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German Pages 340 [344] Year 2006
Jörg Schweinitz
FILM UND STEREOTYP
Jörg Schweinitz
FILM UND STEREOTYP Eine Herausforderung für das Kino und die Filmtheorie Zur Geschichte eines Mediendiskurses
Akademie Verlag
Einbandabbildungen: Serie fiktiver Filmplakate, entnommen aus dem Spielfilm DIE KOFFER DES HERRN O . F. (Regie: Alexander Granowski, D 1931). Quelle: Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung
ISBN-13: 978-3-05-004282-4 ISBN-10: 3-05-004282-6
© Akademie Verlag GmbH, Berlin 2006 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übertragung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil des Buches darf ohne Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Einbandgestaltung: Grube Design Karla Henning Satz: Werksatz Schmidt & Schulz GmbH, Gräfenhainichen Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer" GmbH, Bad Langensalza Printed in the Federal Republic of Germany
Inhalt
Einleitung
ix
TEIL I Theorie des Stereotyps. Begriffe, Aspekte, Kontroversen 1. Das .Stereotyp'in der Psychologie und in den Geisteswissenschaften Konzepte des ,Stereotyps' im sozialpsychologischen Diskurs Konzepte des .Stereotyps' in der Sprach-, Literatur- und Kunstwissenschaft
. .
3 4 16
Ähnlichkeiten und Differenzen der Konzepte / Vier Facetten: Schema, Reduktionismus und Stabilität - Automatismus und Konventionalisierung - Verzerrungen und Verluste - Hintergrund für Differenzen 2. Einige Aspekte und Ebenen der Stereotypisierung des Films Figur
43 43
Handlungswelt
53
Schauspiel, Bild und ein Seitenblick auf den Ton
62
Genre und Hybridgenre
79
3. Intellektueller Blick versus massenkulturelles Stereotyp Koordinierungsleistungen für das kulturindustrielle Produkt
98 99
Vom Stereotyp besessen: Intellektuelle und konventionelle Formen des Populären
103
Wege der Emanzipation vom Stereotyp: Radikale Kritik und Verweigerung - Individuelle Aneignung Lustvolle Offenlegung
110
VI
INHALT
TEIL II Diskursgeschichte. Das Thema .Stereotyp' im Wandel der Filmtheorie 4. Vorgeschichte: Walther Rathenaus Kulturkritik, Hugo Münsterbergs euphorisches Filmkunstkonzept und die Ausblendung des Stereotyps
.
127
5. Bela Baläzs' neue visuelle Kultur, die sprachskeptische Tradition und Robert Musils Thematisierung des .Formelhaften'
138
Rettung vor der konventionellen Sprache: Die Mystifikation der Gebärde
138
Robert Musil und die Formelhaftigkeit des Visuellen
153
6. Die Konfektionsarbeit der Phantasiemaschine: Rudolf Arnheim, Rene Fülöp-Miller und der Diskurs zur Standardisierung* des Films
.
Amerikanismus, Rationalisierung, Filmkritik .Standard'und ,Konfektion': Neue Metaphern der Filmkritik
161 161
. . . .
171
. . .
187
Standard versus Kunstkonzept: Arnheim und Fülöp-Miller
178
Das Standard-Thema im Exil: Adorno, Arnheim und Panofsky Standardisierung und Filmtheorie: Fazit
195
7. Das Stereotyp als intelligible Form: Cohen-Seat, Morin und die Semiologie Stereotyp und kinematographische Sprache: Die Filmologen
197 . . . .
197
Stereotype formieren Codes: Filmologie und Semiologie
215
8. Ironie und Verklärung: D e r postmoderne Blick auf das Stereotyp
224
Das Lied vom Tod: Reflexivität und Selbstreferentialität
224
Uneigentlichkeit, doppelte Tonlage und die Verklärung des Gewöhnlichen
237
TEIL III Filmanalyse. Kritik und Verklärung - Fallstudien zu drei Filmen 9. McCabe und Buffalo Bill: Zur kritischen Reflexion von Stereotypen in zwei Filmen Robert Altmans
251
Vom Scheitern des Individuums am Stereotyp: MCCABE AND MRS. MILLER Kritik der Mythenproduktion: BUFFALO BILL AND THE INDIANS
252 .
265
10. Lust am Stereotyp und forciertes Doppelspiel: Das Schauspiel von Jennifer Jason Leigh in THE HUDSUCKER PROXY
274
Das akzentuierte Spiel mit dem Repertoire
275
Konstruktionen aus zweiter Hand
279
INHALT
Schluss
289
Verzeichnisse Literatur Filmtitel Namen
295 313 317
Einleitung „... ist das Stereotyp nicht ein fixes Bild, ein Zitat, an dem Sprache klebt? Haben wir nicht zum Gemeinplatz eine duale hung: narzißtisch und mütterlich „Das Stereotyp kann in Ausdrücken der Müdigkeit abgeschätzt Das Stereotyp ist das, was mir langsam auf die Nerven geht." - Roland Barthes1
unsere Beziewerden.
In seinem Film DIE KOFFER DES HERRN O . F . (D 1931) präsentiert Alexander Granowski ein ironisches Märchen über den modernen Kapitalismus seiner Zeit. Es berührte - autothematisch - auch die Sphäre des Kinos. D e r Direktor einer fiktiven Filmgesellschaft erläutert seine Geschäftsstrategie: „An Problemen geht man Pleite. Komödien bringen Dividenden. [...] Warum sind wir eine Weltfirma? Weil wir Komödien machen! Bitte!" Es folgt ein Lied, vorgetragen aus dem O f f - als Koloraturgesang in der Art einer Operettenarie, die auf populäre Filmgenres jener Zeit verweist. Tonfilmkomödien und Tonfilmoperetten präsentierten stets die Verwicklungen einer Liebesgeschichte, und sie taten das mit häufig wiederkehrenden narrativen und visuellen Motiven. Der Liedtext aus Granowskis Film spielt darauf an: „Er liebt, sie liebt, wir lieben, sie lieben, sie alle, alle, alle, alle lieben." Im Bild erscheint dazu eine Serie von sechs fiktiven Filmplakaten mit völlig gleichartiger Komposition. Alle zeigen sie die Oberkörper eines sich umarmenden Paares. Die Frau hält stets eine Gitarre in den Händen. Lediglich in Hinsicht auf oberflächliche Details - vor allem Hut und Brille - unterscheiden sich die Motive. 2 D e r Effekt wird gleich noch einmal wiederholt, wobei das - nun im Marschrhythmus vorgetragene - Lied diesmal auf das Genre der damals populären Militärschwänke verweist: „Kasernenluft, Kasernenduft, Kasernenzauber. Es ist so lustig zu marschieren."
Barthes, Roland (1976) »Beim Verlassen des Kinos" [franz. 1975], In: Filmkritik 20.7, S. 292; Barthes, Roland (1978) Über mich selbst [franz. 1975], München: Matthes & Seitz, S. 97. 2 Vgl. die Einbandabbildung dieses Buches. 1
X
EINLEITUNG Dazu ist erneut eine Serie von Plakaten zu sehen. Die zeigen jeweils einen Offizier mit Frau und Pferd. Auch sie sind nahezu identisch aufgebaut und variieren nur in Äußerlichkeiten - am deutlichsten in der F o r m der Helme. Diese Sequenz unterzieht ein Thema der filmischen Selbstbesichtigung, das die zeitgenössischen Diskurse der Filmkritiker und -theoretiker über das Kino um 1930 massiv prägte. Ein Spielfilm der Zeit thematisiert hier eine Entwicklung, die das eigene Medium kennzeichnete. N u r am Rande geht es dabei um einen satirischen Blick auf die filmische Verklärung militärischer Rituale, die damals von der aufgeklärten Filmkritik ebenfalls verspottet wurden. In erster Linie karikiert die Sequenz aus Granowskis Film das Phänomen der Stereotypisierung
des Films. Damit führte - vielleicht erstmals
in der Filmgeschichte - ein Spielfilm explizit über jenes Thema einen kleinen reflexiven Diskurs, das den Hauptgegenstand dieses Buches bilden soll. Nebenbei, die Sequenz bedient sich zur karikierenden Offenlegung von Stereotypik der Technik synchronischer intratextueller Serialisierung und damit einer Standardtechnik der visuellen Selbstthematisierung des Phänomens. Aber das wird noch genauer zu zeigen sein. Nicht einmal eine Dekade vor Granowskis Persiflage des Wiederholungs- und Reduktionszwanges im Filmbetrieb, hatten in der ersten Hälfte der zwanziger Jahre intellektuelle Liebhaber des Kinos wie Bela Baläzs noch ganz andere Hoffnungen und Utopien an das Medium gebunden. Euphorische Ideen über eine zukünftige Filmkunst gingen davon aus, dass das Kino berufen sei, eine neue visuelle Kultur
auszubil-
den. Die im Zeichen der Sprachskepsis seit langem beklagte Konventionalität
und die
(aus Konventionalität resultierende) Abstraktheit der Sprach- und Schriftkultur könne, so die Idee, im Zeichen des visuell-konkreten Mediums Film überwunden werden. Gegen Ende des Jahrzehnts war diese Art von Euphorie auch unter Filmkritikern der Ernüchterung gewichen. Das Medium trat nunmehr als ein umso Agent des Konventionellen
mächtigerer
ins Bewusstsein seiner intellektuellen Beobachter. Die Kon-
ventionalisierung durch das Kino mache auch vor der Sphäre des gestischen und bildlichen Ausdrucks nicht Halt. Sie standardisiere durch die ständige Wiederholung komplexitätsreduzierter Muster die Imaginationswelt großer Massen. Dies geschehe nun sogar im internationalen Maßstab. Denn das Kino schaffe tendenziell weltweit verbreitete Vorstellungsbilder und Ausdrucksformen. Überall nahm man jetzt feststehende Schemata in den erzählten Welten und hinsichtlich der visuellen Formung dieser Welten wahr. Sie kehrten in langen Reihen von Filmen wieder und waren Zug um Zug automatisiert und konventionalisiert - also intersubjektiv verankert - worden. Das betraf Muster der Handlungsanlage (sowohl makro- als auch mikrostruktureller A r t ) oder der Figurenkonstruktion ebenso wie patterns des Schauspiels, der visuellen Komposition, der Bild-Musik-Verknüpfung usw. usw. U m 1930 kritisierten die Theoretiker diesen Trend in der übergroßen Mehrzahl massiv. Sie taten das sowohl unter ideologiekritischem als auch - und vor allem - unter ästhetisch-stilistischem Aspekt. Eine wesentliche Ursache der seriellen Tendenzen war bald ausgemacht: die industrielle Produktionsweise des Films, verbunden mit den sie prägenden kapitalistischen Verwertungs- und Distributionsbedingungen. Die zweite Hälfte der zwanziger Jahre stand ganz im Zeichen von Rationalisierung und industrieller Vollmechanisierung und die Neuen
Sachlichkeit
blühte. Vor diesem Hintergrund hatten in kulturellen Diskur-
sen Metaphern aus den Sphären industrieller Rationalität und Mechanik Konjunktur. Sie schlugen auch auf das Nachdenken über das Kino durch. Lange bevor Horkheimer
EINLEITUNG und A d o r n o die Kulturindustrie
(insbesondere H o l l y w o o d s ) und deren Neigung z u m
intertextuell und kulturell konventionalisierten Schema - z u m Stereotyp - kritisierten, sprachen kritische Betrachter in den Jahren u m 1930 v o m Kino als einer (Ilja Ehrenburg), einer Phantasiemaschine disierung
(ζ. B . Siegfried Kracauer) und Taylorisierung
Konfektionsfilm
Traumfabrik
(Rene Fülöp-Miller) oder von der
Standar-
(Willy H a a s ) des Films, ja v o m
(Rudolf Arnheim). 3
Einzelne Theoretiker erkannten schon damals, dass hinter den eingespielten Schemata, die sich als Stereotypen etabliert hatten, nicht allein die Routine einer zyklischen Produktion steht, sondern dass die Muster auch deshalb wiederholt werden, weil sie gut funktionieren - das heißt: weil sie offenbar mit den Dispositionen, den E r w a r t u n gen und dem Begehren, eines breiten Publikums (wechselseitig) koordiniert sind. Mit dem Film werde das Vergnügen endgültig „zur konfektionierbaren W a r e " , die man weltweit handeln könne, und „auch die seelischen Bedürfnisse" seien nun „mit einem konfektionierten, in einigen
Standardtypen
massenhaft herstellbaren Artikel zu befrie-
d i g e n " 4 - so schlussfolgerte R e n e Fülöp-Miller 1931. Die Stereotype funktionieren in diesem Bild als publikumskoordinierte Produktstandards. Die Beziehung z u m satirischen Statement von Granowskis fiktivem Filmmogul ist evident. In der Phase der .Entdeckung' des Themas durch die Filmtheorie und Filmkritik, also in den Jahren u m 1930, war die Bewertung weitgehend klar - im negativen Sinn. Das Stereotyp, meist als .Standard' gefasst, galt als Antipode schlechthin zu positiv besetzten Begriffen der Kritik wie .künstlerisch', .schöpferisch', .differenziert', .wahrhaftig', .individuell' oder .originell'. H e u t e wirkt eine manichäische Sicht der Dinge wie diese zumindest übermäßig vereinfacht. Sie lässt C h a n c e n aus und ist mithin kaum akzeptabel. In der Medienwelt zu Beginn des 2 1 . Jahrhunderts hat der Trend zur filmischen oder allgemeiner: zur audiovisuellen - Stereotypisierung, zur Hervorbringung konventionalisierter Muster, die Komplexität reduzieren (visueller resp. narrativer Art), eine solche Qualität, Quantität, D y n a m i k und Präsenz angenommen und haben sich die betreffenden Schemata in solchem Maße unserer Imaginationswelten bemächtigt, dass die Idee geradezu anachronistisch anmutet, Filme unberührt davon schaffen zu wollen. Galt populäres Erzählen schon vor dem Film in gesteigertem Maße als Kunst der Wiederholung reduzierter F o r m e n , was bis zu einem gewissen Grad eine die P o pularität befördernde Funktion besitzt, so bleibt in der Medienwelt unserer Tage keine F o r m , kein Bild, keine narrative Idee, keine Struktur, die einmal .gut angekommen' ist, ohne eine lange Kette von Nachfolgern. Digitale Tricktechniken treiben den Trend ins E x t r e m : Einmal gefundene und aufwendig entwickelte Schemata digitaler Gestaltung, die einen gewissen Bildeffekt hervorbringen (ζ. B. das Zerfließen einer Figur oder andere Gestaltwandlungen, morphing),
werden auf Grundlage der gleichen Software -
lediglich an der Oberfläche different verkleidet - immer wieder benutzt. Ja, mit der zugrundeliegenden, meist ökonomisch extrem aufwendigen Software wird ein ästhetisches Schema sogar patentiert
- und mithin urheberrechtlich justiziabel. Die multipli-
3 Zu Quellen und Einzelheiten im Kapitel 6 „Die Konfektionsarbeit der Phantasiemaschine: Rudolf Arnheim, Rene Fülöp-Miller und der Diskurs zur .Standardisierung' des Films". 4 Fülöp-Miller, Rene (1931a) Das amerikanische Kino. In: Joseph Gregor, Rene Fülöp-Miller: Das amerikanische Theater und Kino. Zwei kulturgeschichtliche Abhandlungen. Zürich, Leipzig, Wien: Amalthea, S. 65 (Herv. - J. S.).
XI
EINLEITUNG zierten Fernsehkanäle, Video, D V D und Multimediaanwendungen sorgen darüber hinaus für die ständige Präsenz und Verfügbarkeit der ohnehin schon ähnlich strukturierten und sogar der gleichen, nur wiederholt gezeigten Angebote. Selbst unikale Phänomene oder Ereignisse nichtfiktionalen Charakters - Medienbilder von Katastrophen, Terroranschlägen, royalen Hochzeiten oder Trauerfeiern etc. - bleiben heute, sofern sie einmal massenhaftes Interesse gebunden haben, nicht ohne schier endlose Ketten medialer Wiederholungen der unterschiedlichsten Art: von direkten Reprisen über alle möglichen Paraphrasierungen bis hin zur fiktionalisierten Nachbereitung etwa in docu-soaps oder nicht zuletzt in großen Spielfilmen. Meist geht diese Praxis bis hin zum kompletten Verschleiß der ursprünglichen Emotionalität. Das ist ein Mechanismus, der (vor allem in ihrer späten Phase) auch die Stereotypisierung fiktionaler Strukturen kennzeichnet. Einst aufwühlende Bilder verwandeln sich dabei in bloße semantische Signale, die nur noch zeichenhaft und seltsam abstrahiert - wie Hieroglyphen - auf den Vorgang verweisen, wobei das Zitat von Bruchstücken hinreicht. Umberto E c o fühlt sich mit Blick auf die allgegenwärtige Serialisierung narrativer Medienangebote in ein „Zeitalter der Wiederholung" 5 versetzt, und Roland Barthes spricht von den Medien als „Wiederkäumaschinen" 6 . Im Kino bewegt sich das Publikum weit überwiegend in imaginären Welten. Deren Regularität, Kohärenz und reduktive Überschaubarkeit wird gestiftet durch die konventionell gewordenen, auf eine mehr oder weniger automatisierte Weise angewandten Wiederholungsformen. Rezipienten von Genrefilmen oder TV-Serien kennen die immer wieder ähnlich angelegten Figurentypen und die stereotypen Handlungselemente, die sich um letztere gruppieren, die konventionelle Art von Musik, die einsetzt, wenn ζ. B. im Krimi oder im Horrorfilm Gefahr droht. Das Publikum kennt die übliche Bildinszenierung von Verfolgungsjagden. Es weiß, wie im Western ein Saloon oder wie die Science-Fiction-Welt
der Außerirdischen aussehen und welche Rituale sich dort jeweils
vollziehen. Auch weiß es, dass nichts Gutes zu erwarten ist, wenn bei der Umarmung einer der Partner über die Schulter des Anderen demonstrativ (in Richtung der Kamera) ins Leere blickt. Das Publikum hat all das kaum durch das Erleben in der a-medialen Dimension des eigenen Alltags (soweit man davon überhaupt noch sprechen kann) gelernt, sondern im Laufe langjähriger Rezeption im intertextuellen Raum filmischer Imagination. Die so erworbenen latenten Kenntnisse gehören in den Bereich dessen, was man gern als Medienkompetenz
bezeichnet. Die dahinter stehenden Stereotype
formieren und strukturieren die intersubjektive Imaginationswelt unserer Tage. Die Stereotype des populären Films avancieren daher zugleich zu kulturellen
Zeichen.
Wer Spielfilme dreht, muß sich zu den umlaufenden Stereotypen ins Verhältnis setzen. N o c h wer versucht, sich von ihnen mit emanzipatorischem Ehrgeiz abzuheben und demonstrativ eine Differenz zu organisieren, kommt nicht umhin, mit diesen Mustern zumindest zu kalkulieren. Sie sind mächtig. Schließlich beruhen sie auf gut funktionierenden, also mit den rezeptiven Dispositionen - mit Vorerfahrungen, Wünschen und Erwartungen - koordinierten Strukturen, und andererseits haben sie selbst massenhaft Dispositionen überformt. Weit häufiger als der Versuch demonstrativer
5
Eco, Umberto (1989) Im Labyrinth der Vernunft. Texte über Kunst und Zeichen. Leipzig:
Reclam, S. 302 („Serialität im Universum der Kunst und der Massenmedien" [1986]). 6
S. 62.
Barthes, Roland (1974) Die Lust am Text [franz. 1973], Frankfurt am Main: Suhrkamp,
EINLEITUNG Differenz ist heute allerdings das Bestreben, die Stereotypwelt anzuwenden, dabei aber über die einfache R e p r o d u k t i o n hinaus eine partielle Souveränität gegenüber den Mustern zu erlangen. Das läuft vielfach darauf hinaus, die patterns
gleichsam als s y m -
bolische F o r m e n zu benutzen und auf einer zweiten Ebene mit ihnen kreativ u m zugehen. Das Wechselspiel von Stereotyp und Differenz ist in diesem Fall ebenso ein T h e m a wie die emblematische oder allegorische Komposition mit Stereotypen. L e t z teres scheint dem Stereotyp angemessen, führt d o c h die Wiederholung sukzessive zu einer solchen A r t von emotionalem Verschleiß, dass - im schon angedeuteten Sinne die .abstrakte* Wahrnehmung der jeweiligen F o r m e n als emblematische G r ö ß e n gestärkt wird. H i n z u tritt eine weitere, die emblematische Anwendung steigernde A r t des potenziell kreativen U m g a n g s : die filmische Reflexion der Stereotype resp. ihre
reflexive
Anwendung. D e r F i l m führt hier - mehr oder weniger ausgeprägt - bald kritische oder spöttisch karikierende, bald mild-ironische oder sogar verklärende Diskurse über die Stereotypwelt, derer er sich bemächtigt. Das ist eine ursprünglich komödiantisch-karnevaleske, später von der Avantgarde aufgegriffene Umgangsweise, die inzwischen längst auf breiter F r o n t das Mainstream-YJmo
und auch fiktionale F o r m e n des F e r n -
sehens, wie etwa soaps, erreicht hat. Sie kennzeichnet besonders jene Filme, die als postmodern
gelten. In Hinsicht auf das Fernsehen ordnet sich ein solcher U m g a n g mit
Stereotypen auch in jenen p o s t - 1 9 8 0 e r TV-Stil ein, den Caldwell mit dem lable
der
„Televisualität" belegt hat. 7 Alles in allem deutet sich an, dass das T h e m a .Stereotyp' besondere Bedeutung für das Zeitalter der audiovisuellen Massenmedien besitzt. D e n n diese Medien produzieren in historisch beispielloser Quantität und Serialität ihre Programmangebote und halten diese nahezu allgegenwärtig präsent. Sie wenden sich damit an zuvor ungekannt große, nicht selten weltweite Publikumsschichten. Prozesse der
Stereotypisierung
werden auf diese Weise in großer Zahl und Dichte in Gang gesetzt und in ihrer D y n a mik - verglichen mit früheren Kulturen - extrem beschleunigt. Im übrigen gewinnen sie, was ihre intersubjektive Verankerung bei den Rezipienten betrifft, ungeheuerlich an Breite. Die Idee, der Stereotyp-Thematik in einer bilanzierenden, überschauenden Studie eingehende medienwissenschaftliche Aufmerksamkeit zuzuwenden, resultiert daraus. W a r u m aber gerade in Hinsicht auf die Kinematographie? D e r Film war als historisch erstes audiovisuelles Massenmedium ein Schrittmacher dieser Entwicklung, die z u d e m - noch v o r Etablierung des Fernsehens und weiterer Medien - bereits von Filmtheoretikern, Filmemachern und Filmkritikern reflektiert
und mit Diskursen be-
gleitet wurde. Als eine inzwischen über hundert Jahre gewachsene kulturelle und ästhetische Institution ist die Kinematographie bis heute mit den verschiedensten P h a sen der intellektuellen Reaktion auf das Phänomen verbunden, und sie präsentiert die vielfältigsten Varianten des praktischen U m g a n g s mit Stereotypen. E s drängt sich daher auf, den Zusammenhang von Medienentwicklung und Stereotypik und die M e c h a nismen der Stereotypisierung gerade am Beispiel des Films zu untersuchen. A u f diese
Caldwell, John Thornton (1994) Televisuality: Style, Crisis, and Authority in American Television. New Brunswick, N . J . : Rutgers University Press. [Auszüge auf deutsch in: Grundlagentexte zur Femsehwissenschaft. Theorie - Geschichte - Analyse, hrsg. von Rolf Adelmann, Jan Hesse, Judith Keilbach, Markus Stauff und Matthias Thiele. Konstanz: U V K , 2001, S. 165-202.] 7
EINLEITUNG Weise lässt sich ein paradigmatischer zigsten Jahrhundert zeichnen.
Fall für die audiovisuelle
Medienkultur
im zwan-
Im Zuge der Untersuchung ist verschiedenen Aspekten von Stereotypik und Film nachzugehen. Sie schlagen sich im Aufbau dieses Buches nieder. Im Teil I soll zuerst (im Kapitel 1) der Schlüsselbegriff .Stereotyp' theoretisch genauer bestimmt werden. Dabei steht die Untersuchung vor dem Problem, dass .Stereotyp' in unterschiedlichen wissenschaftlichen Diskursen als Terminus konzeptualisiert ist und sich dabei auf recht unterschiedliche .Gegenstände', Forschungsinteressen und Theoriekonzepte bezieht. So dominiert in der Psychologie die Bindung des Stereotypbegriffs an das Thema konventioneller Menschenbilder, die mit der Zugehörigkeit zu gewissen Gruppen oder Klassen zusammengehen. Eine Strömung innerhalb der Linguistik verortet den Begriff in der Idiomatik und versteht unter .Stereotypen' rekurrente sprachliche Wendungen, die konventionellen Charakter erlangt haben. Literaturwissenschaftliche Anwendungen des Terminus zielen, wenn sie nicht primär an der literarischen Präsentation von Menschenbildern (im Sinne der sozialpsychologischen Bestimmung) interessiert sind, nicht selten auf konventionelle Muster im Text, etwa stilistischer Art. Und in der Kunstwissenschaft begegnen uns schließlich Bestimmungen von .Stereotyp', die auf stark reduzierte (zum Teil durch Imaginationen getragene) konventionalisierte Schemata der visuellen Repräsentation verweisen. Für eine Theorie des Stereotyps, die nicht einfach auf eine der disziplinären Fragestellungen einschwenkt, bedeutet das zunächst, im klaren Bewusstsein der Differenz der einzelnen Konzepte und Sachverhalte dennoch nach strukturellen Ähnlichkeiten zwischen ihnen zu fragen. Nach Ähnlichkeiten und Zusammenhängen, die dafür verantwortlich sein können, dass jeweils mit einem gewissen Recht von .Stereotypen' die Rede ist. Wichtige Facetten, die solche Ähnlichkeiten bündeln, sollen hier herausgearbeitet werden. Stereotypbildung wird als eine besondere Form von Schematisierung begriffen. Es ist eine Grundidee dieser Studie, Stereotypisierung im Geiste einer pragmatischen und konstruktivistischen Theoriehildung aufzufassen als einen für Denken und Kommunikation und Handeln unentbehrlichen Prozess, der auf den unterschiedlichsten Ebenen und Feldern dieser Aktivitäten eingreift - als einen .Mechanismus' allerdings, dessen Tendenz zur Stabilisierung immer auch .Kehrseiten' und .kritische Punkte' besitzt, die nach kreativem, selbstkritischem oder reflektiertem Umgang verlangen. Auf Grundlage des einmal ausgearbeiteten Repertoires von Ähnlichkeiten der Diskurse über Stereotype wird es dann möglich, in Hinsicht auf Diskurse zu .Stereotyp und Kino' auch solche mit aufzuschließen, die mit anderen Termini - sei es Standard, pattern, Schematismus, Formel oder Formelhaftigkeit, Konfektionsfilm usw. oder auch mit Klischee - operieren, aber unmittelbar an die klassischen Themen und Denkmotive von Diskursen über Stereotype anschließen. Dies ist unter anderem deshalb unentbehrlich, da im Unterschied etwa zu französischen und englischsprachigen Theoriediskursen zu Film und Ästhetik im deutschen Sprachgebrauch der Begriff .Stereotyp' lange Zeit mit einer weniger weiten Semantik eingeführt war und statt dessen - vor allem mit Blick auf Stilfiguren und Ähnliches - häufig die eben genannten Termini Anwendung fanden. Alles in allem soll durch dieses Vorgehen die Theorie des Stereotyps von disziplinären Verengungen befreit werden, ohne in Beliebigkeit zu münden. Die Kapitel 2 und 3 des ersten Teils thematisieren die spezifische Bedeutung des Themas für den Film und beleuchten Erscheinungsformen sowie Funktionen der Ste-
EINLEITUNG
reotypisierung im Feld der Filmkultur. Hier geht es um Fragen wie: Auf welche Weise zeigen sich Tendenzen der Stereotypisierung im Film und wie sieht das auf einzelnen Strukturebenen des Mediums aus? Worin sind besondere Hintergründe und Funktionen der Affinität populärer Filme zu auffälliger Stereotypik zu sehen? Wie lassen sich Filmgenres einschließlich hybrider Formen auf Basis des Stereotypkonzepts fassen? Und warum ist es von Vorteil in der Theorie zum Filmgenre mit dem Stereotypbegriff zu arbeiten? Aber auch: Warum reagierten intellektuelle Kritiker - insbesondere während der frühen Diskurse zum Thema - so massiv und warum so fundamental negativ? Damit ist schon ein weiterer Aspekt angesprochen, den es zu untersuchen gilt, nämlich der intellektuelle resp. der filmtheoretische Diskurs über die Stereotypik des populären Films. Gerade auf diesem Thema liegt ein besonderes Augenmerk der Untersuchung. Sie ist über weite Strecken hinweg theoriehistorisch angelegt und sucht im Teil II verschiedene historische Phasen und die jeweils vorherrschenden Paradigmen des filmtheoretischen Diskurses zum Stereotyp aufzuschließen. Dazu gehört die fundamentale Kritik der klassischen deutschen Filmtheorie, die sich vor dem Hintergrund einer ästhetischen Wendung gegen alles Konventionelle in der Tradition sowohl romantisch-ästhetischen als auch sprachkritischen Denkens entfaltete. Dazu gehört aber auch die spätere Wertschätzung von Stereotypen im Zeichen des sich anbahnenden semiologischen Denkens (bei den Filmologen Cohen-Seat und Morin) gerade als konventionelle und tendenziell abstrahierte Formen - und schließlich auch die postmoderne reflexive Feier der Stereotype als flottierendes Zeichenmaterial, das für hybride Konstruktionen bereitsteht. Medientheoretische Diskurse unterhalten stets vielfältige Beziehungen zu den praktischen Medienentwicklungen ihrer Zeit. Man muss nicht danach streben, den hochgesteckten Forderungen eines New Historizism oder der New Film History im maximalen Sinne gerecht zu werden, um davon auszugehen, dass auch theoriegeschichtliche Untersuchungen nicht in einem theorieimmanenten Rahmen verbleiben können. Querverweise zwischen dem filmtheoretischen Diskurs zum Stereotyp und verschiedenen filmischen Anwendungen des Stereotyps oder der praktischen Auseinandersetzung mit ihm und die Aufdeckung von Interaktionen, gehören daher - ungeachtet ihres theoretischen und theoriehistorischen Schwerpunkts - zum Programm dieser Studie. Der abschließende Teil III präsentiert darüber hinausgehend zwei Fallstudien zu drei Filmen, die ihrerseits Diskurse über Stereotype des Films - wie sie bis dahin vor allem mit Blick auf Filmtheorien untersucht wurden - im Film selbst führen. In der ersten Studie geht es um zwei Filme von Robert Altman aus den siebziger Jahren, die Stereotype des Westerngenres kritisch thematisieren. In der zweiten Studie um Techniken des Schauspiels von Jennifer Jason Leigh in dem Film der Coen-Brüder THE HUDS U C K E R P R O X Y (USA 1 9 9 4 ) , das Stereotype - im .postmodernen' Sinne - auf reflexive Weise lustvoll präsentiert und sich in eine Strategie reflexiver Verklärung einordnet. Diese zwei filmanalytischen Fallstudien, die für zwei grundlegende Varianten des reflexiven filmischen Umgangs mit Stereotypen stehen sollen, schließen den Band ab. Sie stehen in besonderer Weise für das Prinzip Pars pro toto, dem die Untersuchung insgesamt verpflichtet ist. Obschon die theoriehistorische Analyse mehrere Stufen oder Paradigmen im theoretischen .Umgang' mit dem Stereotyp entwickelt, ist auch sie - wie die gesamte Schrift - nicht von jenem Vollständigkeitswahn oder jenem Willen zum abschließenden System getrieben, der stets von vornherein fragwürdig ist.
EINLEITUNG
Wichtiger als jede Vollständigkeit oder Endgültigkeit ist die Anregungskraft, Offenheit und die Anschlussfähigkeit für das weitere Nachdenken, für weitere Analysen. Einige Teile dieses Buches wurden in erster Fassung bereits vorveröffentlicht, um theoretische Gedanken oder Beobachtungen zur Diskussion zu stellen und deren Ergebnisse in den jetzt vorliegenden Band einfließen zu lassen. Die inzwischen überarbeiteten Überlegungen zum Themenkreis ,Genre und Hybridgenre' (hier im Kapitel 2) habe ich zur Jahrestagung der Gesellschaft für Film- und Fernsehwissenschaft im Oktober 2000 in Kiel 8 vorgestellt. Eine erste Analyse des Diskurses der klassischen deutschen Filmtheorie über die Standardisierung des Mediums (im Kapitel 6 weiterentwickelt) fand Aufnahme in den von Eberhard Lämmert 1999 herausgegebenen Band Die erzählerische Dimension.9 Auszüge aus dem Kapitel 7 zur Neubewertung des Stereotyps durch die Filmologen Gilbert Cohen-Seat und Edgar Morin erschienen 2001 in den Beiträgen zur Film- und Fernsehwissenschafti0 und die Analyse zum Schauspiel von Jennifer Jason Leigh in T H E H U D S U C K E R P R O X Y (Kapitel 1 0 ) habe ich während des dritten Symposiums zum Schauspiel 1999 an der Universität Mainz 11 zur Diskussion gestellt - sie fand hier in überarbeiteter Form Aufnahme.
8
Schweinitz, Jörg (2002) „Von Filmgenres, Hybridformen und goldenen Nägeln." In: Psy-
chologie und Film - nach der kognitiven Phase? (GFM-Schriften 10), hrsg. von Jan Sellmer und Hans J. Wulff. Marburg: Schüren, S. 7 9 - 9 2 . 9
Schweinitz, Jörg (1999) „Der ,Stein der Stereotypie'. Der Diskurs zur Standardisierung des
Erzählens in der klassischen deutschen Filmtheorie." In: Die erzählerische Dimension, hrsg. von Eberhard Lämmert. Berlin: Akademie Verlag, S. 261-290. 10
Schweinitz, Jörg (2001) „Das Stereotyp als filmkulturelle Sprachform. Theoriegeschichtli-
che Entdeckungen bei Gilbert Cohen-Seat und Edgar Morin." In: Jörg Frieß/Britta Hartmann/ Eggo Müller (Hrsg.) Nicht allein das Laufbild auf der Leinwand
... (BFF 60). Berlin: Vistas,
S. 177-196. 11
Schweinitz, Jörg (2000) „Wenn hinter das Klischee persönliche Energien fahren: Jennifer
Jason Leigh." In: Ladies, Vamps, Companions: Marschall. St. Augustin: Gardez!, S. 2 0 2 - 2 1 9 .
Schauspielerinnen
im Kino, hrsg. von Susanne
Dank Mein Dank geht an die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die die Arbeit an dieser Studie mit einem Habilitationsstipendium großzügig gefördert hat. Darüber hinaus gebührt vielen Kollegen und Freunden Dank. Das betrifft in zeitlicher Reihe zuerst Peter Wuss. Denn die Vorgeschichte des Projektes reicht weit zurück in jene Zeit, als wir in der von ihm geleiteten Forschungsabteilung „Film" an der Akademie der Künste in Berlin gemeinsam Ideen, Projekte und Publikationen zur Filmtheorie und ihrer Geschichte entwickelt haben. Peter gefiel meine Idee, eine Theorie des Stereotyps zu entwickeln sofort, und er hat mich darin bestärkt, sie zu realisieren. Dass ich dies schließlich ein Jahrzehnt später - die DDR-Akademie der Künste und unsere kleine Forschergruppe waren längst Geschichte - tatsächlich in Angriff nehmen konnte, daran hat eine Reihe von Wissenschaftlern Anteil, die mich in den spannenden, aber gelegentlich auch schwierigen Nachwendejahren ein Stück des Weges begleiteten. Sie halfen in dem einen oder anderen entscheidenden Moment, Lehr- und Forschungsmöglichkeiten zu sichern. Dafür sei Wolfgang Beilenhoff, Helene Harth, Heinz B. Heller, Thomas Y. Levin und Hans Jürgen Wulff herzlich gedankt. Andere haben als Gutachter Anregungen gegeben und Wege geebnet, wofür ich Irmela Schneider, Almut Todorow, Knut Hickethier, Kay Kirchmann und Thomas Koebner Dank schulde. Ohne die vielen anregenden Gespräche und Diskussionen mit Freunden und Kollegen, ohne deren Ratschläge und Zuspruch wäre die lange Strecke des Projekts kaum zu bewältigen gewesen. Neben vielen der schon Genannten sei hier zusätzlich den Mitstreitern aus dem Redaktionskreis der „Montage/av" gedankt, ganz besonders Britta Hartmann, die auch in kleineren täglichen Notfällen meist verlässliche Auskunft wusste. Außerdem geht mein Dank an Anne Paech - sie hat sich nicht allein als anregende Gesprächspartnerin, sondern auch als großzügige Gastgeberin in Konstanz um mich verdient gemacht - sowie an Margrit Tröhler für lange Gespräche über noch schwer zu lesende Erstfassungen mancher Kapitel. Für die zuverlässige Realisierung des Buches danke ich dem Berliner Akademie Verlag, vor allem Sabine Cofalla und Peter Heyl, der das Projekt mit Sinn für Details betreut hat. Ganz besonders möchte ich mich schließlich bei Eberhard Lämmert für seine Unterstützung bedanken, auf die ich mich seit den frühen 90er Jahren bis hin zur Habilitationsprozedur stets verlassen konnte. Dasselbe gilt für Joachim Paech. Er hat mich mit einer Mischung aus großer Toleranz und hoher Zuverlässigkeit, mit Geduld und pragmatischem Geschick durch die latenten Untiefen des Habilitionsverfahrens begleitet.
Teil I Theorie des Stereotyps Begriffe, Aspekte, Kontroversen
1. Das ,Stereotyp' in der Psychologie und in den Geisteswissenschaften „ Ein Stereotypenmodell [...] ist die Garantie unserer Selbstachtung [...] kein Wunder, daß jede Störung der Stereotypen uns wie ein Angriff auf die Grundfesten des Universums vorkommt." - Walter Lippmann1
Von .Stereotypen' ist in unterschiedlichen Theoriefeldern die Rede. Schaut man genau hin, so verweist der Terminus dort jeweils auf recht heterogene Phänomene. Die einen denken zuerst an vorurteilsbehaftete Vorstellungen über Fremde, wie sie gesellschaftlich verbreitet sind, andere assoziieren bei .Stereotypen' sprachliche Fertigformeln in der Art standardisierter Redewendungen, wieder andere normierte Bilder oder auch eingebürgerte narrative Wiederholungsformen ... Solche semantischen Schwankungen existieren nicht nur entlang disziplinärer Grenzen. Vielfach kehren sie auch quer durch die einzelnen Fachdiskurse wieder. Das und die Tendenz zu mehrschichtigen Bedeutungen legt es nahe, dem Begriff einige theoretische und theoriehistorische Aufmerksamkeit zu widmen. Auf diese Weise lässt sich nicht nur die Differenz der verschiedenen ,Stereotyp'-Konzepte klären, sondern gleichzeitig ein Horizont von Fragen und Positionen umreißen, der direkt oder indirekt auch den Diskurs zur Stereotypik des Films prägt. Denn Filme sind komplexe Phänomene. Sie lassen sich unter verschiedenen disziplinaren Gesichtspunkten untersuchen. Das hat zur Folge, dass nahezu alle disziplinären Konzepte vom .Stereotyp' auch schon auf den Film und auf verwandte audiovisuelle Medien bezogen wurden. Mit Recht kann man Filme als Dokumente untersuchen, in denen sich die sozial umlaufenden Menschenbilder reflektieren, man kann aber ebenso - in einem stärker filmästhetischen oder narrationstheoretischen Sinne - Fertigformeln der Bild- und Tongestaltung oder auch der Figuren- und Handlungskonstruktion analysieren usw. usw. Und in Bezug auf all das kann von .Stereotypen' die Rede sein, wobei - gelegentlich ohne, dass es bewusst wird - jeweils die theoretische Perspektive wechselt. Die Auseinandersetzung mit den verschiedenen theoretischen Ausrichtungen der Konzepte vom Stereotyp hilft, solche Wechsel bewusst zu machen und jenem einfachen In-eins-Setzen all dieser Aspekte, dem die gleiche Wortmarke suggestiv Vorschub leistet, entgegenzuwirken. Gleichzeitig bietet sich aber auch die Gelegenheit, einige theorie- und konzeptübergreifende Überlegungen über .Stereotype' anzustellen, die auch für den theoretischen Zugriff auf den Film konzeptionelle Bedeutung besitzen.
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Lippmann, Walter (1964) Die öffentliche
Meinung. München: Rütten und Loening, S. 72.
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TEIL I. THEORIE DES STEREOTYPS. BEGRIFFE, ASPEKTE, KONTROVERSEN
Konzepte des ,Stereotyps' im sozialpsychologischen Diskurs Am erfolgreichsten war wohl die Sozialpsychologie darin, den Terminus über ihren engeren Fachkreis hinaus zu besetzen und zu prägen. Die Zahl sozialpsychologischer oder allgemeiner - sozialwissenschaftlicher Studien zum Thema .Stereotyp' geht in die Tausende. Allerdings herrscht bei genauerem Hinsehen schon innerhalb dieses Feldes durchaus kein eindeutig abgrenzbares, beständiges und allgemein geteiltes Konzept. Da nun aber unterschiedliche konzeptionelle Zugriffe recht differente Konstrukte von dem hervortreten lassen, was jeweils als .Stereotyp' gilt, regiert auch innerhalb der Sozialpsychologie kaum Gewissheit über den Gegenstand des Diskurses. Angeregt und nachhaltig geprägt wurden sozialwissenschaftliche Theorien zum Stereotyp durch das zuerst 1922 erschienene Buch des amerikanischen Publizisten Walter Lippmann zur öffentlichen Meinung. 2 Es räumt dem Begriff eine zentrale Stellung ein. Bis heute kommt kaum eine einschlägige Arbeit bei der Darlegung und der Selbsteinordnung ihres jeweiligen Konzepts ohne Rückgriffe darauf aus. Während Lippmann jedoch noch eine sehr weite Vorstellung entwickelte und ganz allgemein den „pictures in our head" 3 , also unseren Vorstellungen, die Qualität des Stereotypen abfragte - als Beitrag für „ein geordnetes, mehr oder weniger beständiges Weltbild" 4 - , wurde der Begriff bald auf eine engere Themenbindung festgelegt: auf normierte Vorstellungen, Einstellungen oder Erwartungen, die Menschen betreffen und die zu deren Beurteilung herangezogen werden. Diese engere Themenbindung wirkt bis heute in den Sozialwissenschaften nach. Als sehr einflussreich für eine solche Verengung des Fokus erwiesen sich die Anfang der dreißiger Jahre veröffentlichten Studien der Amerikaner Daniel Katz und Kenneth Braly 5 zu rassischen Stereotypen. Dafür entwickelten die beiden Psychologen ihr bekanntes Eigenschaftslisten-Verfahren. Vereinfacht und viele konzeptionelle Differenzen aussparend formuliert, gelten Stereotype den Vertretern der von Katz und Braly ausgehenden Forschungslinie 6 als normierte Vorstellungen über Menschen, die sich primär auf deren Zugehörigkeit zu einer,Kategorie' beziehen (meist zu einer Rasse, Nation, Berufsrolle, sozialen Klasse, resp. zu einem Geschlecht) oder auf ein die jeweilige Kategorie symbolisierendes Merk-
2 Lippmann, Walter (1961) Public Opinion [1922], New York: MacMillan. Im folgenden wird überwiegend die deutsche Ausgabe Lippmann, Walter (1964) zitiert. Wo deren Übersetzung unbefriedigend bleibt, wird aber auf die amerikanische Originalversion zurückgegriffen.
Lippmann, Walter (1961), so lautet schon die Überschrift der Einleitung. Lippmann, Walter (1964), S. 71. 5 Katz, Daniel/Braly, Kenneth W. (1933) „Racial stereotypes of one hundred college students". In: Journal of Abnormal and Social Psychology, 28, S. 280-290; dies. (1935) „Racial prejudice and racial stereotypes". In: Journal of Abnormal and Social Psychology, 30, S. 175-193. Als wichtiger Vorläufer in dieser Hinsicht ist aber auch anzusehen Rice, Stuart Arthur (1926/27) „Stereotypes: A source of error in judging human character". In: Journal of Personality Research 5, S. 267276. 3
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6 Einen detaillierten kritischen Überblick über diese Linie bis zur Mitte der sechziger Jahre bietet Manz, siehe Manz, Wolfgang (1968) Das Stereotyp. Zur Operationalisierung eines sozialwissenschaftlichen Begriffs. Meisenheim am Glan: Anton Hain. Zur weiteren Entwicklung siehe Six, Bernhard (1987) „Stereotype und Vorurteile im Kontext sozialpsychologischer Forschung". In: Blaicher, Günther (Hrsg.) (1987) Erstarrtes Denken. Studien zu Klischee, Stereotyp und Vorurteil in englischsprachiger Literatur. Tübingen: Narr, S. 41-54.
1. ,STEREOTYP' IN PSYCHOLOGIE U N D G E I S T E S W I S S E N S C H A F T E N mal. Es geht dabei um Vorstellungsmuster, deren einstellungsprägende und wahrnehmungsleitende Wirkung hervorgehoben wird. Die verschiedenen sozialwissenschaftlichen Konzepte schreiben diesen Vorstellungen einen ganzen Katalog von Qualitäten zu, die die jeweiligen Bestimmungen fakultativ und in unterschiedlicher Gewichtung prägen. Zum engeren Repertoire gehören sieben Bestimmungen: Stereotype seien (1.) beim Individuum relativ dauerhaft mental verankert (Stabilität); sie seien (2.) intersubjektiv innerhalb bestimmter sozialer Formationen verbreitet, für die sie Konsens stiftende oder normierende Funktionen besitzen (Konformität), sie würden daher (3.) nicht oder selten auf unmittelbar eigener Erfahrung beruhen, sondern primär gesellschaftlich - kommunikativ - vermittelt (SecondHand-Charakter) sein; außerdem seien sie (4.) auf simple Kombinationen weniger Merkmale beschränkt (Reduktion) sowie (5.) mit starken Gefühlen besetzt (affektive Färbung). Schließlich würden sie (6.) als Automatismen massiv in die Wahrnehmungsund Urteilsprozesse eingreifen, sie leiten, ja überformen (Schablonenwirkung). Aus solcher Perspektive verbindet sich der Begriff nun, wenn es um die Funktion von Stereotypen geht, zumeist mit Prozessen der Urteilsbildung. Ihnen wird dabei häufig (7.) der Status unangemessener Vorurteile (Inadäquatheit) zugeschrieben. Auch für Letzteres haben Katz und Braly die Grundlage gelegt - schon mit der Art ihrer Versuchsanordnung. Die zielte eindeutig auf Urteile über Menschen, die von einzelnen Merkmalen abgeleitet werden. Aber auch die Themenwahl von Katz und Braly, deren primäres Interesse an negativen Einstellungen gegenüber anderen Rassen, hat dazu beigetragen. Den beiden Psychologen galt ein Stereotyp mithin als fest verankerter Eindruck über Menschen, „der nur sehr wenig mit den Tatsachen übereinstimmt, die er vorgibt zu repräsentieren, und der sich daraus ergibt, daß wir zuerst etwas festlegen und es dann beobachten". 7 Das so hergeleitete Theoriekonstrukt war darauf ausgerichtet, der Wahrnehmung und Beurteilung von Menschen Verzerrtheit und Bösartigkeit, ja zum Teil Pathologisches8 abzufragen. Es avancierte bald zum Fixpunkt aufklärerischer Konzepte. Stereotype begriff man dabei etwa so, wie es der Titel einer späteren Studie nahe legte: „stereotypes as substitutes for thought". 9 Als besonders anfällig dafür galt ,die Masse'. Massenpsychologisch geprägten Theoretikern wie Adam Schaff schien sie aus Menschen zu bestehen, die sich spontan „über die Rolle der Voreingenommenheit beim Handeln keine Rechenschaft abgeben. Da es sich dabei um die sogenannten Massen handelt, nimmt diese Erscheinung eine besondere, oftmals sozial bedrohliche Bedeutung an." 10 Durch das didaktische Bewusstmachen der Fehlerhaftigkeit und Irrationalität von Stereotypen sollte nun eine positive Beeinflussung des sozialen Klimas erreicht werden. In den fünfziger Jahren setzte allerdings bei einigen Theoretikern eine konzeptionelle Korrektur ein, eine pragmatische Besinnung.11 Jetzt stellte man häufiger Fragen Katz, Daniel/Braly, Kenneth W. (1933), hier deutsch zitiert nach Six, Bernhard (1987), S. 44. Mitscherlich, Alexander (1962) „Die Vorurteilskrankheit". In: Psyche, 16, S. 241-245. 9 Hayakawa, S. I. (1950) „Recognizing stereotypes as substitute for thought". In: ETC. A Review of General Semantics, Bd. 7, S. 208-210. 10 Schaff, Adam (1979) „Sprache und Stereotyp". In: Sprechen - Denken - Praxis, hrsg. von Gerd Simon und Erich Straßner. Weinheim und Basel: Beltz, S. 164. " Die Rezeption der amerikanischen Psychologie im Nachkriegsdeutschland vollzog sich im Zeichen dieser Wende. Als prominentester Vertreter gilt Hofstätter, Peter R. (1960) Das Denken 7 8
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TEIL I. THEORIE DES STEREOTYPS. BEGRIFFE, ASPEKTE, KONTROVERSEN nach etwaigen Leistungen von Stereotypen - nach wie vor als stabilisierte Menschenbilder aufgefasst - und begann über Ursachen ihrer Existenz nachzudenken. Eine Reihe von Theoretikern akzentuierte nun auch produktive regelnde Funktionen für die Kognition, für die soziale Orientierung oder das intersubjektive Handeln - Funktionen, die jeweils nur um den Preis von Defiziten in der Repräsentation von Wirklichkeit zu haben seien. Diese Wende in der Konzeptbildung kam, ungeachtet der fortbestehenden thematischen Verengung auf das Thema .Menschenbild', den ursprünglichen Intentionen Lippmanns wieder mehr entgegen. Denn in geistiger Nähe zum philosophischen Pragmatismus sah Lippmann in der Existenz von Stereotypen ein durchaus ambivalentes Phänomen. Er hatte an ihnen Defizitäres und Funktionales gleichzeitig betont - und zwar als einander bedingend. Zur Begründung dieser Ambivalenz verband er mehrere, seither geradezu klassisch gewordene Argumente, die hier etwas näher dargestellt seien, schon weil Lippmanns außerordentlich einflussreiche Position meist verkürzt und teilweise einseitig referiert wird. Als Ausgangspunkt diente Lippmann die Funktionalisierung von Stereotypen als stabilisierte kognitive Systeme der Individuen. In Anlehnung an John Dewey erschien auch ihm die Welt als ein „großes, blühendes, summendes Durcheinander" 12 , das für die menschlichen Wahrnehmungs- und Denkfähigkeiten zu komplex und zu dynamisch sei. Sollen die Dinge Bedeutung gewinnen - so zitiert er Dewey - „[...] so müssen 1. Eindeutigkeit und , Verschiedenheit' und 2. Beständigkeit (Konsistenz) oder Festigkeit (Stabilität) in die Objekte eingeführt werden, die sonst unbestimmt und flimmrig bleiben". 13 Eben solche Eindeutigkeit und Beständigkeit in die Wahrnehmungswelt einzuführen, dazu trügen die Stereotype wesentlich bei. Was Kognitionspsychologen später unter Begriffen wie cognitive structure oder cognitive schema thematisieren sollten, ist elementar schon in Lippmanns Konzept enthalten. Er baute von Stereotypen das Bild vereinfachend strukturierter mentaler Konzepte auf, die als fest geprägte Eindrücke besonderes Beharrungsvermögen besitzen und Wahrnehmungs-, Denk- sowie Urteilsprozesse leiten, ja erst ermöglichen. Einerseits funktionierten sie in der Art von Symbolmechanismen. Anhand eines als zentral empfundenen Merkmals, das erkannt wird, komme es zur raschen Zuordnung eines Sachverhaltes zu einem bestimmten präexistenten Vorstellungskomplex. So griffen „[...] wir erkennbare Zeichen aus der Umgebung heraus. Diese Zeichen stehen für Ideen, die wir aus unserem Vorrat an Bildern ergänzen." 14 Danach sehen wir an dem zugeordneten Ding „hauptsächlich das, wovon unser Kopf bereits voll ist." 15 So betrachtet erscheinen die Stereotype andererseits als eine Art kognitiv entlastender Rasterfilter. Sie organisierten den notwendig selektiven Blick, der mit der tendenziellen Betonung all dessen
in Stereotypen.
Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Eine pragmatische Position deutet sich
aber schon früher an, siehe Hofstätter, Peter R. (1949) Die Psychologie der öffentlichen
Meinung.
Wien: Braumüller, sowie Sodhi, Kripal Singh/Bergius, Rudolf (1953) Nationale Vorurteile. sozialpsychologische Untersuchung
chenden Entwicklungen in den USA siehe Manz, Wolfgang (1968), S. 8 - 9 . 12
Lippmann, Walter (1964), S. 62.
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Ebd., S. 62.
" Ebd., S. 67. 15
Ebd.
Eine
an 881 Personen. Berlin: Duncker & Humblot. Zu entspre-
1. .STEREOTYP' IN PSYCHOLOGIE U N D G E I S T E S W I S S E N S C H A F T E N einhergeht, was sich in ähnlicher Form wiederholt und das Stereotyp bedient, während anderes - dem Stereotyp nicht Entsprechendes - eher heruntergespielt, ja übersehen werde: „[...] wenn ein System von Stereotypen gut verankert ist, wendet sich unsere Aufmerksamkeit den Tatsachen zu, die es stützen, und von anderen, die ihm widersprechen, ab." 1 6 Freilich ist auch der komplementäre Effekt zu beobachten, dass ein wohlverankertes Erwartungsmuster bei stärkerer Abweichung die Differenzempfindung unter Umständen noch steigert. Dennoch beriefen sich spätere Theoretiker, für die .Stereotyp' und .Vorurteil' schlicht zu Synonymen wurden, vor allem auf den Mechanismus der Ausblendung von Differenzen. Wenn bei Lippmann letzthin auch die Auffassung dominierte, dass Stereotype als pragmatische Reduktionen aus einer Auswahl realer Invarianten der Außenwelt zu verstehen seien, 17 so kam er beim Nachdenken über die Prinzipien solcher Reduktion vielfach doch in die Nähe eines Bildes von Stereotypen als aktiv formierte subjektive Konstrukte, die immer abhängig von den Dispositionen und Interessen der Subjektseite sind. Besonders deutlich wird das, wenn er - allerdings eher am Rande - sein Konzept mit Vorstellungen über Gegenstände verband, die dem unmittelbaren Erfahrungsbereich der jeweiligen Individuen nicht zugehören und nicht „mit eigenen Augen" 1 8 beobachtet wurden. In stereotypen Vorstellungen über solche Phänomene sah er Konstrukte, die auf gesellschaftlichen Projektionen fußen. Im Lichte konkreter Erfahrung würden sie sich stets als Scheinwissen oder zumindest als verschwommene Kenntnisse erweisen. Damit kommt die zweite grundlegende Argumentationslinie ins Spiel. Stereotype funktionierten für Lippmann als intersubjektive Integrationssysteme. Sie galten ihm noch in ihren Defiziten - als kognitive Muster. Diese seien mit Denk- und Verhaltenserwartungen koordiniert, die die Gesellschaft oder die Gruppe an den Einzelnen stellt. Sie unterliegen mithin als soziale „ C o d i c e s " 1 ' einer kulturellen „Standardisierung" 2 0 , in deren Dienst sie sich wiederum stellen. Das führe dazu, dass im „Mittelpunkt eines jeden Sittengesetzes [...] ein psychologisches, soziologisches und geschichtliches Stereotypenmodell" 2 1 stehe. Die Konsequenz: Stereotype repräsentieren immer auch Instanzen des intersubjektiven Konsenses und der sozialen Orientierung. Das galt Lippmann als unerlässlich für funktionierende Interaktionen: „In dem großen, blühenden, summenden Durcheinander der äußeren Welt wählen wir aus, was unsere Kultur bereits für uns definiert hat, und wir neigen dazu, nur das wahrzunehmen, was wir in der Gestalt ausgewählt haben, die unsere Kultur für uns stereotypisiert hat." 2 2
Ebd., S. 87. Ebd., Lippmann meint, in unserer Umwelt gäbe es hinreichende „Gleichheiten" dafür, dass stereotypgeleitete Wahrnehmung funktionieren könne (vgl. S. 68). 18 Ebd., S. 61. 19 Ebd., S. 92. 20 Ebd., siehe vor allem S. 86-92. 21 Ebd., S. 91. 22 Ebd., S. 63 (Herv. - J. S.). 16
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TEIL I. THEORIE DES STEREOTYPS. BEGRIFFE, ASPEKTE, KONTROVERSEN Dennoch bleiben Stereotype in seiner Sicht keine lediglich von außen kommenden Prägestempel, vielmehr passten sie sich den inneren Dispositionen der Individuen an, die sie ihrerseits wiederum beeinflussten. Sie seien von allen möglichen subjektiven „Präferenzen belastet, von Zuneigung oder Abneigung überdeckt, mit Befürchtungen, Lustgefühlen, starken Wünschen, Stolz und Hoffnungen verbunden".23 Vor diesem Hintergrund sah Lippmann schließlich - damit sein drittes klassisch gewordenes Argument für den Wert der Stereotype formulierend - die Funktion als Systeme der Stiftung und Wahrung von Identität. In dem Maße wie sie vom Einzelnen angeeignet und habitualisiert würden, bilde sich an ihnen dessen Persönlichkeit. Auf diese Weise avancierten sie letzthin zu „Verteidigungsmitteln"24 des Individuums: „Ein Stereotypenmodell [...] ist die Garantie unserer Selbstachtung; es ist die Projektion unseres eigenen Wertebewußtseins, unserer eigenen Stellung und unserer eigenen Rechte auf die Welt." 25 Und Lippmann fügt hinzu: „Dort finden wir den Zauber des Vertrauten, Normalen, Verläßlichen [...] kein Wunder, daß jede Störung der Stereotypen uns wie ein Angriff auf die Grundfesten des Universums vorkommt." 26 Stereotype seien schon deshalb auch emotional tief verankert und ihre Bestätigung positiv besetzt. Überblickt man Lippmanns Gesamtentwurf aus der Distanz, so wird deutlich, dass er mit dem Stereotyp kein eindeutig modellierbares .Objekt' dargestellt hat. Nicht von ungefähr bleiben Basisformulierungen wie die von den ,Bildern in unserem Kopf' im Reich der Metapher. Daher scheinen Einwände gegen das Diffuse und das Inkohärente seines Begriffs, der längst nicht völlig deckungsgleiche psychosoziale Funktionen oder Prozesse zusammenschließt, auf den ersten Blick durchaus berechtigt. Dennoch laufen sie ins Leere. Denn einerseits erwies sich Lippmanns Entwurf mit seiner Anschaulichkeit und seinem Facettenreichtum (nicht nur) für die psychologische Forschung de facto als außerordentlich folgenreich. Andererseits lag die Ausarbeitung einer eindeutigen Kategorie offenbar gar nicht in seiner Absicht. Entstanden ist eher ein offenes Konstrukt - eine Art fuzzy concept - über einen Komplex interdependenter psychischer Mechanismen. Ein Konstrukt, das letztlich ausgerichtet ist auf die Darstellung einer übergreifenden erkenntnistheoretischen Problematik: auf die Diskrepanz zwischen .äußerer Welt' und der - sich in relativ stabilen Vorstellungsstrukturen ausdifferenzierenden - Welt der Wahrnehmung, des Denkens und der Kommunikation, eben der .Bilder in unserem Kopf', des „repertory of fixed impressions".27 Alles zielt bei Lippmann darauf ab, die Aufmerksamkeit auf die Vielfalt des steten kulturellen resp. subjektiven Konstruktcharakters von Wahrnehmung und Denken zu lenken - und auf die damit verbundenen Diskrepanzen zwischen mentaler Repräsentation und Realität. Es sind, bildlich gesprochen, die kristallisierten
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Ebd., S. 88. Ebd., S. 71. Ebd., S. 72. Ebd. Lippmann, Walter (1961), S. 104.
1. STEREOTYP' IN PSYCHOLOGIE U N D G E I S T E S W I S S E N S C H A F T E N mentalen Niederschläge ganz heterogener Prozesse, die er unter dem Etikett .Stereotyp' enggeführt hat. Trotz dieses eher diffusen Charakters ist Lippmanns Konzept implizit um zwei Kohärenz stiftende und unauflösbar verkoppelte Denkmotive herum aufgebaut. Zum ersten um das Motiv des Typologisch-Schematischen, das die selektive und, wie er das nennt, ökonomische Verarbeitung von Informationen erst ermögliche, sowie zweitens um das Motiv besonderer Stabilität (Habitualität und Konventionalität), wodurch Resultate von Anpassungsprozessen - gleichsam in geronnener Form automatisiert wiederverwendet werden können und die schon angesprochenen Identitäts- und Konsenseffekte entstehen. Es gehört für Lippmann zur ambivalenten Natur der Stereotype, dass - obgleich er sie immer mit Blick auf kognitive Verluste oder Verzerrungen beschrieb - er jene Defizite nicht nur hervorhob, um sie zu beklagen. Vielmehr suchte er die Verlust- oder Verzerrungsdimension im Kern mit durchaus positivem Akzent zu begreifen: als Preis für die Orientierungsfähigkeit. Denn Wahrnehmungen der äußeren Welt und Vorstellungen über die Realität galten ihm grundsätzlich weder als komplett und absolut denkbar noch als subjektiv resp. kulturell voraussetzungs- und interesselos, sondern stets als kontextgebundene Leistungen. Die Tendenz zu Verzerrungen oder Verlusten erschien darum zumindest solange nicht als ein Problem, wie die stabilen .Bilder in unserem Kopf' im jeweiligen praktischen Kontext hinreichend funktionieren. Hier ist Lippmann einem Grundargument moderner handlungsorientierter Kognitionswissenschaft28 fast schon ebenso nahe wie dem Pragmatismus von John Dewey und William James, auf den er sich ausdrücklich berief. Lippmann wollte seine Stereotype im Grundsatz als produktive Größen im Dienste von Umweltbewältigung und sozialer Verhaltensstabilisierung verstanden wissen. Daher war er sich sicher, „daß das menschliche Leben ärmer würde, wenn wir die Stereotypen um einer völlig naiven Einstellung willen aufgäben".29 Gleichzeitig deutete er die Problematik der latenten Spannung zwischen Stereotyp (als fixierter kontextgebundener Form) und veränderlichen Kontexten an, was zu Fehlleistungen führen könne. Als wünschenswert galt ihm deshalb ein reflektiertes und flexibles Verhältnis zum eigenen Stereotypvorrat. Flexibilität und Reflektiertheit sorge dafür, dass letzterer nicht mit absolutem Wissen verwechselt werde. Denn sobald wir uns der Relativität unseres Wissens als „grobes Vorstellungsnetz" bewusst seien, „[...] wissen wir bei der Anwendung unserer Stereotypen, daß es sich eben doch nur um Stereotypen handelt, wir behandeln sie mit leichter Hand, und wir modifizieren sie leichter." 30 Während nun die Korrektur im sozialpsychologischen Stereotypdiskurs der fünfziger Jahre auf die Rückwendung zu Lippmanns eher pragmatischen Sichtweise hinauslief, so blieb es doch meist bei der Einengung des Bedeutungsumfanges von .Stereotyp' auf das Thema Menschenbild. Indessen wurde der Begriff im Bemühen um Stringenz oder
28 Vgl. ζ. B. Varela, Francisco J. (1990) Kognitionswissenschaft - Kognitionstechnik. aktueller Perspektiven. Frankfurt am Main: Suhrkamp, insbes. S. 110. 29 Lippmann, Walter (1964), S. 69. 30 Ebd.
Eine Skizze
9
TEIL I. THEORIE DES STEREOTYPS. BEGRIFFE, ASPEKTE, KONTROVERSEN um Kompatibilität mit dem beim jeweiligen Autor dominierenden Theorieinteresse und Begriffssystem bis heute ständig neu zu bestimmen gesucht. Das führte in recht unterschiedliche Richtungen. Zumeist griff man jedoch einen Zusammenhang aus Lippmanns Repertoire von Argumenten heraus, stellte diesen in den Vordergrund und interpretierte oder erweiterte ihn auf der Basis neuerer Theorieansätze. Insofern hat Lippmann, wohl gerade weil er eher ein Syndrom denn eine Kategorie gab, einen komplexen Diskurs angeregt, der die von ihm wesentlich mitgeprägte Familie von Themen, Argumenten und Denkmotiven beständig fortschreibt und - in teilweise konzentrischen Richtungen - erweitert. Hier sei lediglich auf zwei solcher Tendenzen im heute kaum mehr zu überschauenden Feld sozialpsychologischer Stereotypforschung eingegangen. In Deutschland war es um 1960 vor allem Peter Hofstätter, der den Wert von Stereotypen im Sinne des Lippmannschen Funktionalismus wieder hervorhob. Sein Konzept baute aus Lippmanns Repertoire vor allem das intersubjektive Integrationssystem aus und verband es mit der traditionellen Konzentration auf das Thema Menschenbild. So behandelte er Stereotype als innerhalb einer Gruppe über eine längere Frist hin relativ uniforme und durch die Gruppe vermittelte Vorstellungen über die Angehörigen der eigenen oder einer anderen Gruppe (Auto- und Heterostereotype). Diese Vorstellungen erschienen als „Vor-Urteile" 31 , da sie den einzelnen Wahrnehmungs- und Urteilsvorgang als präexistente Muster mitbestimmen. Wie Lippmann hob Hofstätter Verlust- und Verzerrungsmomente hervor, die auch er als Preis für Funktionalität rechtfertigte. Ihm ging es vor allem um das Funktionieren sozialer Interaktion. Die Darlegung dieses Arguments nimmt bemerkenswert breiten Raum ein, wobei er insbesondere das Problem fiktiver Vorstellungen ,aus zweiter Hand' forcierte. Stereotype seien „Vorstellungen, bezüglich deren zwar das statistische Gültigkeitskriterium nicht überprüft wurde, die wir aber trotzdem mit einiger Bestimmtheit hegen". 32 Sie beruhten regelmäßig auf formelhaften Fiktionen, weshalb das „Wissen, das sich in Stereotypen niederschlägt, f...] um seiner selbst Willen sicherlich wenig Respekt" 33 verdiene. Als Institutionen des sozialen Konsenses und als Leitbilder für das Identitätsbewusstsein in einer Gruppe seien sie dennoch unverzichtbar. Denn ihnen käme „keine beschreibende, sondern eine [im sozialen Sinne] regulative Funktion" 34 zu. Es folgt auch hier eine Einschränkung: „Stereotype gehässiger Art" 3 5 gelte es zu bekämpfen. Während eine Hauptlinie der Sozialpsychologie mit ihren Stereotypkonzepten solche intersubjektiven, gruppendynamischen Funktionen und soziokulturellen Anpassungsmechanismen auch weiterhin in den Vordergrund stellte (und bis heute stellt), gewann etwa mit Beginn der achtziger Jahre eine Forschungsperspektive an Einfluss, die stärker auf intrasubjektive Aspekte eingeht: auf die kognitive Beschaffenheit des
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Hofstätter, Peter R. (I960), S. 7. Hofstätter bringt dabei einen Gedanken der Vernetzung
ins Spiel, S. 8: „Genau genommen ist ein Stereotyp ein Komplex von Vorurteilen, die meist gemeinsam auftreten, sich gegenseitig stützen und die daher eine gestalthafte Ganzheit bilden." 32
Ebd., S. 7.
33
Ebd., S. 32.
34
Ebd., S. 13 (Einfügung - J. S.).
35
Ebd., S. 34. - An anderer Stelle (S. 17) heißt es: „Unmenschliche Heterostereotype stellen
einen Grenzfall dar; man sollte sich ihrer stets enthalten, weil ihr .Besitz' die eigene Menschlichkeit ernsthaft in Frage stellt."
1. .STEREOTYP' IN PSYCHOLOGIE U N D G E I S T E S W I S S E N S C H A F T E N
mentalen Apparates. So dient Autoren wie Tajfel 36 oder Lilli 37 vor allem jenes Argument Lippmanns als Ausgangspunkt ihrer Konzepte, wonach Stereotype als kognitive Muster das notwendige Resultat von Grenzen der menschlichen Psyche seien, die dynamische Mannigfaltigkeit von Informationen aufzunehmen. Insbesondere Lilli suchte den Prozess der Stereotypbildung - und die damit einhergehende Verzerrung - mit einer elementaren psychischen Ursache zu deuten. Das Erfordernis, kognitive Transparenz durch Reizklassifikation herzustellen, gehe unausweichlich mit Verzerrungen einher. Diese Verzerrungen resultierten aus der Affinität der menschlichen Psyche zu Akzentuierungen: „Sachverhalte, die das gleiche Orientierungsmerkmal (.label') enthalten und daher in die gleiche Klasse fallen, werden untereinander ähnlicher gesehen als sie es sind {Generalisierung)"38 Und: „Sachverhalte, die verschiedene .labels' enthalten und daher in verschiedene Klassen fallen, werden unterschiedlicher gesehen, als sie es sind (Dichotomisierung)." 39 Die „Verzerrungswirkungen" von Generalisierung und Dichotomisierung würden sich nun systematisch in Stereotypen resp. in stereotypisierten Wahrnehmungen niederschlagen. Auch dieser Trend, Stereotypbildung vor allem als kognitive Funktion an sich zu konzeptualisieren, und daher Stereotyptheorie primär als kognitionspsychologische Theorie zu betreiben und nicht oder erst in zweiter Linie als eine des sozialen Pragmatismus, schreibt sich bis in die Gegenwart fort. Das zeigen zum Beispiel die von Daniel Bar-Tal et al. herausgegebenen Studien, 40 insbesondere die des amerikanischen Psychologen Walter Stephan. Stephan bettet sein Konzept zwar klar in die sozialpsychologische Thementradition des .Bildes vom Anderen' ein und fasst Stereotype als „cognitions concerning groups" 41 auf. Ihn interessieren dann aber vor allem die Auswirkungen von stereotypgeprägten Erwartungen auf die kognitiven Prozesse. Im Rahmen eines eigens entwickelten Modells - „model of cognitive information processing" 42 - erscheinen Stereotype als Sets von Merkmalen, die mit definierenden Basiskategorien assoziiert werden. Sie seien als hierarchisch geordnete mentale Schemata vorstellbar. Einerseits ist bei Stephan die Nähe zu jenem kognitivistischen Denken erkennbar, das auf der problematischen Grundidee fußt, menschliche Intelligenz ähnele in wesentlichen Merkmalen der Funktionsweise eines Computers. 43 Andererseits steht aber erTajfel, H. (1969) „Cognitive aspects of prejudice". In: Journal of Social Issues, 25, S. 79-97; Tajfel, H. (1975) „Soziales Kategorisieren". In: Forschungsberichte der Sozialpsychologie, hrsg. v. S. Moscovici. Frankfurt am Main: Fischer Athenäum, Bd. 1, S. 345-388. 37 Lilli, Waldemar (1982) Grundlagen der Stereotypisierung. Göttingen: Hogrefe. 38 Ebd., S. 14. 39 Ebd. 40 Bar-Tal, Daniel/Graumann, Carl F./Kruglanski, Arie W./Stroebe, Wolfgang (Hrsg.) (1989) Stereotyping and Prejudice. Changing Conceptions. New York, Berlin: Springer. 41 Stephan, Walter G. (1989) „A cognitive approach to stereotyping". In: Bar-Tal, Daniel et al. (Hrsg.) (1989), S. 37. 42 Ebd. 43 Zur Kritik der kognitivistischen Computermetapher siehe Varela, Francisco J. (1990), S. 37-53. 36
TEIL I. THEORIE DES STEREOTYPS. BEGRIFFE, ASPEKTE, KONTROVERSEN neut die schon von Lippmann thematisierte Verzerrungsproblematik im Mittelpunkt: die Betonung stereotypgemäßer und das partielle Ausblenden nicht gemäßer Informationen. Die gegebene Skizze der beiden Tendenzen mag hinreichen, um einen Eindruck zu vermitteln von der Spannweite und der konzeptuellen Auffächerung des auf Stereotype bezogenen sozialpsychologischen Diskurses - aber auch einen Eindruck von partiellen Regelmäßigkeiten und Ähnlichkeiten, die diesen Diskurs prägen. Auf letztere wird zurückzukommen sein. Ein solcher Einblick erweist sich auch als nützlich, wenn es darum geht, genauer zu betrachten, welche Konzepte vom .Stereotyp' bei der Analyse sprachlicher Äußerungen und medialer Texte, darunter auch Film, zum Tragen kommen. Denn häufig sind es sozialpsychologische (oder verwandte ethnologische) Forschungsinteressen und entsprechend basierte Konzepte vom .Stereotyp', die die Untersuchungen medialer Textinhalte leiten.44 Das erscheint aus dieser disziplinären Perspektive sinnvoll, reflektieren die Medien doch Weltwissen, Vorstellungen, Einstellungen und Erwartungen ihrer Adressaten. Umgekehrt haben sie wesentlichen Anteil am Transport und an der Verbreitung von entsprechenden Vorstellungen und Einstellungen - einschließlich solcher, die sich im bisher dargestellten Sinne als .Stereotype' erfassen lassen. Sie werden durch die Medien narrativ und visuell konkretisiert. Darauf hat auch schon Lippmann mit Blick auf den Film aufmerksam gemacht.45 Und sie werden generell medial überformt und modifiziert, worauf sich die weitere Textproduktion wiederum stützen kann. 46 Medientexte bieten mithin interessante Dokumente für eine sozialpsychologisch geprägte Forschung, die sich häufig in inhaltsanalytischen Untersuchungen zu Film, Fernsehen, Literatur und zu anderen Medien, die Sprache eingeschlossen, manifestiert. Als geradezu prototypisch für eine Perspektive, die Texte primär als Dokumente der sozialen Psyche behandelt, kann eine aus den sechziger Jahren stammende publizistikwissenschaftliche Studie von Franz Dröge gelten. 47 Dröge siedelte den logischen 44
Vgl. z.B. Gerndt, Helge (Hrsg.) (1988) Stereotypvorstellungen
Themenkreis Fremdbilder,
im Alltagsleben. Beiträge zum
Selbstbilder, Identität. Festschrift für Georg R. Schronbek zum 65. Ge-
burtstag. München: Vereinigung für Völkerkunde. 45
So heißt es bei Walter Lippmann (1964), S. 70: „Es kann daher kein Zweifel daran bestehen,
daß der Film ständig eine Bilderwelt aufbaut, die dann durch die Worte, welche die Menschen in den Zeitungen lesen, beschworen wird. Im ganzen Erfahrungsbereich der Menschheit hat bisher kein dem Kino vergleichbares Mittel zur Verbildlichung existiert." Und auf S. 69: „Die nebulöse Vorstellung wird lebendig: die verschwommene Kenntnis, etwa vom Ku-Klux-Klan, nimmt dank Mr. Griffith lebhafte Gestalt an, wenn man den Film .Geburt einer Nation' anschaut. [...] Ich möchte bezweifeln, ob jemand, der den Film gesehen hat und selber nicht mehr als Mr. Griffith über den Ku-Klux-Klan weiß, jemals den Namen wieder hört, ohne zugleich die weißen Reiter zu sehen." 46
In konstruktivistischer Terminologie läßt sich eine solche analytisch kaum auflösbare
Wechselwirkung mentaler und medialer Konstrukte treffend als „strukturelle Kopplung" beschreiben. Zum Begriff der „Kopplung" siehe Maturana, H. R. (1992) „Biologie der Sozialität". In: Schmidt, Siegfried J. (Hrsg.) (1992) Der Diskurs des radikalen Konstruktivismus.
Frankfurt
am Main: Suhrkamp, S. 287. Auch der Begriff „mediale Kopplung" ist gebräuchlich, siehe Spangenberg, Peter M. (1988) „TV, Hören und Sehen". In: Materialität der Kommunikation,
hrsg. von
Hans Ulrich Gumbrecht und K.Ludwig Pfeiffer. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 7 7 8 - 7 9 2 . 47
Dröge, Franz W. (1967) Publizistik und Vorurteil. Münster: Regensberg - siehe darin ins-
besondere der Teil II: „Stereotypen im publizistischen Prozess", S. 2 1 4 - 2 2 5 .
1. . S T E R E O T Y P ' IN P S Y C H O L O G I E U N D
GEISTESWISSENSCHAFTEN
O r t des Stereotypbegriffs eindeutig in der Einstellungsforschung an. Sein Verständnis orientiert sich weitgehend an Hofstätter. Stereotype sind für ihn Vorstellungen über Menschen oder Gruppen, Nationen etc., die ihrerseits durch die Gruppenzugehörigkeit des Trägers der Vorstellung normiert sind (Auto- und Heterosterotype). Die so verstandenen Stereotype suchte er über den Weg der Aussageanalyse
(content
analysis)
„als geronnene Elementarteile" 4 8 im Kommunikationsinhalt publizistischer Texte zu objektivieren. Ein ganz ähnliches Konzept und Untersuchungsziel kennzeichnet - um ein filmbezogenes Beispiel zu nennen - die etwa gleichzeitig vorgelegte Untersuchung von Peter Pleyer zur Reproduktion von nationalen Stereotypen in populären deutschen Spielfilmen. 4 9 Aber auch der englische Filmwissenschaftler Steve Neale bezog sich zehn Jahre später (unter Hinweis auf ein größeres Feld ähnlicher Diskurse in seinem Land) mit dem Begriff .Stereotyp' auf im Alltagsbewusstsein in F o r m von Vorurteilen verankerte Menschenbilder. 5 0 Ein Interesse, das sich auf den Text nicht lediglich als Reflektor und Dokument präfabrizierter Muster richtet, sondern die aktive Rolle der Medien bei der Formierung von Stereotypen betont, zeigte sich zu Beginn der neunziger Jahre bei Irmela Schneider 5 1 in deren Untersuchungen zu amerikanischen TV-Serien, die im deutschen Fernsehen gesendet wurden. Nach wie vor dominiert aber das Forschungsinteresse an Menschenbildern, die in die alltägliche Vorstellungswelt Eingang finden. Es bleibt also die sozialpsychologische Thementradition und die inhaltsanalytische Ausrichtung klar gewahrt. Schneiders Konzeptualisierung von Stereotypen als mehrgliedrige und „hierarchisch strukturierte mentale Schemata" 5 2 lehnt sich einerseits ausdrücklich an kognitionspsychologische Deutungen von Tajfel und Stephan an, zielt aber andererseits mit der Formel, Stereotype seien „kognitive Prozesse mit sozialen Folgen" 5 3 auf die intersubjektive
Integrationskraft
der Muster. So sieht sie eine Funktion von Stereo-
typen für die Rezeption von Fernsehserien selbst zunächst semantisch begründet: „Stereotypen sind transindividuelle Bedeutungskonstruktionen." 5 4 Durch das Rekurrieren auf solche „Schemata, die eine stabile, invariante Bedeutungszuschreibung ermöglichen" 55 (weil sie in hohem Maße konsensuell sind), werde die für Kunst sonst kennzeichnende rezeptive semantische Variabilität eingeschränkt. Es geht also um die nachhaltige Reduktion
von
Polysemie.
Den Hauptunterschied zum üblichen Vorgehen der Sozialpsychologie sieht sie aber darin, dass jenes sich kaum für die Instanzen interessiere, über die die Stereotype erlernt werden. Schneider macht es sich nun zum Ziel, den Komplex der im deutschen
Ebd., S. 121. Pleyer, Peter (1968) Nationale und soziale Stereotypen im gegenwärtigen deutschen Spielfilm. Eine aussageanalytische Leitstudie. Münster: Institut für Publizistik. 50 Neale, Steve (1993b) „The same old story: stereotypes and difference" [1979/80], In: The Screen Education Reader: Cinema, Televison. Culture, hrsg. von Manuel Alvarado, Edward Buscombe, Richard Collins. New York: Columbia University Press, S. 41-47. 51 Schneider, Irmela (1992) „Zur Theorie des Stereotyps". In: Beiträge zur Film- und Fernsehwissenschaft, Bd. 43, S. 129-147. 52 Ebd., S. 140. 53 Ebd. 54 Ebd. 55 Ebd., S. 143. 48
49
TEIL I. THEORIE DES STEREOTYPS. BEGRIFFE, ASPEKTE, KONTROVERSEN
Fernsehen gesendeten Serien als eine derartige Sozialisationsinstanz Genauer gesagt, sie möchte
zu analysieren.
„[...] untersuchen, welche rekurrenten Merkmalskombinationen sich in Hinblick auf Figurentypen inhaltsanalytisch an Serien ermitteln lassen, um dann Aussagen dazu treffen zu können, welche Stereotypen sich durch die Rezeption dieser Serien ausbilden können. Auf dieser Basis lassen sich dann Hypothesen darüber bilden, welche Folgerungen für das soziale Verhalten formulierbar werden." 56 Stereotype erscheinen hier als konsensuelle Knotenpunkte eines „allgemeinen Weltwissens". 57 Sozialpsychologisch geprägte Zugänge finden sich auch in der Literaturwissenschaft. Das lassen unter anderem die von Günther Blaicher unter dem Titel Erstarrtes Denken herausgegebenen Studien zu Klischee, Stereotyp und Vorurteil in englischsprachiger Literatur58 erkennen. Blaicher interessierte sich für die „literarische Stereotypisierung" als Ausdruck von Vorurteilen eines Autors, „einer von Vorurteilen geprägten Wirklichkeit", von Vorurteilen des „intendierten Leserpublikums" und von Vorurteilen des tatsächlichen Leserpublikums während der Rezeption.59 Eine vergleichbare - sozialwissenschaftlich angeregte - Zielsetzung verfolgten auch jene Untersuchungen zu Autoren des 20. Jahrhunderts in Literatur und narrativen Fernsehformen, die von Elliot, Pelzer und Poore unter dem Titel Stereotyp und Vorurteil in der Literatur60 versammelt wurden. Hier wird nun aber eine interessante semiotisch angeregte Differenzierung zwischen zwei Ebenen, auf denen ein Text durch fixierte rekurrente Muster geprägt sein kann, eingeführt: einerseits die unmittelbar auf den sozialpsychologischen Diskurs bezogene Ebene einer „stark vereinfachende[n] und deshalb unglaubwürdigefn] Personen- und Gruppencharakterisierung"61, andererseits jedoch die (etwas diffus gezeichnete) Ebene sich wiederholender auffälliger sprachlich-stilistischer Muster, die sich intertextuell/konventionell stabilisiert haben. Den Zusammenhang zwischen beiden Ebenen, „von sprachlich-stilistischem Stereotyp und gesellschaftsbedingtem Vorurteil" 62 darzustellen, ist erklärtes Anliegen der Herausgeber. Obwohl also der Stereotypbegriff hier auch an Muster auf der Ebene des sprachlichen Ausdrucks gebunden zu sein scheint, bleibt dennoch sein sozialpsychologisches und inhaltsanalytisches Primat gewahrt. Der Intention des Zusammenhangsnachweises folgend werden nämlich lediglich solche rekurrenten sprachlichen resp. narrativen Muster als „literarische Stereotype" gefasst, die sich als „bildhafte, sprachliche Konkretisierung des Vorurteils"63 interpretieren lassen. Auch wenn Elliot, Pelzer und Poore hinsichtlich der Nützlichkeit von Stereotypen im Geiste des Lippmannschen pragmaEbd., S. 142. Ebd. 58 Blaicher, Günther (Hrsg.) (1987). 59 Ebd., S. 9. 60 Elliot, James/Pelzer, Jürgen/Poore, Carol (Hrsg.) (1978) Stereotyp und Vorurteil in der Literatur. Untersuchungen zu Autoren des 20. Jahrhunderts. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht. 61 Ebd., S. 7. 62 Ebd. (Herv.-J.S.). 63 Ebd., S. 11. 56
57
1. .STEREOTYP' IN PSYCHOLOGIE U N D G E I S T E S W I S S E N S C H A F T E N tischen Funktionalismus argumentieren, stehen sie mit ihrer Konzentration auf die Verknüpfung von inhaltlich-kognitiven und sprachlich-stilistischen Mustern vor einer vergleichbaren Problemlage wie auch die Linguistin Uta Quasthoff. Sie verhandelte Stereotype mit Blick auf sprachliche Äußerungen und kam dabei zu der Bestimmung: „Ein Stereotyp ist der verbale Ausdruck einer auf soziale Gruppen oder einzelne Personen als deren Mitglieder gerichteten Uberzeugung. Es hat die logische Form eines Urteils, das in ungerechtfertigt vereinfachender und generalisierender Weise, mit emotional-wertender Tendenz, einer Klasse von Personen bestimmte Eigenschaften oder Verhaltensweisen zu- oder abspricht. Linguistisch ist es als Satz beschreibbar." 64 Stereotype erscheinen also auch bei Quasthoff nicht mehr als die gruppenbezogenen Vorstellungs- oder Urteilsformeln selbst, sondern als der verbale Ausdruck dieser sozial genormten Vorstellungen. Das ändert indessen auch bei ihr nichts an der eindeutigen sozialpsychologischen Fundierung des Begriffs. Die von Quasthoff mehr oder weniger als selbstverständlich unterstellte stabile Kopplung zwischen formelhaftem Sprachinhalt (dem Menschenbild) und der formelhaften Sprachform, lässt sich jedenfalls nicht aufrechterhalten. Es gehört zu den Einsichten der Semiotik, dass ein semantischer Wert durch eine Mehrzahl symbolischer Formen repräsentiert werden kann. So arbeitete auch bald Angelika Wenzel in ihrer Kritik an Quasthoff heraus, dass „die ausdrucksseitige Formelhaftigkeit nur für einen Teil der Stereotype zutrifft". 65 Wenzel teilt dennoch mit geringen Varianten Quasthoffs Stereotypkonzept. 66 Sie legt aber klar, dass Indikatoren für Stereotype - also stabile .Formeln' - nicht auf der Ebene des sprachlichen Ausdrucks, sondern auf der Bedeutungsebene gesucht werden müssen. Es bedürfe mithin „einer kritischen inhaltlichen Analyse, um diese Stereotypen aufzufinden", 67 denn es sei nicht möglich, primär über „sprachliche Indikatoren zu einer Operationalisierung des Begriffs ,Stereotyp' zu gelangen". 68 Damit verzichtet Wenzel nun aber nur umso eindeutiger als Quasthoff und andere 69 auf ein im engeren Sinne linguistisches Stereotypkon-
64
Quasthoff, Uta (1973) Soziales Vorurteil und Kommunikation.
Eine
sprachwissenschaftliche
Analyse des Stereotyps. Frankfurt am Main: Athenäum Fischer, S. 28. 65
Wenzel, Angelika (1978) Stereotype in gesprochener Sprache. Form, Vorkommen und Funk-
tion in Dialogen. München: Max Hueber, S. 30. 66
Wenzel, die sich vor allem am Urteilsbegriff Quasthoffs stört, sucht deren Definition wie
folgt zu präzisieren, ebd., S. 28: „Ein Stereotyp ist der verbale Ausdruck einer auf soziale Gruppen oder einzelne Personen als deren Mitglieder gerichtete [sie] Uberzeugung. Es hat die logische Form einer allgemeinen Aussage, welche in ungerechtfertigt vereinfachender Weise, mit emotional-wertender und normativer Tendenz einer Klasse von Personen bestimmte Eigenschaften oder Verhaltensweisen zu- oder abspricht." 67
Ebd., S. 30 (Herv. - J. S.).
68
Ebd.
"
So ist auch für Adam Schaff (1979) .Stereotyp' dezidiert ein sozialpsychologisches Faktum,
das aber „ähnlich wie der Begriff, immer mit einem Wort verbunden" (S. 162) sei. S. 163: „[...] es handelt sich doch dabei - besonders in Bezug auf gesellschaftliche Probleme - um einen Wortinhalt, der meistenteils vereinfachte und falsche Meinungen vermittelt, die nicht auf eigene Erfahrung gestützt sind, sondern auf dem [sie] Glauben an die Autorität der öffentlichen Meinung des Milieus und die gerade deswegen so hartnäckig und so schwer zu überwinden sind."
TEIL I. THEORIE DES STEREOTYPS. BEGRIFFE, ASPEKTE, KONTROVERSEN zept zugunsten einer Untersuchung der heterogenen sprachlichen Repräsentation von .Stereotypen', deren logischer Ort die Einstellungsforschung, verbunden mit Inhalts analyse ist.
Konzepte des .Stereotyps' in der Sprach-, Literaturund Kunstwissenschaft Die bisher dargestellten Konzepte, die primär auf soziale Menschenbilder und auf entsprechende Vorstellungsformeln in den Inhalten von Sprache und Texten bezogenen sind, überführen ein letzthin sozialpsychologisches Forschungsinteresse auf den Film und andere Medien. Daneben existieren nun aber auch solche, die sich primär für die .Normierung' der sprachlichen und textuellen Gestalt, für die .Normierung' der Ausdrucksseite, interessieren. Sie siedeln ihren Indikator für .Stereotype' auf dieser Ebene an und brechen klar mit der sozialpsychologischen Themenlogik. Solche Konzepte finden sich in den Theorien zu nahezu allen Medien, von der Sprachwissenschaft über die Literaturtheorie bis hin zur Kunstwissenschaft. Innerhalb der Linguistik ist es die Idiomatik, die eine .natürliche' Nähe zu einem solchen veränderten Verständnis aufzuweisen scheint. Das Interesse idiomatischer Untersuchungen ist nicht zuerst auf die Frage gerichtet, wie die von der Sozialpsychologie thematisierten Formeln sprachlich repräsentiert werden, sondern darauf, wie das Medium Sprache in der Sphäre seines Gebrauches funktioniert. Dabei geraten fixierte rekurrente Fertigformeln des verbalen Ausdrucks als .Stereotype' in den Blick. Florian Coulmas spricht von stabilisierten Lexemverbindungen, die von einer Sprechergemeinschaft „konventionellerweise dazu verwendet werden, bestimmte Dinge zu sagen und [die] von den Sprechern unabhängig von den grammatischen Regeln der Sprache erlernt werden". 70 Coulmas' Studie Routine im Gespräch stellt neben diesem Konzept auch die dazu gehörige pragmalinguistische Forschungstradition ausführlich dar und geht von einer kontext- und funktionsgebundenen Standardisierung des sprachlichen Ausdrucks aus: „Die Ähnlichkeit der funktionalen Ansprüche, die in vergleichbaren Situationen an die Verbalisierung gestellt werden, macht die Neuprägung von Ausdrücken überflüssig; und oft kann man sich auf den Schatz seiner kommunikativen Erfahrungen verlassen und sein Gedächtnis statt seiner Phantasie bemühen." 71 Auf solche Art und Weise entstehen .Stereotype'. Gemeint sind hier nun gefestigte rekurrente sprachliche Wendungen. Sie erscheinen gleichsam an der Nahtstelle von Sprachgebrauch und Sprachsystem angesiedelt. An der allmählichen Verfestigung einer Wendung innerhalb des Sprachgebrauchs bis hin zu dem Punkt, wo sie tatsächlich den Charakter eines Stereotyps besitzt, also konventionell geworden ist, lasse sich beispielhaft studieren, „wann und wodurch sich Ereignisse des Sprachgebrauchs auf der Ebene des Sprachsystems durchsetzen". 72
Coulmas, Florian (1981) Routine im Gespräch. Zur pragmatischen Fundierung der Idiomatik. Wiesbaden: Athenaion, S. 3. 71 Ebd., S. 55. 72 Ebd., S. 10. 70
1. .STEREOTYP' IN PSYCHOLOGIE UND G E I S T E S W I S S E N S C H A F T E N Von diesem Ausgangspunkt her unterstreicht Coulmas die Kontext- oder „Situationsbezogenheit"7^ der Stereotype als Bestandteil der praktizierten Sprache in einer für eine Gruppe und eine Lebensweise charakteristischen Ausprägung. Ihre Analyse erfordere eine „Theorie der Sprechsituation". 74 Denn besonders die Routine formein, also jene Art verbaler Stereotype, auf die Coulmas vor allem eingeht, während er Redewendungen, Sprichwörter und Gemeinplätze nur streift, seien Resultat von „Situationsstandardisierung". 75 „Sie sind in der Sprache verfestigte organisierte Reaktionen auf soziale Situationen" 76 und ihr Austausch gehöre zu den „Riten des Alltags", durch die „viele Bereiche der alltäglichen Interaktion geregelt werden". 77 Deshalb funktionierten solche Stereotype nicht nur als funktional angepasste fixe Formen, sie unterliegen langfristig bei sozialen Veränderungen auch dem Sprachwandel. Und sie besitzen eine Art Verweischarakter auf den jeweiligen Situationskontext zum Zeitpunkt ihres Erscheinens. Ein Verweischarakter, der nach Coulmas wesentlich aussagekräftiger sei als bei nur lexematischen Einheiten. 78 In der Konsequenz plädiert er für eine funktionale Bedeutungstheorie. Denn der semantische Gehalt von verbalen Stereotypen sei auf Grundlage des Prinzips der lexikalischen Dekomposition allein nicht mehr hinreichend zu analysieren. Es ergebe sich eine spezifische „[...] Problematik der Konnotation, die in diesem Zusammenhang als .soziale Bedeutung' in dem Maße in den Vordergrund rückt, wie die propositionale Bedeutung in ihrer Wichtigkeit zurücktritt." 79 Coulmas steht mit seinem - verglichen mit Quasthoff und Wenzel im engeren Sinne linguistischen - Stereotypverständnis nicht allein.80 Insbesondere französische Theoretiker wie Michael Riffaterre 81 , Gerard Genette 82 oder auch Roland Barthes 83 benutzen den Begriff ebenfalls zur Kennzeichnung von normierten rekurrenten Lexemverbindungen, ohne indes dieser Frage eine ähnlich systematische Untersuchung wie Coulmas zu widmen.
Ebd., S. 66. Ebd., S. 15. 75 Ebd., S. 13. 76 Ebd. 77 Ebd., S. 68. 78 Vgl. ebd., S. 10 sowie S. 68-69. 79 Ebd., S. 14. 80 Harald Scheel z.B. definiert das Stereotyp ähnlich: „Sprachliche Stereotype sind Lexemkombinationen, die auf Grund sprachlich-kommunikativer Normen und Erwartungen der Kommunikanten an die Kommunikationssituation, usuelle Normierungen formaler wie inhaltlicher Art darstellen und durch ihre Fähigkeit, gedankliche Unterprogramme auszulösen, denkökonomische Züge tragen. Sie sind als fixierte Wortgefüge eine spezifische Form der wiederholten Rede und gehören als Wortschaftselemente dem Sprachsystem an." Scheel, Harald (1983) Untersuchungen zum sprachlichen Stereotyp. Leipzig (Diss.), S. 57. 73
74
Riffaterre, Michael (1973) Strukturale Stilistik [franz. 1971], München: List. Genette, Gerard (1993) Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe [franz. 1982]. Frankfurt am Main: Suhrkamp, bes. S. 27 und S. 103-104. Genette benutzt den Begriff allerdings eher beiläufig, ohne ihn explizit zu reflektieren. 81
82
Barthes, Roland (1983) Elemente der Semiologie [franz. 1964]. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Barthes spricht hier speziell von „stereotypen Syntagmen" (S. 52). Eine zentrale Bedeutung besitzt der Stereotypbegriff für ihn jedoch in einem deutlich umfassenderen Verständnis, dass in anderen seiner Texte erkennbar ist (darauf wird später zurückgekommen). 83
TEIL I. THEORIE DES STEREOTYPS. BEGRIFFE, ASPEKTE, KONTROVERSEN Bei Riffaterre kommen Stereotype ins Spiel, wenn er die Funktion von „Klischees" in der literarischen Prosa untersucht. Klischees sind für den Stiltheoretiker eine Sonderform84 verbaler Stereotype (fixierter Lexemgefüge) - und zwar eine Sonderform, die ein „Stilfaktum", wie etwa eine konventionell gewordene Metapher, aufweist. Sie deutet er ebenfalls pragmatisch als funktionale Größen, in denen ein Wirkungseffekt kristallisiert sei. Eine „Wirkung ist also, wenn ich so sagen darf, konserviert."85 Nun sieht Riffaterre, dessen Stiluntersuchung dezidiert ästhetische Werthorizonte ins Spiel bringt, Stereotype resp. Klischees generell einem latenten Verlustverdacht ausgesetzt. Dieser Verlustverdacht weicht jedoch deutlich von den Defizitannahmen der Sozialpsychologen ab. Er ist aber für ästhetisch-stilistische Überlegungen kennzeichnend und dominiert hier vielfach das Nachdenken über Stereotype. Wegen ihres Charakters als formelhafte Fertigteile liege der Vorwurf des Banalen, Inoriginellen nahe. Auf diese ästhetische Empfindlichkeit wird an späterer Stelle noch ausführlicher zurückzukommen sein. Am konsequentesten hat Roland Barthes den Vorbehalt ausgedrückt: „Ekel stellt sich ein, wenn die Verbindung zweier wichtiger Wörter sich von selbst versteht."86 Riffaterre indes müht sich um Differenzierung. Er insistiert: „Wenn nämlich das Klischee immer stereotyp ist, so ist es nicht immer banal; man empfindet es so nur dann, wenn die Originalität das in Mode stehende ästhetische Kriterium ist; zu anderen Zeiten wird es in den Gradus ad Parnasstim katalogisiert und unter Bezeichnungen wie .glückliche Wendung', ,ein wie angeborenes Adjektiv' usw. empfohlen."87 Auch meint er - hierin durch und durch Funktionalist dass selbst das ästhetische Urteil .banal' nichts an der praktischen Funktionalität ändere, also nicht mit dem Registrieren eines wirklichen Funktionsverlustes der Formel gleichzusetzen sei, da man „Banalität nicht mit Abnutzung verwechseln"88 dürfe. Im Übrigen sei mit erheblichen Konsequenzen für stilkritisch-ästhetisches Urteilen zwischen zwei differenten Funktionen stereotyper Wendungen im literarischen Text zu unterscheiden. Es sei schließlich ein Unterschied, ob sie nämlich (1.) „als konstitutives Element der Schrift des Autors" oder (2.) „als Gegenstand des Ausdrucks [...] als eine außerhalb der Schrift des Autors liegende Realität"89 zum Beispiel in der Sprache einer Figur dargeboten werden. Während Riffaterre analog zu Coulmas an seinen Stereotypen oder Klischees das Moment des Konventionellen besonders hervorhebt, ist für Genette offenbar schon die häufige Rekurrenz einer Lexemverbindung im Werk eines Autors hinreichend, um von einem Stereotyp zu sprechen. So geht er bei seinen Analysen zu Pastiche und Parodie mit diesem Terminus auf die vielfache Wiederkehr von solchen „rekurrenten Wendun-
Vgl. Riffaterre, Michael (1973), S. 140-141: „Es ist wichtig zu unterstreichen, daß die Stereotypie allein das Klischee nicht ausmacht: es ist außerdem notwendig, daß die durch den Gebrauch erstarrte verbale Folge ein Stilfaktum aufweist, ob es sich um eine Metapher handelt wie .menschlicher Ameisenhaufen', um eine Antithese wie .juristischer Mord', eine Hyperbel wie .tödliche Unruhe' usw. Alle stilistischen Kategorien sind in der Lage, zu Klischees zu werden." 84
85 86 87 88 89
Ebd., S. 140. Barthes, Roland (1974) Die Lust am Text [franz. 1973]. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 65. Riffaterre, Michael (1973), S. 147-148. Ebd., S. 140. Ebd., S. 147.
1. .STEREOTYP' IN PSYCHOLOGIE U N D G E I S T E S W I S S E N S C H A F T E N gen" 90 wie die rosenfingrige Eos oder der leichtfüßige Achilles in Homers Ilias ein, die ihm auf Grund ihrer häufigen Wiederkehr gleichsam „als Selbstzitate"91 erscheinen. Ahnlich Coulmas akzentuiert auch er eine Art konnotativer Verweisfunktion auf den Kontext, in seinem Fall auf das Werk eines Autoren. Das Stereotyp wird hier zu einem Homerismus. Denn: „Jede dieser homerischen Formeln [...] bildet eine aus zahlreichen Okkurenzen bestehende Klasse, deren Verwendung durch einen anderen, epischen oder nicht epischen Autor weder einem Homer-Zitat noch einer Entlehnung aus Homer, sondern einem echten Homerismus gleichkommt - die Definition der Formeltechnik besagt ja, daß alle diese Idiotismen ständig wiederkehren."92 Unter stilkritischem Aspekt räumt nun auch Genette eine potentielle kontextbezogene Angemessenheit solcher verbaler Stereotype (selbst in der Schrift des Autors) ein, sofern gewisse historische Textsorten wie die Epik davon betroffen sind und damit ein entsprechender Werthorizont ins Spiel komme. Wenn es um die Analyse von ganzen Texten und ihrer Komposition geht, so verschiebt sich der Gegenstandsbezug des Begriffs .Stereotyp' nun allerdings noch einmal deutlich; und zwar weg von der dargestellten linguistisch-idiomatischen Bindung an konventionell fixierte rekurrente Wortgefüge hin zu größeren strukturalen resp. stilistischen Phänomenen literarischer oder andersmedialer Texte. Der Begriff kommt hier vor allem ins Spiel, wo es - wie bei Jurij Lotman - um „Strukturklischees"93 der Texte geht, und er wird häufig mehr oder weniger synonym damit verwandt. Anders als in der Linguistik lässt sich der Terminus hier allerdings nicht auf eine bestimmte Ebene oder Einheit festlegen. Lotmans Rekurs auf .Struktur' zeigt bereits, dass er Konstrukte meint, die in ihrer Ausdehung oder auch in ihrer Anbindung an eine Textebene der Tendenz nach ebenso variabel sein können wie es .Strukturen' sind. Freilich ist es ihm um besondere Strukturen zu tun, nämlich um solche, die durch Wiederholung beim Publikum so gut bekannt und eingeschliffen sind, dass sie als gleichsam erwartete Muster der Textorganisation zum Bereich der „KulturKodes" 94 gehören. Ohne näher auf den Prozess, auf Grad und Umfang solcher Kodifizierung einzugehen (es kann unterstellt werden, dass er einen Prozess der Konventionalisierung meint), verweist Lotman auf das Resultat: „erstarrte Systeme von Figuren, Sujet-Abläufen und anderen Strukturen".95 Seine Beispiele und häufiger bemühte Begriffe wie .Schablone' lassen zudem erkennen, dass er an relativ dichte und prägnante Muster denkt. Das heißt, er hat offenbar der Sache nach ähnliche Konstrukte im Blick wie zum Beispiel John Cawelti,96 der mit Bezug auf populäre Narration (in der Literatur
Genette, Gerard (1993), S. 104. " Ebd., S. 27. 92 Ebd., S. 104. 90
93 94
Lotman, Jurij M. (1972) Die Struktur Ebd., S. 404.
literarischer
Texte. München: Fink, S. 407.
Ebd., S. 410. John G. Cawelti (1969) „The concept of formula in the study of popular literature". In: Journal of Popular Culture, 3.3, S. 381-390. 95
96
TEIL I. THEORIE DES STEREOTYPS. BEGRIFFE, ASPEKTE, KONTROVERSEN aber auch in anderen Medien) von „Formeln" (formula) des Erzählens spricht, oder wie Umberto Eco, der über - den Rezipierenden gut bekannte - „Wiederholungsschemata" 97 in der Massenkultur nachdenkt. Hatte der Pragmalinguist Florian Coulmas verbale Formeln untersucht, die „konventionellerweise dazu verwendet werden, bestimmte Dinge zu sagen", 98 weil sie ähnliche funktionale Ansprüche bedienen, die in vergleichbaren Situationen an die Verbalisierung gestellt werden, so erscheint es möglich, auf der Ebene konventioneller Textformeln etwas Analoges zu entwickeln: eine Art pragmasemiotisches Konzept. Das bedeutet, Stereotype der Textorganisation analytisch in den Kontext jener funktionalen Ansprüche zu stellen, die für ihre allmähliche Ausdifferenzierung als Stereotype den Kontext gebildet haben, sie also zum Beispiel als .konservierte' Antwort auf verbreitete Bedürfnisse nach emotionaler Aktivierung (etwa im Spannungserleben) oder nach identifikativer Beteiligung oder auch als Reflexion ideologisch-mythologischer Bedürfnisse zu thematisieren. Auf einer solchen Grundlage wird dann - um die Analogie noch etwas weiter zu treiben - auch für Stereotype der Textorganisation eine funktionale Bedeutungstheorie möglich. Das heißt, ein Konzept, das den Ritualcharakter und die Kontextbindung der Muster akzentuiert und Phänomenen wie dem Zurücktreten von propositionalen Bedeutungen und dem Hervortreten von Verweisfunktionen (auf ursprüngliche Funktionskontexte) nachgeht. Eine Reihe solcher Aspekte ist in der Literatur-, aber auch in der Filmwissenschaft tatsächlich untersucht worden (darauf wird noch ausführlich einzugehen sein), indes häufig ohne dies explizit mit dem Begriff .Stereotyp' zu verbinden. Lotman bringt den Terminus allerdings explizit ins Spiel. Aber anders als ein funktionaler, pragmatischer Ansatz dies tun würde, interessiert er sich nicht für die Gründe und Kontexte der funktionsbedingten Ausformung von Stereotypen der Textorganisation oder für die Ursachen der rezeptiven Akzeptanz, auf die sie vielfach treffen. Ebensowenig berührt er - ansonsten viel diskutierte - Fragen nach der Qualität der Formeln zum Beispiel mit Blick auf deren Ideologiecharakter oder auf ihre Realitätsadäquatheit. Mögliche inhaltliche Verluste und Verzerrungen sind überhaupt nicht sein Thema. Was für Lotman allein wichtig ist, das ist die faktische Existenz der Strukturklischees und vor allem der Umstand, dass sie als Stereotype im Bewusstsein der Produzenten und Rezipienten von Texten abgespeichert worden sind. Denn: „Stereotype (Schablonen, Klischees) des Bewußtseins spielen eine ungeheure Rolle beim Erkenntnisprozeß und - weiter gefaßt - beim Prozeß der Informationsübertragung." 9 9 Sie funktionierten mithin als Codes. Dabei geht es dann aber weniger um die .normale' einfache Reproduktion der Stereotype, sondern vor allem um jene Art des Rekurses auf sie, die mit Differenzsetzungen verbunden ist. Schließlich ist für Lotman der „Einbruch von Unordnung, Entropie, Desorganisation in den Bereich der Informationsstruktur" 1 0 0 ein Basisprozess zur 97 Eco, Umberto (1986) Apokalyptiker und Integrierte. Frankfurt am Main: Fischer, insbesondere das Kapitel „Verteidigung des Wiederholungsschemas", S. 207-213. 98 Coulmas, Florian (1981), S. 3. 99 Lotman, Jurij M. (1972), S. 410. 100 Ebd., S. 118.
1. .STEREOTYP' IN PSYCHOLOGIE U N D G E I S T E S W I S S E N S C H A F T E N Erzeugung spezifisch künstlerischer Information und ästhetischer Qualität. Das Spiel mit der Spannung zwischen stereotypgeleiteten Erwartungen und differenten Aktualisierungen der Stereotype im Text, das ist es, was ihn eigentlich an der ganzen Frage interessiert: „Die Rezeption eines künstlerischen Textes ist immer ein Kampf zwischen Zuhörer und dem Autor [...] Sobald der Zuhörer einen gewissen Teil des Textes rezipiert hat, .baut' er sich daraus ein Ganzes auf. Der nächste ,Zug' des Autors kann diese Vermutung bestätigen und ein Weiterlesen nutzlos machen (zumindest vom Standpunkt heutiger ästhetischer Normen aus) oder er kann die Vermutung widerlegen und dem Zuhörer eine neue Konstruktion abverlangen. Und so geht es weiter ..." 101 Die Stereotype haben dafür eine zentrale Bedeutung. Das ist aber nicht ihre primäre Bedeutung, die ja gerade in der Stiftung von Ordnung, Konstanz und Berechenbarkeit besteht. Für Lotmans strukturale Ästhetik bilden die Muster ihrer Konventionalität wegen gleichsam eine gemeinsame Folie für das letztlich formale Spiel von Textproduzent und Rezipient, eine „Grundlage der künstlerischen Systeme dieses Typs". 102 Unter Bezugnahme auf sie werden bei den Rezipierenden Erwartungen geweckt und im Text systematisch dazu Differenzen organisiert. Allerdings denkt Lotman nicht an absolute Differenz. Neben dem Konzept einer Ästhetik der Gegenüberstellung postuliert er die Ästhetik der Identität. Während die Ästhetik der Gegenüberstellung das Stereotyp durch den Text im Bewusstsein des Lesers evoziert, lediglich um es dann zu destruieren, setzt die Ästhetik der Identität an dem einen Pol der Textanlage durchaus auf die dezidierte Reproduktion prägnanter Wiederholungsmuster. Am anderen Pol kommt dann aber eine Vielfalt von lebendigem Material ins Spiel, das die Stereotype und ihre Kombination immer neu variiert. Lotman beschreibt das am Beispiel der Commedia dell'arte, „[...] die an einem Pol einen streng festgelegten Satz von Masken-Schablonen mit ganz bestimmten Möglichkeiten und Unmöglichkeiten besitzt, am anderen Pol sich als die freieste Improvisation verwirklicht, die es in der Geschichte des europäischen Theaters gibt." 103 In Frankreich hat Ruth Amossy eine literaturwissenschaftliche (aber auch auf audiovisuelle Medien bezogene) Semiologie des Stereotyps entwickelt, deren Resümee sie 1991 in Les idees re(uesm niederlegte. Ihr Herangehen weist, was den semiotischästhetischen Ansatz betrifft, neben einigen Unterschieden eine ganze Reihe von Gemeinsamkeiten mit Lotman auf. Das lässt schon ein früher Aufsatz105 von 1984 erkennen, auf den hier zunächst eingegangen werden soll. Darin betont auch Amossy, dass alle nur möglichen Strukturebenen von Texten, von der thematischen Ebene über die der Figuren bis zur narrativen Makrostruktur einer .Stereotypisierung* unterliegen können und verbindet das Thema mit dem Hinweis auf besonders auffällige Stereotypisierungen im Bereich der Massenliteratur resp. Populärkultur überhaupt. Und auch Amossy strebt weniger eine pragmatische Ana101 102 103 1M 105
Ebd., S. 407. Ebd., S. 410. Ebd., S. 411-412. Amossy, Ruth (1991a) Les idees regues. Semiologie du stereotype. Paris: Nathan. Amossy, Ruth (1984) „Stereotypes and representation in fiction". In: Poetics Today, 5.4, S. 691.
TEIL I. THEORIE DES STEREOTYPS. BEGRIFFE, ASPEKTE, KONTROVERSEN lyse an, die Stereotype funktional als Antwort auf bestimmte Bedingungsgefüge und Bedürfnisse zu deuten sucht. Wie für Lotman ist für sie das Faktum an sich interessant, dass Muster gleichsam erstarrt vorliegen und sich häufig wiederholen, „reccurent and frozen",106 und so jeweils zu konventionellen Modellen geworden sind. Darauf baut sie Überlegungen auf, die ebenfalls in Richtung des Spannungsverhältnisses zwischen Autor/Text und Rezipient weisen: „the stereotyp stands at the junction of text and reading. It is necessarily reliant on an aesthetics of reception".107 Amossys Rezeptionsästhetik geht nun nicht allein davon aus, dass Stereotype „in the reader's cultural memory"108 verankert sind und somit zu kognitiven Faktoren für die Rezeption - auch für die Wahrnehmung von Differenzen - werden können, also zu Faktoren, mit denen auch ein Autor zu rechnen hat. Sie entwirft darüber hinaus das Bild einer extremen Lesestrategie, die an die schon von Lippmann beschriebene Kraft gut verankerter Stereotype - Betonung stereotypgemäßer und die partielle Verdrängung nicht gemäßer Informationen - erinnert. Diese Lektüreform nennt sie „stereotyped reading".109 „Reading picks out all the constituents of the description which correspond to the preexisting pattern. In doing this, it trims, prunes, and erases. All nuances which are not immediatly relevant are rubbed out. All variants are reduced and reintegrated willy-nilly into the initial isotopism."110 „Reading thus recuperates the maximum number of variants and differences while working to reduce them to the Same and Known. Everything that perversely disturbs this harmony of fixed traits reunited in a stable pattern is relegated to the level of ,remnants'. For the reader forming the stereotype, these remnants are hardly a problem. Whenever reading does not purely and simply skip them, it [...] neutralizes the remnants without difficulty [,..]." 1U Es handelt sich also um ein von ihr als verzerrend und verlustproduzierend aufgefasstes Lesen. Das strebe nach der Bestätigung von stabilisierten Vorstellungs- und Wissensbeständen, nach dem Bewährten, und beruhe auf einer überbordenden Lust an der Wiederholung: „Stereotyped reading allows us to stay on this familiar terrain, where everything has the reassuring form of dija-vu. We have nothing more to learn; we must simply recognize the same in novelty and difference."112 Eine solche Lesestrategie könne nun vom Text durch die bestätigende Aktualisierung von Stereotypen gleichsam zielgerichtet bedient werden. Ein Text könne sich ihnen aber auch widersetzen durch Differenzbildung im Sinne einer Kontrastierung der aufgegriffenen Formeln: „reworking of models and problematization of commonplace visions".113 106
Ebd., S. 690.
107
Ebd.
108
Ebd., S. 6 9 2 - 6 9 3 .
109
Ebd., S. 694.
110
Ebd., S. 693
111
Ebd.
112
Ebd., S. 6 9 4 - 6 9 5 .
113
Ebd., S. 700.
1. .STEREOTYP' IN PSYCHOLOGIE U N D G E I S T E S W I S S E N S C H A F T E N In Amossys Aufsatz von 1984 ist noch ihre kritische Distanz gegenüber dem Stereotyp, ihre Betonung von Verlustdimensionen (vor dem Hintergrund eines klar repräsentationsbezogenen Nachdenkens über Literatur) deutlich zu spüren: „For us the stereotype is the point at which repetition becomes routinization, and complexity becomes the most outrageous schematization."114 Die Lust an der Wiederholung erscheint - anders als später in der Studie von 1991 115 - hier nur als Reibungspunkt für das Ästhetische. Dennoch folgt ein Plädoyer für einen funktionalen Zugang. Darunter verstand sie aber 1984 vor allem, dass ästhetische Urteile über die textuelle Performanz von Stereotypen die jeweilige Art des Umgangs mit ihnen zu berücksichtigen haben. Sie hätten zu unterscheiden zwischen bloßer Bestätigung und kontrastierender Differenzsetzung. Die dekonstruierende, kontrastierende, Automatismen aufhebende und auf Zerstörung zielende Anrufung der kulturellen Muster erschien ihr damals offenbar als die ästhetisch einzig angemessene. Die Analogie zu Lotmans Kategorie Ästhetik der Gegenüberstellung ist evident. Sie favorisierte die Logik dieses Konzepts. Wenn von spezifisch textbezogenen Stereotypkonzepten die Rede ist, so kann .Text' hier in einem weiten - semiologischen - Sinn verstanden werden. Denn auch Kunstwissenschaftler wie Ernst Gombrich oder Arnold Hauser benutzen den Stereotypbegriff. Sie tun dies mit ähnlichen Intentionen wie Lotman oder Amossy - nämlich zur Erfassung von konventionell fixierten, rekurrenten Strukturmustern der Darstellung. Bei ihnen geht es natürlich um die Darstellung im Bildmedium. Nicht zuletzt eingedenk der Bildhaftigkeit des Films sei darauf, den gegebenen Uberblick abschließend, eingegangen. Im Feld von Sprach- und Textanalyse kam der Begriff häufig mit dem Terminus „Formel" zusammen, und auch Hauser zielte mit seinen .Stereotypen' auf Formeln auf jene „stehenden Formeln"116 der Visualisierung, die sich im Kontext bildender Kunst (freilich nicht isoliert von anderen kulturellen Diskursen) ausdifferenziert haben. Die Funktion von Stereotypen, die für ihn jeweils innerhalb einer bestimmten kunstgeschichtlichen Formation als prägnante und konventionelle Schemata der Bildkomposition gleichsam als Spielregeln für Gestaltung und Rezeption agieren, betrachtete auch er vor allem unter dem Aspekt des Funktionierens von Kommunikation. Als konventionell gewordene, von Künstler und Rezipierenden in einer Formation geteilte und akzeptierte Darstellungsmuster gerieten sie auch hier in die Nähe von kulturellen Codes. Hauser selbst benutzte die Metapher „Sprache der Kunst". 117 Mit entwickelteren semiotischen Begriffen könnte man auch sagen: er siedelte seine .Stereotype' auf der Ebene spezifischer Codes an, die jeweils eine historische Formation bildender Kunst kennzeichnen. Interessant ist nun, dass sich auch Hauser der Frage nach latenten Verlusten und Verzerrungen durch Stereotype zuwandte. Diese stellte auch er weniger mit Blick auf die Adäquatheit der Repräsentation von äußerer Wirklichkeit im Bild, also weniger inhaltlich ausgerichtet, sondern mehr in Hinsicht auf das ästhetische Problem des individuellen Ausdrucks mit konventionellen Mitteln. Hauser argumentierte gleichsam auf Ebd., S. 699. Später - in Amossy (1991a) - setzt sie in dieser Hinsicht deutlich andere Akzente und betrachtet die Maßstäbe solcher Wertungen selbst als historisches Produkt. 116 Hauser, Arnold (1953) Sozialgeschichte der Kunst und Literatur [engl. 1951], Bd. 1. München: C.H. Beck, S. 41. 117 Vgl. Hauser, Arnold (1973) Kunst und Gesellschaft, München: Beck, S. 41-44. 114 115
TEIL I. THEORIE DES STEREOTYPS. BEGRIFFE, ASPEKTE, KONTROVERSEN dem Boden einer .Ästhetik der Identität' und das mit funktionaler Tendenz. Eine Mitteilung werde erst verständlich, „indem sie sich einer Schematisierung und Konventionalisierung unterzieht und aus der Sphäre der privaten und persönlichen Bedeutung in die der zwischenmenschlichen Beziehungen tritt". 1 1 8 Dies müsse „stets damit erkauft werden, daß die mitzuteilenden Inhalte einen Teil ihres ursprünglichen Sinnes verlieren". 1 1 ' Damit sei kreativ umzugehen, denn - so fügt er zu Recht hinzu - das Außerkraftsetzen dieses fundamentalen Zusammenhanges sei pure Fiktion: „Das vollkommen subjektive und spontane, jeglichen konventionellen und stereotypen Elements bare Erlebnis ist ein bloßer Grenzbegriff, ein abstraktes Gedankenbild, dem in der Wirklichkeit nichts entspricht." 120 Die Affinität zu Stereotypen dürfe daher nicht prinzipiell als ,Verlust' angesehen werden, sondern vielmehr als Bedingung künstlerischer Kreativität: „Der Prozeß ist ein dialektischer: Spontaneität und Widerstand, Invention und Konvention, dynamische, formsprengende und formstreckende Erlebnisimpulse und feste, träge, stabile Formen bedingen, behindern und befördern einander gegenseitig. [...] Der künstlerische Ausdruck vollzieht sich nicht trotz, sondern dank dem Widerstand, auf den er in der Form der Konvention stößt. [...] Es ist dies ein eklatantes Beispiel der Hegeischen .Aufhebung': ein gleichzeitiger Auf- und Abbau von geltenden Konventionen, Symbolen, Schemata [...]." 1 2 1 In deutlicher Parallele etwa zu Riffaterre oder auch zu Lotmans Commedia dell'arteBeispiel verwies nun auch Hauser auf Kulturen, die ein ganz anderes Maß an Schematismus, Wiederholung und Konventionalität akzeptieren als die Ästhetik der Moderne. So gelte zum Beispiel für die traditionelle ostasiatische Kultur die direkte Anlehnung an wiederkehrende Bildformeln, die deutlich in ihrer Komplexität reduziert sind, als Zeichen einer „stilisierenden, formstrengen Kunst" und mithin als „vornehmer". 122 Aus solcher Perspektive sah er im konfliktträchtigen Zusammenspiel von stereotypen und spontan-individuellen Momenten geradezu ein Wesensmerkmal der gesamten Kunstgeschichte, das jeweils in unterschiedlichem Rahmen, auf verschiedene Weise, mit höchst unterschiedlicher Gewichtung der Pole von Stereotyp und Differenz und mit sehr heterogenen Lösungen in Erscheinung trete. Das Spiel von stereotypgenerierter Erwartung und Differenz, das Lotman in zeitlicher Dimension beschreibt, wird hier gleichsam in die Fläche des Bildes verlegt. Der Stereotypbegriff drängt sich in Hausers Schriften allerdings immer dann besonders in den Vordergrund, wenn es um Werke und Epochen geht, in denen einfache, reduzierte konventionelle Bildformeln das konkrete Bild besonders offen im Sinne eines „schablonenhaften Stil[s]" 123 beherrschen und dies in einer großen Reihe ähnlicher Fälle geschieht, also konventionell und stilprägend erscheint wie bei der „Stereotypisierung der Kunst" 1 2 4 in Ägypten.
118 119 120 121 122
123 124
Ebd., S. Ebd. Ebd. Ebd., S. Hauser, Ebd., S. Ebd., S.
42.
30. Arnold (1953), S. 39. 36. 35.
1. .STEREOTYP' IN PSYCHOLOGIE U N D G E I S T E S W I S S E N S C H A F T E N Mit ganz ähnlicher Konsequenz nutzte Ernst G o m b r i c h den Terminus Stereotyp. 125 Auch er betonte, dass bildliche Darstellungen der sichtbaren Welt jeweils über ein System von Schemata im Kopf des Künstlers vermittelt würden. U n d auch er brachte dies mit der Metapher von der .Sprache der Kunst' in Verbindung: „Everything points to the conclusion that the phrase ,the language of art' is more than a loose metaphore, that even to describe the visible world in images we need a developed system of schemata." 1 2 6 Mit Blick auf dieses „system of schemata" oder „mental set" 1 2 7 argumentierte G o m b r i c h indes stärker kognitionspsychologisch zentriert (ausgerichtet auf innere Prozesse, welche die Aktivität des Künstlers bestimmen) als Hauser, bei dem die semiotisch-kommunikative Funktionalisierung dominierte. Ein inneres Schemasystem leite sowohl den Blick des Künstlers auf die äußere Realität als auch dessen Gestaltungsaktivität. Darin besäßen Stereotype nun eine besondere Rolle. Gombrich lässt klar erkennen, dass er Stereotype als besonders stabile Schemata (wiederholt ist auch von pattern oder formula die Rede) der visuellen resp. bildkünstlerischen Repräsentation versteht, die in einer jeweiligen kunstgeschichtlichen Formation konventionellen Charakter besitzen. D e r einzelne Künstler erhalte und verinnerliche sie als „secondhand formula". 1 2 8 Mit anderen Worten, im Unterschied zu einem eher individuell ausgebildeten Schema, wie es f ü r das Werk eines Künstlers charakteristisch wird (Personalstil), sah Gombrich im Stereotyp ein gut befestigtes konventionelles Schema. Aufmerksamkeit verdient, dass auch er das Stereotypthema - über den kognitivistischen Zugriff hinausgehend - mit einem funktionalen Argument, nämlich dem der Wirkungskonservierung verbindet. Hatte Riffaterre mit Blick auf Literatur von stilistischen Formeln gesprochen, die einen Wirkungseffekt gleichsam speichern, so verweist G o m b r i c h auf Stereotype des Visuellen, die sich speziell zur Erzielung jeweils einer bestimmten affektiven Wirkung ausdifferenziert haben. In diesem Kontext bringt er A b y Warburgs Konzept von der „Pathosformel"129 ins Spiel. Aber auch f ü r G o m b r i c h verbindet sich mit dem Stereotyp ein latentes Verlustoder Verzerrungsproblem. Das sah er vor allem im Spannungsverhältnis seiner Stereotype zu einer gültigen visuellen Repräsentation von Wirklichkeit. Letzteres ist ein Anspruch an Kunst, der ihn in Art and Illusion vordringlich beschäftigt. Ausführlich geht er in einem ganzen Kapitel Fällen defizitärer Effekte von Stereotypen bei der bildlichen Repräsentation von Realität nach. Das Kapitel stellt das Problem bereits in der Uberschrift aus: „Truth and the Stereotype". Darin zeigt er z u m Beispiel, dass in der deutschen Kunstgeschichte konventionelle Vorstellungen die bildlichen Darstellungen gegen das mimentische Prinzip prägten. So habe etwa die fixierte Idee davon, wie eine Burg auszusehen habe, die grafische Darstellungen des sich so ganz anders präsentierenden Castelo Sunt Angelo in R o m überformt. Lippmanns Äußerungen zur prägenden Kraft von Stereotypen drängen sich einmal mehr auf, liest man Gombrichs Aus-
125
Gombrich, Ernst H. (1977) Art and Illusion. Α Study in the Psychology of Pictorial Representation [I960], London: Phaidon - siehe insbes. das Kapitel „Truth and the Stereotype", S. 55-78. 126 Ebd., S. 76. 127 Ebd., S. 53. 128 Ebd., S. 148. 129 Vgl. ebd., S. 19-20.
TEIL I. THEORIE DES STEREOTYPS. BEGRIFFE, ASPEKTE, KONTROVERSEN
Abb. 1 Stereotypisierung der bildlichen Repräsentation: Blicke auf das Castelo Sant Angelo, Rom - Bildserie aus Ε. H. Gombrich (1977) Art & Illusion, S. 61 - oben: anon. Holzschnitt von 1557; Mitte: anon. Zeichnung, Feder und Tusche, um 1540; unten: moderne Fotografie.
1. .STEREOTYP' IN PSYCHOLOGIE U N D G E I S T E S W I S S E N S C H A F T E N führungen, wie Stereotyp und reale Erscheinung in dem von ihm analysierten Holzschnitt eine eigenartige Symbiose eingehen. 130 U n d auch Gombrich bindet hieran nicht einfach Polemik, sondern verwendet viel Raum auf eine differenzierende Argumentation. Nicht allein im Sinne einer durch sie mitgetragenen künstlerischen .Sprache' - also in Hinsicht auf Symbolsysteme der Darstellung und Mitteilung - sei der Bezug auf Stereotype notwendig. N o c h größere Bedeutung besitzen sie für ihn als stabilisierte kognitive Systeme für die visuelle Verarbeitung der äußeren Welt: „Without some starting point, some initial schema, we could never get hold of the flux of experience." 1 3 1 Der expliziten Unterscheidung zwischen dem Stereotyp als einem spezifischen Schema im Kopf des Künstlers bzw. in Modellbüchern und dessen Aktualisierung oder wie er sagt: „Adaption" 1 3 2 - im Prozess der konkreten bildkünstlerischen Gestaltung misst Gombrich besondere Bedeutung zu. So unterscheidet er zum Beispiel zwischen verschiedenen Graden und Arten der Prägung von Bildern durch Stereotype. Einerseits beschreibt er Fälle, in denen (etwa in der nachklassischen griechischen Kunst) ein auf einem einfachen, stark reduzierten Schema beruhendes Stereotyp die Darstellung absolut beherrscht: „The schema was not criticized and corrected, and so it followed the natural pull toward the minimum stereotype, the .gingerbread figure' of peasant art." 1 3 3 Andererseits verweist aber auch er auf die Möglichkeit einer deutlich flexibleren Adaption in differenzierteren Bildern: „Once we pay attention to this principle of the adapted stereotype, we also find it where we would be less likely to expect: that is, within the idiom of illustrations, which look much more flexible [...]." 1 3 4 Auch hier also wieder der Gedanke an ein möglichst zur Korrektur bereites Verhältnis gegenüber den eigenen Stereotypen, die in diesem Fall konventionelle Bildformeln sind. Als Ausgangspunkte („starting point[s]") im Wechselprozess von Wahrnehmung und Gestaltung erscheinen sie ihm unerlässlich und akzeptabel - vorausgesetzt sie werden im Gestaltungsprozess „corrective test[s]" unterworfen und kreativ angepasst. 1 3 5
Ähnlichkeiten und Differenzen der Konzepte/Vier Facetten Es liegt in der Natur der (sehr komplexen) Sache, dass der gegebene Uberblick über eine Auswahl von sozial- und geisteswissenschaftlichen Stereotypkonzepten - obschon recht umfangreich - keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann. Er folgte dem Prinzip pars pro toto. Dennoch lässt er Tendenzen der Konzeptualisierung des Begriffs erkennen, die Anhaltspunkte auch für die Analyse des filmbezogenen Diskurses bieten.
130 131 132 133 134 135
Vgl. ebd., S. 61. Ebd., S. 76. Ebd., S. 61. Ebd., S. 124. Ebd., S. 61. Ebd., S. 76.
TEIL I. THEORIE DES STEREOTYPS. BEGRIFFE, ASPEKTE, KONTROVERSEN So hat sich gezeigt, dass der theoretische Gebrauch und die entsprechenden Konzepte des Stereotypbegriffs weder auf eine bestimmte disziplinäre Perspektive oder Methode (etwa - wie oft behauptet - nur auf die sozialpsychologische) noch auf einen fest umrissenen Gegenstandsbereich, wie es etwa Menschenbilder sind, festzulegen ist. Zu heterogen sind die Festlegungen, was ein Stereotyp sei und auf welcher theoretischen Ebene der Begriff anzusiedeln sei, schon innerhalb der einzelnen Disziplinen. Im gegebenen Überblick lassen sich drei im Ansatz prinzipiell unterschiedliche Arten von fixierten Formeln oder Mustern voneinander abgrenzen, die innerhalb der einzelnen Diskurse jeweils als Stereotype gelten. So ging es (1.) in den Sozialwissenschaften um Vorstellungs- bzw. Einstellungsmuster über soziale Phänomene, insbesondere um formelhafte Vorstellungen über Menschen, die auf Gruppenzugehörigkeit fußen. Dann wurden (2.) von der Idiomatik sprachliche Formen im Sinne konventioneller Lexemverbindungen thematisiert, also verbalsprachliche Routineformeln. Und schließlich ging es (3.) um Muster oder,Formeln', die die Struktur von ganzen Texten oder von Textsegmenten prägen, ob es sich dabei nun um Literatur, bildende Kunst oder andere Textsorten handelte. Wenn es eine zumindest virtuelle Gemeinsamkeit der verschiedenen Stereotypkonzepte geben sollte, so muss sie in einer Tendenz gesucht werden, die Aktivitäten wie Wahrnehmen, Denken und Kommunizieren mit deren materiellen Resultaten (Texte) verbindet. Sie lässt sich mithin nur auf einem sehr allgemeinen Niveau beschreiben. Eine solche gemeinsame Tendenz könnte am ehesten so gekennzeichnet werden: In all diesen interdependenten Sphären differenzieren sich jeweils komplexere, mehrgliedrige136 Formen, Strukturen oder Muster aus, die dann in ähnlichen oder ähnlich empfundenen Funktionskontexten en bloc immer wieder reproduziert werden und dabei ein hohes Beharrungsvermögen erlangen. Dieser kleinste gemeinsame Nenner kommt wohl nicht zufällig der Etymologie des Begriffs sehr nahe, der der polygraphischen Fachsprache entstammt. Er basiert auf einer Fügung, die das griechische τύπος, welches sich mit Form, Bild oder auch Modell übersetzen lässt, mit στερεός verbindet - hier in der Bedeutung von starr, hart, fest.137 So diente die Fügung im Druckwesen dazu, im Gegensatz zu den beweglichen Lettern, eine aus einem Stück gegossene Druckerplatte zu bezeichnen. Diese verbindet mehrere Schriftzeichen oder auch Druckzeilen fest miteinander. Den Inhalt der stabil aus mehreren Elementen gefügten Form, welche sich stets aufs Neue abdrucken (reproduzieren) lässt, behielt der Terminus bei, als er im 19. Jahrhundert als Metapher in den allgemeineren Sprachgebrauch vordrang. Daran knüpften die ersten wissenschaftlichen Begriffsbildungen später an. Der kleinste gemeinsame Nenner erscheint indes, für sich genommen, recht dünn. Und er erscheint zu abstrakt, um allein auf seiner Grundlage den filmbezogenen Stereotypdiskurs nachzeichnen oder eine filmanalytische Begriffsbildung vornehmen zu wollen. Mindestens ebenso wichtig ist die Schärfung des Sinns dafür, in welch heterogenen theoretischen Kontexten mit dem Terminus operiert wird. Theoretische Perspektiven, die zwar zu jeweils unterschiedlichen .Gegenständen' und Konzepten führ-
136 Dröge z.B. spricht mit Blick auf Stereotype expressis verbis von „Merkmalsvergesellschaftung" - Dröge, Franz (1967), S. 211. 137 Vgl. Stichwort „Stereotyp" in: Weigand, Friedrich Ludwig/Hirt, Hermann (1910) Deutsches Wörterbuch, Bd. 2, Gießen: Töpelmann.
1. .STEREOTYP' IN PSYCHOLOGIE U N D G E I S T E S W I S S E N S C H A F T E N ten, die aber nahezu alle auch auf Film bezogen wurden oder sich zumindest auf Phänomene im Feld dieses Mediums hin entwickeln lassen. Eine Konsequenz drängt sich auf: Auch mit Blick auf Film resp. Kino (verstanden als Gesamtheit der Filmkultur) macht es keinen Sinn, nach einem Masterkonzept - wie dem Filmstereotyp - zu suchen, das alle diskursiv mit der Wortmarke Stereotyp verbundenen Aussagen gleichsam in eins schmilzt. Auch hier ist der theoretische Ort, der das jeweilige Begriffsverständnis prägt, stets mitzudenken. So gesehen können gerade die Differenzen der bisher dargestellten Konzepte den Blick schärfen. Andererseits lassen sie bei allen Unterschieden in Gegenstand und theoretischer Perspektive doch auch eine Reihe von Regelmäßigkeiten, Verwandtschaften und Ähnlichkeiten erkennen, die zwar kaum wirklich durchgängig artikuliert werden, deren Häufung aber die Zugehörigkeit zu einer Art Familie von Aussagen, Denkmotiven und Argumenten plausibel erscheinen lässt. .Familie' verweist auf Wittgensteins berühmte Ausführungen zum Spielbegriff: „Wir sehen ein kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten, die einander übergreifen und kreuzen. Ähnlichkeiten im Großen und Kleinen. [...] Ich kann diese Ähnlichkeiten nicht besser charakterisieren als durch das Wort .Familienähnlichkeiten', denn so übergreifen und kreuzen sich die verschiedenen Ähnlichkeiten, die zwischen den Gliedern einer Familie bestehen."138 Das erklärt, warum .Stereotyp' - als diskursive Größe - im Zusammenspiel seiner einzelnen Facetten, verstanden als Häufungen jeweils ähnlicher Argumente, wesentlich kompakter wirkt und deutlich mehr Fülle besitzt, als es die dürftige Konstruktion eines kleinsten Nenners erkennen lässt. Eine Konstruktion, die anders als beim Spiel hier immerhin möglich zu sein scheint. Vier solche Facetten139 sollen im Folgenden konturiert werden. (1.) Schema, Reduktionismus und Stabilität, (2.) Automatismus und Konventionalisierung, (3) Verzerrungen und Verluste, (4) Hintergrund für Differenzen. Bei der Ausarbeitung dieser Theoriefacetten seien sowohl innere Differenzierungen angesprochen als auch einige daran anschließende methodische Überlegungen angestellt. Das so entstehende ,Theoriegewebe' soll dann gleichsam als Orientierung für die Analyse von verschiedenen Zugängen, Akzentsetzungen und Fragestellungen im filmbezogenen Stereotypdiskurs dienen. Auf dieser Grundlage lassen sich später auch Aussagen zum Film einbeziehen, die unseren Schlüsselbegriff nicht explizit enthalten und statt dessen mit Termini wie pattern, Muster, Schema, Klischee etc. operieren, sich aber ihrem Sinngehalt nach dem skizzierten Repertoire von Facetten des Stereotypdiskurses zuordnen. Erste Facette: Schema, Reduktionismus und Stabilität. Ob nun von Formeln oder Mustern die Rede ist, Stereotypkonzepte sind häufig mit Vorstellungen und Aus138 Wittgenstein, Ludwig (1967) Philosophische Untersuchungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 48-49. 139 Ich stütze mich hier auf das Modell der Facettenklassifikation, die als Gegensatz zur hierarchischen Klassifikation von Hans Jürgen Wulff in die filmwissenschaftliche Arbeit (bei ihm zur Genreanalyse) eingeführt wurde. Vgl. Wulff, Hans Jürgen (1994) „Drei Bemerkungen zur Motivund Genreanalyse am Beispiel des Gefängnisfilms". In: Sechstes Film- und Femsehwissenschaftliches Kolloquium/Berlin 1993, hrsg. von Jörg Frieß, Stephen Lowry und Hans Jürgen Wulff. Berlin: Gesellschaft für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation, S. 149-154.
TEIL I. THEORIE DES STEREOTVPS. BEGRIFFE, ASPEKTE, KONTROVERSEN sagen verbunden, die gleichzeitig für Schemata konstitutiv sind. Nicht selten werden sie sogar explizit als besondere Schemata beschrieben - und zwar unabhängig davon, ob der Begriff auf Vorstellungsmuster über die äußere Realität oder auf Muster der Organisation von Texten oder Textsegmenten bezogen ist. Dafür stehen hier die kognitionspsychologisch geprägten Zugänge von Lilli und Stephan, aber auch die von Gombrich oder Schneider. Lediglich bei der Beschreibung verbaler Stereotype spielte der Schemabegriff keine Rolle. Der Schemabezug erscheint plausibel, verweisen die verschiedenen Begriffsbildungen zum Stereotyp doch auf Phänomene, die gegenüber der einzelnen Vorstellung oder gegenüber dem konkreten Textsegment sich jeweils erst auf der Ebene eines Vergleichs erschließen - eines Vergleichs, der Abstraktionen hervorbringt. Wie das Konturieren von Schemata, so muss auch die analytische Wahrnehmung des Stereotyps stets Konkretes ausblenden. Sie zielt mithin immer auf etwas Reduziertes, Vereinfachtes, Rasterhaftes. Mit anderen Worten, Stereotype sind ebenso wie Schemata keine kompletten Textstellen oder Bilder und wohl auch kaum komplette Vorstellungen (lediglich die Fertigformeln verbaler Stereotype bilden hinsichtlich des ,Kompletten' eine gewisse Ausnahme). Es handelt sich um virtuelle Größen, realisierbar erst durch Vergleich und Abstraktion. Die Wahrnehmung und das Begreifen von Stereotypen als Stereotype setzt eine besondere mentale Konstruktionsleistung voraus. Umgekehrt bringt die Aktualisierung, Reproduktion, Performanz - oder hegelianisch gesprochen - die .Aufhebung' von Stereotypen, ebenso wie die von Schemata, nicht Identisches hervor, sondern Ahnliches. Es ist allerdings meist gerade das jedem Schema innewohnende Moment der Reduktion von Komplexität, das - sobald es in der jeweiligen textuellen Performanz deutlich erkennbar wird, also im Konkreten zu prägnanter Simplizität führt - den Stereotypbegriff mit besonderem Nachdruck provoziert. So brachten die beiden hier referierten Kunsthistoriker den Terminus nicht zufällig vor allem mit solchen Bildern in Verbindung, die von rekurrenten und dabei gleichzeitig simplen Formen oder .Formeln' offen beherrscht werden - mit Bildern, deren konkrete Gestalt auf ein minimal stereotyp (Gombrich) reduziert ist, das in der Art einer .„gingerbread figure' of peasant art" zur Schau gestellt wird, oder mit Bildern, die wie die ägyptische Kunst offen zum „schablonenhaften Stil" (Hauser) neigen. Und auch für Ruth Amossy gehörte beim Blick auf Literatur „the poverty of its constituents", gepaart mit Formbeständigkeit (Homogenität) und Redundanz, zu den „golden rules of stereotyping". 140 Lässt sich also unter dem Kognitionsaspekt das Stereotyp als eine sich in der Wiederholung erweisende Abstraktionsform in die Nähe des Schemabegriffs rücken, so scheint es angebracht, das Schema gegen ein verbreitetes problematisches (Miss-) Verständnis abzugrenzen. Denn der Terminus wird auf Grund seiner prominenten Verwendung innerhalb jenes kognitivistischen Paradigmas, das den menschlichen Wahrnehmungsapparat als eine Art logischer Maschine fasst und vom Idealbild der Wahrnehmung als objektiver, korrekter Repräsentation einer vom Wahrnehmenden unabhängigen Außenwelt ausgeht, in Richtung eines mechanischen Verständnisses gedrängt. Die Vorstellung über Schemata nähert sich dabei starren Matrixmodellen - stabile Repräsentation einer logischen Synthese von Gleichheiten der Außenwelt - an. Damit wird sie lebendigen psychischen Vorgängen in der diskursiven Realität nicht ge-
140
Amossy, Ruth (1984), S. 685.
1. .STEREOTYP' IN PSYCHOLOGIE UND G E I S T E S W I S S E N S C H A F T E N recht. Das gilt ganz besonders für jenes nicht formalisierte Alltagsdenken und alltägliche Kommunizieren, das eher der „Logik des Ungefähren" (Bourdieu)141 folgt und für die Stereotypfrage durchweg relevant ist. Der Begriff des Schemas an sich sollte jedoch nicht gleichzeitig mit seiner logozentristischen Deutung verworfen werden. Selbst einem harten Kognitivismus gegenüber alternative konstruktivistische Zugänge halten an Grundideen über Schemata fest. Das gilt auch für Varelas handlungsbezogenen Ansatz, dessen Auffassung der „strukturellen Kopplung" 142 mir am plausibelsten erscheint. Statt als bloße Repräsentationen von Gleichheiten einer rein objektiven Außenwelt gelten die Wahrnehmungs- und Denkschemata, die das alltägliche Denken leiten, hier als handlungsbezogene Konstrukte menschlicher Erfahrungswirklichkeit. Als solche tragen sie deutlich Merkmale (intersubjektiv/sozial vermittelter) subjektiver Konstruktion und vermögen kognitive, affektive und assoziative Faktoren der Bewusstseinstätigkeit zu verbinden.145 Die wohl wichtigste Idee über kognitive Schemata bleibt dabei gewahrt. Luhmann formulierte sie so: es geht „um Formen, die im unaufhörlichen Zeitlauf der Autopoiesis Rekursionen ermöglichen, also Rückgriffe auf Bekanntes und Wiederholung der Operationen, die es aktualisieren".144 Sie erscheinen also als Leistungen des Gedächtnisses, die - obschon nicht auf starre Muster festzulegen - sich dennoch auf Wiederholungen resp. Ahnlichkeitshäufungen beziehen. Sie funktionieren mithin als Komplexität reduzierende Formen, die relative Festigkeit und Dauer in unsere Kognition, Kommunikation und in unser praktisches Handeln einführen, und besitzen gleichsam den Charakter von Regeln, um rasches Reagieren zu ermöglichen.145 Außerdem existieren Schemata, wie sie das Alltagsbewusstsein bildet, kaum als isolierte und eindimensionale Konstrukte, sondern sind im Gedächtnis in emergenten Netzwerken146 organisiert. Das heißt, sie wirken übergreifend zusammen, was Aktualisierungen vielfach zu Prozessen interdependenter Assoziation und Symbiose werden lässt. Geht man von einem solchen Schemaverständnis aus, dann ist es sinnvoll, den Stereotypbegriff dazu ins Verhältnis zu setzen. Denn, wie Schemata nicht lediglich Wiederholungsmomente der repräsentierten gegenständlichen Welt erfassen, sondern Ähnlichkeiten von Handlungs- und Situationskontexten integrieren, so wird dies auch
141 Bourdieu, Pierre (1987) Sozialer Sinn: Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 37. 142 Vgl. Varela, Francisco J. (1990), S. 88ff. (Varela spricht allerdings von „Mustern" statt von Schemata).
Vgl. dazu Schmidt, Siegfried J./Weischenberg, Siegfried (1994) „Mediengattungen, Berichterstattungsmuster, Darstellungsformen". In: Die Wirklichkeit der Medien: eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft, hrsg. von Klaus Merten, Siegfried J. Schmidt und Siegfried Weichenberg. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 214-215. 145
144
Luhmann, Niklas (1996) Die Realität der Massenmedien.
Opladen: Westdeutscher Verlag,
S. 194. Vgl. ausführlicher bei Schmidt, Siegfried J./Weischenberg, Siegfried (1994), S. 213. Zum Begriff „Emergenz" siehe Varela, Francisco J. (1990), S. 60-67 sowie S. 70-76. Etwas später, S. 93-94, verdeutlicht Varela solch übergreifendes Zusammenwirken am Beispiel der Sprache: „Man muß die gesamte Sprache kennen, um die vielfältigen Bedeutungen eines Einzelwortes zu verstehen, und dieses Verständnis beeinflußt umgekehrt wiederum die Bedeutung aller anderen Wörter. Die Kategorisierung irgendeines Aspektes unserer natürlichen Lebenswelt läßt keine scharfen Grenzen zu [...]." 145
146
TEIL I. THEORIE DES STEREOTYPS. BEGRIFFE, ASPEKTE, KONTROVERSEN von einer ganzen Reihe von Stereotypkonzepten betont. Insbesondere von jenen, die einem pragmatischen oder funktionalen Ansatz folgen. Sowohl Schemata als auch Stereotype lassen sich also, wenn man kommunikative Aktivität in den Handlungsbegriff einbezieht, als handlungsbezogene Größen interpretieren, die sich - wie Coulmas das in Hinsicht auf verbale Stereotype dargestellt hat - im Kontext gewisser Handlungsanforderungen und Situationstypen ausdifferenziert haben. Das heißt, Stereotype funktionieren nicht nur als bloße Muster der Repräsentation von äußerer Wirklichkeit. Eine ganze Reihe von ihnen kann jeweils auch als ,Formel' für die Bewältigung einer typischen Handlungsanforderung gelten, als erprobte Struktur für die Meisterung einer bestimmten - auch kommunikativen - Situation oder Aufgabe. Damit ist schon angedeutet, dass Stereotype ebenso wie Schemata längst nicht allein im Sinne rationaler Orientierung funktionieren. Stereotype, als Denk- und Vorstellungsformeln wirken ganzheitlich, also auch emotional. Die emotionale Besetzung von Stereotypen erscheint in vielen Theorien geradezu als zentrales Merkmal. Als spezifische Schemata der Kommunikation resp. der Textorganisation können Stereotype überdies in einer Reihe von Fällen sogar als ausdifferenzierte funktionale Formen interpretiert werden, die die Auslösung bestimmter affektiver Wirkungen (wie sie in ästhetischen Fiktionen gesucht werden) beim Adressaten gewährleisten. Sie lassen sich mithin als pragmatische, mit Handlungskontexten (auch mit kommunikativen Kontexten) koordinierte Größen deuten, die sich allmählich an konkrete Kontexte angepasst haben - etwa an Dispositionen von Adressatengruppen bestimmter Textsorten. Diese Eigenart von Stereotypen ist dafür verantwortlich, dass die Theorie des Stereotyps über klassische kognitivistische Ansätze hinausgehen muss. Die Öffnung hin zu pragmatischen Perspektiven erscheint unumgänglich. Eine weitere Gemeinsamkeit: so wie Schemata im Gedächtnis in emergenten Netzwerken der Erfahrung und des Wissens organisiert sind, so sind es auch Stereotype. Ganz in diesem Sinne hebt Τ. E. Perkins 147 hervor, dass die einfache Oberflächenstruktur von Stereotypen in der Tiefe meist mit höchst komplexen Beständen rationalen und emotionalen Wissens vernetzt ist. Bestände, die gleichsam als Unterprogramme von den Stereotypen aufgerufen werden. Berührungspunkte gibt es schließlich auch hinsichtlich der Frage von Stabilität und lebendiger Dynamik. Wie Schemata sind auch Stereotype keine absolut starren Muster. Allerdings zeigt sich hier eine entscheidende Spezifik. Der Terminus Stereotyp verweist nahezu durchgängig und mit weit größerem Nachdruck als der Schemabegriff auf Stabilität und Beharrungsvermögen. Dennoch dürfte es bei genauerem Hinsehen fast immer, wenn der Verdacht völliger Starrheit erhoben wird, schwerfallen, den tatsächlichen Nachweis dafür zu führen. Sind Stereotype in einem gesteigerten Sinne Instanzen des Rekurses auf Bekanntes, so bleiben doch auch sie letzthin ,lebendige' Größen. Mit der Verzögerung einer ausgeprägten Trägheit folgen sie - gelegentlich sogar durch sprunghafte Anpassung - der Dynamik menschlicher Erfahrung. Nicht von 147 Vgl. Perkins, T . E . (1979) „Rethinking Stereotypes". In: Ideology
and Cultural
Production,
hrsg. von Michele Barrett, Philip Corrigan, Anette K u h n und Janet Wolff. L o n d o n : C r o o m Helm, S. 135-159. Perkins führt auf S. 139 ein Beispiel aus: „ [ . . . ] to refer .correctly' to someone as a ,dumb blonde', and to understand what is meant by that, implies a great deal more than hair colour and intelligence. It refers immediatly to her sex, which refers to her status in society, her relationship to men, her inability to behave or think rationally, and so on. In short, it implies knowledge of a complex social structure."
1. ,STEREOTYP' IN PSYCHOLOGIE UND G E I S T E S W I S S E N S C H A F T E N ungefähr wird immer wieder der Stereotypwandel oder auch die sukzessive Modifikation thematisiert. Ein weiteres Spezifikum, das in vielen der dargestellten Stereotypkonzepte hervortrat, wurde schon angesprochen: Prägnanz durch Simplizität. Mit einem Begriff von Eleanor Rosch könnte man auch sagen: es besteht die Tendenz vor allem solche Konstrukte als Stereotype zu erfassen, deren Ähnlichkeit bereits auf der relativ geringen Abstraktionsebene des „basic-level" 1 4 S sichtbar wird. So gesehen lassen sich Stereotype (insbesondere solche der Textorganisation) resümierend als besondere Schemata beschreiben. Die Besonderheiten werden zum einen in der gesteigerten Affinität zur auffälligen, prägnanten Performanz durch formelhafte Reduzierung gesehen, zum anderen in einer gesteigerten Tendenz zur Wiederholung, innerhalb derer die jeweilige Form ein auffällig hohes Maß an Stabilität, Homogenität und Beharrungsvermögen aufweist. Für das Auffälligwerden dieser beiden Momente, die einander gleichsam stärken und vielfach auch Termini wie Formel oder formelhaft provozieren, gibt es freilich kein absolutes Maß. Die Bezeichnung eines Konstrukts als Stereotyp beruht letztlich stets auf einer Stellungnahme durch ein Subjekt. Sie ist abhängig von dessen Erfahrungswissen und intersubjektiv durch den jeweils vorherrschenden common sense reguliert. Dabei kann, das sei hervorgehoben, die Empfindung von Simplizität und Stabilität durchaus selbst einem Mechanismus unterliegen, der sich als Stereotypisierung interpretieren lässt, nämlich der Forcierung von Ähnlichkeit bei der rezeptiven (Re-) Konstruktion eines Musters. Amossys stereotyped reading kalkulierte sogar den Extremfall einer Rezeption ein, die bei der Lektüre Stereotype gegen den Text durchsetzt. Zweite Facette: A u t o m a t i s m u s und Konventionalisierung. Wenn Stabilität und Homogenität eines Wiederholungsmusters in den verschiedenen Stereotypkonzepten nahezu durchgängig thematisiert werden, so geschieht das unter zwei heterogenen Aspekten: einerseits mit Blick auf die Bedeutung, die der intrasubjektiven Verankerung eines Musters, also dessen Habitualisierung, zukommt, und andererseits in Hinsicht auf die Funktion, die die intersubjektive Verankerung eines Schemas besitzt. Daraus resultieren zwei theoretisch gegeneinander abzugrenzende, sich praktisch allerdings weithin überlagernde Formen dessen, was unter .Stereotypisierung' verstanden wird. Im ersten Sinne erweist sich Stereotypisierung in der vielfach wiederholten, mental automatisierten Aktualisierung eines fixen Musters in einer Reihe ähnlich empfundener Situationen resp. Handlungskontexte, anders gesagt: in der mental automatisierten Kopplung von Schema und Situationstyp durch ein Individuum. Den Prototyp und gleichsam ein archaisches Theoriemodell für diese Verbindung des Stereotypbegriffs mit habituell fixierten Reaktionsmustern lieferte das Konzept des russischen Psychologen Iwan Pawlow. Er nahm den Terminus - jenseits des sozialpsychologischen Diskurses - in den zwanziger Jahren auf. Das geschah im Rahmen seiner bekannten Theorie bedingter Reflexe, die sich auf elementare Reiz-Reaktions148 Dieser Begriff geht auf Rosch zurück, vgl. Rosch, Eleanor (1978) „Principles of categorization". In: Cognition and Categorization, hrsg. von ders. und Barbara B. Lloyd. Hilsdale, N.J.: L. Erlbaum. Er wird näher ausgeführt bei Lakoff, vgl. Lakoff, George (1987) Woman, Fire, and Dangerous Things. What Categories Reveal about the Mind. Chicago: Chicago University Press, S. 48-49.
TEIL I. THEORIE DES STEREOTYPS. BEGRIFFE, ASPEKTE, KONTROVERSEN Kontexte bezieht. „Der dynamische Stereotyp des höchsten Gehirnabschnittes" 149 ist letztlich nichts anderes als ein nachhaltig habitualisiertes und mithin automatisiertes Reiz-Reaktions-Schema, das sich in Hinsicht auf einen extrem formalisierten repetitiven Handlungskontext ausgebildet hat. Pawlow verwies mit Nachdruck auf die Bedeutung und den inneren Zusammenhang von reflexartiger Automatisierung und Beharrungsvermögen. Ein einmal gebildetes Stereotyp „ist träge, läßt sich schwer verändern und ist durch eine neue Situation bzw. durch neue Reize nur schwer zu überwinden". 150 Solche Stabilität wirke für das Individuum so entlastend, dass bei der Konfrontation mit Reizen, die dem Stereotyp deutlich widersprechen, negative Reaktionen bis hin zu qualvollen Zuständen ausgelöst werden.151 Damit findet eine auf intrasubjektive Automatisierung - auf Habitualisierung gemünzte Stabilitätsthese Formulierung, deren Konsequenz sich mit dem berührt, was Lippmann (etwa gleichzeitig) über Stereotype als vom Individuum verteidigte Grundfesten des eigenen Universums schrieb. Und natürlich ordnet sich auch Amossys .stereotyped reading', das auf das deja-vu versessen ist und das es dem Prinzip nach auch im Kino oder vor dem Fernseher gibt, diesem Gesichtspunkt der intrasubjektiven Akzentuierung des Stereotypbegriffs zu, der Betonung von Habitualität und von Lust an Automatismus und Wiederholung. So gesehen ist es alles andere als Zufall, wenn auch von Filmtheoretikern der Stereotypbegriff dezidiert mit dem Aspekt automatisierter Wahrnehmung durch die Fixierung eines gelernten kognitiven Schemas im Gedächtnis verbunden wird. Dieses Moment tritt insbesondere dann in den Vordergrund, wenn es sich wie bei Peter Wuss um ein theoretisches Interesse handelt, das psychologische Aspekte der Filmrezeption aufzuschließen sucht und „Strukturen des Films im Wahrnehmungsprozeß" 152 analysiert. Wuss interessiert an Stereotypen (auch wenn er darunter explizit konventionelle Strukturen von Filmen versteht) in erster Linie, dass diese sich bei den Rezipierenden als fixierte Gedächtnisstrukturen niederschlagen. Sie werden durch die „Wiederholung der angeeigneten Reizkonfiguration in mehreren Werken" 153 - oder mehr noch durch „eine Art Dauerbeschuß" 154 - von den Rezipierenden gleichsam als stabile informationelle Einheiten gelernt: „Im Dauer- oder Tertiärgedächtnis gespeichert, können diese Strukturen kaum vergessen werden. Infolge von Gewöhnung sind sie für den Rezipienten aber vielfach 149 v g l . Pawlow, Iwan P. (1972) Die bedingten Reflexe. München: Kindler, darin insbes. „Der dynamische Stereotyp des höchsten Gehirnabschnitts [Vortrag von 1932]", S. 131-134. Der Kern der Theorie wird auf S. 212 so zusammengefasst: „Unter gleichartigen, sich wiederholenden Umständen werden der gesamte Aufbau und die Verteilung der während einer bestimmten Periode unter dem Einfluß äußerer und innerer Reize entstandenen Erregungs- und Hemmungszustände in der Großhirnrinde immer mehr fixiert und verlaufen immer leichter und automatischer. So erhält man in der Rinde einen dynamischen Stereotyp (eine Systematisierung), dessen Aufrechterhaltung eine immer geringere nervale Arbeit verlangt." Ebd., S. 212. Ebd., S. 131. 152 So der Untertitel von Wuss, Peter (1993) Filmanalyse Films im Wahrnehmungsprozeß. Berlin: Edition Sigma. 153 Ebd., S. 62. 154 Ebd. 150 151
und Psychologie. Strukturen
des
1. .STEREOTYP' IN PSYCHOLOGIE U N D G E I S T E S W I S S E N S C H A F T E N wieder unauffällig, werden daher von ihm zum Teil erneut eher beiläufig und unbewußt apperzipiert."155 Anders ausgedrückt, alles läuft auf die Automatisierung der Wahrnehmung und der psychischen Verarbeitung von Wiederholungsmustern in einer sehr späten Lernphase hinaus. Letztere werden damit für Wuss, der implizit mit einer Art Modell-LeserKonstruktion 156 operiert, zu „stereotypengeleiteten Strukturen" 157 des Films resp. zu filmischen „Erzählstereotypen"158 und damit auch zu Faktoren des Filmemachens. Während unter mtrasubjektivem Aspekt in erster Linie der Prozess der stabilen Verankerung eines Schemas im Gedächtnis und damit einhergehende Effekte der wiederholten, mental automatisierten Reproduktion eines Musters bedacht werden, thematisieren sozialwissenschaftliche und semiologische Konzepte am Stereotyp nachdrücklicher die miersubjektive Musterbildung. Der Terminus hebt in diesen Disziplinen geradezu auf die intersubjektive Existenzweise der Schemata ab. Dabei geht es um (sozio-)integrative Effekte, die aus der stabilen Streuung eines Schemas bei einer Vielzahl von Individuen in einer Gruppe oder in einer Gesellschaft resultieren. Dieser Perspektive ist es zuzurechnen, dass die Metapher von den .Mustern aus zweiter Hand' so häufig in den verschiedenen Diskursen über Stereotype - gleichsam selbst als Stereotyp - wiederkehrt. Stereotypisierung in solchem Sinne zielt auf den Prozess der Konventionalisierung eines Musters. Wenn es um soziointegrative Wirkungen geht, ist Konventionalität unverzichtbar. Konventionalisierung bedeutet nichts anderes als Normierung oder Kodifizierung im intersubjektiven Feld. Konventionelle Schemata regeln - im Sinne interpersonaler Kohärenzstiftung - nicht nur die Art, wie die Angehörigen einer Gruppe oder einer Gesellschaft die Welt anschauen, ihr Weltbild konstruieren und Sinn stiften; sie normieren auch kommunikatives und unmittelbar praktisches Handeln. Auf diese Weise führen konventionelle Schemata Stabilität und Anforderungsangepasstheit in die sozialen (mithin auch in die kommunikativen) Beziehungen ein. So geht etwa die Ausrichtung des Individuums an Sozialrollen, an Denk- und Ausdrucksstilen mit der Orientierung an Stereotypen einher. In sozialwissenschaftlichen Kontexten werden Stereotype daher häufig als soziale Instanzen oder kulturelle Modelle interpretiert, die der Steuerung eines jeweils akzeptierten, normalen Reagierens, Kommunizierens und Handelns dienen. Solche Normalität entsteht für den Einzelnen in der Sphäre des Alltagsbewusstseins, wenn Konventionalität und Habitualität/Automatismus des Stereotyps einander überlagern. Dann nehmen die intersubjektiv ausgebildeten und befestigten Muster der Sinngebung und Handlungsorientierung - durchaus unabhängig vom Aspekt der Wahrheit den Charakter nicht mehr hinterfragter Selbstverständlichkeiten an. Konventionelle Vorstellungs- und Leitbilder, insbesondere Menschen- und Gesellschaftsbilder, sind also nicht von ungefähr ein bevorzugtes Thema vieler Stereotyptheorien. Überschneidungen mit Diskursen über Ideologie sind an der Tagesordnung, denn, so bemerkt Roland Barthes treffend:
Ebd., S. 60-61. Vgl. dazu Eco, Umberto (1989) Im Labyrinth der Vernunft. Texte über Kunst und Zeichen. Leipzig: Reclam 1989, insbes. „Die Rolle des Lesers", S. 190-245. 157 Wuss, Peter (1993), S. 56. 158 Ebd., S. 147. 155 156
TEIL I. THEORIE DES STEREOTVPS. BEGRIFFE, ASPEKTE, KONTROVERSEN „[...] alle offiziellen Sprachinstitutionen sind Wiederkäumaschinen: die Schule, der Sport, die Werbung, die Massenware, der Schlager, die Nachrichten sagen immer die gleiche Struktur, den gleichen Sinn, oft die gleichen Wörter: die Stereotypie ist ein politisches Faktum, die Hauptfigur der Ideologie." 159 Der intersubjektive Aspekt der Stereotypisierung als Konventionalisierung hat nun für spezifisch textbezogene Stereotypkonzepte eine besonders wichtige Bedeutung. Zunächst geht es auch hier um die Sicherung der kommunikationsgemeinschaftlichen Kohärenz von Erwartungen, die auf einem gekannten Repertoire erprobter und eingespielter, also .normaler' Formen beruht. Der Textproduzent erhält ein Repertoire von Schemata, an das er sich mit Blick auf seinen Adressatenkreis und auf dessen typische Dispositionen anlehnen kann. Die Rezipienten erhalten Orientierungspunkte dafür, welche Textsorte oder welches Genres sie in bestimmten Situationen bevorzugen, und während der Rezeption können sie sich auf besonderes Vorwissen und Erfahrungswerte beziehen. Hatte Florian Coulmas seine verbalen Stereotype als konventionelle Routineformeln gedeutet, „bei denen Situationen, Erwartungen und Wirkungen auf standardisierte [und akzeptierte] Weise miteinander korreliert sind und die als solche wichtige Mittel der institutionalisierten Steuerung sozialen Handelns darstellen" 160 , so lässt sich diese Betrachtungsweise bruchlos auch auf konventionelle Textformen, also etwa auch auf Stereotype der (Film-)Narration ausdehnen. Auch sie können vom Ansatz her als allmählich ausdifferenzierte, erprobte und dann sedimentierte textuelle Faktoren der Vermittlung zwischen den Dispositionen der Adressaten, der Autoren (bzw. Filmemacher) und den kulturellen Institutionen gedeutet werden. In diesem Sinne sieht Stephen Heath etwa Filmgenres, die nichts anderes sind als komplexe Familienverbände interdependenter Stereotype, als „instances of equilibrium, characteristic relatings - specific relations - of subject and machine in film as particular closures of desire". 161 Darauf wird im Genre-Abschnitt des Kapitels 2 zurückzukommen sein. Eine zweite Funktion der Stereotypisierung als Konventionalisierung ist für spezifisch textbezogene Stereotypkonzepte, also auch solche zum Film, mindestens ebenso bemerkenswert. Die Konvention besitzt für semiotische Prozesse eine ganz basale Funktion, denn ohne Konvention kein Zeichen. Mit Blick auf die Ausbildung von Stereotypen, lässt sich beispielhaft studieren, gerade auch in Hinsicht auf das Kino, wie im Zuge der Sedimentierung und der damit einhergehenden Konventionalisierung eines textuellen Musters en bloc ein neues semantisches Faktum entsteht, das dann ein Eigenleben zu führen beginnt. Coulmas hatte für die Bedeutungsanalyse seiner Routineformeln das Nichthinreichen des Prinzips der lexikalischen Dekomposition betont und statt dessen eine funktionale Bedeutungstheorie vorgeschlagen, welche die neue soziale Bedeutung der Formel in Rechnung stelle - eine Bedeutung, die die ursprüngliche propositionale Bedeutung tendenziell in den Hintergrund dränge. Auch dieser Gedanke lässt sich auf die semiotische Dimension übertragen. In Elemente der Semiologie spricht Roland
159 160 161
S. 16.
Barthes, Roland (1974), S. 62. Coulmas, Florian (1981), S. 16. Vgl. Heath, Stephen (1991) Questions of Cinema. Bloomington: Indiana University Press,
1. .STEREOTYP' IN PSYCHOLOGIE UND GEISTESWISSENSCHAFTEN Barthes von „Funktions-Zeichen"162 und davon, dass in der Sphäre des gesellschaftlichen Gebrauches die Semantisierung selbst von einfachen Gebrauchsgegenständen unabwendbar sei: „[...] sobald es eine Gesellschaft gibt, wird jeder Gebrauch zum Zeichen dieses Gebrauchs: der Gebrauch des Regenmantels besteht darin, vor Regen zu schützen, aber dieser Gebrauch ist untrennbar mit dem Zeichen einer gewissen atmosphärischen Situation [...]." 163 Eine solche Semantisierung durch Gebrauch, die dem Wiederholten den gängigen Gebrauchskontext gleichsam einschreibt, vollzieht sich erst recht bei textuellen Formeln. Sie erfahren als Gesamtgrößen eine sekundäre Semantisierung, und sie erhalten einen Verweischarakter auf den jeweiligen Kontext, zum Beispiel auf die Textsorte oder auf das Genre, in dem sie sich etabliert haben - oder auch auf die historische Periode ihres ursprünglichen Erscheinens. Das heißt, aus der Perspektive einer Theorie des Stereotyps lässt sich der von der (Film-)Semiologie eher vernachlässigte Prozess der Herausbildung vielschichtiger Zeichenphänomene gut erfassen. Dritte Facette: Verzerrungen und Verluste. Konstrakte, die als Stereotype gekennzeichnet werden, fallen kaum bruchlos mit den Uberzeugungen oder Ausdrucksformen desjenigen zusammen, der die Kennzeichnung vornimmt. Mit der Stellungnahme, etwas sei ein Stereotyp, verbinden sich meist - mehr oder weniger starke Momente von Distanzierung. Anders ausgedrückt, eine weitere Ähnlichkeit von Diskursen über Stereotype besteht darin, dass sie fast immer Diskurse über (zumindest latente) Verzerrungen oder Verluste sind. Das Stereotyp erscheint als ambivalentes Phänomen. Das ergibt sich schon aus der Logik der bisher besprochenen Facetten. Jede der angedeuteten produktiven Funktionen von Stereotypen hat ihre .Kehrseite'. Der Schemagedanke lief auf die Vorstellung von einem Konstrukt hinaus, das Komplexität und Mannigfaltigkeit reduziert - entindividualisiert, generalisiert, akzentuiert und auf diese Weise „psychisch bewährte Simplifikationen" " 4 bietet. So notwendig sich dies für das Funktionieren von Wahrnehmung, Orientierung und Kommunikation erweist, so lässt sich doch gleichzeitig die Frage nach Verlusten und Verzerrungen bei der Repräsentation von Realität stellen, die einerseits durch Reduktion und andererseits durch Effekte der Reizklassifikation (Generalisierung/Dichotomisierung) bedingt sind. Diese Frage gehört mithin zum Standardrepertoire der Stereotypdiskurse. Die Einwände werden umso dringlicher, wenn es um die Konventionalität der Stereotype geht, also darum, dass sie sich als intersubjektiv normierend wirkende Schemata (der Weltkonstruktion oder der auch der ästhetischen Konstruktion eines Artefakts) einschleifen. Als secondhand formulas, die das Individuum ,νοη außen' erhält, stehen sie von vornherein im Verdacht des ungeprüft Übernommenen. Damit kommen zusätzlich Befürchtungen der Fremdbestimmung und Manipulation ins Spiel. Denn Stereotype können mit sozialen Interessen korrespondieren. Das betrifft besonders augenfällig konventionelle, vielfach auf rein projektiven Zuschreibungen fußende Vor-
162
Barthes, Roland (1983), S. 35.
163
Ebd., S. 36.
164
Luhmann, Niklas (1996), S. 195.
TEIL I. THEORIE DES STEREOTYPS. BEGRIFFE, ASPEKTE, KONTROVERSEN
Stellungen über Gegenstände, die dem unmittelbaren lebensweltlichen Erfahrungsbereich der Individuen nicht angehören. So beruhen zum Beispiel stereotype Vorstellungen über fremde Kulturen und Menschen in hohem Maße auf kulturell vermittelten Imaginationen und nicht auf ,hartem Wissen'. Sie teilen mithin Zuverlässigeres über die Gruppe resp. jene Gesellschaft mit, die Urheber des Stereotyps ist, als über das Vorgestellte selbst. Muster dieser Art avancierten wohl nicht zufällig zu einem Lieblingsthema der Stereotypforschung, insbesondere der sozialpsychologischen, ethnologischen resp. kulturwissenschaftlichen Richtung - und zwar vor allem dann, wenn sich diese Forschung in erster Linie für die Differenz zwischen kognitiver Formel und Realität (oder der eigenen Konstruktion von Realität) interessiert. An diesem Punkt berührt das Stereotypthema den klassischen Begriff der Doxa, der seit der Antike mit Schein und Meinung als Gegensatz zu Realität und Wissen verbunden ist. Rüdiger Kunow gebraucht in seiner Studie zum literarischen Klischee den Begriff ,Doxa' in diesem Sinn. In Anlehnung an Husserl bezeichnet er damit Grundelemente der Wissensweise in der Sphäre der Alltagserkenntnis, „sedimentierte bzw. habitualisierte Sinnelemente", 165 also nicht mehr hinterfragte Uberzeugungen. Hier mischt sich nun eine weitere Thematik ein. Neben der Reduktion von Mannigfaltigkeit und dem gesellschaftlichen Eingriff vermittels der secondhand formulas verweist die Anmahnung von Verzerrungen häufig auf eine andere Eigenart vieler Stereotype - insbesondere solcher, die als Vorstellungsschemata fiktionale Narrationen prägen. Sie beziehen sich vielfach statt auf harte Repräsentationen des Realen auf mythische Welten des Imaginären. Ausgehend von Wolfgang Isers „Triade des Realen, Fiktiven und Imaginären" 166 - eine Begrifflichkeit, an die sich diese Studie auch weiterhin anlehnen wird - lässt sich sagen, dass Stereotype fiktionaler Texte häufig weit stärker „Phantasmen, Projektionen und Tagträumen" 167 Ausdruck verleihen, als einer um Wahrheit bemühten Repräsentation von Realität. In ihnen kristallisiert sich gleichsam die Grenzüberschreitung des Imaginären vom Diffusen, bloß Individuellen hin zum interpersonal strukturierten Faktum, dem durch die Konventionalität eine Realität eigener Art zukommt. Ähnlich der Doxa (und mit ihr verwandt) hat auch der Konflikt zwischen jenem wilden Denken, dessen Formen Levi-Strauss als Mythos untersucht hat, und dem Ideal einer rationalen Weltsicht, die die Vernunft anruft und sich als Einlösung von Wahrheit begreift, eine bis in die Antike zurückreichende Geschichte. Ganz offenbar, weil beide Aneignungsweisen der Welt - Mythos und Logos oder Imaginäres und Vernunft einander niemals endgültig zu verdrängen und zu ersetzen vermögen, ja kaum in reiner Form erscheinen. Insbesondere das Alltagsdenken und die fiktiven, stark von Imaginationen geprägten Welten der medialen Unterhaltung bleiben, so ist häufig festgestellt worden, 168 deutlich Prinzipien des Mythos unterworfen. Jene Stereotype, die von zyklisch organi165
Kunow, Rüdiger (1994) Das Klischee. Reproduzierte Wirklichkeiten in der englischen und
amerikanischen Literatur. München: Fink, S. 110. 166 Iser, Wolfgang (1990) Das Fiktive und das Imaginäre: Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 19. 167 Ebd., S. 21. 168 Vgl. Eco, Umberto (1986) Apokalyptiker und Integrierte. Frankfurt: Fischer, insbes. das Kapitel „Der Mythos von Superman", S. 1 8 7 - 2 2 2 .
1. .STEREOTYP' IN PSYCHOLOGIE U N D G E I S T E S W I S S E N S C H A F T E N sierten Repräsentationen des Imaginären hervorgebracht werden, sind mithin als Knotenpunkte der jeweiligen mythischen Mikrokosmen lesbar. Die Kritik am Stereotyp resp. an dessen verzerrender Wirkung, wie sie in vielen sozialpsychologischen Texten aber auch in der klassischen Medienkritik üblich war und teilweise noch ist, erweist sich daher häufig als eine Kritik, die an den imaginären und mythologischen Denkformen geübt wird, welche hinter den im Stereotyp geronnenen Vorstellungsschemata stehen. Sie lässt sich mithin auch als Teil der uralten Vernunftkritik am Mythos lesen. Als zusätzlicher Widerpart einer adäquaten Repräsentation von Wirklichkeit erscheint die schon hervorgehobene affektive Dimension vieler Stereotype sowie die emotionale Bindung an sie. Denn diese Bindung verstärkt das Beharrungsvermögen und den habituellen Charakter. Mit der nachdrücklichen Betonung von Stabilität erweitert sich die Problematik von Verlust und Verzerrung noch einmal um eine grundsätzliche Facette - auch unabhängig vom Problem des Imaginären. Allein der Hinweis auf Stabilität und Beharrungsvermögen bedeutet schließlich nichts anderes, als mit Blick auf mentale oder textuelle169 Schemata Statik, Trägheit oder Automatismen hervorzuheben und damit ein Spannungsmoment per se zur Dynamik der Realität zu markieren. Bergsons klassisches Verlust- und Verzerrungsproblem von der mechanischen Arretierung des Lebendigen drängt sich in den Sinn. Danach habe „unser Intellekt [...] das anorganisch Starre zum entscheidenden Gegenstand" 170 und könne mithin niemals der schöpferischen, fließenden Entwicklung des Lebens voll gerecht werden. Er folge dieser Dynamik wie der „kinematographische Mechanismus"171 - gleichsam ruckartig in stillgelegten Einzelbildern. Dieser Gedanke erhält mit Blick auf die beharrende Dimension von Stereotypen, welcher Art auch immer, eine zusätzliche Dimension. Dazu kommt, wenn Stereotype jeweils als Sedimentierungen an einen bestimmten Typus von (Handlungs-)Kontexten angepasst sind, so darf ihre Adäquatheit allein schon in Hinblick auf variable Kontexte der jeweiligen Aktualisierungen zu Recht hinterfragt werden. Mit der Betonung des Konventionellen an Stereotypen für die Textorganisation tut sich - neben der bisher umrissenen Thematik kognitiver Defizite - ein zweiter grundlegender Aspekt auf, nämlich die Frage nach Verlusten, die den ästhetischen oder stilistischen Ausdruck betreffen. Das Problem wird von den meisten ästhetisch orientierten Stereotypkonzepten berührt. Die Bezugnahme auf automatisierte und konventionalisierte Schemata kann schließlich als spannungsreich aufgefasst werden im Verhältnis zu einem Streben nach möglichst originärem Ausdruck. Artikuliert und problematisiert wird dann der second-hand-Charakter als Gegensatz zu Individualität und Originalität und die .Banalität' des überwiegend Reproduktiven, Redundanten als Gegensatz zum Neuen, zu wirklicher Information - ein Aspekt, der ästhetische und kognitive Defizite vereint. In Verbindung damit geht es um die Abnutzung häufig wahrgenommer Formen, die, bedingt durch die gewohnheitsmäßige Apperzeption eine emotionale Abflachung des Erlebens, der Information durch den Rezipierenden mit sich bringt. Ja, sie kann dazu führen, dass die wahrgenommene Form selbst nicht einmal mehr zu voller Bewusstheit gelangt. Immer wieder haben jedoch Theoretiker, darunter 169 Textuelle Schemata existieren letztlich immer auch als mentale Konstruktionen, freilich als solche die speziell auf Texte bezogen sind und wiederum in Texten aktualisiert werden und im intertextuellen Raum einer eigenen (vom Individuum abgelösten) Dynamik unterliegen. 170 Bergson, Henri (1912) Die schöpferische richs 1912, S. 158. 171
Ebd., S. 276.
Entwicklung
[franz. 1907]. Jena: Eugen Diede-
TEIL I. THEORIE DES STEREOTYPS. BEGRIFFE, ASPEKTE, KONTROVERSEN Riffaterre, Lotman oder Hauser, auch darauf aufmerksam gemacht, dass die Zuweisung einer absoluten Position an das Originäre zumindest einseitig und außerdem ein historisch neueres Phänomen sei. Im übrigen könne Originäres, Unverbrauchtes gerade im spannungsvollen, im dialektischen Spiel mit den Stereotypen selbst entstehen. Damit ist das Repertoire klassischer .Reibungspunkte', die in den Stereotypdiskursen unterschiedlich in Auswahl und Gewichtung hervortreten, zunächst grob umrissen (insbesondere auf die ästhetischen Aspekte wird zurückzukommen sein). Im Grunde ist es erst die Empfindung solcher Reibung, solcher Verzerrungs- und Verlustmomente, die über Schematismus und Stabilität reflektieren lässt. Sie ist die Hauptursache dafür, dass Stereotype auffällig werden. Es erscheint geradezu als Bedingung für die Stellungnahme, etwas sei ein Stereotyp, dass das betreffende Konstrukt auf irgendeine Weise von jenem Kontext, in dem es sich ausdifferenziert hat und in dem es reibungslos - also automatisiert und adäquat - funktioniert, abgelöst und somit als problematisch, als Verlust- und Verzerrungsphänomen erfahren wird. Die Ablösung und Problematisierung kann dabei auf zwei grundsätzlich differente Weisen erfolgen: einerseits dadurch, dass ein stabilisiertes Schema tatsächlich außerhalb jenes Gebrauchszusammenhanges, an den es angepasst ist, Anwendung findet. Also etwa, wenn jemand (z.B. ein Textproduzent oder ein Rezipierender) mit Hilfe eines einst gut funktionierenden Stereotyps, an dem er festhält, qualitativ veränderte Herausforderungen (also etwa andere Textsorten oder andere kommunikative Situationen als bisher) zu bewältigen sucht und nicht zu einer Korrektur bereit oder in der Lage ist. In solchen Fällen der Spannung zwischen Muster und Kontext lässt sich von funktioneller Inadäquatheit sprechen. Andererseits kann ein stabilisiertes Schema aber auch dadurch als Stereotyp erfahren werden, dass es lediglich reflektierend von seinem Kontext abgelöst und vor einen anderen Horizont der Reflexion gestellt wird. Das ist etwa der Fall, wenn ein - in gewissen Kontexten an sich gut funktionierendes - Schema aus der Perspektive anderer, möglicherweise komplexerer oder zumindest veränderter Erfahrungen und Erwartungen kritisch betrachtet wird. Solche Entautomatisierung oder Denaturalisation kann es dann als arm, reduziert oder kognitiv verzerrend erscheinen lassen. Dieser zweite, für den Diskurs Intellektueller zum populären Kino besonders wichtige Aspekt beruht auf einer Perspektivverschiebung. Fundamentale Angriffe auf das Stereotyp setzen nun häufig den zweiten Fall mit dem ersten gleich oder sind - absolutistisch argumentierend - zu einer solchen Differenzierung gar nicht bereit. Pragmatische oder funktionale Stellungnahmen für den Wert von Stereotypen, argumentieren dagegen regelmäßig auf der Ebene von Inadäquatheit durch Perspektiwerschiebung. Das heißt, sie heben einerseits - von der eigenen Reflexions- und Diskursebene des Analysierenden ausgehend - Verluste und Verzerrungen hervor, die sie jedoch im selben Moment als notwendige Bedingung für das Funktionieren im analysierten Kontext rechtfertigen. Fälle von funktioneller Inadäquatheit werden dann - sofern überhaupt erwähnt davon kritisch abgehoben. Letzteres wird sprachlich gelegentlich durch die Differenzierung von Stereotyp (akzeptabel) und Klischee172 (inakzeptabel) markiert. U m sol-
172 Zum Klischeebegriff als Terminus der Literaturanalyse hat Kunow die bereits erwähnte umfangreiche Untersuchung vorgelegt, siehe Kunow, Rüdiger (1994). Anzumerken ist, dass Kunow den Klischeebegriff ähnlich weit und differenziert auslegt, wie hier .Stereotyp' verstanden wird.
1. ,STEREOTYP' IN PSYCHOLOGIE U N D G E I S T E S W I S S E N S C H A F T E N che Fälle zu vermeiden, plädieren Theoretiker von Lippmann bis Gombrich dann regelmäßig für ein flexibles, selbstkritisches sowie korrektur- und anpassungsfähiges Verhältnis der Subjekte zu ihrem eigenen Stereotypvorrat. Insgesamt wird also auch bei Verteidigungen des Stereotyps - aus markierter analytischer Distanz und zu Recht eine gewisse Ambivalenz des Phänomens hervorgehoben. Vierte Facette: Hintergrund für Differenzen. Wenn Diskurse über Stereotype vor allem mit der Akzentuierung von Ahnlichem und mit dem Nachdenken über Kraft, Leistungen und Defizite von Wiederholung, Automatisierung und von Konventionellem einhergehen, so binden sich auch scheinbar gegenläufige Gedanken an sie: solche über Differenzsetzungen. Schafft doch das Rekurrente, Konventionelle im Grunde erst der Differenz einen Hintergrund. Sinnvoll kann nur von Abweichungen sprechen, der weiß, was üblich ist. Jede Modernisierung ist immer das Resultat des Zusammenwirkens von Innovation und Tradition, und jede stilistische Erneuerung bleibt - hinsichtlich ihrer Qualität als Innovation - auf die konventionellen Formen bezogen, die sie hinter sich lässt oder mit denen sie bricht. Mit Blick auf die Problematik von Text und Rezeption ist daher stets das Zusammenspiel zweier (interdependenter) Ebenen in der Existenzweise von Stereotypen bedeutsam. Einerseits existieren Stereotype als mentale Konstrukte in den Köpfen der Menschen (im Extremfall aller Angehörigen einer Kommunikationsgemeinschaft) - von Rezipienten ebenso wie von Textproduzenten. Andererseits finden Stereotype ihren nach außen gestellten, kommunikativen Ausdruck als besondere Strukturen oder Schemata der Textorganisation, die in den Texten eine Art physischen Träger besitzen. Diese beiden .Ebenen' befinden sich in ständiger Interaktion, denn auch das in einem Text festgestellte Stereotyp ist kein so hartes, dem Text immanentes Faktum, wie es einem flüchtigen Denken erscheinen könnte. Das Stereotyp überschreitet stets die Immanenz des einzelnen Textes - hinein in die intertextuelle Sphäre. Seine Wahrnehmung als Stereotyp setzt voraus, dass es als ein Schema erkannt wird, das diskursiv eingespielt, also konventionell ist. Mit anderen Worten, es muss, um als Stereotyp realisiert zu werden, mit dem Repertoire des Konventionellen korrespondieren, das letztlich nur dann als lebendige Größe existiert, wenn es auch als mentales Faktum in den Köpfen der Rezipienten existiert. Die Ausbildung von Stereotypen, ihre Ausdifferenzierung, Konventionalisierung und mentale Verankerung funktioniert gleichsam im wechselseitigen Bezug beider Ebenen aufeinander. Einmal konstituiert, besitzen beide Ebenen jedoch Momente eigener Dynamik. So können Stereotype als Lektüremuster aus überwuchernder Lust am dejä vu auch auf Texte bezogen werden, die ihnen gar nicht folgen (Amossys stereotyped reading), oder stereotypgeprägte Texte geraten an Rezipienten, die die Stereotype als originäre Gestalten aufnehmen, weil sie das entsprechende mentale Konstrukt und das notwendige Moment reflektierender Distanz in ihrer Rezeptionserfahrung (noch) nicht aufgebaut haben. Gleichzeitig werden durch Bezugnahme der Texte auf gut befestigte Schemata vielfältige Spiele mit der Differenz möglich. Einen mehr oder weniger einfachen Variationsgedanken, der sich mit einer Art Realismuskonzept verbindet, äußerten Hauser und Gombrich, wenn sie für das Stereotyp als Ausgangspunkt des Gestaltens plädierten, der dann - in der Auseinandersetzung mit dem zu repräsentierenden äußeren Gegenstand - einem Prozess der Selbstkorrektur und der Anpassung an die darzustellende
TEIL I. THEORIE DES STEREOTYPS. BEGRIFFE, ASPEKTE, KONTROVERSEN Realität (und damit auch der Verwischung und Unkenntlichmachung für den Rezipienten) zu unterwerfen sei. Deutlich weiter in Richtung eines bewussten Spiels mit der Differenz war Lotman gegangen, als er eine Art von reflektierendem Verhältnis gegenüber dem Stereotyp in sein Konzept einbaute. Der Umgang mit dem Stereotyp, sowohl im Kontext einer .Ästhetik der Identität' als auch im Zeichen der .Ästhetik der Gegenüberstellung', appelliert beim Zuschauer unmittelbar an ein Bewusstsein über das Stereotyp. Dieses geht über bloße Habitualität hinaus. Reßexivität kommt ins Spiel. Die Ästhetik der Identität, wie er sie anhand seines Commedia dell'arte-Beispiels darstellt, fordert ja auf dem einen Pol die reflektierte Vorführung und Lektüre der konventionellen Typen als konventionelle Typen, oder genauer gesagt: als Stereotype. Während dabei die propositionale Bedeutung der Figuren sinkt und sie weniger als unmittelbare Repräsentationen von Realität und mehr als Spielmuster einer imaginären Welt erlebt werden, steigen die Möglichkeiten mit den Stereotypen frei zu improvisieren. Auch das Konzept der ,Ästhetik der Gegenüberstellung' mobilisiert das jeweils angesprochene Stereotyp zumindest in absentia, allerdings nur noch, um eine Erwartung aufzubauen, der dann auf unerwartete Weise nicht entsprochen oder die angegriffen und widerlegt wird. Je nachhaltiger ein Wiederholungsmuster sedimentiert und konventionalisiert ist, desto sicherer funktionieren Anspielungen darauf als Grundlage für alle möglichen Varianten der Differenzsetzung. Auch außerhalb der Wortsprache kommt dann etwas Ähnliches in Gang, wie es Coulmas mit Blick auf seine verbalen Stereotype als Umschlag von rekurrenten Ereignissen des Sprachgebrauchs in Ereignisse des Sprachsystems beschrieben hat. Dies alles sei im Folgenden mit Blick auf die Spielfilmkultur und die ihr zugehörigen Theoriediskurse genauer durchdacht.
2. Einige Aspekte und Ebenen der Stereotypisierung des Films „Das vollkommen subjektive und spontane, jeglichen konventionellen und stereotypen Elements bare Erlebnis ist ein bloßer Grenzbegriff, ein abstraktes Gedankenbild, dem in der Wirklichkeit nichts entspricht - Arnold Hauser1
Sowohl die im ersten Kapitel vorgenommene Differenzierung und Spezifikation der verschiedenen Konzepte zum .Stereotyp' und ihrer theoretischen Orte, als auch die Zeichnung der vier Facetten mit Elementen eines übergreifenden Verständnisses können dabei helfen, Aspekte und Ebenen der Stereotypisierung des Films in diesem Kapitel näher auszuarbeiten. Denn auch in der Sphäre des Films geht es um sedimentierte Schemata oder Muster, die in langen intertextuellen Reihen immer wieder benutzt werden. Auch sie sind mithin bei einem breiten Publikum intersubjektiv gut verankert und längst konventionell geworden. Ebenso erscheinen sie vielfach schablonenartig und formelhaft reduziert, werden daher oft als ,Klischees' empfunden, lassen sich aber gleichzeitig als funktional kontextangepasst oder als .Wirkungskonserven' interpretieren. Und auch sie funktionieren als ständige Herausforderung an - und zugleich als Grundlage für - ästhetisch ambitionierte Konzepte, die auf allen möglichen Formen des Spiels mit dem Stereotyp und der Differenz beruhen. Es ist indes kaum möglich, von filmischen Stereotypen in einem pauschalen Sinn zu sprechen. Denn einerseits erfasst die Stereotypisierung ganz unterschiedliche, hier näher zu untersuchende .Ebenen' des Films: die Konstruktion der Figuren, der Handlungsabläufe ebenso wie die Bild- und Klangkonstruktion oder das Schauspiel. Selbst die Konzeptualisierung von Filmgenres berührt zentral die Theorie des Stereotyps. Andererseits kommen auch in Hinsicht auf die in Filmen präsenten Stereotypen sowohl primär sozialwissenschaftliche Forschungsinteressen (und entsprechende Stereotypkonzepte) ins Spiel, als auch solche, die mit ihrem Begriffsverständnis - analog zu den dargestellten Konzepten der Idiomatik, der Literatur- und Kunstwissenschaft primär bei Aspekten der filmischen Narration und Präsentation, bei den spezifischen Bild- und Erzählwelten des Mediums und deren rekurrenten Formen ansetzen. Hier liegt auch der Schwerpunkt in dieser Studie. Dennoch soll dem Verhältnis der beiden (partiell überlappenden) Zugangsweisen zunächst - mit Blick auf die filmische Figur genauer nachgegangen werden.
Figur Das Thema .Stereotyp', in dem Sinne, wie es die Sozialwissenschaften, die SozialPsychologie oder die Ethnologie, begriffen, war - wie ausführlich gezeigt - vor allem auf Menschenbilder, meist auf .Bilder vom Anderen' bezogen. Aus dieser Perspektive 1
Hauser, Arnold (1973) Kunst und Gesellschaft, München: Beck, S. 42.
T E I L I. T H E O R I E D E S S T E R E O T Y P S . B E G R I F F E , A S P E K T E ,
KONTROVERSEN
lag es nahe, mit dem Begriff im Film danach zu fragen, wie Figuren der Narration bestimmte Menschenbilder repräsentieren, beeinflussen oder auch prägen. Tatsächlich war und ist das die geradezu klassische Ausdeutung des Stereotypbegriffs in der sozialpsychologischen, ethnologischen, kulturwissenschaftlichen (cultural studies) oder der ideologieanalytischen Filmanalyse. Und es macht in diesen theoretischen Kontexten bis zu einem gewissen Grad Sinn: Stereotype - verstanden als einfach strukturierte und stabilisierte Vorstellungen über Menschen, die bestimmten Gruppen angehören, Vorstellungen, die im kulturellen Alltagsbewusstsein verankert, also konventionalisiert sind - bieten in der Tat wichtige Bezugsgrößen für die Konstruktion von fiktionalen Figuren der Narration. Für das Funktionieren des rezeptiven Erlebens ist es ja bedeutsam, dass der Film mit seinen Figuren, die zentrale Bezugsgrößen für die Teilhabe des Publikums am Handlungsgeschehen sind, eng mit der alltäglichen Vorstellungs- und Wertewelt verbunden ist. Aber auch in umgekehrter Richtung funktioniert die Interaktion. Populäre Medienerzählungen wirken auf die Vorstellungswelt des Publikums aktiv ein, und sei es nur, dass sie umlaufende Schemata des Denkens visuell überformen und konkretisieren, also ein Repertoire anschaulicher Muster bereitstellen. So war von Irmela Schneider2 hervorgehoben worden, dass die Vorstellungen Deutscher über Amerikaner (resp. über Angehörige bestimmter Gruppen in den USA) in hohem Maße durch amerikanische TV-Serien und die darin visuell repräsentierten Figurenmuster geprägt sind. Ahnliches lässt sich - besonders mit Blick auf die prätelevisionelle Ära - auch von Kinofilmen sagen. Das rief nun aufklärerische Versuche auf den Plan, die empfundene Beschränktheit oder Verzerrtheit der konventionellen .Bilder vom Anderen' offenzulegen, sie zu differenzieren und zu korrigieren. Auch diese Projekte basieren auf der (erhofften) aktiven Rückwirkung der Filme auf die Zuschauerdispositionen. Besonders in den ideologiekritischen siebziger und frühen achtziger Jahren avancierte das im Kino und in der Filmpublizistik zu einem wichtigen Thema. Engagierte Filmemacher wie Rainer W e r n e r F a s s b i n d e r m i t A N G S T ESSEN SEELE AUF ( D 1 9 7 3 ) - u m n u r ein B e i s p i e l z u n e n -
nen - versuchten, in die soziale Vorstellungswelt der Zuschauer einzugreifen. Negative und bösartige Stereotype vor allem über Ausländer und Minoritäten sollten offengelegt und deren oberflächlicher, verzerrter Charakter markiert werden. Ähnlich der Figur des Nordafrikaners Ali in Fassbinders Film, ging es darum, das Muster aufzurufen, es zuzuspitzen, um es dann über die Inszenierung von klaren Differenzen als Stereotyp ad absurdum zu führen und es als armes, verzerrtes Bild erlebbar zu machen. Kurz, es ging darum, im Namen der Realität und der Humanität, Kritik an derartigen Stereotypen als Kristalle falschen Bewusstseins zu üben. Fassbinder thematisierte die inhumane Dynamik eines durch ignorante Stereotype geleiteten sozialen Verhaltens, in dem nahezu alle Figuren des Films gefangen sind. Es ist sicher kein Zufall, sondern Teil desselben Diskurses und derselben Sensibilität, wenn in den siebziger und achtziger Jahren auch zahlreiche film- und medienwissenschaftliche Texte erschienen, die - wie Steve Neale 3 - hinsichtlich stereotyper 2
Schneider, Irmela (1992) „Zur Theorie des Stereotyps". In: Beiträge zur Film- und
Fernseh-
wissenschaft 33. 43, S. 129-147. 3
Neale, Steve (1993b) „The same old story: stereotypes and difference" [1979/80]. In: The
Screen Education Reader: Cinema, Televison. Culture, hrsg. von Manuel Alvarado, Edward Buscombe und Richard Collins. New York: Columbia University Press, S. 4 1 - 4 7 .
2. EINIGE ASPEKTE UND EBENEN DER STEREOTYPISIERUNG D E S FILMS .Bilder vom Anderen' das Spiel mit der Differenz und die kritische Reflexion der Muster durch den Film betonten. N o c h weniger überrascht es bei einer solchen Interessenlage, dass viele Filmwissenschaftler und Analytiker anderer narrativer Medien, unter ihnen Richard Dyer, den Begriff des Stereotyps zunächst als sozialpsychologische
Kategorie aufnahmen und
dann schlicht an die filmische Figur banden. 4 Die Bezeichnung .Stereotyp' geht in solchem Zusammenhang meist auf solche Filmfiguren über, die auch Hinsicht
in
narrativer
ganz offen als Verkörperung stereotyper ,Bilder vom Anderen' erscheinen: auf
Figuren, die nicht nur mit dem Inhalt von stereotypen Vorstellungen über Angehörige bestimmter Gruppen übereinstimmen, sondern selbst unmittelbar als narrative ästhetische
Konstrukte, als konventionelle
Artefacte
resp.
auf wenige auffällige Merkmale
reduziert und en bloc vielfach intertextuell wiederholt werden. So formuliert Neale: „According to this problematic, a stereotyp is a stable und repetitive structure of character traits." 5 An dieser Stelle kommt das Stereotypthema aber auch in Hinsicht auf den tiven
Modus
narra-
ins Spiel, als „mode of characterization in f i c t i o n " , ' wie Richard Dyer
sagt. U n d zwar in jenem weiten, nicht sozialpsychologisch begrenzten Sinne, der im letzten Kapitel herausgearbeitet wurde. Der betonte ganz generell das Zusammenspiel von Momenten wie Automatisierung resp. Konventionalisierung auf der einen Seite sowie Schematik und Reduktion von Komplexität auf der anderen. In diesem Sinne unterzog Dyer etwa das „dumb blonde stereotype" 7 mit seiner Doppelgesichtigkeit sowohl als Alltagsvorstellung als auch als konkretes Figurenmuster filmisch-narrativer Imagination (das wesentlich durch amerikanische Filme seit den dreißiger Jahren um Jean Harlow oder Marilyn Monroe mit initiiert wurde) einer eingehenden Analyse. Steckte hinter dem sozialpsychologischen Diskurs über Wahrnehmen und Denken in Stereotypen immer die Gegenüberstellung von genauem, vorurteilslosen und geduldigen Beobachten anderer Menschen einerseits und dem raschen Rückgriff auf reduzierte und verzerrte konventionelle Bilder, die als Vor-Urteile funktionieren und die tatsächliche Beobachtung ersetzen, andererseits, so ist nicht zufällig innerhalb der ästhetischen Theorie und der Narrativik eine verwandte Antinomie verbreitet. Hier ist es in Hinsicht auf Figuren der Narration gebräuchlich, zwischen Charakteren und Typen zu unterscheiden. Als Charaktere
gelten Figuren, die erst im Zuge der erzählten Handlung sukzessive
erkennbar werden, im Wechselspiel mit der Handlung Entwicklungen erleben und ein individuelles und vielschichtiges geistig-psychologisches Profil besitzen. Umberto Eco traf mit etwas anderer Terminologie eine ähnliche Unterscheidung. Er sprach davon, dass auf der einen Seite des Spektrums Figuren angesiedelt sind, die „eine vollständige Physiognomie" gewinnen, „welche nicht nur eine äußerliche, sondern auch eine intel-
4 Vgl. Dyer, Richard (1977) „Stereotyping". In: ders. Gays in Film. London: BFI, S. 27-39 sowie Dyer, Richard (1993) The Matter of Images: Essays on Representations. London, New York: Routledge, insbes. S. 11-18 („The Role of Stereotypes"). 5 Neale, Steve (1993b), S. 41. 6 Dyer, Richard (1993), S. 13. 7 So der Titel einer Dokumentation für Lehrzwecke, vgl. Dyer, Richard (1979b) The Dumb Blonde Stereotype. Documentation for ΕAS Class-Room Materials, London: BFI.
TEIL I. THEORIE DES STEREOTYPS. BEGRIFFE, ASPEKTE, KONTROVERSEN lektuelle und moralische ist". 8 Mit Lukacs verwies er darauf, dass einer Figur dieser Art im Idealfall eine „intellektuelle Physiognomie" 9 zuwachsen könne, die sich für den Rezipierenden als eigentliches Ziel der Lektüre Zug um Zug erschließe. Eine solche Figur „existiert niemals vor dem Werk, sondern markiert dessen Gelingen". 10 Mit anderen Worten, die Erzählung ist in einem solchen Fall darauf ausgerichtet, ihren Rezipienten, sich in der Handlung Zug um Zug entwickelnde, psychologisch vielschichtige, facettenreiche Figuren zu vermitteln. Das ist ein Erzähl- und Figurenkonzept, das sich in Literatur und Film letztlich ähnlich verwirklichen lässt. Am anderen Pol des Spektrums stehen demgegenüber Figuren, die als schematisch reduzierte, sofort an wenigen markanten Attributen erkennbare Konstrukte erscheinen. „Wenn die Person die Szenerie betritt, ist sie bereits fertig: definiert, gewogen und gestempelt" n , so heißt es bei Eco. Als Beispiel nennt er Dumas' d'Artagnan, dem psychologische Komplexität und jede individuelle Entwicklung fehle. Uber d'Artagnan erfahren wir, nachdem er einmal etabliert worden ist, jenseits der spannenden Aktionen, die über das Vehikel seiner Anwesenheit präsentiert werden und durch die er nahezu unberührt hindurchgeht, im Laufe der gesamten Geschichte letztlich nichts Neues: „Während er uns mit seinen Abenteuern vorzüglich unterhielt, wurden wir gewahr, daß der Autor uns im Grunde nichts über ihn mitteilt, und daß die Abenteuer, die d'Artagnan erlebte, ihn keinesfalls bestimmten. Daß er dabei anwesend war, war zufällig. [...] d'Artagnan ist ein Vorwand zur Inszenierung von Ereignissen." 12 Ecos Argument legt zwei Anmerkungen nahe. Zunächst: als .Vorwand' zur Inszenierung von Ereignissen sind Figuren dieser Art nicht wirklich zufällig, sondern in ihrer Konstruktion sehr genau abgestimmt auf die Wahrnehmung einer Funktion für die Erzählung, also darauf, durch ihre Eigenart und das ihnen anhängende Handlungsprogramm eine bestimmte Sorte von Ereignissen und Handlungsabläufen immer wieder zu ermöglichen und zu transportieren. Manfred Pfister hat dafür die treffende Formulierung von der „handlungsfunktionalen Strukturierung"13 der Figuren geprägt. So gesehen, verschieben oder verändern die einzelnen durchlebten Abenteuer d'Artagnan tatsächlich nicht. Die Funktion, eine gewisse Art von Abenteuern zu bestehen, der einmal definierten Handlungsrolle zu folgen, bestimmt die Figur indes durch und durch. Wenn sie so etwas wie Selbstverwirklichung kennt, dann besteht diese in der steten Verwirklichung der Regel. Und die zweite Anmerkung: die Prägnanz solcher Figuren wird über die Charakteristik durch wenige besonders augenfällige, semantisch eindeutige und stabile Attribute hinaus dadurch gesteigert, dass ihnen fast immer im Spiel der Ereignisse Gegenfiguren zum Teil konstante aber auch wechselnde, dann aber strukturell ähnliche - zugeordnet werden. Gegenspieler, die ähnlich schematisch konstruiert sind wie sie selbst. Die 8 Eco, Umberto (1986) Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur. Frankfurt am Main: Fischer, S. 169. Eco spricht von einer Sonderform des narrativen Charakters, die er als „Typus" bezeichnet und dem „Typ" gegenüberstellt. 9 Ebd., S. 171. 10 Ebd., S. 175. 11 Ebd., S. 173. 12 Ebd., S. 177. 13 Pfister, Manfred (1977) Das Drama. Theorie und Analyse. München: Fink, S. 234.
2. EINIGE ASPEKTE UND EBENEN DER STEREOTYPISIERUNG DES FILMS Konstruktion solcher Oppositionen lässt die Eigentümlichkeit der Figuren in der Differenz noch schärfer hervortreten, als es die Typenbildung ohnehin tut.14 Sie erlauben zudem rasche Wert- und Bedeutungszuordnungen durch den Rezipierenden, stiften Klarheit und treiben über die auf diese Weise gestifteten Konflikte die Handlung voran. Direkt am Film orientiert, traf Richard Dyer eine ganz ähnliche Unterscheidung wie Eco. Dyer kleidete sie sprachlich in die geläufige - hier übernommene - Antinomie von Charakter und Typ,15 wobei er expressis verbis den sozialpsychologisch gedeuteten Begriff .Stereotyp' (Bild vom Anderen) in enge Verbindung brachte mit dem des .Typs' - als Figurenkonstrukt in narrativen Fiktionen. Auch Eco hatte von dieser zweiten Figurensorte zunächst provisorisch als .Typ' gesprochen, um dann aber den Begriff .Topos' vorzuziehen, der über die reduzierte Charakteristik und die Stabilität der Figur innerhalb eines Textes hinausweist und den Aspekt der Konventionalität, der intertextuellen Existenzweise unterstreicht. Das heißt, Ecos .Topos' nähert sich weitgehend dem (hier vorgeschlagenen) narrativen Verständnis von .Figurenstereotyp' als konventionellem Artefakt: „Nützlich und harmlos wie sie [die .Typen'] sind, wirken sie als Muster der Einbildungskraft [...]. Man sollte sie daher besser als topoi bezeichnen, als Örter, die sich leicht in Konventionen überführen und mühelos brauchen lassen. Der Topos als Muster der Einbildungskraft wird vorzüglich dort eingesetzt, wo [...] die ins Gedächtnis gerufene Figur an die Stelle eines kompositorischen Akts der Einbildungskraft tritt; er entlastet uns [...]." 1 6 Obwohl beide dem Charakter gegenüberstehen, fallen Typ und Figurenstereotyp (oder Ecos Topos) also nicht von vornherein zusammen. Ein einmal in einem Text entwickelter Typ wird erst dann zum narrativen Topos - und damit zu einem Figurenstereotyp - , wenn er sich durch Wiederholung im intertextuellen Raum der Narration als konventionelles Figurenmuster etabliert hat. Die Stereotypisierung des ursprünglich in einem Text aufgebauten Typs ist also ein möglicher zweiter Schritt: die intertextuelle Phase der Typenbildung. Sie bringt einen eigenständigen kulturellen Tatbestand, ein konventionelles Artefakt der narrativen Imagination hervor. Der Film-Vamp etwa - jener Typ, der schon durch äußere Merkmale (vor allem Kostüm und Maske, aber auch Habitus) ursprünglich in der Tradition italienischer Diven charakterisiert ist - hat durch wiederholte Performanz in zahlreichen Filmen des Stummfilmkinos seine ursprüngliche kinematographische Konventionalisierung erfahren und wurde so zu einer feststehenden Symbolgröße audiovisueller narrativer Imagination, die nahe Beziehungen zur Allegorie unterhält und ein ganzes Feld von ähnlichen Erzählungen angeregt hat.17
14 Vgl. Asmuth, Bernhard (1980) Einführung in die Dramenanalyse. Stuttgart: Metzler, S. 96-98. 15 Dyer, Richard (1993), S. 13, wörtlich unterscheidet er zwischen „novelistic character" und »type". 16 Eco, Umberto (1986), S. 178-179. 17 Vgl. Müller, Robert (2003) „Von der Kunst der Verführung: der Vamp". In: Koebner, Thomas (Hrsg.) (2003) Diesseits der,dämonischen Leinwand'. Neue Perspektiven auf das späte Weimarer Kino. München: edition text+kritik, S. 259-280.
TEIL I. THEORIE DES STEREOTYPS. BEGRIFFE, ASPEKTE, KONTROVERSEN
Meist wird allerdings in theoretischen Arbeiten ,Typ' bereits im Sinne des voll ausgebildeten Stereotyps verstanden: man zieht dann gern die standardisierte Figurenwelt der italienischen Commedia dell'arte oder das vergleichbare Arsenal der französischen Bühne des 17. und 18.Jahrhunderts als tradierte und besonders markante Beispiele heran. 18 Hier soll nun nicht der vergebliche Ehrgeiz entwickelt werden, den üblichen Sprachgebrauch zu reformieren, es sei lediglich darauf aufmerksam gemacht, dass es sich bei der Ausbildung solcher feststehenden .Typen', wie sie im Genrefilm die intertextuelle Imaginationswelt (zum Beispiel der Western oder des Mantel-undDegen-Films) prägen, gleichsam um eine zweite, eine konventionalisierte Stufe der Typenbildung handelt, um einen Fall der hier untersuchten narrativen Stereotypisierung. 19 Diese Differenzierung erlaubt übrigens auch den Zugang zu einer Argumentation von Stanley Cavell, der die These vertritt, dass die Narration im entwickelten populären Kino auf Typen - und weniger auf Stereotypen - beruhe: „[...] types are exactly what carry the forms movies have relied upon. These media created new types; or combinations and ironic reversals of types; but there they were, and stayed." 20 Aber, so fragt Cavell: „Does this mean that movies can never create individuals, only types?" 21 Seine Antwort auf diese Frage muss jeden irritieren, der nicht unterscheidet zwischen typisierter und stereotypisierter Figur: „What it means is that this [creating types] is the movies' way of creating individuals: they create individualities. For what makes someone a type is not his similarity with other members of that type but his striking separateness from other people." 22 Was Cavell hier (übrigens in einer Auseinandersetzung mit Panofsky) reklamiert, ist, dass populäres Kino seit der klassischen Phase weniger mit figuralen „stereotypes" 23 operiere, weniger mit Figuren, die als konventionelle Konstrukte sich intertextuell wiederholender Züge und Attribute - also nahezu als Readymades wie im naiven frühen Stummfilm - durch die Filme wandern, sondern stärker mit Individualitäten. Diese nach Cavell offenbar jeweils im einzelnen Film (oder durch eine einzelne populäre Figur) kreierten Individualitäten entstehen für ihn vor allem durch die akzentuierte Differenz, durch striking seperateness, zu anderen Figuren, vor allem zu Mit- und Gegenspielern aber wohl auch zu Menschen aus der alltäglichen Umgebung des Publikums. Man mag hier hinzufügen: auch durch innere Reduktion von Komplexität, also durch miratextuelle Schematisierung. Insofern sind derartige Individualitä-
Vgl. Asmuth, Bernhard (1980), S. 88. Dem entspricht die etymologische Nähe. Auch .Typ' leitet sich wie .Stereotyp' aus der Druckersprache ab. ,Typus' war ursprünglich das Klischee des Prägestocks, dann auch der damit erzeugte Abdruck. Vgl. Lausberg, Heinrich (1973) Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft. München: Hueber, § 901. 20 Cavell, Stanley (1979) The World Viewed: Reflections on the Ontology of Film. Cambridge, Mass./London: Harvard University Press, S. 33. 21 Ebd. 22 Ebd. 23 Ebd. 18
19
2. EINIGE ASPEKTE UND EBENEN DER STEREOTYPISIERUNG DES FILMS ten längst nicht zwangsläufig Charaktere im oben beschriebenen Sinne, sondern - wie Cavell ebenfalls sagt - Typen, aber keine Stereotype. Cavell unterschätzt hier 24 sicherlich die Bedeutung, die eindeutige Figurenstereotype, ,eingeführte Typen' und generell Prozesse der Konventionalisierung auch im figuralen Bereich für das populäre Kino, insbesondere das Genrekino Hollywoods, immer besaßen. Untersuchungen zur Präsenz von „stock characters" 25 im Hollywoodkino belegen dies, wenn es eines solchen Belegs bedarf. Andererseits schafft aber die auch bei Cavell aufscheinende theoretische Differenzierung von Typ und Stereotyp ein Stück gedanklicher Klarheit. Sie hilft zum Beispiel, zu unterscheiden zwischen der originären Erfindung eines Figurentyps und der später (möglicherweise) folgenden Stereotypisierung dieses Typs. Auch lassen sich auf solcher Grundlage Differenzierungen besser beschreiben, die häufiger zwischen Haupt- und Nebenfiguren (vor allem Chargen) existieren. Es wurde schon erkennbar, dass es sich bei narrativen Figurenstereotypen nicht lediglich um bloße Übersetzungen oder erzählerisch-visuelle Konkretisierungen jener ,Bilder vom Anderen' handelt, für die sich die Sozialpsychologie unter dem Schlagwort .Stereotyp' interessiert. Vielmehr können mit Blick auf die Realitätsbeziehungen von Figuren im Film 2 6 zwei unterschiedliche Aspekte von Stereotypisierung differenziert werden. Sie berühren und überschneiden teilweise einander, gehen aber nicht ineinander auf. Der Gesichtspunkt des sozialwissenschaftlichen Konzepts berührt (auch in Hinsicht die Untersuchung von Filmfiguren) Fragen wie: welche soziologisch relevanten kulturellen „Bilder von Anderen", von Angehörigen bestimmter Nationen, Berufsstände, Minoritäten der Gruppen, die zur sozialen Realität gehören, werden filmisch repräsentiert oder beeinflusst? „National Types as Hollywood presents them" 2 7 - das Thema und die Art einer Untersuchung von Siegfried Kracauer aus den fünfziger Jahren sind charakteristisch für das Interesse an der Repräsentation solcher Vorstellungen. Es geht um .Typen' aus der Lebenswelt, um konventionelle und schematische Alltagsvorstellungen über den Amerikaner, den Russen, den Türken, den Deutschen oder in anderen Kontexten auch den Homosexuellen, die Hausfrau ... Also um Vorstellungen, die - wie fragwürdig sie auch jeweils sein mögen - für sich selbst dennoch eine gewisse Gültigkeit in der Lebenswelt beanspruchen. Sie können daher für praktisches Handeln und die soziale Interaktion in der Lebensrealität unmittelbar bedeutsam werden und sind deshalb bevorzugter Gegenstand sozialwissenschaftlicher Diskurse.
24 Womöglich hat das mit dem Kontext der Argumentation zu tun, die sich kritisch mit einer These Panofskys auseinandersetzt. Der agumentierte, dass mit dem Tonfilm die naive feststehende Ikonographie von eingeführten und schon visuell leicht erkennbaren Typen an Bedeutung verliere, weil das Publikum das Erklärende, das in den feststehenden Typen stecke, jetzt nicht mehr brauche. Cavell nahm dieses Argument auf, wandte aber ein: „Films have changed, but that is not because we don't need such explanations any longer; it is because we can't accept them." (Ebd.) Das bedeute aber nicht, dass Typen verschwinden, sondern nur die Stereotype, die intertextuell feststehenden Figuren. 25 Loukides, Paul/Fuller, Linda F. (1990) Beyond the Stars (1): Stock Characters in American Popular Film. Bowling Green, Ohio: Bowling Green University Popular Press. 26 Gleiches gilt für jede Art von fiktionaler Narration, nicht nur für die filmische. 27 Kracauer, Siegfried (1949) „National types as Hollywood presents them". In: Public Opinion Quarterly, 13.1, S. 53-72.
TEIL I. THEORIE DES STEREOTYPS. BEGRIFFE, ASPEKTE, KONTROVERSEN Davon abzuheben ist der Aspekt des narrativen Konzepts. Hier geht es um einen narrativen Modus der Zeichnung fiktionaler Figuren. Für dieses Konzept ist eine Verbindung mit dem sozialpsychologischen Konstrukt vom Stereotyp nicht zwingend. Es erfasst auch bewusst imaginäre Figurenkonstrukte, die in einem jeweiligen Genre von Erzählungen - zum Beispiel im Westernkino - geläufig sind und vor allem in diesem Rahmen, also im Rahmen imaginärer Welten der Narration Gültigkeit für sich beanspruchen. Sie beziehen sich eben nicht (oder nur höchst indirekt) auf die alltägliche unmittelbare soziale Interaktion der Rezipierenden. Sind Stereotype im ersten Sinne also durch ihre sozialpsychologische Funktion als Realitätskonstruktionen mit Konsequenzen für die Lebenswelt definiert, so kann im zweiten Sinne die Funktion als relativ autonomes konventionelles Konstrukt für intertextuelle Welten der Imagination in den Vordergrund treten. Gelegentlich erweist sich diese Unterscheidung in Hinsicht auf ein konkretes Figurenkonstrukt als kompliziert, da sich selbst dezidiert imaginäre Welten der Narration kaum jemals völlig trennscharf und in Hinsicht auf alle Rezipienten von Vorstellungskonstruktionen über die eigene Lebenswelt abgrenzen lassen. Denn auch letztere enthalten stets zahlreiche (mediengeprägte) imaginäre Momente. Außerdem überlagern beide .Arten' von Stereotypen einander häufig und greifen ineinander. Darum war von Aspekten die Rede, die an derselben Figur tendenziell zusammenfallen können, wenn die Figur zugleich im Sinne des narrativen Modus als Stereotyp (oder als konventioneller Typ) und als Verkörperung eines realitätsbezogenen stereotypen ,Bildes vom Anderen' funktioniert. Man denke an die Figur des militaristischen Deutschen, die unter anderem Erich von Stroheim im amerikanischen Kino als narratives Stereotyp etablierte. Sie knüpfte an kulturell etablierte Vorstellungen an, gleichzeitig aber brachte sie eine eigenständige narrative Fixform, einen bald konventionell gewordenen Typ, eine ,Maske' hervor. Mit ihrer besonderen latent komischen Zuspitzung, ihrem Habitus und den wenigen demonstrativ zur Schau gestellten Attributen begann sie, ein filmisches Eigenleben im konventionellen Raum spielerischer Imagination zu führen. Dieses Eigenleben äußerte sich unter anderem darin, dass der konventionelle Typ der Narration als Komödienstereotyp bald ins Amüsante und nahezu Sympathische oszillieren konnte, obwohl das sozialpsychologische Stereotyp, auf dem es ursprünglich fußte, ein klar negatives ist. Eine solche Möglichkeit zum Eigenleben ist typisch für einmal konventionalisierte narrative Muster. Sie wiederholt sich in Hinsicht auf Stereotype von Sowjetfunktionären - etwa die entsprechenden Figuren in Ernst Lubitschs NINOTCHKA ( N I NOTSCHKA, USA 1 9 3 9 ) und Billy Wilders O N E , Two, T H R E E ( E I N S , ZWEI, DREI, USA 1961) - ebenso wie mit Blick auf Stereotype von Psychiatern - unter anderem in MR. D E E D S G O E S TO TOWN ( M R . D E E D S GEHT IN DIE STADT, Frank Capra, USA 1 9 3 6 ) und STARDUST M E M O R I E S (Woody Allen, USA 1 9 8 0 ) sowie in T H E HUDSUCKER PROXY (HUDSUCKER - D E R GROSSE SPRUNG, Ethan und Joel Coen, USA 1 9 9 4 ) . Ganz ähnlich liegt auch der Fall des „drunken journalist", wie Howard Goods .Biografie' dieses Filmstereotyps zeigt.28 Mit der sukzessiven Konventionalisierung eines Musters geht stets die Tendenz zur Derealisierung einher. Figuren, die zunächst möglicherweise als Repräsentation von Realität erschienen, nehmen in dem Maße, wie sie zu konventionellen Größen werden,
28
Good, H o w a r d (2000) The Drunken
ham, Md.: Scarecrow Press.
Journalist:
The Biography
of a Film Stereotype.
Lan-
2. EINIGE ASPEKTE UND EBENEN DER STEREOTYPISIERUNG DES FILMS gleichsam den Charakter von Puppen in einem offenbaren Spiel an. Ganz in diesem Sinne bemerkte Jurij Lotman über die Commedia dell'arte: „Die Härte des italienischen (nicht nur des italienischen) Volkstheaters steht in unmittelbarerer Beziehung zu seiner Konventionalität. Der Zuschauer ist sich dessen bewußt, daß auf der Bühne Puppen oder Masken agieren, und er empfindet ihren Tod oder ihre Leiden, Prügel oder Mißgeschick nicht so wie den Tod oder das Leiden wirklicher Menschen, sondern im Sinne einer rituellen Maskerade." 29 Wenn also die verzweigten Wechselwirkungen zwischen den beiden Aspekten kaum trennscharf aufzulösen oder zu systematisieren sind, so hat es doch Sinn, die Unterscheidung zu treffen. Denn ein stereotypes ,Bild vom Anderen' kann einerseits auch Filmfiguren zugrunde liegen, die hinsichtlich des narrativen Modus wesentlich subtiler gezeichnet sind und nicht als narratives Figurenstereotyp, nicht als fixer intertextueller Typ der Narration, agieren. Figuren, die das (sozialpsychologische) Muster bei der Komposition der jeweiligen Figur .umspielen' und bei der narrativen Präsentation an der Oberfläche ,re-individualisieren'. Und andererseits existieren, wie schon bemerkt, eine ganze Reihe von konventionalisierten intertextuellen Typen (also Stereotype im Sinne des narrativen Modus), die wenig mit einem unmittelbar realitätsbezogenen ,Bild vom Anderen' gemein haben und bewusst als Muster der Imagination rezipiert werden. Sie geben dem Imaginären Gestalt, lassen es als offen imaginäres Konstrukt gleichsam ,real' werden, das heißt: zur fixen kommunikativen Größe. Als .Märchengestalten', als stehende Masken der Imagination, hieße es, Figurenstereotype wie den Swashbuckler des Abenteuergenres, die Typage von Western oder das stereotypisierte Personal von Science-Fiction-Filmen grob fehlzudeuten, wollte man sie kurzschlüssig als .Bilder vom Anderen' interpretieren, die als realitätstauglich empfunden werden oder die ihrer Realitätsinadäquatheit wegen zu kritisieren seien.30 Der Rahmen, in dem sie vom Publikum allein erwartet werden, ist die imaginäre, intertextuell konstituierte Spielwelt eines Genres. In den konventionellen Netzwerken der Genres werden sie als sedimentierte Schemata, als Stereotype der Narration, als gleichsam rituelle Größen von den Rezipierenden goutiert. Hier würde ihr Fehlen oder ihre fundamentale Veränderung nicht nur Irritationen auslösen, sondern möglicherweise das Genre beschädigen, wenn nicht sprengen. Der Bezug solcher Muster zur lebensweltlichen Realität der Rezipierenden ist hingegen (von pubertären Missverständnissen abgesehen) eher indirekt. Meist ist er von höchst vermittelter Art. Es ist lediglich der, den jede Imagination in letzter Instanz immer zur realen Erfahrungswelt unterhält. Die Erwartungshaltung in Bezug auf die jeweilige Spielwelt eines Genres hat ihre Ursache nun darin, dass die Figurenstereotype als narrative Formen an rezeptiven Dispositionen - das heißt auch: an Bedürfnissen - orientiert sind. Sie funktionieren nicht als realistisch aufgefasste Repräsentationen, nicht als Vehikel der Erkenntnis, sondern als personale Instanzen eines wiederholbaren Lustgewinns in einem ritualisierten, sich selbst ähnlichen Spiel, das von den einzelnen Filmen des Genres stets neu angeboten
29 Lotman, Jurij M. (1977) Probleme der Kinoästhetik. Einführung in die Semiotik des Films [russ. 1973]. Frankfurt am Main: Syndikat, S. 38. 30 Diese Aussage zu treffen, bedeutet aber nicht, jede Beziehung zu bestimmten konventionellen Vorstellungen, die auf die unmittelbare Realität gerichtet sind, zu leugnen.
TEIL I. THEORIE DES STEREOTYPS. BEGRIFFE, ASPEKTE, KONTROVERSEN wird. Es ist angebracht, ihnen seriöse Funktionen für die gewählte Art der Narration und deren Koordinierung mit verbreiteten kulturellen Dispositionen zuzumessen. Durch die gelungene Wahrnehmung dieser Funktionen wird ihre Form geprägt und allmählich im intertextuellen Raum sedimentiert. Nebenbei bemerkt, dieses pragmatische Denken bewährt sich längst nicht nur an den Stereotypen des ,banalen' Genrefilms. Ernst Gombrich plädierte mit Blick in die Kunstgeschichte für eine methodisch ganz ähnlich pragmatische Annäherungsweise an ästhetische Fakten, zu denen konventionelle Stilformen gehören: „Solange die Malerei als etwas angesehen wird, das menschlichen Zwecken dient, hat man das Recht, ihre Mittel im Verhältnis zu diesen Zwecken zu betrachten."31 Und er beobachtete auch in klassischen Werken die Wirkung der „Idee einer .Ökonomie der Mittel'" 32 und sprach davon, dass „zur Kunst das Moment der Problemlösung gehört"33, die sich im Rekurs auf eine Reihe von jeweils wiederkehrenden spezifischen Anforderungen vollzieht. Die narrativen Figurenstereotype des Films, also die konventionellen Typen, lassen sich als eine solche Form .gefundener' Problemlösung interpretieren. Sie können als pragmatische Größen einer kontext- und funktionsgebundenen Standardisierung der Narration angesehen werden, als rekurrente, konventionelle Muster des Erzählens. So gesehen sind sie den von Florian Coulmas34 untersuchten sprachlichen Stereotypen ähnlich. Die begriff der Pragmalinguist auch als pragmatische Größen einer situations- und funktionsgebundenen Standardisierung. Ist einmal das Konzept des Stereotyps bei seiner Anwendung auf die filmische Figurenwelt unter den zwei beschriebenen Basisaspekten aufgegliedert und damit über eine naive sozialpsychologische Perspektive hinaus emanzipiert, so zeigt sich bald, dass Mechanismen der Stereotypisierung bei einer ganzen Reihe von Phänomenen im Spiel sind, welche die Figurenwelt der populären (Film-)Narration betreffen. Darunter auch solche, die für sich selbst anscheinend viel stärker die Idee der Individualität reklamieren als die des Stereotyps. Populäre Figuren - von Sherlock Holmes bis James Bond - wandern nicht nur durch eine Vielzahl von Filmen, die um sie herum gebaut und auf sie hin ausgerichtet sind, sondern auch durch Erzählungen in anderen Medien (Literatur, TV-Serien, Comics etc.). Die beiden Genannten entstammen sogar ursprünglich der Literatur, erlebten ihre ganz große Karriere aber erst mit dem Film. Solche populären Figuren berühren das Stereotypthema nun mindestens in dem Punkt, dass hinter der konkreten Figur eine Form der narrativen Typenbildung steht, als deren Aktualisierung die jeweilige Figur angesehen werden kann. Es handelt sich gleichsam um die Personifikation eines durch eine Vielzahl von Texten resp. Filmen relativ stabil wiederholten narrativen Figurentyps. Eine Personifikation, die seihst konventionell wird - als konkrete Figur mit einem Namen - und der in Konkurrenzprodukten des gleichen Genres eng verwandte Figuren folgen.
31 Gombrich, Ernst H. (1992) „Norm und Form. Die Stilkategorien der Kunstgeschichte und ihr Ursprung in den Idealen der Renaissance". In: Henrich, Dieter/Iser, Wolfgang (Hrsg.) (1992) Theorien der Kunst. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 172. 32 Ebd. 33 Ebd., S. 175. 34 Vgl. Coulmas, Florian (1981) Routine im Gespräch. Zur pragmatischen Fundierung der Idiomatik. Wiesbaden: Athenaion.
2. EINIGE ASPEKTE UND EBENEN DER STEREOTYPISIERUNG DES FILMS Selbst noch das Konzept des Stars, das auf paradoxe Weise als Zentralfigur der Individualität35 funktioniert, berührt grundlegende Facetten des Stereotypthemas. Denn die Erscheinung des Stars wird zur Projektionsfläche einer Imago, eines Vorstellungsbildes, das sich im intertextuellen Feld aufbaut durch die Überlagerung der in verschiedenen Rollen dargestellten (zunächst meist ähnlich typisierten) Figuren und außerdem durch die wiederkehrenden Elemente des Starbildes in der multimedialen Publicity." Diese Imago ist als populäres Medienprodukt in ihrer Komplexität schematisch reduziert und den Phantasien, Wünschen und Empfänglichkeiten des Publikums angepasst konstruiert. Sie hat sich im kulturellen Erfahrungsvorrat als stabile Maske der Erwartung ausgebildet. Es handelt sich um eine Vorstellung, die - einmal etabliert noch das vom Starkult gepflegte off-screen-image des Schauspielers, das öffentlich kommunizierte Bild von seiner .wirklichen' Persönlichkeit, strukturiert. Daran ändert sich auch nichts, wenn mit fortgeschrittener Sedimentierung des Bildes häufig ein meist begrenztes - Spiel mit der Differenz, mit Verschiebungen sowie (seltener) mit provokativen Kontrasten, sowohl auf der Leinwand als auch in der medialen Inszenierung des privaten Stars stattfindet. Noch dieses Spiel mit der Differenz oder mit der Problematisierung des konventionellen Musters - wie es zum Beispiel die Figur der Roslyn in T H E M I S F I T S ( M I S F I T S - N I C H T GESELLSCHAFTSFÄHIG, John Huston, USA 1961) mit Marilyn Monroes Imago treibt - ist eine mögliche Aneignungsweise von Stereotypen.
Handlungswelt Die Beobachtung von Stereotypen unter dem Aspekt der Ausbildung von stabilen Strukturen der Imagination kann nun aber längst nicht allein auf den Themenkreis .Figur' beschränkt bleiben. Es sind nicht nur T7g«re«schemata, die im intertextuellen Feld ihre Konventionalisierung erfahren. Neben vielen anderen Momenten unterliegen auch Situationen und Abläufe der erzählten Handlungen ganz ähnlichen Tendenzen der reduktiven Schematisierung und Konventionalisierung. Das gilt besonders für solche Textsorten, die auch im Figurenbereich eher mit Verkörperungen konventioneller Typen als mit Charakteren operieren. Und es hat damit zu tun, dass eingeführte Typen nicht allein hinsichtlich ihres Habitus und ihrer äußeren Attribute oder auch ihres geistigen Zuschnitts schematisiert und konventionalisiert sind, sondern auch - wie Asmuth das nennt - als „Verkörperungen von Handlungsfunktionen"37 angelegt, also mit jeweils spezifischen Handlungsprogrammen38 verbunden sind. Figurenstereotype prägen weite Bereiche der populären Narration insbesondere im Genrekino, im Fernsehen, in der Literatur, im Comic ... Eingespielte Regelmäßigkeiten auch in der Handlungsdimension sind mithin kein Sonderproblem des Films. Es Vgl. Dyer, Richard (1979a) Stars. London: BFI. Vgl. Dyer, Richard (1987) Heavenly Bodies. Film Stars and Society. London: Macmillan, S. 2. 37 Asmuth, Bernhard (1980), S. 99. 38 Diesen Begriff benutzen Taylor und Tröhler um ihren Rollenbegriff zu entwickeln, vgl. Taylor, Henry/Tröhler, Margrit (1999) „Ein paar Facetten der menschlichen Figur im Spielfilm". In: Heller, Heinz B./Prümm, Karl/Peulings, Birgit (Hrsg.) (1999) Der Körper im Bild: Schauspielen - Darstellen - Erscheinen (GFF - Schriften 7). Marburg: Schüren, S. 148. 35 36
TEIL I. THEORIE D E S STEREOTYPS. BEGRIFFE, ASPEKTE, KONTROVERSEN handelt sich vielmehr um ein Charakteristikum, das das populäre Erzählen im Medium Film mit dem in anderen Medien teilt. D e r zum Kreis der Russischen Formalisten gehörende Viktor Schklowski formulierte Ahnliches mit Blick auf ein literarisches Phänomen schon Mitte der zwanziger Jahre, als der sowjetische Staatsverlag zwei TarzanRomane herausbrachte: „Der Massenleser liebt die endlose Wiederholung der immer gleichen Abenteuer, und er mag es, wenn sie auf immer die gleiche Weise bestanden werden." 3 9 Tatsächlich reicht die Tendenz zu dichten Regelmäßigkeiten in der Literatur aber viel weiter zurück. D e r populäre Film, dessen Eigenart als „legitimer Erbe der Erzähltradition des 19. Jahrhunderts" 4 0 Joachim Paech herausgearbeitet hat, trat auch in dieser Hinsicht das Erbe an. Mehr noch, die Affinität zur Wiederholung prägnanter Handlungsmuster ist nicht einmal als eine Besonderheit des im 19. Jahrhundert endgültig ausgebildeten massenmedialen Erzählens zu sehen, obgleich die damals innovativen Reproduktionsmechanismen und die industrialisierte Kultur des Massenkonsums dieser Tendenz eine durchschlagend neue Qualität verliehen haben. Die Lust an der Wiederholung von Ahnlichem ist schon ein Charakteristikum viel älterer folkloristischer und mythischer Erzähltraditionen. Jeder Mythos wurde, kaum verändert, wieder und wieder erzählt oder zelebriert und funktionierte - wie es Jurij Lotman ausdrückte - als ein „sich unendlich wiederholender Zyklus". 4 1 Daher kommt dem Moment der Wiederholung dichter narrativer Schemata gerade in der Mythen- und Folkloreforschung besondere Aufmerksamkeit zu. Nicht zufällig schließt die Theorie zum populären Film gern an dieses Forschungsfeld an. Richtungweisend war hier Vladimir Propps zuerst 1928 veröffentlichte Strukturanalyse 42 der Morphologie russischer Zaubermärchen. Propp beschrieb darin einen Fundus von Motiven und Handlungsmustern, die in diesen Erzählungen wiederkehren. Er legte eine Art abstrakter Superstruktur für die Handlung offen, welche nahezu alle Texte des untersuchten Genres teilen. Dazu reduzierte er die an der Oberfläche vielfältigen Märchen auf einunddreißig „Funktionen", was nichts anderes meint als hinsichtlich ihrer Funktion für den Gang der Erzählung ähnliche - Handlungsmuster. Diese kehren nach Propps Befund in den einzelnen Texten wieder. Das Modell erhielt dadurch, dass es zwischen konstanten und variablen Funktionen unterschied, eine gewisse Flexibilität. Auf ganz ähnliche Weise wie die .Funktionen' sezierte Propp auch aus der Flut von Märchenfiguren sieben Grundvarianten, die jeweils bestimmte Rollen wie den Schurken, den Helfer, die Prinzessin etc. wahrnehmen. Diese - in ihrer Charakteristik auf die Rollen abgestimmten - dramatis
personae
kommen wiederkehrenden Grundtypen
in der heutigen Genrenarration sehr nahe, wiewohl sie als lediglich funktional gedachte Größen weniger konkret erscheinen. In Verbindung mit den Funktionen der Erzählung sah Propp schließlich auch standardisierte Handlungssphären, welche den figuralen Rollenträgern verbindlich zugeordnet sind. Mit anderen Worten, seine Analyse
Schklowski, Viktor (1987b) „Tarzan" [russ. 1924], In: Mierau, Fritz (Hrsg.) (1987) Die Erweckung des Wortes. Essays der russischen formalen Schule. Leipzig: Reclam, S. 127. 40 Paech, Joachim (1988) Literatur und Film. Stuttgart: Metzler, S. 48. 41 Lotman, Juri (1981) Kunst als Sprache. Leipzig: Reclam, S. 176. 42 Propp, Vladimir (1975) Morphologie des Märchens [russ. 1928], hrsg. von Karl Eimermacher. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 39
2. EINIGE ASPEKTE UND EBENEN DER STEREOTYPISIERUNG DES FILMS arbeitete ein strukturell geordnetes Repertoire von Schemata aus, die im Rahmen des Genres russischer Märchen konventionell sind. Von einem ähnlichen Grundgedanken ging auch der Amerikaner Joseph Campbell43 aus, als er in den vierziger Jahren den „Monomythos" von der „Abenteuerfahrt eines Helden" beschrieb. Campbeils Wille zur Generalisierung ging aber weit über Propp hinaus. Er universalisierte gleichsam dessen am russischen Zaubermärchen entwickelten Ansatz und proklamierte die Abenteuerfahrt als konstitutiv für ritualisierte Erzählungen aller Kulturkreise und sogar aller historischen Epochen. Dafür entwickelte er ein „allen Völkern gemeinsamefs] Grundschema der mythischen Abenteuer".44 Die später weiter aufgefächerte „Kerneinheit" dieses Schemas beschrieb er so: „Trennung von der Welt, Durchkämpfen zu einer Quelle übernatürlicher Kräfte und lebenbringende Rückkehr". 45 Mit dem Grundschema in Verbindung steht auch hier eine Typologie von Figuren. Neben dem veränderten Geltungsrahmen - der Dehnung ins Universale - fällt noch ein zweiter Unterschied zu Propp auf. Während letzterer sich auf die strukturale Ordnung des Phänomens beschränkte, gab Campbell den von ihm entworfenen Gemeinsamkeiten eine anthropologische Deutung, die er psychoanalytisch zu untermauern suchte. Das Wiederkehrende verweise auf „etwas der Seele Notwendiges" 46 , und das sei überzeitlich. So wie Initiationsbilder, die zu allen Zeiten von der menschlichen Vorstellungskraft geschaffen wurden, „eine Reihe fast standardisierter Verwandlungen [enthalten], wie sie Männer und Frauen in jedem Winkel der Erde, in allen geschichtlichen Jahrhunderten, unter der dünnen Verkleidung aller besonderen Kulturen durchgemacht haben"47, so reflektierten auch die Abenteuerfahrten mit ihren klassischen Stationen und Figurenkonstrukten Archetypen der Imagination. Diese Archetypen seien „für die ganze Menschheit unmittelbar gültig"48, da sie mit Stationen des allen gemeinsamen anthropologischen Zyklus verbunden sind, also mit jenem Zyklus, den jedes menschliche Leben zwischen Geburt und Tod durchläuft: „Immer hatten Mythen und Riten vor allem die Funktion, die Symbole zu liefern, die den Menschen vorwärtstragen [...]." 4 9 Campbell berief sich auf Freud und noch mehr auf die Archetypentheorie von C. G. Jung. Die Archetypen, wie sie Jung bestimmte, seien als die ,Ewigen des Traums' immer wieder aufs Neue »[·••] genau die gleichen, die durch die Annalen der menschlichen Kultur hindurch die fundamentalen Bilder in Ritual, Mythos und Vision inspiriert haben." 50 Der Mythos erschien Campbell mithin als nichts anderes als ein überzeitlicher und überkultureller „entpersönlichter Traum".51 Konsequenterweise mutierten die dar43
Campbell, Joseph (1999) Der Heros in tausend Gestalten [engl. 1949]. Frankfurt am Main:
Insel. 44 45 46 47 48 49 50 51
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd. Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.
S. 28. S. 40. S. 21. S. 26. S. 20. S. 26.
TEIL I. THEORIE DES STEREOTYPS. BEGRIFFE, ASPEKTE, KONTROVERSEN gestellten Grundelemente der Abenteuerfahrt des Helden selbst zu „Elementen] des Archetypus". 52 In jüngerer Zeit wurde die in den vierziger Jahren formulierte Theorie Campbells noch einmal aufgegriffen und explizit auf das Kino hin ausgedehnt - eine Ausweitung, die im Lichte des einst selbstgesetzten Universalitätsanspruchs durchaus angemessen erscheint. Der amerikanische Filmautor Christopher Vogler 53 bezieht sich in einer populären Regelpoetik für künftige Drehbuchschreiber - präsentiert als „Leitfaden für die Praxis" 54 - explizit auf Campbells Archetypmodell, um so die mythologischen Grundmuster des amerikanischen Erfolgskinos herauszuarbeiten. Er fand die .ewige' Abenteuerreise des Helden nicht nur in Abenteuer-, Aktions- und Spannungsgenres des Films, sondern entdeckt sie - die Reise- und Abenteuerterminologie metaphorisch extrem weit ausdeutend - auch unter der Oberfläche von Melodramen. Theorien wie diese könnten es nahelegen, in den von ihnen thematisierten Archetypen besonders stark befestigte Stereotype der Handlungskonstruktion zu erblicken. Bei näherer Hinsicht zeigen sich aber mindestens zwei klare Differenzen zwischen dem Konzept des Archetyps und dem des Stereotyps. Zunächst: narrative Archetypen, in der von Campbell entworfenen Art beruhen auf rigider Abstraktion. Alle narrativen Formen, die an einzelne Kulturen und kulturelle Segmente gebunden sind, auch solche, die in diesen Kulturen hochgradig konventionell und mit konkreten kulturellen Funktionen besetzt sind, werden zugunsten des Anspruchs von der überzeitlichen Universalität ausgeblendet. Sie erscheinen nur noch als das Material einer „dünnen Verkleidung" 55 der tieferliegenden Schicht von Archetypen. So heißt es bei Campbell einleitend: „Ohne Zweifel gibt es Unterschiede zwischen den zahlreichen Mythologien und Religionen der Menschheit, aber dies soll ein Buch über die Ähnlichkeiten sein; und wenn diese einmal erfaßt sind, wird es sich herausstellen, daß die Unterschiede gar nicht so groß sind, wie es im allgemeinen [...] angenommen wird." 56 Das Interesse des Archetypenkonzepts gilt also nicht kulturell besonderen, mit der Zeit oder auch von Genre zu Genre differenten Mustern, sondern letzter anthropologischer Gemeinsamkeit. In den Theorien, die mit dem Stereotypbegriff operieren, ging es dagegen gerade um Schemata, die sich funktional auf einen bestimmten kulturellen Kontext beziehen, von dem sie hervorgebracht werden und mit dem sie - zumindest in ihrer Qualität als lebendige diskursive Größen - wieder vergehen. Auch hier gilt, was schon in Hinsicht auf Figurenstereotype festgestellt wurde: als Stereotype interessieren bestimmte rekurrente Muster der Narration, die als pragmatische Größen einer kontext- und funktionsgebundenen Standardisierung der Narration funktionieren. Sie können an Genrekontexte ebenso angepasst sein wie an das ästhetische Klima - an die Imaginationen, Wünsche und Empfänglichkeiten - einer Kultur in einer bestimmten Zeit. Sie sind also nicht universal, im Gegenteil. Die Gemeinsamkeit in den Texten, auf die das Stereotyp verweist, lässt sich viel näher an der Oberfläche 52
Ebd., S. 43. Vogler, Christopher (1998) Die Odyssee des Drehbuchschreibers. Über die mythologischen Grundmuster des amerikanischen Erfolgskinos. Frankfurt am Main: Zweitausendeins. 54 Ebd., S. 12 - Zwischentitel in der deutschen Ausgabe. 55 Ebd., S. 21. 56 Campbell, Joseph (1999), S. 10. 53
2. EINIGE ASPEKTE UND EBENEN DER STEREOTYPISIERUNG DES FILMS der Texte konturieren und teilt sich viel auffälliger mit, als es bei den Archetypen Campbeils und Voglers der Fall ist. Und: für die Betrachtung von Filmen unter dem Aspekt des Stereotyps sind gerade solche Differenzen interessant, wie sie zwischen verschiedenen .Familien' von sedimentierten Situationen und Handlungselementen existieren (die jeweils verschiedene Genres - Western, Melodrama etc. - oder auch verschiedene Perioden desselben Genres kennzeichnen), und nicht das, was die Genres und Perioden möglicherweise in der großer Tiefe miteinander und zugleich mit allen anderen Erzählungen teilen. Der zweite Unterschied steht damit in Verbindung. Campbell fasste seine Archetypen als universale Muster, die schlechthin gegeben sind. Das, was seine Position mit der von C. G. Jung verbindet, ist: beide etablieren die von ihnen beschworenen Archetypen als anthropologische Invarianten, als ewige Formen eines Urtraums der Menschheit. Für eine Theorie des Stereotyps dagegen ist der Prozess der allmählichen Sedimentierung ausschlaggebend. Das heißt, mit Blick auf Narration: die Konventionalisierung. Ein Vorgang, der mehrere Phasen durchläuft und Stereotype zu Formen mit relativer Stabilität und mit Funktionen in Bezug auf einen jeweils klar umrissenen kulturellen Geltungsrahmen werden lässt. Es geht also um einen deutlich anderen theoretischen Ausgangspunkt als in jedem universalistischen anthropologischen Konzept vom Archetyp. Die Rede vom Stereotyp zielt auf kulturell besondere Muster mit konventionellem Charakter. In Hinsicht auf die Handlungsdimension filmischer Erzählungen bedeutet dies: der Stereotypbegriff zielt auf Situationen und Abläufe der erzählten Handlungen, die für bestimmte Sorten von filmischen Imaginationen in einer gewissen Periode jeweils zum konventionellen Repertoire gehören. So gesehen wirkt Propps Ansatz schon eher anschlussfähig, denn er suchte seine gemeinsamen Schemata in einem kulturell verbundenen Material, in dem tatsächliche, langlebige Konventionen wirksam waren. Im Feld des Kinos treten dichte Wiederholungsformen etwa am klassischen Western mit besonderer Deutlichkeit hervor. In diesem Genre existiert ein ganzes Repertoire von Handlungsschemata, die konventionell erscheinen bis hinein in die Art, wie sie en detail situativ, dramaturgisch und zum Teil auch visuell aufgelöst werden und mit Typen sowie Schauplätzen verkoppelt sind. Es genügt - jenseits aller strukturellen oder syntaktischen Ordnungsversuche - an einige klassische Elemente zu erinnern, um dies zu verdeutlichen: der Ritt eines bedrohlich erscheinenden Fremden (oder einer Gruppe) in eine Stadt begleitet von ängstlichen Blicken der Bürger, die Provokation des Helden an einer Saloontheke durch Gegenspieler, die Schlägerei im Saloon, Überfälle auf Postkutschen und auf Eisenbahnen, Verfolgungsjagden zu Pferde oder das nahezu rituelle große Pistolenduell auf offener Straße, das dramaturgisch meist als show down, als Entscheidungskampf, fungiert. Die Liste derartiger narrativer Muster ließe sich mühelos fortsetzen. Nun ist der Western ein besonders dichtes, kohärentes und quantitativ ausgedehntes Genre, aber ähnlich gefestigte stereotype Handlungselemente lassen sich dem Prinzip nach durchaus auch mit Blick auf andere Genres nachweisen. Ob in Mantel-undDegen-Filmen, in Abenteuer-, Detektiv-, Gangster-57 oder Science-Fiction-Filmen, in
57 Mit Blick auf den klassischen amerikanischen Gangsterfilm hat dies in jüngerer Zeit Britta Hartmann dargestellt. Siehe Hartmann, Britta (1999) „Topographische Ordnung und narrative Struktur im klassischen Gangsterfilm". In: montage/av 8.1, S. 111-133.
TEIL I. THEORIE DES STEREOTYPS. BEGRIFFE, ASPEKTE, KONTROVERSEN Thrillern oder Horrorfilmen, in Melodramen oder Slapstick-Komödien - überall bewältigt eine jeweils mehr oder weniger konventionelle Typage im Genre übliche Standardsituationen und Handlungsabläufe. Die Kontexte und Funktionen, die hinter solchen konventionellen Musterbildungen im Bereich der Handlung stehen, sind recht unterschiedlicher Art. Sie erweisen sich als ebenso vielfältig wie die Dispositionen der Rezipienten und die kulturellen Bedürfnislagen, auf die sich die Filme ursprünglich bezogen haben. So reflektieren narrative Stereotype zum Beispiel kulturelle Wissensbestände, Wunschbilder sowie ästhetische Affinitäten und stehen mit dem Vorrat an konventionellen Imaginationen innerhalb der jeweiligen Kultur in enger Wechselwirkung. Gerade Handlungsstereotype reflektieren aber auch gefundene und erprobte Lösungen zur Auslösung von emotionalen Effekten, die in der Filmrezeption gesucht werden. Eine Reihe dieser Handlungsmuster bietet im jeweiligen kulturellen Rahmen erprobte Bahnen für die Aktivierung identifikativer oder distanzierter Beteiligung, für komische Effekte oder für den Aufbau von starkem Spannungserleben bis hin zur Angstlust. All dies sind von den Adressaten der Filme gesuchte Wirkungen. Zum Beispiel haben sich relativ dichte narrative Stereotype der Spannungsvermittlung ausgebildet. Die .Rettungen in letzter Sekunde' etwa, die schon seit Griffith zum Standardrepertoire des Aktions- und Spannungskinos gehören, haben sich im Rahmen mehrerer Genres in langen Reihen jeweils sehr ähnlicher filmischer Handlungslösungen sedimentiert. Diese sind vielfach ähnlich bis hinein in die mise en scene und die bildliche Auflösung durch Kamera und Schnitt (alternierende Montage). Vergleichbares ließe sich auch über andere narrative Standardformen sagen, gleichgültig ob sie sich nun zum Beispiel in Bezug auf Formen des Suspense, wie ihn Alfred Hitchcock 58 beschrieb, oder des happy end oder auf andere dramaturgischen Strukturen entwickelt haben. Sie alle können als allmählich ausdifferenzierte und konventionell gewordene Vehikel zur Auslösung emotionaler Effekte gefasst werden. Aber auch eine andere allgemeine Eigenart von Stereotypen zeigt sich beim Blick auf die narrativeη Stereotype: sie sind in offenen Netzwerken resp. in konventionell vernetzten Repertoires organisiert. Sie treten also gleichsam in Familienverbänden auf. Solche Repertoires lassen sich als diskursive Phänomene unter verschiedenen Gesichtspunkten erfassen und beschreiben. Die klassischen Filmgenres sind - wie später noch genauer gezeigt werden soll - nichts anderes als offen strukturierte Repertoires von narrativen Stereotypen, die als vernetzte kulturelle Erfahrungs- und Wissensbestände funktionieren. Sie stellen den Geltungsrahmen für einzelne Stereotype dar, gleich ob Figuren- oder Handlungsmuster. Und, ein Stereotyp lässt weitere dem Genre zugehörige Stereotype assoziieren. Aus all dem resultiert ein Effekt, wie er ähnlich schon im Abschnitt zu den Figuren angesprochen wurde. Mit narrativen Genres wachsen konventionelle imaginäre Modellwelten als diskursive Realitäten herauf, die ihre innere Wahrscheinlichkeit, Gesetzmäßigkeit und Kohärenz nicht primär durch den Bezug auf das Weltwissen der Rezipienten erhalten, sondern vor allem durch die Referenz auf stereotypisierte Wissensbestände im Feld der Imagination. Der narrative Raum wird auf diese Weise zum symbolischen Raum. Der besitzt eine konstitutive intertextuelle .Normung'.
58 Vgl. Truffaut, Francois (1989) Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht f München: Heine, S. 62-64.
2. EINIGE ASPEKTE UND EBENEN DER STEREOTYPISIERUNG DES FILMS Auf zwei Phasen der Ausbildung konventioneller Fiktionswelten sind Semiotiker wie Jurij Lotman und Umberto Eco bereits eingegangen. Beide sprechen sie von „möglichen Welten". Lotman beschreibt die ursprüngliche intratextuelle Konstruktion „möglicher Welten": „Es werden einige Postulate aufgestellt (die übrigens willkürlich ausgewählt werden können), und ausgehend hiervon wird eine Welt aufgebaut, die in sich völlig logisch ist." 59 Dabei betont er die Stärke der Binnenlogik einzelner Texte in Kontrast zur Erfahrungswelt des uns umgebenden Lebens. Umberto Eco berührt darüber hinaus eine zweite Phase - den intertextuellen Aspekt: die Wiederholung von Strukturen dieser Welten in einer Vielzahl von (Genre-)Texten. Er fasst „mögliche Welten" mithin auf als „strukturelle Repräsentation von konkreten semantischen Aktualisierungen".60 Eine Theorie vernetzter Stereotype mit ihrer Betonung der Prozesse von Konventionalisierung und Habitualisierung kann nun darüber hinaus erklären, warum derartige Fiktionswelten als diskursive Tatsachen gelernt und allmählich zu Parallelwelten mit spezifischer Regularität - zu Gefügen konventionalisierter Muster der Imagination - werden. Knut Hickethier beobachtete etwas Ahnliches an Fernsehserien. Auch sie bauen konventionelle Figurationen und Regeln auf, ja sie verstärken und verdichten das Phänomen im Vergleich zum (nicht unmittelbar seriellen) Genrefilm noch einmal. Hickethier sprach davon, dass serielle Erzählungen für das Handeln der Figuren in den einzelnen Folgen einen „situationsdefinierten Rahmen" 61 konstituieren: „Dieser Rahmen schafft Vertrautheit, legt die Spielregeln fest, nach denen sich auch die Figuren zu richten haben, an die sich auch der Zuschauer als kontinuierlich Zuschauender gewöhnt. [...] Für das Handeln der Figuren sind viele Realitätsbereiche tabuisiert. Viele Probleme und Konflikte, oft ganz alltäglicher Art, werden so von vornherein ausgeschlossen."62 Dieser ,Rahmen' ist nichts anderes, als das, was hier als konventionelle Modellwelt gefasst wurde. Denn die Wiederkehr eines kanonischen Repertoires sowohl von Regeln als auch von narrativen Stereotypen prägt das Handeln und die narrative Konstruktion der Figuren, die vielfach selbst als konventionalisierte Typen angelegt sind. Umgekehrt ist es die Wiederkehr dieser Formen, die die Regeln - und bald auch die Vertrautheit des Rahmens - stiftet. Und noch eines resultiert aus dem gefestigten Verbund stereotyper Elemente in einem solchen Netzwerk: Das einzelne Stereotyp ist derart nachhaltig mit seinem jeweiligen Repertoire verbunden, nimmt dessen Kontexte gleichsam in sich auf, dass es - separat abgerufen -parspro toto, die ganze Genre- oder auch Serienwelt assoziieren lässt. Vor diesem Hintergrund wirkt es nun durchaus plausibel, in Verbindung mit der Theorie des Stereotyps auch den Begriff .Mythos' einer Revision zu unterziehen. Denn der dient - anders als etwa bei Campbell - in der filmbezogenen Literatur, die
59 Lotman, Jurij M. (1994) „Mögliche Welten. Gespräch über den Film" [russ. 1988], In: montage/av, 3.2, S. 142. 60 Eco, Umberto (1990) Lector in fabula: Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten. München: dtv, S. 157. 61 Hickethier, Knut (1991) Die Fernsehserie und das Serielle des Fernsehens Beiträge zur Kulturwissenschaft, 2). Lüneburg: Universität Lüneburg, S. 44. 62 Ebd., S. 45.
(Lüneburger
TEIL I. THEORIE DES STEREOTYPS. BEGRIFFE, ASPEKTE, KONTROVERSEN ihn heute geradezu inflationär gebraucht, überwiegend schlicht dazu, den imaginären und zugleich konventionellen Charakter von Erzählwelten zu unterstreichen - von Erzählwelten, die der massenwirksamen Wahrnehmung sozialer und psychologischer Funktionen weit stärker verpflichtet sind als dem Realitätsprinzip. Gleichzeitig hebt .Mythos' das Geregelte und 'Wiederkehrende, das Gewicht des Vertrauten gegenüber dem Neuen, also das gleichsam rituell Kommunizierte und Rezipierte hervor. Eine Ritualität, die durch den Rückbezug auf das jeweilige konventionelle Repertoire entsteht.63 So verstand zum Beispiel Will Wright in seiner Untersuchung zum Western64 den Begriff. Wright wandte sich gegen das „transzendentale Flair" 65, das die theoretische Konstruktion des .Mythos' umgibt, sobald dieser als universale Struktur gefasst wird. Wrights Einwand richtete sich nicht gegen Campbell, der bei ihm keine Rolle spielt, sondern gegen das in der Filmsemiotik einflussreichere Konzept von Levi-Strauss, der im Mythos den sich selbst als Objekt imitierenden Geist sah. Wright unterstrich demgegenüber vor allem, dass Mythen in verschiedenen Gesellschaften unterschiedliche kulturelle Funktionen wahrnehmen.66 Mit anderen Worten, er kommt einer Position nahe, die Mythen gleichsam als konventionelle Modellwelten zu fassen. In ihnen gewinnen ganze Bündel von narrativen Imaginationen Gestalt, und sie können jeweils bestimmten kulturellen Kontexten zugeordnet werden. Gleichzeitig betonte Wright die reduktionistische Struktur dieser Imaginationen, die für ihn daraus folgt, dass mythische Erzählungen auf einem mehrgliedrigen System binärer Oppositionen zwischen Figuren oder auch zwischen Werthaltungen basieren. In dieser Hinsicht bleibt eine Verwandtschaft mit Levi-Strauss spürbar. Damit deutet sich ein Verständnis von Mythos an, das durchaus kompatibel erscheint mit der hier umrissenen stereotyptheoretischen Perspektive. Das eigentliche Interesse Wrights galt jedoch der Analyse des Westernfilms, der an der Kommunikation des Westernmythos erheblichen Anteil hat. Diese Analyse ist im vorliegenden Zusammenhang interessant, weil sie eine Mehrschichtigkeit des Phänomens .Stereotyp' in Hinsicht auf den Handlungsaspekt unterstreicht und sich gleichzeitig dezidiert um Historizität bemüht. 63
Dies kommt durchaus der Etymologie von .Mythos' (oder .Mythus') nahe, die Wellek und
Warren mit Blick auf die Antike so beschreiben: „Sein kontrapunktischer Gegenbegriff ist Logos. .Mythus' ist Erzählung, Geschichte im Gegensatz zur dialektischen Abhandlung und Auseinandersetzung. Mythus bedeutet auch das Irrationale oder Fakultative gegenüber dem systematisch Philosophischen: Mythus ist die Tragödie des Äschylus gegen die Dialektik des Sokrates. [...] Im 17. und 18. Jahrhundert, im Zeitalter der Aufklärung, hatte der Begriff allgemein eine abwertende Nebenbedeutung. Mythus war eine Fiktion, etwas wissenschaftlich oder historisch Unwahres. Doch schon mit Vicos Scienza Nuova verlagerte sich der Akzent auf das, was seit den deutschen Romantikern, seit Coleridge, Emerson und Nietzsche, allmählich immer mehr in den Vordergrund trat - eine Auffassung des .Mythus', der, wie die Dichtung, eine Art Wahrheit oder ein Äquivalent der Wahrheit ist, aber nicht mit historischer oder wissenschaftlicher Wahrheit konkurriert, sondern sie ergänzt. Historisch gesehen folgt der Mythus auf das Ritual. Sie sind wechselseitig bedingt." - Wellek, Rene/Warren, Austin (1995) Theorie der Literatur. Weinheim: Beltz Athenäum, S. 2 0 3 - 2 0 4 . 64
Wright, Will (1975) Sixguns and Soäety: A Structural Study of the Western. Berkeley: Uni-
versity of California Press. 65
Ebd., S. 22.
66
Vgl. ebd., S. 20.
2. EINIGE ASPEKTE UND EBENEN DER STEREOTYPISIERUNG DES FILMS Wright entwickelte nämlich Strukturmodelle der Erzählung, die in aufeinander folgenden Perioden des Westernkinos jeweils das Filmangebot dominierten und die einander ablösten. Die Strukturmodelle verraten deutlich den Einfluss der Methode Propps. Das Modell des klassischen Plot, der in der Periode zwischen 1931 und 1955 in den Filmwestern der von Wright herangezogenen Top-Grossing-Liste dominierte, sei zur Verdeutlichung als Beispiel zitiert. Es ist wie bei Propp als narrative Abfolge von (hier 16) Funktionen gebaut: „1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16.
The hero enters a social group. The hero is unknown to the society. The hero is revealed to have an exceptional ability. The society recognizes a difference between themselves and the hero; a hero is given a special status. The society does not completely accept the hero. There is a conflict of interests between the villains and the society. The villains are stronger than the society; the society is weak. There is a strong friendship or respect between the hero and a villain. The villains threaten the society. The hero avoids involvement in the conflict. The villains endanger a friend of the hero. The hero fights the villains. The hero defeats the villains. The society is safe. The society accepts the hero. The hero loses or gives up his special status." 67
Dieses Strukturmodell ergänzte Wright durch drei weitere Plotvarianten, die in späteren Phasen der Geschichte des Westernkinos das klassische Modell ablösten - der professional plot in den sechziger Jahren - oder mit ihm koexistieren: the vengeance Variation und the transition theme in den vierziger und fünfziger Jahren. Der Vorzug einer solchen Modellbildung ist es, dass sie die Mehrschichtigkeit der Stereotypproblematik andeutet. Denn, nicht allein eine Vielzahl von Elementen der Narration (bestimmte Handlungsbausteine, Figuren, Situationen und Motive) unterliegt den Tendenzen von Schematisierung und Konventionalisierung. Vielmehr wirken diese Tendenzen bis hin zur Ebene textübergreifender Handlungsstrukturen. Wrights Versuch, hinter dem ,Netz' wiederkehrender Handlungselemente einen geordneten strukturalen Unterbau aufzudecken und gleichsam stabilisierte Architekturentwürfe zu formulieren, die jeweils längeren Reihen von Erzählungen dann zugrunde liegen (wobei nicht immer alle 16 Funktionen aufgegriffen werden müssen), vermag in Hinsicht auf die untersuchten Western zu überzeugen. Insbesondere das klassische Modell des Plots scheint so häufig und über eine relativ lange Zeit hinweg aufgegriffen worden zu sein, dass es sich fast anbietet, von einem in den Jahren zwischen 1931 und 1955 konventionellen Schema für den Plot zu sprechen. Damit kommt auch die eher syntaktische Ebene der Verknüpfung einzelner Handlungselemente der Qualität zumindest nahe, stereotyp zu sein. Dem entspricht es, wenn Wrights Modell gewisse Analogien zum ,Stereotypwandel' und .Stereotypwech-
67
Ebd., S. 4 8 - 4 9 .
TEIL I. THEORIE DES STEREOTYPS. BEGRIFFE, ASPEKTE, KONTROVERSEN sei' bietet. Mit seinen historischen Varianten der dominierenden Plotmodelle macht es indirekt auf die Folgen von Anpassungs- und Ablösungsprozessen aufmerksam (denen er freilich nicht weiter nachgeht), wie sie auch die Stereotyptheorie hervorhebt. Kein Wunder also, wenn auch viele andere Autoren sich in der Hochzeit des Strukturalismus für solche patterns of plot interessierten. John Cawelti zum Beispiel sah in ihnen den von ihm betonten Trend populärer Narration zur formula kulminieren, wobei er formula auf eine Weise fasst, die in vieler Hinsicht nahezu deckungsgleich mit .Stereotyp' erscheint. Das wird deutlich, wenn er an den formulas bis hin zu patterns of plot deren funktionalen Charakter als pragmatische Größen unterstrich, die kulturellen Bedürfnissen angepasst sind: „My argument [...] is that formula stories like the detective story, the Western, the seduction novel [...] are structures of narrative conventions which carry out a variety of cultural functions in a unified way. [...] To analyze these formulas we must define them as narrative structures of a certain kind and then investigate how the additional dimensions of ritual, game and dream have been synthezised into the particular patterns of plot, character and setting which have become associated with the formula." 68 Längst nicht innerhalb aller Genres können mit gleicher Plausibilität derart dichte und gut befestigte Schemata für Plots gefunden werden. Aber die grundsätzliche Möglichkeit, jeweils innerhalb einer gewissen Gruppe von Filmen nicht nur einzelmotivische Wiederholungen oder den Rekurs auf ganze Stereotyprepertoires auszumachen, sondern darüber hinaus den Einfluss übergreifender konventioneller Muster, besteht über Western hinaus. Sie forderte immer wieder die Suche nach konventionellen ,Plotgrammatiken' heraus (ein beliebtes strukturalistisches Forschungsinteresse). Dort, wo diese Muster ein relativ stabiles Netzwerk stereotyper Elemente strukturieren, entsteht der Eindruck von konventioneller Dichte, der sie selbst zumindest in die Nähe des Stereotyps rückt. Besonders ausgeprägt zu beobachten ist dieses Phänomen an den einstigen Reihen- und Serienfilmen des Kinos und vor allem an heutigen Fernsehserien.
Schauspiel, Bild und ein Seitenblick auf den Ton Stereotypbildungen im Film lassen sich nicht nur - wie bisher geschehen - unter eher narratologisch-dramaturgischen Gesichtspunkten beschreiben, tendenziell abstrahierend von der audiovisuellen Präsentationsweise. Auch unter letzterem Aspekt fallen gut befestigte, konventionalisierte Schemata des Ausdrucks auf, die sich - im Sinne der eingangs herausgearbeiteten vier Facetten - als .Stereotype' deuten lassen. Das betrifft zahlreiche Formen auf der Ebene der mise en scene, hier etwa Formen des Schauspiels aber auch der Maske, der Lichtinszenierung usw. ebenso wie solche auf der Ebene der mise en images, also Muster der Bildkonstruktion durch Kamera (Kadrierung). Betroffen ist aber ebenso die auditive Ebene resp. die Verknüpfung von Auditivem und Visuellen.
68 Cawelti, John G. (1969) „The concept of formula in the study of popular literature". In: Journal of Popular Culture, 3.3, S. 390.
2. EINIGE ASPEKTE UND EBENEN DER STEREOTYPISIERUNG DES FILMS Auch wenn im Folgenden pars pro toto die Aspekte .Schauspiel' und ,Bild' im Vordergrund stehen sollen, so sei doch immerhin angedeutet, dass die filmischen Klangwelten ebenfalls hochgradig Effekten der Stereotypisierung unterliegen. Das betrifft insbesondere den Aufbau akustischer Imaginationen, wie etwa die Atmosphäre von Science-Fiction-Welten. Der ,Klang des Weltraumes' und sich darin bewegender Flugobjekte ist zum Beispiel eindeutig durch die filmische Konventionalisierung festgelegt worden. Er wird als .natürlich' empfunden, wenn die Filme dieser kinematographisch eingespielten Regularität entsprechen. Ähnlich ist es auch um genretypische Geräusche zu tun, die die Zuschauer ebenfalls primär über die mediale Vermittlung erfahren und deren Klang sich intertextuell .eingebürgert' hat - so das (in der Realität niemals auf diese Weise zu vernehmende) Klatschen oder Dröhnen der Fäuste bei Prügeleien oder auch die Geräusche von Waffen. Gleichzeitig hat der Ton eine Signalfunktion. Der Beschränkung auf wenige, selektiv und zeichenhaft eingesetzte Geräusche kommt eine große Bedeutung zu, wenn es darum geht, bestimmte Atmosphären zu kreieren: Glockenläuten zum Beispiel verweist häufig auf Trauer und Tod. Barbara Flückiger, die in ihrer Studie zur virtuellen Klangwelt des Films, neben den eben gegebenen, zahlreiche weitere Beispiele für die allmähliche „intertextuelle Evolution" 6 9 von Klangimaginationen ausführt, rekurriert expressis verbis auf die Theorie des Stereotyps. Mit Lippmann argumentiert sie, dass sich auch auf der Ebene des Tons in der medial vermittelten Erfahrungswelt Stereotype generieren. 70 Corinna Dästner spricht in ähnlichem Sinne davon, dass der Eindruck von .Realismus' auf der Ebene des Klangs auch in Hinsicht auf die extradiegetische Filmmusik davon abhänge, ob der Film die machtvolle kinematographische Konvention und damit die automatisierte Erwartung der Zuschauer erfülle. Noch bei der Negation der Konvention durch das (in der Filmmusiktheorie einflussreiche) Konzept des Kontrapunkts bleibe die große Macht des Konventionellen unberührt, so dass sich der „Wunsch [...] dem filmmusikalischen Stereotyp zu entkommen" 7 1 nie wirklich erfülle. Ähnliches lässt sich in Hinsicht auf die nun näher zu untersuchenden Aspekte .Schauspiel' und .Bild' beobachten. In einem kleinen Essay 7 2 aus dem Jahr 1913 hat Herbert Jhering - noch mit dem Blick auf das Theater - stehende Formen der Darstellung durch die Schauspieler, „Ausdrucksgewohnheiten" des Bühnenspiels, thematisiert. Jhering sprach von „Schauspielerische[n] Klischees" und gab aus der Bühnenerfahrung seiner Zeit einige anschauliche Beispiele. Aus diesem nicht wieder nachgedruckten kleinen Text sei etwas ausführlicher zitiert: „Es sind die Klischees für typische Situationen. [...] so wiederholen sich beim Handwerksschauspieler die Nuancen für Verlegenheit, Lauern, Zerstreuung, Ab69 Flückiger, Barbara (2002) Sound Design. Die virtuelle Klangwelt des Films. Marburg: Schüren, S. 182. 70 Vgl. ebd., S. 181. 71 Dästner, Corinna (2005) „Sprechen über Filmmusik. Der Uberschuss von Bild und Musik". In: Sound. 2ur Technologie und Ästhetik des Akustischen in den Medien (GFM-Schriften 12), hrsg. von Harro Segeberg und Frank Schätzlein. Marburg: Schüren, S. 89. 72 Jhering, Herbert (1912/13) „Schauspielerische Klischees". In: Blätter des Deutschen Theaters, 2.30, S. 487-488.
TEIL I. THEORIE DES STEREOTYPS. BEGRIFFE, ASPEKTE, KONTROVERSEN lenkung. Will der Darsteller, in feudalem Pelz, mit Zylinder und Spazierstock auftretend, nach allgemeinen Einleitungsworten das Gespräch unmerkbar auf einen bestimmten Gegenstand hinlenken, so spricht er die Worte zögernd, mit Gedankenstrichen und sieht dabei auf die Spitze seines Spazierstocks, den er lässig und gleichgültig pendeln läßt. Er ist nun nicht mehr Herr X., auch nicht die Gestalt, sondern der Bonvivant, der Pere noble. Brütet ein Schuft Böses, das er verbergen will, so betrachtet er sich beim Reden die Nägel der eingebogenen oder ausgestreckten Hand. Er ist [...] der Intrigant. Wer von Onkeln und gutmütigen Vätern lebt, dem ist alle Kunst ein unbösartiges Drohen mit dem Zeigefinger, und .verschmitztes Lächeln' [...]." 73 Diese und ähnliche .Klischees' prägten zur gleichen Zeit auch das Schauspiel im Film. Am Stil von Stummfilmdarstellern, ganz besonders in der frühen Phase, ist die Neigung zu feststehenden Posen und Gebärden sogar besonders auffällig. Sie ist daher häufig thematisiert worden. So etwa von Erwin Panofsky, der zurückblickend auf das frühe Kino eines dieser Muster amüsiert beschrieb: „Konstant wurde der erste Kuß dadurch angekündigt, daß die Dame sanft mit der Krawatte ihres Partners spielte, und konstant war er davon begleitet, daß sie mit dem linken Fuß ausschlug." 74 Und Jhering bemerkte auf pointierte Weise in einem späteren Text Ahnliches im Kino: „Als der Film in seinen Anfängen war, bedeutete Kinospiel: Aneinanderreihung von Posen. Die Ansichtskartenindustrie war längst dazu übergegangen, Serien von schönen Frauen in gefrorenen Stellungen und süßlichen Flittertoiletten herauszugeben. Das erschien dem Kino als Ideal, und so entstand die Filmschauspielerin." 75 Der Stummfilmstar Henny Porten, besonders in ihren frühen Filmen (in denen sie zum Beispiel gern ihre Hände als Ausdruck von unerfüllter Verliebtheit ans Herz presst), wurde im Rückblick häufiger - meist im Kontrast zu Asta Nielsen - als Beispiel eines Schauspielstils besprochen, der auf markante konventionelle Posen gestützt ist.76 Aber all das kennzeichnete letztlich nicht allein den frühen Stummfilm. Selbst noch in deutschen Filmen aus den fünfziger Jahren traten Intriganten und gutmütig drohende Onkels auf, die jenen Habitus zur Schau stellten, den Jhering einst beschrieben hatte. Darstellungsmuster dieser Art können (im Sinne der hier zugrunde gelegten Definition) als Stereotype des Schauspiels interpretiert werden. Sie besitzen den Charakter des Konventionellen, denn sie wurden - wie Jhering hervorhob - durch die „schauspielerische Tradition [...] geschaffen" 77 , also durch sukzessive Konventionalisierung
75
Ebd., S. 487.
74
Panofsky, Erwin (1993) „Stil und Medium im Film". In: ders. Die ideologischen
des Rolls-Royce-Kühlers
Vorläufer
& Stil und Medium im Film, hrsg. von Helga und Ulrich Raulff. Frank-
furt am Main, New York: Campus, S. 39. 75
Jhering, Herbert (1958) „Der Schauspieler im Film" [1920]. In: ders. Von Reinhardt
Brecht. Vier Jahrzehnte 76
Vgl. Schlüpmann, Heide (1990) Unheimlichkeit
des Blicks: das Drama des frühen
Kinos. Basel, Frankfurt am Main: Stroemfeld Roter Stern. 77
his
Theater und Film, hrsg. von Edith Krull. Berlin: Henschel, Bd. 1, S. 382.
Jhering, Herbert (1912/13), S. 487.
deutschen
2. EINIGE ASPEKTE UND EBENEN DER STEREOTYPISIERUNG DES FILMS eines Grundeinfalls, der offenbar gut ankam und auch semantisch funktionierte. Z u dem handelt es sich meist u m mehrgliedrige, zusammengesetzte Formen, die stets in einem bestimmten Typ von semantischem Kontext A n w e n d u n g finden. Das erlaubt, sie als schematische Muster zu deuten. Zögerndes, verschlepptes Sprechen plus Konzentration des Blicks auf den Stock, der außerdem lässig pendelt, plus Agieren in entsprechender Garderobe - das ergab in Jherings Beispiel den Ausdruck des Bonvivants. Diese F o r m e n reduzieren Komplexität - ganz so, wie es f ü r Schemata u n d Stereotype charakteristisch ist. Die Vielfalt möglicher Darstellungsvarianten wird auf ein sich wiederholendes, dem Publikum bald bekanntes und von ihm akzeptiertes, ja erwartetes Muster abgemagert. Auf ein konventionelles Muster, das seinen semantischen Kontext gleichsam in sich aufgenommen hat und schon dadurch symbolische Züge erlangt. Eine Vielzahl solcher F o r m e n stellt ein Repertoire für das Schauspiel bereit - ein spezifisches Ausdrucksrepertoire, das die Prägnanz und Symbolik des Spiels stärkt und mit den Dispositionen der angesprochenen Rezipienten korrespondiert. Wenn R u t h Amossy darauf verweist, dass das Phänomen der typisierten Figur und der Typisierung generell in den vorherrschenden ästhetischen Diskursen des 19. Jahrhunderts noch keinerlei Kritik auslöste, 78 so trifft das auch auf die Haltung gegenüber solchen Repertoires zu. In Regelbüchern f ü r Schauspielkunst und in physiognomischen Lexika, die den Modellbüchern f ü r bildende Künstler verwandt waren, versuchte man stereotype Formen des Schauspiels sogar als kanonische Muster festzuschreiben und zu systematisieren. Solche Bücher boten schematische Darstellungen davon, wie die verschiedenen Gemütszustände, die es darzustellen galt, sich in akzentuierten Formen von Mimik und begleitender Gestik niederschlagen. Sie leisteten in Verbindung mit der traditionellen Praxis der Bühne einen geschätzten Beitrag zur Fixierung und Weitervermittlung von Stereotypen. Auch in diesem Fall gingen die Modellformen nicht einfach in der Wiederholung oder Akzentuierung von Mustern auf, die man in der Realität, in der Lebenswelt außerhalb des Theaters, beobachten konnte. Sie besaßen vielmehr einen hohen Grad kultureller Eigenständigkeit. So wie Stereotype f ü r Figur und H a n d l u n g sich tendenziell gegenüber der Realität verselbständigen und in hohem Maße dem Imaginären in konventionellen Modellwelten Struktur verleihen, so bildeten auch die Stereotype des Schauspiels, die in der Bühnenpraxis entstandenen sind, gleichsam einen strukturellen Vorrat f ü r die Bühnenimagination, der konventionell verankert war. In welchem hohen Maße diese Stereotype allein auf die Welt der Bühne bezogen blieben und wie wenig sie mit dem alltäglichen Ausdrucksverhalten gemein hatten, das wird schon bei einem ersten Blick in die H a n d b ü c h e r zur Gebärdensprache f ü r Schauspieler offenbar. So beschrieb Carl Michel in einem einschlägigen Standardwerk von 1886, in dem er eine lange Liste emotionaler Zustände abhandelt, die Darstellung z u m Beispiel von Entsetzen als komplexes Schema aus Mimik und Gestik auf folgende Weise: „Die Stirn ist hochgezogen, stark quergefaltet. Die Augen sind wild aufgerissen, die Augäpfel treten vor den Kopf und sind auf den Gegenstand des Entsetzens gebannt. Die Nasenflügel erweitern sich bebend, die Wangen sind hohl, der M u n d ist zuerst aufs äußerste geöffnet (Taf. XVIII, 69), dann schließt u n d öffnet er sich bis78 Vgl. Amossy, Ruth (1991b) „On commonplace knowledge and innovation". In: SubStance, 62/63 (Themenheft Thought and Novation), S. 146-147.
TEIL I. THEORIE D E S S T E R E O T Y P S . BEGRIFFE, A S P E K T E , KONTROVERSEN
Abb. 2 Die mimische Darstellung von .Entsetzen' - Bildserie nach Carl Michel (1886), Taf. XVIII, 66-69.
2. EINIGE ASPEKTE UND EBENEN DER STEREOTYPISIERUNG DES FILMS
Abb. 3 Die gestische Darstellung von .Entsetzen' - Bildserie nach Carl Michel (1886), Taf. XVII, 62-65.
TEIL I. THEORIE DES STEREOTYPS. BEGRIFFE, ASPEKTE, KONTROVERSEN weilen in gewissen Zwischenpausen, wobei die Lippen zittern; die Schultern werden gehoben, die gehobenen Arme dicht an die Seiten der Brust gedrückt, ähnlich wie bei starkem Frostgefühl; der ganze Körper fährt zusammen, duckt sich zitternd, ein Arm erhoben wie auf Taf. XVII, 62, die Finger gespreizt [...]. Die Hände können sich auch krampfhaft ballen, müssen dann aber am Körper bleiben. Das ,ha' ist ohne Klang, wird gebildet durch Einziehen des Atems bei geschlossenen Stimmbändern. Alles geschieht blitzartig im gleichen Augenblick. Kehrt die Sprache wieder, so ist die Stimme anfangs tonlos, heiser, flüsternd, nach und nach wird sie lauter. Im höchsten Grade der Todesangst, des Entsetzens werden alle Muskeln schlaff, die Geisteskräfte versagen, Totenblässe, beschwerliches tiefes Atmen, Ohnmacht treten ein." 7 9 Dass hier ein komplexes Schema fixiert wird, ist offenkundig. Betroffen ist der Ausdruck auf der Ebene der Mimik, der Gestik und der Intonation. Aus der historischen Distanz wird aber vor allem einsichtig, wie weit sich die - heute nahezu grotesk anmutende - Norm der Bühnenimagination vom realen Ausdrucksverhalten im Alltag abhebt und in welch hohem Maße sie stilisiert ist. Dabei bezog sich Michel bei seiner Beschreibung auf tatsächliche schauspielerische Vorträge, zumindest war das sein Anspruch. Ein Schlaglicht auf den damaligen Grad der Automatisierung der Formen und auf die damit verbundene kulturelle Akzeptanz wirft es, dass Michel die Konventionalität seiner Darstellungsformeln niemals reflektierte, sondern diese Muster offenbar als .natürlich' empfand - vielleicht wegen ihrer weiten Verbreitung und tiefen Verankerung in der Bühnenpraxis. Noch deutlicher wird, wie groß die sich in solchen Gebärdensystemen reflektierende Lust an der - jedem Stereotyp innewohnenden - schematischen Reduktion und Akzentuierung war, wenn man einen anderen Entwurf dieser Art betrachtet. Die Mimik des Schauspielers Albert Bassermann, damals der Star des Deutschen Theaters in Berlin (und seit 1913 auch Schauspieler im Film) diente hier zur Aktualisierung von Gesichtsdarstellungen, die in Form von Strichschemata präsentiert wurden. Der begleitende Text stellt die „Bedeutung eines Schemas" und „schematischer Gesichtsdarstellungen" für die visuelle Kommunikation deutlich heraus: „Ja man kann sagen, daß ein Bild [...] eines Menschen nicht eine dokumentarische Wiedergabe aller Details, sondern nichts weiter als eine Schematisierung der wichtigsten durchschnittlichen Züge oder Linien des Abgebildeten darstellt." 80 Bezeichnend für das Verhältnis von Bühnenkünstlern zu solchen Systemen ist, dass der sorgfältig auf seinen hochkünstlerischen Status bedachte Bassermann offenbar keinerlei Problem darin sah, an dieser Unternehmung mitzuwirken, die 1914 unter dem Titel „Mimische Studien mit Reißzeug und Kamera" 81 erschien. Die Beherrschung physiognomischer Stereotype bedeutete traditionsgemäß nichts anderes als die Beherrschung des Ausdrucksrepertoires eines Schauspielers. Sie bildete
Michel, Carl (1886) Die Gebärdensprache dargestellt für Schauspieler sowie Maler und Bildhauer, Teil 1: Die körperliche Beredsamkeit: Gebärden - Seelenzustände - Stimme. Rollenstudium - Spielen. Köln: Verlag der DuMont-Schauberg, S. 96-97. 80 Scheffer, Wilhelm (1914) „Mimische Studien mit Reißzeug und Kamera". In: Der WeltSpiegel. Halb-Wochenschrift des Berliner Tageblatts, Nr. 10 (1. Februar), S. 2. 81 Ebd. 79
2. EINIGE ASPEKTE UND EBENEN DER STEREOTVPISIERUNG DES FILMS
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