeit über „ L o r e n z von Stein u n d die Gesellschaftslehre'' herausgestellt w o r d e n 1 1 : ,,Stein u n d M a r x haben gemeinsam: die moderne Auffassung des Proletariats, die Verwertung seines Klassencharakters zum A u f bau der Gesellschaftsordnung, die auf wirtschaftlicher Grundlage i n Klassen organisierte Gesellschaft m i t ihren aufeinander folgenden Stufen, die ökonomische Deutung ihres Werdens u n d Vergehens, die Beherrschung der allBd. I I , S. 61. U n d ebenso ist die Bedeutung und W i r k u n g Robespierres n u r verständlich, „sowie man die Geschichte der gesellschaftlichen Entwickl u n g i n Frankreich vor Augen hat". Geschichte der sozialen Bewegung, München 1921, Bd. I , S. 297. 11 Jena 1910, S. 289.
97 gemeinen Geschichte, insbesondere der Staatengeschichte durch die v o m Güterleben bestimmte Gesellschaft, das A u f treten des Proletariats als kämpfender Gesellschaftsklasse, die Notwendigkeit eines neuen Gesellschaftsideals u n d die Freiheit als das Ziel menschlichen F o r t s c h r i t t s / ' Diese u n geordnete Aufzählung der beim ersten Hinsehen sich zunächst schon aufdrängenden Übereinstimmungen f ü h r t zurück a u f die Tatsachen der W i r k l i c h k e i t selbst, die sich sowohl Stein als auch Marx unter e i n e m ganz bestimmten Aspekt aufdrängten. D a r u m w i r k t j a auch der literarische Streit zwischen dem Marx-Biographen Franz Mehring u n d Peter von Struve so sehr deplaziert 1 2 , der sich d a r u m dreht, ob Marx von Stein etwas übernommen habe oder ob eine „Beeinflussung 4 4 nicht i n Frage k o m m t , da doch niemand, weder Mehring noch Struve, noch auch Grünfeld, der über diese Fehde berichtet, a u f den Gedanken k o m m t , daß sow o h l Stein als auch M a r x m i t der ihnen gegebenen E i n d r i n g lichkeit der Anschauung sich i n denselben aufdringlichen Tatsachen orientierten, die jeder von ihnen ganz originär ergriff. So ist es eben ein u n d derselbe phänomenale Z u sammenhang, f ü r dessen Analyse jedem von beiden sich die Möglichkeiten boten, die i n den Sachen u n d der wissenschaftlichen Tradition, i n der beide standen, begründet lagen. Marx hatte nicht die Absicht, eine neue Wissenschaft zu begründen; er war selbst seit seinem Berliner S t u d i u m der Erbe einer revolutionären Tradition, die er m i t Leidenschaft sich zu eigen machte u n d f ü r die die theoretische Forschung ausdrücklich den Charakter der „Selbstverständigung" trug, 12
Neue Zeit X I V , 2 (Stuttgart 1896), S. 4 — n u. 48—55. Mehring, Neue Zeit X V , 1, S. 4 4 9 — 4 5 5 , dagegen Struve, Neue Zeit X V , 2, S. 22 3 bis 2 35 und 269—275 und dagegen wieder Mehring ebenda S. 379—382. Landshut, Kritik der Soziologie.
7
98 einer Selbstverständigung i m Sinne einer E n t w i c k l u n g nachhaltiger Möglichkeiten einer notwendigen Revolutionierung der W e l t . Das Feld dieser entscheidenden Veränderung aber war die „Gesellschaft". D i e „Wissenschaft von der Gesellschaft" aber war das vorwiegend theoretische Interesse Steins, u n d zwar eben von der Gesellschaft, i n der er selbst die entscheidenden Momente revolutionärer Veränderung entdeckte u n d erstmalig i n i h r e m fundamentalen Zusammenhang m i t den geistigen Lebenselementen der „ c h r i s t l i c h germanischen 4 4 W e l t z u m Verständnis brachte. Es ist schließl i c h auch derselbe I m p u l s dieses „christlich-germanischen 4 4 Lebens, den Stein bei seinem Aufenthalt i n Paris anfangs der vierziger Jahre i m Kreise der führenden Männer der sozialen Bewegung u n d i n m i t t e n der seit der Revolution von 1789 noch i m m e r unsicheren Verhältnisse zu spüren bekam, der auch über Kant, Fichte u n d Hegel 1 3 den Kreis der L i n k s hegelianer erfüllte, i n dem Marx die Jahre seines Berliner Studiums lebte u n d der i h m die ersten u n d grundlegenden Handhaben seiner eigenen Stellung vermittelte. Es sindalso grundsätzliche Zusammenhänge dieses „ c h r i s t lich-germanischen" Lebens, die sowohl f ü r Stein wie f ü r Marx z u m Thema wurden. W i e — so ist zu fragen — drängten gerade diese Zusammenhänge dazu, eine neue Wissenschaft zu begründen? Diese Fragestellung f ü h r t auf den W e g , die eigentlich thematischen Sachzusammenhänge von ihrer theoretischen Erfassung aus i n den B l i c k zu bekommen. Dies hat den Vorteil, daß dabei zweierlei gewonnen w i r d : einmal die Einsicht i n die H e r k u n f t der theoretischen Methode aus den Phänomenen selbst u n d zweitens 13 Siehe Franz Rosenzweig, Hegel und der Staat, München und Berlin 1920, Bd. i , S. i 8 f . und R. Fester, Rousseau und die deutsche Geschichtsphilosophie, Stuttgart 1890.
99 die P r ü f u n g dieser historischen W i r k l i c h k e i t i n Bezug a u f die Angemessenheit ihrer theoretischen Erfassung. Stein hat selbst das Bedürfnis empfunden, sich i n dieser Richtung zu rechtfertigen. Er hat i n „ D e r Sozialismus u n d Communismus des heutigen F r a n k r e i c h s " 1 4 , dann i n der „Geschichte der sozialen Bewegung i n Frankreich von 1789 bis auf unsere T a g e " 1 5 u n d schließlich i n „ D a s System der Staatswissenschaft" 1 6 Bd. I I diese Rechtfertigung i n der Auslegung der geschichtlichen E n t w i c k l u n g selbst i m Z u sammenhang m i t einer bestimmten Idee von Wissenschaft zu geben versucht 1 7 . Eine Gesellschaftslehre, wie Stein sie i 8 5 6 als zweiten Teil eines Systems der Staatswissenschaft ausgeführt hat, dessen dritter T e i l eine Staatslehre bilden sollte, hat i h m zwar als „Wissenschaft von der Gesellschaft" von jeher vorgeschwebt, hat aber ihre sachliche Anregung nicht aus wissenschaftstheoretischen Erwägungen erhalten, sondern aus der eindringlichen u n d umfangreichen Beschäftigung u n d der persönlichen E r f a h r u n g m i t den sozialen Theorien u n d der sozialen Bewegung seit 1789. Das Bedürfnis nach einer allgemeingültigen Systematik der gesellschaftlichen Phänomene hat er aber dem von Hegel stammenden Begriff von Wissenschaft entnommen, der sich n u r i m System er14 15
18^2, Leipzig, zitiert als S. u. C. i 8 5 o , zitiert als G. d. s. B. nach der Ausgabe von Salomon, München
1921. 16
i 8 5 6 , zitiert als S. d. St. D a m i t hat Stein als einziger den i n der damaligen Zeit nicht seltenen Bestrebungen auf Begründung u n d Rechtfertigung einer Wissenschaft von der Gesellschaft m i t einer positiven Leistung und konkreten Fragiezusammenhängen entsprochen, während die übrigen recht vagen Projekte von Mohl, Riehl, Lavergue, Ahrens usw. der K r i t i k von Treitschke (H. v. Treitschke, Die Gesellschaftswissenschaft, Leipzig 1859) nicht standzuhalten vermochten. 17
7*
100 f ü l l t u n d dazu einer Idee von Allgemeingültigkeit, deren U n angemessenheit aus den von Stein selbst entwickelten historischen Zusammenhängen sich erweisen w i r d . Diese „innere Folgerichtigkeit" (S. d. St. I I , i 4 ) des Systems soll sich aus der „Gesellschaft an sich" deduzieren, die „als die Erf ü l l u n g des reinen Begriffs der Gesellschaft angesehen werden m u ß " (ibid. S. 18). Dieser reine Begriff der Gesellschaft, der sich „ a u f jdie Natur des Dinges oder dasjenige, was i n jedem Wechsel dauernd b l e i b t " (ibid. S. 17) bezieht, ist „ n u r durch die Tätigkeit des reinen Denkens gefunden". D i e „ w i r k l i c h e Gesellschaft" aber i n ihrer ständigen Veränderung'ist ein P r o d u k t der E i n w i r k u n g e n aller Verhältnisse u n d Erscheinungen, die ihren G r u n d außerhalb der Gesellschaft als solcher haben, des geistigen Lebens, der Eigentümlichkeit des Landes usw.: „ D i e Gesellschaftsordnung ist gar nicht denkbar anders als i n der Mitte aller dieser nicht gesellschaftlichen Verhältnisse, von ihnen bestimmt, sie wieder bestimmend, u n d i n dieser Gegenseitigkeit eben eine verschiedene werdend, j e nachdem jene i n A r t u n d Maß wechseln" (ibid. S. 19). Die E n t w i c k l u n g der „ w i r k l i c h e n " Gesellschaft vollzieht sich also a u f G r u n d der Prinzipien, die den reinen Begriff der Gesellschaft bilden i m Zusammenhang m i t den Prinzipien der nichtgesellschaftlichen Elemente der E n t w i c k l u n g : „ U n d i n der Tat ergibt das weitere Eingehen auf die durch die Verbindung der gesellschaftlichen O r d n u n g m i t jenen anderen Elementen entstehenden Gestaltungen des Lebens, daß diese Gestaltungen bestimmten erkennbaren Gesetzen unterliegen, die wiederu m ihren G r u n d teils i n der Natur der Gesellschaft, teils i n der Natur jener nichtgesellschaftlichen Verhältnisse haben" (ibid. S. 20). V o n „Gesetzen", die die historische E n t w i c k l u n g der gesellschaftlichen Verhältnisse beherrschen, spricht n u n Stein nicht n u r an dieser Stelle, w o i h m daran liegt,
101 „ d i e Notwendigkeit des Systematischen i n der Gesellschaftslehre" (ibid. S. 9) zu erweisen, sondern auch i n den f r ü h e ren Darstellungen der sozialen Bewegung selbst. B e i m Vergleich dessen aber, was hier jedesmal als „Gesetz" angesprochen w i r d , zeigt sich, wie die größere Entfernung von der Anschaulichkeit der historischen Fakten u n d der fixierte H i n b l i c k auf die Notwendigkeit eines Systems diejenige A n schauung i n Verlust geraten läßt, die i h n i n den früheren W e r k e n dazu bewogen hatte, von Gesetzen zu sprechen. Andererseits aber hat sich Stein aus der beobachteten Konsequenz der historischen E n t w i c k l u n g der sozialen Verhältnisse jenes „Gesetzmäßige" i n ihnen aufgedrängt u n d i n i h m die Möglichkeit der Konstituierung einer systematischen Wissenschaft von der Gesellschaft erweckt, deren Voraussetzung — ein allgemeiner Begriff des Gegenstandes u n d eine seinem Prinzip innewohnende Gesetzlichkeit — i h m aus dem tradierten naturalistischen u n d Hegeischen Begriff von Wissenschaft vorgegeben war. I m m e r wieder bedient sich Stein i m Verlauf der Darstellung der sozialen Bewegung i n Frankreich der Rede von Gesetzen. Gleich i m Anfang spricht er von der seit dem Erscheinen von S. u. C. inzwischen ausgebrochenen Revolution von i 8 4 8 als einer Bestätigung seiner damaligen Voraussage, die m i t Notwendigkeit sich erfüllen m u ß t e : „ K a m sie m i t Notwendigkeit, so kam sie infolge eines bestimmten Gesetzes. Gab es aber ein Gesetz, so m u ß t e dieses Gesetz wichtiger sein als das, woran es zur Erscheinung kam, das Gesetz der sozialen Bewegung wichtiger als die Tatsachen des Sozialismus u n d selbst die der sozialen Revolution. Denn dies Gesetz hat dann nicht etwa i m Jahre i 8 4 8 u n d 1849 bestanden, sondern es ist ein ewiges; es ist m i t der menschlichen Gesellschaft selber gegeben, u n d wie es die Ereignisse seit Jahrhunderten geleitet hat, so w i r d , so
102 m u ß es die Ereignisse auch i n den k ü n f t i g e n Jahrhunderten leiten. Das Dasein eines solchen Gesetzes war die Überzeugung, die die neueste Zeit j e d e m V e r n ü n f t i g e n einprägen m u ß t e . " (G. d. S. B . I , 2.) U n d an einer anderen Stelle: „ E s ist die französische Geschichte von 1789 bis z u m gegenwärtigen Augenblick keine große Tat dieses Reiches, sondern sie ist nichts als die reinste, von keinen anderen E i n flüssen gestörte Erscheinung der G e s e t z e , w e l c h e d i e B e w e g u n g e n des p o l i t i s c h e n u n d g e s e l l s c h a f t l i c h e n L e b e n s b e h e r r s c h e n . " ( I b i d . S. 1^7. Sperrung i m Text.) A n der E n t w i c k l u n g der französischen Verhältnisse w i r d die allgemeine G ü l t i g k e i t dieser Gesetze n u r exemplifiziert, derjenigen Gesetze, die die gesellschaftlichen Verhältnisse schlechthin beherrschen. W ä h r e n d i m S. u. C. n u r von einer f ü r die christlich-germanische W e l t charakteristischen E n t w i c k l u n g gesprochen w i r d u n d nach einem Element i n der Geschichte dieser V ö l k e r geforscht w i r d , aus dem heraus die sozialen Ideen u n d die Eigenart des Proletariats zu verstehen sind (S. u. C. S. i47)> w i r d dann m i t der stärkeren A n näherung an die Notwendigkeit einer Systematik, wie sie der G. d. s. B . vorausgesetzt ist (S. 1 — 1 3 8 ) , die historische W i r k l i c h k e i t i m H i n b l i c k a u f die A l l g e m e i n g ü l t i g k e i t mehr z u m „ i r r e l e v a n t e n Gegenstand einer Analyse". Diese Analyse ist aber nichtsdestoweniger i n solch unmittelbarer u n d lebendiger Anschauung der historischen W i r k l i c h k e i t selbst d u r c h g e f ü h r t , daß sie uns den greifbarsten A u f s c h l u ß gibt über die Eigenart jener „ n o t w e n d i g e n " Folgerichtigkeit der historischen E n t w i c k l u n g , die E i g e n t ü m l i c h k e i t der Gesetzm ä ß i g k e i t u n d die Möglichkeit eines „ r e i n e n " Begriffs der Gesellschaft. A u f dem Wege dieses Nachweises w i r d der v o n Stein erstmals gesehene Gesamtzusammenhang der sozialen P r o b l e m a t i k selbst sichtbar werden u n d daran die drei
103 konstitutiven Charaktere der Forschung z u m Verständnis kommen. Welches also ist dies „ewige" Gesetz, das „ m i t der menschlichen Gesellschaft selber gegeben" ist? W e n n „das Leben der menschlichen Gemeinschaft aus dem beständigen Stoß u n d Gegenstoß von Staat u n d Gesellschaft besteht" u n d „dieser lebendige Gegensatz den wahren Inhalt aller inneren Geschichte der Völker b i l d e t " (G. d. s. B. 34), so m u ß sich diese antinomische Bewegung, dieser ständige K a m p f zwischen Gesellschaft u n d Staat aus dem „ r e i n e n " P r i n z i p des Staates u n d dem der Gesellschaft verstehen lassen. Es ist also nachzusehen, wie aus dem Prinzip des Staates zusammen m i t dem P r i n z i p der Gesellschaft sich die Notwendigkeit einer E n t w i c k l u n g ergibt, die sich i n dem beständigen K a m p f zwischen beiden e r f ü l l t u n d i n einer Gesetzmäßigkeit verläuft, der sich „ d i e menschliche Gemeinschaft" nicht entziehen kann. Das P r i n z i p des Staates entwickelt n u n Stein an dem Begriff der Persönlichkeit 1 8 . Persönliches Leben ist s e l b s t b e s t i m m t e s Leben. „ D i e K r a f t , welche diese Selbstbestimmung vollzieht, ist der W i l l e " (ibid., S. i 5 ) . „ D e r Staat ist die zur persönlichen Einheit erhobene Gemeinschaft des W i l l e n s aller einzelnen" (ibid., S. 35). Die E r f ü l l u n g der Idee der Persönlichkeit, die i n der V e r v o l l k o m m n u n g ihrer selbst besteht, läßt den Staat als „höchste Persönlichkeit" zur „höchsten E n t w i c k l u n g " bestimmt sein. D a er aber selbst nichts anderes ist als die zum selbständigen W i l l e n erhobene Gemeinschaft aller 18
Das merkwürdige Zusammengehen teils Hegelscher, teils rein liberaler Charaktere i n der Anschauung des Staates bei Stein soll hier unberücksichtigt bleiben. Die Möglichkeit ihrer widerspruchslosen Verträglichkeit ist aber ein Hinweis auf ein gemeinsames Fundament ihrer Ausbildung, das bei Rousseau deutlich erkennbar ist; siehe die Arbeit des Verfassers „ Ü b e r einige Grundbegriffe der P o l i t i k " , a. a. 0 .
104 Einzelnen, so ist notwendig das Maß der E n t w i c k l u n g aller Einzelnen die Grenze seiner eigenen Entwicklung. Es fordert also die Idee des Staates selber, daß er u m seiner eigenen höchsten E n t w i c k l u n g w i l l e n die E n t w i c k l u n g aller Einzelnen fördern m u ß , er m u ß „das F o r t k o m m e n , den Reicht u m , die K r a f t u n d Intelligenz a l l e r einzelnen durch seine eigene höchste Gewalt a n s t r e b e n . . . " (ibid., S. 35). Dies ist „also die n o t w e n d i g e Aufgabe f ü r seine Tätigkeit. Oder sie ist, m i t einem W o r t ausgedrückt, sein P r i n z i p " (ibid., S. 36). U n d zwar bezieht sich diese Aufgabe auf die Förder u n g a l l e r , denn die E r f ü l l u n g dieser Aufgabe „ w i r d eine u m so schlechtere sein, j e größer die Zahl u n d Not derer ist, welche sie vernachlässigt" (ibid., S. 37). W e n n dieses P r i n z i p des Staates sich i n der W i r k l i c h k e i t nicht rein durchzusetzen vermag, so kann dies offenbar nicht i n i h m selbst liegen. Es m u ß ein anderes geben, das dieser V e r w i r k l i c h u n g entgegensteht: dies andere ist die Gesellschaft. Auch das Lebensprinzip der Gesellschaft ist n u r verständlich aus dem Begriff der Persönlichkeit. D i e Selbstbestimmung der einzelnen Persönlichkeit, die auf ihre höchste E n t w i c k l u n g zielt, verwirklicht diese ihre Bestimm u n g i n der „ B e w ä l t i g u n g des natürlichen Lebens durch das persönliche" (ibid., S. 1 9 ) ; das soll aber hier nichts anderes heißen als durch die Aneignung u n d die Herrschaft über die materiellen Güter, nicht n u r als der Voraussetzung, sondern als der E r f ü l l u n g der menschlichen Bestimmung. So ist das Maß der Güter u n d Genüsse, über die j e m a n d zu verfügen vermag, das Maß der E r f ü l l u n g seiner eigenen Persönlichkeit. „Jeder einzelne ist, wie gezeigt, von dem Element der Güter i n seiner persönlichen E n t w i c k l u n g a b h ä n g i g " (ibid., S. 22). „ D a n u n aber alle Güter i m Eigent u m sind u n d das Eigentum das Gebiet des freien persönlichen Einzelwillens bildet, so ist auch dasjenige, was die
105 Voraussetzung des Erwerbs des einen bildet, i m Eigentum u n d m i t h i n i n dem W i l l e n des anderen" (ibid., S. 2 3). Ist damit schon eine vollkommene g e g e n s e i t i g e Abhängigkeit des einen von dem anderen begründet, die i n dem einander bedingenden u n d ergänzenden System der Gütergewinnung angelegt ist, so w i r d diese Abhängigkeit zu einer e i n s e i t i g e n dadurch, daß z u m Erwerb der Güter das Zusammenw i r k e n von Arbeit u n d Besitz gehört. „ D i e j e n i g e n n u n , welche auf diese Weise den Stoff der Arbeit als Eigentum besitzen, besitzen damit die allgemeine Voraussetzung des Erwerbs f ü r alle, welche kein Eigentum haben." Es stellt sich also damit i n der Befriedigung des Systems der B e d ü r f nisse eine selbsttätige O r d n u n g her, die eine O r d n u n g der Abhängigkeit der Nichtbesitzenden von den Besitzenden ist. Diese Ordnung, „ d u r c h die Verteilung der Güter bedingt, durch den Organismus der Arbeit geregelt, durch das System der Bedürfnisse i n Bewegung gesetzt..., ist die m e n s c h l i c h e G e s e l l s c h a f t " (ibid., S. 29). I n der „Gesellschaft" also ist die E r f ü l l u n g des eigentlichen Daseinssinnes, die E r f ü l l u n g der persönlichen Bestimmung n u r zu erreichen durch den „ E r w e r b der Mittel, welche den einen von dem anderen abhängig machen" (ibid., S. 4 i ) . D i e Abhängigkeit anderer w i r d so z u m M i t t e l der persönlichen Vollendung. „ D a s I n t e r e s s e , i n d e m es den Mittelpunkt der Lebenstätigkeit j e d e s einzelnen i n Beziehung a u f jeden anderen, m i t h i n der ganzen gesellschaftlichen Bewegung abgibt, ist daher das P r i n z i p d e r G e s e l l s c h a f t " (ibid., S. 43). Es ist i h r Prinzip, w e i l dieses tätige Verhalten des Einzelnen nicht ein willkürliches oder zufälliges, sondern ein aus der E r f ü l l u n g seiner menschlichen B e s t i m m u n g notwendig sich ergebendes ist. Dies sind die Prinzipien des Staates u n d der Gesellschaft, „ d e r beiden Lebenselemente aller menschlichen Gemein-
io6 schaft" (ibid., S. 3 i ) . Sie sind i h r „Lebensgesetz", das „ i n der Natur der Sache selbst" begründet ist. Liegt es i n der Idee des Staates, alle Einzelnen i n gleicher Weise zu schützen u n d sie zu fördern, so ist i n der Gesellschaft stets die A b hängigkeit der einen Klasse das Interesse der anderen. U n d diese Abhängigkeit verfestigt sich u m so mehr, als die der höheren B i l d u n g teilhaftige besitzende Klasse auch diejenige ist, die sich i n der F ü h r u n g u n d Leitung der Staatsverwalt u n g betätigt u n d dank der Voraussetzungen, die sie zur Ausübung dieser Tätigkeit m i t b r i n g t , zugleich zur herrschenden Klasse w i r d . Diese Herrschaft w i r d sie benutzen, u m m i t der Macht des Staates ihre eigene Stellung zu befestigen u n d jene Abhängigkeit der anderen zu einer dauernden zu machen. D a m i t widerspricht sie aber der Idee des Staates selbst. Daraus folgt, „daß der (wirkliche) Staat unvermögend ist, eine Stellung a u ß e r h a l b der Gesellschaft einzunehmen" (ibid., S. 5 i ) , daß er vielmehr selbst i n seiner Verfassung u n d Verwaltung n u r „die Konsequenz oder die Erscheinung der Gesellschaftsordnung i m Organismus der Staatsgewalt i s t " (ibid., S. 69). Dadurch aber w i r d die Gesellschaft „ d e r w a h r e Q u e l l a l l e r F r e i h e i t u n d U n f r e i h e i t " (ibid., S. Ö2). So zeigt sich, „ d a ß das Prinzip des Staates m i t dem P r i n zip der Gesellschaft i n direktem Widerspruch steht' 4 (ibid., S. 45). „ D a n u n aber der Gegensatz von Staat u n d Gesellschaft das L e b e n der menschlichen Gemeinschaft ist, so sind diese Gesetze, einmal gefunden, die Gesetze des L e b e n s d e r m e n s c h l i c h e n G e m e i n s c h a f t überhaupt" (ibid., S. 46). U n d damit w i r d f ü r Stein der Gegensatz von Staat u n d Gesellschaft z u m Kanon jeder historischen Interpretation. W i r werden zu sehen haben, wie gerade diese A n t i thetik selbst einer ganz zpezifischen konkreten historischen Situation entspringt.
107 Diese einleitende Systematik einer Wissenschaft von der Gesellschaft, die Stein dann später ausgebaut hat zu einer Gesellschaftslehre als zweiten T e i l seines Systems der Staatswissenschaft, stellt sich dar als eine aus dem „ r e i n e n " Begriff des Staates u n d der Gesellschaft durch das reine Denken entwickelte allgemeingültige Gesetzlichkeit. Aber schon die Lektüre der n u n folgenden „Sozialen Geschichte der französischen Revolution bis zum Jahre i 8 3 o " u n d der beiden weiteren Bände bis zum Schluß „ D i e Souveränität der industriellen Gesellschaft i n Frankreich seit der Februarrevolution" lassen es zur aufdringlichen Gewißheit werden — wenn m a n ganz davon absieht, wie Stein selbst überhaupt zu diesem Thema gekommen ist — , daß diese allgemeinen Gesetze i n der Tat nichts anderes sind als eine Abstraktion aus den konkreten historischen Zusammenhängen. Unter dem Bann einer starren Idee von Wissenschaft u n d der dieser Idee entsprechenden Tendenz auf Wissenschaftsbegründung k o m m t die historische E n t w i c k l u n g zur Darstellung i n der F o r m einer Ableitung aus den theoretisch deduzierten Prinzipien u n d Gesetzen. Aber nicht aus der historischen Darstellung wollen w i r versuchen, dies zu erweisen, sondern gerade aus den theoretischen D e d u k tionen selbst. M i t anderen W o r t e n : es ist n u n die nächste Aufgabe, zu erweisen, daß auch die „allgemeingültigen" Prinzipien, aus denen Stein den „ e w i g e n " Gegensatz von Staat u n d Gesellschaft herleitet, ihrerseits das Resultat ganz bestimmter geschichtlicher Voraussetzungen sind, u n d daß i h r wahres Verständnis n u r aus einer K l ä r u n g ihres geschichtlichen Bedeutungswandels zu gewinnen ist, das heißt aber, daß der geschichtliche Motivations- u n d Bedeutungszusammenhang sichtbar werden m u ß , auf den sich letzten Endes auch diese „allgemeingültigen" Prinzipien u n d Gesetze zurückführen lassen.
108
c) D e r fundierende Anspruch auf Freiheit und Gleichheit. Der ganze Steinsche Ansatz einer Antithetik von Staat u n d Gesellschaft ist überhaupt n u r möglich, sofern der Begriff von Staat seinerseits an einem ganz bestimmten Begriff von Gesellschaft orientiert ist u n d umgekehrt. „ D e r reine Begriff des Staates enthält, als die allgemeine Persönlichkeit, die Vielheit der einzelnen Persönlichkeiten o h n e U n t e r s c h e i d u n g . I n allen begrifflichen Untersuchungen ist der einzelne dem Staat gegenüber stets als dem anderen g l e i c h u n d f r e i gesetzt" (G. d. s. B. I , 47)- Das liegt aber nicht i m Begriff des S t a a t e s , sondern n u r i m Begriff des Staates, der den an sich gleichen u n d freien Individuen gegenüber als neutrale Machtinstanz das Spiel ihrer freien Kräfte zu regeln h a t 1 9 . Jene ihrerseits dem Staat gegenüber gleichen I n d i v i d u e n sind die Gesellschaft, u n d zwar gerade insofern, als sie der neutralen Zwangsgewalt gegenüber sich i n nichts unterscheiden. Staat u n d Gesellschaft verstehen sich überhaupt n u r eines aus dem anderen, sie sind integrierende Begriffe f ü r einen Gesamtzusammenhang, der n u r aus der Herk u n f t der Bedeutung von Gleichheit u n d Freiheit verständlich wird. Welches sind also die Voraussetzungen, die jenen „ e w i g e n " W i d e r s p r u c h zwischen Staat u n d Gesellschaft er19
Da Stein diesen Grundansatz verfehlt, k o m m t er dazu, der Idee des Staates nicht eine Idee der Gesellschaft, sondern n u r die wirkliche Gesellschaft gegenüberzusetzen, denn die Idee der Gesellschaft ist nicht ein Widerspruch, sondern n u r die Ergänzung zu d i e s e m Staat. Diese E i n seitigkeit hat auch Treitschke bemerkt (Gesellschaftswissenschaft, S. 84). So k o m m t der „Widerspruch", von dem Stein spricht, nicht zwischen Gesellschaft und Staat, sondern, wie gleich zu zeigen ist, zwischen der Idee der Gesellschaft und der wirklichen Gesellschaft oder, besser ausgedrückt, zwischen der I l l u s i o n von Gesellschaft und der faktischen zustande.
109 zeugen? Es s i n d d i e d e r G l e i c h h e i t u n d F r e i h e i t u n d die m i t i h r e r f u n d a m e n t a l e n B e d e u t u n g f ü r die E r f ü l l u n g des m e n s c h l i c h e n L e b e n s g e s e t z t e P r o b l e m a t i k . Eine Problematik, die sich aus ganz bestimmten Motivationszusammenhärigen ergibt u n d n u r da real sein kann, wo der Anspruch auf Gleichheit tatsächlich gehegt wird. Das, was Stein entdeckt hat, ist gar nicht „ d i e Gesellschaft" (a. a. 0 . , S. I i f . ) . V o n i h r ist schon seit einiger Zeit vor i h m stets die Rede gewesen, wenn auch bei Ferguson, Voltaire, Rousseau usw. jeweils i n ganz anderer Bedeutung. Die originäre Entdeckung Steins betrifft vielmehr die diese Gesellschaft beherrschende Problematik von Gleichheit u n d Freiheit u n d ihren Ursprung aus den G r u n d voraussetzungen des „christlich-germanischen" Lebens. D i e „Gesellschaft" — u n d dann allerdings i m m e r i n der A n t i thetik zum Staat — ist eigentlich n u r ein Titel, unter dem sich a l l die Spannungen, Widersprüche u n d Fraglichkeiten zusammenfassen, die m i t der W i r k s a m k e i t der Ideen von Freiheit u n d Gleichheit u n d ihrer leitenden Bedeutung f ü r die an das Leben gestellten Ansprüche u n d Erwartungen der Menschen sich ergeben. D a ß Stein selbst durchaus das Bewußtsein dieser fundamentalen Bedeutung der Problematik gehabt hat, zeigt sich an zwei Momenten: erstens an ihrer E n t w i c k l u n g aus dem Begriff der Persönlichkeit als „ d i e höchste Bestimmung des ganzen Erdenlebens" (ibid., S. 27) u n d zweitens an ihrer ausschlaggebenden F u n k t i o n f ü r die historische Interpretation: n u r aus dieser Problematik kann die Geschichte verstanden werden. M i t naturrechtlicher Selbstverständlichkeit n i m m t Stein Freiheit u n d Gleichheit (wenigstens i n seinem systematischen Teil, nicht i m historischen, wo er vom „ U r s p r u n g der Ideen der Freiheit u n d Gleichheit" spricht [ i b i d . , S. 176] u n d ihre Geschichte von
110 Chr. W o l f f ab verfolgt) als Konstituentien des menschlichen Daseins, das er i n seinem Begriff der Persönlichkeit charakterisiert. Der Begriff der Persönlichkeit bei Stein ist aber gerade i n der Grundsätzlichkeit seiner Darstellung d o k u m e n t a r i s c h d a f ü r , wie dasjenige Leben aussieht, f ü r das G l e i c h h e i t u n d F r e i h e i t e i n e g a n z s p e z i f i s c h e B e d e u t u n g haben. Solange Stein sich noch nicht festgelegt hatte auf die A b sicht der Konstituierung einer neuen Wissenschaft, das heißt solange er noch f r e i war von dem Hinblick auf Allgemeingesetzlichkeit u n d allgemeingültige Prinzipien, hatte er auch noch den freien B l i c k f ü r die geschichtlichen Voraussetzungen der von i h m gesehenen Problematik. Der i m S. u. C. einleitend dargestellten „ E n t w i c k l u n g des Egalitätsprinzips i n der französischen Geschichte" (S. 3 i f . ) geht eine Charakterisierung der Klasse voraus, f ü r die das P r i n z i p der Egalität zur ausgesprochenen Forderung w i r d : das Proletariat. „Es ist das Proletariat; die ganze Klasse derer, die weder B i l d u n g noch Eigentum als Basis ihrer Geltung i m gesellschaftlichen Leben besitzen, u n d die sich dennoch berufen fühlen, nicht ganz ohne jene Güter zu bleiben, die der Persönlichkeit erst ihren W e r t verleihen" (ibid., S. 7). Was also ist es, was dieses Proletariat kennzeichnet u n d was es eigentlich erst zu einer Klasse macht? „ V o n jeher gab es A r m e i n allen Staaten u n d V ö l k e r n " (ibid., S. 7). Nicht die A r m u t , das Elend ihrer Lage gibt dieser Klasse das Bewußtsein ihrer Gemeinsamkeit den anderen Klassen g e g e n ü b e r . Es besteht ein grundsätzlicher Unterschied zwischen dem A r m e n aller Zeiten u n d Völker u n d dem Proletarier. W o h l mag der A r m e nach einer Verbesserung seiner Lage streben, selbst wenn er sie als eine Schicksalsfügung h i n n i m m t . U n d sei es, daß er sich i n seine Lage f ü g t oder daß er durch arbeitsame Anstrengung sie zu
Ill verlassen sucht, so fehlt i h m doch eins: D e r A n s p r u c h auf die gleiche äußere Lebenslage m i t allen anderen (ibid. S. i 3 ) . Dieser Anspruch aus dem Gefühl der u n b e r e c h t i g t e n Benachteiligung bringt die Nichtbesitzenden den Besitzenden gegenüber erst i n die gemeinsame Situation einer Klasse, die sich der anderen Klasse gegenüber i n dem G e f ü h l solidarisch konstituiert, daß ihnen vorenthalten w i r d , was ihnen geb ü h r t . Was ihnen gebührt, worauf sie einen Anspruch haben — nicht aus diesem oder jenem Grunde, selbst nicht deshalb, weil es ihnen etwa durch Gewalt entzogen worden ist; das alles genügt nicht, u m die gemeinsame Gegensätzlichkeit sich bis zum unversöhnlichen Klassenhaß steigern zu lassen u n d die Intensität eines Wollens zu nähren, das mehr u n d mehr sich a u f den Umsturz aller bestehenden O r d n u n g konzentriert. Der Anspruch m u ß als ein fundamentaler empfunden werden, seine E r f ü l l u n g als die conditio sine qua non des Lebens. U n d so wie Marx sich nicht damit begnügt, aus dem Entzug des Mehrwerts durch den Kapitalisten den Grundanspruch der „ausgebeuteten" Klasse herzuleiten, sondern von deren Beseitigung „ d i e Emanzipation des Menschen" erwartet, so ist es die Idee der P e r s ö n l i c h k e i t , die Stein aufweist als leitend f ü r die Erhebung jenes Anspruchs u n d als das eigentliche Motiv, m i t dem „eine neue, bisher i n der Geschichte nie gesehene Bewegung i n der Gesellschaft beginnt, die tiefer u n d tiefer i n alle Verhältnisse, i n alle Grundsätze, i n allen Glauben h i n e i n d r i n g t " (G. d. s. B. I I , 9). Der Anspruch auf w i r k l i c h e Freiheit u n d w i r k l i c h e Gleichheit erwächst i m Menschen aus der Idee dessen, wozu er eigentlich — seiner „ N a t u r " nach — bestimmt ist. „Das Leben jedes einzelnen, a u f dem Widerspruch zwischen der inneren unendlichen B e s t i m m u n g u n d der Begrenzung durch die äußere W e l t gebaut, ist ein fortwährender K a m p f
112 der Persönlichkeit m i t dieser äußeren W e l t , i n welchem die erstere die letztere zu unterwerfen trachtet, während die letztere fortwährend von i h r sich abzulösen strebt" (G. d. s. B . I , 17). D i e U n t e r w e r f u n g der „ N a t u r " unter den W i l l e n des Menschen ist danach die elementare Voraussetzung f ü r die E r f ü l l u n g dessen, wozu der Mensch bes t i m m t ist, f ü r die „ B i l d u n g " der Persönlichkeit. Ihre A u f gabe ist „ d i e Bewältigung des natürlichen Lebens durch das persönliche" (ibid. S. 19). D a m i t verfügt der Mensch erst über die materiellen Güter, die i h m die „ B i l d u n g " erst er-* möglichen, das heißt sein „natürliches" Leben erst zu einem menschlichen machen. Das ständige Ringen u m diese Herrschaft macht das Leben des Menschen aus. Die Natur des Menschen, sein Streben nach höchster Vollendung seiner Persönlichkeit läßt i h n nach der Verfügung über die materiellen Mittel als der Voraussetzung dazu streben. Erst die V e r f ü g u n g über sie macht i h n eigentlich „ f r e i " . M i t diesem ursprünglichen Begehren des Menschen nach E r f ü l l u n g seiner Bestimmung ist gleichzeitig mitgegeben, daß alle Menschen ihrer „ N a t u r " nach gleich sind: die gleiche Möglichkeit der E r f ü l l u n g seines Lebens k o m m t jedem Menschen seiner Natur nach zu. Dieser Natur des Menschen entspricht eine natürliche Ordn u n g (ius naturae, ordre naturel); m i t i h r m ü ß t e auf die Dauer m i t oder ohne Revolution jede O r d n u n g i n W i d e r streit geraten, die als öffentlich-rechtliche Schranken f ü r die E n t w i c k l u n g des Menschen setzte, die nach anderen Unterscheidungen errichtet waren, als den i n der Natur des Menschen selbst angelegten. D i e Machtausstattung einer Person einer anderen gegenüber aus der Qualität ihrer Person konnte n u r als w i l l k ü r l i c h e Gewalt empfunden werden. „Puisque aucun h o m m e n'a une autorite naturelle sur son semblable, et puisque la force ne p r o d u i t aucun droit,
113 restent done les conventions pour base de toute autorite legitime p a r m i les h o m m e s . " 2 0 N u r diese conventions, diese Vereinbarungen können Recht sein, dem sich Menschen f r e i w i l l i g fügen. D a m i t ist die Idee einer Obrigkeit konstituiert, die nie durch die Autorität einer Persönlichkeit, sondern n u r durch diejenige des unpersönlichen Gesetzes erf ü l l t werden k a n n 2 1 . Der Staat w i r d zur systematischen Einheit der Gesetze, die f ü r alle i n gleicher Weise gelten u n d jedem die gleiche Möglichkeit der Bewegungsfreiheit garantieren. Die so i n ihrer individuellen Bewegungsfreiheit gesicherten Persönlichkeiten aber bilden i n dieser f ü r jeden freien u n d gleichen Chance: d i e G e s e l l s c h a f t . I n diesem Sinne ist der Staat die Voraussetzung f ü r die Gesellschaft, andererseits die Gesellschaft der freien (von keiner persönlichen Macht abhängigen) u n d (insofern) gleichen Persönlichkeiten die Voraussetzung f ü r den Staat 2 2 . I n dieser Integration hat n u r das eine i n dem anderen die Voraussetzung seiner Bedeutung. I n diesem Sachverhalt liegen die Keime zu aller Problematik, durch die „die Gesellschaft" ein besonderes Feld wissenschaftlicher Forschung wurde, aber 20
Rousseau, D u Contrat Social I , 4.
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Diese Grundkonstitution aller öffentlichen Verhältnisse ist heute so absolut selbstverständlich geworden, daß selbst der selbstherrlichste D i k tator sich davon nicht lösen könnte. E r kann alle M i t t e l finden, die Gesetze nach seinem W i l l e n zu gestalten, aber es wäre unmöglich, ihre A u t o r i t ä t f ü r sich persönlich i n Anspruch nehmen zu wollen. 22
Liberalismus und Demokratie sind keineswegs, wie i m m e r hervorgehoben wird, zwei verschiedene Staatsanschauungen (siehe zum Beispiel Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 187ff.); sie haben vielmehr beide i n dem gekennzeichneten Grundzusammenhang ihre Voraussetzung. Der Liberalismus bezieht sich nur auf die Freiheit innerhalb der G e s e l l s c h a f t als freie Möglichkeit der Betätigung .gegenüber dem Staat, während die demokratische Freiheit die politische Unabhängigkeit meint und dabei den S t a a t i m Auge hat gegenüber der Gesellschaft. Landshut, Kritik der Soziologie.
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114 ebenso der K e i m f ü r die Loslösung aller Fragen, die den „ S t a a t " u n d seine wissenschaftliche E r k u n d u n g zum alleinigen Gegenstand einer rein juristischen Disziplin gemacht haben, was er bis dahin nie gewesen w a r 2 3 . 23 V o n Seiten der Staatslehre w i r d heute gegen ihre herkömmliche Behandlung der V o r w u r f erhoben, daß sie aus einer, der Sache selbst unangemessenen Forderung nach „ O b j e k t i v i t ä t " ihre wichtigsten Probleme unerörtert läßt, weil sie außerhalb ihres Themas liegen bleiben. (R. Laun, Der Staatsrechtslehrer und die P o l i t i k , Arch. d. öff. Rechts, 43. Bd., S. i 4 5 f f . , besonders S. i 6 i f . , und H . Heller, Die Krisis der Staatslehre, Archiv f . Sozialw. u. Sozialpol. Bd. 55, S. 2 8 9 ^ ) Die Möglichkeit einer solchen Beschränkung aller wissenschaftlichen Erörterung vom Staat auf die j u r i stische Auslegung des Zusammenhangs des Systems der Gesetze, wobei der Staat der die Einheit stiftende Zurechnungspunkt ist, der Sache nach aber ganz eleminiert w i r d — so bei H . Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 1925 — , ist n u n selbst i n dem dargestellten Grundverhältnis von Staat und Gesellschaft angelegt. Die jeder persönlichen Herrschaft entrückte neutrale I n stanz, die sich i n dieser neutralen Unpersönlichkeit der Gesellschaft gegenüber als automatisch wirkendes Normensystem der f ü r älle i n gleicher Weise geltenden Regeln konstituiert, deren Anwendung lediglich von „Beamten" ausgeübt wird, die an ihrer W i r k u n g selbst uninteressiert sind, j a i n ihrer Ausübung selbst ihnen unterworfen sind, diese Instanz stellt sich tatsächlich dar als nichts anderes als ein System von Gesetzen. Die A u f k l ä r u n g seiner i h n konstituierenden Momente und seiner Funktionein scheint eine restlos juristische Aufgabe zu sein. Diese, durch den demokratischen Grundansatz nahegelegte Fiktion, w i r d noch unterstützt durch ein stillschweigendes, das heißt seiner selbst nicht bewußtes Interesse. Das Interesse nämlich an der Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung, die dieser Staat zu verbürgen scheint. Die faktische Funktionalisierung aller staatlichen Ordnung durch die gesellschaftlichen Machtverhältnisse scheint so aufgehoben zu sein und die bestehende Ordnung als „Recht" sanktioniert. W i e der Staat sich so auf der einen Seite n u r als der einheitliche Zurechnungspunkt des Rechts zeigt, so auf der anderen als die leere Potenz, die dem Recht die Wirksamkeit verleiht, das heißt als nichts als Macht. Der Staat w i r d so zur Orientierung aller konservativen Elemente, die Gesellschaft das Stichwort aller, die an der Veränderung der bestehenden Ordn u n g interessiert sind. V o n dieser Seite aus w i r d dann der Staat n u r sieht-
115 Die an den Staat als die Idee der ausgleichenden Gerechtigkeit u n d der den einzelnen gegenüber neutralen Ausgleichsinstanz geknüpften Erwartungen mußten enttäuschen. Das Bewußtwerden dieser Enttäuschung vollzog sich i n Frankreich i n einem außerordentlich kurzen Zeitraum. Jene Idee der Persönlichkeit, deren E r f ü l l u n g i n der Herrschaft über die materielle Natur, konkreter: i n der V e r f ü g u n g über die Güter zum Genuß u n d zur „ B i l d u n g " gesehen wurde, die dem Menschen erst den Sprung aus dem Reich der wirtschaftlichen Notwendigkeiten i n das Reich der genießenden Freiheit ermöglichten, diese E r f ü l l u n g des Lebens, die i h m a l s m e n s c h l i c h e m zukommen mußte, stieß gerade i n der Gesellschaft selbst a u f Voraussetzungen, welche einen T e i l der Menschen von vornherein von i h r e r Erreichung ausschlossen. Nicht deshalb, w e i l die Kräfte des einen geringer waren als die des anderen, sondern w e i l der Nichtbesitzende auch bei gleichen oder gar stärkeren Fähigkeiten dennoch dem Besitz gegenüber stets i n der Abhängigkeit blieb: i n der Abhängigkeit, bei Verwendung seiner Arbeitskraft auf den Besitz angewiesen zu sein. Dieser elementaren Tatsache gegenüber zeigt sich die Gleichheit i m Staat nicht n u r als v ö l l i g belanglos, sondern sogar umgekehrt, der Staat, der die bestehende Ordnung garantierte u n d sicherte, garantierte u n d sicherte damit den Ausschluß der bar als der „Ausschuß der herrschenden Klassen". Bei dieser Alternative fallen alle diejenigen Phänomene unter den Tisch, die der staatlichein Sanktionierung des Rechts ihre konkrete Bedeutung geben — Parteibildung, öffentliche Meinung, W i r k u n g nicht konstitutioneller Mächte usw. — und die i m Grunde erst die Problematik entdecken lassen, die i n dem W i d e r spruch jenes ganzen fiktiven Grundansatzes freier und gleicher Individuen i m Schutze einer neutralen Machtinstanz angelegt ist. D a m i t fallen alle Fragen wieder i n einen einheitlichen Explikationszusammenhang zurück, i n dem sie ursprünglich i m Naturrecht und i n der Sozialphilosophie des 18. Jahrhunderts gestanden hatten. *
ll6 Nichtbesitzenden von der E r f ü l l u n g dessen, was das Leben lebenswert machte, den Menschen zur Persönlichkeit bestimmte. So ist die Gesellschaft die durch die Verteilung der Güter bestimmte Ordnung, der Staat i n seiner wirklichen Verfassung n u r ,,die Konsequenz oder die Erscheinung der Gesellschaftsordnung i m Organismus der Staatsgewalt" (Stein, G. d. s. B. I , 69) u n d damit „ d i e Gesellschaft der wahre Quell aller Freiheit u n d U n f r e i h e i t ' D e r gleiche A n spruch a u f die E r f ü l l u n g d e r m e n s c h l i c h e n B e s t i m m u n g ist also von Stein als die eigentliche Quelle der sozialen Problematik entdeckt. N u r aus d i e s e m A n s p r u c h , i n d e m das L e b e n g e l e b t w i r d , i s t das P a t h o s des A n s p r u c h s a u f F r e i h e i t u n d G l e i c h h e i t , u n d ,,die G e s e l l s c h a f t " als das e i g e n t l i c h e F e l d d i e s e r P r o b l e m a t i k v e r s t ä n d l i c h . U n d damit ist der Umkreis eingegrenzt, i n dem die originäre soziale Problematik als w i r k liche Problematik einer Desillusion von Erwartungen zu verstehen ist. Jetzt ist erst der Sachzusammenhang sichtbar geworden, der f ü r alle soziologische Fragestellung fundierend ist; an i h m werden sich dann die drei oben angezeigten Grundcharaktere der Forschung abheben lassen.
v. Die Idee von Freiheit und Gleichheit als Voraussetzung einer möglichen sozialen Problematik. a) D e r Begriff der „Persönlichkeit" und seine Bestimmung durch Freiheit und Gleichheit bei Stein. I n der Interpretation der von Stein dargestellten sozialen Bewegung hat sich n u n der Sachzusammenhang der sozialen Problematik herausgehoben, der „ d i e Gesellschaft" zum
117 Thema einer besonderen Wissenschaft hat werden lassen. I n diesem Zusammenhang ließen sich auch schon die drei am Anfang herausgestellten charakteristischen Merkmale erkennen, die f ü r die späteren soziologischen Arbeitsrichtungen f o r m a l erhalten blieben, obwohl sich an die Stelle des o r i ginären Problemzusammenhangs der sozialen W i r k l i c h k e i t mehr u n d mehr beliebige Themata schoben, die n u r noch unter dem Gesichtspunkt der Gewinnung allgemeingültiger Begriffe u n d Gesetzlichkeiten Interesse gewannen. Bevor aber jene drei Eigenheiten der soziologischen Forschung i n i h r e m Bedeutungszusammenhang ausdrücklich gemacht werden können, bedarf es noch der A u f k l ä r u n g über den Sachverhalt, aus dem sich Stein die Überzeugung v o m W a l t e n allgemeiner Gesetze aufdrängte, der Gesetze, „welche die Bewegungen des politischen u n d gesellschaftlichen Lebens beherrschen". Dieser Sachverhalt m u ß an sich selbst die A r t der Folgerichtigkeit, der „ N o t w e n d i g k e i t " erkennen lassen, die die Rede von Gesetzen rechtfertigt. D i e nähere Analyse hat sich an den Begriff zu halten, dessen zentrale Bedeutung f ü r den inneren Widerspruch der gesellschaftlichen Ordnung i m Vorhergehenden sich herausgestellt h a t : der Begriff der f r e i e n u n d g l e i c h e n Persönlichkeit. „ E r s t i n dem Begriff der Gesellschaft ist das konkrete Dasein der einzelnen Persönlichkeit w i r k l i c h e r f ü l l t ; erst durch den Begriff der Gesellschaft erhalten die Begriffe u n d Wissenschaft von den Gütern, von der Arbeit, von der Einzel- u n d Volkswirtschaft, von der Familie u n d dem Recht ihren höchsten gemeinschaftlichen Gesichtspunkt, denn erst hier reichen sie an den höchsten P u n k t des irdischen Lebens, das I n d i v i d u u m u n d die E r f ü l l u n g seiner B e s t i m m u n g " (Stein, G. d. s. B . I , 29). W i e bei Marx die Emanzipation des Menschen, das heißt die Befreiung des Menschen z u m Menschen die Orientierung
118 f ü r die Erkenntnis der sozialen O r d n u n g u n d ihre notwendige Revolutionierung ist, so bei Stein die Bestimmung des Menschen zur Persönlichkeit, die er als die W u r z e l aller sozialen Bewegung entdeckt. Dabei aber bleibt bei Marx die konkrete Bestimmung des Menschen, das W o z u seiner Emanzipation u n d die entsprechende Bestimmung seines defizienten Zustandes i n der Unfreiheit, von den wenigen Bemerkungen über den Menschen als Gattungswesen u n d seine „ V e r e i n z e l u n g " i m Aufsatz über die Judenfrage u n d i n der K r i t i k der Hegeischen Rechtsphilosophie abgesehen, ganz unausdrücklich. Das Bewußtsein von der prinzipiellen Bedeutung dieser Voraussetzung als das A u n d 0 f ü r das mögliche Verständnis aller sozialen Widersprüche u n d der aus ihnen resultierenden Bewegung ist bei Stein ungleich stärker. D e m entsprechen die konkreten Bestimmungen über den Begriff der Persönlichkeit, insbesondere f ü r „ d i e Bewegung der F r e i h e i t " u n d „ d i e E n t w i c k l u n g ihrer ersten Voraussetzungen" (a. a. 0 . I , 8 4 — 9 0 ) . Die soziale Ordnung m u ß aufgezeigt werden als i m Widerspruch stehend m i t dem Begriff der Persönlichkeit als der „höchsten Bestimmung des ganzen Erdenlebens": hier ist der tiefste Beweggrund u n d der eigentliche Schlüssel zum Verständnis der sozialen Bewegung gefunden. I m Rückgriff auf i h n m u ß sich also die Stringenz u n d „ N o t w e n d i g k e i t " der Zusammenhänge erweisen, die Stein als die Gesetze des sozialen Lebens gewinnt. I m Begriff der Persönlichkeit sind die Bestimmungen der Gleichheit u n d Freiheit mitgegeben. D i e Bestimmung des Menschen zur Persönlichkeit e r f ü l l t sich i n der „ B i l d u n g " , der Bewältigung des „ n a t ü r l i c h e n " Lebens durch das persönliche 1 . „ D a s Leben jedes einzelnen a u f dem Widerspruch 1
Da -es i m Zuge dieser Untersuchung n u r liegt, die Möglichkeit aufzuklären, wie der Sinn — und welcher Sinn — von Freiheit und Gleichheit
119 zwischen der unendlichen Bestimmung u n d der Begrenzung durch die äußere W e l t gebauet, ist ein fortwährender K a m p f der Persönlichkeit m i t dieser äußeren W e l t , i n welchem die erstere die letztere zu unterwerfen trachtet, während die letztere fortwährend von i h r sich abzulösen strebt" (a. a. 0 . S. 17). D i e V e r w i r k l i c h u n g der Idee der Persönlichkeit, die sowohl Bedingung als auch Inhalt des Besitzes u n d Erwerbes der geistigen u n d materiellen Güter ist (S. i 3 i f . ) , setzt also Gleichheit u n d Freiheit voraus: G l e i c h h e i t , einmal i m Sinne der Bildungsfähigkeit eines jeden, u n d damit, als notwendige Konsequenz, Gleichheit i n den Bedingungen ihrer Aneignung (S. 86). D e n n es liegt ,,die persönliche Bestimm u n g jedes einzelnen i m Gebiete des Erwerbs der materiellen Güter . . . " (S. i i 3 ) , sofern eben die menschliche Aufgabe i n der Bewältigung der äußeren Natur besteht z u m Genuß u n d zur „ B i l d u n g " . F r e i h e i t aber ist die Voraussetzung f ü r die E r f ü l l u n g der menschlichen Bestimmung, insofern sie die Möglichkeit der Selbstbestimmung bedeutet, das heißt der durch andere als die i n der Arbeit selbst liegenden Schwierigkeiten ungehinderten Entfaltung der Kräfte. zum Problem der Gesellschaft führen könnte, so bleiben die m i t dem Begriff der Persönlichkeit gegebenen Bedeutungszusammenhänge hier i m Hintergrund. Nur auf die Äquivokation der Rede vom „ n a t ü r l i c h e n " Leben sei verwiesen. Die ursprünglich christliche und auch noch bis K a n t erhaltene Bedeutung des „Natürlichen" i m Menschen gründet auf dem Gegensatz von Geist und Leib. A u f diesem Grunde ist die speziell menschliche Aufgabe „die Bewältigung des natürlichen Lebens durch das persönliche" i m Sinne einer Beherrschung der naturhaften Triebe durch die Vern u n f t . Bei Stein jedoch ist die Natur die „äußere" Natur, deren Beherrschung die Voraussetzung zur Verfügung über die materiellen Güter ist. Desgleichen wäre aufzuklären die „unendliche" Bestimmung und der Sinn der B i l d u n g überhaupt. Die Idee der B i l d u n g aber u n d ihre Bedeutung f ü r die gesellschaftliche Differenzierung i m 19. Jahrhundert und i n der Gegenwart ist das Thema einer besonderen Arbeit.
120 Gleichheit u n d Freiheit sind also die Grundvoraussetzungen u n d Seinsbestimmungen des Menschen, sofern die Idee der Persönlichkeit maßgebend f ü r die E r f ü l l u n g seiner menschlichen Aufgabe ist. Jede Verhinderung dieses eigentlichsten menschlichen Strebens durch Umstände, die i n der Ordnung u n d den Bedingungen des Miteinanderlebens angelegt sind, müssen also eine Bewegung auslösen, deren „ N o t w e n d i g k e i t " u n d „Gesetzlichkeit" i n dieser „ N a t u r " des Menschen selbst begründet ist: Aus i h r allein leiten sich die Gesetze her, „welche die Bewegungen des politischen u n d gesellschaftlichen Lebens beherrschen". D i e systematische Erkenntnis der Gesellschaft u n d der sie beherrschenden Gesetze ergibt sich also bei Stein aus diesem Zusammenhang von Persönlichkeit, Gleichheit u n d Freiheit. Sollen diese Gesetze u n d die sich aus ihnen herleitenden Prinzipien des Staates u n d der Gesellschaft w i r k l i c h dem Anspruch der Allgemeingültigkeit genügen u n d damit der Leitfaden f ü r eine historische Interpretation überhaupt gefunden sein, so müssen die herausgestellten Bestimmungen f ü r das menschliche Leben den Charakter von ontologischkonstituierenden Charakteren haben. W ä h r e n d n u n Stein dies tatsächlich dem ganzen Zuge seiner systematischen Ausf ü h r u n g e n unterstellt u n d ohne diese Unterstellung der A n spruch auf ein System der Gesellschaftslehre nichtig wäre, so geben doch wiederholte Äußerungen darüber Klarheit, daß i h m letzten Endes die wahre Quelle seiner Auskünfte bewußt ist. D i e E x p l i k a t i o n des Zusammenhangs von Persönlichkeit, Freiheit u n d Gleichheit w i r d von Stein selbst nach eigenem Zeugnis aufgefaßt als eine ausdrückliche Interpretation derjenigen menschlichen Bestimmung, a u f d i e h i n das L e b e n s t i l l s c h w e i g e n d s i c h s e l b s t b e g r e i f t , w e n n i h m d i e g e s e l l s c h a f t l i c h e O r d n u n g als eine B e s c h r ä n k u n g seiner F r e i h e i t u n d V e r n i c h t u n g
121 s e i n e r G l e i c h h e i t g i l t . M. a. W . : wenn die Verhinderung der w i r k l i c h e n Gleichheit u n d der Freiheit aus der gesellschaftlichen O r d n u n g resultiert, dann n u r deshalb, w e i l f ü r d i e s e n bestimmten Begriff von der menschlichen Bestimm u n g die gesellschaftliche Ordnung von ausschlaggebender Bedeutung ist. D i e Voraussetzung der Stringenz jener gesellschaftlichen Gesetze liegt also i n e i n e m ganz bestimmten Sinn von Freiheit u n d Gleichheit. So stellt sich auch f ü r Stein heraus, ,,daß auch dieses Prinzip (der Gleichheit) w i e jedes andere mehr eine geschichtliche Tatsache als eine p h i losophische W a h r h e i t i s t " (S. 87). D a m i t aber ist die Bestimmung des Menschen als Persönlichkeit, die n u r zu erreichen ist i n der V e r w i r k l i c h u n g der gesellschaftlichen Freiheit u n d Gleichheit, selbst als eine historische gegeben u n d die Stringenz der Zusammenhänge, denen Stein den Begriff des Gesetzes unterschiebt, zeigt sich als ein bestimmter geschichtlicher Motivations- und Bedeutungszusamm e n h a n g . Seine nähere A u f k l ä r u n g — wenigstens i n dem Umfang, daß sich daraus die mögliche Entstehung einer g e s e l l s c h a f t l i c h e n Problematik -erklärt, die erst i m 18. Jahrhundert w i r k s a m w i r d , w i e w o h l die B e s t i m m u n g des Menschen als f r e i u n d gleich eine viel frühere ist — ergibt sich so als unsere nächste Aufgabe.
b) D i e Tradition von Freiheit und Gleichheit im Zusammenhang mit der Bestimmung des Menschen. Die Lösung dieser Aufgabe kann n u r eine provisorische u n d rohe sein: einmal greift die Untersuchung i n den äußerst komplexen Zusammenhang aller Leitprinzipien der abendländischen Sozialgeschichte u n d damit der Grundkategorien der Lebensauffassung überhaupt, die ihrerseits ohne
122 die A n t i k e gar nicht zu verstehen sind — u n d dann ist der Richtung der Untersuchung noch so wenig vorgearbeitet, daß hier nichts anderes gegeben werden kann als eine erste Anweisung z u m Verständnis der Fundamente, aus denen die Problematik der gesellschaftlichen O r d n u n g erwächst. Diese Fundamente selbst erwarten erst noch ihre hinlängliche Klärung. D i e historische Instinktsicherheit Steins hat i h n richtig gelenkt, als er die W u r z e l der sozialen Problematik i n der „christlich-germanischen" W e l t suchte. D e n n n u r hier vermischten sich i m Laufe der Zeit Prinzipien, auf die sich der menschliche Geist angewiesen hatte, deren fundamentale Unvereinbarkeit den K o n f l i k t zutage förderte, i n dem sich der Mensch i n seiner persönlichen Bestimmung durch vier Jahrhunderte h i n d u r c h m i t jeder gesellschaftlichen O r d n u n g finden, durch den „ d i e Gesellschaft der wahre Quell aller Freiheit u n d U n f r e i h e i t " werden mußte u n d der damit zum Generalthema einer Wissenschaft wurde, deren Aufgabe die Lösung dieses Konfliktes sein mußte. Der Versuch, i n großen Zügen den Zusammenhang u n d die „ N o t w e n d i g k e i t " dieser E n t w i c k l u n g anzudeuten, bleibt sich bei diesem Unternehmen darüber i m klaren, daß m i t dem literarischen Aufweis der Ideen noch keineswegs die Geschichte ihrer praktischen Bedeutung erkannt i s t 2 . W e n n w i r uns aber trotzdem n u r an jenen halten, so aus der bestimmten A n sicht, daß sich i n dieser literarischen E n t f a l t u n g am greifbarsten die E n t w i c k l u n g eines allgemeinen u n d öffentlichen Bewußtseins manifestiert, eben desselben Bewußtseins, das mehr u n d mehr den W i d e r s p r u c h zwischen der wahren Bes t i m m u n g des menschlichen Lebens u n d der gesellschaftlichen O r d n u n g erlebte. 2
So Jellinek, Die E r k l ä r u n g der Menschen- und Bürgerrechte, Staatsu. völkerrechtl. Abhandl. Leipzig 1895, S. 3 i .
123 Daß aber das Motiv dieser großen Bewegung ein f ü r das abendländische Leben fundamentales sein m u ß , läßt sich sogleich i m V e r f o l g des Ursprungs der Charaktere erkennen, die als f ü r den Menschen wesentliche die soziale Problematik zur Entfaltung gebracht haben: d i e B e d e u tung von Freiheit und Gleichheit i m Zusammenh a n g m i t d e r B e s t i m m u n g des M e n s c h e n . Dieser innere Zusammenhang bildet die Basis f ü r die mögliche Entstehung eines „sozialen" Konfliktes. Unsere Untersuchung w i r d aber die Aufgabe haben, den P u n k t zu bestimmen, an dem die Voraussetzungen f ü r den Ausbruch des Konfliktes gegeben waren. Die christliche B e s t i m m u n g des Menschen als f r e i suchen w i r zunächst i n einer Konfrontierung m i t der antiken Bes t i m m u n g des Menschen als eXeu^epcx; u n d 8ouXo