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German Pages 840 [841] Year 2011
Festschrift für Klaus Geppert zum 70. Geburtstag
Festschrift für
KLAUS GEPPERT zum 70. Geburtstag am 10. März 2011 herausgegeben von
Claudius Geisler Erik Kraatz Joachim Kretschmer Hartmut Schneider Christoph Sowada
De Gruyter
ISBN 978-3-89949-728-1 e-ISBN 978-3-89949-729-8 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Datenkonvertierung/Satz: Werksatz Schmidt & Schulz GmbH, Gräfenhainichen Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Klaus Geppert zum 10. März 2011 Gunther Arzt Werner Beulke Boris Burghardt Friedrich Dencker Dieter Dölling Gunnar Duttge Ulrich Eisenberg Volker Erb Claudius Geisler Karl Heinz Gössel Dela-Madeleine Halecker Martin Heger Bernd Heinrich Wolfgang Heinz Hans Joachim Hirsch Klaus Hoffmann-Holland Peter König Erik Kraatz Joachim Kretschmer Kristian Kühl Klaus Letzgus Gero Meinen
Wolfgang Mitsch Ingrid Mitgutsch Axel Montenbruck Henning Ernst Müller Heinz Müller-Dietz Harro Otto Henning Radtke Rudolf Rengier Ruth Rissing-van Saan Klaus Rogall Claus Roxin Helmut Satzger Uwe Scheffler Hartmut Schneider Christian Schröder Friedrich-Christian Schroeder Bernd Schünemann Reinhard Singer Christoph Sowada Detlev Sternberg-Lieben Ulrich Weber Gerhard Werle
Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Gunther Arzt Einwilligungsdoktrin und Teilnahmelehre . . . . . . . . . . . . . .
1
Werner Beulke Der „Compliance Officer“ als Aufsichtsgarant? . . . . . . . . . .
23
Friedrich Dencker Sicher fahrunsicher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
43
Dieter Dölling Zur Strafbarkeit wegen fahrlässiger Tötung bei einverständlicher Fremdgefährdung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
53
Gunnar Duttge Der Vollrauschtatbestand de lege lata und de lege ferenda . . . . .
63
Ulrich Eisenberg Zur Unterrichtungspflicht der Finanzbehörden gegenüber der Staatsanwaltschaft zwecks Ermöglichung der Ausübung des Evokationsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
81
Volker Erb Ungereimtheiten bei der Anwendung von § 299 StGB . . . . . . .
97
Claudius Geisler „Der Tatrichter als Revisionsrichter“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Karl Heinz Gössel Über Anomalien des steuerstrafrechtlichen Ermittlungsverfahrens und die daraus resultierenden Gefahren . . . . . . . . . . . . . . . 137 Martin Heger Die Nötigung im Straßenverkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153
VIII
Inhaltsverzeichnis
Bernd Heinrich Das vorsätzliche „Dazwischentreten“ des Täters in seine eigene Tat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Wolfgang Heinz Strafrechtliche Sozialkontrolle der Straftaten im Straßenverkehr – aktuelle rechtstatsächliche Befunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Hans Joachim Hirsch Zwischenbilanz des langjährigen Meinungsstreits über die actio libera in causa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Klaus Hoffmann-Holland Vereinigungsbegriff im Wandel? – Begriffsprägende Systematik als Auslegungsgrenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Peter König Zum Ende des Fortbewegungszwecks beim verkehrsfeindlichen Inneneingriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Erik Kraatz Individualisierung contra Normativierung – Oder: Überlegungen zum Auslegungsmaßstab konkludenter Täuschungshandlungen beim Betrug (§ 263 StGB) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Joachim Kretschmer Die Bekämpfung von Korruption mit dem OWiG . . . . . . . . . 287 Kristian Kühl Einordnungs- und Anwendungsprobleme bei der Nachstellung . . 311 Gero Meinen Glaube, Glaubensfreiheit und Gefängnis . . . . . . . . . . . . . . . 323 Wolfgang Mitsch Verspätete Pflichterfüllung, Täter-Opfer-Ausgleich und Schadenswiedergutmachung bei § 142 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 Ingrid Mitgutsch Die Beteiligungsregelung des Römischen Statuts im Lichte der jüngsten Rechtsprechung des Internationalen Strafgerichtshofs . . 357 Axel Montenbruck Höchststrafe und Verfassung: Verteidigung des geständigen und resozialisierten Doppelmörders . . . . . . . . . . . . . . . . . 375
Inhaltsverzeichnis
IX
Henning Ernst Müller Systemgerechtigkeit und Normakzeptanz im Straßenverkehrsstrafrecht unter besonderer Berücksichtigung der Geschwindigkeitsüberschreitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 Heinz Müller-Dietz Strafrecht im Zukunftsstaat? – Zur negativen Utopie in Juli Zehs Roman „Corpus Delicti“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 Harro Otto Garantenstellung aufgrund der Beteiligung an vorausgegangenen Misshandlungen oder sonstigen Gewalttätigkeiten . . . . . . . . . 441 Henning Radtke Gefährlichkeit und Gefahr bei den Straßenverkehrsdelikten . . . . 461 Rudolf Rengier Kein Ende der Erfolgshaftung bei den erfolgsqualifizierten Delikten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 479 Ruth Rissing-van Saan Der bedingte Tötungsvorsatz und die Hemmschwellentheorie des Bundesgerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497 Klaus Rogall Grund und Grenzen der „qualifizierten“ Belehrung im Strafprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 519 Claus Roxin Aushorchungen in der Untersuchungshaft als Überführungsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 549 Helmut Satzger Klaus Geppert im Spiegel der „JURA“ . . . . . . . . . . . . . . . . 569 Uwe Scheffler und Dela-Madeleine Halecker Maßregeln der Abschreckung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 583 Hartmut Schneider Zur Strafbarkeit des Verteidigers wegen Strafvereitelung durch Stellen von Beweisanträgen zum Zwecke der Prozessverschleppung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 607
X
Inhaltsverzeichnis
Christian Schröder Die berufstypische Beihilfe im Strafprozess: Methodisches zur Feststellung erkennbarer Tatgeneigtheit . . . . . . . . . . . . . 633 Friedrich-Christian Schroeder Strafverfolgung bei Nichtauslieferung . . . . . . . . . . . . . . . . 643 Bernd Schünemann Gedanken zur zweiten Instanz in Strafsachen . . . . . . . . . . . . 649 Reinhard Singer Konsens der qualifizierten Minderheit . . . . . . . . . . . . . . . . 665 Christoph Sowada Beweisverwertungsverbote im Spannungsfeld zwischen nemotenetur-Grundsatz und fair-trial-Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . 689 Detlev Sternberg-Lieben Rationierung in der Medizin und strafrechtliche Haftung des Arztes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 723 Ulrich Weber Der zivilrechtliche Besitzschutz als Grundlage des Hausrechts . . 749 Gerhard Werle und Boris Burghardt Die Tötungen an der deutsch-deutschen Grenze – Verbrechen gegen die Menschlichkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 757 Klaus Letzgus Wiederaufnahme zu Ungunsten des Angeklagten . . . . . . . . . . 785
Schriftenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 801 Abgeschlossene Habilitations- und Promotionsverfahren . . . . . . . 817 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 823
Vorwort Von der Beliebtheit der Schornsteinfeger, die im Volksmund als Glücksbringer gelten, sind Juristen im Allgemeinen und Strafjuristen im Besonderen weit entfernt. So wird gerade den Strafjuristen herkömmlich ein Hang zum Formalismus, eine Tendenz zum eher Schneidigen, eine gewisse geistige Enge und insgesamt ein Mangel an emotionaler Wärme nachgesagt. Dies alles entspricht dem Klischee. Es entspricht aber nicht der Wirklichkeit. Jedenfalls ist der Jubilar für diese Wirklichkeit der beste Beleg. Er ist eine überaus warmherzige, nachdenkliche und tolerante Persönlichkeit, die nicht zuletzt über viel hintergründigen Humor verfügt. Das gesamte Wesen von Klaus Geppert, der am 10. März 2011 seinen 70. Geburtstag begeht und dem diese Festschrift in Dankbarkeit und Verehrung gewidmet ist, widerlegt mithin auf einnehmend-sympathische Weise die Vorurteile, mit denen Strafjuristen vielfach konfrontiert werden. Klaus Geppert wurde 1941 in Freiburg im Breisgau geboren. Er ging dort zur Schule und legte in seiner Heimat 1959 auch das Abitur ab. Es folgte ein Studium der Rechtswissenschaften in Freiburg und München. 1963 absolvierte Klaus Geppert das Erste juristische Staatsexamen in Freiburg. 1967 wurde er im Strafrecht promoviert. 1969 folgte das Zweite juristische Staatsexamen. Von 1969 bis 1976 war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg am Lehrstuhl seines akademischen Lehrers Prof. Dr. Rudolf Schmitt. Die „Freiburger Zeit“ schloss 1976 mit der Habilitation und der Erteilung der Venia legendi für Strafrecht, Strafverfahrensrecht und Strafvollzug ab. Schon kurz nach seiner ersten Ernennung als Universitätsprofessor in Köln folgte er noch im selben Jahr (im Oktober 1976) einem Ruf auf einen Lehrstuhl für Straf- und Strafprozessrecht an der Freien Universität Berlin, der Klaus Geppert trotz mehrerer ehrenvoller Rufe bis zu seiner Emeritierung treu blieb. Der Jubilar steht für eine Vielzahl gelungener Synthesen. Jeder, der Klaus Geppert kennt, wird auf Anhieb eine ganze Reihe solcher „Verknüpfungen“ nennen können: Wissenschaftler und Hochschullehrer, langjähriger Richter am Kammergericht (1982–2002), seit 1979 ständiger Mitherausgeber und Autor der Monatszeitschrift „JURA“, Kommentator im Leipziger Kommentar zum StGB, Mitglied des Arbeitskreises deutscher und schweizerischer Strafrechtslehrer zur Erarbeitung eines Alternativ-Entwurfs zum Besonderen Teil sowie eines Alternativ-Entwurfs eines Strafvollzugsgesetzes, Mitglied des Ständigen Ausschusses des Deutschen Juristen-Fakultätentages, Mitglied des Rechtsausschusses des Deutschen Verkehrssicherheitsrates, seit
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Vorwort
2003 Präsident der Juristischen Gesellschaft zu Berlin – die Liste der langjährigen Wirkbereiche von Klaus Geppert ließe sich mühelos fortsetzen. Der Promotion mit einer Arbeit im materiellen Strafrecht, die den Titel „Die Bemessung der Sperrfrist bei der strafgerichtlichen Entziehung der Fahrerlaubnis“ trägt, folgte die grundlegende und noch immer wegweisende prozessuale Untersuchung „Der Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren“. Klaus Geppert hat auch in seinem weiteren wissenschaftlichen Werk das Strafrecht und das Strafprozessrecht immer als gleichrangig angesehen und auf beiden Gebieten eine beeindruckende Reihe wichtiger Arbeiten publiziert. In der deutschen Strafrechtswissenschaft gehört er der vergleichsweise kleinen Gruppe derer an, die sich in beiden Rechtsgebieten gleichermaßen „zu Hause fühlen“. Klaus Geppert hat dabei das materielle Recht und das Prozessrecht nie isoliert betrachtet, sondern immer ein besonderes Augenmerk auf die mannigfaltigen Beziehungen zwischen beiden Materien gelegt. Symptomatisch für dieses übergreifende Denken ist seine Abhandlung in der Gedächtnisschrift für Ellen Schlüchter aus dem Jahr 2002, die sich mit den „Wechselwirkungen zwischen materiellem Strafrecht und Strafprozessrecht“ beschäftigt. Der Jubilar hat es aber nicht nur auf theoretisch-dogmatischem Gebiet verstanden, Verknüpfungen herzustellen. Dem Universitätsprofessor Klaus Geppert war immer bewusst, dass es von der Theorie zur Praxis bisweilen ein weiter Weg ist und dass apokryphe praktische Erwägungen eine Eigendynamik und ein Beharrungsvermögen entfalten können, die keine Theorie, mag sie auch noch so überzeugend und schlüssig klingen, überwinden kann. Diese Erkenntnis hat Klaus Geppert früh dazu geführt, sich in der strafrechtlichen Praxis zu engagieren. So war der Jubilar 20 Jahre lang im zweiten Hauptamt als Richter am Kammergericht in Berlin tätig und hat in dieser Funktion die Praxis geprägt, sich aber auch von der Praxis prägen lassen. Es ist kennzeichnend für den Jubilar, dass er den Kollegen aus der Praxis immer mit großem Respekt gegenüber getreten ist. Wer in diesen Jahren an seinem Lehrstuhl tätig war, weiß auch, dass ihn gerade die Diskussionen mit seinen Richterkollegen stark inspiriert und dass ihn viele Fragestellungen als Universitätsprofessor weiter beschäftigt haben. Sein wichtiger Beitrag zur „qualifizierten Belehrung“ in der Gedächtnisschrift für Karlheinz Meyer aus dem Jahr 1990 ist hierfür ein Beispiel. Ein weiterer Beleg ist seine Abhandlung „Zur Strafbarkeit des Anstellungsbetruges“ in der Festschrift für Hans Joachim Hirsch (1999). Der Strafrechtspraktiker Klaus Geppert hat dabei aber nie die Oberhand über den Strafrechtsdogmatiker Klaus Geppert errungen. So verfügt der Jubilar über ein sehr fein entwickeltes Sensorium für „Ungereimtheiten“, das maßgeblich auf seinen großen dogmatischen Scharfsinn zurückgeht. Auf der Grundlage dieser analytischen Fähigkeit entwickelte er ein nicht an Billigkeitserwägungen orientiertes, sondern dogmatisch „geerdetes“ sicheres Judiz.
Vorwort
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Dem entspricht es, wenn der Jubilar in den vielen anregenden Diskussionen, die er an seinem Lehrstuhl mit seinen Mitarbeitern führte, des Öfteren halbernst, halbverschmitzt äußerte, sein „strafrechtliches Näschen“ sage ihm, dass hier ein Problem verborgen sei oder dass diese oder jene Lösung unter dem Strich nicht richtig sein könne. Die Betreuung seiner zahlreichen Doktoranden und Schüler war Klaus Geppert stets ein besonderes Anliegen. Sein großer fachlicher Überblick half vielfach bereits bei der Auswahl eines geeigneten Themas. Die weitere fachliche Betreuung durch den Jubilar erfolgte dabei nicht beiläufig-nebenher, sondern konzentriert-geplant. So gehörte es zu seinem Betreuungskonzept, etwa nach der Hälfte der für die Qualifizierungsarbeit vorgesehenen Zeit das bis dahin Geleistete kritisch durchzusehen und ausführlich schriftlich zu begutachten. Diese Zwischenbewertung war regelmäßig recht streng, aber in der Sache zugleich außerordentlich hilfreich. Der Jubilar hat es auf diese Weise immer wieder vermocht, in einer entscheidenden Phase weiterführend „Richtung zu geben“ und beim Bearbeiter alle Reserven zu mobilisieren. Die Verbindung von dogmatischem Interesse und praktischer Relevanz hat die Tätigkeit des Jubilars schon früh auf das Gebiet des Verkehrsstrafrechts gelenkt, auf dem er sich wie nur ganz wenige andere Wissenschaftler bestens auskennt. Beginnend mit seiner bereits angesprochenen Dissertation, haben die verkehrsstrafrechtlichen Veröffentlichungen auch in der Folgezeit stets einen besonderen Stellenwert eingenommen. Besonders hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang insbesondere die umfangreichen Kommentierungen des Jubilars im Leipziger Großkommentar. Sie betreffen den § 44 StGB (Fahrverbot), die §§ 69, 69a und 69b StGB (Entziehung der Fahrerlaubnis, Sperre für die Erteilung der Fahrerlaubnis, Internationaler Kraftverkehr) sowie den besonders schwierigen und komplexen § 142 StGB (Unerlaubtes Entfernen vom Unfallort). Die kommentierten Rechtsbereiche stehen dabei in ganz besonderer Weise im Schnittfeld von Dogmatik, Praxisrelevanz, Rechtspolitik und dem Zusammenspiel von materiellem Recht und Prozessrecht. Das Verkehrsstrafrecht selbst bildet mithin einen Bereich mannigfaltiger Synthesen. Vor diesem Hintergrund nimmt es nicht wunder, dass es auf den Jubilar eine nachhaltige Faszination und Anziehungskraft ausgeübt hat. Durch sein langjähriges Wirken genießt Klaus Geppert, der zugleich Mitglied des Rechtsausschusses des Deutschen Verkehrssicherheitsrates ist und seine Kenntnisse sowohl als Referent als auch als Arbeitskreisleiter auf zahlreichen Verkehrsgerichtstagen in Goslar einbrachte, auch auf diesem Gebiet höchstes Ansehen. Dass der Jubilar ein Mann gelungener Synthesen ist, belegt auch sein großes Engagement in der universitären Lehre. Der Universitätsprofessor Klaus Geppert war und ist ein begnadeter Didaktiker. Dem Anspruch, auch Hochschullehrer zu sein, ist er geradezu im Übermaß gerecht geworden. Sein Talent, Wissen weiter zu vermitteln und auch komplizierte Zusammenhänge
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Vorwort
verständlich erläutern zu können, beruht auf einer doppelten Eigenschaft: Ein exzellenter Didaktiker kann nur derjenige sein, der selbst wirklich versteht. Darüber hinaus muss er in der Lage sein, die Perspektive der Lernenden einzunehmen. Seine didaktischen Fähigkeiten hat der Jubilar dabei schon früh zur Entfaltung bringen können. So war er während der Phase der Fertigstellung seiner Habilitationsschrift in Freiburg zugleich als erfolgreicher Repetitor tätig. Von diesen Erfahrungen haben wir (und Generationen von Studenten an der Freien Universität Berlin) später profitieren dürfen. Die stets sehr gut besuchten Vorlesungen von Klaus Geppert waren an Klarheit, Strukturiertheit und Einprägsamkeit kaum zu überbieten. Natürlich darf in diesem Zusammenhang das langjährige Wirken des Jubilars als Mitherausgeber und Autor der Ausbildungszeitschrift JURA nicht unerwähnt bleiben. Die Verdienste, die sich der Jubilar allein durch diese Aktivitäten erworben hat, sind so groß, dass sie im Rahmen der vorliegenden Festschrift durch Helmut Satzger in einem eigenen Beitrag ausführlich gewürdigt werden, auf den an dieser Stelle verwiesen sei. Sämtliche Funktionen, die der Jubilar in seinem Berufsleben wahrgenommen hat und die in diesem Rahmen nur äußert lückenhaft Erwähnung finden und schon gar nicht angemessen gewürdigt werden können, stehen nicht unverbunden nebeneinander, sondern sind in einem einheitlichen Wirkzusammenhang zu sehen. Dabei ist Klaus Geppert bei der Wahrnehmung dieser vielen unterschiedlichen Funktionen in bemerkenswerter Weise sich stets treu geblieben. Während viele Menschen in unserer hochdifferenzierten modernen Gesellschaft mehr und mehr das Gefühl haben, in häufig wechselnden, zum Teil einander widersprechenden Rollen durch die unterschiedlichsten Funktionswelten zu wandeln, ist Klaus Geppert, was er auch tut, auf eine ihm eigene Weise immer er selbst. Der dem Schriftsteller Ödon von Horvath zugeschriebene Satz „Eigentlich bin ich ganz anders, ich komme nur viel zu selten dazu“ mag heutzutage das Eigenerleben vieler Menschen zutreffend beschreiben – das von Klaus Geppert vermutlich nicht. Denn Authentizität gehört zu den hervorstechendsten Merkmalen seiner Persönlichkeit; ein nur rollenhaftes „Als-Ob-Sein“ ist ihm geradezu wesensfremd. Dabei versteht es der Jubilar selbst in stark formalisierten und reglementierten Situationen immer, einen sympathischen persönlichen Akzent zu setzen. Symptomatisch für diese unnachahmliche Art ist etwa sein freundlich-sanfter Hinweis im Rahmen der mündlichen Promotionsprüfung, mit dem er einleitend den zum Vortrag geladenen Kandidaten auf sein beschränktes Zeitbudget hinweist: „Ich schaue zwar auf die Uhr, stelle aber auch nicht den Wecker.“ In solchen Szenen werden Bilder zu Vorbildern. Die vielleicht größte Synthese-Leistung des Jubilars besteht allerdings darin, dass es Klaus Geppert verstanden hat, die Fülle seines arbeitsreichen und von enormer Disziplin geprägten Beruflebens mit der Fülle seines Privatlebens in Einklang zu bringen. Schon lange bevor es Ratgeber für
Vorwort
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„Work-Life-Balance“ gab, hat sie der Jubilar praktiziert. So hat der Ehemann, Vater und (inzwischen) Großvater Klaus Geppert seiner Familie immer den ihr gebührenden Stellenwert eingeräumt. Dass der Privatmensch Klaus Geppert bei alledem noch die Zeit und Energie gefunden hat, ein begeisterter Theatergänger zu sein, der gemeinsam mit seiner Frau die gesamte Breite des kulturellen Angebots der Großstadt Berlin in Anspruch nimmt, fügt sich in dieses Gesamtbild nahtlos ein. Inzwischen ist auch ein Ferienhaus als Rückzugspunkt an der Ostsee hinzugekommen. Ob „runde“ Geburtstage tatsächlich Zäsuren setzen, ist bekanntlich eine Sache der Lebensanschauung und des persönlichen Empfindens. Sie sind jedenfalls Anlass für eine Rückschau auf Erlebtes und Geleistetes, und die Herausgeber und Verfasser der Beiträge in dieser Festschrift denken und hoffen, dass beides den Jubilar mit Dankbarkeit erfüllt. In jedem Fall wünschen sie ihm noch viele weitere produktive Jahre des Schaffens und darüber hinaus vor allem natürlich Gesundheit, Glück und Zufriedenheit! Claudius Geisler Erik Kraatz Joachim Kretschmer Hartmut Schneider Christoph Sowada
Einwilligungsdoktrin und Teilnahmelehre Gunther Arzt I. Einwilligung 1. Verlangen als Normalform der Einwilligung Einen ersten Anlauf zur Verknüpfung von zwei Themenkreisen, von denen sich jeder heute – schon für sich genommen – durch eine entmutigende Fülle an Stellungnahmen auszeichnet, habe ich 1969 in meiner Tübinger Antrittsvorlesung 1 unternommen. Ich wollte einem studentischen Publikum klarmachen, dass die herrschende Einwilligungsdoktrin Risse im Fundament aufweist. Damals waren Rechtsprechung und Literatur zur Einwilligung noch überschaubar, was natürlich nicht ausschließt, dass ich wichtige Urteile oder Meinungsäußerungen übersehen habe. Das Echo auf meine (in publizierter Form nur geringfügig erweiterten) Ausführungen erkläre ich mir rückblickend damit, (1) dass die Risse wirklich vorhanden waren; (2) dass meine Thesen im Vergleich zur h.M. auf Strafbarkeitseinschränkung hinausgelaufen sind, was dem damaligen Trend der Zeit entsprochen hat und (3) dass das anhaltende Interesse an der Einwilligungsdoktrin mit dem umfassenderen Prinzip der Opferverantwortung zusammenhängt. – Dieser Konnex wird bei der Einwilligung ins Risiko besonders deutlich. Damit hat sich Klaus Geppert 2 1971 anhand des „Mitfahrers im Straßenverkehr“ und unter dem Blickwinkel der „Struktur der Einwilligung“ befasst. Nachgewirkt hat die einfache (!) Frage, was nach Abspaltung der Fälle, in denen nicht nur das Risiko, sondern auch dessen Verwirklichung in Kauf genommen wird, von dieser Problematik übrig bleibt, unten III 1b. Die Zahl der Schriften zu Einwilligungsfragen ist seitdem überproportional angestiegen. Wie aktuell die Beifahrerprobleme geblieben sind, zeigt BGHSt 53, 55 (Rennen, dazu unten II 2).
1 „Die strafrechtliche Bedeutung der mit Willensmängeln behafteten Einwilligung des Verletzten“, publiziert unter dem Titel „Willensmängel bei der Einwilligung“, 1970. Angesichts der Hartnäckigkeit, mit der meine (für Studenten konzipierte) Antrittsvorlesung in späteren Publikationen als ein – an die Fakultät als fachkundiges Gremium gerichteter – Habilitationsvortrag bezeichnet worden ist, erinnere ich daran, dass auch dieser Vortrag publiziert ist („Der befangene Strafrichter“, 1970). 2 Geppert, Rechtfertigende „Einwilligung“ des verletzten Mitfahrers bei Fahrlässigkeitstaten im Straßenverkehr? Ein Beitrag zur Struktur der Einwilligung, ZStW 83 (1971) 40.
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Gunther Arzt
Klaus Geppert hat sich (wie ich) in den letzten 40 Jahren mit wiederholten Äußerungen sehr zurückgehalten.3 Ob wegen oder trotz dieser Zurückhaltung – ich möchte die ihm gewidmete Festschrift zum Anlass nehmen, noch einmal einen Anlauf zur Verknüpfung der Themenkreise Einwilligung/Teilnahme zu unternehmen. So sehr ich 1969 die Einseitigkeit der von der h.L. vorgenommenen Rollen- und Verantwortungsteilung zwischen Täter und einwilligendem Opfer kritisiert habe – ich bin nicht weit genug gegangen. In den seitdem erfolgten Veröffentlichungen vermisse ich den Ausgangspunkt vom Verlangen als der Normalform der Einwilligung. Offenbar sind wir durch das im Rechtfertigungsgrund kategorisch angelegte Denken in Regel und Ausnahme blind geworden für diese Normalität. Man wird Mühe haben, unter ein paar Tausend Fällen vorsätzlicher Erfüllung des Tatbestandes der Sachbeschädigung einen Fall zu finden, der nicht auf Verlangen des „Opfers“ erfolgt ist. Auch bei der Körperverletzung braucht es Tausende von Vorsatztaten, um einen Fall herauszufiltern, der nicht auf ein Verlangen des „Opfers“ zurückgeht. In der Realität ist die Einwilligung als Rechtfertigungsgrund nahezu inexistent. Alles ist Verlangen und fast nichts (bloße) Einwilligung. Weil das Schrifttum dies nicht zur Kenntnis nimmt, kommt es dort, wo das Gesetz ausnahmsweise explizit (§ 216) oder implizit (§ 291) auf „Verlangen“ abstellt, zu groben Fehlern bei der Analyse der Differenz zum (vermeintlichen!) Normalfall der Einwilligung und zu Verwerfungen in Relation zur Teilnahmedoktrin (dazu unten II und III 1b). Inwiefern die Differenz zwischen Rechtfertigung und Tatbestandsausschluss die Lösung von Sachfragen präjudiziert, ist ein altes Problem. Mir schien damals die unterschiedliche Behandlung des abgelisteten Einverständnisses (z.B. § 123) gegenüber der erschlichenen Einwilligung erklärungsbedürftig. Dieser schwache Schatten, der damals durch die Grenzziehung Tatbestand(Einverständnis)/Rechtfertigung(Einwilligung) auf die Behandlung der Willensmängel gefallen ist, ist nicht verschwunden.4 Er ist jedoch bedeutungslos, verglichen mit dem Nebel, der bezüglich der Sachfrage des unvernünftigen Risikoverlangens in Abhängigkeit von der Grenzziehung Tatbestandsausschluss(Selbstgefährdung)/Rechtfertigung entstanden ist. Sieht man die Einwilligung ins Risiko (jedenfalls in der Subform des verlangten Risikos) als Mitwirkung an Selbstgefährdung des Einwilligenden, muss man die Einwilligung in den Erfolg (erst recht?) als Mitwirkung an Selbstverletzung der Tatbestandsebene zuweisen.5 Man hört das Knistern der Span3 Geppert, Zur Unterbrechung des strafrechtlichen Zurechnungszusammenhangs bei Eigenschädigung/-gefährdung des Opfers oder Fehlverhalten Dritter, Jura 2001, 490; zu AIDS Geppert, Jura 1987, 668. 4 Zum Festhalten des BGH an dieser Differenz „ohne Begründung“ Fischer, StGB, 57. Aufl. 2010, Rn. 3b vor § 32. 5 So Roxin, FS für Amelung, 2009 S. 269 ff., 273.
Einwilligungsdoktrin und Teilnahmelehre
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nungsrisse beim Aufeinandertreffen von Einwilligungsdoktrin und Teilnahmelehre. Im Zustimmungserfordernis kommt das zentrale Interesse zum Ausdruck, durch das ein Opfer als Selbstverletzungstäter erscheint. Die „Tatherrschaft“ im Sinne der Beherrschung des physischen Ablaufs ist nebensächlich. Damit wird nicht nur die in § 216 liegende Ausnahme erklärungsbedürftig, sondern auch eine etwaige Mehrverantwortung des dem Verlangen nachgebenden Beteiligten im Vergleich mit der Selbstverantwortung des Rechtsgutsinhabers, unten II. 2. Güteraustausch als die mit der Einwilligung erfasste Normalität Das Privatrecht operiert mit „absoluten“ Rechten, deren Sinn gerade nicht im Ausschluss aller liegt, sondern in der Begründung von Relationen zwischen Individuen. So erklärt sich das privatrechtliche Erfolgsmodell des absoluten Rechts mit selektiver Zulassung in Form relativer Rechte.6 Strafrechtlich setzen wir das zivilrechtliche Modell mehr schlecht als recht in zwei Stufen um, nämlich Tatbestand und Rechtfertigung. So schaffen wir einen Sog, hin zu Täter/Opfer und hin zum Verbot als Regel und der Rechtfertigung als Ausnahme. Zwei Menschen (T und O), die Güter oder Leistungen nach dem Prinzip do ut des austauschen, sehen wir strafrechtlich nicht als Leute an, die sich vertragen, sondern als gekreuzte Angreifer. Ausnahmsweise ist jeder der beiden Angriffe gerechtfertigt. Konsequenzen hat diese Sicht dann, wenn es zu Störungen in der Relation kommt. Verkauft O dem T ein Stück seiner Privatsphäre und bezahlt T (vorgefasster Absicht gemäß) nicht den vereinbarten Preis, läuft die von mir 1969 bekämpfte strafrechtliche Betrachtung auf eine Verdoppelung der Verluste des Opfers hinaus. Das Opfer scheint Wert und Gegenwert zu verlieren: Körperverletzung und Betrug, wenn T bei O Blut abzapft, Bezahlung verspricht und seine Zahlungsfähigkeit vorspiegelt. Die relative Seltenheit solcher Konstellationen beruht einmal darauf, dass die abgelistete Preisgabe höchstpersönlicher Werte meist keinen Straftatbestand erfüllt. Ausnahmen betreffen fast ausschließlich den Sexualbereich, sind aber auch dort eng begrenzt.7 Zum anderen kommt das Versprechen einer materiellen Gegenleistung für Preisgabe höchstpersönlicher Werte rasch an Sittenwidrigkeit heran (wenn auch heute nicht ganz so schnell wie vor 40 Jahren). Blut ist eines der wenigen Organe, dessen Verkauf nicht als sittenwidrig angesehen wird.
6 Insofern ist der klassische Leitentscheid zum besonderen absoluten Persönlichkeitsrecht des „Rechts am eigenen Bild“ völlig atypisch, denn er betrifft einen der ganz seltenen Sachverhalte, bei denen es wirklich um den Ausschluss aller geht und nicht um selektive Zulassung. RGZ 45, 170 vom 28.11.1899, Totenmaske Bismarck’s. 7 Der Ehefrau wird vorgetäuscht, beim Partner des Geschlechtsverkehrs handle es sich um den Ehemann; BGE 119 IV 230 mit Anm. Niggli, AJP 1994, 109.
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Gunther Arzt
Ich habe die Einwilligung als Instrument des Austauschs von Gütern zwischen Opfer und Täter gesehen, mit der Konsequenz, dass nicht alle mit dem Einsatz dieses Instruments verbundenen Risiken dem Täter aufgebürdet werden dürfen. Gegenüber der einseitig am Opfer orientierten traditionellen Konzeption der Einwilligung mit der Verdoppelung der Verluste beim Opfer habe ich die Ansicht entwickelt, man müsse unterscheiden, ob der Täter aus Sicht seines Opfers über den Wert des vom Opfer hingegebenen Gutes oder über den vom Täter versprochenen Gegenwert täuscht. Nur ersteres sei als „rechtsgutsbezogene Täuschung“ als Angriff auf das preisgegebene Gut zu werten. Orientiert man sich am Gesetzgeber, der in § 240 die Willensfreiheit gegen Zwang, aber nicht gegen List schützt und der den abgelisteten Tausch von Vermögenswerten nicht als Betrug bestraft sehen will (solange nach objektivem Urteil für den Überlisteten kein Vermögensschaden entsteht), spricht das für den Unterschied zwischen dem Schutz eines (relativ) „statisch“ gedachten Rechtsgutes einerseits und den durch Hingabe in Aussicht gestellten Gegenleistungen andererseits (jeweils mit den darauf bezogenen Willensmängeln). Meine Auffassung ist auf Zustimmung gestoßen, vielleicht sogar mit dieser oder jener Modifikation zur h.M. erstarkt. Sie ist aber auch heftig bekämpft worden. Mein Pochen auf Entscheidungen des Gesetzgebers ist altmodisch geworden; zudem ist ein Mittelweg von beiden Extremen her angreifbar. Ich will hier nur ganz kurz zu zwei Kritikern Stellung nehmen, bei denen die Spannweite der Kritik deutlich wird, weil sie von gegensätzlichen Polen aus argumentieren. An einem Ende der Skala setzt Mitsch an: „Einwilligung ist ein Rechtsinstitut, das ausschließlich Opferinteressen dient“.8 Diese exklusive Berücksichtigung der Opferinteressen führt zu einer (meiner Ansicht nach verkehrten) Deutung des Verhältnisses Einwilligung/ Vertrag: Ein Vertrag soll nach Mitsch offenbar nicht den übereinstimmenden Willen beider Parteien zum Ausdruck bringen, vielmehr soll der Vertrag dazu führen, dass „trotz des entgegenstehenden Opferwillens die tatbestandsmäßige Tat auf Grund einer Pflicht zur Einwilligung (besser: Pflicht zur Duldung des Eingriffs) gerechtfertigt wird“.9 Mitsch sieht sich zu einer radikalen Abtrennung der Verfügungsfreiheit (Rechtfertigungsebene) vom Rechtsgut (Tatbestandsebene) gezwungen.10 Meiner Ansicht nach wird damit verleugnet, dass – ob Eigentum oder Körpersphäre – kein „Gut“ mehr wäre, wenn man die Dispositionsfreiheit hinweg denken würde. Insofern habe ich mehr Verständnis für die beim anderen Extrempunkt ansetzende Kritik, wie sie sich bei Rönnau11 8
Mitsch, Rechtfertigung und Opferverhalten, 2004 S. 585. Mitsch, wie vorstehend, Hervorhebungen und Klammerzusatz wie im Original. 10 Mitsch, wie vorstehend, S. 517 und in Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2003 § 17 Rn. 98. 11 Rönnau, Willensmängel bei der Einwilligung im Strafrecht, 2001 S. 283 ff., 286 mit Hinweis u.a. auf Welzel. Amelung hat sich wiederholt ähnlich geäußert, vgl. nur ZStW 115 (2003) 710 (Bespr. von Rönnau). 9
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findet. Rönnau hält der Differenzierung zwischen rechtsgutsbezogenen Täuschungen und Täuschungen über den Gegenwert sinngemäß entgegen, die Dynamik, die im Austausch, in der Zulassung unter Bedingungen etc. liege, gehöre zu einem modern verstandenen Rechtsgut. Ich würde das Rechtsgut altmodisch von dieser Verfügungsfreiheit isolieren und wie in einer Vitrine betrachten; offenbar weil mir die Kommerzialisierung von Personwerten zuwider sei. – Diese Kritik verkennt, dass meiner Ansicht nach Verfügungsfreiheit zum Rechtsgut gehört und ich deshalb die von Noll befürwortete Abwägung zwischen Rechtsgut und Verfügungsfreiheit kritisiert und mich auf Dürig und dessen Slogan vom Eigentum als geronnener Freiheit berufen hatte.12 In der Unterscheidung zwischen Täuschungen über das preisgegebene Gut und Täuschungen über den dank Preisgabe erwarteten Gegenwert spiegelt sich jedoch die Entscheidung des Gesetzgebers, diese Freiheit mit verschiedenen Rechtsgütern zu verknüpfen. Ob sich O von T zwecks Hautstraffung Botox spritzen oder die Außenhaut ihres Hauses isolieren lässt, die Täuschung über einen finanziellen Zuschuss (durch die Krankenkasse bei Botox, durch das Finanzamt bei der Isolation) trifft O im Rechtsgut „Vermögen“. Dessen Schutz ist strafrechtlich geregelt. Ob in den Beispielen § 263 erfüllt ist, mag dahin stehen. Vom Rechtsgut „Körper“ (im Beispiel des Zuschusses zur Schönheitsoperation) sollte kein über § 263 hinaus reichender Vermögensschutz erwartet werden. Die von Rönnau (und anderen) betonte Dynamik der Rechtsgüter ist zweifellos eine attraktive Konzeption. Letztlich ist alles, ob Geld, Gesundheit, Sexualität, Mobilität, Wohnung etc., als Potential für individuelle Lebensgestaltung zu begreifen. Eine Sache, z.B. ein Auto, kann als ein Stück „Arbeitsvergangenheit“ ihres Eigentümers betrachtet werden (so schon von Jhering, 1872) 13. Der Verlust (durch Diebstahl) entwertet diese vergangene Arbeit und damit das darin steckende Opfer an Freiheit/ Freizeit.14 Ob eine konkrete Sachbeschädigung oder Körperverletzung für das Opfer die schlimmere Einbuße an Lebensqualität bedeutet, hängt deshalb von den Details der jeweiligen Tat ab. Vielleicht wäre es sinnvoll, bei Vandalismus im öffentlichen Raum die Beeinträchtigung der Lebensqualität der Bürger (in Form der Entwertung des in Steuerzahlung liegenden Opfers an
12 Arzt, wie Fn. 1, S. 43 f. (zu Noll) und S. 46 mit Fn. 71 (zu Dürig). Angemerkt sei, dass ich den „Slogan“ aus der Vorlesung im Kopf hatte, nach vergeblichem Suchen nach der Fundstelle hatte mir Dürig die Quelle genannt. Seitdem wird diese Formel im strafrechtlichen Schrifttum zu meiner Freude immer wieder zitiert. Näher zum Verhältnis Rechtsgut und Dispositionsfreiheit (unter Einbeziehung der Fälle des Einverständnisses, §§ 239, 123) Arzt, FS für Baumann, 1992 S. 201. 13 Dazu Arzt/Weber-Hilgendorf, Strafrecht BT, 2. Aufl. 2009 § 1 Rn. 29. 14 Dass bei dieser Betrachtung der §§ 242, 303 StGB oft die Entwertung „eigentlich“ nicht das unmittelbare Opfer trifft, sondern dessen Versicherung (z.B. wenn ein Pkw gestohlen wird), soll hier nicht weiter verfolgt werden. Zu solchen mittelbaren Viktimisierungen Arzt, Viktimologie und Strafrecht, MSchrKrim 67 (1984) 105 ff., 117.
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Freiheit) stärker zu gewichten. Es ist diskutabel, bei Körperverletzungen die mittelbaren Einbußen an Lebensqualität für andere als das unmittelbare Opfer (durch Abwälzungsmechanismen via Versicherungen etc.) stärker und vor allem explizit auf die Waagschale zu legen. Es ist jedoch vielleicht unmöglich, sicher aber viel zu aufwendig, wollte man die Verletzung von Individualrechtsgütern auf einen gemeinsamen Nenner bringen (durch Umrechnung in den Verlust an Freiheitspotentialeinheiten). Wie ohne einen solchen gemeinsamen Nenner Strafen verglichen werden können, lasse ich offen. Per saldo möchte ich sowohl daran festhalten, dass die Einwilligung ein Rechtsinstitut ist, das dem Ausgleich zwischen Interessen des Opfers und des Täters dient, als auch daran, dass von der Auflösung der Einwilligungsproblematik im allgemeineren Begriff eines dynamischen Rechtsguts kein Erkenntnisgewinn zu erwarten ist. Nicht einmal dort, wo – wie beim Betrug – dasselbe Gut („Vermögen“) betroffen ist, soll nach ganz h.M. der Angriff erfasst sein, der im vom Opfer unerwünschten Tausch liegt.15 In der Diskussion über die Unterscheidung zwischen Täuschungen bezüglich des preiszugebenden Guts einerseits und der Gegenleistung andererseits hat jedoch – mich überzeugend – Roxin 16 gezeigt, dass Täuschungen über die Gegenleistung ausnahmsweise auf das preiszugebende Rechtsgut durchschlagen können: Körperverletzung, wenn dem Spender einer Niere vorgetäuscht wird, er könne so seinen Sohn retten – und der Chirurg das Organ vorgefasster Absicht gemäß nicht dem Sohn, sondern dem reichen X gegen ein Extrahonorar transplantiert.
II. Teilnahme 1. Täterrolle des Verlangenden Misst man den Normalfall, also den Eingriff in disponible Rechtsgüter, der auf Verlangen des Rechtsgutsinhabers geschieht, hypothetisch17 anhand des Maßstabes der Teilnahmelehre, steht klar der betroffene Rechtsgutsinhaber im Mittelpunkt des Geschehens. Ob Otto (O) den Theo (T) beauftragt, seine Hecke zu schneiden, ihm die Haare zu schneiden oder ob sich O von T Botox zwecks Hautstraffung spritzen lässt, die von T erfüllten Tatbestände 15 Zur Schlagkraft dieses Arguments Arzt (wie Fn. 1) S. 17. Zu den seitdem zu registrierenden Versuchen, § 263 vom Vermögensschutz auf Tauschfreiheit umzupolen, Arzt/ Weber-Arzt, BT (wie Fn. 13) § 20 Rn. 26 f., 92. 16 Roxin, GS für Noll, 1984 S. 275 ff., 286; dazu Rönnau (wie Fn. 11) S. 307 ff. und Baumann/Weber/Mitsch,AT (wie Fn. 10) § 17 Rn. 110. 17 Meiner Ansicht nach ist es legitim, dogmatische Figuren „hypothetisch“ am normalen Leben zu messen, etwa am Kauf eines Loses die Kombination der Gewinnabsicht mit der (miss)billigenden Inkaufnahme des Verlustes zu veranschaulichen.
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(§§ 303, 223) werden vom Interesse des „Opfers“ dominiert. Wie jeder Bauarbeiter zwar ein eigenes Interesse am Bau hat (Entlöhnung), aber das zentrale Interesse bei der Person liegt, die im Privatrecht wie im öffentlichen Recht treffend als „Bauherr“ bezeichnet wird, so steht bei Rechtsgutseingriffen das den Eingriff fordernde „Opfer“ im Zentrum. Das Opfer ist der Quasi-Täter. Der auf Verlangen hin Eingreifende ist Quasi-Gehilfe. Ich habe die subjektive Teilnahmelehre zwar immer verteidigt,18 aber nie vertieft zur Teilnahmedoktrin Stellung genommen. Meiner Auffassung nach kann die auf „Tatherrschaft“ abstellende Lehre zum gleichen Resultat kommen (freilich unter Aufgabe eines Teils der „Objektivität“ der Herrschaft). Der Gärtner muss nicht als Herr des Heckenschnitts betrachtet werden und statt des nicht am „Tatort“ anwesenden Bauherrn muss dem Maurer nicht unbedingt die Täterrolle zugewiesen werden. Relevant werden solche Überlegungen beim Sonderfall des § 216 und – praktisch häufiger – beim Changieren der Einwilligung in Fremdgefährdung zu Selbstgefährdung, dazu u. III 1b. 2. Die Mehrverantwortung des dem Verlangen nachgebenden Beteiligten im Vergleich zum Rechtsgutsinhaber Aus dem „absoluten“ Recht folgt die Täterrolle des „ausgeschlossenen“ Angreifers. Der Schutz gegen vom Opfer völlig ungewollte Attacken ist jedoch nur ein Aspekt. Dank der „Einwilligung“ wird es dem Rechtsgutsinhaber möglich, Eingriffe unter Bedingungen zuzulassen. Insbesondere kann der Rechtsgutsinhaber dem „Angreifer“, der die Hecke schneidet, den Blinddarm entfernt oder Botox spritzt, Sorgfaltspflichten aufbürden. Gegen die Verletzung solcher „Bedingungen“ kann der Rechtsgutsinhaber strafrechtlich geschützt werden.19 Es ist normal, dass der Eingreifende sich zu mehr Sorgfalt verpflichten muss, als sie der Rechtsgutsinhaber selber ausüben würde oder könnte. Insoweit kann von einer Mehrverantwortung des Eingreifenden im Vergleich zum Rechtsgutsinhaber keine Rede sein. Man kann das auch so ausdrücken, dass zur Sorgfalt des Rechtsgutsinhabers gegenüber sich selbst gehört, dass er den Schnitt von Hecke, Haaren etc. Leuten überlässt, die es besser als er können. Wer bei der Einwilligung – statt beim Verlangen – ansetzt, schließt von vornherein die Augen davor, dass für das Opfer das gravierendste Problem im Nichterscheinen eines Täters liegen kann. Gewiss, die Blinddarmentfernung wird bei fehlender Einwilligung als Körperverletzung bestraft. Implizit wird vorausgesetzt, dass das Opfer auf sein Verlangen hin einen Täter findet, der „prinzipiell“ zur Tat bereit ist. Darin sehe ich den Schlüssel für das Verständnis (und den Ansatz für eine drastische 18
Vgl. Arzt, Strafrechtsklausur, 1. Aufl. 1973 S. 48, 50, 107 und 7. Aufl. 2006 S. 116 ff. Zu Bedingungen, die den Schutz des Gutes im Auge haben, Roxin, GS für Noll (wie Fn. 16) S. 275, 288 (zu BGHSt 16, 309); Arzt, FS für Baumann (wie Fn. 12) S. 206 ff. 19
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Vereinfachung) des Problems – in der Formulierung von Klaus Geppert – der „Gleichstellung von Selbstverletzung und bewilligter Fremdverletzung“ 20. Mit der auf (jetzt) § 228 gestützten Bestrafung der vom Opfer geforderten Erfolgsherbeiführung (Verletzung) wird dem Täter eine Verantwortung für das fremde Rechtsgut aufgebürdet, die dem Inhaber, der die Tat wünscht, nicht aufgebürdet werden kann. Verlagert man diese Fragestellung vom Erfolg auf das Risiko, vergleicht man Selbstgefährdung mit bewilligter (verlangter!) Fremdgefährdung. Im Vergleich steckt die Frage, wo bei Einwilligung des Opfers in verbotene, nach objektivem Urteil krass unvernünftige oder sittenwidrige Risiken eine Mehrverantwortung des Täters herkommen soll, dazu unten III 1b. Meiner Meinung nach funktioniert der Vergleich zwischen der Behandlung des Rechtsguts durch den Inhaber selbst mit der vom Inhaber geforderten Behandlung durch einen Dritten nur dort, wo „do it yourself“ für den typischen Rechtsgutsträger eine realistische Alternative darstellt. Schon bei der Blinddarmentfernung ist do it yourself kein valabler Ausweg.21 Das einfache Beispiel zeigt, dass Individualrechtsgüter überhaupt erst dank der Eingriffe Dritter wertvoll werden. Deshalb können Verbote, die sich an den auf Verlangen des Rechtsgutsinhabers tätig werdenden Dritten richten, eine dem öffentlichen Interesse oder den guten Sitten widersprechende Disposition theoretisch endgültig blockieren. Kann sich der Rechtsgutsinhaber ohne Hilfe des Dritten nicht in der gewünschten Weise „selbst“ verwirklichen, zielt die formell gegen den Dritten gerichtete Strafdrohung materiell auf eine Bevormundung des Rechtsgutsinhabers.22 Am Wucher zeigt sich diese Entmündigung des Opfers: Trotz seines dringenden Verlangens soll sich kein Täter finden – der einzige Ausweg aus der Not bleibt dem Opfer versperrt. Deshalb steht die h.M. auf dem Kopf, wenn sie das durch diesen Entmündigungstatbestand geschützte Rechtsgut als „Freiheit“ des Opfers definiert.23 Dass der Rechtsgutsinhaber in der Disposition im öffentlichen Interesse in vielfältiger Weise beschränkt wird, ist ebenso normal wie eine Gesetzgebungstechnik, die solche Beschränkungen durch Verbote verwirklicht, die sich an Dritte richten. Ein moderner „Hans im
20 Geppert, wie Fn. 2 S. 963; zur Abwägung des Gutes gegen rechtlich missbilligte Disposition des Inhabers ebenda, dazu hier bei Fn. 12 und unten III 1c. 21 Man hüte sich vor dem Argument, dass deshalb dem „Verlangenden“ die Rolle eines Quasi-Täters (Selbstverletzung) nicht zugesprochen werden könne. Ein Blick auf § 267 lehrt, dass täterschaftlich „Fälscher“ sein kann, wer zu unbegabt ist, um die Urkunde „eigenhändig“ zu manipulieren; dazu auch bei Fn. 38. 22 Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, 2004 S. 306 hält eine mittelbare Bevormundung (Schutz vor sich selbst) durch an Außenstehende gerichtete Vorschriften für verfassungswidrig. Damit dürften andere Fälle gemeint sein. 23 Arzt, FS für Lackner, 1987, S. 641 ff. mit umfangreichen Belegen. – Zum Verbot der Aufnahme eines Konsumkredits via Bestrafung der Vergabe des Kredits Arzt, in Häsler (Hrsg.), Viktimologie, 1986 S. 161 ff.
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Glück“ würde entmündigt. Explizit bei § 291 und implizit bei § 228 wird dem Dritten verboten, auf Wunsch des Rechtsgutsinhabers hin bestimmte Eingriffe vorzunehmen, die in der Regel der Inhaber selbst nicht durchführen kann. Sieht man „objektive Grenzen“24, die der Dispositionsfreiheit des Rechtsgutsinhabers gezogen sind, vom Wunsch nach einem Umgang mit dem Rechtsgut, den der Inhaber nur mit Hilfe des Dritten verwirklichen kann, werden viele und ganz banale Alltagsfälle sichtbar. Freilich ist bei Risiken die Abhängigkeit des Rechtsgutsinhabers von Dritten, ohne deren Mitwirkung er sich selbst nicht in gewünschter Weise selbst gefährden könnte (oder möchte!), häufiger und zugleich weniger leicht typisierbar als die von Dritten abhängige Erfolgsherbeiführung. Bestraft wird nicht der Jugendliche, der Schnaps trinkt, sondern der Geschäftsinhaber, der ihm den Alkohol verkauft hat. Auch wenn bei Drogen die im Konsum liegende Selbstverwirklichung straffrei bleibt, diese theoretische Freiheit des Rechtsgutsinhabers wird praktisch durch Bestrafung des Lieferanten blockiert. Von der Verantwortung des Lieferanten ist auf die dem Konsumenten mittelbar verunmöglichte Selbstverwirklichung zu schließen, nicht umgekehrt (wie es leider BGHSt 32, 262 getan hat; einschränkend schon BGHSt 37, 179). Die in mittelbaren Selbstverwirklichungsverboten liegende Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers ist so groß, dass sich darin das Einwilligungsproblem weitgehend auflöst.25 Gerade weil Verfügungsfreiheit zum Rechtsgut gehört, wirkt die Begrenzung dieser Freiheit auf das Gut zurück, es existiert nur beschränkt. Setzt sich der Inhaber des Guts über die Schranken hinweg (z.B. Einwilligung in Trunkenheitsfahrt), ist nicht nur das öffentliche Interesse betroffen, sondern auch das Individualrechtsgut. Dagegen ist nach h.M. zwischen dem öffentlichen Interesse (und ihm dienenden Selbstverwirklichungsverboten) und dem Individualrechtsgut zu trennen. Die Einwilligung des Beifahrers in die Trunkenheitsfahrt soll eine prinzipiell wirksame Disposition über das Individualrechtsgut darstellen.26 3. Suizidteilnahme, Tötung auf Verlangen und Eigenhändigkeit Das Leben ist ein für den Rechtsgutsinhaber so zentral wichtiges Gut, dass der Rechtsgutsinhaber sich mit der Entscheidung für das Sterben in gleicher Weise selbst verwirklicht, wenn er das Glas mit dem vom Helfer beschafften 24 So Weber, Objektive Grenzen der strafbefreienden Einwilligung …, FS für Baumann, 1992 S. 43 ff.; vgl. auch denselben, FS für Spendel, 1992 S. 371 ff. (keine vom Betäubungsmittelrecht untersagte Selbstbestimmung, gegen BGHSt 32, 262). 25 Dass die Regelung des Alkoholverkaufs sich der Sache nach gegen den Jugendlichen richtet, dem eine Verfügung über seine Gesundheit durch Schnapskonsum verunmöglicht werden soll, liegt auf der Hand. 26 Dieses Prinzip wird dann via § 228 bei konkreter Todesgefahr relativiert, so BGHSt 53, 55 (dort Rn. 29); zu Drosselungsfällen hier Fn. 34, 40, 44.
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Gift trinkt oder dem Helfer den Arm für eine tödliche Injektion hinhält. Insofern treffen für das Leben als Rechtsgut die vorstehenden Beispiele des Schneidens der Hecke, der Schönheitsoperation etc. „erst recht“ zu. Der Gesetzgeber hat jedoch die Straflosigkeit der Suizidteilnahme im Kontrast zur strafbaren Tötung auf Verlangen auf die Differenz zwischen Täterschaft (Fremdtötung, § 216) und Teilnahme i.e.S. (Quasi-Beihilfe/Quasi-Anstiftung zur Selbsttötung) gestützt. Keine Teilnahmetheorie kann diese von anderen Rechtsgütern abweichende Rollenverteilung plausibel erklären.27 So entsteht zwischen Teilnahmelehre und Einwilligungsdoktrin ein Konflikt: Das an den Dritten gerichtete Verlangen des Rechtsgutsinhabers nach einem Eingriff in das Rechtsgut soll nicht als Selbstverwirklichung gesehen werden. Vielmehr soll eine Quasi-Anstiftung des Dritten zu der vom Dritten täterschaftlich am Quasi-Anstifter begangenen Tötung vorliegen. In vielen Publikationen wird nach dem Sinn dieser von § 216 erzwungenen Differenzierung gesucht. Meiner Ansicht nach ist die Dissonanz zwischen Einwilligung und Teilnahme kein Spezifikum der Tötung auf Verlangen, sondern des Rechtsguts „Leben“. Richten wir deshalb den Blick zunächst nicht auf das Verlangen, sondern auf die Teilnahmetheorie: Die Tötung gehört nach wohl allgemeiner Ansicht wie Körperverletzung und Sachbeschädigung zu den „reinen“ Erfolgsdelikten. Die von Verfechtern der Tatherrschaftslehre vorgetragene Kritik an der subjektiven Teilnahmetheorie knüpft an die bekannten Tötungsfälle an (Badewanne, Staschynski). Unübersehbar sind jedoch die Spannungen zwischen der Tatherrschaftslehre und der Äquivalenztheorie. Noll 28 hat dies 1981 in seinem Lehrbuch in einer Illustration (von Kaspar Fischer) verdeutlicht. Man sieht eine lange Menschenkette, in der das Kind mit dem Ziel „Badewanne“ von Hand zu Hand weitergereicht wird. So wird schon optisch die Äquivalenz deutlich: Jede Bedingung ist eine „eigenhändige“ Tötungshandlung; die Kette reisst, wenn irgendein Glied ausfällt. Der Evidenzappell, wer am Tatort anwesend sei und das Kind eigenhändig ertränke, könne doch unmöglich nur der Gehilfe einer in der Kette weiter zurück eingeordneten Person sein (die als Mutter im konkreten Fall das zentrale Interesse an der Tötung hatte), verdrängt den im Weiterreichen liegenden Tatort. Wie dem auch sei – ob Tauchen in die Wanne oder (Staschynski) Blasen des Giftpfeils – mit der besonderen Gewichtung der „letzten“ Ursache wird von der Tatherrschaftstheorie speziell bei der Tötung als Erfolgsdelikt eine emotionale Anleihe am Konzept der Eigenhändigkeit vorgenommen.29 Das ist insofern verständlich, als unter juristischen Laien die 27 Zur tatbestandsspezifischen Modifikation der Teilnahmelehre Roxin, NStZ 1987, 345, 347 f. und mit weiteren Nachweisen Arzt/Weber-Arzt, BT (wie Fn. 13) § 3 Rn. 40. 28 Jetzt Trechsel/Noll, Schweizerisches Strafrecht, AT-I, Zürich 2004 S. 211. 29 Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, 7. Aufl. 2000 S. 127 betont schon in der Überschrift zu § 18 die „eigenhändige Tatverwirklichung“ und beruft sich auf Bockelmann, „wer mit eigenen Händen Blut vergießt“.
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Vorstellung von der „eigenhändigen“ Tötung tief verwurzelt ist. Über den Apfelschuss des Wilhelm Tell 30 zeigen sich die Umstehenden zutiefst entsetzt. Strafrechtlich ist das zunächst nicht nachvollziehbar. Es ist doch ganz selbstverständlich, dass Wilhelm als „Garant“ die einzige Rettungschance für seinen Sohn Walter ergreifen muss. Warum sollte dieser Vater ein „Rasender“ sein, wenn und weil er diese Chance nutzt? Die Antwort liegt in der gefühlsmäßigen Differenz zwischen „eigenhändiger“ Tötung durch den Vater und einer (vom Vater zu verantwortenden) Tötung seines Sohnes durch fremde Hand. Auch in der Realität hat ein Vater, der sein Kind aus dem Fenster in die Tiefe werfen soll, so hohe Hemmungen zu überwinden, dass es begreiflich wird, wenn er die mit einer solchen Handlung verbundene Rettungschance auslässt und das Kind dem Tod im Feuer überlässt. Die besondere Belastung für den Vater entsteht auch hier dadurch, dass er riskieren soll, den Sohn „eigenhändig“ zu töten. – Nun zu § 216 und dem Verlangen: Wo „do it yourself“ für einen Sterbewilligen eine realistische Perspektive darstellt, mag dessen Zögern, „Hand an sich zu legen“, eine Hemmung signalisieren, deren Respektierung der Gesetzgeber legitimer Weise via § 216 erzwingen kann. Dem Dritten wird Strafe angedroht, weil er dem Rechtsgutsinhaber die Last der „eigenhändigen“ Tötung abnimmt.31 § 216 wird in der praktischen Handhabung ironischer Weise umso leichter erträglich, je mechanischer man „Tatherrschaft“ in dieser Situation konstruiert. Deshalb darf vom Formalismus der Sterbehilfe (Tatherrschaft durch Schlucken) nicht auf andere Formen der Selbstverwirklichung (Drosseln) geschlossen werden. Ob sich O von T das Dopingmittel auf die herausgestreckte Zunge träufeln lässt oder ob O dem T das Gesäß zwecks Spritze hinhält, eine Jurisprudenz, die darin einen Unterschied sieht, ist schwer vorstellbar. Mit dieser isolierten Deutung des § 216 harmoniert die gegenwärtige Diskussion des (eigentlich) rein technischen Problems, das in der Selbsttötung steckt: Anders als früher sind heute Gifte für die meisten Menschen unzugänglich geworden. Deshalb sehen sich die meisten Sterbewilligen damit konfrontiert, dass ihnen ohne Helfer kein zumutbarer „do-it-yourself“-Weg in den Tod offen steht.32 So wird der 30 Zu Tell (und eventualvorsätzlicher Tötung bei Raserunfällen im Straßenverkehr) Arzt, recht 2004, 180 ff. 31 Dazu, dass § 216 nicht mit dieser oder jener Teilnahmetheorie zu erklären ist, sondern auf die Hemmung zurückgeht, Hand an sich zu legen, Arzt, Strafrecht BT, Delikte gegen die Person, 1977 S. 70 ff. Zur weiteren Entwicklung Arzt/Weber-Arzt, BT (wie Fn. 13) § 3 Rn. 37–41 mit Nachweisen. Eingehend untersucht Murmann (wie Fn. 22) S. 348 ff. die Verbindung zwischen der allgemeinen Problematik der Selbstverantwortung und § 216 (mit berechtigten Einwänden gegen die verschiedenen Ansichten, meine nicht ausgenommen, aber auch ohne überzeugende, mit dem Gesetz harmonierende eigene Lösung, vgl. S. 360 ff., 514 ff.). 32 Wo „dem Sterbewilligen die physischen Möglichkeiten zur Realisierung seines Wunsches fehlen“, kann § 216 nicht mit „do-it-yourself“ erklärt werden; treffend Murmann (wie Fn. 22) S. 499.
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Suizid tendenziell zunehmend bei den Dispositionen eingeordnet, die dem Rechtsgutsinhaber verunmöglicht werden sollen, mittels an Dritte gerichteter Umwegverbote (Arzneimittelrecht, Betäubungsmittelrecht und de lege ferenda Verbot einer „organisierten“ Hilfe).
III. Einwilligung ins Risiko und Selbstverantwortung 1. Drei Leitlinien aus Einwilligungsdoktrin und Teilnahmelehre für Mitwirkung an Risikoverhalten a) Täter durch unsorgfältige (oder verbotene) Zulieferung zu Selbstgefährdung Gehört es zum Sinn der Einwilligung, den auf Verlangen des Rechtsgutsinhabers tätig werdenden „Angreifer“ an Vorgaben des Rechtsgutsinhabers (Sorgfalt etc.) zu binden, kann dem Rechtsgutsinhaber bei Missachtung solcher Vorgaben so gut wie immer vorgehalten werden, er hätte seinen Eingreifer unsorgfältig ausgewählt. Wer andere in seinen Rechtsgutsbereich einlädt, ist entfernt verantwortlich für die unerwünschten Schäden, die seine Gäste bei ihm anrichten – aber so lässt sich mit dem Prinzip der „Selbstverantwortung“ der Sinn der Einwilligung (nämlich Fremdverantwortung zu begründen!) nicht aushebeln. Ob Schneiden der Hecke, Schönheits- oder Blinddarmoperation, der Einwilligende setzt sich nur dem Restrisiko aus, dass trotz Anwendung der verlangten und vereinbarten pflichtgemäßen Sorgfalt etwas schief geht. In jeder Einwilligung in den Erfolg steckt das Einverständnis mit dem Restrisiko eines Misserfolgs. Zugleich entsteht für den Täter eine Pflicht zum Risiko, denn er muss um des Erfolgs willen das Restrisiko des Misserfolgs wagen. Ein Übermaß an Sorgfalt (etwa bei ärztlichem Eingriff) ist eine Form des Sorgfaltsmangels. Wie die Einwilligung in den Erfolg beruht auch die Einwilligung ins Risiko normaler Weise auf einem Verlangen des Rechtsgutsinhabers. Die Normalfälle unterscheiden sich erheblich. Meist geht es beim Spiel mit der Gefahr um legales oder illegales Vergnügen, die Gegenleistung besteht in Bezahlung. Am Tisch, an dem mit dem Instrument der Einwilligung ins Risiko das potentielle Opfer mit dem potentiellen Täter über den Interessenausgleich verhandelt, sitzt der Staat als unsichtbarer Dritter. Seine Interessen (sparsamer Umgang mit Steuergeldern, „öffentliche“ Gesundheit, Verkehrssicherheit) spielen eine ungleich größere Rolle als bei der Einwilligung in den Erfolg, dazu unten 1c. Wie bei einer Einwilligung in den Erfolg wird auch bei Zulieferungen zu riskanter Selbstgefährdung der Rechtsgutsinhaber mit den Mitwirkenden in aller Regel Sorgfalt vereinbaren. Beim Bungeejumping muss das Seil besondere Eigenschaften aufweisen; jedenfalls muss es kürzer sein als die Distanz
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zwischen der Gondel als Absprungbasis und dem betonierten Parkplatz darunter (zu lang war es im Berner Fall der Schilthornbahn). Ob man Skifahren im Tiefschnee (wie im berühmten Fall des von Willy Bogner initiierten Sportfilms) 33 „nur“ als Einwilligung in eine vom Leiter der Gruppe ausgehende Gefährdung oder als Selbstgefährdung konstruiert, ist irrelevant, wenn man sich vor Augen hält, dass der für den Film Verantwortliche (oder der Bergführer in alltäglicheren Fällen) den anderen Fahrern so oder so, d.h. auch bei Zulieferung zu Selbstgefährdung, Sorgfalt schuldet. Diese Sorgfalt wird allerdings bei ungewöhnlichem und/oder illegalem Risikoverhalten dubios. Der Einsatz des Seils lässt sich beim Bungeejumping unter dem Aspekt der Sorgfalt objektivieren. Wer sich von zwei Dirnen mit einem Seil drosseln lässt, kann wohl nicht mit einer nach Bauch- oder Rückenlage differenzierten Risikokenntnis seiner Zulieferantinnen rechnen, aber gänzlich frei von aller Sorgfalt sind die Helferinnen nicht.34 Die Qualität von Betäubungsmitteln kann nicht mit dem an Medikamente anzulegenden Maßstab gemessen werden, doch greift der strafrechtliche Schutz bei extremen Abweichungen: § 263, wenn allzu sehr gestreckt; § 222, wenn zu rein. Ob bei einer Trunkenheitsfahrt der Beifahrer vom Fahrer noch einen Rest an Sorgfalt erwarten kann, dürfte von der konkreten Situation abhängen.35 Diese Frage ist nicht mit den Konsequenzen zu verwechseln, die aus dem Verzicht auf jegliche Vorsicht zu ziehen sind, etwa Rennen „um jeden Preis“, BGHSt 53, 55 (dort N 30), dazu unten c. Nichts hindert uns, wegen ihrer Gefährlichkeit verbotene Zulieferungen zu Selbstgefährdung wie sorgfaltswidrige Zulieferungen zu behandeln. Dann bleibt der angetrunkene Fahrer für Verletzung/Tod des Beifahrers verantwortlich. b) Selbstgefährdung durch Einverständnis mit Fremdgefährdung Wo zu gemeinsamer Selbstgefährdung eingeladen wird, sich mehrere einvernehmlich dem für alle gleichen Risiko aussetzen, liegt eine quasi-mittäterschaftliche Selbstgefährdung vor. Solche Fälle sind extrem selten. Ist eine Gruppe Skifahrer in lawinengefährlichem Gelände unterwegs, kommt das der gemeinschaftlichen Selbstgefährdung dann nahe, wenn kein Führer existiert. Schon bei der gemeinsamen Fahrt auf einem Floß, die mit Kentern im Wirbel einer Staustufe endet, besteht kein für alle ziemlich gleiches tödliches Risiko. Die Beteiligten sind mehr oder weniger angetrunken, mehr oder weniger gute bzw. ausdauernde Schwimmer, mehr oder weniger erfahren mit Blick
33 BGE 91 IV 117, Lawinentod von Barbara Henneberger und Bud Werner; Bogner an der Spitze der Gruppe blieb unverletzt. 34 BGE 114 IV 100. 35 Kühl, Strafrecht AT, 6. Aufl. 2008 § 4 N 92, dort auch zum Konnex dieser Frage mit Fremd/Selbstgefährdung.
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auf das von ihnen eingegangene Risiko.36 Am Modellfall der Trunkenheitsfahrt mit Beifahrer zeigt sich diese Verwischung der Grenze zwischen einem gemeinsamen Risikoverhalten und Einverständnis des Beifahrers mit dem vom Fahrer dominierten Risiko, vgl. jetzt BGHSt 53, 55. Ob die „Selbstverantwortung“ des Beifahrers gerade darin ihren Ausdruck findet, dass er sich auf ein von ihm nicht beherrschbares Risiko einlässt, ist ein anderes Argumentationsmuster als die gemeinsame Selbstgefährdung, dazu anschließend 1c. Deutlich ist die Differenz zwischen gemeinsamen Risiken und Zulieferung zu fremden Risiken dort, wo sich der Zulieferant nicht selbst gefährdet. Der Mann, der von zwei Prostituierten jede Woche ein Mal auf sein Verlangen hin gedrosselt wird, befindet sich nicht in einer Risikogemeinschaft mit den Prostituierten. Den Bungeejumper und das Personal, das für Seil und Bahn (aus der gesprungen werden soll) zuständig ist, verbindet kein gemeinsames Risiko. Die Gemeinsamkeit des Vergnügens 37 kann wichtiges Motiv sein, sich in Gefahr zu begeben, ohne dass so eine Gefahrengemeinschaft entsteht. Angesichts des im Schrifttum fast einhellig vertretenen gegenteiligen Standpunktes 38 fällt mir das Statement schwer: Die im Einverständnis mit (oder Verlangen nach) Fremdgefährdung liegende Selbstgefährdung kann von sonstiger Mitwirkung an Selbstgefährdung nicht mit Hilfe einer Teilnahmedoktrin abgeschichtet werden. Die Abschichtung der strafbaren von strafloser Mitwirkung an fremder Selbstgefährdung kann nicht von der Teilnahmedoktrin geleistet werden. Schon die Einwilligung in den Erfolg ist (jedenfalls im Regelfall des vom „Opfer“ verlangten Eingriffs) eine Form der Mitwirkung an fremder Selbstverwirklichung.39 Deshalb changiert die Einwilligung in eine Körperverletzung von der Rechtfertigung zur Mitwirkung an Selbstverletzung, oben I1. Die Rollenaufteilung Täter/Opfer bzw. Tatbestand/Rechtfertigung dient der Absicherung der dem Täter vom Opfer auferlegten Sorgfalt. Deshalb stimmt nichts mehr, wenn man Analogien zur echten Teilnahmetheorie ziehen will.40 Die Einwilligung ins Risiko beruht (mehr als der „Tausch“ von Gütern, für den ein Markt besteht) auf einer sehr persönlichen Nutzen/Kosten-Analyse. Darin liegt eine zusätzliche Entwertung der Trennung zwischen Einwilligung in Fremdgefährdung und Selbst-
36 Zu Lawinen BGE 118 IV 130 und Fn. 33. Beim Berner Canyoning-Fall 1999 (21 Tote infolge einer durch ein Gewitter am Oberlauf des Baches ausgelösten Welle, überwiegend junge Australier, aber auch einheimische Guides) stand das Fehlen der Sorgfaltsmaßstäbe bei neuen „Extremsportarten“ im Zentrum. 37 Autosurfen, Geppert, wie Fn. 3, S. 493 zu OLG Düsseldorf, NZV 1998, 76 (und anderen törichten Mutproben). Dazu auch Roxin, AT I, 4. Aufl. 2006 § 11 N 107 und das tellähnliche Messerwerfen bei Kindhäuser, Strafrecht AT, 4. Aufl. 2009 § 12 N 61 ff. 38 Vgl. Wessels/Beulke, Strafrecht AT, 39. Aufl. 2009 Rn. 190, wo klar gesagt wird, dass eine Analogie vorliegt. 39 Vgl. oben bei Fn. 5. 40 Zum Drosseln (BGHSt 49, 166) vgl. Anm. Arzt, JZ 2005, 103.
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gefährdung41. Ob T dem O auf dessen Wunsch hin Heroin spritzt oder nur die Spritze besorgt, sollte für die Selbstverwirklichung des „Opfers“ belanglos sein, vgl. das Dopingbeispiel oben II 2 und die prägnante Formulierung von Kindhäuser 42: „Eine Person kann sich … durch das körperliche Verhalten einer anderen Person realisieren“. Wie die h.L. stützt sich zwar auch der BGH auf die Teilnahmelehre, aber mit einer ganz anderen Zielsetzung. Der BGH orientiert sich (ausgerechnet!) am Sonderfall des § 216, d.h. Abgrenzung der Selbstgefährdung von bloßer Einwilligung in Fremdgefährdung „nach den für Vorsatzdelikte zur Tatherrschaft entwickelten objektiven Kriterien“, BGHSt 53, 55 (dort N 23). Die Judikatur bedient sich der bei § 216 zu erträglichen Resultaten führenden formalistischen „Herrschaft“, um die Teilnahme an Selbstgefährdung als Fremdgefährdung zu bestrafen. Der BGH möchte (auch) so das Tor zur Selbstgefährdung, das BGHSt 32, 262 (Heroin) aufgestoßen hatte, bis auf einen kleinen Spalt wieder schließen43. c) Schranken der Einwilligung ins Risiko im öffentlichen Interesse Wo sich die Opferverantwortung aus der Einwilligungsnähe ergibt, liegt es nahe, der Einwilligung ins Risiko vergleichbare Schranken wie der Einwilligung in den Erfolg zu ziehen. Die Nichtbeachtung der Einwilligung ins Risiko unter den Voraussetzungen, die sich an §§ 228, 291 anlehnen, ist ein Weg, um dem Rechtsgutsinhaber ein unvernünftig-riskantes Verhalten (theoretisch) dort zu verunmöglichen, wo sich der Inhaber des Gutes nur mit Hilfe Dritter so riskant verhalten kann. Vielleicht muss man zur Unmöglichkeit des „do-ityourself“ noch die Fallgruppe hinzu rechnen, bei der das Risikoverhalten zwar theoretisch ohne Beteiligung anderer vorstellbar wäre, praktisch jedoch der Reiz in der Beteiligung der anderen liegt: Canyoning oder andere Extremsportarten, für die keine fassbaren Regeln existieren und illegale Mutproben. Bestraft man formell die Personen, die den Rechtsgutsinhaber auf seinen Wunsch hin riskant behandeln, oktroyiert die gegen Dritte gerichtete
41 Die gleiche Risikoeinsicht (Geppert, wie Fn. 3, S. 493) wird explizit oder implizit von vielen Autoren und in vielen Urteilen vorausgesetzt. „Übergewichtsargumente“ aus der Schweiz schon in BGE 91 IV 117, seither gefestigte Rechtsprechung; ebenso BGHSt 32, 262, 265. Als ob Kenntnis der eigenen Unkenntnis (oder Wissen um sichere oder wahrscheinliche Mehrkenntnis eines anderen Beteiligten) nicht auch Kenntnis wäre! 42 Kindhäuser, FS für Hollerbach 2001, S. 627 ff., 646 (zur speziellen Problematik bei § 216 oben I 3). 43 In der Schweiz hat BGE 125 IV 189 (dazu Arzt, recht 2000, 114) durch Anerkennung der Selbstgefährdung bei straßenverkehrsrechtlichem Leichtsinn einen Dammbruch bewirkt. BGHSt 53, 55 (dort N 23) weist zwar auf dieses Urteil hin, doch erscheint mir sehr fraglich, ob das Ziehen eines Zweirades durch ein anderes Zweirad dem Ziehenden oder dem, der sich festhält und so ziehen lässt (oder beiden), die „Herrschaft“ über das Gesamtgeschehen verschafft; vgl. noch BGE 131 IV 1 (AIDS).
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Strafdrohung dem Rechtsgutsinhaber einen ihm unerwünschten Schutz. Bei unvernünftigen Risiken für Leib und Leben ist das öffentliche Interesse nicht nur auf die Gesundheit zu beziehen, sondern auch auf die Freiheitsverluste der Bürger, die mit ihren Steuern (d.h. mit Freiheitsverlusten, oben I) für mittelbare Krankheitsfolgen unvernünftiger Mitbürger aufkommen müssen. Das dürfte einer der Gründe dafür sein, dass die Ansichten darüber, gegen welche Risiken der Rechtsgutsinhaber gegen seinen Willen geschützt werden soll, oft auseinander gehen. Entgegen der vorstehend II 2 vertretenen Ansicht, dass die Missachtung einer im öffentlichen Interesse angeordneten Verfügungsbeschränkung einen Angriff (auch) auf das Individualrechtsgut darstellt, sucht der BGH die Lösung über § 228.44 Wenn wir dem Rechtsgutsinhaber eine Disposition im öffentlichen Interesse (theoretisch) verunmöglichen, bleibt die Frage, ob so auch praktisch etwas für den Rechtsgüterschutz gewonnen wird. So führt die Einwilligungsdoktrin zurück auf die Grundfrage allen (Vorsatz-)Strafrechts: Die Vorsatztat erscheint insofern als Selbstgefährdung des Täters, als er das von seiner Überführung abhängige Risiko „Strafe“ bewusst eingegangen ist.45 In meiner ATVorlesung habe ich gelegentlich meine Hörerinnen und Hörer gebeten, sich eine Skisaison vorzustellen, in der (1) für die Pistenpolizei totale Transparenz bezüglich aller Täter besteht, die das wegen Lawinengefahr verhängte Fahrverbot missachten; (2) die Missachtung des Verbots mit harter Strafe bedroht wird (nehmen wir um der Dramatik des Spiels willen an, mit der Todesstrafe); (3) angesichts der Vorbehalte gegenüber der Todesstrafe und aus Respekt gegenüber dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit nur 20 (oder 100) durch Los zu bestimmende Delinquenten am Tag des Saisonendes hingerichtet werden; alle anderen werden begnadigt. – Der emotionale Widerstand im Auditorium gegen die doch lächerlich exzessive Sanktion und (was mich verwundert hat) auch gegen die Auswahl der zu Exekutierenden per Los war groß. Die ersten, die sich auf das Spiel eingelassen haben, haben meine Frage, ob sie unter solchen Bedingungen das Befahren einer gesperrten Piste riskieren würden, mit Gelächter oder Horror verneint; sie würden das unter sol-
44 Fälle verlangter lebensgefährlicher Drosselung (mit tödlichem Ausgang) sind in der Schweiz und in Deutschland im Ergebnis übereinstimmend als fahrlässige Tötung angesehen worden, Fn. 34, 40. § 228 dehnt die speziellen, im öffentlichen Interesse verhängten Verfügungsbeschränkungen (Drogen etc.) durch eine Generalklausel auf grobe Unvernunft aus. Umgekehrt der BGH: Bei Dispositionen, die wegen ihrer spezifischen Unvernunft dem Rechtsgutsinhaber verunmöglicht werden sollen, soll eine Verletzung des Individualrechtsguts erst anzunehmen sein, wenn die § 228-Schwelle überschritten wird. 45 Ich übergehe dogmatische Feinheiten, etwa dass die Vorsatztat kein Strafbarkeitsbewusstsein erfordert. Eines der letzten Urteile, das explizit mit der Zustimmung des potentiellen Täters im Gesellschaftsvertrag zu seiner Bestrafung argumentiert, betrifft die Fahrerflucht (hit and run): Mit dem Führerschein habe der Fahrer seine Selbstbelastungspflicht (Warten am Unfallort) akzeptiert, California v. Byers 402 U.S. 424 (1971).
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chen Umständen nie und nimmer tun, das sei doch selbstverständlich. Der Reiz eines großen Auditoriums liegt darin, dass irgendwann irgendwo Unruhe entsteht, weil einige ahnen, dass ich einfach die Realität beschrieben hatte und nur die real durch eine höhere Gewalt getroffene Auswahl der mit dem Tod zu Bestrafenden spielerisch auf die irdische Justiz verlagert (und auf den Tag des Saisonendes konzentriert) hatte.46 Die im Auditorium spürbaren Bedenken bezüglich des Datenschutzes und des Dunkelfeldes sind für den Allwissenden irrelevant. Als Strafrechtler konnte ich die Fragen nach der Verhältnismäßigkeit und dem „Los“ als an die höhere Gewalt gerichtet im Raum stehen lassen. – Vom Spiel zur Realität: In der Schweiz haben im vergangenen Jahrzehnt Raser(un)fälle im Straßenverkehr zu einer systematisch gewordenen Verfolgung wegen vorsätzlicher Tötung geführt.47 Justiert man im Sachverhalt, den BGHSt 53, 55 beurteilt hat, die feinen Schräubchen, von denen der Übergang zum dolus eventualis abhängt, nach schweizerischem Vorbild, bis bei allen vier Beteiligten in den zwei am Rennen beteiligten Fahrzeugen die Inkaufnahme der Tötung zu bejahen ist, sind die vier eventualvorsätzlich zu ihrem Suizid unterwegs (oder zwei Fahrer zu ihrem Suizid und der von ihren Beifahrern eventualvorsätzlich verlangten Tötung etc.). Verändert man nur beim Beifahrer (B) des nicht verunglückten Autos die Feineinstellung in Richtung Vorsatz, avanciert B zum Alleintäter einer vorsätzlichen vollendeten Tötung des Beifahrers im Unfallauto (plus Versuch bezüglich beider Fahrer und der Insassen des überholten Pkw). Solche minimen Veränderungen im subjektiven Bereich mit ihren weittragenden Konsequenzen zeigen, dass die stärkere „Herrschaft“ dessen, der am Steuer sitzt, kaum als Schlüssel für die Abgrenzung der Verantwortung geeignet ist. Mein Spiel, die Realität der Raserfälle und die sonstigen Fälle grob unvernünftigen Risikoverhaltens legen den Schluss nahe, dass angesichts des hohen Risikos für Leib und Leben, das der Täter (bzw. das Opfer!) eingeht, von dem bischen Mehr an Risiko, das in der Strafdrohung liegt, keine präventive Wirkung erwartet werden kann. Darin liegt der Schwachpunkt aller Vorschläge, bei unvernünftiger Einwilligung in Risiken die Rechtfertigung48 zu versagen.
46 Statistisches Jahrbuch der Schweiz 1999 S. 71 nennt für die Saison 1997/1998 24 Lawinentote; zwischen 1950 und 2000 schwankt die Zahl der Opfer zwischen maximal knapp 100 und minimal etwa 15 (ebenda, Angaben bis 1999). Es versteht sich, dass nicht alle Opfer als Skifahrer im gesperrten Gelände unterwegs waren. 47 Besprechung des ersten höchstrichterlichen Entscheids, der die Verurteilung wegen vorsätzlicher Tötung gebilligt hat, bei Arzt, recht 2004, 180 (im Kontext mit Tell). Zu späteren Urteilen und neueren literarischen Stellungnahmen Trechsel/Jean-Richard, Schweizerisches StGB, 2008, Art. 12 N 15 und Vest/J. Weber ZStrR 127 (2009) 443. 48 Wer Rechtfertigung versagen will, muss auch Tatbestandsausschluss via Selbstgefährdung ablehnen, oben III 1b.
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2. Fazit a) Verdrängung der Einwilligungslehre durch anspruchsvollere Prinzipien (Opferselbstverantwortung, Zurechnung, Billigkeit) Bei der Einwilligung in den tatbestandlichen Erfolg halte ich eine dogmatisch konsequente und rechtspolitisch befriedigende Lösung der verschiedenen Fallgruppen für erreicht oder für erreichbar, wenn man vom Verlangen ausgeht. Aus den letzten 40 Jahren stehen mir weder aus Deutschland noch aus der Schweiz Urteile vor Augen, die sich gegen die vorstehend I skizzierte Einwilligungskonzeption ins Feld führen ließen. Dass die Diskussion anhält, dürfte nicht mit der „klassischen“ Einwilligung in den Erfolg, sondern mit der Einwilligung ins Risiko zusammen hängen. Dort sind nicht nur die theoretischen Grundlagen kontrovers, sondern auch die praktischen Resultate. Vorstehend III 1 habe ich die aus der Einwilligung in den Erfolg ableitbaren Leitlinien zur Einwilligung ins Risiko skizziert. Das Resultat ist sehr bescheiden. Die Fälle gemeinsamer Selbstgefährdung (vorstehend III 1b) sind selten; die Verantwortung bei unsorgfältigen Zulieferungen zu fremder Selbstgefährdung ist banal (vorstehend III 1a) und wird erst interessant (aber zugleich unsicher), wo die Hilfe illegal ist (Drogen, Raser, Trunkenheit etc.). Die auf das öffentliche Interesse gestützten Schranken der Rechtfertigungswirkung der Mitwirkung am Risikoverhalten (vorstehend III 1c) sind zwar praktisch von großer Bedeutung, aber, wie dargelegt, mit großen Bewertungsspielräumen belastet. Es kommt hinzu, dass das sekundäre Bestrafungsrisiko angesichts der von den Beteiligten eingegangenen primären Risiken kaum ins Gewicht fällt. Im Kontrast zu den hier skizzierten bescheidenen Konsequenzen, die sich aus der Einwilligung in den Erfolg für die Einwilligung ins Risiko ergeben, operiert die herrschend gewordene Lehre mit einem Erst-Recht-Schluss von enormer Tragweite. Roxin 49 folgert aus der Straflosigkeit der Hilfe bei der Herbeiführung des Suizids als Erfolgs die Straflosigkeit der Unterstützung bei Risiken, also bei nur lebensgefährlichem Verhalten. Das überzeugt insofern, als der Tod als „Erfolg“ unbestreitbar mehr ist als ein bloßes Risiko für das Leben. Was mir nicht einleuchtet, ist der gleichzeitige Schluss, eine für Vernunft gültige Regel müsse erst recht für Unvernunft gelten. Beim Suizid (und generell bei Einwilligung in den Erfolg) geht es typischerweise um
49 Roxin, AT I (wie Fn. 37) § 11 N 107. Das Argument hat großen Anklang gefunden, vgl. Beulke, Klausurenkurs im Strafrecht III, 3. Aufl. 2009 N 342. Beulke wirft incidenter die Frage auf, ob der Erst-Recht-Schluss von vorsätzlicher Teilnahme am Erfolg (Suizid) auf vorsätzliche Mitwirkung an fremder Lebensgefährdung weiter auf fahrlässige Mitwirkung auszudehnen ist. Leiht T dem O sein Auto mit abgefahrenen Reifen, ist dann die Selbstverantwortung des O höher oder weniger hoch, wenn er und T oder wenn nur O, nicht aber T, den Zustand des Autos bemerkt?
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Gewissheit des Verlusts und schon deshalb um eine Entscheidung des Gutsinhabers, die wohl erwogen und mindestens in diesem Sinne vernünftig ist. Dieses Kalkül des Rechtsgutsinhabers unterscheidet sich stark vom Eingehen unvernünftiger, oft explizit verbotener Risiken, auf deren Nichtverwirklichung der Betroffene hofft und zu denen ein Dritter auf sein Verlangen hin beiträgt. Nur für unvernünftige Risiken wird die Verkehrung der Einwilligung von einem (angesichts der Unvernunft nicht gegebenen) Rechtfertigungsgrund hin zu einer (auch bei Unvernunft) tatbestandsausschließenden Mitwirkung an Selbstgefährdung relevant.50 Die bei Einwilligung ins Risiko und Selbstgefährdung entstandene Kakaphonie führe ich darauf zurück, dass das ganz große Prinzip der Opferverantwortung seine eigene Ausprägung in Form der Einwilligung überlagert. Von einem „Prinzip“ versprechen wir uns eine in sich konsequente Interessenbewertung. Damit ist der Pragmatismus (ebenfalls „prinzipiell“) unvereinbar, mit dem wir die knappen Ressourcen des Kriminalitätskontrollsystems einsetzen. Der Gesetzgeber kann achselzuckend schon auf der Ebene der Tatbestandsbildung vor Beweisproblemen kapitulieren. Die Straflosigkeit der sexuellen Überlistung ist verglichen mit der Verfolgung der List im Geschäftsverkehr unbegreiflich, wenn man sie von großen Prinzipien wie Menschenwürde etc. aus betrachtet.51 Der Gesetzgeber kann potentiellen Opfern angesichts nahe liegender Selbstschutzmaßnahmen den Einsatz der mit dem Kriminalitätskontrollsystem bereit gestellten öffentlichen Mittel verweigern. Man kann den Diebstahl in Geschäften mit Selbstbedienung zivilrechtlichen Sanktionen überlassen. Man kann (wie es der schweizerische Gesetzgeber getan hat)52 Kreditkartenmissbrauch straffrei stellen, wenn der Kartenherausgeber sein System ungenügend gesichert hat. Man kann dem geprellten Gastwirt den strafrechtlichen Schutz des Betrugs mit dem Argument versagen, er solle endlich sein altmodisches System der Vorleistung aufgeben. Vielleicht kann der Gesetzgeber sogar eine neue Kategorie des 50 Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, 1997 S. 214 ff. leitet dasselbe Argument aus einem prinzipiellen Unterschied des sozialen Kontakts bei Erfolgs-Einwilligung im Vergleich mit Risiko-Einwilligung ab. Ich sehe nur eine graduelle Differenz, die erst drastisch wird, wenn man vernünftige Erfolgs-Einwilligung mit unvernünftiger Risiko-Einwilligung vergleicht. – Beispiel: Theoretisch würde O am liebsten gratis von einem nüchternen Fahrer heimgebracht werden, von dem sie unterwegs keine sexuellen Zudringlichkeiten befürchten muss. Praktisch kann sie wählen zwischen A (Taxi, € 50); B (angetrunken); C (der beim letzten Mal zudringlich geworden ist). Der soziale Kontakt ändert sich nicht. Die eigentliche Sprengkraft der Argumentation von Sternberg-Lieben entsteht erst durch ihre Kombination mit der Teilnahmetheorie (Selbstgefährdung), S/S (Schönke/Schröder, StGB, 28. Aufl. 2010)-Lenckner/Sternberg-Lieben N 107 vor §§ 32 ff. 51 Vgl. Fn. 7. 52 Durch die objektive Straflosigkeitsbedingung in Art. 148 StGB.
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„Opfertäters“ schaffen, wie es in der Schweiz geschehen ist, wo eine juristische Person bestraft wird, wenn sie Opfer einer Straftat geworden ist. Meiner Überzeugung nach ist die Opferrolle nicht nur bei der Strafzumessung heranzuziehen,53 sondern zur Feinjustierung im ganzen System des AT, BT und Prozessrechts. Wenn man von „oben“, d.h. von großen Prinzipien wie Menschenwürde, Selbstverantwortung, objektiver Zurechnung etc. ausgeht, können für diese Arbeit auf unteren Stufen des Systems Anregungen entstehen. Schon angesichts des Pragmatismus des Gesetzgebers halte ich jedoch eine „große“ Lösung der Opferselbstverantwortung für unerreichbar. Mit entsprechenden Bemühungen laden wir uns nur das Joch der Verfassungsjustiz auf, die versucht sein könnte, uns irgendeine Lösung z.B. der Trunkenheitsfahrt mit Beifahrer aus Art. 1 GG in Verbindung mit Art. 2 GG zu oktroyieren. Vielleicht haben meine Bemühungen um typische Fallgruppen beim Betrug zu dieser Skepsis beigetragen. Wenn dort dem Opfer zu Entsagung in besonnener Selbstbehauptung geraten wird, sollte man bei diesem Rat vielleicht auch an den Täter denken. Entgegen dem Dictum des BGH zu § 263 ist es oft Aufgabe des Strafrechts, „sorglose Menschen gegen die Folgen ihrer eigenen Sorglosigkeit zu schützen“54. b) Retterfälle: Musterhafte Rechtsunsicherheit Wie die aus der Einwilligung in den Erfolg zu ziehenden (wenigen!) Konsequenzen für Risikoverhalten durch den Griff nach ganz großen Prinzipien weggeschwemmt werden, zeigt der Lehrbuchfall vom Einbrecher, der seine Tat im Dunkeln ausführen möchte und im Keller die Sicherung herausschraubt. Er soll für den Sturz und dessen Folgen (von Körperverletzung bis Tod) des durch Geräusche wach gewordenen Hausherrn nicht verantwortlich sein.55 Meiner Meinung nach liegt auf der Hand, dass der Hauseigentümer O, der den Elektriker T mit der Reparatur des Lichts im Keller beauftragt, die Treppe nicht selbstverantwortlich hinunterfällt, wenn der Elektriker gepfuscht hat und O im Dunkeln Bier holen geht. Wenn unser komplexes System dem Elektriker keine Entlastung gewährt, möchte ich nicht am Eingang in eben dieses System danach fragen, ob billigerweise dem Opfer seine Mitverantwortung als Selbstverantwortung vorzuhalten ist und ob allenfalls eine grundsätzlich ganz andere Lösung herauskommt, wenn wegen des Pfuschs das Licht auf halber Treppe abwärts (oder aufwärts, Unter53 Zur weitgehenden Reduktion auf Strafzumessung durch Hillenkamp, Vorsatztat und Opferverhalten, 1981 vgl. Arzt, (wie Fn. 14). 54 BGHSt 47, 1, 4; vgl. Arzt/Weber-Arzt, BT (wie Fn. 13) § 20 Rn. 49a. 55 Angesichts der Selbstgefährlichkeit des Herumtappens im Dunkeln hat Wessels den Studierenden diese Lösung als evident offeriert. Meiner Ansicht nach illustriert das Beispiel die Beliebigkeit des Übergangs von Fremdgefährdung zu Selbstgefährdung, vgl. Arzt, Strafrechtsklausur (wie Fn. 18) S. 114 f. (auch zur Eliminierung des Beispiels).
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schied?) erlischt. – Hat nicht der vom Opfer beauftragte Elektriker den Stromausfall herbeigeführt, sondern hat irgendein Dritter die Beleuchtung sabotiert, besteht erst recht kein Anlass, die Verantwortung vom Saboteur auf das Opfer der Sabotage zu überwälzen. Bei den intensiv erörterten Retterfällen 56 werden Differenzierungen nach Freiwilligen und Hilfspflichtigen vorgeschlagen (die bei Zwischenformen – vgl. § 323c – noch verfeinert werden); bei Hilfspflichtigen denken wir über Unterschiede zwischen deren mäßigem und übermäßigem Mut nach. Vielleicht kommt es darauf an, ob der Retter relativ einfühlbare oder ziemlich törichte Fehler bei der Lagebeurteilung gemacht hat (noch Menschen im brennenden Haus?). Kritiker an BGHSt 17, 359 (Heidelberger Pocken) möchten dem Täter Schäden der für das leibliche Wohl des primären Opfers besorgten (und dabei verletzten oder getöteten) Helfer vielleicht zurechnen, nicht aber vergleichbare Schäden eines für das Seelenheil des Primäropfers zuständigen Freiwilligen.57 Beweisüberlegungen sind in diesem Zusammenhang ein eigenes (vernachlässigtes) Thema. Angenommen, der Täter sei für eine törichte Fehleinschätzung eines Opferhelfers nicht verantwortlich, soll ihn dann eine sehr wahrscheinlich nicht gegebene Torheit des Opferhelfers entlasten? 58 In meinem einleitenden Satz habe ich auf die entmutigende Fülle der Stellungnahmen hingewiesen, auch um den Leser auf die Kargheit meiner Belege vorzubereiten. Am Ende muss ich mich der Frage stellen, warum ich die Fülle gesteigert habe. Die Antwort sollte sich implizit aus dem Beitrag ergeben. Am Schluss möchte ich meine Antwort als Reduktion der Komplexität explizit so zusammenfassen: Aus dem prinzipiellen Unterschied zwischen Fremd- und Selbstgefährdung lässt sich die Lösung von Alltagsfällen (Beifahrer, Heroin, Retter) nicht ableiten; anders eine herrschend gewordene Lehre. Die (von mir im Ergebnis geteilte) Ansicht von Geppert 59 (im Kontext von BGHSt 39, 322), die Entlastung des Täters in bestimmten Retterfällen sei keine „gerechte Zurechnungslösung“, macht das Ausmaß der von dieser h.L. geschaffenen Rechtsunsicherheit deutlich. Die weit fortgeschrittene deutsche Dogmatik fragt am Eingangstor in ihr System, ob es gerechter, verhältnismäßiger oder billiger ist, dem Täter oder dem Opfer die Verantwortung für das Geschehen zuzuschreiben. Dabei wissen die Kontrahenten, dass die komplexen späteren Stadien des Systems keine Korrektur einer am Eingang provisorisch zum Nachteil des Täters getroffenen Entscheidung mehr erlau-
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Geppert, wie Fn. 3 S. 490, 494 f. Roxin,AT I (wie Fn. 37) § 11 N 109–139 diskutiert die oben im Text angedeuteten (und weitere) Differenzierungen, mit Nachweisen zum außerordentlich kontroversen Meinungsstand. Bei Kühl, AT (wie Fn. 35) § 4 N 86 ff., 96 werden durch Aufnahme kurzer wörtlicher Zitate die vielen Verzweigungen der Argumentationen deutlich. 58 Arzt, GS für Schlüchter, 2002 S. 163 ff., 170. 59 Wie Fn. 3 S. 495. 57
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ben. Früher hatten wir eine Art Notbremse: Am Ende des dogmatischen Hürdenlaufs, der den Schutz gegen gefühlsmäßige Kurzschlüsse gewährleisten soll, haben wir die Frage nach einer den Beschuldigten belastenden groben Unbilligkeit des Resultats aufgeworfen. Der Vorzeichenwechsel von ausnahmsweiser Nichtzurechnung trotz Kausalität (Inadäquanz) hin zur Regel, die als objektive Zurechnung ausgedrückt wird, hat die Rechtssicherheit zerstört. Was hat es eigentlich gebracht? Im BT hustet der Gesetzgeber kurz, und die Selbstverantwortung ist weggeblasen (Geldwäsche, Bestechung).
Der „Compliance Officer“ als Aufsichtsgarant? Überlegungen zu einer neuen Erscheinungsform der Geschäftsherrenhaftung* Werner Beulke
Kein anderes Thema beherrschte das Wirtschaftsstrafrecht in den vergangenen fünf Jahren so sehr wie die so genannte „Compliance“, das heißt die institutionalisierte Überwachung regelkonformen Verhaltens in Unternehmen. Wer als Vorstand oder Geschäftsführer etwas auf sich hält, der sollte in seinem Unternehmen schleunigst eine Compliance-Abteilung oder doch zumindest einen „Compliance Officer“ installieren, so der Tenor zahlreicher Vorträge und Veröffentlichungen vorwiegend von Kollegen aus der Anwaltschaft. Schulungen und Kongresse werden zu diesem Themenkreis angeboten, Bücher empfehlen den zweckmäßigen Aufbau von Compliance-Strukturen und Fachzeitschriften informieren regelmäßig über die neuesten Erkenntnisse und Trends in diesem Bereich. Unternehmen, deren Strukturen von dieser Entwicklung noch unberührt sind, erscheinen nicht nur als hoffnungslos veraltet; teils wird sogar angedeutet, sie stünden schon allein deswegen im Verdacht, es mit den Gesetzen nicht so genau zu nehmen.1 Dabei sollte nicht in Vergessenheit geraten, dass die Beachtung rechtlicher Vorgaben (nichts anderes heißt „Compliance“ in wörtlicher Übersetzung) eine selbstverständliche Pflicht jedes Unternehmers ist, so dass es jedenfalls auf den ersten Blick ein wenig überrascht, dass die Begründung besonderer Zuständigkeiten in diesem Sektor oder die Beschäftigung von Angestellten mit speziell diesem Aufgabenkreis heute vielfach als unerlässlich erachtet wird. Dort wo Compliance-Beauftragte vorhanden sind, machen sie sich häufig – gewissermaßen zum Nachweis ihrer Existenzberechtigung – mit großem * Für die Mithilfe bei der Erstellung dieses Beitrags danke ich meinem wissenschaftlichen Mitarbeiter Dr. Tobias Witzigmann. 1 Allein die Nichtexistenz von Compliance-Strukturen (sog. „Willful Blindness“) kann nach Ansicht einiger eine Haftung nach § 130 OWiG begründen, vgl. Schemmel/KirchHeim, CCZ 2009, 96 ff.; vert. zum Thema (Criminal) Compliance: Görling/Inderst/Bannenberg, Compliance, 2010; Hauschka, Corporate Compliance, 2. Aufl. 2010; ders., AnwBl. 2010, 629; Moosmayer, Compliance, 2010; ders., AnwBl. 2010, 634; Rotsch, ZIS 2010, 614; Schemmel/Ruhmannseder, AnwBl. 2010, 650; Sieber, Compliance-Programme im Unternehmensstrafrecht. Ein neues Konzept zur Kontrolle von Wirtschaftskriminalität, in: FSTiedemann (2008), S. 449.
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Fleiß daran, mutmaßliche Schmiergeldsümpfe trockenzulegen oder Defizite im System der Spesenabrechnung zu offenbaren, die der Staatsanwaltschaft ansonsten wohl ebenso wenig zur Kenntnis gelangt wären wie zuvor den Vorgesetzten. Andererseits lässt sich nicht leugnen, dass professionelle Compliance nicht nur dem Ansehen eines Unternehmens dient, sondern auch in dessen unmittelbarem wirtschaftlichen Interesse liegt, denn nicht selten kann auf diese Weise schädlichen Entwicklungen in einem frühen Stadium Einhalt geboten werden, und „in casu belli“ sind die Strafverfolgungsorgane ungleich gesprächsbereiter, wenn ihnen mit Compliance-Beauftragten kompetente und kooperative Ansprechpartner zur Verfügung stehen. Die vorangestellten Denkanstöße sollen daher keinesfalls als Ablehnung von Compliance-Strukturen gedeutet werden, sondern lediglich der hier und da zu beobachtenden Euphorie um das vermeintliche Wundermittel gegen Haftungsrisiken ein wenig Wind aus den Segeln nehmen. Unabhängig davon, inwiefern der in den letzten Jahren zu beobachtende, scheinbar unaufhaltsame Siegeszug der Compliance gerechtfertigt ist, drängt sich angesichts der geschilderten Entwicklung vehement die Frage nach dem strafrechtlichen Haftungsrisiko von Compliance-Officern auf:
I. Die Verantwortlichkeit des Compliance-Officers als Frage der Geschäftsherrenhaftung Compliance-Officer befinden sich bei ihrer Arbeit in einem steten Spannungsfeld: Auf der einen Seite ist es ihre Kernaufgabe, Gesetzesverstöße aus der Sphäre des Unternehmens zu verhindern; auf der anderen Seite sind und bleiben sie Angestellte eben dieses Unternehmens und sind primär dessen Interessen – vor allem auch dem Image in der Öffentlichkeit – verpflichtet. Erschwerend kommt hinzu, dass Compliance-Beauftragte Ansprechpartner aller Angestellten sein sollen, jedoch leicht in die Rolle des „Verräters“ geraten, wenn sie Missstände tatsächlich angehen. Gerade für konkrete Problemfälle greifen Unternehmen deshalb gerne auf externe Beratung durch erfahrene Strafverteidiger zurück, die unvoreingenommen und vor allem unerschrockener agieren können als eine betriebszugehörige Person. Für angestellte Compliance-Officer und mit entsprechenden Aufgaben betraute Externe stellt sich bei ihrer Arbeit gleichermaßen die Frage, welche Folgen eigenes Fehlverhalten haben kann: Können sie als Gehilfe oder gar als Unterlassungstäter belangt werden, wenn sie – sei es aus falsch verstandener Kollegialität oder schlicht aus Angst vor den (Image-)Folgen für das Unternehmen – gegen betriebsbezogene Rechtsverstöße nicht einschreiten? Ist möglicherweise danach zu differenzieren, ob jemand die Compliance-Auf-
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gabe lediglich als Zusatz zu seiner eigentlichen betrieblichen Tätigkeit (etwa als Personalleiter) übernommen hat oder er hauptberuflicher ComplianceOfficer ist? Muss, wer als Garant haften soll, weisungsbefugt gegenüber den Aktivtätern gewesen sein? Im Kern sind diese Fragen nichts anderes als Konjugationen des seit langem schwelenden Streits um die strafrechtliche Geschäftsherrenhaftung, denn nur dort, wo Handlungspflichten zumindest auf Ebene der Unternehmensleitung bestehen, können sie auch Compliance Officer treffen. Ob und ggf. in welchem Umfang ein betrieblich Vorgesetzter Aufsichtsgarant ist und als solcher für die Taten Untergebener strafrechtlich haftet, darüber konnte auch nach mittlerweile 40 Jahren2 lebhafter Diskussion bislang keine Einigkeit erzielt werden. Zwar wird im Schrifttum eine derartige Verantwortlichkeit Vorgesetzter wohl überwiegend bejaht,3 gleichwohl gibt es auch gute Gründe, sie jedenfalls de lege lata abzulehnen.4 Die Rechtsprechung äußerte sich zur Geschäftsherrenhaftung auf Jahrzehnte hinweg so gut wie gar nicht, was primär der Existenz und leichten Handhabbarkeit des § 130 OWiG geschuldet sein dürfte.5 Soweit sich überhaupt Urteile finden, befassen sie sich allesamt nur mit Randfragen der Vorgesetztenverantwortlichkeit wie etwa der Haftung aus Ingerenz bei Schaffung gefährlicher Betriebsabläufe oder der Verantwortlichkeit reiner „Papier-Geschäftsführer“, lassen die Kernfragen aber unbeantwortet.6
2 Soweit ersichtlich, beschäftigte sich Schünemann in seiner Dissertation „Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte“ aus dem Jahre 1971 als Erster eingehend mit der Thematik. 3 Bottke, Haftung aus Nichtverhütung von Straftaten Untergebener de lege lata (1994); Fischer, StGB, 57. Aufl. 2010, § 13 Rn. 38; Roxin, Strafrecht AT II (2003), § 32 Rn. 134 ff.; Rogall, ZStW 98 (1986), S. 573 (613 ff.); Rönnau/Schneider, ZIP 2010, 53 (56); Schall, Grund und Grenzen der strafrechtlichen Geschäftsherrenhaftung, in: FS-Rudolphi (2004), S. 268 ff.; Schünemann, wistra 1982, 41 ff.; NK-Wohlers, 3. Aufl. 2010, § 13 Rn. 51 ff.; differenzierend Bosch, Organisationsverschulden in Unternehmen (2002), S. 216 ff., der entscheidend auf das Merkmal der pflichtwidrigen Gestaltung des eigenen Organisationsbereichs abstellen will; vgl. auch Wittig, Wirtschaftsstrafrecht (2010), 2. Kap. Rn. 56 ff. 4 Heine, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Unternehmen (1995), S. 108 ff.; Hsü, Garantenstellung des Betriebsinhabers zur Verhinderung strafbarer Handlungen seiner Angestellten? (1986); Kirchner, Die Unterlassungshaftung bei rechtmäßigem Vorverhalten im Umweltstrafrecht (2003), S. 153 ff.; Langkeit, Garantenpflicht der Mitglieder des Holding-Vorstandes auf Unterbindung von Straftaten der Geschäftsführer von Tochtergesellschaften?, in: FS-Otto (2007), S. 649 ff.; Otto, Jura 1998, 409 (413); SK-Rudolphi/Stein, 119. Lfg., § 13 Rn. 35a; Spring, Die strafrechtliche Geschäftsherrenhaftung (2009); LK-Weigend, 12. Aufl. 2007, § 13 Rn. 56; Wessels/Beulke, Strafrecht AT, 40. Aufl. 2010, Rn. 724. 5 Vert. Schünemann, Unternehmenskriminalität und Strafrecht (1979), S. 111; Spring (Fn. 4), S. 34. 6 Vgl. etwa BGH NStZ 1997, 545 und LG Nürnberg-Fürth NJW 2006, 1824; krit. zum Fehlen richtungsweisender Rechtsprechung auch Roxin, AT II (Fn. 3), § 32 Rn. 134.
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1. BGHSt 54, 44 (Berliner Stadtreinigung): Geschäftsherrenhaftung durch Übernahme einer betrieblichen Funktion? Umso interessanter sind die Aussagen des BGH in seinem Urteil zu den Berliner Stadtreinigungsbetrieben, welches (als obiter dictum7) erste Leitlinien zur Garantenstellung von Compliance-Beauftragten und allgemein zur Geschäftsherrenhaftung enthält.8 Sie lassen sich dahingehend zusammenfassen, dass im betrieblichen Leben derjenige Aufsichtsgarant i.S.d. § 13 Abs. 1 StGB und somit zur Abwehr rechtswidriger Taten Dritter verpflichtet ist, der einen entsprechenden Pflichtenkreis übernommen hat, also im Unternehmen gerade die Aufgabe innehat, das Handeln anderer zu kontrollieren. In diesen Fällen entstehe eine „Sonderverantwortlichkeit“ für die Integrität des übernommenen Verantwortungsbereichs.9 Inhalt und Umfang der Garantenpflicht sollen sich nach dem konkreten Pflichtenkreis bestimmen, den der Verantwortliche übernommen hat. Erschöpft sich die Pflichtenstellung des Beauftragten allein darin, die unternehmensinternen Prozesse zu optimieren und gegen das Unternehmen gerichtete Pflichtverstöße aufzudecken und zukünftig zu verhindern, soll er nach Ansicht des BGH regelmäßig nicht als Aufsichtsgarant haften. Kommen ihm hingegen weitergehende Pflichten dergestalt zu, dass er auch vom Unternehmen ausgehende Rechtsverstöße zu beanstanden und zu unterbinden hat, so müsse er sich daran auch strafrechtlich festhalten lassen.10 Bereits die Formulierungen des BGH machen deutlich, dass er eine Garantenstellung gerade für Compliance Officer festschreiben wollte; seine vordergründig dogmatisch begründeten Maßstäbe sind nichts anderes als die Umschreibung des Aufgabenbereichs betrieblicher Compliance. Wenig verwunderlich ist es daher, wenn der BGH selbst wenige Zeilen nach Nennung seiner eigenen Maßstäbe feststellt, Compliance-Officer treffe hiernach „regelmäßig“ eine Straftatenverhinderungspflicht.11 Andere Personen sollen nur ausnahmsweise, unter besonderen Umständen zum Aufsichtsgaranten werden, etwa wenn das betroffene Unternehmen eine Anstalt des öffentlichen Rechts ist und die nicht verhinderte Tat sich auf den hoheitlichen Bereich bezieht. In derlei Fällen sei eine Haftung gerechtfertigt, da bei einer Anstalt des öffentlichen Rechts der „Gesetzesvollzug das eigentliche Kernstück ihrer 7 Kritisch zu diesem Instrumentarium, das sich bedauerlicherweise offenbar wachsender Beliebtheit erfreut: Beulke/Witzigmann, JR 2008, 426 (432) m.w.N. 8 BGHSt 54, 44 mit Anm. Berndt, StV 2009, 689; Campos Nave/Vogel, BB 2009, 2546; Dannecker/Dannecker, JZ 2010, 981; Frisch, EWiR 2010, 95; Grau/Blechschmidt, DB 2009, 2145; Jahn, JuS 2009, 1142; Kraft, wistra 2010, 81; Kretschmer, JR 2009, 474; Michalke, AnwBl. 2010, 666; Mosbacher/Dierlamm, NStZ 2010, 268; Ransiek, AG 2010, 147; Rönnau/Schneider, ZIP 2010, 53; Rotsch, ZJS 2009, 712; Rübenstahl, NZG 2009, 1341; Spring, GA 2010, 222; Stoffers, NJW 2009, 3176; Warneke, NStZ 2010, 312; Wybitul, BB 2009, 2263 u. 2590 s.a. Wessels/Beulke, AT (Fn. 4), Rn. 724. 9 BGHSt 54, 44 (48). 10 BGHSt 54, 44 (49). 11 BGHSt 54, 44 (50).
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Tätigkeit“ sei, „im hoheitlichen Bereich die Trennung zwischen einerseits den Interessen des eigenen Unternehmens und andererseits den Interessen außenstehender Dritter“ entfalle und „das, was zu überwachen ist, im privaten und im hoheitlichen Bereich unterschiedlich ausgestaltet“ sei.12 Halten wir also fest: Als Aufsichtsgarant im unternehmerischen Bereich soll derjenige fungieren, der eine entsprechende berufliche Aufgabe übernommen hat oder der in verantwortlicher Position in einer hoheitlich tätigen Anstalt des öffentlichen Rechts arbeitet. Meines Erachtens ist keines dieser beiden Merkmale geeignet, eine auch nur eingeschränkte Geschäftsherrenhaftung überzeugend zu begründen. a) Keine Garantenstellung aus öffentlich-rechtlicher Organisationsform Zunächst bleibt unklar, weshalb die Anstellung in einem hoheitlich tätigen und entsprechend organisierten Betrieb eine Garantenstellung begründen und damit zu Handlungspflichten des Angeklagten führen sollte, welche er in der Privatwirtschaft nicht gehabt hätte.13 Abgesehen davon, dass die Abgrenzung (auch) anhand der Organisationsform in Zeiten einer vielfach privatwirtschaftlich organisierten, aber gleichwohl hoheitliche Aufgaben wahrnehmenden Verwaltung zu willkürlichen Ergebnissen führt, umgeht die Konstruktion des BGH den Willen des Gesetzgebers, der das Geschehenlassen rechtswidriger Taten im Amt 14 mit § 357 Abs. 1 Alt. 3 StGB einer eigenen und abschließenden Regelung zugeführt hat. Eine darüber hinausgehende „private“ Geschäftsherrenhaftung wird durch die Norm zwar nicht zwingend ausgeschlossen (dazu sogleich), kann aber jedenfalls nicht durch den Verweis auf hoheitliche Tätigkeiten begründet werden. b) Keine Garantenstellung aus „Zusage“ Darüber hinaus überzeugt es nicht, wenn der Senat für die Garantenhaftung maßgeblich auf die übernommene Aufgabe des Betroffenen abstellt, letztlich also auf dessen Zusage, auf andere Personen aufzupassen. Schon der hierzu einleitende Satz der Urteilsgründe, eine Garantenstellung folge „… aus der Überlegung, dass denjenigen, dem Obhutspflichten für eine bestimmte Gefahrenquelle übertragen sind (vgl. Roxin aaO S. 712 ff.), dann auch eine ‚Sonderverantwortlichkeit‘ für die Integrität des von ihm übernommenen Verantwortungsbereichs trifft (vgl. Freund in MünchKomm StGB § 13 Rdnr. 161).“ 15 12
BGHSt 54, 44 (50 f.). Kritisch auch Kretschmer, JR 2009, 474 (477); Spring, GA 2010, S. 222 (224 f.); Stoffers, NJW 2009, 3176 f. zustimmend hingegen Dannecker/Dannecker, JZ 2010, 981 (987). 14 Der Amtsträgerbegriff ist der des § 11 Abs. 1 Nr. 2 lit. a) bis c) StGB und daher ohnehin weit gefasst. 15 BGHSt 54, 44 (48). 13
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macht deutlich, dass der BGH unbekümmert einen Begründungsansatz übernimmt, der für eine ganz andere Art von Garantenpositionen entwickelt wurde, nämlich die der Beschützergaranten16. Dies geht schon deshalb fehl, weil die dort zugrunde liegende Situation, die Schutzbedürftigkeit einer bestimmten Person, mit der Überwachung betrieblicher Gefahrenherde kaum etwas gemein hat. Tatsächlich handelt es sich bei den vom BGH statuierten Handlungspflichten um nichts anderes als Aufsichtsgarantenpflichten, die auch als solche begründet werden müssen – sofern sie sich im betrieblichen Umfeld überhaupt begründen lassen. Wegen der grundlegenden Unterschiede der beiden genannten Garantengruppen ist es von vornherein unzulässig, eine Person, wie der BGH dies tut, allein deshalb als Garant anzusehen, weil sie (wem auch immer) ein entsprechendes Einschreiten zugesagt hat. Niemand wird allein durch das Versprechen, eine andere Person zu überwachen – und sei es noch so innig abgegeben – zu deren Aufsichtsgarant.17 Wegen des Eigenverantwortlichkeitsprinzips haftet vielmehr jeder individuell und allein für sein Tun, wovon nur wenige Ausnahmen – etwa im Verhältnis Eltern/Kinder – zulässig sind. Mit der Zusage entsprechenden Handelns haben derlei Ausnahmen nichts zu tun, die Haftung fußt hier auf anderen Prinzipien. Welche dies sind und ob sie sich auf den unternehmerischen Bereich übertragen lassen, wird sogleich noch zu klären sein. Positiv ist immerhin, dass der BGH mit seinen Differenzierungen einer pauschalen Geschäftsherrenhaftung, das heißt einer jeden Vorgesetzten treffenden Garantenpflicht zur Verhinderung betriebsbezogener Taten, eine klare Absage erteilt hat. 2. Die im Schrifttum vertretenen Ansichten zur Geschäftsherrenhaftung Nach dem soeben Gesagten lassen sich weder die Garantenhaftung eines Compliance Officers noch die Geschäftsherrenhaftung im Allgemeinen auf den Begründungsansatz des BGH stützen. Zu untersuchen ist daher im Folgenden, ob es de lege lata überhaupt möglich ist, die Geschäftsherrenhaftung dogmatisch schlüssig zu begründen. Im Schrifttum stößt man hierzu auf ein breites Meinungsspektrum. Den Ausgangspunkt aller Überlegungen zur Geschäftsherrenhaftung bildet die allgemein anerkannte, häufig mit den Begriffen „Autonomieprinzip“ oder „Eigenverantwortlichkeitsgrundsatz“ umschriebene Regel, dass es in unserer auf Selbstbestimmung angelegten Gesellschaft die absolute Ausnahme darstellt, für das Verhalten anderer als Aufsichtsgarant strafrechtlich 16 Ausführlich zu diesem Kritikpunkt Rotsch, ZJS 2009, 712 (716 f.); anders Kraft, wistra 2010, 81 (85). 17 Vgl. Berndt, StV 2009, 689 (690); Spring, GA 2010, 222 (226).
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verantwortlich gemacht zu werden.18 Ob und gegebenenfalls warum man hinsichtlich betriebsbezogener Taten hiervon abweichen sollte, ist heftig umstritten, wobei Befürworter wie Gegner der Geschäftsherrenhaftung zur Fundierung ihrer Ansicht die unterschiedlichsten Argumente heranziehen: a) Die Ableitung der Geschäftsherrenhaftung aus § 130 OWiG bzw. der Gegenschluss hieraus Sehr beliebt ist die systematische Auslegung des § 130 OWiG, jener bereits erwähnten Norm, die die Aufsichtspflichtverletzung in Betrieben und Unternehmen als Ordnungswidrigkeit ausgestaltet. Aus dem Bestehen und dem Regelungszweck der Vorschrift werden Schlussfolgerungen gezogen, die gegensätzlicher nicht sein könnten: Da ist zum einen die Gruppe derjenigen, die behauptet, die Existenz des § 130 OWiG könne „nur auf der Grundlage einer vom Gesetzgeber anerkannten und von der Rechtsprechung bejahten Garantenstellung des Betriebsinhabers“ erklärt werden,19 oder sogar der Auffassung ist, die Vorschrift setze die strafrechtliche Geschäftsherrenhaftung systematisch voraus.20 Darüber hinaus wird vorgebracht, eine nur ordnungswidrigkeitenrechtliche Ahndung der unternehmerischen Pflichtenvergessenheit sei wertungswidersprüchlich.21 Überzeugen kann keine dieser Ansichten, denn weder sollte § 130 OWiG nach der Intention des Gesetzgebers auf eine strafrechtlichen Verantwortlichkeit aufbauen,22 noch ist dies systematisch notwendigerweise der Fall. § 130 OWiG stellt eine eigenständige und nicht von der Anerkennung einer strafrechtlichen Variante der Aufsichtspflichtverletzung abhängige Norm dar. Was soll wertungswidersprüchlich daran sein, dass es ohne Garantenstellung in den Fällen des Nichteinschreitens gegen Straftaten bei der Verwirklichung einer Ordnungswidrigkeit bleibt? Außerdem sollte nicht vergessen werden, dass den Geschäftsherrn eine Unterlassungsverantwortlichkeit nach § 13 StGB unstreitig dann trifft, wenn eine Sachgefahr den Anknüpfungspunkt für ein vorwerfbares Verhalten bildet oder er als Ingerent haftet (dazu 18 Bosch (Fn. 3), S. 163; Heine (Fn. 4), S. 116; Kirchner (Fn. 4), S. 85; Kühl, Strafrecht AT, 6. Aufl. 2008, § 18 Rn. 59 f.,116 f.; Rogall, ZStW 98 (1986), S. 573 (616); Roxin, AT II (Fn. 3), § 32 Rn. 125 f.; SK-Rudolphi/Stein (Fn. 4), § 13 Rn. 32; Schünemann (Fn. 5), S. 104; Spring (Fn. 4), S. 144 f., 209; LK-Weigend (Fn. 4), § 13 Rn. 55; NK-Wohlers (Fn. 3), § 13 Rn. 51. 19 Rogall, ZStW 98 (1986), S. 573 (615); ähnlich Landscheidt, Zur Problematik der Garantenpflichten aus verantwortlicher Stellung in bestimmten Räumlichkeiten (1985), S. 113. 20 Roxin, AT II (Fn. 3), § 32 Rn. 140. 21 Brammsen, Unterlassungstäterschaft in formalen Organisationen, in: Individuelle Verantwortung und Beteiligungsverhältnisse bei Straftaten in bürokratischen Organisationen des Staates, der Wirtschaft und der Gesellschaft (2000), S. 132 f. 22 BT-Drucks. V/1269, S. 67 f.
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sogleich). Geht die Gefahr hingegen von einer eigenverantwortlich agierenden Person aus, erscheint eine Haftung „nur“ aus § 130 OWiG aufgrund des Autonomieprinzips weder unangebracht noch wertungswidersprüchlich. Eine Gegenströmung im Schrifttum ist der Ansicht, die Existenz des § 130 OWiG zeige, dass eine strafrechtliche Geschäftsherrenhaftung vom Gesetzgeber gerade nicht gewollt war, sondern vielmehr entsprechendes Unterlassen nur als Ordnungswidrigkeit verfolgt werden sollte.23 Auch dies ist nicht zutreffend. Allein die Existenz einer Norm des Ordnungswidrigkeitenrechts lässt keine Aussage darüber zu, ob nicht ein schwerwiegenderes Handeln (bzw. Unterlassen) unter eine Norm des Strafrechts zu subsumieren ist,24 was sich unschwer aus § 21 OWiG ablesen lässt.25 Entgegen einzelner Behauptungen26 gibt schließlich auch die Gesetzesbegründung zu § 130 OWiG für eine Ablehnung der strafrechtlichen Geschäftsherrenhaftung nichts her; sie lässt schlicht keinerlei Rückschlüsse auf die gesetzgeberische Anerkennung der allgemeinen strafrechtlichen Haftung wegen Nichtverhinderung von Straftaten Untergebener zu.27 Im Ergebnis lassen sich daher aus der Existenz des § 130 OWiG weder Schlüsse für noch gegen die strafrechtliche Geschäftsherrenhaftung ziehen. Das Patt der Argumente verdeutlicht dies. Dessen ungeachtet bildet die in § 130 Abs. 1 S. 1 OWiG enthaltene Haftungsvoraussetzung der Betriebsbezogenheit selbstverständlich nicht nur die Grenze der ordnungswidrigkeiten-, sondern auch die einer etwaigen strafrechtlichen Geschäftsherrenhaftung. b) Die Bedeutung von § 357 StGB und § 41 Wehrstrafgesetz Ähnlich wie § 130 OWiG werden vereinzelt die Regelungen des § 357 Abs. 1 Alt. 3 StGB sowie des § 41 WStG (Wehrstrafgesetz) bemüht, um die Befürwortung oder Ablehnung der strafrechtlichen Geschäftsherrenhaftung zu stützen. Beide Vorschriften statuieren für Sonderbereiche, nämlich amtliche beziehungsweise militärische Über-/Unterordnungsverhältnisse, eine Garantenhaftung des pflichtwidrig nicht gegen Straftaten einschreitenden Vorgesetzten. Einige wollen den genannten Normen einen „allgemeinen Rechtsgedanken“ entnehmen, der auch für die Geschäftsherrenhaftung zur Anwendung 23
Kirchner (Fn. 4), S. 157; Langkeit (Fn. 4), S. 651; Stoffers, NJW 2009, 3176. Schlüchter, Der Kaufmann als Garant im Rahmen der unerlaubten Gewässerverunreinigung, in: FS-Salger (1995), S. 139 (158). 25 Es scheiden ja auch nicht bestimmte gefährliche Handlungen im Straßenverkehr aus dem Regelungsbereich des § 315b Abs. 1 Nr. 2 oder 3 StGB aus, nur weil sie in ihrer konkreten Form evtl. (auch) als Ordnungswidrigkeit ausgestaltet sind. 26 Kirchner (Fn. 4), S. 158. 27 Im Einzelnen Spring (Fn. 4), S. 186 ff. 24
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kommen könne;28 andere versuchen sich – ganz wie bei § 130 OWiG – an einem Gegenschluss: Mangels einer entsprechenden Norm für die Privatwirtschaft müsse man den Willen des Gesetzgebers dahingehend auslegen, dass eine „allgemeine“ (nicht von den Sondernormen erfasste) Geschäftsherrenhaftung nicht gewollt sei.29 Zunächst zur erstgenannten Ansicht: Die Ableitung einer Haftung aus einer nicht direkt anwendbaren Norm nebst Verweis auf einen „allgemeinen Rechtsgedanken“ ist nichts anderes als eine Analogie zu Lasten des Täters und bereits als solche unzulässig (Art. 103 Abs. 2 GG; § 1 StGB). Davon abgesehen sind die vorhandenen Regelungen hinsichtlich der erfassten Sachverhalte und der gewählten Regelungstechnik ohnehin zu verschieden, um als Analogiebasis taugen zu können.30 Zu Recht mag daher die herrschende Lehre der Verallgemeinerung der genannten Spezialnormen nicht zustimmen.31 Aus denselben Gründen ist aber auch die Gegenansicht abzulehnen. Allein der Umstand, dass für zwei spezielle Konstellationen (mögen sie auch Gemeinsamkeiten aufweisen) eine eigene Regelung getroffen wurde, lässt nicht den Schluss zu, dass ähnliche Sachverhalte nicht über den allgemeinen § 13 StGB abgedeckt werden könnten. Die Regelung spezieller Fälle kann die Strafbarkeit ähnlicher, aber vom Gesetz nicht explizit erfasster Taten nur dann ausschließen, wenn aus den Normen ein entsprechender gesetzgeberischer Wille erkennbar wird, der sich „Ausschließlichkeitswille“ nennen ließe. Ein solcher lässt sich weder § 357 Abs. 1 Alt. 3 StGB noch § 41 WStG entnehmen; stattdessen handelt es sich schon angesichts der verschiedenen Regelungstechnik um zwei gänzlich unterschiedliche „Baustellen“. Ebenso abwegig wie der soeben genannte Gegenschluss wäre es, die (versuchte) Anstiftung zu betriebsbezogenen Straftaten deshalb als straflos anzusehen, weil es hierfür im amtlichen Bereich mit § 357 Abs. 1 Alt. 1 und 2 StGB Sonderregelungen gibt. Selbstverständlich schließen diese jenseits des Handelns von Amtsträgern nicht die Anwendung von § 26 StGB bzw. § 30 Abs. 1 StGB bei betriebsbezogenen Delikten aus! Es bleibt die Erkenntnis, dass die genannten Sondernormen ebenso wenig für die Begründung oder Ablehnung der Geschäftsherrenhaftung taugen wie § 130 OWiG. Stattdessen ist eine Auseinandersetzung mit dem Garantensystem des § 13 Abs. 1 StGB nötig, um diese Haftungsfigur begründen oder ablehnen zu können.
28 Roxin, AT II (Fn. 3), § 32 Rn. 140; Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht – Einführung und allgemeiner Teil, 3. Aufl. 2010, Rn. 183 ff. 29 Langkeit (Fn. 4), S. 651; SK-Rudolphi/Stein (Fn. 4), § 13 Rn. 35a; ebenso noch LK-Jescheck, 11. Aufl., § 13 Rn. 45. 30 Schünemann (Fn. 5), S. 63. 31 Bottke (Fn. 3), S. 15; Langkeit (Fn. 4), S. 651; Rogall, ZStW 98 (1986), S. 573 (615); Schünemann, wistra 1982, S. 41 (43).
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c) Garantenstellung aus Herrschaft über Untergebene? Das am häufigsten für die Geschäftsherrenhaftung ins Feld geführte Argument lautet, dass derjenige, der kraft seiner machtvollen Stellung im Unternehmen und seines oft privilegierten Wissens etwaige Straftaten besonders gut verhindern kann, aufgrund eben dieser Sonderstellung auch zum Einschreiten verpflichtet sei. Anders formuliert: Wer durch seine Vorgesetztenrolle gesteigerte Wirkungsmöglichkeiten habe, der sei als Kehrseite dieser Medaille nach außen hin als Garant strafrechtlich haftbar.32 Dieses „Herrschaftsargument“ hat zwar zahlreiche Anhänger, ist aber mehr vom Wunsch nach einer als gerecht empfundener Verantwortungsverteilung („Prinzip sozialer Fairness“33) als von dogmatisch plausiblen Erwägungen geprägt: Erstens stellen sich betriebsbezogene Straftaten, die ein Vorgesetzter trotz entsprechender Möglichkeit nicht verhindert, nicht in erster Linie als Ausfluss seiner gesteigerten Betätigungsmöglichkeiten dar, sondern als Folge eines Tatentschlusses des unmittelbar Handelnden, so dass schon die Grundannahme der genannten Theorie zweifelhaft erscheint. Zweitens ist kein allgemeiner strafrechtlicher Grundsatz erkennbar, wonach jedes privatnützige, den eigenen Einflussbereich steigernde Verhalten zugleich eine strafbewehrte Überwachergarantenpflicht zur Folge haben müsste.34 Allein die besonders gute Möglichkeit, eine Tat zu verhindern, macht niemanden zum Garanten.35 Drittens, und das ist das gewichtigste Gegenargument, setzt sich das Herrschaftsargument nicht ausreichend mit dem erwähnten Grundsatz der Eigenverantwortlichkeit auseinander. Nur ausnahmsweise kann jemand für das Verhalten anderer strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden, etwa im Verhältnis von Eltern und Lehrern zu Kindern, von JVA-Bediensteten zu Strafgefangenen und von Mitarbeitern einer geschlossenen psychiatrischen Klinik zu deren Patienten. Schon die Aufzählung dieser Personengruppen und der Umstand, dass nach mittlerweile einhelliger Auffassung ein Ehegatte nicht als Garant zur Verhinderung von Straftaten des anderen berufen ist,36 zeigen,
32 Vgl. Bottke (Fn. 3), S. 23 ff.; Hoyer, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit innerhalb von Weisungsverhältnissen (1998), S. 32; Rogall, ZStW 98 (1986), S. 573 (617 f.); Rönnau/ Schneider, ZIP 2010, 53 (56 u. 58); Schall (Fn. 3), S. 272; Thiemann, Aufsichtspflichtverletzung in Betrieben und Unternehmen (1976), S. 17. 33 Bottke (Fn. 3), S. 23, 25 f. 34 So zu Recht Bosch (Fn. 3), S. 175, der sich jedoch i.E. für eine „Haftung aus Organisationsverschulden“ ausspricht. 35 Bosch (Fn. 3), S. 195; Heine (Fn. 4), S. 114; Kirchner (Fn. 4), S. 155; Spring (Fn. 4), S. 128 ebenso wenig das bloße Wissen um die Gefahrenquelle im Sinne eines Informationsvorsprungs, so auch Warneke, NStZ 2010, 312 (316); anders Dannecker/Dannecker, JZ 2010, 981 (991); Rönnau/Schneider, ZIP 2010, 53 (58). 36 OLG Stuttgart NJW 1986, S. 1767; MüKo-Freund (2003), § 13 Rn. 142; SSW-StGBKudlich (2009), § 13 Rn. 19; Kühl, AT (Fn. 18), § 18 Rn. 59 f.; Roxin, AT II (Fn. 3), § 32 Rn. 49, 126 m.w.N.
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dass eine Einordnung des Geschäftsherrn als Aufsichtsgarant mit Blick auf das Autonomieprinzip großen Rechtfertigungsbedarf nach sich zieht. Nicht wenige Stimmen in der Literatur sind der Ansicht, dass eine derartige Rechtfertigung nicht gelingen kann und der Grundsatz der Eigenverantwortlichkeit die Geschäftsherrenhaftung weitestgehend ausschließt.37 Noch einen gedanklichen Schritt vorher setzen diejenigen an, die bereits das Vorhandensein einer ausreichend ausgeprägten Herrschaft des Vorgesetzten über seine Untergebenen bezweifeln 38 und in diesem Zusammenhang teils auf (vermeintliche) Distorsionen mit den zur mittelbaren Täterschaft anerkannten Grundsätzen verweisen.39 In der Tat widerspricht es dem heutigen Rollenverständnis von Arbeitgebern und Arbeitnehmern, Personen allein aufgrund ihrer innerbetrieblichen Weisungsgebundenheit in eine Reihe mit Kindern, Strafgefangenen und Geisteskranken zu stellen. Im Gegenteil dazu setzt die moderne unternehmerische Führungslehre auf Mitverantwortung, Vertrauen und Kooperation statt auf Befehl und Kontrolle durch Vorgesetzte und tumben Gehorsam der Befehlsempfänger. Wer das Autonomieprinzip jedoch als normative, unüberwindbare Sperre begreift, macht es sich gleichwohl zu einfach, denn es sind durchaus Situationen denkbar, in denen der Geschäftsherr die Gefahr oder das Geschehen einer Straftat mindestens ebenso stark heraufbeschworen hat wie der aktiv Handelnde: Wer als Inhaber einer Spedition unrealistische Tourenpläne erstellt, den trifft im Falle eines Unfalls wegen Übermüdung des Fahrers zumindest eine Mitschuld; das Eigenverantwortlichkeitsprinzip hilft ihm nicht weiter.40 Dies ändert aber nichts daran, dass ein betriebliches Über-/Unterordnungsverhältnis allein als Begründung der Geschäftsherrenhaftung nicht taugt. d) Haftung für den „Gefahrenherd Betrieb“? Der letzte in nennenswertem Ausmaß vertretene Begründungsansatz zugunsten der Geschäftsherrenhaftung ist die Theorie vom „Gefahrenherd Betrieb“ als Gesamtheit aller sachlichen und durch Mitarbeiter verursachten Gefahren.41 Sie überträgt die für Verkehrssicherungspflichten entwickelte Garantenlehre generell auf unternehmerische Sachverhalte. 37
Heine (Fn. 4), S. 117 f.; Otto, Jura 1998, 409 (413); LK-Weigend (Fn. 4), § 13, Rn. 56. Brammsen, Die Entstehungsvoraussetzungen der Garantenpflichten (1986), S. 226 f., 232 ff.; Heine (Fn. 4), S. 117 f.; Kirchner (Fn. 4), S. 155 f.; Langkeit (Fn. 4), S. 652. 39 Heine (Fn. 4), S. 117; Neudecker, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Mitglieder von Kollegialorganen (1995), S. 85 f.; ablehnend hierzu Spring (Fn. 4), S. 141 f., 146 f. 40 Vgl. LG Nürnberg-Fürth NJW 2006, 1824 ff.; hier werden Berührungspunkte zur Ingerenz sichtbar, die als Ausgangspunkt der Geschäftsherrenhaftung ebenfalls in Betracht kommt. 41 In diesem Sinne etwa Dannecker/Dannecker, JZ 2010, 981 (990); Fischer (Fn. 3), § 13 Rn. 38; Langkeit (Fn. 4), S. 653; Ransiek, AG 2010, 147 (150); Roxin, AT II (Fn. 3), § 32 Rn. 137; differenzierend Mosbacher/Dierlamm, NStZ 2010, 268 (269). Schall (Fn. 3), S. 276, 278 kombiniert den Gefahren- und den Herrschaftsansatz, während Brammsen (Fn. 38), 38
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Unbestritten trifft denjenigen, der einen (sachlichen) Gefahrenherd unter Ausschluss der Allgemeinheit beherrscht, eine Verkehrssicherungspflicht: Er hat den Gefahrenherd so unter Kontrolle zu halten und abzusichern, dass Außenstehende keinen Schaden an ihm nehmen.42 Fraglich ist indes, ob sich dieser Grundsatz ohne weiteres auf straffällige Mitarbeiter als „personaler Gefahrenherd“ ausdehnen lässt, um so zu einer Haftung des Betriebsinhabers für den Betrieb in seiner Gesamtheit zu gelangen. Zwar führt die Theorie – unter der selbstverständlichen Voraussetzung der Betriebsbezogenheit – zu einer einheitlichen, weil „globalen“ innerbetrieblichen Haftung und damit scheinbar auch zu gerechten Ergebnissen. Gleichwohl ist Vorsicht geboten, denn aus gutem Grund wird die Haftung für Gefahrenquellen überwiegend primär als solche für reine Sachgefahren verstanden; auf Personalgefahren wird sie nur ausnahmsweise ausgedehnt, wenn eine besondere Überwachungsbedürftigkeit aus der Eigenart der Sache oder des Betriebs folgt (zum Beispiel wenn Medikamente gelagert werden oder es um die Einhaltung von Emissionsvorschriften geht).43 Dass gemeinhin innerhalb der Gruppe der Überwachungsgaranten zwischen Garanten für Sachgefahren und Aufsichtsgaranten unterschieden wird, folgt aus der völlig unterschiedlichen materiellen Legitimation der ihnen obliegenden Handlungspflichten: Gefährliche Sachen und Anlagen muss der Inhaber der tatsächlichen Herrschaft über sie schon deshalb überwachen, weil sein Eigentum beziehungsweise sein (berechtigter oder auch unberechtigter 44) Besitz Dritte in der Regel von der Einwirkung auf die Gefahrenquelle ausschließt und er allein das nötige Wissen hinsichtlich Existenz und Intensität der Gefahr hat.45 Wer an einem Haus vorübergeht, muss deshalb darauf vertrauen dürfen, dass sich nicht in diesem Moment ein Dachziegel löst und ihm auf den Kopf fällt.
S. 232 f., 277 und Gimbernat, Unechte Unterlassung und Risikoerhöhung im Unternehmensstrafrecht, in: FS-Roxin (2001), S. 651 ff., vordergründig das Autonomieprinzip betonen, aber gleichwohl eine Haftung für Straftaten Untergebener annehmen, sofern sie nur auf einen (sachlichen) betrieblichen Gefahrenherd zurückzuführen sind. 42 BGHSt 19, 286 (288 f.); BGH NStZ 2002, 421 (422 f.); Bosch (Fn. 3), S. 189; Fischer (Fn. 3), § 13 Rn. 34; Kindhäuser, Strafrecht AT, 4. Aufl. 2009, § 36 Rn. 59; Kühl, AT (Fn. 18), § 18 Rn. 106; Otto/Brammsen, Jura 1985, S. 592 (600); Roxin, AT II (Fn. 3), § 32 Rn. 108 ff.; S/S-Stree/Bosch, 28. Aufl. 2010, § 13 Rn. 43; Wessels/Beulke, Strafrecht AT (Fn. 4), Rn. 723. 43 Bosch (Fn. 3), S. 191 f.; Heine (Fn. 4), S. 119 f.; Kindhäuser, AT (Fn. 42), § 36 Rn. 59 ff.; Kühl, AT (Fn. 18), § 18 Rn. 106 ff.; Otto, Jura 1998, 409 (411); SK-Rudolphi/Stein (Fn. 4), § 13 Rn. 28, 35a; LK-Weigend (Fn. 4), § 13 Rn. 48 ff. 44 LK-Weigend (Fn. 4), § 13 Rn. 48. 45 BGH NStZ 2002, 421 (422 f.); Freund, Strafrecht AT, 2. Aufl. 2008, § 6 Rn. 62; Otto, Jura 1998, 409 (411); S/S-Stree (Fn. 42), § 13 Rn. 43; LK-Weigend (Fn. 4), § 13 Rn. 48; Wessels/Beulke, AT (Fn. 4), Rn. 723; NK-Wohlers (Fn. 3), § 13 Rn. 46 f.
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Menschliches Handeln ist hingegen in aller Regel willensgetragen und bedarf – von Ausnahmen abgesehen – nicht der Überwachung durch Dritte. Folgerichtig richtet sich der Verhaltensappell des (Straf-)Rechts in aller Regel allein an die handelnde Person, die zusätzliche Heranziehung Dritter ist normalerweise entbehrlich und wegen des Autonomieprinzips auch ausgeschlossen.46 Führt man sich weiter vor Augen, dass ein Aufsichtsgarant grundsätzlich genauso streng haftet wie der Handelnde selbst (die Strafminderung nach § 13 Abs. 2 StGB ist ja nur fakultativ) beziehungsweise sogar als einziger strafrechtlich haftet, wenn der Aktivtäter strafunmündig ist oder schuldlos handelte, wird deutlich, dass man mit der Ausdehnung der Sachgefahrenverantwortlichkeit sehr vorsichtig sein sollte. Entgegenzutreten ist in jedem Fall der Behauptung, eine Unterscheidung in gegenständliche Gefahrenherde einerseits und „Personalgefahren“ andererseits sei kaum möglich und schon aus diesem praktischen Grund abzulehnen.47 Sehr wohl kann man Gefahren unterteilen in einerseits solche, die rein im Verhalten von Personen bestehen und andererseits solche, die (allein oder auch) gegenständlicher Natur sind. Dies gilt auch für den von Roxin – dem bekanntesten Vertreter dieser Ansicht – als Beispiel angeführten Fall eines technischen Mangels im Betrieb, der durch Wartungsfehler hervorgerufen oder potenziert wurde: Hier liegt jedenfalls ein sachlicher Gefahrenherd vor, der vom zuständigen Vorgesetzten beseitigt oder abgesichert werden muss. Ob der Gefahrenherd von selbst entstand oder durch menschliches Zutun hervorgerufen wurde, ist insoweit ohne Belang.48 Rein personale Gefahren hingegen (beispielsweise der aggressive Türsteher einer Diskothek oder der übertrieben ehrgeizige Verkäufer, dem auch betrügerische Mittel recht sind) müssen deshalb noch lange nicht mit den oben genannten Fällen gleichgesetzt werden. Aufgrund der genannten Unterschiede ist es nicht überzeugend, im betrieblichen Umfeld die Unterscheidung zwischen Sach- und Personalgefahren aufzugeben und eine generelle Garantenpflicht des Vorgesetzten zum Einschreiten gegen „Betriebsgefahren“ anzunehmen. Straftaten, auch solche im betrieblichen Umfeld, sind und bleiben Ausfluss der Entscheidung des Handelnden und sind daher nicht mit gegenständlichen Gefahrenherden vergleichbar. Will man eine Verhinderungspflicht des Geschäftsherrn beziehungsweise des Compliance Officers etablieren, kommt man daher um einen Begründungsansatz, der das Autonomieprinzip ausreichend berücksichtigt, nicht herum.
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Neudecker (Fn. 39), S. 77; Spring (Fn. 4), S. 166 ff. So aber Ransiek, AG 2010, 147 (150 f.); Roxin, AT II (Fn. 3), § 32 Rn. 137; Schall (Fn. 3), S. 276 (278). 48 Gimbernat (Fn. 41), S. 660 f.; Otto, Jura 1998, 409 (411); Spring (Fn. 4), S. 160 f. 47
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II. Die Haftungsprinzipien bei der Aufsichtsgarantenstellung Personen, die – um es mit den Worten des § 13 Abs. 1 StGB zu sagen – rechtlich dafür einzustehen haben, dass ein anderer keine Straftat begeht, werden gemeinhin Aufsichtsgaranten genannt. Sie gehören zur Gruppe der Überwachergaranten,49 wohingegen eine etwaige Straftatenverhinderungspflicht von Beschützergaranten nur die indirekte Folge ihrer Verpflichtung im Hinblick auf das zu schützende Rechtsgut ist.50 Bei Aufsichtsgaranten ist das Autonomieprinzip im Interesse eines nicht anders zu erzielenden Rechtsgüterschutzes durchbrochen; auf die eventuell daneben tretende Haftung des Aktivtäters kommt es für die Garantenverantwortlichkeit daher nicht an. Ob allen Formen der Aufsichtsgarantenhaftung gemeinsame Prinzipien zugrunde liegen und welche dies gegebenenfalls sind, ist – ebenso wie die Garantenlehre in ihrer Gesamtheit 51 – weitgehend ungeklärt. Zwar ist man sich über die Existenz einer Aufsichtspflicht diverser Personengruppen einig,52 dem strafrechtsdogmatischen Grund hierfür gehen jedoch nur wenige nach.53 Dort wo dies geschieht, konnte zumindest in einigen grundlegenden Punkten Einigkeit erzielt werden: 1. Notwendigkeit eines Verhaltensbestimmungsrechts Jede Aufsichtspflicht im Sinne des § 13 Abs. 1 StGB, so der weitgehende Konsens, beruht auf einer Autoritätsstellung, wobei eine rein tatsächliche Herrschaft über fremdes Verhalten für die Begründung von Garantenpflichten nicht ausreicht.54 Faktische Macht über andere bis hin zur Hörigkeit, macht alleine nicht garantenpflichtig, denn mit Blick auf das Autonomieprinzip folgt aus dem Recht zur Gestaltung des eigenen Verhaltens auch die Pflicht, sich dabei im Rahmen der Gesetze zu halten (Verantwortung als
49 Brammsen (Fn. 21), S. 106 f., 112; Heine, Verantwortlichkeit, S. 115; Kühl, AT (Fn. 18), § 18 Rn. 46a; Langkeit (Fn. 4), S. 650; Rogall, ZStW 98 (1986), S. 573 (614); zweifelnd zur Unterteilung in Überwachungs- und Schutzgarantenpflichten BGHSt 54, 44 (48); SSW-StGB-Kudlich (Fn. 36), § 13 Rn. 16; ausführlich zu dieser sog. materiellen Funktionenlehre: von Coelln, Das „rechtliche Einstehenmüssen“ beim unechten Unterlassungsdelikt (2008), S. 110 ff. 50 Roxin, AT II (Fn. 3), § 32 Rn. 125. 51 Umfassend dazu von Coelln (Fn. 49), S. 82 ff. 52 S.o., Punkt I. 2. c). 53 Insbesondere die Rechtsprechung zu den Aufsichtsgaranten zeichnet sich dadurch aus, dass sie die Garantenpflicht behauptet, aber nicht begründet, vgl. BGH JR 1969, 26 (28); BGH StV 1982, 342; BGH JR 1987, 335. 54 Brammsen (Fn. 38), S. 224; Herzberg, Die Unterlassung im Strafrecht und das Garantenprinzip (1972), S. 320 f.; Jakobs, Strafrecht AT, 2. Aufl. 1991, 29. Abschnitt Rn. 35; Otto/Brammsen, Jura 1985, S. 592 (599); Schünemann (Fn. 2), S. 323 f.
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Kehrseite der Selbstbestimmung).55 Nötig ist daher eine „rechtlich anerkannte Autoritätsstellung“56, die es dem potentiellen Garanten gestattet, das Verhalten einer anderen Person zu bestimmen. Ist sie gegeben, lässt sich eine Aufsichtsgarantenstellung annehmen. Ist jemand nämlich von Rechts wegen befugt, das Verhalten eines anderen zu bestimmen, trifft ihn als Ausgleich für diese Einschränkung des Selbstbestimmungsrechts des Handelnden auch die Pflicht, Straftaten des ihm Untergeordneten zu verhindern. Ebenso wie die Eigenverantwortung die Kehrseite der Selbstbestimmung ist, stellt die Fremdverantwortung die Kehrseite der Fremdbestimmung dar. So richtig diese Aussagen alle sind, sie beschreiben bei Lichte besehen nur die Folge des Verhaltensbestimmungsrechts über andere und überspringen dabei eine wichtige, ja sogar die bedeutsamste Frage bei der Begründung der Aufsichtsgarantenpositionen: Warum wird dem Garanten überhaupt ein Verhaltensbestimmungsrecht gewährt? Für die Geschäftsherrenhaftung stellt sich unmittelbar anschließend eine zweite Frage: Genügt das Direktionsrecht eines Vorgesetzten, welches ihm zumindest eine arbeitsbezogene Verhaltensbestimmung ermöglicht, um ihn zum Aufsichtsgaranten werden zu lassen? Festhalten lässt sich trotz dieser Fragen aber bereits auf Grundlage der bisherigen Erkenntnisse, dass eine Garantenhaftung im Arbeitsleben nur dort in Frage kommen kann, wo ein Über-/Unterordnungsverhältnis und damit ein Weisungsrecht des potentiellen Garanten besteht, denn wo kein Verhaltensbestimmungsrecht existiert, kann auch keine Aufsichtspflicht bestehen. Hat demnach ein Compliance Officer nach seiner innerbetrieblichen Stellung kein Direktionsrecht gegenüber dem Straftäter inne, scheidet er mangels Garantenstellung von vornherein als Unterlassungstäter (oder -teilnehmer) nach § 13 Abs. 1 StGB aus.57 2. Grund und Grenzen des Verhaltensbestimmungsrechts Die Herrschaft über eine andere Person in Form der rechtlich anerkannten Autoritätsstellung besteht nicht um ihrer selbst Willen, sondern wird nur dort gewährt, wo es zur Eindämmung von Gefahren in der Person des Beauf55
Herzberg (Fn. 54), S. 320. Brammsen (Fn. 38), S. 226 ff.; Herzberg (Fn. 54), S. 320 f.; Landscheidt (Fn. 19) S. 112; Schünemann (Fn. 2), S. 324 f.; Spring (Fn. 4), S. 210 ff.; NK-Wohlers (Fn. 3), § 13 Rn. 51. 57 A.A. Dannecker/Dannecker, JZ 2010, 981 (989 f.); Kraft, wistra 2010, 81 (84); tendenziell wie hier Berndt, StV 2009, 689 (691); Rübenstahl, NZG 2009, 1341 (1342); Warneke, NStZ 2010, 312 (316). Auch Aufsichtsräte einer AG fallen mangels Verhaltensbestimmungsrecht gegenüber dem Vorstand oder nachgeordneten Mitarbeitern von vornherein aus der Gruppe der Aufsichtsgaranten heraus. Ihre Überwachungspflicht (vgl. § 111 AktG) ist lediglich eine Sonderform der Schutzpflichten, die sie aufgrund ihrer übernommenen Stellung gegenüber der AG haben. Eine Garantenhaftung für Straftaten etwa des Vorstands kommt für sie in aller Regel nicht in Betracht; dazu vert. Cramer, Rechtspflicht des Aufsichtsrats zur Verhinderung unternehmensbezogener strafbarer Handlungen und Ordnungswidrigkeiten in: FS-Stree/Wessels (1993), S. 563 ff. 56
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sichtigten notwendig ist. Eltern und Lehrer sind Aufsichtsgaranten, weil die ihnen unterstehenden Kinder geistig und moralisch noch nicht in der Lage sind, die Folgen ihres Tuns hinreichend abzuschätzen und deshalb bis zur Vollendung ihres 14. Lebensjahres strafunmündig sind. Ähnlich verhält es sich bei den behandelnden Ärzten einer geschlossenen psychiatrischen Klinik: Auch sie sind zur Verhinderung von Straftaten ihrer Patienten aus demselben Grund verpflichtet, der ihnen (notwendigerweise) weitreichende Rechte zur Verhaltensbestimmung zuweist: die Gefährlichkeit der in ihrer Obhut befindlichen Personen für sich selbst und/oder die Allgemeinheit. Die Bediensteten einer Justizvollzugsanstalt schließlich haben Verhaltensbestimmungsrechte und Eingriffspflichten, weil der geregelte Ablauf des Strafvollzugs dies zwingend erfordert. Wo dutzende (meist schwer) straffällig gewordene Personen auf engem Raum zusammenleben, lässt sich ein erhöhtes Gefahrenpotential nicht leugnen und müssen entsprechende Sicherungsvorkehrungen getroffen werden. Wie an anderer Stelle bereits angedeutet, lässt schon die Aufzählung der klassischen Aufsichtsgarantenpositionen Zweifel daran aufkommen, dass sich die Reihe durch Compliance Officer beziehungsweise Vorgesetzte in Unternehmen nahtlos fortsetzen lässt. Bereits angesichts der Tatsache, dass ein Großteil der Bevölkerung im Berufsleben steht, erscheint es nämlich nur schwer nachvollziehbar, Berufstätige als eine im Vergleich zur Allgemeinheit besonders gefahrenträchtige Personengruppe einzustufen. Es ist kein Grund ersichtlich, weshalb für die Arbeitswelt etwas anderes gelten sollte als für sonstige Sozialsphären: Erwachsene und zu vollverantwortlichem Handeln begabte Menschen sind nicht überwachungsbedürftig, da sie – als Kehrseite ihrer Handlungsfreiheit – selbst und allein für die Folgen ihres Tuns verantwortlich sind. Aus demselben Grund sind sie weder berechtigt, das Verhalten anderer zu bestimmen, noch sind sie (außer in Sonderfällen wie den von § 323c StGB erfassten) verpflichtet, einander von Straftaten abzuhalten. Mögen „betrieblich motivierte“ Taten auch immer wieder vorkommen: Eine allgemeine Überwachungsbedürftigkeit im Sinne einer kriminogenen Wirkung der Berufstätigkeit lässt sich nicht erkennen. Leitende Unternehmensangehörige sind keine Aufseher oder Polizisten. Wo sollte die Pflicht zum Einschreiten denn beginnen und wo aufhören (Vorstand, Aufsichtsrat, leitendes Management, Rechtsabteilung, Personalabteilung?). Wenn schon der Compliance-Officer Garant sein soll, muss das doch wohl erst recht für alle Unternehmensangehörigen gelten, die in der Hierarchie über ihm stehen – zumindest für alle, die ihm gegenüber weisungsbefugt sind. Weil das Direktionsrecht dem Vorgesetzten nicht zur Gefahrenabwehr, sondern nur als Mittel zur Unternehmensführung verliehen ist, handelt es sich nicht um diejenige Form der rechtlich anerkannten Autoritätsstellung, die eine Aufsichtsgarantenpflicht begründen könnte. Garantenmäßige Eingriffspflichten sind
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daher nur anzuerkennen, wo die Gefahr (auch) vom Geschäftsherrn geschaffen wurde und nicht (allein) die Folge einer Willensentscheidung des Aktivtäters ist. Eines Rückgriffs auf etwaige Aufsichtspflichten bedarf es in diesen Fällen aber nicht; vielmehr ist der Bereich der Ingerenzhaftung eröffnet (dazu sogleich). 3. Keine Aufsichtsgarantenstellung Vorgesetzter de lege lata Sollte der Gesetzgeber eine umfassende Verantwortlichkeit des Vorgesetzten auch für solche Taten, die der Handelnde aus freien Stücken begeht, als unverzichtbar erachten, steht ihm natürlich die Möglichkeit offen, die Geschäftsherrenhaftung gesondert gesetzlich zu regeln, sei es durch Ergänzung des § 13 StGB um einen weiteren Absatz, sei es in Form eines eigenen Straftatbestands im StGB. Entsprechende Forderungen gibt es seit langem.58 Auch ein Referentenentwurf des Bundesjustizministeriums sprach sich vor einigen Jahren für die Einführung eines an § 130 OWiG angelehnten Straftatbestands der Aufsichtpflichtverletzung in Betrieben und Unternehmen aus; er wurde jedoch nicht weiterverfolgt.59 Solange eine Kodifikation unterbleibt, lässt sich eine Aufsichtsgarantenstellung für betriebliche Vorgesetzte ebenso wenig überzeugend begründen wie für speziell beauftragte Angestellte. Entgegen der Ansicht des BGH besteht daher keine „regelmäßige“ Garantenpflicht des Compliance Officers zur Verhinderung betriebsbezogener Taten.60
III. Aber: Haftung aus Ingerenz bei gefährlicher Betriebsorganisation Gänzlich unberührt hiervon bleibt freilich die Garantenpflicht des Geschäftsherrn aus Ingerenz, welche es gebietet, selbst geschaffene Gefahren unter Kontrolle zu halten. Sie trifft ihn – wie jeden anderen (also auch den 58 Hsü (Fn. 4), S. 254 f.; Schall, Probleme der Zurechnung von Umweltdelikten in Unternehmen, in: Deutsche Wiedervereinigung – Arbeitskreis Strafrecht, Band III: Unternehmenskriminalität (1996), S. 112 f. 59 Entwurf für das 2. Gesetz zur Bekämpfung der Umweltkriminalität (EUKG2), BT-Drucks. 12/192; der Bundesrat schloss sich insoweit an (EUKG2, S. 38 f.). Der Rechtsausschuss und das Bundestagsplenum setzten den Vorschlag zur Einführung der neuen Strafnorm letztlich nicht um, weil die Thematik wegen der weitgehenden Ausdehnung der Strafbarkeit „in einem größeren Zusammenhang zu prüfen“ sei, vgl. BT-Drucks. 12/192, S. 43; hierzu KK-OWiG-Rogall, 3. Aufl. 2006, § 130 Rn. 9 m.w.N. 60 So im Ergebnis auch Berndt, StV 2009, 689 (690); Campos Nave/Vogel, BB 2009, 2546 (2549); Frisch, EWiR 2010, 95 (96); Michalke, AnwBl. 2010, 666 (668 f.); Rolshoven/Hense, BKR 2009, 422 (427 f.); Rübenstahl, NZG 2009, 1341 (1342 ff.); Spring, GA 2010, S. 222 (227); Warneke, NStZ 2010, 312 (316).
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Compliance Officer) – als nötige Konsequenz des eigenen Verhaltens.61 Eine Ingerenzhaftung des Geschäftsherrn kommt insbesondere dann in Betracht, wenn zwar die unmittelbare Gefahr von einem untergeordneten Mitarbeiter ausgeht, sich aber mittelbar Gefahren realisieren, die aus pflichtwidriger Betriebsorganisation herrühren. Werden in einem Produktionsbetrieb Lebensmittel verschmutzt, weil die Unternehmensleitung aus übertriebener Sparsamkeit nicht für die nötigen Hygienestandards sorgt, ist dies zweifellos ein Fall der Ingerenzhaftung, selbst wenn sich die Verschmutzung im konkreten Fall einem einzelnen Arbeiter zuordnen lässt.62 Gleiches gilt, wenn den Fahrern einer Spedition Routenpläne diktiert werden, die unter Einhaltung der vorgeschriebenen Ruhepausen praktisch nicht zu schaffen sind und es deshalb zu einem Unfall aus Übermüdung kommt.63 In solchen Fällen ist es gerechtfertigt, neben dem unmittelbar Handelnden den Vorgesetzten in die Haftung zu nehmen, da die Gefahr bei wertender Betrachtung (maßgeblich auch) von ihm geschaffen wurde. Rechtfertigungsbedarf im Hinblick auf das Autonomieprinzip besteht insoweit nicht, da es primär nicht um die Verhinderung fremder Taten, sondern die Verantwortlichkeit für eigenes Tun geht.
IV. Ausreichende Haftungsreichweite nach bestehender Rechtslage Entgegen mancher Befürchtungen führt es nicht zu bedenklichen Haftungslücken, Geschäftsherrn und Compliance Officer nicht als Aufsichtsgaranten einzustufen.64 Trifft den Vorgesetzten eigenes Verhaltensunrecht, droht ihm eine Strafbarkeit wegen Nebentäterschaft, Mittäterschaft, Anstiftung oder aktiver Beihilfe; hinzu kommt die soeben erwähnte Garantenhaftung aus Ingerenz in Fällen eigener Gefahrschaffung. Gemeinsam betrachtet erfassen bereits diese Haftungsstrukturen einen nicht unerheblichen Teil betriebsbezogener Taten. Aber auch dort, wo allein ein pflichtwidriges Unterlassen in Rede steht, kann von einem Haftungsleerlauf keine Rede sein. Durch seinen weitreichenden Anwendungsbereich, der insbesondere keinen strengen Kausa-
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Weiterführend RGSt 46, 337 (343); BGHSt 19, 167 (168); BGHSt 38, 356 (358); Fischer (Fn. 3), § 13 Rn. 27 ff.; Kühl, AT (Fn. 18), § 18 Rn. 91 ff.; Roxin, AT II (Fn. 3), § 32 Rn. 143 ff., S/S-Stree/Bosch (Fn. 42), § 13 Rn. 32 ff.; Wessels/Beulke, AT (Fn. 4), Rn. 716, 725; NK-Wohlers (Fn. 3), § 13 Rn. 43 ff.; Wittig (Fn. 3), 2. Kap. Rn. 56 ff. 62 Ob daneben der Arbeiter selbst haftet, ist von den konkreten Umständen abhängig, insbesondere davon, ob ihm ein Fahrlässigkeitsvorwurf gemacht werden kann. 63 LG Nürnberg-Fürth, NJW 2006, 1824 ff. 64 So aber Landscheidt (Fn. 19), S. 114 f.; Schmid, in: Müller-Gugenberger/Bieneck, Wirtschaftsstrafrecht, 5. Aufl. 2010, § 30 Rn. 99.
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litätsnachweis erfordert,65 sorgt § 130 OWiG für eine schnelle, effektive und spürbare (Bußgeldhöhe bis 1 Mio. Euro!) Ahndung von Aufsichtspflichtverletzungen in Betrieben und Unternehmen. Droht die Verletzung von Individualrechtsgütern, ist daneben der Anwendungsbereich des § 323c StGB eröffnet,66 so dass bei schweren Straftaten regelmäßig ohnehin Kriminalstrafe droht. § 831 BGB schließlich stellt auf zivilrechtlicher Seite sicher, dass Organisations- und Aufsichtsmängel dem jeweils Verantwortlichen zugeordnet werden und das Tatopfer in solchen Fällen nicht darauf angewiesen ist, den Verhaltensverantwortlichen ausfindig zu machen und auf Schadensersatz in Anspruch zu nehmen. Eines Rückgriffs auf § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit einer strafrechtlichen Aufsichtsgarantenhaftung bedarf es gerade nicht.67
V. Ergebnis Nach derzeitiger Rechtslage trifft weder Compliance Officer noch Vorgesetzte eine Aufsichtsgarantenpflicht, betriebsbezogene Straftaten aus der Sphäre des Unternehmens zu verhindern. Dies gilt zum einen unabhängig von der innerbetrieblichen Stellung und Aufgabe des Betroffenen, zum anderen auch ohne Rücksicht darauf, ob das Unternehmen hoheitliche Aufgaben wahrnimmt oder nicht. Gleichwohl ergeben sich je nach Fallgestaltung Handlungspflichten des Geschäftsherrn und seiner Beauftragten aus allgemeinen strafrechtlichen Grundsätzen wie der Ingerenzhaftung oder aus § 323c StGB, die zudem von § 130 OWiG und § 831 BGB flankiert werden. Das notwendige Maß an rechtlicher Verantwortung ist dadurch gewahrt. Sollte der Gesetzgeber gleichwohl eine umfassende strafrechtliche Haftung für betriebsbezogene Taten Dritter im Sinne einer generellen Aufsichtsgarantenstellung für erforderlich halten, wäre hierfür eine Gesetzesänderung unumgänglich. Nötig ist sie meines Erachtens – auch und gerade vor dem Hintergrund des Ultima-ratio-Prinzips – nicht, da das Arbeitsrecht und das allgemeine Zivilrecht sowie die strafrechtliche Haftung der Aktivtäter ausreichende Instrumentarien zum wirksamen Schutz der Rechtsgüter Dritter bereithalten 68.
65
Weiterführend Göhler, OWiG, 15. Aufl. 2009, § 130 Rn. 22 ff. BGHSt 3, 65 (66); 30, 391 (397); S/S-Sternberg-Lieben/Hecker (Fn. 42), § 323c Rn. 1, 7; Freund, NJW 2003, 3384 (3386); Lackner/Kühl, 26. Aufl. 2007, § 323c Rn. 1 f. 67 Vgl. Palandt/Sprau, 69. Aufl. 2010, § 831 Rn. 2 m.w.N. 68 Ebenso Campos Nave/Vogel, BB 2009, 2546 (2547); zur zivilrechtlichen Haftung des Compliance Officers vgl. nur Favoccia/Richter, AG 2010, 137 (144 ff.). 66
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Nicht verzichten können wir dagegen auch in Zukunft auf die klugen Diskussionsbeiträge unseres Jubilars Klaus Geppert, dem ich – nicht zuletzt deshalb – ein langes Leben in Gesundheit, Freude und ungebrochener Schaffenskraft wünsche!
Sicher fahrunsicher Friedrich Dencker I. Einleitung Vor einiger Zeit hätte es sich geradezu noch von selbst verstanden, diese kleine Abhandlung unter eine Überschrift zu stellen, in der die Wörter „absolut“ und „fahruntüchtig“ vorgekommen wären. Gegen die Redeweise von der „Fahruntüchtigkeit“ spricht jedoch nicht nur der Text der §§ 315c, 316 StGB, in dem (Un-)Tüchtigkeit nicht vorkommt, sondern der Fahrzeugführer mit Strafe bedroht wird, der „nicht in der Lage“ ist, sein Fahrzeug „sicher zu führen“. Die davon abweichende Formulierung, mit der der Fahrer als „fahruntüchtig“ bezeichnet wird, ist auch geeignet, das zu verunklaren, was mit dieser Formulierung des Gesetzes gemeint ist, nämlich eine Verringerung der Gesamtleistungsfähigkeit schon derart, dass der Fahrzeugführer „den Anforderungen schwieriger Verkehrslagen, wie sie jederzeit eintreten können, nicht mehr gewachsen ist.“1 (Diese Potenz des Wortes „fahruntüchtig“ zur Irreführung belegte deutlich das letzte Wort eines Angeklagten, der, mit einer Blutalkoholkonzentration (im Folgenden: BAK) ganz knapp unter dem Grenzwert der „absoluten Fahruntüchtigkeit“ bei der Rückfahrt vom sonntäglichen Frühschoppen mit seinem PKW aus der Kurve getragen, überhaupt kein Verständnis für diese Formulierung des Staatsanwaltes zeigte: Er fahre schließlich jeden Sonntag zum Frühschoppen und trinke jedes Mal so viel; noch nie sei dabei sonst etwas passiert, und da solle er dieses Mal fahruntüchtig gewesen sein?) Es spricht also viel dafür, der Anregung des BGH 2 zu folgen und statt von Fahruntüchtigkeit nur mehr von Fahrunsicherheit zu sprechen, wie es auch zunehmend geschieht.3 Die folgenden Zeilen sollen im Übrigen nahelegen, auch den Gebrauch des Wortes „absolut“ in diesem Zusammenhang zu über1
BGHSt 19, S. 243 ff, 244. DAR 2008, S. 390 ff, 391: „Fahruntüchtigkeit (genauer: Fahrunsicherheit)“ mit insoweit zust. Anm. von König, NZV 2008, S. 492 ff. 3 Vgl. z.B. die neueren Kommentierungen von Ernemann in Satzger/Schmitt/Widmaier, StGB, 2009, Rn 5 ff zu § 316; Groeschke in MüKo, Bd. 4, 2006, Rn 2 ff zu § 316; Herzog in NK, 3. Aufl. 2010, Rn 9 ff zu § 316; König in LK, 12. Aufl. Bd. 11, 2009, u.a. Rn 10 ff zu § 316. Kudlich in v. Heintschel-Heinegg, StGB, 2010, meint zwar in Rn 15.1, man „würde besser von Fahrunsicherheit sprechen“, tut dies aber nicht. 2
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denken; denn es kann nicht nur schwache Juristen in die Irre führen wie den Amtsrichter, der in einem Urteil strafschärfend bewertete, der Angeklagte sei nicht nur fahruntüchtig gewesen, sondern sogar absolut fahruntüchtig. Weil das Wort eine Qualität der Fahrunsicherheit zu beschreiben scheint, ist es in der Lage, den Zugang zu den Grundlagen der dazu ergangenen Rechtsprechung zu verdecken. Diese ins Bewusstsein zu rufen ist Ziel dieser Abhandlung. Das erscheint nicht ganz überflüssig in Anbetracht einer Vielzahl von möglichen Belegen dafür, dass, was von der Redeweise von der „absoluten“ Fahrunsicherheit begünstigt werden mag, offenbar die Annahme weit verbreitet ist, bei der Frage nach einer „solchen Fahrunsicherheit“ gehe es um eine freie juristische Wertung. So hat z.B. vor einiger Zeit ein amtsgerichtliches Urteil 4 soweit ersichtlich nicht nur keinen Widerspruch erfahren, sondern sogar ausdrückliche Zustimmung5, welches den für Fahrräder üblichen Grenzwert mit einer freihändigen „Abwägung der Gefährdungspotenziale der jeweiligen Fahrzeuge“6 auch für motorisierte Krankenfahrstühle postulierte. Irgendein empirisches Datum für solche Gefährdungsaussagen findet sich weder in der Entscheidung noch in den zustimmenden Stellungnahmen. Es erscheint also nicht ausgeschlossen, dass die Grundlagen der entsprechenden Rechtsprechung des BGH, auf der die Begrifflichkeit beruht, nicht mehr hinreichend beachtet werden. Daher soll deren Entwicklung zunächst nachgezeichnet werden.
II. Die rechtlichen Grundlagen der Rechtsprechung des BGH 1. Die Grundlegung Diese Rechtsprechung ist anhand des immer noch am häufigsten genossenen berauschenden Mittels entwickelt worden, das die Verkehrssicherheit beeinträchtigt, des Alkohols. Nach dessen Genuss „fahrunsicher“ – das Kürzel sei gestattet – sind Kraftfahrer möglicherweise schon bei einer Menge, die zu einem („wahren“) BAK-Wert von 0,1 Promille führt; das große Gutachten des Bundesgesundheitsamtes von 1966 7 zitiert eine Untersuchung, nach der es „überhaupt keine für die Fahrleistung unerhebliche BAK gibt“.8 Ginge man davon aus, könnte an sich bereits jede sicher messbare Alkoholisierung des Fahrzeugführers als nachweisbare Verringerung der Sicherheit der Ver-
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AG Löbau, NJW 2008, S. 530 f. Jahn, JuS 2008, S. 80 f; König, wie Fn 3, Rn 67 zu 316; Fischer, StGB, 57. Aufl., 2010 Rn 24 zu § 316. 6 Wie Fn 4, S. 531. 7 Lundt/Jahn, Alkohol bei Verkehrsstraftaten. 8 AaO, S. 43. 5
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kehrsteilnahme pönalisiert werden. Dann aber müsste der Tatbestand des § 316 StGB in etwa so formuliert sein wie derjenige der neuen Ordnungswidrigkeit des § 24c StVG. Dass aber bereits jedes Fahren unter der Wirkung von Alkohol unter Strafe stehen sollte, war zu Recht nie das Verständnis der Formulierung „nicht in der Lage, das Fahrzeug sicher zu führen“. Demnach bestand die wesentliche Aufgabe der Rechtsprechung darin, das Maß der Wirkung zu bestimmen, mit dem das Merkmal der Fahrunsicherheit erfüllt ist. Das war eine recht normale Aufgabe, nämlich die der Konkretisierung eines unbestimmten9 Rechtsbegriffes. Bei der Erfüllung dieser Aufgabe hat der BGH den normativen Charakter seines ersten Zugangs zu dem Problem deutlich formuliert, indem er danach fragte, was das „Höchstmaß“ dessen sei, was an Alkoholisierung eines Kraftfahrzeugführers „noch einigermaßen verantwortet werden kann.“10 Bereits in dieser Entscheidung hat er nach „wissenschaftlich gesicherter Erfahrung“ gesucht und dabei auf der Grundlage rechtsmedizinischer Untersuchungen eine BAK von 1 Promille erwogen und lediglich im Hinblick auf die damaligen Unsicherheiten der Messverfahren11 sowie eventuell auch auf die besonders „trinkgewohnten“ Kraftfahrer „aus Vorsicht“ eine „Sicherheitsgrenze“ von 1,5 Promille gezogen. Ab einer solchen Menge sei „der Kraftfahrer mit Sicherheit fahruntüchtig.“12 Die Formulierung „mit Sicherheit“ stellt den beweisbezogenen Charakter besser heraus als die Redeweise von der „absoluten“ Fahrunsicherheit. Mit der Bezugnahme auf die gesicherten Erkenntnisse der Wissenschaft zitiert der BGH im Übrigen hinreichend deutlich eine der Grenzen, deren Überschreitung dem Tatrichter auch die Freiheit der Beweiswürdigung gemäß § 261 StPO nicht gestattet und die dem Revisionsgericht daher die Kontrolle von Tatsachenfeststellungen ermöglicht.13 Auch in den nächsten Entscheidungen hielt sich der BGH an diese Vorgaben. Die seinerzeitige Annahme eines etwas niedrigeren Wertes für Motorradfahrer (damals 1,3 Promille) stützte er ebenso auf die „neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse“14, wie er eine Grenzziehung für Radfahrer mit der Begründung ablehnte, eine solche sei „nach den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen … bisher noch nicht“ möglich.15 Schließlich – so kann man fast formulieren – übernahm er (weitgehend16) das große Gutachten des damaligen Bundesgesundheitsamtes von 1966, mit 9
Gleichwohl aber verfassungskonformen, vgl. BVerfG, NJW 1990, S. 3140. BGHSt 5, S. 168 ff, 171. 11 AaO, S. 170. 12 Wie Fn 11. 13 Vgl. BGHSt 29, S. 18 ff, 20 f; Meyer-Goßner, StPO, 53. Aufl. 2010, Rn 2 zu § 261, jeweils mwN. 14 BGHSt 13, S. 278 ff, 283. 15 BGHSt 19, S. 82 f, 83. 16 Auf die Abweichungen braucht hier nicht eingegangen zu werden. 10
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dem der weltweite Forschungsstand der Alkoholforschung und die Ergebnisse der Unfallstatistik zusammengefasst wurden, und das neue Standards für die Messtechnik und die Bewertung von Messunschärfen setzte.17 Als Schlüsselsatz lässt sich der folgende zitieren: „Die in dem Gutachten mitgeteilten medizinisch-naturwissenschaftlichen Erkenntnisse sind als für den Richter verbindlich hinzunehmen.“18 Auch als es kurz danach um die Geltung eines anderen Grenzwertes für Motorradfahrer ging, lehnte der BGH einen solchen mit einer Begründung ab, deren Eingangssatz lautete: „Die gegenwärtigen wissenschaftlichen Forschungsergebnisse gestatten keine zuverlässige Entscheidung darüber, auf welche bestimmte Höhe der Grenzwert für Kraftradfahrer herabgesetzt werden könnte,“19 wobei wiederum das Gutachten des Bundesgesundheitsamtes zitiert wird, nach welchem sich „wissenschaftlich nicht begründen lasse“, „eine ganze Skala von Grenzwerten für die verschiedenen Verkehrsteilnehmer“ aufzustellen.20 Der Rechtsprechung des BGH bis dahin lässt sich also (ungeachtet möglicher Einwände 21) attestieren, dass sie sich mit der Bestimmung von Grenzwerten strikt im Rahmen der Kompetenz eines Revisionsgerichts gehalten hat. Sie hat der Versuchung eigener Rechtspolitik widerstanden und mit der Suche nach Grenzen der Verantwortbarkeit alkoholbeeinflusster Verkehrsteilnahme lediglich die vom Gesetz vorgegebene Konkretisierungsaufgabe erfüllt. Bei dieser Tätigkeit hat sie sich mit der Bezugnahme auf die gesicherten Erkenntnisse der Wissenschaft nicht lediglich um rationale Kriterien bemüht, sondern damit zugleich auch dasjenige begriffliche Vehikel benutzt, mit dessen Hilfe sie sowohl einerseits in die Tatsachenfeststellung als Domäne der Tatgerichte hineinwirken wie auch andererseits damit eben diese Gerichte von schwierigen Problemen entlasten konnte. Könnte man einen der an dieser Entwicklung beteiligten Richter zu einer Stellungnahme zu Urteilen wie dem eingangs erwähnten des AG Löbau bitten, dürfte jedenfalls ein Aspekt einer solchen fiktiven Stellungnahme darin bestehen können, dass mit dem Hinweis auf mangelnde wissenschaftliche Grundlagen die Legitimität solch richterlichen Tuns in Frage gestellt würde.
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BGHSt 21, S. 157 ff. AaO, S. 159. 19 BGHSt 22, S. 352 ff, 356. 20 AaO, S. 357. 21 Etwa zur Divergenz zwischen den beiden Motorrad-Entscheidungen und zu den in Fn 16 erwähnten Abweichungen vom Gutachten des Bundesgesundheitsamtes. 18
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2. Schritte vom Wege Diese bis dahin methodisch einwandfreie Rechtsprechung des BGH geriet danach jedoch in eine heikle Phase. Ließ sich bis dahin sagen, dass sie nicht mehr an Rechtspolitik betrieben hat als mit der Konkretisierung eines unbestimmten Rechtsbegriffes unvermeidbar verbunden ist, so lassen sich einige spätere Entscheidungen nicht ganz vorbehaltlos ebenso beurteilen. Das gilt nicht so sehr derjenigen, mit der der BGH den Grenzwert für Kraftfahrer (mit 1,1 Promille) neu bestimmte.22 Die Festlegung des Grundwertes auf 1,0 statt, wie nach BGHSt 21, S. 157 ff, 1,1 Promille war zwar (bei einem von allen konkreten Verhältnissen losgelösten, „absoluten“ Wert) mit dem Hinweis auf die gewachsenen Verkehrsdichte nicht glücklich begründet, entfernte sich aber nicht weiter vom Ausgangspunkt – den gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen – als die Vorgängerentscheidung; das Gutachten des Bundesgesundheitsamtes hatte ja einen Wert von 1,0 bis 1,1 Promille genannt.23 Beide Entscheidungen hätten sich also für ihren jeweiligen Wert in Anbetracht der Offenheit des Gutachten-Vorschlages ebenso gut auf ihre normative Konkretisierungsfunktion und die Kompetenz der Rechtsprechung insoweit berufen können. Mit der Reduzierung des Sicherheitszuschlags auf 0,1 Promille konnte sich die Entscheidung in Anbetracht der Verbesserung der Messtechnik auch weiterhin auf die Erkenntnisse der Wissenschaft stützen. Was an dieser Entscheidung ein wenig befremdet ist nicht ihr Inhalt, es ist eher ihre Vorgeschichte: Dass der Vorsitzende mit dem Hinweis, der Senat werde so entscheiden 24, praktisch dazu aufrief, den 4. Senat des BGH mit einem geeigneten Fall zu befassen, zeugte mehr von rechtspolitischem Impetus als von richterlicher Zurückhaltung. Auch schon fast ein solcher „Aufruf“ hinsichtlich eines Radfahrer-Grenzwertes findet sich in dem anders kaum zu verstehenden obiter dictum am Ende der sogleich anzusprechenden „Mofa“-Entscheidung. Erstmals in dieser Entscheidung 25 und sodann auch in derjenigen, mit der erstmals ein Grenzwert für Radfahrer kreiert wurde,26 findet sich eine im Vergleich mit den früheren Entscheidungen nicht zu übersehende Absenkung der methodischen Standards. Zwar beruft sich der BGH auch hier auf die Bindung des Richters an gesicherte medizinisch-naturwissenschaftliche Forschungsergebnisse.27 Der Forschungsstand, auf den er sich dabei beruft, trägt das jedoch nicht. In beiden Fällen handelte es sich um die Ergebnisse
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BGHSt 37, S. 89 ff. Wie Fn 7, S. 50. BA 1990, S. 1 ff, 7: „bevorstehende … Änderung der Rechtsprechung“. BGHSt 30, S. 251 ff. BGHSt 34, S. 133 ff. BGHSt 30, S. 252 f; 34, 134.
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von Versuchen des Gießener Instituts für Rechtsmedizin unter der Leitung von Schewe 28, bei welchen Probanden jeweils nüchtern und danach alkoholisiert Fahraufgaben mit solchen Fahrzeugen zu bewältigen hatten. Gegen diese Experimente und ihre Auswertung soll hier zwar nun keinerlei Einwand erhoben werden – von gesicherten Erkenntnissen der Wissenschaft kann aber nicht die Rede sein, wenn keinerlei Kontrolluntersuchungen durch andere Wissenschaftler die Wiederholbarkeit des Experimentes und seiner Ergebnisse bestätigt haben. Daran aber fehlte es bezüglich der Gießener Experimente, als der BGH entschied, und das ist auch nicht dadurch auszugleichen, dass mit Heifer jeweils ein anerkannter Fachkollege äußerte, die Gießener Untersuchung werde „von allen Sachkennern akzeptiert“29. Irgendwelche Mitteilungen zum Erkenntnisstand, was Unfallstatistiken zur Unfallverursachung durch Fahrrad- oder Mofa-Fahrer betrifft, enthalten die beiden Entscheidungen nicht. Das ist deshalb als besonderes Defizit zu betonen, weil es bei §§ 316, 315c StGB um die Gefährdung Anderer geht, die eigentlich durch die Bezugnahme auf statistisches Material zu belegen gewesen wäre, so, wie es die frühere Rechtsprechung gefordert hatte.30 In der Radfahrerentscheidung empfindet der BGH offenbar dieses Defizit und versucht es durch allgemeine Erwägungen zur Fremdgefährdung auszugleichen: Radfahrer könnten „durch Anfahren von Personen oder Sachen Schäden verursachen. …Von erheblich größerer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, dass alkoholisierte Radfahrer wegen ihrer Gleichgewichtsbeeinträchtigung durch plötzliche, unkontrollierte Lenkbewegungen andere, erheblich schneller fahrende Verkehrsteilnehmer zu Ausweichmanövern veranlassen können, die nicht nur für die ausweichenden, sondern vor allem auch für die entgegenkommenden Verkehrsteilnehmer in hohem Maße gefährlich sind.“31 Das mag ja alles richtig ausgedacht sein, würde sogar für alkoholisierte Fußgänger zutreffen, vermag aber empirisches Material ebenso wenig zu ersetzen wie eine bestimmte BAK als Grenzwert zu begründen. Vollends „freihändig“ entschied der Senat sodann im Falle des Führens eines abgeschleppten Kraftfahrzeuges32: Zwar seien „wissenschaftliche Untersuchungen für den Spezialfall der Führer betriebsunfähiger abgeschleppter Fahrzeuge soweit ersichtlich bisher nicht durchgeführt worden“, aber: „Solcher Untersuchungen bedarf es hier auch nicht.“33 Der Senat könne nämlich,
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Schewe, BA 1980, S. 298 ff und BA 1984, S. 97 ff. Heifer, BA 1981, S. 270 f; BA 1986, S. 143. 30 Vgl. BGHSt 21 S. 157 ff, 159, wo von „gleichzeitig und gleichrangig zu würdigenden Ergebnissen sowohl der psychologischen und statistischen Alkoholforschung als auch von Fahrversuchen“ gesprochen wird. 31 BGHSt 34, S. 136. 32 BGHSt 36, S. 341 ff. 33 AaO, S. 346. 29
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so lassen sich die folgenden Erwägungen34 bewerten, solche Untersuchungen durch abstrakte Überlegungen zur Schwierigkeit und Gefährlichkeit solcher Verkehrsteilnahmeform ersetzen. (Dabei ist die Annahme, Alkohol vermindere die psycho-physische Leistungsfähigkeit des Führers des geschleppten Fahrzeugs nicht minder als die eines Kraftfahrers, ebenso selbstverständlich richtig wie der nachfolgende Satz schiere Behauptung bleibt, er sei auch ebenso gefährlich für andere Verkehrsteilnehmer.35) Zusammenfassend lässt sich zu dieser Phase der BGH-Rechtsprechung zum einen sagen, dass sie Grenzwerte eher „gesetzt“ als begründet hat.36 3. Die neuere Rechtsprechung Zum anderen kann man über die zuletzt kritisch berichtete Judikatur erfreulicherweise sagen, dass der BGH diese Linie in der soweit ersichtlich neuesten einschlägigen Entscheidung 37 nicht fortgeführt hat. In einem Falle, in dem bei dem mitgeteilten Befund 38 durchaus Sympathie mit dem Ergebnis „Fahrunsicherheit“ hätte erwartet werden können, hat der Senat der vom Landgericht angenommenen „sozusagen absoluten“ Fahrunsicherheit eine Absage erteilt und ist zur „sozusagen“ reinen Lehre zurückgekehrt: „Gesicherte Erfahrungswerte, die es erlauben, der Blutalkoholkonzentration von 1,1 Promille entsprechend „Grenzwerte“ der Blut-Wirkstoff-Konzentrationen für die Annahme „absoluter“ Fahruntüchtigkeit nach Drogenkonsum zu bestimmen, liegen bisher nicht vor … Um zu gesicherten Erkenntnissen zu gelangen, die unabhängig von rauschmittelbedingten Ausfallerscheinungen im Einzelfall den allgemeinen Grad der Gefährlichkeit einer toxischen Dosis in Bezug auf die Fahrtüchtigkeit belegen, bedürfte es verkehrsunfallstatistischer Untersuchungen über die dosisabhängige Steigerung des Unfallrisikos“, an denen es aber fehle.39 Da man wohl auch der Prognose Ernemanns40 zustimmen kann, dass solche Erkenntnisse „auch in Zukunft kaum zu erwarten sind“, wird es also auch in Zukunft keine von der Rechtsprechung entwickelten Grenzwerte für die anderen berauschenden Mittel geben.
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S. 346 f. Beides S. 347. 36 Damit soll nicht zu den inzwischen in praxi „geltenden“ Ergebnissen Stellung bezogen werden; die Kritik gilt nur der Methode. 37 BGHSt 44, S. 219 ff. 38 AaO, S. 220. 39 AaO, S. 222 f. 40 Wie Fn 3, Rn 30 zu § 316. 35
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III. Konsequenzen 1. Grenzwerte durch Richterspruch Man mag das bedauern und Grenzwerte auch für die „sichere“ Feststellung der Fahrunsicherheit nach Gebrauch solcher Mittel für praktisch hilfreich halten. Indes ist an das zu erinnern, was der BGH-Rechtsprechung zugrundeliegt: Für die Feststellung, dass ein Fahrzeugführer „mit Sicherheit“41 fahrunsicher ist, genügen nicht irgendwelche Praxisbedürfnisse; ein Beweis im Einzelfall kann nur dann erübrigt werden, wenn gesicherte Grundlagen in den Verkehrswissenschaften42 das ermöglichen. Alles andere wäre Rechtspolitik und vom Konkretisierungsauftrag nicht gedeckt, den der Gesetzgeber den Gerichten mit der Wahl des unbestimmten Rechtsbegriffs der Fahrunsicherheit erteilt hat. Dementsprechend müssen Gerichte die Fahrunsicherheit (als „relative“) im Einzelfall durch Beweiserhebung feststellen und, wo ein solcher Beweis nicht gelingt, freisprechen (bzw. lediglich nach § 24a StVG verurteilen). Soll ein Beweis allein schon als durch die Messung bestimmter Wirkstoff-Konzentrationen für das Führen bestimmter Arten von Fahrzeugen geführt angesehen werden, so geht das nur über die (ihrerseits zu beweisende!) Feststellung, dass dafür gesicherte Erkenntnisse der Wissenschaft vorliegen. Alles andere ist letztlich nicht mehr Rechtsprechung sondern Rechtspolitik, und die Festsetzung von Grenzwerten ist, wie der Kampf um § 24a StVG gezeigt hat, ein erhebliches Stück politischer Entscheidung, und solche Entscheidungen sind dem Parlament vorbehalten. „Grenzwerte“ für beliebige Arten von Fahrzeugen43 oder Stoffe44 ohne wissenschaftlich gesicherte Grundlagen und ohne Gesetz können nicht per „Auslegung“ gewonnen werden. 2. „Sicher fahrunsicher“ nach Atemalkoholmessung? Abschließend sei kurz Stellung zu der Frage bezogen, ob man von einer „absoluten“ oder, besser, „sicheren“ Fahrunsicherheit auch dann sprechen kann, wenn lediglich eine Atemalkohol-Messung (natürlich mit einem beweissicheren Gerät) vorliegt. Dabei soll es nicht um die Fragen gehe, wie wünschenswert eine jedenfalls teilweise Ersetzung der BAK-Ermittlung durch Atemalkoholmessungen sein mag 45, auch nicht darum, ob und ggfs. in 41
S. Fn 12. Als zusammenfassender Begriff für diejenigen Disziplinen der Wissenschaft gemeint, die die Grundlagen für das Gutachten des Bundesgesundheitsamtes von 1966 (Fn 7) lieferten. 43 S. dazu den Überblick bei Fischer, wie Fn 5, Rn 24–28. 44 Vgl. dazu etwa die falsche Entscheidung des AG Tiergarten, BA 2010, S. 248 ff. 45 Dazu zuletzt Nehm, NJW-Festheft zum 65. Geburtstag von Ingeborg Tepperwien, 2010, S. 45 ff. 42
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welchen Grenzen eine Entsprechung von AAK- und BAK-Werten nach wissenschaftlichen Erkenntnissen sicher festgestellt werden kann46. Solche Erkenntnisse gibt es schon, und es kann lediglich noch um wissenschaftlich umstrittene Grenzbereiche gehen. Demnach scheint es denkbar zu sein, auch im „sicheren Bereich“ solcher Umrechnungen von „absoluter Fahrunsicherheit ab einem AAK-Wert von x mg/l“ zu sprechen. Obwohl es Fälle geben wird, in denen das Gericht allein aufgrund eines jedenfalls genügend hohen Atemalkohol-Wertes verurteilen kann und muss, sollte man nicht nur aus letztlich politischen Gründen dann nicht von „absoluter“ Fahrunsicherheit sprechen47. Denn es gibt einen nicht behebbaren Unterschied zwischen der Sicherheit der Feststellung der Fahrunsicherheit durch die Messung der BAK einerseits und der AAK andererseits: Die („absolute“) Sicherheit der Feststellung von Fahrunsicherheit durch die Messung des Blutalkohols ergibt sich nicht zuletzt aus einer prinzipiell stets möglichen späteren Überprüfung des Weges zu dem Ergebnis etwa einer BAK von 1,2 Promille. Daran fehlt es bei der Atemalkoholmessung grundsätzlich, ihr Beweiswert hängt prinzipiell vom anerkannt schlechtesten aller Beweismittel ab, nämlich dem Zeugenbeweis; denn ohne die Sicherheit der Einhaltung der Verfahrensbedingungen für die Atemalkohol-Messung besteht auch keine Sicherheit über den Beweiswert von deren Ergebnis, und dieser Beweis lässt sich nur über Zeugen führen. Man sollte auch deshalb nicht von „absoluten“ Werten für die – durchaus mögliche – Feststellung der Fahrunsicherheit allein48 aufgrund einer AAK-Messung sprechen. Das Prädikat „sicher (bzw. absolut) fahrunsicher“ oder „mit Sicherheit fahrunsicher“ sollte solchen Verkehrsteilnehmern vorbehalten bleiben, deren Tatzeit-BAK das nach gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen ermöglicht.
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Vgl. dazu etwa die Untersuchung von Deitling und anderen, BA 2006, S. 276 ff. Dazu Nehm, wie Fn 45, S. 48. Also ohne beobachtete Ausfallerscheinungen im Verhalten des Beschuldigten.
Zur Strafbarkeit wegen fahrlässiger Tötung bei einverständlicher Fremdgefährdung Dieter Dölling
Der verehrte Jubilar hat sich in seinem umfangreichen Werk in mehreren Veröffentlichungen mit der Frage befasst, wie im Straßenverkehr begangene Fahrlässigkeitstaten gegen Mitfahrer, die sich bewusst einem gefährlichen Verhalten aussetzen, strafrechtlich zu beurteilen sind.1 Der vorliegende Beitrag hat daher ein vor einiger Zeit ergangenes Urteil des BGH zu dieser Problematik zum Gegenstand.2 Der Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde: 3 Der Angeklagte B und der mit ihm befreundete O – das spätere Tatopfer – gehörten zu einer „Szene“ junger Männer, die auf Autobahnen im Bodenseegebiet mit „hoch frisierten Autos“ Autorennen durchführten. B war Besitzer eines PKW VW Golf II, den er für Rennzwecke umgebaut hatte und der eine Höchstgeschwindigkeit von etwa 240 km/h erreichen konnte. Der Angeklagte H konnte einen PKW Porsche Carrera 4S nutzen, dessen Höchstgeschwindigkeit sich auf etwa 300 km/h belief. Der Angeklagte H war mit dem Angeklagten S befreundet. Am 30. März 2007 führten die drei Angeklagten und O auf einer vierspurig ausgebauten Bundesstraße sowie auf einer Autobahn „Beschleunigungstests“ durch. Bei einem auf der Bundesstraße stattfindenden Beschleunigungstest fuhr B mit dem O als Beifahrer auf dem linken und H mit S als Beifahrer auf dem rechten Fahrstreifen. Zur Durchführung des Rennens verringerten B und H zunächst die Geschwindigkeit von etwa 120 km/h auf ca. 80 km/h. Zumindest O gab dann durch Handzeichen das Startsignal. Darauf beschleunigten B und H die Fahrzeuge. Das Rennen wurde von S und O gefilmt. Auch nach dem Erreichen einer Geschwindigkeitsbeschränkung auf 120 km/h wurde das Rennen fortgeführt. Der von H 1 Vgl. Geppert Rechtfertigende „Einwilligung“ des verletzten Mitfahrers bei Fahrlässigkeitstaten im Straßenverkehr? ZStW 83 (1971), 947 ff.; Zu examensrelevanten Fragen im Rahmen alkoholbedingter Straßenverkehrsgefährdung (§ 315c Abs. 1 Nr. 1a StGB) durch Gefährdung von Mitfahrern, Jura 1996, 47, 48 ff.; „Auto-Surfen“ als gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr; einverständliche Fremdgefährdung, JK 1998, StGB § 315b/7; Gefährdung des Straßenverkehrs (§ 315c StGB) und Trunkenheit im Verkehr (§ 316 StGB), Jura 2001, 559, 565. 2 BGH, Urteil vom 20.11.2008 – 4 StR 328/08 – BGHSt 53, 55. 3 BGH a.a.O., 55 ff.
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gesteuerte Porsche hatte beim Erreichen des entsprechenden Verkehrszeichens eine Geschwindigkeit von mehr als 200km/h, der von B gesteuerte VW erreichte schließlich eine Geschwindigkeit von 213 km/h. H und B setzten das Rennen auch fort, als vor ihnen auf dem rechten Fahrstreifen ein von G gesteuerter, mit vier Personen besetzter und knapp 120km/h schneller PKW Opel Astra sichtbar wurde. Als G die Fahrzeuge bemerkte, steuerte er seinen PKW innerhalb des Fahrstreifens nach rechts; ein Standstreifen war im dortigen Bereich der Bundesstraße nicht vorhanden. B lenkte den VW auf dem linken Fahrstreifen zur Mittelleitplanke hin, H steuerte den Porsche über die mittlere Fahrbahnmarkierung hinaus auf den linken Fahrstreifen, um das Fahrzeug des G ebenfalls überholen zu können. Während des Überholvorgangs fuhren die drei Fahrzeuge zeitgleich nebeneinander. Der Abstand zwischen dem VW und dem Porsche betrug etwa 30 cm. Der VW geriet mit dem linken Reifen auf den Grünstreifen an der Mittelleitplanke. B versuchte, wieder auf die Fahrbahn zu gelangen, und führte hierbei eine zu starke Lenkbewegung aus. Der VW geriet ins Schleudern, kam rechts von der Fahrbahn ab, überschlug sich, prallte gegen ein Verkehrszeichen, schleuderte zurück gegen die Mittelleitplanke und kam nach etwa 300 Metern auf dem rechten Fahrstreifen zum Stehen. Dort geriet der VW in Brand. Bereits vor dem Erreichen des Endstandes wurden B und O, die nicht angeschnallt waren, aus dem Fahrzeug geschleudert. O verstarb an den bei dem Unfall erlittenen Verletzungen, B wurde schwer verletzt. Bei der Erörterung der Strafbarkeit der Fahrer B und H4 wegen fahrlässiger Tötung des O nach § 222 StGB ist an den Überholvorgang anzuknüpfen. Nach den tatrichterlichen Feststellungen konnten B und H den PKW des G so rechtzeitig erkennen, dass ein Abbrechen des Rennens „problemlos“ möglich gewesen wäre.5 Durch das Überholen haben B und H den Tod des O verursacht. Der Tatbestandserfüllung könnte jedoch entgegenstehen, dass sich O durch die Teilnahme an dem Rennen als Beifahrer selbst in Gefahr gebracht hatte. Wie das Tatgericht festgestellt hatte, war allen Beteiligten die mit der Durchführung der Autorennen verbundene Eigengefahr bewusst.6 In Rechtsprechung und Literatur ist für diese Problematik die Unterscheidung zwischen einverständlicher Fremdgefährdung und Teilnahme an eigenverantwortlicher Selbstgefährdung herausgearbeitet worden.7 Während
4 Der vorliegende Beitrag konzentriert sich auf die Strafbarkeit von B und H. Zur Strafbarkeit des S siehe mit unterschiedlichen Akzenten Duttge NStZ 2009, 690, 692; Puppe GA 2009, 486, 495 und Renzikowski HRRS 2009, 347, 351 f. 5 BGH (Fn. 2), 59. 6 BGH (Fn. 2), 56. 7 Vgl. BGHSt 32, 262; 46, 279, 288 f.; 49, 34, 39 f.; Roxin FS Gallas, 1973, S. 241 ff.; ders. Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. I, 4. Aufl. 2006, § 11 Rn. 106 ff.; Wessels/Beulke Strafrecht Allgemeiner Teil, 40. Aufl. 2010 Rn. 185 ff.; Dölling GA 1984, 71, 75 ff.
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die einverständliche Fremdgefährdung den Tatbestand der fahrlässigen Tötung erfüllen kann, ist die Teilnahme an einer eigenverantwortlichen Selbstgefährdung grundsätzlich straflos. Allerdings nehmen ältere Entscheidungen und ein Teil der Literatur diese Unterscheidung nicht vor; nach diesem Ansatz soll es darauf ankommen, ob die Selbstgefährdung des Opfers nach den Umständen des Einzelfalles die Sorgfaltswidrigkeit des Täters entfallen lässt.8 Es ist jedoch richtig, zwischen einverständlicher Fremdgefährdung und Teilnahme an einer eigenverantwortlichen Selbstgefährdung zu unterscheiden. Bei der Fremdgefährdung ist das Opfer der Wirkung der Handlung des Täters ausgesetzt, bei der Selbstgefährdung behält es das Geschehen bis zuletzt in der Hand und kann selbst entscheiden, wie weit es dabei gehen will.9 Die Fremdgefährdung stellt einen Eingriff in die Rechtssphäre des Opfers dar, bei der Teilnahme an der Selbstgefährdung wirkt der Beteiligte demgegenüber lediglich daran mit, dass das Opfer seine Rechtsgüter durch eine eigene Handlung gefährdet.10 Die Tötungsdelikte stellen die vorsätzliche und fahrlässige Fremdtötung unter Strafe, nicht die Mitwirkung an der Selbsttötung oder Selbstgefährdung eines anderen. Auch wenn zwischen Fremdgefährdung und Selbstgefährdung unterschieden wird, kann hinsichtlich des Verhältnisses mehrerer Personen, die jeweils fahrlässig eine Fremdgefährdung verursacht haben, der Einheitstäterbegriff bei den Fahrlässigkeitsdelikten zugrunde gelegt werden.11 Gegen den Ansatz, die Problematik mit Hilfe des Begriffs der Sorgfaltswidrigkeit zu lösen, spricht auch, dass die Beurteilung der Frage, ob wegen des Verhaltens des Gefährdeten nach den Umständen des Einzelfalles die Sorgfaltswidrigkeit des Täterverhaltens entfällt, mit erheblicher Rechtsunsicherheit verbunden ist.12 Es ist daher zwischen einverständlicher Fremdgefährdung und Teilnahme an eigenverantwortlicher Selbstgefährdung abzugrenzen. Die Abgrenzung 8 Siehe RGSt 57, 172, 173; BGHSt 4, 88; 7, 112, 115; Hirsch ZStW 74 (1962), 78, 95 f.; Gössel in: Maurach/Gössel/Zipf, Strafrecht Allgemeiner Teil, Teilbd. 2, 7. Aufl. 1989, § 43 Rn. 69; Puppe (Fn. 4), 493. Auch der Jubilar hat angenommen, dass die „Einwilligung“ des Gefährdeten im Einzelfall zur Verneinung der Sorgfaltspflicht führen kann (ZStW 83 [1971], 947, 992 f.), sich dann aber dafür ausgesprochen, die Problematik mit der Lehre von der objektiven Zurechnung zu lösen (Jura 1987, 668, 671; 1996, 47, 49 f.; JK 1998, StGB § 315b/7; Jura 2001, 490, 493 f.; 559, 565). 9 Roxin JZ 2009, 399. 10 Dölling JR 1994, 520. 11 Ein „Überschwappen“ der Unterscheidung zwischen einverständlicher Fremdgefährdung und Teilnahme an einer Selbstgefährdung auf die Fahrlässigkeitsdelikte im Allgemeinen mit der Folge der Aufgabe des Einheitstäterbegriffs befürchtet Puppe (Fn. 4), 492 f. Zum Einheitstäterbegriff bei den Fahrlässigkeitsdelikten siehe NK3-Puppe, Vor § 13 Rn. 178 ff. mit Nachweisen auch zur Gegenmeinung. Nach Renzikowski (Fn. 4), 348 setzt die Unterscheidung zwischen Selbst- und Fremdgefährdung einen restriktiven Täterbegriff auch für die Fahrlässigkeitsdelikte voraus. 12 Roxin (Fn. 9), 400; Beulke FS Otto, 2007, S. 207, 213; Lasson ZJS 2009, 359, 366; Dölling (Fn. 7), 76, 78.
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hat danach zu erfolgen, wer die lebensgefährliche Handlung vornimmt, die ohne weitere Zwischenschritte zum Tod des Opfers führen kann, und damit die „Gefährdungsherrschaft“ ausübt.13 Im vorliegenden Fall war der Überholvorgang die Handlung, die unmittelbar die Lebensgefahr herbeiführte. Den Überholvorgang haben B und H ausgeführt. O war der dadurch begründeten Lebensgefahr als Opfer ausgesetzt. Zwar wird zu bedenken gegeben, dass der vorliegende Fall mit einer Rallye im Motorsport verglichen werden könne, bei der der Beifahrer das Fahrtenbuch vorlese und die Lenkkommandos gebe und deshalb eine gleichrangige Herrschaft über das Fahrgeschehen wie der die Kommandos ausführende Fahrer ausübe.14 Anders als bei einer Rallye hatte jedoch O im vorliegenden Fall praktisch keine Möglichkeit, den Überholvorgang „mitzusteuern“, so dass allein B und H die unmittelbar zum Tod führenden Handlungen vornahmen. Es ist somit eine einverständliche Fremdgefährdung gegeben.15 Ein Teil der Literatur nimmt an, dass auch eine einverständliche Fremdgefährdung den Tatbestand der fahrlässigen Tötung nicht erfülle, wenn die Fremdgefährdung einer Selbstgefährdung unter allen relevanten Aspekten gleichstehe.16 Die Gleichstellung setzt nach dieser Ansicht voraus, dass der Gefährdete das Risiko in demselben Maß übersieht wie der Handelnde, der Schaden die Folge des von dem Gefährdeten eingegangenen Risikos und nicht hinzukommender anderer Fehler ist und der Gefährdete für den Vorgang dieselbe Verantwortung trägt wie der Handelnde.17 Hierbei wird es als wesentlicher Gesichtspunkt angesehen, wer die treibende Kraft des Geschehens ist, ob also der Handelnde oder der Gefährdete zu der riskanten Handlung drängte.18 Es erscheint jedoch zweifelhaft, ob es möglich ist, nach
13 BGH NJW 2003, 2326, 2327; BGHSt 53, 55, 61; LK12-Rönnau, Vor § 32 Rn. 167; Dölling (Fn. 7), 76, 78. 14 Kühl NJW 2009, 1158. 15 Duttge (Fn. 4) 691; Jahn JuS 2009, 370, 371; Kudlich JA 2009, 389, 390 f.; Rengier Strafrecht Besonderer Teil II, 11. Aufl. 2010, § 20 Rn. 6. Dagegen könnte im Verhältnis der Fahrer B und H eine Teilnahme an einer Selbstgefährdung anzunehmen sein. Der BGH hat zwar im Fall einer Wettfahrt zweier Motorradfahrer, bei der einer der Fahrer tödlich verunglückte, die Strafbarkeit des anderen Fahrers wegen fahrlässiger Tötung bejaht (BGHSt 7, 112). Da jedoch jeder Fahrer durch Teilnahme an der riskanten Aktion das Risiko selbst schafft, kann insoweit eine Selbstgefährdung bejaht werden (vgl. Roxin [Fn. 7], § 11 Rn. 108; ders. [Fn. 9], 399; Dölling [Fn. 7], 78). 16 Roxin (Fn. 7), § 11 Rn. 123 ff.; ders. (Fn. 9), 400 ff.; Hellmann FS Roxin, 2001, S. 281 ff.; HK-GS/M. Heinrich, 2008, Vor § 13 Rn. 141; Lasson (Fn. 12), 366. Der Jubilar hat sich dafür ausgesprochen, die einverständliche Fremdgefährdung generell der Teilnahme an einer Selbstgefährdung gleichzustellen, vgl. JK 1998, StGB § 315b/7; Jura 2001, 490, 493; 559, 565. Ebenso Otto Grundkurs Strafrecht Allgemeine Strafrechtslehre, 7. Aufl. 2004, § 6 Rn. 61 ff. 17 Roxin (Fn. 7), § 11 Rn. 124; ders. (Fn. 9), 401. 18 Roxin (Fn. 9), 403.
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diesen Kriterien bestimmte Fälle aus der einverständlichen Fremdgefährdung herauszulösen und der Teilnahme an der Selbstgefährdung gleichzustellen, denn in allen Fällen der einverständlichen Fremdgefährdung nimmt der Täter die todbringende Handlung vor und greift er in die Rechtssphäre des Opfers ein. Es ist auch problematisch, für die Gleichstellung einer Fremdgefährdung mit einer Selbstgefährdung darauf abzustellen, ob die gefährliche Handlung auf Drängen des Gefährdeten oder des Gefährders erfolgte, denn es handelt sich hierbei um Verhaltensweisen, die vor dem eigentlichen Tatgeschehen liegen und üblicherweise als Strafzumessungsgesichtspunkte herangezogen werden.19 Im vorliegenden Fall lehnt jedoch auch Roxin als Vertreter dieses Ansatzes eine Gleichstellung der einverständlichen Fremdgefährdung mit der Mitwirkung an einer Selbstgefährdung ab.20 Die Begründung hierfür liegt darin, dass O sich zwar bewusst den Gefahren des „Beschleunigungstests“ aussetzte, sein Einverständnis sich aber nicht auf das Risiko des äußerst gefährlichen Überholmanövers bezog, und B außerdem durch die „zu starke Lenkbewegung“ einen Fahrfehler begangen hatte.21 Eine Gleichstellung der Fremdgefährdung mit einer Selbstgefährdung kann auch nicht daraus hergeleitet werden, dass bei früheren Rennen wechselweise O oder B Fahrer bzw. Beifahrer des jeweiligen Fahrzeugs waren22 und deshalb angenommen werden könnte, dass die Rollenverteilung zwischen Fahrer und Beifahrer weitgehend vom Zufall abhing. Maßgeblich ist – wie der BGH zutreffend ausgeführt hat23 – die tatsächliche Situation beim Schadenseintritt, und in dieser Situation setzte B das unmittelbar todbringende Risiko. B und H haben den Tod des O fahrlässig verursacht.24 Es war für sie voraussehbar, dass der gegen mehrere Vorschriften der Straßenverkehrsordnung verstoßende sehr riskante Überholvorgang 25 zum Tod des O führen konnte, und deshalb durften sie den Überholvorgang nicht durchführen.26
19 Kritisch zur „Gleichstellungslehre“ auch Murmann Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, 2005, S. 424 ff. und Beulke (Fn. 12) S. 214. 20 Roxin (Fn. 9), 401 f. 21 Roxin (Fn. 9), 402. Für Gleichstellung mit der Selbstgefährdung Lasson (Fn. 12), 367. 22 BGHSt 53, 55, 56. 23 A.a.O., 62. 24 Zum Aufbau des fahrlässigen Begehungsdelikts, auf den vorliegend nicht näher eingegangen werden kann, vgl. Jescheck/Weigend Lehrbuch des Strafrechts Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996, §§ 54 ff.; Wessels/Beulke (Fn. 7), § 15; Kühl Strafrecht Allgemeiner Teil, 6. Aufl. 2008, § 17; Gropp Strafrecht Allgemeiner Teil, 3. Aufl. 2005, § 12. 25 Siehe BGHSt 53, 55, 58 f.: Verstöße gegen § 29 Abs. 1 StVO (verbotenes Rennen mit Kraftfahrzeugen), § 5 Abs. 4 S. 2 StVO (kein ausreichender Seitenabstand beim Überholen), § 7 Abs. 5 StVO (Fahrstreifenwechsel durch H trotz Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer) und § 1 Abs. 2 StVO, nach dem B und H alles unternehmen mussten, um die mit dem Überholvorgang verbundene Gefährdung zu vermeiden. 26 Zur Zurechnung des Todes des O zum Verhalten des H siehe auch Renzikowski (Fn. 4), 351.
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Ihre Strafbarkeit hängt daher davon ab, ob ihre Tat durch eine Einwilligung des O gerechtfertigt ist. Bei der Einwilligung handelt es sich um einen Rechtfertigungsgrund, sie schließt nicht bereits den Tatbestand aus.27 Dies hat der Jubilar näher begründet.28 Der Charakter der Einwilligung als Rechtfertigungsgrund ergibt sich insbesondere daraus, dass bereits die Unversehrtheit des jeweiligen Gutes für sich allein einen durch den jeweiligen Tatbestand geschützten Wert darstellt und das Rechtsgut damit nicht erst durch die Dispositionsbefugnis des Rechtsgutsträgers konstituiert wird.29 Es ist allgemein anerkannt, dass auch bei einem Fahrlässigkeitsdelikt die Rechtswidrigkeit durch eine Einwilligung ausgeschlossen sein kann.30 Umstritten ist jedoch, ob sich die Einwilligung nur auf die Tathandlung beziehen muss31, oder ob der Einwilligende auch den Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolges zumindest billigend in Kauf nehmen muss 32. Die Frage ist für die Fälle der einverständlichen Fremdgefährdung von Bedeutung, da hier der Gefährdete zwar bewusst ein Risiko eingeht, aber in der Regel darauf vertrauen wird, dass der Erfolg nicht eintritt. Die Vertreter der Ansicht, dass sich die Einwilligung auf die Tathandlung und den Erfolg beziehen muss, begründen ihre Auffassung in der Regel mit dem Argument, dass sich das tatbestandsmäßige Unrecht aus der Handlung und dem Erfolg zusammensetze und die Einwilligung alle Merkmale des Tatbestandes, also auch den Erfolg, umfassen müsse.33 Es sprechen jedoch gute Gründe dafür, die Einwilligung in die Tathandlung genügen zu lassen. Rechtsgüter werden dadurch geschützt, dass für die Güter gefährliche Handlungen verboten werden. Bei den einwilligungsfähigen Rechtsgütern kann der Rechtsgutsträger den Handelnden von dem Verbot freistellen.34 Damit ist die gefährliche Handlung erlaubt, ohne dass es darauf 27 BGHSt 16, 309; Kühl (Fn. 24), § 9 Rn. 22; HK-GS/Dölling, 2008, § 228 Rn. 1; für Tatbestandausschluss Maurach/Zipf Strafrecht Allgemeiner Teil, Teilbd. 1, 8. Aufl. 1992, § 17 Rn. 33; Roxin (Fn. 7), § 13 Rn. 12. Zur Unterscheidung zwischen rechtfertigender Einwilligung und tatbestandsausschließendem Einverständnis vgl. Wessels/Beulke (Fn. 7), Rn. 361 ff. 28 Siehe Geppert ZStW 83 (1971), 947, 959 ff. 29 A.a.O., 967. 30 Jescheck/Weigend (Fn. 24), § 56 II. 3. (S. 590). 31 Dafür KG JR 1954, 428, 429; OLG Celle NJW 1964, 736; BayObLG NJW 1968, 665; Kühl (Fn. 24), § 17 Rn. 83; NK3-Paeffgen, § 228 Rn. 12; Frisch NStZ 1992, 62, 66; Hillenkamp JuS 1971, 166, 171; HK-GS/Dölling, 2008, § 228 Rn. 7; vgl. auch Jakobs Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1993, 7. Abschn. Rn. 126 ff.: „unfinale Einwilligung“. 32 So Roxin (Fn. 7), § 11 Rn. 121, § 24 Rn. 108; Hellmann (Fn. 16), S. 275; LK12-Rönnau, Vor § 32 Rn. 164, 168; Duttge (Fn. 4), 691; ders. FS Otto, 2007, S. 227, 232 ff.; Lasson (Fn. 12), 366. Der Jubilar hat zunächst dargelegt, dass Gegenstand der Einwilligung die Tathandlung und der Taterfolg sind (ZStW 83 [1973], 947, 971 ff.), dann aber die rechtfertigende Einwilligung darüber hinaus auf „Einwilligung in Risikoverhalten“ erweitert (Jura 1987, 668, 672). 33 Roxin (Fn. 9), 400; Hellmann (Fn. 16), S. 276 f. 34 Vgl. Hirsch FS Welzel, 1974, S. 775, 797 Fn. 69.
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ankommt, ob der Rechtsgutsträger sich mit dem Erfolgseintritt abfindet oder auf das Ausbleiben des Erfolges vertraut.35 Mit der Gestattung der Tathandlung hängt der Erfolg gewissermaßen in der Luft und vermag er eine Strafbarkeit des Handelnden nicht zu begründen.36 Für diese Lösung kann mit Beulke auch angeführt werden, „dass dem Einwilligenden ansonsten eine Art venire contra factum proprium vorzuwerfen wäre – es mutet schlichtweg gekünstelt und lebensfremd an, wenn derjenige, der einwilligt, dass seine Rechtsgüter gefährdet werden, später einwendet, er habe mit dem Eintritt des Schadens nicht gerechnet“37. Kann somit die Einwilligung in eine gefährliche Handlung ausreichen, um eine Fahrlässigkeitstat zu rechtfertigen, stellt sich die Frage, ob dies auch gilt, wenn die Handlung zu einer konkreten Lebensgefahr für den Einwilligenden führt. Hiergegen kann die in § 216 StGB enthaltene gesetzliche Wertung angeführt werden. Die Heranziehung dieser Wertung verstößt nicht gegen das Analogieverbot des § 103 Abs. 2 GG, da das Rechtsinstitut der Einwilligung im StGB nur punktuell geregelt ist.38 Zwar betrifft das Verbot des § 216 StGB die gezielte Tötung und nicht die Lebensgefährdung.39 Entscheidend ist jedoch, ob die Grundgedanken, die dem § 216 StGB zugrunde liegen, auch bei einer Lebensgefährdung eingreifen.40 § 216 StGB dient dem Schutz der allgemeinen Achtung fremden menschlichen Lebens.41 Fremdes Leben soll unantastbar sein, auch dann, wenn ein anderer Mensch getötet werden will. Die Vorschrift schützt außerdem vor übereilten Entscheidungen, denn es kann leichter sein, einen anderen um die Tötung zu bitten, als die Tötungshandlung selbst auszuführen.42 Schließlich könnten sich Missbrauchsgefahren und Beweisschwierigkeiten ergeben, wenn eine Tötung auf Verlangen zulässig wäre.43 Diese Gedanken treffen grundsätzlich auch auf eine Einwilli-
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Dölling (Fn. 7), 84. Siehe Murmann (Fn. 19), S. 431 f.; Renzikowski (Fn. 4), 353 f. und Brüning ZJS 2009, 194, 197. 37 (Fn. 12), S. 215. 38 Kudlich (Fn. 15), 391; vgl. aber auch Beulke (Fn. 12), S. 216 sowie Duttge (Fn. 4), 691 und (Fn. 32), S. 227, 231. 39 Deshalb wird teilweise angenommen, dass sich aus § 216 StGB keine Schlussfolgerungen für die fahrlässige Tötung herleiten ließen, siehe Schönke/Schröder 28Lenckner/Sternberg-Lieben, Vor § 32 Rn. 104; Duttge (Fn. 4), 691 und (Fn. 32), S. 227, 230 f; Kühl (Fn. 14), 1158 f. Auch der Jubilar lehnt eine „Sperrwirkung“ des § 216 StGB in Bezug auf lebensbedrohliche Fremdgefährdungen ab, vgl. Jura 1996, 47, 49 f. 40 Siehe zu den Grundgedanken des § 216 StGB Dölling (Fn. 7), 85 f.; ders. FS Laufs, 2006, S. 767, 771 f. 41 Engisch FS H. Mayer, 1966, S. 399, 412 f., 415; Hirsch (Fn. 34), S. 779, 782. 42 Engisch a.a.O., S. 412; Hirsch (Fn. 34), S. 779 f. 43 Schönke/Schröder 28-Eser, § 216 Rn. 1. 36
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gung in eine konkrete Lebensgefahr zu.44 Würde das darin liegende „Spiel mit dem Tode“45 uneingeschränkt zugelassen, könnte dies die allgemeine Achtung fremden Lebens beinträchtigen. Auch und gerade bei Einwilligungen in Lebensgefährdungen besteht die Gefahr, dass sie übereilt erteilt werden. Wäre es grundsätzlich zulässig, andere Personen mit deren Einwilligung in Lebensgefahr zu bringen, könnten Menschen zu derartigen Einwilligungen gedrängt werden. Und hätten Einwilligungen in konkret lebensgefährliche Handlungen grundsätzlich rechtfertigende Wirkung, könnten Täter von fahrlässigen Tötungen die unter Umständen schwer zu belegende Behauptung aufstellen, das Opfer habe in die gefährliche Handlung eingewilligt. Dies spricht dafür, die rechtfertigende Wirkung einer Einwilligung in konkret lebensgefährliche Handlungen grundsätzlich abzulehnen. Allerdings stellen Fahrlässigkeitsdelikte weniger gewichtige Rechtsgutsangriffe als Vorsatztaten dar und gibt es Fälle, in denen eine mit Einwilligung des Opfers vorgenommene Lebensgefährdung nicht strafwürdig ist. Der Einwilligung ist daher ausnahmsweise dann rechtfertigende Wirkung zuzuerkennen, wenn der mit der Tat verfolgte Zweck in Verbindung mit der durch die Einwilligung betätigten Opferautonomie den Unwert der fahrlässigen Tötung überwiegt.46 Hiervon kann im vorliegenden Fall, in dem es den Beteiligten um eine mit Spannung verbundene Freizeitbeschäftigung ging, nicht die Rede sein. Zu dem gleichen Ergebnis gelangt man, wenn die Wertung des § 228 StGB herangezogen wird.47 Die neuere Rechtsprechung hat herausgearbeitet, dass eine Körperverletzung grundsätzlich im Sinne des § 228 StGB gegen die guten Sitten verstößt, wenn die Tat den Verletzten in konkrete Todesgefahr bringt.48 Konkret lebensgefährliche Handlungen des Täters sind damit grundsätzlich der Dispositionsbefugnis des Opfers entzogen.49 Ein positiver Zweck, der dazu führen könnte, trotz der konkreten Lebensgefahr die Sittenwidrigkeit der Tat zu verneinen,50 ist im vorliegenden Fall nicht ersichtlich. B und H sind daher der fahrlässigen Tötung des O schuldig. 44 Dölling (Fn. 7), 87 f.; vgl. auch Lasson (Fn. 12), 366, nach dem der Rechtsgedanke des § 216 StGB der Wirksamkeit einer Einwilligung auch bei Fahrlässigkeitsdelikten nicht nur grundsätzlich, sondern generell entgegensteht. 45 So die Formulierung des Jubilars in ZStW 83 (1971), 947, 987. 46 Dölling (Fn. 7), 90 f.; ders. FS Gössel, 2002, S. 209, 213 ff.; Helgerth NStZ 1988, 261, 263; siehe auch Jakobs (Fn. 31), 14. Abschn. Rn. 12: rechtfertigende Wirkung einer Einwilligung in ein Tötungsrisiko, wenn „ein vernünftiger Grund besteht, die Tat trotz des Risikos zu vollziehen“; für rechtfertigende Wirkung der Einwilligung ohne Güterabwägung Beulke (Fn. 12), S. 216 f. 47 Für Anwendung des § 228 StGB LK12-Walter, Vor § 13 Rn. 129. Zur Problematik der Heranziehung des § 228 StGB vgl. Beulke (Fn. 12), S. 216 f.; Lasson (Fn. 12), 366; Dölling (Fn. 7), 89 f. Nach Kühl (Fn. 14), 1159 ist § 222 StGB von § 228 StGB noch weiter entfernt als von § 216 StGB. 48 BGHSt 49, 34, 44; 166, 173. 49 Rengier (Fn. 15), § 20 Rn. 14. 50 LK11-Hirsch, § 228 Rn. 9; HK-GS/Dölling, 2008, § 228 Rn. 14.
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Durch den Überholvorgang haben sich B und H auch wegen Gefährdung des Straßenverkehrs nach § 315c Abs. 1 Nr. 2b) StGB strafbar gemacht. Das gilt auch, wenn man mit dem BGH annimmt, dass die Gefährdung Tatbeteiligter nicht unter den Tatbestand fällt51, denn durch den Überholvorgang waren auch die Insassen des von G gesteuerten Fahrzeugs konkret gefährdet.52 Damit seien die Ausführungen zu einer Problematik abgeschlossen, zu deren Bewältigung der verehrte Jubilar wichtige Beiträge geleistet hat.
51 Vgl. BGHSt 11, 199, 203. Nach Ansicht des Jubilars erfasst dagegen § 315c StGB auch die Gefährdung Tatbeteiligter, siehe Jura 1996, 47, 48; 2001, 559, 565. 52 Vgl. BGH NJW 2009, 1155, 1157 (insoweit in BGHSt 53, 55 nicht abgedruckt). Nimmt man an, dass auch die Gefährdung Tatbeteiligter unter § 315c StGB fällt, könnte insoweit die Frage nach der Möglichkeit einer rechtfertigenden Einwilligung aufgeworfen werden (vgl. Kudlich [Fn. 15], 389, 391). Der BGH verneint die Frage, weil § 315c StGB mit der Sicherheit des Straßenverkehrs in erster Linie ein Rechtsgut der Allgemeinheit schützt (siehe BGHSt 23, 261). Der Jubilar hält eine zum Wegfall der Strafbarkeit nach § 315c StGB führende Einwilligung nur im Fall des § 315c Abs. 1 Nr. 1a) StGB für möglich, da in diesem Fall die verbleibende abstrakte Gefährdung durch § 316 StGB erfasst wird. Bei den übrigen Varianten des § 315 c StGB lässt die Einwilligung nach Ansicht des Jubilars die Strafbarkeit nach dieser Vorschrift unberührt (vgl. ZStW 83 [1971], 947, 985f.; Jura 1996, 47, 49; für die Möglichkeit einer strafausschließenden Einwilligung bei allen Varianten des § 315c StGB Kudlich [Fn. 15], 391).
Der Zustand der Trunkenheit schließt die Willkürlichkeit der Handlungen aus, und was ein Mensch in diesem Zustande tut, muss – bis etwa das Gegenteil erwiesen ist – für ein Werk des tierischen Begehrens gehalten werden. (…) Ist Willkürlichkeit der höchste und einzige Grund aller Strafbarkeit, so kann (…) die Handlung aus Trunkenheit nicht bestraft werden. (Paul Johann Anselm von Feuerbach) 1
Der Vollrauschtatbestand de lege lata und de lege ferenda Gunnar Duttge I. Ein nicht geringer Teil von Straftaten wird unter Alkoholeinfluss verübt. Die jüngste polizeiliche Kriminalstatistik veranschlagt den Anteil an der Gewaltkriminalität (§§ 176–178, 211 ff., 223 ff., 249 ff. StGB) auf etwa ein Drittel aller polizeilich registrierten Fälle.2 Auf ähnlich hohem Niveau liegt innerhalb dieses Deliktsbereiches auch der Anteil an alkoholisierten Tatverdächtigen (32,5%) und damit deutlich höher als der auf die Gesamtdelinquenz bezogene Wert, wonach freilich noch immer durchschnittlich jeder achte Tatverdächtige erheblich alkoholisiert ist.3 Eine besorgniserregende Entwicklung des Alkoholmissbrauchs und seiner Folgen ist in den letzten Jahren insbesondere bei Jugendlichen und Heranwachsenden festzustellen („Komasaufen“, hauptsächlich in der Altersgruppe der 16–19Jährigen) 4; der Zweite Periodische Sicherheitsbericht der Bundesregierung (2006) konstatiert aber auch allgemein eine (nach wie vor) weite Verbreitung und Akzeptanz des (mäßigen) Alkoholkonsums in der deutschen Gesellschaft und ein 1 Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts, Teil 2, 1800 (Neudruck 1966), S. 176 f. 2 Polizeiliche Kriminalstatistik 2010, S. 8: 33,1 % (für das Jahr 2009); bei schweren oder gefährlichen Körperverletzungsdelikten wird der Anteil mit 36,2% beziffert. 3 Polizeiliche Kriminalstatistik 2009, S. 12: 13,7 % aller Tatverdächtigen. 4 Dazu eingehend die im Auftrag der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung durchgeführte Studie zur „Drogenaffinität Jugendlicher und junger Erwachsener im Alter von 12 bis 25 Jahren“, 2004, Teilbd. Alkohol; siehe zur aktuellen Situation auch Schwind, Kriminologie, 20. Aufl. 2010, § 26 Rn 2 ff.
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erhebliches Ausmaß von „Alltagssüchten“ (neben Alkohol auch Nikotin und Medikamente), die „nicht bagatellisiert werden“ dürften.5 Zu den repressiven Maßnahmen im Rahmen eines „ganzheitlichen Bekämpfungsansatzes“ zählt der Sicherheitsbericht „an erster Stelle“ die Bestrafung des „Vollrausches“, wodurch „dem Schutz der Allgemeinheit vor den durch Berauschte erfahrungsgemäß ausgehenden Gefahren“ Rechnung getragen werde.6 Dem liegt erklärtermaßen die Annahme zugrunde, dass „Alkohol und Kriminalität … eng zusammen“ hingen, d.h. der Alkoholisierung „vielfach eine mitursächliche, auslösende, begünstigende oder begleitende Rolle“ bei der Straftatbegehung zufalle, wenngleich „es sich in der Regel nicht um einfache lineare Kausalbeziehungen“ handle.7 Dieser hier etwas unscheinbar daherkommende „blinde Fleck“ findet sich im Ersten Periodischen Sicherheitsbericht (2001) noch wesentlich deutlicher formuliert mit der – nach Vorstehendem doch einigermaßen überraschenden – Feststellung, dass allein aus dem Umstand der Alkoholisierung „noch nicht viel abzuleiten“ sei: „Bei Straftaten, die auf Planung angelegt sind bzw. während ihrer Durchführung Präzision und einen kühlen Kopf erfordern, (…) würden größere Alkoholmengen die Tatausführung nur beeinträchtigen oder scheitern lassen, von der Gefahr des Entdecktwerdens infolge mangelnder Vorsicht ganz zu schweigen. Im Ergebnis komplexer persönlicher, lebensgeschichtlicher und sonstiger Wirkungszusammenhänge läuft dies darauf hinaus, dass höhere Alkoholisierungsgrade vorwiegend mit Gewalt- und gewalttätigen Sexualdelikten verknüpft sind“8. Mit anderen Worten weisen Alkoholisierung und kriminelles (insbesondere gewalttätiges) Verhalten zwar ex post einen „hohen korrelativen Zusammenhang“ auf („wenn Straftat, dann häufig unter Alkohol“); jedoch kann ex ante aus einer Alkoholisierung trotz der ihr stets immanenten Enthemmung nicht ohne weiteres auf (irgend-)eine Straftatbegehung geschlossen werden. Vielmehr gilt auch nach aktuellem Stand der kriminologischen Forschung dasjenige, was Klaus Foerster in seinem gemeinsam mit Ulrich Venzlaff herausgegebenen Handbuch zur „Psychiatrische(n) Begutachtung“ unmissverständlich wie folgt festgehalten hat: Es gibt generell „weder spezifische Straftaten unter Alkoholeinfluss, noch hat der Alkohol per se eine spezifische kriminogene Wirkung (…)“9.
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Zweiter Periodischer Sicherheitsbericht, 2006, S. 283 und 317. Zweiter Periodischer Sicherheitsbericht, 2006, S. 295 mit dem sprachlich kryptischen und verräterischen Zusatz: „wenn sich diese in rechtswidrigen Taten manifestieren“. 7 Zweiter Periodischer Sicherheitsbericht, 2006, S. 281 und 297. 8 Erster Periodischer Sicherheitsbericht, 2001, S. 213 f. 9 Foerster, in: Venzlaff/ders. (Hrsg.), Psychiatrische Begutachtung. Ein praktisches Handbuch für Ärzte und Juristen, 5. Aufl. 2009, Kap. 12.1. (S. 242). 6
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Was dann aber den unspezifischen Vollrauschtatbestand noch zu rechtfertigen vermag, der die Begehung irgendeiner (strafrechtlich relevanten, vgl. § 11 Abs. 1 Nr. 5 StGB) „rechtswidrigen Tat“ im Rauschzustand genügen lässt, ist eine Frage, die schon seit langem diskutiert wird; vor etwas mehr als einem Jahrzehnt war sie anlässlich zweier (gescheiterter) Reformvorhaben10, die allerdings ausschließlich auf die Befriedigung kriminalpolitischer Bedürfnisse gerichtet waren, und im Zusammenhang mit dem Abschlussbericht der „Kommission zur Reform des strafrechtlichen Sanktionensystems“ (März 2000) Gegenstand kontroverser Debatten,11 ohne dass sich jedoch die Gesetzeslage seither verändert hat. Als wären die seinerzeit mit Nachdruck erhobenen Zweifel an einer Vereinbarkeit mit dem Schuldprinzip12 niemals geäußert worden, spricht noch der Erste Periodische Sicherheitsbericht ganz unbefangen von einem „Auffangtatbestand, wenn ansonsten ein Freispruch aufgrund der akuten Intoxikation anstünde“13. Demgegenüber lässt ein Beschluss des OLG Hamm neuerdings aufhorchen, der – abweichend von der höchstrichterlichen Rspr. der letzten Jahrzehnte und formal14 an eine frühe Entscheidung des 5. Strafsenates15 anknüpfend – einer restriktiven Auslegung des § 323a StGB im subjektiven Tatbestand folgt.16 Jedoch steht der Behauptung, es bedürfe zusätzlich einer „subjektiven Vorwerfbarkeitsbeziehung“ mit Blick auf die Rauschtat (konkret: der Vorhersehbarkeit zumindest „irgendwelcher Ausschreitungen strafbarer Art“17 oder – nochmals restriktiver – gerade solcher Ausschreitungen „von der Art der eingetretenen“18), verbrechenssystematisch so lange der unauflösliche Bezug jed-
10 Gesetzentwurf des Bundesrates zur Verschärfung des § 323a StGB (BR-Drucks. 123/97 und 97/99), der auf einen Entwurf des Landes Berlin vom Februar 1997 zurückgeht, sowie Entwurf der CDU/CSU-Fraktion (BT-Drucks. 14/545), hervorgegangen aus einem Antrag des Freistaats Bayern (BR-Drucks. 123/2/97). 11 U.a. auch im Rahmen des „Marburger Strafrechtsgesprächs“, siehe den Tagungsbericht von Geißler, JR 2000, 489 ff. 12 Aus der älteren Literatur insbesondere Arthur Kaufmann, JZ 1963, 425 ff.; aus jüngerer Vergangenheit vor allem Freund/Renzikowski, ZRP 1999, 497 ff.; Geisler, Zur Vereinbarkeit objektiver Bedingungen der Strafbarkeit mit dem Schuldprinzip, 1998, S. 363 ff., sowie in GA 2000, 174 ff.; Renzikowski, ZStW 112 (2000), 475 ff.; Sick/Renzikowski, ZRP 1997, 484 ff. 13 Erster Periodischer Sicherheitsbericht, 2001, S. 212 (im Bericht 2006 ist diese Formulierung nicht mehr enthalten). 14 Dazu, dass der Verweis in der Sache die Rspr. des BGH nicht trifft, näher Geisler, NStZ 2009, 41 f. 15 BGHSt 10, 247 ff. 16 OLG Hamm NStZ 2009, 40 m. Anm. Geisler. 17 So das OLG Hamm, ebd. 18 So insbesondere Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. I, 4. Aufl. 2006, § 23 Rn 9; zust. Münchener Kommentar zum StGB (MüKo)/Geisler, § 323a Rn 57 ff.; ähnlich Geppert, Jura 2009, 40, 41: „Übereinstimmung sowohl in der Art des verletzten Rechtsguts als auch im Handlungsunrecht“.
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weden Vorsatzes auf die objektiven Tatumstände des jeweiligen Delikts (vgl. § 16 Abs. 1 S. 1 StGB) entgegen, wie es im objektiven Tatbestand an einem damit korrelierenden Zusatzerfordernis fehlt.19 Wenn sich der Unrechtstatbestand des § 323a StGB im Sinne der herkömmlichen Lesart aber bereits im (übermäßigen) Sich-Berauschen erschöpft, formaliter seiner tatbestandlichen Fassung gemäß und materiell, um einer direkten Kollision mit dem Schuldprinzip zu entgehen, so haftet jedwedem Restriktionsversuch allein im täterpersönlichen Unrecht unweigerlich das Odium der Willkürlichkeit an. Damit lässt sich schon erahnen, was gemeint sein könnte, wenn der verehrte Jubilar von einer Strafvorschrift spricht, die – gleichsam zwischen Scylla und Charybdis changierend, d.h. der Illegitimität eines bloßen Alkoholkonsumtatbestands und der Verletzung des Schuldgrundsatzes – „mit einem Spannungsverhältnis belastet [ist], das … kaum überwindbare dogmatische Schwierigkeiten bereitet“ und ganz „erhebliche Auslegungsschwierigkeiten“ nach sich zieht.20 Ihm ist dabei sehr zu danken, dass er die Diskussion mit einem gewohnt souveränen und differenzierten, nur scheinbar bloß „repetierenden“ Beitrag justament zu einem Zeitpunkt wiederbelebt hat,21 zu dem die nach wie vor offene, schwelende Problematik beinahe schon vergessen schien. Hieran kann im Folgenden nahtlos angeknüpft werden auf der Suche nach einer – seit langem überfälligen – Lösung, wie sich dem verständlichen Unbehagen an jedwedem „Freibrief“ 22 gegenüber einem sich schuldhaft der Selbstkontrolle Beraubenden mit einer fairen, dogmatisch stimmigen Inverantwortungnahme desselben gerecht werden lässt. Hiermit verbinden sich die aufrichtigsten Glückwünsche für einen Kollegen, der wie kaum ein anderer insbesondere auch die schwierigen Grenzfragen im Überschneidungsbereich von Strafrechtsdogmatik, Kriminologie und Medizin (vor allem mit Blick auf den Straßenverkehr) zum Gegenstand seiner Forschungen und Lehre gemacht hat, letzteres in Form zahlloser „Jura-Examensbeiträge“ und „Karteikarten“ in besonderer Weise zum Wohle des juristischen Nachwuchses. Ihm zu Ehren seien die nachfolgenden Überlegungen gewidmet in der Hoffnung, dass er – der Theoretiker und Praktiker in einem – das Resultat am Ende nicht so aufnehmen möge, wie es Spendel für Abhandlungen zum Vollrauschtatbestand prognostiziert hat: „ein willkommener Gegenstand subtiler, aber oft praktisch wenig brauchbarer Untersuchungen“23. 19 Schon von Cramer (Der Vollrauschtatbestand als abstraktes Gefährdungsdelikt, 1962, S. 94) zutreffend beanstandet, der deshalb ganz folgerichtig eine Begrenzung der Strafbarkeit bereits im objektiven Tatbestand fordert. 20 Geppert, Jura 2009, 40 (Rubrik: „Repetitorium“). 21 Siehe zuvor aber auch schon seinen grundlegenden Beitrag in der Schlüchter-GS, 2002, S. 43, 55 ff. 22 Leipziger Kommentar zum StGB (LK)/Spendel, 11. Aufl. 1995, § 323a Rn 2. 23 LK/Spendel, § 323a Rn 1.
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II. Die dogmatischen Unstimmigkeiten in der Konstruktion des Vollrauschtatbestandes sind seit langem bekannt und rasch erzählt: Obgleich die „recht unorthodoxe Tatbestandsbeschreibung“24 vorgibt, dass das Unrecht der Tat bereits mit dem vorsätzlichen oder fahrlässigen „Sichberauschen“ vollumfänglich verwirklicht sei, gilt schon von Gesetzes wegen für Strafzumessung und Strafverfolgung die Rauschtat gleichwohl als relevanter (Strafobergrenze) oder gar ausschlaggebender (Strafantrag) Faktor (vgl. Abs. 2, 3). Wenn es aber so liegt, dass die Verursachung einer schwereren Rauschtat (z.B. die Begehung eines Mordes) – innerhalb des in Abs. 1 vorgegebenen Strafrahmens – eine höhere Strafe zur Folge hat als die Verwirklichung einer leichteren (z.B. eines Diebstahls „von ein paar Gummibärchen“)25, dann kommt dieser Rauschtat nach dem Willen des Gesetzgebers mittelbar eben doch – und dem ersten Anschein zuwider („objektive Bedingung der Strafbarkeit“) – eine schuldrelevante Bedeutung zu: Denn Grundlage und rahmensetzende Begrenzung der Strafzumessung ist das schuldhaft begangene Unrecht mitsamt der hierdurch (schuldhaft) verursachten Tatfolgen (§ 46 Abs. 1, 2 StGB). Wollte man hingegen Ernst machen mit der Devise, dass allein die (gefährliche) Selbstberauschung und nicht die Rauschtat Grund der Bestrafung sei (wofür der einheitliche, begrenzte Strafrahmen des Abs. 1 spräche), wäre nicht nur das immer wieder aufkeimende Unbehagen der Rechtspolitik an der Strafrahmenobergrenze von fünf Jahren Freiheitsstrafe 26 ganz und gar unverständlich, sondern schon auf Basis der geltenden Gesetzeslage die Abhängigkeit der Bestrafung von der Begehung einer Rauschtat, und noch dazu einer kriminalrechtlich relevanten und nicht bloß einer Ordnungswidrigkeit (vgl. § 122 OWiG). Streng genommen müsste wegen der ex ante so gut wie niemals auszuschließenden Gefährlichkeit der Lage dann auch der viel zitierte Trinker bestraft werden, der seinen Kummer im stillen Kämmerlein ertränkt und friedlich einschläft. Das Gesetz selbst ist es, das diesen „Verbrechenstorso“ nicht für eine Bestrafung ausreichen lässt und damit zu erkennen gibt, dass offenbar doch „erst die Rauschtat der Handlung die Farbe und das Gewicht einer Straftat gibt“27. Hinzu kommt der weitere, schon vielfach hervorgehobene Aspekt, dass der Alkoholkonsum als solcher nach deutschem Recht gar nicht rechtswid-
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Geppert, Jura 2009, 40. Bsp. nach Paeffgen, in: Egg/Geisler (Hrsg.), Alkohol, Strafrecht und Kriminalität, 2000, S. 49, 60; siehe zur Strafzumessungspraxis etwa BGHSt 38, 356, 361; NStZ-RR 1997, 300. 26 Zu den „Strafschärfungs“-Gesetzentwürfen o. Fn 10. 27 Arthur Kaufmann, JZ 1963, 425, 427. 25
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rig, mit dem Großen Strafsenat28 um so weniger strafwürdiges Unrecht ist. Anschaulich nach Werner Hardwig: „Feste feiern, Alkohol – auch in erheblichem Umfang – genießen, wurde und wird auch heute noch als ein Vergnügen angesehen, in das sich der Staat nicht einzumischen habe; dass Volltrunkenheit ein gefährlicher Zustand ist, bildet allein noch keinen hinreichenden Grund, das Sichbetrinken zu verbieten. Es gibt alle möglichen gefährlichen Betätigungen, die doch nicht verboten sind: Autofahren, Eisenbahnen betreiben, Fliegen, gefährliche Artistenkunststücke machen usw.; solche Betätigungsformen sind »sozialadäquat«. Die Rechtsgemeinschaft nimmt die Gefahren wegen der (…) Vergnügungen hin; die Gesellschaft will auf sie nicht verzichten“29. Schon Hellmuth von Weber hat daraus mit schlagender Logik die Schlussfolgerung gezogen, dass dann „eine Auslegung des § 330a StGB [§ 323a n.F.], die in diesem Handeln allein den Grund der Strafbarkeit sieht, nicht möglich“ ist: „Eine Umstellung von der Freiheit des Alkoholgenusses zur Rechtswidrigkeit des Sichversetzens in einen Vollrausch hätte notwendig zu mehr oder weniger einschneidenden Maßnahmen der Prohibition führen müssen; das ist aber nicht geschehen“30. Zum Beleg für die gegenteilige Annahme einfach auf § 323a StGB zu verweisen wäre daher nicht nur eine tautologische, sondern wegen Verstoßes gegen das ultima-ratio-Prinzip eine Argumentation auf verfassungswidriger Grundlage. Muss jedoch die Rauschtat erst hinzukommen, um strafwürdiges Unrecht zu begründen, bildet sie gar den „eigentlich unrechtsbedeutsamen Teil des in § 330a StGB [§ 323a n.F.] abgebildeten Geschehens“31, so liegt die Verletzung des Schuldprinzips geradezu auf der Hand: Denn die Rauschtat ist im Kontext des Vollrauschtatbestandes per definitionem – jedenfalls nicht ausschließbar – in schuldunfähigem Zustand begangen worden, der nach § 20 StGB der Annahme strafrechtlicher Schuld zwingend entgegensteht („ohne Schuld handelt, wer …“). Daran könnte auch die – spürbar ergebnisorientierte – Behauptung nichts ändern, wonach § 323a StGB gerade als – wenngleich systematisch falsch platzierte – Ausnahmeregelung zu § 20 StGB aufzufassen sei;32 denn die Kol-
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BGHSt 9, 390, 396. Hardwig, in: Eb. Schmidt-FS 1961, S. 459, 460 (im Anschluss allerdings von einem Wandel der gesellschaftlichen Auffassung ausgehend); s. auch LK/Spendel, § 323a Rn 1: „… obwohl die Maßlosigkeit im Genuss von Rauschmitteln zwar verderblich …, aber an sich nicht verboten ist, gelegentlich sogar verklärt wird“. 30 v. Weber, Blutalkohol 1962, 211 f.; konkrete Empfehlungen bei v. Hippel, ZRP 1999, 132, 134 f. 31 Welzel, ZStW 58 (1939), 523; s.a. Hardwig, in: Eb. Schmidt-FS 1961, S. 459, 472: „eigentliche Unrechtstat“. 32 So insbes. auch Geppert, Jura 2009, 40; weiterhin Hruschka, Strafrecht AT, 2. Aufl. 1988, S. 298; Krümpelmann, ZStW 99 (1987), 191, 224; Neumann, Zurechnung und „Vorverschulden“, 1985, S. 125 ff.; Otto, Jura 1986, 478, 481; Streng, JZ 1984, 114, 118; ders., NJW 2003, 2963, 2965 und in: Benakis-FS 2008, S. 593, 610. 29
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lision mit dem Verfassungsrechtssatz „nulla poena, sine culpa“33 bleibt dadurch unberührt (abgesehen von den sonstigen, strafrechtsdogmatischen Ungereimtheiten) 34. Von hier aus scheint daher das Verdikt unabwendbar zu sein, dass es sich um eine verfassungswidrige Strafvorschrift handle:35 Denn sie soll aus kriminalpolitischer Notwendigkeit heraus „… etwas erreichen (die Strafbarkeit des Rauschtäters für die Rauschtat), was ihr zu erreichen die verfassungsrechtlichen (Schuldprinzip, Lex-stricta-Grundsatz) und unrechtswie schulddogmatischen Rahmenbedingungen (§ 20) im Grunde (derzeit) versagen“36. Mit Maurachs illustrativen Worten: Die Berauschung als solche ist ein „Dach ohne Unterbau“, die Rauschtat dagegen ein „Unterbau ohne Dach“37. Sollte damit schon das letzte Wort gesprochen sein?
III. Wer nach einem Ausweg aus dem Dilemma sucht, kann nach dem Vorstehenden mit Blick auf die beiden auseinanderliegenden Handlungszeitpunkte (Sichberauschen und Rauschtat) an zwei verschiedenen Stellschrauben ansetzen – und die gesamte Diskussion der letzten Jahrzehnte um die Deliktsnatur des Vollrauschtatbestandes kreist letztlich unentwegt um diese beiden Anknüpfungspunkte: An dem einen lässt sich darüber nachdenken, ob die Rauschtat trotz fehlender Schuldfähigkeit nicht doch mit einem einigermaßen hinreichenden „Dach“, mithin deren Einbezug in das tatbestandsspezifische Unrecht mit der nötigen Legitimation versehen werden könnte; an dem anderen Ende ist die Frage aufgeworfen, wie sich dem Sichberauschen als tatbestandsspezifisches Vorverhalten mit Rücksicht auf die Strafsanktion der bislang vermisste (und der geltenden Gesetzesfassung nicht zu entnehmende) „Unterbau“, d.h. die nötige deliktische Substanz (und welche genau?) de lege lata oder jedenfalls de lege ferenda hinzufügen lässt.
33 Zur verfassungsrechtlichen Verankerung des Schuldprinzips zuletzt eingehend Hörnle, in: Tiedemann-FS 2008, S. 325 ff. sowie in: Schumann (Hrsg.), Das strafende Gesetz im sozialen Rechtsstaat, 2010, S. 105 ff. 34 Im Überblick Nomos Kommentar (NK)/Paeffgen, 3. Aufl. 2010, § 323a Rn 12: „Infolge von [§ 323a] Abs. 2 sind die Sperren der vermeintlichen § 20-Ausnahme um so einträglicher, je unrechtsgewichtiger die Rauschtat ist? – Warum gilt diese Ausnahme nur beim Rausch, nicht aber auch beim sonstwie verschuldeten Defekt?“ 35 I.d.S. Frister, Schuldprinzip, Verbot der Verdachtsstrafe und Unschuldsvermutung als materielle Grundprinzipien des Strafrechts, 1988, S. 53, 59; Geisler (o. Fn 12), S. 368 ff.; Streng, JZ 1984, 114, 118 ff.; Stratenwerth, in: Armin Kaufmann-GS 1989, S. 485, 495 und 499. 36 NK/Paeffgen, § 323a Rn 4 („erster Geburtsfehler“). 37 Maurach, Schuld und Verantwortung im Strafrecht, 1948, S. 109 f.
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Der erstgenannte Weg ist offenbar vorwiegend in schon länger zurückliegender Zeit bevorzugt beschritten worden. Als geradezu beispielhaft kann etwa die Argumentationsweise Hardwigs gelten, die mit dem Paukenschlag einsetzt, dass das Schuldprinzip nicht „zu Tode geritten werden“ dürfe; in Rechtssituationen, „bei denen eine Abweichung vom Schuldprinzip (…) wenigstens der Sache angemessen wäre“, werde nur ein „Fanatiker des Schuldprinzips (…) noch nach Schuld suchen, aber gänzlich ohne Erfolg“. Zweifelsohne sei ausgeschlossen, die Bestrafung wegen einer Straftat im Vollrausch auf das Schuldprinzip zu gründen, wenn der Täter sich insoweit in schuldunfähigem Zustand befunden hat; doch bleibe die Möglichkeit einer – ausnahmsweisen – „Risikohaftung“, sogar als „rein objektive“ bei Annahme eines erlaubten („sozialadäquaten“) Vorverhaltens oder – wie von ihm letztlich präferiert – als „qualifizierter Erfolg“ eines „rechtswidrig-schuldhaften Sichbetrinkens“: Dann ist die strafrechtliche Haftung „teils Schuldhaftung, teils Risikohaftung“38. Ganz in ähnlichem Sinne hat zuvor auch schon Schweikert die Möglichkeit einer „strafrechtlichen Gefährdungshaftung“, d.h. für riskantes Verhalten als dritter „Verhaltensform“ neben Vorsatz und Fahrlässigkeit grundsätzlich bejaht, sofern dieses mit dem „Risikoumstand“ mindestens durch einen „adäquaten Zusammenhang“ verbunden ist. Mit Blick etwa auf den Vollrauschtatbestand sei es deshalb das spezifische „Risiko“, das Sichberauschen und Rauschtat miteinander verknüpfe und deshalb dazu berechtige, „von einem Verschulden in Bezug auf die Rauschtat zu sprechen“39. Diese Idee einer „loseren Beziehung zwischen der Täterhandlung und dem Tatumstand als die Fahrlässigkeit“ geisterte auch noch durch die aktuelleren Debatten40 bis hin zu den Empfehlungen der „Kommission zur Reform des strafrechtlichen Sanktionensystems“ (2000), die von einer „besonderen Fahrlässigkeitsschuld“41 spricht (und infolgedessen bei einer Strafrahmenerhöhung ein „zu bereinigendes Spannungsverhältnis“ zum Höchstmaß für Fahrlässigkeitstaten erkennt). Immerhin hat sich die Kommission mit deutlichen Worten der Behauptung ihres Referenten widersetzt, es stünde dem Gesetzgeber frei, in Fällen eines „Rechtsmissbrauchs“ Ausnahmen vom Tatschuldprinzip zu schaffen (und demzufolge bei selbstverschuldetem Rausch – dem Vorbild des § 15 Abs. 3 StGB-DDR folgend – eine Bestrafung „nach dem verletzten Gesetz“ zu ermöglichen) 42: „Tatsächlich 38
Hardwig, in: Eb. Schmidt-FS 1961, S. 459, 461 ff., 466. Schweikert, ZStW 70 (1958), 394 ff., insbes. 403. 40 Siehe insbesondere die Diskussion anlässlich des „Marburger Strafrechtsgesprächs“, berichtet von Geißler, JR 2000, 489, 491: „Verschulden unterhalb der Fahrlässigkeitsschuld“. 41 Abschlussbericht der Kommission zur Reform des strafrechtlichen Sanktionensystems, März 2000, Abschnitt 11.2.2 (abrufbar unter: www.bmj.bund.de/files/-/2565/ Reform_Sanktionsrecht.pdf). 42 So Hennig, in: Abschlussbericht (o. Fn 41), Abschnitt 11.2.1. 39
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verlangt das Tatschuldprinzip die Koinzidenz von Schuldfähigkeit und Tatbegehung, weshalb die Rauschtat als Anknüpfungspunkt für die Strafbegründungsschuld ausscheidet“43. Dass im Übrigen der bloße Risikozusammenhang, von einem riskanten Verhalten ausgehend, im Hinblick auf die klare Vorgabe des § 15 StGB nicht ausreichen kann, hat Schweikert selbst gesehen. Aufschlussreich ist die von ihm gezogene Schlussfolgerung, dass eine Beibehaltung der Begrenzung strafrechtlicher „Schuld“ auf Vorsatz und Fahrlässigkeit der Aufnahme von „Risikotatbeständen“ wie § 323a StGB im Besonderen Teil des StGB entgegenstehe.44 Ähnlich ist auch Hardwig für das von ihm zugrunde gelegte erfolgsqualifizierte Delikt die Unvereinbarkeit seines Standpunkts mit § 18 StGB (= § 56 StGB a.F.) keineswegs entgangen; er hat jedoch kurzerhand dessen Nichtanwendbarkeit behauptet, weil dieser Regelung eine „Verwässerung und Verschleierung des wahren Schuldgehalts der erfolgsqualifizierten Delikte“ immanent sei.45 Eine wie auch immer geartete Theoriekonzeption zum erfolgsqualifizierten Delikt ändert aber mitnichten etwas daran, dass der Gesetzgeber, in dezidierter Abkehr von der Lehre des versari in re illicita, eben doch einen Fahrlässigkeitsnachweis gerade „hinsichtlich dieser [besonderen] Folge“ verlangt.46 Und eine solche „Fahrlässigkeit“ ist – wie auch immer man ihren sachlichen Gehalt im Einzelnen verstanden wissen möchte 47 – jedenfalls immer auf eine konkrete Tat, auf einen konkreten tatbestandsmäßigen Erfolg und nicht lediglich auf „irgendwelche Ausschreitungen strafbarer Art“ bezogen. Welches Motiv sich letztlich hinter jenen Bemühungen um Ausweis einer „dritten Schuldform“ verbirgt, lässt sich daher leicht erkennen: Es ist der – untaugliche – Versuch, eine formale Übereinstimmung mit dem Schuldgrundsatz zu konstruieren. Was davon zu halten ist, hat bereits Arthur Kaufmann unnachahmlich als „salto mortale der Beweisführung“ entlarvt: „Das Schuldprinzip wird dem Gesetz angepasst, statt dass umgekehrt das Gesetz am Schuldprinzip gemessen wird. Weil nach dem Schuldgrundsatz nur für Schuld gehaftet werden darf und weil es im geltenden Recht außer der Haftung für Vorsatz und Fahrlässigkeit auch eine Versari- oder Risiko-Haftung gibt, deshalb ist auch diese eine Form der Schuldhaftung! Eine Form der Erfolgshaftung kann sie ja nicht sein, weil sie es nicht sein darf: die Logik Palmströms!“48
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Abschlussbericht (wie Fn 41). Schweikert, ZStW 70 (1958), 394, 409. 45 Hardwig, in: Eb. Schmidt-FS 1961, S. 459, 464 f. und 469. 46 Statt vieler etwa Handkommentar Gesamtes Strafrecht (HK-GS)/Duttge, 2. Aufl. 2011 (im Erscheinen), § 18 Rn 1 sowie Rn 6 zur extensiven Interpretation durch die Rspr. 47 Zum Streitstand hinsichtlich des sachlichen Gehalts des fahrlässigkeitsspezifischen Verhaltensfehlers näher MK/Duttge, § 15 Rn 113 ff. 48 Arthur Kaufmann, JZ 1963, 425, 430. 44
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Der Gedanke einer „Risikohaftung“ infolge besonderer Gefahrenträchtigkeit des (Vor-)Verhaltens befördert jedoch die Einsicht, dass von den beiden zuvor in Aussicht genommenen Wegen allenfalls der zweitgenannte, auf eine Verdeutlichung des Unrechts im Akt des Sichberauschens zielende, Erfolg verspricht. Dazu kann es allerdings längst nicht ausreichen, mit der h.M. achselzuckend von einem „abstrakten Gefährdungsdelikt“ zu sprechen, das eben dazu diene, die Allgemeinheit vor den unkalkulierbaren Gefahren des (übermäßigen) Alkoholkonsums gleichsam flächendeckend zu schützen.49 Denn wenn erstens die Herbeiführung alkoholbedingter Steuerungsunfähigkeit als solche nicht rechtswidrig ist50 und zweitens den Erkenntnissen von Kriminologie und forensischer Psychiatrie51 sowie der allgemeinen Lebenserfahrung52 entsprechend nicht einmal mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit oder Typizität – ganz im Unterschied zu Trunkenheitsfahrten (vgl. § 316 StGB)53 – zu Rechtsgutsverletzungen führt, so fehlt dem (vorsätzlichen oder fahrlässigen) „Sichberauschen“, auf das sich der Tatbestand des § 323a StGB formaliter erschöpft, ersichtlich jener „gemeingefährliche“ Charakter, der es materiell rechtfertigen könnte, überhaupt von strafwürdigem Unrecht zu sprechen. Was aber ein „gemeingefährliches Sichberauschen“ – ganz im Sinne der Betitelung des 28. Abschnitts des StGB – vom sonstigen Alkoholkonsum unterscheidet, muss schon zum Zeitpunkt des tatbestandsmäßigen Verhaltens objektiv bestimmbar wie auch für den Täter erkennbar sein und darf sich nicht erst ex post in der Begehung der Rauschtat offenbaren. Mag es im Nachhinein bei besserer Erkenntnis auch ohne weiteres einleuchten, dass der nun sichtbaren Begehung einer Rauschtat offenbar ein „gefährliches“ Trinkverhalten vorausgegangen ist 54 (die Umkehrung gilt allerdings nicht!), wäre 49 Vgl. BGHSt 16, 124, 125; NJW 2003, 2394, 2395; Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996, § 26 II 2; Krey/M. Heinrich, Strafrecht BT-1, 14. Aufl. 2008, Rn 797; Lackner/Kühl, StGB, 27. Aufl. 2010, § 323a Rn 1; Systematischer Kommentar zum StGB(SK)/Horn/Wolters, § 323a Rn 2; Wessels/Hettinger, Strafrecht BT-1, 33. Aufl. 2009, Rn 1028, 1035. 50 Die von Rogall postulierte „Pflicht zur Selbstorganisation“ (in: Geißler, JR 2000, 489, 491) kann in dieser unbegrenzten Reichweite jedenfalls keine Rechtspflicht sein! 51 Dazu bereits o. Fn 9; weiterhin etwa Albrecht, Bewährungshilfe 1985, 345 ff., 353 f.; Kerner, in: Egg/Geisler (Hrsg.), Alkohol, Strafrecht und Kriminalität, 2000, S. 11 ff., insbes. 20: Alkohol als (bloßer) „facilitator“; zu den diskutierten „Möglichkeiten der Verbindung“ von Alkohol und Kriminalität im Überblick Egg, in: Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V. (Hrsg.), Jahrbuch Sucht, 2010, S. 110, 116 f. 52 Zutr. Renzikowski, ZStW 112 (2000), 475, 509: Die überwiegende Zahl der Vollräusche verläuft harmlos! 53 Zum potenzierten Unfallrisiko beim Führen eines Kfz im Straßenverkehr vgl. im Überblick Huckenberg/Bonte, in: Madea/Brinkmann (Hrsg.), Handbuch gerichtliche Medizin, Bd. 2, 2003, Kap. 2.1.3 (= S. 386 ff.). 54 Nur insoweit macht es Sinn, von der Rauschtat als „Indikator für die konkrete Gefährlichkeit des Sichberauschens“ zu sprechen, so z.B. OLG Oldenburg NJW-RR 2006, 1548, 1549; zuvor bereits BGHSt 1, 124, 125.
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es ebenso wie etwa bei der Begründung des fahrlässigkeitsspezifischen Verhaltensfehlers unfair und zugleich dem Gesetzlichkeitsprinzip mit dem ihm immanenten Bestimmtheitsgebot zuwiderlaufend, „das hinterher leicht Begriffene in ein vorher leicht Begreifliches umzudeuten“55. Renzikowskis pointierte Feststellung, die nicht zuletzt auch aus normentheoretischen Erwägungen resultiert („Bestimmungsfunktion der Verhaltensnormen“), trifft daher den Nagel auf den Kopf: „Ein rückwirkendes Berauschungsverbot ist ein Selbstwiderspruch“56. Deshalb hilft auch der mitunter begegnende Hinweis nicht weiter, dass von § 323a StGB doch nicht der „gewöhnliche“, „harmlose“, sondern allein der „abnorme“ Alkoholkonsum, also das „sinnlose Besäufnis“57 erfasst werde.58 So wenig sich das Moment der Maßlosigkeit mit Blick auf die gesetzlich geforderte (jedenfalls nicht auszuschließende) Schuldunfähigkeit zum nachfolgenden Zeitpunkt der Rauschtat ernstlich bestreiten lässt, so sehr verdeutlichen schon die enormen Schwierigkeiten bei der begrifflichen Erfassung und Konkretisierung des – zentralen – Tatbestandsmerkmals „Rausch“ 59, wie schwer es fällt, jenen der Rauschtat vorausgehenden Zustand gravierender „sozialer Verkehrsuntauglichkeit“60 zu erfassen. Hinzu kommt, dass die bis zum Verlust der Steuerungsfähigkeit verlaufende Entwicklungslinie im zeitlich gestreckten Geschehensverlauf eines „Sichberauschens“ mit Blick auf die verzögerte Resorption des Alkohols61 und vor allem mit Rücksicht auf die individuelle Alkoholgewöhnung und weitere (z.B. psychische) Determinanten jedenfalls innerhalb eines gewissen Rahmens eher graduelle Unterschiede, aber keine scharfen Grenzen kennt. Wer sich nicht schon von Beginn an „bis zur Besinnungslosigkeit“ betrinken will, verpasst womöglich den richtigen Augenblick des Innehaltens vor Verlust der Selbstkontrolle. Selbst die Erkennbarkeit des Risikos, dass dieser Zustand eintreten könnte, reicht jedoch im hiesigen Kontext noch nicht: Mit dem Verlust der Steuerungsfähigkeit muss sich zugleich – und wiederum ex ante erkennbar – die 55 Binding, Die Normen und ihre Übertretung, Bd. IV, 1919, § 312 (= S. 646 f.); zu den aus dieser actor-observer-Differenz leicht resultierenden Attributionsfehlern näher Kuhlen, in: Jung/Müller-Dietz/Neumann (Hrsg.), Recht und Moral. Beiträge zu einer Standortbestimmung, 1991, S. 341 ff. 56 Renzikowski, ZStW 112 (2000), 475, 508. 57 Was die Frage nach sich zieht: Gibt es auch ein „sinnvolles“ Sichbetrinken? 58 So wörtlich ein Teilnehmer am „Marburger Strafrechtsgespräch“, insoweit nicht wiedergegeben in Geißlers Tagungsbericht (JR 2000, 489, 490 f.). 59 Dazu detailliert NK/Paeffgen, § 323a Rn 19 ff. m.w.N. („zweiter Geburtsfehler“). 60 Nach Puppe, GA 1974, 109 ff. und Jura 1982, 281, 285; s.a. NK/Paeffgen, § 323a Rn 59: „verschärfte Anforderungen an die Sozialuntüchtigkeit“, bei der „selbst alltäglichen Verhaltenserwartungen nicht mehr genügt werden kann“. 61 Die wiederum u.a. vom sonstigen Ernährungszustand des Körpers und von der Trinkgeschwindigkeit abhängt, siehe dazu im Überblick Huckenberg/Bonte (o. Fn 53), Kap. 2.1.6.1 (= S. 403 f.).
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Gefahr des sozialschädlichen Verhaltens verbinden, die das Geschehen erst zu einem „gemeingefährlichen“ macht. Dass dazu die Kategorie der Schuldfähigkeit, die stets nur mit Blick auf eine konkrete Tat beurteilt werden kann,62 und damit die „Promille-Rspr.“ zu den §§ 20, 21 StGB nicht weiterhilft, hat ebenfalls bereits Renzikowski überzeugend klargestellt: „Kann der Täter (…) nicht mit der Begehung einer bestimmten Rauschtat rechnen, so kann er zum Zeitpunkt des Trinkens noch nicht wissen, welchen Zustand er vermeiden soll“63. Hieraus gewinnt eine Sichtweise an Überzeugungskraft, der auch der verehrte Jubilar „gute und einsichtige Gründe“64 bescheinigt: Ihre Benennung als „konkretes Gefährdungsdelikt“65 ist jedoch in zweifacher Hinsicht mindestens ungenau, weil dies weder die Sache noch die damit gekennzeichnete „starke Minderheitsmeinung“66 im jeweiligen Kerngehalt trifft: Letztere hat es – von wenigen Ausnahmen abgesehen – bisher versäumt, den objektiven Tatbestand jener „Gemeingefährlichkeit“ näher zu konkretisieren, und ist anstelle dessen vorschnell auf das Erfordernis einer „subjektiven Vorwerfbarkeitsbeziehung“ übergegangen. Dabei zeigt sich der Vollrauschtatbestand de lege lata gewiss nicht als Delikt mit überschießender Innentendenz67 und sollte sich mit Rücksicht auf die grundsätzliche Rechtmäßigkeit des Alkoholkonsums aus verfassungsrechtlichen Gründen auch de lege ferenda nicht in einer kriminellen „Gesinnung“68 erschöpfen.69 In der Sache steht jedenfalls auf der Basis des geltenden § 323a StGB nicht ein „Gefahrdelikt“ in Frage, bei dem das Schädigungspotential bereits auf ein bestimmtes Gut bezogen ist, sondern vielmehr – ganz im Sinne der von Hirsch einsichtig gemachten Terminologie70 – eine verhaltensbezogene Gefährlichkeit. Nur erstere ist jedoch 62 Allg.M., vgl. etwa Fischer, StGB, 57. Aufl. 2010, § 20 Rn 2a; Schönke/Schröder/ Lenckner/Perron, Strafgesetzbuch, 28. Aufl. 2010, § 20 Rn 31. 63 Renzikowski, ZStW 112 (2000), 475, 510. 64 Geppert, Jura 2009, 40, 41. 65 Vgl. Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf, Strafrecht Besonderer Teil, 2. Aufl. 2009, § 40 Rn 12; Fischer, § 323a Rn 2, 19; HK-GS/Verrel, § 323a Rn 1; Lenckner, JR 1975, 33 f.; MK/Geisler, § 323a Rn 9, 59; Ranft, JA 1983, 193, 194; Jura 1988, 133, 138; Roxin (o. Fn 18), § 23 Rn 8 ff.; Weber, ZStW-Beiheft 1987, 1, 23. 66 NK/Paeffgen, § 323a Rn 10. 67 Schon zutreffend hervorgehoben von Cramer (o. Fn 19), S. 94 f. m. Fn 8. 68 Gemeint im Sinne eines Oberbegriffs für „Absicht“, „Wissen“ bzw. „Voraussehbarkeit“. 69 Zu den „Kriterien fairer Zurechnung“ bei der Legitimierung von Vorbereitungs- und Gefährdungsdelikten näher v. Hirsch/Wohlers, in: Hefendehl/v. Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, 2003, S. 200 ff.; siehe zum „harm principle“ und zur Frage des „Zurechnungszusammenhangs“ zwischen Verhalten und Rechtsgutsgefährdung auch v. Hirsch, GA 2002, 2 ff.; zur Verbindung des Rechtsgutskonzepts mit der Lehre von der objektiven Zurechnung jüngst auch Roxin, in: Hassemer-FS 2010, S. 573, 586. 70 Zuletzt Hirsch, in: Tiedemann-FS, 2008, S. 145 ff.; zuvor bereits ders., in: Arthur Kaufmann-FS 1993, S. 545 ff.; dazu auch eingehend Zieschang, Die Gefährdungsdelikte, 1998.
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im herkömmlichen Verständnis mit dem Begriff des „Gefährdungsdelikts“ gemeint, wobei die Verengung auf eine „konkrete Gefährdung“ nach neuerer Rspr. nur noch solche Konstellationen zum Gegenstand hat, in denen die Sicherheit für das betreffende Gut schon so weit beeinträchtigt ist, dass der Schadenseintritt nur noch vom Zufall abhängt.71 Dass sich ein solcher, gleichsam situativ verdichteter „Gefahrerfolg“ der geltenden Fassung des Vollrauschtatbestands beim besten Willen nicht entnehmen lässt und die mit selbigem verbundene kriminalpolitische Zielsetzung im Falle einer dahingehenden Gesetzesänderung (etwa nach dem Vorbild der §§ 306a Abs. 2, 315–315c StGB) nur noch in höchst beschränktem Maße zur Geltung käme,72 ist ohne Zweifel richtig, besagt aber nichts über jene zweitgenannte Alternative eines verhaltensspezifischen „Gefährlichkeitsdelikts“. Soll sich dabei das pönalisierte Verhalten nicht in bloß „formellem Normungehorsam“73 erschöpfen (sog. „abstraktes Gefährlichkeitsdelikt“), muss der in Bezug genommenen Tathandlung in der jeweiligen Lebenssituation eine typische (d.h. mehr als nur denkmögliche), der allgemeinen Lebenserfahrung entsprechend „naheliegende“74 Risikoträchtigkeit immanent sein (sog. „konkretes Gefährlichkeitsdelikt“). Das wird man beim Führen eines Kfz im öffentlichen Straßenverkehr trotz alkoholbedingter Fahruntüchtigkeit (vgl. § 316 StGB) stets ohne weiteres annehmen dürfen,75 nach dem Vorstehenden aber eben nicht bei jedwedem Sichberauschen unabhängig von Tatsituation und Täterperson. Wie der soeben vergleichsweise herangezogene Anwendungsfall des § 316 StGB nachdrücklich unter Beweis stellt, ist somit keineswegs ausgeschlossen, dass ein triftiger (objektiver) „Anlass“ zur Besorgnis u.U. auch allein aus den tatsituativen Gegebenheiten gleichsam mit Geltung für jedermann hervorgehen kann. Wer etwa damit beauftragt ist, den Betrieb eines Atomkraftwerks zu überwachen, die Mülltonnen während des Vorgangs des Entleerens zwischen parkenden Autos zu bewegen oder als Förster im Wald Bäume zu fällen, handelt bei entsprechendem Alkoholkonsum im Vorfeld ebenso „gemeingefährlich“ wie jener, der im Anschluss mit dem Pkw nach Hause fahren will. Deshalb geht der schon oft erhobene Einwand ins Leere, dass bei Abstellen auf eine spezifische Gefährlichkeit des Täterverhaltens die jeweils erste Rauschtat stets sanktionsfrei bleiben müsste (was kriminalpolitisch 71 Vgl. etwa BGH NStZ 1996, 83 („kritische Verkehrssituation“); NJW 2003, 836, 838 („Beinahe-Unfall“); NK-Herzog, § 315 Rn 24; Roxin (o. Fn 18), § 11 Rn 148 ff. 72 Schon Arthur Kaufmann, JZ 1963, 425, 432: „erhebliche und bedenkliche Einengung des Tatbestandes“; zuletzt Streng, in: Benakis-FS 2008, S. 593, 609 Fn 93: „erhebliche Strafbarkeitslücken“. 73 Binding, Die Normen und ihre Übertretungen, Bd. I, 3. Aufl. 1916, S. 408. 74 Cramer (o. Fn 19), S. 68. 75 Siehe Roxin, in: Hassemer-FS 2010, S. 573, 589: „Prototyp eines konkreten Gefährlichkeitsdelikts“; weiterführend und vertiefend Hirsch und Zieschang (wie Fn 70).
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nicht hinzunehmen sei).76 Dass sich demjenigen Täter, der generell und bekanntermaßen im Rausch zu einer bestimmten Art von „Ausschreitungen“ neigt, die Gefährlichkeit seines (übermäßigen) Alkoholkonsums in besonderer Weise „aufdrängen“ muss,77 bedeutet nicht, dass nicht auch andere Warnsignale vorstellbar sind (z.B. eine ärztliche Mahnung über mögliche Wechselwirkungen mit einem verordneten Medikament), die in derselben Weise Beachtung beanspruchen und im Falle ihrer Missachtung sogleich – ohne vorausgegangenen „Freischuss“ – zur Sanktionierung berechtigen. In diesem Lichte erklärt sich nun zugleich, wie der vielzitierte „Auffangcharakter“78 des Vollrauschtatbestands nur verstanden werden kann: nicht etwa in dem Sinne, dass Fälle erfasst werden, die zu erfassen § 20 StGB eigentlich verbietet, sondern vielmehr vor dem Hintergrund, dass die hier in Bezug genommene „Gefährlichkeit“ eine im doppelten Sinne (all-)„gemeine“, d.h. weder lebensweltlich-tatsituativ noch rechtsgutsbezogen spezifiziert ist. Bis zur Grenze dessen, was das Bestimmtheitsgebot erlaubt, ist es dem Gesetzgeber unbenommen, die denkbare Vielzahl gefährlicher Rauschsituationen und möglicher Angriffsmittel und -objekte, die nicht grundlos unterschiedlich bewertet werden dürfen, auf höherer Abstraktionsebene durch eine gemeinsame Klammer zusammenführen.79 Soweit sich diese „Gemeingefahr“ auf beliebige Rauschtaten und damit jedwede (straftatbestandlich relevante) Rechtsgutsverletzung erstreckt, besteht zwar im Grundgedanken und in der Terminologie, nicht aber im konkreten Bedeutungsgehalt Identität mit jenem „Veranlassungsmoment“, das eine moderne Lehre zur Verdeutlichung des Begriffs strafbarer Fahrlässigkeit in den Vordergrund gerückt hat.80 Denn diese hat immer eine konkrete Tat und die Gefahr eines tatbestandlich bestimmten Erfolges zum Gegenstand. Daher ist auch die Sorge unbegründet, es könnte vom hier zugrunde gelegten Standpunkt die Grenze zur Fahrlässigkeit bzw. zur actio libera in causa „verschwimmen“81.
76 So LK/Spendel, § 323a Rn 59; NK/Paeffgen, § 323a Rn 11, allerdings mit Recht bezweifelnd, ob dies selbst bei unterstellter Richtigkeit der Prämisse ein gewichtiger Einwand sei; ähnliches Zugeständnis bei Renzikowski, ZStW 112 (2000), 475, 511, wonach es bei einem sozial unauffälligen Vorleben immer „ein erstes Mal“ gebe. 77 Siehe dazu bereits Lange, JZ 1951, 460 ff. und JR 1957, 242 ff. 78 Oben bei Fn 13. 79 Bereits Cramer (o. Fn 19, S. 95) hat hervorgehoben, das „jede Kasuistik überfordert wäre“ und die „Möglichkeit ungerechter Ergebnisse“ mit sich brächte. 80 Grdl. Duttge, Zur Bestimmtheit des Handlungsunwerts von Fahrlässigkeitsdelikten, 2001; ders., in: MK, § 15 Rn 120 ff., sowie in: HK-GS, § 15 Rn 31 ff. 81 So aber Arthur Kaufmann, JZ 1963, 425, 432 gegen Lange (o. Fn 77); entgegen der Annahme Spendels (LK, § 323a Rn 59) handelt es sich im Übrigen auch nicht um die Bestrafung eines „Tätertyps“, sondern eines objektiv spezifizierbaren Täterverhaltens.
Der Vollrauschtatbestand de lege lata und de lege ferenda
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IV. Dieses geläuterte Verständnis wirft selbstredend eine Reihe von Folgefragen auf, von denen die wichtigste wohl dahin geht, ob sich der vorstehend skizzierte Unrechtsgehalt bereits der geltenden Fassung des § 323a StGB entnehmen lässt oder eine Novellierung unausweichlich erscheint. Gewiss wäre sogleich an eine teleologische Reduktion des zu weit geratenen Tatbestandes zu denken; doch mahnt schon das Bestimmtheitsgebot – wenn man es auch nur halbwegs ernst nehmen will – zur Vorsicht, zumal die Auslegung von Strafvorschriften im Lichte des Art. 103 Abs. 2 GG mitunter schneller an ihre Grenzen stößt als offenbar weithin angenommen.82 So scheint es zwar prima vista nicht von vornherein ausgeschlossen zu sein, den sich hier als zentral erwiesenen Aspekt der rauschmittelbedingten (konkreten) Gefährlichkeit entweder in das Verhaltenselement des „Sichberauschens“ oder in das Zustandsmerkmal des „Rausches“ gleichsam „hineinzulesen“. Gegen die erstgenannte Variante spricht jedoch deutlich der Umstand, dass sich eben nicht mit jedem Sichberauschen per se jene spezifische Gefährlichkeit verbindet,83 und gegen die – ohnehin näher liegende – zweite Variante die Einsicht, dass der „Rausch“-Begriff selbst im Falle einer „kriminalpolitischen“ (und nicht „empirischen“) Deutung84 stets internal auf die Befindlichkeit des Berauschten und nicht external auf evtl. Auswirkungen für seine Umgebung bezogen ist. Vor allem lässt auch die (von der sprachlichen Fassung der Vorschrift in ihrer jetzigen Gestalt nahegelegte, s. auch § 231 StGB) verbrechenssystematische Klassifizierung der Rauschtat als „objektive Bedingung der Strafbarkeit“ die Überlegung fernliegend erscheinen, den hierdurch zum Ausdruck kommenden – wenngleich nicht näher bestimmten – Rechtsgutsbezug schon im Tatbestandsmerkmal des „Rausches“ aufgehoben zu sehen. Nicht zuletzt wird schließlich gegenüber dem vorherrschenden Verständnis wohl ohnehin nur eine explizite, gesetzesförmliche Verdeutlichung des strafwürdigen Unrechts im vorstehend skizzierten Sinne für die nötige Klarheit sorgen. Streng genommen könnte dann auf das Zusatzerfordernis der Begehung einer „rechtswidrigen Tat“ in (nicht ausschließbar) schuldunfähigem Zustand durchaus verzichtet werden, weil sich die Kennzeichnung des strafwürdigen Unrechts schon abschließend im Bewirken eines „gemeingefährlichen Rauschzustands“ beschrieben findet. Bei hinreichend konkreter Erfassung dieser spezifischen Gefährlichkeit bedarf es auch keiner „Bestätigung“ derselben in Gestalt der nachfolgenden Rauschtat. Gleichwohl wird man auf die 82 Dazu allgemein wie insbesondere zum mitunter wenig methodengerechten Umgang der Rspr. jüngst Duttge, in: Krey-FS 2010, S. 39 ff. m.w.N. 83 Näher o. bei Fn 9, 51. 84 Zu diesen beiden Grundrichtungen näher NK/Paeffgen, § 323a Rn 20 ff. („empirischer Schwerpunkt“) und Rn 32 ff. („kriminalpolitischer Schwerpunkt“).
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Bestrafung des folgenlosen Rausches wohl verzichten können,85 weil – ähnlich wie bei den Fahrlässigkeitsdelikten – im Lichte der Rechtsfriedensfunktion des (Straf-)Rechts ein elementarer Unterschied darin liegt, ob das Fehlverhalten schädliche Folgen nach sich gezogen hat oder nicht.86 Im Fortbestand des Rauschtaterfordernisses manifestiert sich jetzt aber tatsächlich nur noch eine „Zurückhaltung“ des Gesetzgebers87 und werden mit Blick auf das Schuldprinzip keine Bedenken mehr wach, da es sich – gemessen an der Geppertschen „Abzugsthese“88 – unzweifelhaft nur noch um eine „unrechtsneutrale“ Strafbarkeitsbedingung handelt. Damit sind zugleich die fundamentalen Bedenken gegen die geltende Fassung des § 323a StGB mit Blick auf die bisher fehlende Kongruenz von Unrecht und Schuld89 ausgeräumt, die Richard Lange einst zu seiner trefflichen Mahnung veranlasst haben: Das Schuldprinzip ist „keine Kutsche, mit der man ein Stück mitfährt, um dann an beliebiger Stelle wieder auszusteigen“90. Die Frage ist nur, ob bei einer Neufassung des § 323a StGB auch die rechtsgutsbezogene Weite und Offenheit des Tatbestandes wirklich im vollen Umfang aufrechterhalten werden sollte. Bedenkt man allgemein, dass der vorfindliche Strafrechtsschutz je nach betroffenem Rechtsgut in sehr unterschiedlicher Intensität (gemessen an der Reichweite des erfassten Rechtsgutsangriffs, der Einbeziehung von Fahrlässigkeit, Versuch und evtl. vorverlagertem Begehungsstadium) ausgestaltet ist und insbesondere die im 28. Abschnitt geregelten „gemeingefährlichen Straftaten“ vorrangig auf den Schutz von Leben und Gesundheit („Leib“) beschränkt sind,91 spricht vieles dafür, den volltrunkenen „Dieb von Gummibärchen“92 nicht mehr mit Kriminalstrafe, sondern nur noch mit einem Bußgeld zu sanktionieren. Zu diesem Zweck bedarf § 122 OWiG einer entsprechenden Ergänzung um jene Rauschtaten, die von § 323a StGB n.F. nicht mehr erfasst sind. Zugleich muss letzterer, wie schon andernorts mit Recht gefordert,93 in seiner Höchststrafandrohung deutlich reduziert werden: Geht man von den fünf bzw. drei Jahren Freiheitsentzug als Höchstmaß bei der 85
Wie hier auch Renzikowski, ZStW 112 (2000), 475, 515. Zu dem darin liegenden „Zufallsmoment“ vgl. etwa MK/Duttge, § 15 Rn 4 m.w.N. 87 Wie von BGHSt 16, 124, 125 f. fälschlich schon der geltenden Fassung des § 323a StGB zugeschrieben. 88 Vgl. Geppert, in: Schlüchter-GS 2002, S. 43, 56 f.: Im Wege einer „hypothetischen Konkurrenzüberlegung“ ist zu fragen, „ob nach Abzug der objektiven Strafbarkeitsbedingung ein im Schuldzusammenhang stehender Unrechtstatbestand verbleibt, der die angedrohte Rechtsfolge trägt“. 89 Dazu grundlegend und lehrreich Arthur Kaufmann, JZ 1963, 425 ff. 90 Lange, JR 1957, 242, 244. 91 Zur streitigen Frage, ob § 323c StGB auch Sachwerte schützt, zuletzt (abl.) Duttge, in: Schöch-FS 2010, S. 599, 607 und 614: Erfordernis einer „existentiellen Betroffenheit“. 92 Siehe o. bei Fn 25. 93 Etwa NK/Paeffgen, § 323a Rn 15; Renzikowski, ZStW 112 (2000), 475, 512 ff.; Wolter, NStZ 1982, 54, 59. 86
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fahrlässigen Tötung bzw. Körperverletzung aus und legt man zugrunde, dass bei der Begehung des „gemeingefährlichen Vollrausches“ eine Tatbegehung im vorgelagerten Stadium in Frage steht, so dürfte nach dem Rechtsgedanken des § 49 Abs. 1 Nr. 3 (i.V.m. § 23 Abs. 2) StGB ein Strafmaß angemessen sein, das zwei Jahre Freiheitsentzug nicht übersteigt. Wie aber soll nun der neue Tatbestand konkret formuliert werden? Eine Orientierung an den §§ 315–315c StGB scheidet unweigerlich aus, wenn es sich nicht um ein (konkretes) Gefährdungsdelikt handeln soll. Recht nahe läge es, den spezifischen, bereits dem täterschaftlichen Verhalten immanenten (verflüssigten) Rechtsgutsbezug etwa nach dem Vorbild der §§ 311, 326 Abs. 1 Nr. 4 StGB durch den Rechtsbegriff der „Eignung“ Ausdruck zu verleihen: Allerdings könnte dieses ergänzende Tatbestandsmerkmal in der Rechtspraxis leicht nivellierend ausgelegt werden, abgesehen davon, dass die Kategorie der „Eignungsdelikte“ ohnehin eher schillernd ist und das StGB keine einheitliche Verwendungsweise aufweist.94 Mit den Begriffen der „lebensgefährlichen Behandlung“ bzw. des „gefährlichen Werkzeugs“ kennt das Gesetz aber bereits Anwendungsfälle einer (nach h.M.) abstrakten Gefährdung, die sich aus einer im jeweiligen Einzelfall (konkret) gefährlichen Verhaltensweise verbindet. Nach diesem Vorbild lässt sich der neue Vollrauschtatbestand daher wie folgt formulieren: § 323a StGB (n.F.)95 Wer sich vorsätzlich oder fahrlässig durch alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel in einen für andere lebens- oder gesundheitsgefährlichen Rausch versetzt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wenn er in diesem Zustand eine rechtswidrige, gegen Leib oder Leben eines anderen gerichtete96 Tat begeht und ihretwegen nicht bestraft werden kann, weil er infolge des Rausches schuldunfähig war oder weil dies nicht auszuschließen ist. [§ 323a Abs. 2/3 StGB a.F. entfallen ersatzlos]97
94 Vgl. auch Roxin (o. Fn 18), § 11 Rn 162 f.; ebenso Hirsch, in: Tiedemann-FS 2008, S. 145, 150; grdl. Hoyer, Die Eignungsdelikte, 1987. 95 Änderungen gegenüber der geltenden Fassung in Kursivdruck. 96 Dazu, dass die später begangene Rauschtat auch innerhalb jenes Rahmens liegen muss, der „von der Gefährdungsprognose umfasst wird“, bereits Cramer (o. Fn 19), S. 102 f. 97 Zur Systemwidrigkeit der Abs. 2, 3 im Lichte des neuen Verständnisses näher Renzikowski, ZStW 112 (2000), 475, 514 f.
Zur Unterrichtungspflicht der Finanzbehörden gegenüber der Staatsanwaltschaft zwecks Ermöglichung der Ausübung des Evokationsrechts Ulrich Eisenberg
I. Funktionsüberschneidungen zwischen Finanzbehörden und Staatsanwaltschaft 1. a) Für Steuerstrafverfahren wegen Steuer- und Zollstraftaten enthält die AO Ergänzungen des allgemeinen Strafverfahrensrechts (§§ 385–408 AO), ansonsten wird auf die allgemeinen Vorschriften, also insbesondere StPO und GVG, verwiesen (§§ 369 Abs. 2, 385 Abs. 1 AO). Zu den Ergänzungen gehört schon, dass die Finanzbehörden (§ 386 Abs. 1 S. 2 AO) die Befugnisse der Behörden und Beamten des Polizeidienstes haben (§§ 402 Abs. 1, 399 Abs. 2 S. 2 AO). Insbesondere besteht eine Ergänzung darin, dass die Finanzbehörden in sog. „reinen Steuerstrafverfahren“ zur Führung des Ermittlungsverfahrens an Stelle der StA in eigener (autonomer) Verantwortung zuständig sind (§§ 386 Abs. 2, 399 Abs. 1 AO), dh ohne Bindung an Weisungen der StA1. Dabei können sie unter bestimmten Voraussetzungen das Verfahren gemäß § 170 StPO oder aber gemäß § 153 Abs. 1 S. 1 StPO einstellen bzw bei dem zuständigen Gericht die Zustimmung zur Einstellung nach § 153 Abs. 1 S. 2 StPO oder nach § 153a Abs. 1 StPO 2 beantragen, und sie können auch die öffentliche Klage erheben (§ 400 AO), und zwar durch Beantragung des Erlasses eines Strafbefehls bei dem zuständigen Gericht (§§ 399 Abs. 1, 400 AO, § 407 Abs. 2 StPO). Betreiben die Finanzbehörden das Verfahren autonom, so bleibt die StA gleichwohl „Herrin des Verfahrens“ (§§ 152 GVG, 161 Abs. 1 StPO iVm § 385 Abs. 1 AO)3. Hieraus resul1
BGHSt 54, 9 ff. = NJW 2009, 2319; OLG Stuttgart NStZ 1991, 291. Vgl. nur LR26-Beulke § 153a Rn 26, Meyer-Goßner 53 § 153a Rn 37. 3 So wird – systematisch stimmig – vertreten, es bestehe für die Finanzverwaltungen, anders als es § 147 Nr. 2 GVG vorsieht, auch keine gesetzliche Grundlage, betreffend das Steuerstrafverfahren Verwaltungsvorschriften zu schaffen, zumal das FVG durch § 385 Abs. 1 AO nicht erfasst ist (vgl. näher Hellmann, Das Neben-Strafverfahrensrecht der Abgabenordnung, Köln ua 1995, S. 163, 165 [unter Hinweis auf Ausnahmen iSd § 390 Abs. 2 S. 2 AO und § 387 Abs. 2 S. 2, 4 AO]), dh die AStBV (bundeseinheitliche Anweisungen für das Straf- und Bußgeldverfahren [Steuer] 2010, v. 23.12.2009, BStBl 2009 I 1532–1592) laufen insoweit leer. 2
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tiert der auch rechtstatsächlich gewichtige Meinungsstreit in Zusammenhang mit der Frage, in welchem Ausmaß sie ihrer Verantwortung nachkommen muss bzw darf, ausgelöst von der Handhabung der Zuleitung der genannten Anträge an das zuständige Gericht formell (vgl. auch unten II. 1. b) über die StA4. Ebenso wie die StA wegen der Selbständigkeit der Finanzbehörden (§§ 386 Abs. 2, 399 Abs. 1 AO) nicht etwa verlangen darf, über alle bei den Finanzbehörden ihres Zuständigkeitsbereichs anhängigen Ermittlungsverfahren unterrichtet zu werden, entspricht es den Funktionsüberschneidungen, dass die StA nicht alle Anträge der Finanzbehörden prüfen und deren Weiterleitung davon abhängig machen darf, ob sie sich mit ihren Maßstäben oder Vorstellungen decken5. Da die StA „Herrin des Verfahrens“ bleibt, kann sie – ebenso wie die Finanzbehörde die Sache jederzeit an die StA abgeben kann (§ 386 Abs. 4 S. 1 AO) – die Sache jederzeit an sich ziehen (Evokationsrecht, § 386 Abs. 4 S. 2 AO)6. Macht sie davon Gebrauch, so darf sie sodann den ermittelnden Steuerfahndungsbeamten Weisungen erteilen (es gilt § 152 Abs. 1 GVG), und diese haben dieselben Rechte wie die Behörden und Beamten des Polizeidienstes (es gilt § 161 Abs. 1 S. 2 StPO). – Bei sonstigen Straftaten kommt es auf eine Evokation nicht an, vielmehr ist die StA ohnehin funktionell und sachlich zuständig und seitens der Finanzbehörden im Rahmen von Nr. 17 Abs. 1 bzw (eingeschränkt) Abs. 2 AStBV 7 zu informieren (gleichsam umgekehrt zur Unterrichtungspflicht an die Finanzbehörden, § 116 AO, Nr. 266 Abs. 1 RiStBV), jedoch geschieht dies rechtstatsächlich zumindest nicht lückenlos.8 b) Diese gesetzliche Konstruktion kann zu erheblicher Brisanz zwischen Finanzbehörden und StA führen, zB bei Meinungsverschiedenheiten über die Gestaltung eines bislang von der Finanzbehörde selbständig geführten Verfahrens, ohne dass im Rahmen vorgesehener regelmäßiger Kontaktge-
4 Nach Franzen/Gast/Joecks-Randt, Steuerstrafrecht7, § 386 AO Rn 43: „bedenklich“. Vgl. dazu vormals etwa Rittmann wistra 1984, 52 f. mit der Sorge einer „Missbrauchsaufsicht“, sei es hinsichtlich der Beurteilung von Entscheidungsreife oder Geeignetheit zur Erledigung im Strafbefehlsverfahren, jeweils mit dem Ziel, die Verfahren an sich zu ziehen. 5 Vgl. dazu mit Nachw. zur wohl überwiegenden Meinung Hellmann, aaO, S. 174. 6 Vgl. auch Muhler, in Müller-Gugenberger/Bieneck, Wirtschaftsstrafrecht4, § 15 Rn 14; Franzen/Gast/Joecks-Randt § 386 AO Rn 47; zu offenen Fragen etwa Ossenbühl, FS Selmer, 2004, S. 859 ff. 7 Bundeseinheitliche Anweisungen für das Straf- und Bußgeldverfahren [Steuer] 2010, v. 23.12.2009, BStBl 2009 I 1532–1592. 8 Nach Darstellung aus der Praxis der Finanzbehörden zB wegen Nichterkennens der Tatbestandsmäßigkeit, Kummer in Wabnitz/Janovsky, Hb des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts3, Kap. 18 Rn 198.
Unterrichtungspflicht der Finanzbehörden gegenüber der Staatsanwaltschaft
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spräche (Nr. 132 Abs. 1 AStBV) ein Einvernehmen erreichbar ist9. Dahinter steht nicht selten ein unterschiedliches Funktionsverständnis der dem Legalitätsprinzip verpflichteten (§ 152 Abs. 2 StPO) und repressiv orientierten StA bzw der Finanzbehörden, für die grundsätzlich10 auch das Legalitätsprinzip gilt11, die jedoch fiskalischen Belangen verpflichtet und also auch zukunftsorientiert sind – nicht zuletzt hinsichtlich des Bemühens, Erledigungsformen des Verfahrens anzustreben, die nicht mittelbar Arbeitsplätze vernichten. Was zB den gewissermaßen „drohenden“ Hinweis des BGH12 auf sanktionsrechtliche Folgen von Verletzungen des Rechts auf angemessene Verfahrensbeschleunigung (Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 2 Abs. 1 iVm Art. 1, Art. 20 Abs. 3 GG) auch durch verspätete Unterrichtung angeht, so ist – betreffend die Berücksichtigung des Zeitablaufs bei der Strafbemessung bzw die Anwendung der sog. Vollstreckungslösung – nicht ohne weiteres geklärt, wer darüber zu befinden hat, ob eine Verzögerung vorliegt, ob Finanzbehörden schon „ausermittelt“ haben oder hätten „ausermittelt“ haben können etc13. – Zu dem dieser Entscheidung des BGH zugrundeliegenden Fall wird auf dem Hintergrund (finanz-)höchstrichterlicher Praxiserfahrung angemerkt, es sei „nicht klar, wem der BGH anlasten will“, dass die Sache erheblich verzögert an die StA abgegeben wurde, zumal festgestellt „ist, dass die Strafsachenstelle den Kontakt mit der StA gesucht und die Abgabe versucht hat. Dies hätte offenbar beherzter geschehen müssen“14. Indes lässt der Wortlaut des Beschlusses nur erkennen, dass Bemühungen der Fahndung um Abgabe erfolglos blieben. Inwieweit (innerhalb der in Rede stehenden Entscheidung des BGH) das Bemerken zu der dogmatisch unstrittigen Strafbarkeit der Bediensteten der Finanzbehörden15 – zudem durch Anführung einer nicht eben gebietsnahen
9 Etwa im Rahmen regelmäßiger Kontaktgespräche, wie sie Nr. 132 Abs. 1 AStBV (vgl. aber Fn 3) vorsieht. 10 Vgl., wenngleich nach teilweise vertretener Auffassung nicht verbindlich (vgl. Fn 3), auch Nr. 9 AStBV, nebst Nr. 10 mit dem Hinweis auf die Ausnahmen der Einstellungen gemäß §§ 154, 154a StPO (Nr. 38), § 153 Abs. 1 StPO (Nr. 77) und § 153a StPO (Nr. 78). 11 Die gesetzliche Grundlage ergibt sich nicht aus § 397 AO, sondern (je nach der Kompetenz gemäß § 386 AO) aus § 399 AO iVm § 152 Abs. 2 StPO oder aus § 402 AO iVm § 163 Abs. 1 StPO (vgl. Franzen/Gast/Joecks-Jäger § 397 AO Rn 10). Im Allgemeinen werden verschiedentlich § 386 Abs. 1, 399 Abs. 2 Nr. 1, 385 Abs. 1 AO iVm § 152 Abs. 2 StPO angeführt. 12 BGH NJW 2009, 2320. 13 Insofern könnten rechtstatsächliche Erhebungen dazu weiterführend sein, ob oder inwieweit Ermittlungen unter unmittelbarer Leitung der StA (oder gar Ermittlungen nur durch die StA) rascher abgeschlossen werden könnten bzw es die fiskalische Orientierung der Finanzbehörden sein könnte, die Verletzungen des Rechts auf angemessene Verfahrensbeschleunigung „zu kaschieren“ (Bspr Theile ZIS 2009, 447, 450) vermag. 14 P. Fischer, jurisPR-SteuerR 31/2009 Anm. 1 v. 3.8.2009. 15 Vgl. schon RGSt 58, 79 (zu § 346 StGB); s. auch BT-Drs 7/550 S. 251.
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Entscheidung16 – geeignet ist, die vom BGH angestrebte Unterrichtung vorzunehmen, oder ob hierdurch nicht eher eine gegenteilige, tendenziell sich hinter dem erwähnten fiskalisch geprägten Pflichtenverständnis „verschanzende“ Mentalität gefördert wird (vgl. näher unten II. 1. a), scheint einstweilen wenig geklärt17. 2. Eine grundsätzliche Überwindung der Gemengelage zwischen Besteuerungs- und Strafverfahren ließe sich gesetzgeberisch, abgesehen von einer (insoweit bestimmten) alleinigen Zuständigkeit der StA18, durch eine Eliminierung des (Steuer-)Strafverfahrens erreichen, wogegen indes ua Aspekte der negativen Generalprävention bzw solche der Bekämpfung sog. „organisierter“ Kriminalität19 streiten. Leitend ist die Vorstellung, am ehesten mit dem finanztechnischen Sachverstand der Finanzbehörden und der strafprozessualen Kompetenz der StA, also gewissermaßen „mit vereinten Kräften“, Steuerstraftaten kontrollieren zu können, zumal sich die jeweiligen Ermittlungen schon wegen des Blankettcharakters des materiellen Steuerstrafrechts schwerlich trennen lassen.
16 BGH NJW 2009, 2320 verweist auf BGHR StGB § 258 I Vollendung (Verzögerung) v. 21.12.1994 – 2 StR 455/94 – betreffend ein Verfahren wegen eines Tötungsdelikts, wozu wegen der Verzögerung der Ermittlungshandlungen (durch Spurenbeseitigung etc.) ausgeführt wird, der Vereitelungserfolg trete dann ein, wenn dadurch auch die Verurteilung des Vortäters – und damit seine Bestrafung – für „geraume Zeit“ (vgl. auch BGHSt 15, 18 [22], Unterlassen [noch betr. § 346 StGB]) verzögert worden ist. Wann bei Verzögerung der Erfolg der Vereitelungshandlung eintritt, sei umstritten und richte sich nach den Umständen des Einzelfalls. 17 Es könnte sich schon in Zusammenhang mit Auslegungsfragen bezüglich verschiedener Straftatbestände bemerkbar machen (speziell etwa zu § 6a UStG bezüglich des Bestimmtheitsgrundsatzes gemäß Art. 103 Abs. 2 GG, BVerfG v. 23.7.2009 – 2 BvR 542/09, PStR 2009, 200, betr. Beschluss des 1. Strafsenats des BGH v. 20.11.2008). Sodann könnte es bei der Prüfung eines „Anfangsverdachts“ geschehen, zumal eine generelle Definition dazu, wann „zureichende tatsächliche Anhaltspunkte“ (§ 152 Abs. 2 StPO) vorliegen, sich nicht ausfindig machen lässt – zwar handelt es sich nicht um eine Ermessensentscheidung, jedoch besteht nach überwiegender Auffassung ein gewisser Beurteilungsspielraum (krit. etwa Richter, Anfangsverdacht für Geldwäsche, 2009, S. 88 ff.; Eisenberg/Conen NJW 1998, 2243 ff.; vgl. auch im Text unter III. 1.). Aus Verteidigersicht komme in Betracht, die in Rede stehende Entscheidung des BGH als Grundlage zum Nachweis einer Verfahrensverzögerung herzunehmen, um auf der Rechtsfolgenseite eine Kompensation gemäß dem sog. Vollstreckungsmodell anzustreben (vgl. etwa Alvermann/Franke Stbg 2009, 554 ff.). Immerhin ist in Nr. 18 Abs. 2, letzter Hs. AStBV ein Hinweis auf die hier erörterte Entscheidung des BGH enthalten. 18 Vgl. dazu Theile ZIS 2009, 451 (ua wegen „Bedrohungspotentials“ auf Seiten der Finanzbehörden). 19 Vgl. hierzu auch BGH PStR 2009, 175 = NJW 2009, 3379, Rn 50: „Merkmale […] § 110a Abs. 1 S. 1 Nr. 4 StPO“.
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a) Für Aspekte „negativer“ Generalprävention stehen etwa § 370 Abs. 3 AO („in besonders schweren Fällen“ Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren) sowie § 376 Abs. 1 AO (betreffend die Regelbeispiele des § 370 Abs. 3 S. 2 AO), wobei diese Vorschrift wegen der (in der Anwendung der Regelbeispiele liegenden) Ungewissheit in Konflikt mit dem Bestimmtheitsgrundsatz (Art. 103 Abs. 2 GG) geraten kann und sich hinsichtlich der Nichteinbeziehung der Verfahren gemäß § 370 Abs. 3 S. 1 AO wegen des Gleichbehandlungsgrundsatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) als nicht bedenkenfrei ausnimmt 20. Im Übrigen fehlt es nicht nur im Allgemeinen, dh losgelöst von tat- und tätergruppenstrukturellen Phänomenen, an (hinreichenden) empirischen Nachweisen einer („positiven“ wie auch einer) „negativen“ Generalprävention, sondern namentlich im Bereich des Steuerstrafrechts bestehen Wissensdefizite bezüglich unterschiedlicher Ausprägungen von Steuerwiderstand (als Ausdruck sog. Steuermentalität) zwischen kompromissloser Ablehnung und bloßer „Unlust“ einerseits und der jeweiligen Art der Besteuerung bis hin zu den jeweiligen sozialen bzw beruflich-unternehmerisch ggf. vernichtenden Auswirkungen (steuer-)strafrechtlicher Sanktionen andererseits. Dabei lässt allein die täterbezogene Variable des Lebensalters – mit der über Jahre hinweg relativen Höchstbelastung der Verurteilungen bei den 40- bis 50-jährigen, gefolgt von den 30- bis 40-jährigen 21 – erkennen, dass pauschale Unterstellungen generalpräventiver Wirkungsweisen, dh ohne Differenzierung zumindest nach Delikts- und Abgeurteiltengruppen, nicht geeignet sein können. Im Übrigen würde es der Logik des Handelns der Finanzbehörden, das primär fiskalisch und zukunftsorientiert zu sein hat, entsprechen, zur strafrechtlichen Ahndung überproportional häufig solche Personen herzunehmen, die ohnehin wirtschaftlich gescheitert und also fiskalisch unattraktiv geworden und zur Erhaltung von Arbeitsplätzen nicht mehr in der Lage sind. Dies wird umso eher der Fall sein, wenn seitens anderer Einrichtungen (zB von Sozialversicherungsträgern) auf Durchführung eines Strafverfahrens gedrängt wird. Insoweit aber liefe die verbalisierte Intention negativer Generalprävention von vornherein leer.
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Vgl. dazu Pelz NJW 2009, 471 f. Was Verurteilungen zu Freiheitsstrafe und zudem ohne Aussetzung der Vollstreckung zur Bewährung angeht, so ergab sich nach den Zahlen der Strafvollzugsstatistik des Statistischen Bundesamtes (Fachserie 10, Reihe 4.1), bei allen Vorbehalten hinsichtlich der Aussagekraft, unter der Rubrik Art der Straftat betreffend die AO, dass von den am 31.3. der Jahre 2007 bzw 2008 (die Zahlen für 2006 sind weniger differenziert) wegen Freiheitsstrafe (und Sicherungsverwahrung, vgl. näher Fn 29) einsitzenden 294 bzw 284 Personen immerhin 74 bzw 63 im Alter von 30 bis unter 40 Jahre waren, hingegen 185 bzw 200 im Alter von 40 Jahren und älter waren – nach den Zahlen der Jahre 2006–2008 waren 2, 2 und 4 der Insassen zu Jugendstrafe verurteilt worden. 21
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b) Bezüglich „organisierter“ Steuerverstöße erheblicher Größenordnung (etwa im Bereich der Zollfahndung betreffend BtM-, Gold- oder auch Zigaretten-Schmuggel) wird angeführt, auf das Arsenal strafprozessualer Beweisbeschaffungsmaßnahmen könne schwerlich verzichtet werden. Hingegen begegnet schon die Begrifflichkeit „organisierter“ Kriminalität, die (im Politjargon geläufig und) – mangels gesetzlicher Definition und also ohne Bestimmtheit (Art. 103 Abs. 2 GG) – zu tendenziell unkontrollierter Verfolgung tauglich ist, argumentativ Bedenken, da es an einer methodisch verlässlichen Abgrenzung fehlt und formal ohnehin kein Unterschied zwischen dem Idealtyp einer als „kriminell“ und einer als „legal“ beurteilten Organisation besteht. So bestehen empirische Anhaltspunkte dafür, dass es insbesondere auch hier zu Strafanzeige und (steuer-)strafrechtlicher Verfolgung häufig dann kommt, wenn die Beschuldigten wirtschaftlich gescheitert sind und insbesondere den Status innerhalb einer Tätergemeinschaft verloren haben, dh es geht insoweit nicht um Personen, die noch in der Lage wären, sich einer Überführung nachhaltig zu widersetzen. Andererseits könnte im Einzelnen zB zweifelhaft sein, ob bei solchen Maßnahmen im Rahmen eines – „strafrechtsbefreiten“ – Besteuerungsverfahrens, die indes ihrerseits Sanktions- und Abschreckungselemente enthalten, nicht gleichwohl Schutznormen aus dem Bereich des Strafverfahrens eingreifen22. 3. a) Bejahen die Finanzbehörden einen sog. Anfangsverdacht (vgl. dazu näher unten III. 1.), so liegt nach ihrer Auffassung die Entscheidung darüber, ob ein Steuerstrafverfahren an die StA abgegeben wird, in deren pflichtgemäßem Ermessen (Nr. 18 Abs. 1 S. 1 AStBV). Eine unverzügliche Abgabe „kommt in Betracht“, wenn „besondere Umstände es angezeigt erscheinen lassen“, dass das Verfahren von der StA fortgeführt wird (Nr. 18 Abs. 1 S. 2 AStBV). Dies gilt gemäß Nr. 18 Abs. 1 S. 3 AStBV „insbesondere“ ua wenn eine Telekommunikationsüberwachung beantragt werden soll (Nr. 1), die Anordnung von U-Haft geboten erscheint (Nr. 2), „besondere verfahrensrechtliche Schwierigkeiten bestehen“ (Nr. 3) oder Freiheitsstrafe zu erwarten ist, „die nicht im Strafbefehlsverfahren geahndet werden kann“ (Nr. 5). Hingegen ist gemäß Nr. 18 Abs. 1 S. 3 Nr. 6, S. 4 sofort abzugeben, wenn sich das Verfahren gegen Angehörige bestimmter Berufsgruppen (Nr. 136–138) bzw
22 Vgl. dazu etwa schon EGMR NJW 2002, 499 f., zu Art. 6 Abs. 1 EMRK. Im Einzelnen ist es de lege lata unzulässig, wenn die Finanzbehörden (ohne veränderte Umstände) einen sachlich nicht begründeten Wechsel vom Besteuerungsverfahren zum Steuerstrafverfahren – ein solches findet betreffend „unbekannte Steuerfälle“ (vgl. § 208 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AO) bereits im Vorfeld eines Verdachts statt – in der Absicht anstreben, eine Durchsuchung zu verfahrensfremden Zwecken zu erreichen (vgl. LG Hildesheim wistra 2007, 399 mit Bspr Matthes wistra 2008, 10 ff.).
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gegen Jugendliche oder Heranwachsende (Nr. 139 S. 1) richtet oder wenn Anhaltspunkte für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 21 StGB oder für eine nur eingeschränkte Verteidigungsfähigkeit aus psychischen Gründen (Nr. 139 S. 2) bestehen. Gemäß Nr. 18 Abs. 2 AStBV ist die StA bei Nichtabgabe unverzüglich zu verständigen, wenn das Verfahren „wegen der Größenordnung oder aus anderen Gründen, namentlich wegen der Persönlichkeit oder der Stellung des Beschuldigten oder wegen des Sachzusammenhangs mit anderen strafrechtlichen Ermittlungsverfahren, von besonderer Bedeutung ist“. b) Aus strafrechtlicher Sicht folgt aus dem Evokationsrecht eine (ggf. frühzeitige) Unterrichtungspflicht der Finanzbehörden gegenüber der StA immer dann, wenn davon auszugehen ist, dass sie die Ausübung dieses Rechts zumindest erwägen wird. Genauere Kriterien dafür, wann die Finanzbehörden solches anzunehmen haben, enthalten weder die einschlägigen Gesetze noch die RiStBV. Hinsichtlich der Ausübung des Evokationsrechts stellt Nr. 267 Abs. 1 RiStBV – neben zwei anderen, zwingenden Alternativen – darauf ab, „ob es aus besonderen Gründen geboten erscheint, etwa wenn der Umfang und die Bedeutung der Steuerstraftat/Zollstraftat dies nahe legen“. Der BGH hat in einer hier bereits mehrfach genannten Entscheidung 23 formuliert, es komme darauf an, ob die Ausübung „nicht fern liegt“, und dies sei mitunter auch bei „kleineren Sachen“, denen „besondere öffentliche Aufmerksamkeit“ gewidmet wird, der Fall, zumindest aber wenn wegen der „Größenordnung oder der Bedeutung des Falles“ Anklage zum LG „zu erwarten ist“ oder auch wenn „die Beweislage zu Beginn sich als schwierig darstellt“.
II. Vorbehalte gegenüber einer Unterrichtungspflicht Innerhalb des vom Gesetzgeber als „Spannungsverhältnis vorgesehenen“24 Bereichs der sich überschneidenden Zuständigkeiten zwischen Finanzbehörden und StA wird ein Nutzen des Evokationsrechts gelegentlich bezweifelt25.
23 NJW 2009, 2319 aE. Vgl. ergänzend BGHSt 54, 9 („auch und gerade dann, wenn zu entscheiden ist, ob eine wirksame Selbstanzeige i.S.v. § 371 AO gegeben ist“) = NJW 2010, 2146 Rn 38 mit Anm. Bittmann, zudem Anm. Mayberg, Salditt sowie Weidemann PStR 2010, 162 ff., 168 ff. sowie 175 f.; zu „tiefem Misstrauen“ in die Arbeit der Finanzbehörden und Gefahren der Verfahrensverzögerung Wessing/Biesgen NJW 2010, 2689, 2693. 24 Vgl. aus der Praxis Liebsch/Reifelsberger wistra 1993, 325. 25 Vgl. aus staatsanwaltlicher Sicht etwa Weyand DStR 1990, 412: „in der Praxis ist eine Evokation allerdings sehr ungewöhnlich“.
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1. a) Ein Hauptgrund für diese Skepsis liegt in dem Funktionsverständnis der Finanzbehörden, Bedacht auf Steuereinnahmen zu legen. Hiermit ist stimmig die Straffreiheit im Falle der Selbstanzeige einer Steuerverkürzung – bei leichtfertiger gemäß §§ 378 Abs. 3 S. 2, 371 Abs. 3 AO, bei vorsätzlicher gemäß § 370, 371 Abs. 3 sowie insbesondere Abs. 2 Nr. 2 AO –, welche Vorschriften vom fiskalischen Zweck her begründet werden. Das fiskalisch geprägte Ziel liegt in der Sicherung von Steueraufkommen – der mutmaßliche Steuerstraftäter soll (auch) steuerlich leistungsfähig bleiben – bzw der Ermittlung der Voraussetzungen zur Erzielung von Mehrergebnissen. Demgegenüber begäben sich die Finanzbehörden im Falle des Verlusts selbständiger Ermittlungen zB der Möglichkeit, mit dem Tatverdächtigen zu diskret behandelten Absprachen zu gelangen, etwa des Inhalts, dass keine Unterrichtung der StA stattfinde bzw eine (mutmaßliche) Straftat zu einer Ordnungswidrigkeit herabgestuft werde 26, wenn Zugeständnisse auf der steuerlichen Ebene gemacht werden. Die Finanzbehörden (und nach verbreiteter Auffassung insbesondere Betriebsprüfer) befinden sich also in einem Konflikt zwischen Pflichterfüllung hinsichtlich ihres ureigenen, sozusagen „strafrechtsfremden“ Verantwortungsbereichs einerseits und eines Verstoßes gegen das Legalitätsprinzip und gar gegen einschlägig in Betracht kommende Straftatbestände anderseits. Sollte im Einzelfall dogmatisch eine Strafbarkeit zu bejahen sein, so handelt es sich kriminologisch ggf. – im Zusammenhang mit etwaigen Belobigungen wegen Erreichens steuerlicher Mehrergebnisse – um einen Anwendungsbereich des Erklärungsmusters „rationaler Entscheidung“ iS einer Kosten-Nutzen-Analyse, möglicherweise auch um eine Ausgestaltung von „Neutralisierung“. Indes ist das Argument der finanzbehördlicher Absprachen (inzwischen) insofern eingeschränkt tragfähig, als bei Absprachen nach der StPO, soweit es sich um ein Steuerstrafverfahren handelt, gemäß Gesetz v. 29.7.2009 27 Verfahrensbeteiligte iSd §§ 202a, 212, 257b, 257c StPO auch die Finanzbehörde sein kann, der – beginnend mit dem Eröffnungsverfahren – während des gesamten gerichtlichen Verfahrens die Verfahrensrechte nach § 407 Abs. 1 AO eingeräumt sind. Ob sie wegen der Rechte, die ihr in von der StA wegen Steuerstraftaten geführten Ermittlungsverfahren nach § 403 AO zustehen, auch Verfahrensbeteiligte iSv § 160b sein darf, könnte zweifelhaft, wird jedoch zu bejahen sein28. b) Andererseits sind Verfahren, auf Grund deren ein Beschuldigter zukünftig fiskalisch ausfällt, weil er – auf Betreiben der StA und entgegen der von den Finanzbehörden vorgesehenen Strategie – wegen „reiner“ Steuer26 27 28
Kummer aaO, Kap. 18 Rn 161, 196. BGBl I 2353. Vgl. etwa Meyer-Goßner § 160b Rn 3: „selbstverständlich“.
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straftaten zu Freiheitsstrafe ohne Aussetzung der Vollstreckung zur Bewährung verurteilt wird und sodann einsitzt29, seither eher selten30, und dies gilt erhöht für Verfahren, in denen es zu dieser Sanktion auf Betreiben der StA und entgegen der von den Finanzbehörden vorgesehenen Strategie kommt. Im Übrigen verfolgen die Finanzbehörden ihrerseits mit dem Antrag auf Erlass eines Strafbefehls fiskalische Interessen. Was dabei im Einzelnen eine Praxis der Übermittlung von diesen ihren Anträgen durch die StA angeht (vgl. schon oben I. 1. a), so wird teilweise berichtet, es handele sich in der Regel um eine bloße Weiterleitung31. Substantiell ähnlich scheint es, abgesehen von besonders ausgebauten StAen etwa in Ballungsgebieten, oftmals auch in Fällen der Verfahrensübernahme und Anklageerhebung durch die StA zu geschehen32, und zwar nicht nur wegen der pensenmäßigen Ausgelastetheit der StAen, sondern vor allem schon wegen der unerlässlichen Fachkenntnisse der Finanzbehörden (vgl. näher unten III. 3. a). Dem entspricht es, dass nach Praxisberichten die von der StA gefertigten Anklagen oftmals, wenn nicht ganz überwiegend, die Fassungen der Finanzbehörden wiedergeben. Insofern wäre das Lob des BGH für eine „rasche Anklageerhebung“33 nicht uneingeschränkt verdient. In dem Antrag der Finanzbehörden auf Erlass eines Strafbefehls liegt, nicht anders als bei Geldstrafen wegen Allgemeiner Kriminalität oder wegen Verkehrsstraftaten, ein Anwendungsbereich positiver Funktionen von (Steuer-) Kriminalität, hier bezogen auf finanziellen Nutzen. So veranschlagen öffentliche Haushalte in ihren Plänen regelmäßig Einnahmen aus solchen strafrechtlichen Rechtsfolgen, die auf finanzielle Leistungen gerichtet sind34,35. Im 29 Nach der Strafvollzugsstatistik des Statistischen Bundesamts (vgl. näher Fn 21) wurden, bei allen Vorbehalten hinsichtlich der Aussagekraft, für den 31.3. der Jahre 2006–2008, unter der Rubrik Art der Straftat für die AO Zahlen der Strafgefangenen (und Sicherungsverwahrten) von insgesamt 301, 294 und 284 (Jugendstrafe: 2, 2 und 4) ausgewiesen – davon 28, 16 und 18 Frauen –, von denen sich 137, 122 und 105 im offenen Vollzug befanden. 30 Vgl. hierzu aber etwa BGH PStR 2009, 175 = NJW 2009, 3379, Rn 50: Wegen des gesamten Schadens für den Fiskus und der Art der Tatbegehung seien bei einer zwei Jahre nicht übersteigenden Höhe der verhängten Freiheitsstrafe Belange der „Verteidigung der Rechtsordnung“ (§ 56 Abs. 3 StGB) zu berücksichtigen. Nicht zu erkennen ist aus der Entscheidung, ob oder inwieweit zu der Art der Tatbegehung etwa die wirtschaftliche Existenz berührende Konkurrenzbedrängnisse oder auch Belange der Aufrechterhaltung der Wettbewerbsfähigkeit beitrugen. 31 Vgl. etwa Weyand wistra 1993, 87, 89. 32 Vgl. etwa Kummer aaO, Kap. 18 Rn 201: manche Staatsanwälte erwarten „ausermittelte“ Vorgänge. 33 BGH NJW 2009, 2319 f. 34 Vgl. zu einschlägigem Interesse an der Erledigung von „Missetaten“ bzw an strafrechtlichen Verurteilungen im Mittelalter etwa Achter, Geburt der Strafe, Frankfurt a.M. 1951, S. 34, 54, 63: „Einnahmequelle“. 35 Eingeschränkt wurden bis zum Jahre 2002 Angaben über die Höhe der Geldbußen sowie der Geldstrafen, die jährlich wegen Steuerhinterziehung verhängt wurden, seitens der Finanzbehörden kundgetan und in der wistra veröffentlicht, ohne dass sich daraus aller-
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Übrigen würden systematisch-analytische Aussagen zu der Frage, ob oder inwieweit es sich tatsächlich um finanziellen Nutzen handelt, voraussetzen, dass sich ein Verhältnis zu kontrollbezogenen Kostenbelastungen öffentlicher Haushalte herstellen ließe. 2. a) Im Falle der Unterrichtung gegenüber der StA riskieren die Finanzbehörden den Verlust der Zuständigkeit zur Beantragung des Erlasses eines Strafbefehls36, welche Verfahrensweise seit Erweiterung des Sanktionsrahmens um Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr unter der Voraussetzung, dass der Angeschuldigte einen Verteidiger hat und dass die Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wird (§ 407 Abs. 2 StPO37), den Zuständigkeitsbereich der Finanzbehörden erheblich erweitert hat. Zudem tritt, falls die StA von dem Evokationsrecht Gebrauch macht, ein Zuständigkeitsverlust auch für Entscheidungen im Zusammenhang mit der Einstellung des Verfahrens ein. Dies gilt insbesondere für die in der Praxis außerordentlich gewichtige Vorschrift des § 153a StPO und die damit verbundene Verfahrensstrategie. Bei Ausübung des Evokationsrechts droht den Finanzbehörden ein Verlust zumindest auch hinsichtlich des Ausmaßes des Ausgelastetseins bzw der Legitimation des Stellenbedarfs – zumal die in der Unterrichtung liegende Mehrbelastung demgegenüber zurücktritt –, ein solcher Verlust aber ist organisationssoziologisch dysfunktional. b) Negative Auswirkungen sind auch hinsichtlich des beruflichen Selbstverständnisses von Bediensteten der Finanzbehörden bis hin zu Fragen ihrer Berufszufriedenheit zu besorgen, da sie im Falle des Gebrauchmachens der StA von dem Evokationsrecht nicht mehr autonom, sondern zumindest de jure fremdbestimmt tätig werden (vgl. speziell zum Verlust der Berechtigung, selbständig zu ermitteln, bei Erlass eines Haftbefehls § 386 Abs. 3 AO). Gleichsam traditionell ist von ressortbezogenen „Eifersüchteleien und behördlichen Prestigerücksichten“38 und auch gegenwärtig mitunter von einem „Mittel der Bevormundung durch die StA“39 die Rede. Hierzu mag auch beitragen, dass ein Gebrauchmachen von dem Evokationsrecht nach wohl über-
dings eine Aufteilung dahingehend, ob es sich um Anträge der Finanzbehörden auf Erlass eines Strafbefehls oder aber um solche der StA bzw um Geldstrafen nach gerichtlicher Hauptverhandlung handelte, hätte erkennen lassen. Seit 2003 sind allgemein zugängliche Informationen noch spärlicher (vgl. etwa Monatsbericht des BMF – Juli 2006, Ergebnisse der Steuerfahndung). 36 Zur Orientierungspflicht der StA zwecks einheitlicher Strafzumessungspraxis vgl. Nr. 267 Abs. 2 RiStBV, wonach indes offen bleibt, wie dies konkret und mit welchen Konsequenzen dies zu geschehen hat. 37 Eingeführt durch Rechtspflegeentlastungsgesetz v. 11.1.1993 (BGBl I 50). 38 Vgl. Franzen/Gast/Joecks-Randt § 386 AO Rn 30 unter Hinweis auf Hartung. 39 Franzen/Gast/Joecks-Randt § 386 AO Rn 41.
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wiegender Meinung konkludent geschehen kann, wenngleich zumindest Belange der Rechtssicherheit für eine schriftliche Erklärung streiten. Solches betrifft insbesondere diejenigen Entscheidungen der Finanzbehörden, die eher denjenigen der StA entsprechen, weniger die typisch polizeilichen Maßnahmen und Entscheidungen. Von Gesetzes wegen besteht eine klare Trennung zwischen Steuerstrafsachenstelle und Steuerfahndung 40 – personell wird diese Trennung durch Zuordnung der Bediensteten der Finanzbehörden im Geschäftsverteilungsplan umgesetzt. Finanzbehörde iSd § 399 Abs. 1 iVm § 386 Abs. 2 AO ist die Steuerstrafsachenstelle (mit den vorerwähnten staatsanwaltschaftlichen Befugnissen, hierzu § 400 AO). Demgegenüber sind die Rechte und Pflichten der Steuerfahndungsstelle gesondert in § 404 AO geregelt, dh sie hat die Rechte und Pflichten der Polizei. Indes ergeben sich rechtstatsächlich insoweit Verschiebungen nicht ohne Auswirkungen iS einer Binnenrivalität, zumal von „in der Praxis ohnehin […] oft sehr schwachen Strafsachenstellen“41 die Rede ist. Vertritt also ein Bediensteter der Steuerfahndung im Falle der Verhinderung des zuständigen Bediensteten der Strafsachenstelle diesen – etwa bei Beantragung des Erlasses eines Strafbefehls42 oder gar bei Einstellung des Verfahrens gemäß § 170 Abs. 2 StPO –, so fällt eine Kontrolle des polizeilichen Handelns (hier der Steuerfahnder) durch die (mit Befugnissen der StA ausgestattete) Strafsachenstelle aus. Dass dies von der Verteidigung, soweit sie im Ermittlungsverfahren enger mit der Steuerfahndung als mit der Steuerstrafsachenstelle zusammen arbeitet, weniger gerügt zu werden scheint, mag darauf beruhen, das Absprachen eher eingehalten werden, wenn das Verfahren „in einer Hand bleibt“43. 3. Auswirkungen ergeben sich aber auch für die Verteidigung, da nur solange, als die Finanzbehörde das Verfahren selbständig führt, auch Steuerberater, Steuerbevollmächtigte, Wirtschaftsprüfer und vereidigte Buchprüfer gewählt werden dürfen (§ 392 Abs. 1 Hs. 1 AO). Dies ist in sich konsequent, da sich ein Steuerstrafverfahren meistens (oder gar in der Regel) erst aus einem Besteuerungsverfahren entwickelt (vgl. auch die Vermerkspflicht gemäß § 397 Abs. 1, 2 AO in der Beweisfunktion betr. das nunmehrige Verbot der Anwendung von Zwang gemäß § 328 AO [§ 393 Abs. 1 S. 2, 3 AO]). Ansonsten jedoch dürfen Personen der vorgenannten Berufsgruppen die Verteidigung in Steuerstrafsachen nur in Gemeinschaft mit einem Rechtsanwalt oder einem Rechtslehrer an einer deutschen Hochschule wahrnehmen
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Vgl. näher LG Freiburg wistra 1987, 155; weniger eindeutig LG Stuttgart wistra 1988,
328. 41
Hentschel NJW 2006, 2301. Nicht beanstandet von BVerfG wistra 1994, 263, auf Vorlage von AG Braunschweig wistra 1992, 234. 43 Hentschel NJW 2006, 2301. 42
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(§ 392 Abs. 1 Hs. 2 AO), es sei denn, es liegt kein Fall der notwendigen Verteidigung vor und das Gericht genehmigt die Alleinvertretung (§ 138 Abs. 2 StPO, § 392 Abs. 2 AO). Abgesehen von der letztgenannten Konstellation kommt es bei Ausübung des Evokationsrechts zu einer auch finanziell beträchtlichen Ausdehnung des Verfahrens zu Lasten des Beschuldigten, und zwar ggf. zum Nachteil des Fiskus.
III. Anlässe einer Unterrichtungspflicht 1. Die Erwartung der Anklage bei dem LG bzw eine „schwierige Beweislage“ kann erst dann angenommen werden, wenn zumindest ein „Anfangsverdacht“ besteht. Eine generelle Definition dazu, wann dies der Fall ist, lässt sich indes kaum ausfindig machen. Bei Beurteilung der Frage, ob „zureichende tatsächliche Anhaltspunkte“ (§ 152 Abs. 2 StPO) vorliegen, handelt es sich zwar nicht um eine Ermessensentscheidung, jedoch besteht nach überwiegender Auffassung ein gewisser Beurteilungsspielraum44. Indes ist dies der Justiziabilität abträglich, und wesentlich deshalb ist eine vollständige gerichtliche Überprüfung anzuraten45. Schon die Würdigung der Voraussetzungen des § 152 Abs. 2 StPO wird zumindest im Einzelfall von dem unterschiedlichen Funktionsverständnis zwischen Finanzbehörden und StA (vgl. I. 1. b) schwerlich unbeeinflusst sein. Gemäß Nr. 24 Abs. 2 S. 2 AStBV reicht hierzu die „bloße Möglichkeit einer schuldhaften Steuerverkürzung“ nicht, vielmehr bedarf es einer gewissen, wenn auch nicht zweifelsfreien Wahrscheinlichkeit 46. Wo indessen die Grenze zwischen bloßer Möglichkeit und einer begrenzten Wahrscheinlichkeit liegt, „bleibt unklar“47, dh es lässt sich nur aus jeweiligen Fallgruppen heraus oder gar vom Einzelfall her bestimmen. 2. a) Auch bei der Stellungnahme zu dem Prüfkriterium zu erwartende Anklage bei dem LG 48 werden die unterschiedlichen Perspektiven zwischen Finanzbehörden und StA kaum zu verkennen sein. Die Thematik berührt den rechtstatsächlich traditionell auch wissenschaftlich untersuchten Bereich unterschiedlicher Strafzumessungstendenzen49. So sind Fallgestaltun44
Vgl. nur BGH NJW 1970, 1543; BGH NStZ 1988, 510; OLG München NStZ 1985,
549. 45
Vgl. auch Lilie ZStW 111 (1999), 814, 817, SK-StPO-Weßlau § 152 Rn 56. Vgl. Franzen/Gast/Joecks-Jäger § 397 AO Rn 39. 47 Hellmann aaO S. 251, der „eine überzufällige Wahrscheinlichkeit für eine verfolgbare Straftat“ voraussetzt (aaO S. 252). 48 BGH NJW 2009, 2320. 49 Vgl. etwa schon Mannheim Über Gleichmäßigkeit und Systematik in der richterlichen Strafzumessung, ZStW 42 (1921), 40 ff.; Exner, Studien über die Strafzumessung, 46
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gen nicht auszuschließen oder teilweise gar naheliegend, in denen entgegen der Würdigung seitens der Finanzbehörde die StA gemäß ihrem Auftrag entweder eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr – ggf. ohne Aussetzung der Vollstreckung zur Bewährung – oder aber eine solche von mehr als vier Jahren für angemessen hält (§§ 74c Abs. 3 Nr. 3, 74 Abs. 1 S. 2 GVG). Zwar galt es nach Berichten aus der Praxis seit etwa Anfang des 21. Jhd. zB als eine institutionalisierte Handlungsnorm50, dass bei einem Verkürzungsbetrag von einer Million Euro ein Jahr Freiheitsstrafe verhängt wird51. Indes hat eine jüngere Entscheidung 52 eine veränderte Tendenz der Strafzumessung einzuleiten versucht, derzufolge ab einem Verkürzungsbetrag von 100.000 Euro Geld- oder Freiheitsstrafe bzw ab einem solchen von einer Million Euro Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren – und also ohne Aussetzung der Vollstreckung zur Bewährung (§ 56 Abs. 2 StGB) – in Betracht kommt. Insofern wird eine häufigere Unterrichtung zu erwarten sein53, wobei indes systematische Selektionen nicht auszuschließen sind (vgl. oben I. 2. a). b) Zudem tangiert das hier erörterte Prüfkriterium den Meinungsstreit dazu, bis zu welchem Zeitpunkt die StA das Evokationsrecht ausüben darf. Vielfach lässt sich erst zu einem vergleichsweise späten Abschnitt des Besteuerungsverfahrens, dh nicht etwa bereits zu Beginn, hinreichend erkennen, ob es überhaupt zu einer strafrechtlichen Anklage führen könnte54. Denn hierzu bedürfte es gesicherter Erkenntnisse insbesondere zur Höhe etwa hinterzogener Steuern und zu den Tatmodalitäten im Einzelnen. Eine nicht selten vertretene Auffassung beschränkt das Recht auf denjenigen Ermittlungsabschnitt des Steuerstrafverfahrens, der mit dem Abschlussvermerk gemäß § 169a StPO endet55. Demgegenüber lehnt die wohl überwiegende Meinung eine derartige zeitliche Limitierung ab, und zwar unter Hinweis auf den Gesetzeswortlaut (§ 386 Abs. 4 S. 2 AO) bzw auf die Konzeption der
1931 (retrospektiv zu methodischen Einwänden etwa Kruwinnus, Das enge und das weite Verständnis der Kriminalsoziologie bei Franz Exner, 2009, S. 44 f.); sodann Rolinski, Prägnanztendenz im Strafurteil, 1969. 50 Es handelt sich hierbei um ein System von ungeschriebenen (oder allenfalls amtsintern fixierten) Binnennormen, die – unabhängig von gesetztem Recht – das Verhalten der Organe der Strafrechtspflege gewissermaßen vereinheitlichend regeln. Wie jedes Normensystem (ausgenommen solche der Ethik oder der Sittlichkeit) sind sie für den Fall der Nichtbefolgung mit einem Spektrum von (teils massiven) Sanktionen ausgestattet. 51 Differenzierter Spatscheck/Zumwinkel StraFo 2009, 362. 52 BGHSt 53, 71 ff., speziell Rn 34, 37, 39, 45, 47, 51. Krit. dazu Schaefer NJW-Spezial 2009, 88, sowie näher Spatschek/Zumwinkel StraFo 2009, 362. 53 Vgl. etwa Rolletschke StRR 2009, 265: „im Zweifelsfall deutlich vermehren“. 54 Vgl. dazu aus der Praxis der Steuerverwaltung etwa Pflaum wistra 2009, 265 f. 55 Vgl. aus der Praxis etwa Liebsch/Reifelsberger wistra 1993, 326.
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§§ 386, 399 AO, derzufolge die Position der StA als „Herrin des Verfahrens“ nicht dergestalt beschnitten werden solle56. c) Insgesamt betrachtet erscheint das hier in Rede stehende Prüfkriterium eher nur in eklatanten, nicht selten generalpräventiv leerlaufenden Einzelfällen effektiv dafür, eine Unterrichtungspflicht zu begründen. Ansonsten stehen prognostische Unwägbarkeiten und der Zeitfaktor innerhalb der Ermittlungen der Finanzbehörden eher entgegen. 3. Das Prüfkriterium „schwierige Beweislage“ 57 lässt sich einerseits auf die fachspezifischen steuerlichen Geschehensabläufe beziehen, andererseits auf die Prognose hinsichtlich der Überzeugungsbildung des Gerichts – wobei allerdings meist Zusammenhänge untereinander bestehen werden. a) Für den erstgenannten Bereich verfügen die Finanzbehörden im Vergleich zur StA „in aller Regel“ über „die bessere Sachkunde“58 bzw über „fundierte Kenntnisse“, vermöge deren sie „entscheidend dazu beitragen, dass Steuerdelikte aufgeklärt werden“59. Hiernach wäre davon auszugehen, dass sie insoweit in der Lage sind, auch eine aus strafprozessualer Sicht „schwierige Beweislage“ zu erkennen. Beweisschwierigkeiten könnten etwa die Frage der Höhe der Beträge betreffen. Immerhin darf das Tatgericht aber zB Schätzungen der Finanzbehörde bzw der Steuerfahndungsstellen (einschließlich Richtsatzsammlungen des MdF) nur unter Berücksichtigung der vom Besteuerungsverfahren abweichenden Grundsätze des Strafverfahrens übernehmen60, und die Grundlagen der Schätzung müssen nachprüfbar mitgeteilt werden61. Daher sind zB zur Schätzung verwandte, eher aus fiskalischer Perspektive entwickelte Computer(schätz)programme auf ihre Validität auch insofern zu untersuchen, inwieweit sie der Sachlage Betroffener schlechthin bzw im konkreten Verfahren überhaupt Rechnung tragen. b) Was die Prognose hinsichtlich der gerichtlichen Würdigung angeht, so ergibt die Pflicht zu sofortiger Vorlage an die StA gemäß Nr. 18 Abs. 1 S. 3 Nr. 3 AStBV mit der Wendung „besondere verfahrensrechtliche Schwierigkeiten“ keinen näheren Aufschluss.
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Vgl. aus Sicht der StA etwa Weyand wistra 1994, 88. BGH NJW 2009, 2320. 58 Muhler aaO § 15 Rn 14. 59 Vgl. aus der Praxis Liebsch/Reifelsberger wistra 1993, 327. 60 BGH NStZ 2007, 589; wistra 2007, 470; s. erg. LG Frankfurt/O. StV 2001, 563. Vgl. auch zur Pflicht, eine „eigenständige“ Steuerberechnung im Urteil zu dokumentieren, BGH HRRS 2009 Nr. 746 Rn 21 sowie schon Jäger StraFo 2006, 479. 61 BayObLG StV 1993, 529. 57
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Zum einen könnten Beweisschwierigkeiten aus Konflikten zwischen der steuerrechtlichen Erklärungspflicht und der strafverfahrensrechtlichen Selbstbelastungsfreiheit resultieren. Hierzu wird von der Judikatur ein Lösungsweg dahingehend versucht, dass der Steuerpflichtige den Betrag seiner Einkünfte auf Grund von Straftaten unter Zuordnung zu einer Einkunftsart anzugeben hat, nicht jedoch die genaue Herkunftsquelle62. Die gleiche inhaltliche Beschränkung gelte hinsichtlich der Durchsetzbarkeit von Erklärungspflichten durch Zwangsmittel (§§ 328 ff. AO), sofern der Schutz gemäß § 30 AO bzw § 393 Abs. 2 AO wegen zwingender öffentlicher Interessen durchbrochen wird (§ 30 Abs. 4 Nr. 5 AO, § 393 Abs. 2 S. 2 AO), dh die Durchsetzung einer weitergehenden Auskunft ist unzulässig 63. Davon nicht unberührt sind Fragen eines Verwendungs- bzw Verwertungsverbots (§ 393 Abs. 2 AO) 64. So wird vor dem Hintergrund der Doppelfunktion der Steuerfahndung als Strafverfolgungs- und Fiskalbehörde (§ 208 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AO) eine Klarstellung gemäß dem Prinzip der Selbstbelastungsfreiheit65 empfohlen, um nachteilige Folgen zu vermeiden, die gemäß der Mitwirkungspflicht im Besteuerungsverfahren (§ 90 AO) mit der Gefahr der Selbstbelastung drohen.66 Dem trägt die Judikatur bei Vorliegen gewisser Konfliktlagen durch Anerkennung eines vor mittelbarer Selbstbelastung schützenden und fernwirkenden Verwendungsverbots bezüglich bestimmter Erklärungen des Steuerpflichtigen teilweise Rechnung,67 wobei der Schutz sich hiernach schon nicht mehr auf anderweitig, dh losgelöst von den Erklärungen des Beschuldigten erlangte Informationen (zB aus Kontrollmitteilungen) bezieht 68. – Das (begrenzte, § 393 Abs. 2 S. 2 AO) Verwen-
62 BGHSt 50, 316 ff. Krit. statt vieler Gaede JA 2009, 635, weil hiernach für die Steuerbehörden die Annahme eines strafrechtlichen Hintergrundes naheliegend sei; näher zum Ganzen Eidam, Die strafprozessuale Selbstbelastungsfreiheit am Beginn des 21. Jahrhunderts, 2. Aufl. Frankfurt a. M. 2009, S. 197 f. 63 Vgl. hierzu Jäger NStZ 2007, 695. 64 Wird im Rahmen der Betriebsprüfung gegen die Belehrungspflichten gemäß §§ 393 Abs. 1, 397 Abs. 3 AO verstoßen, so begründet dies ein Verwertungsverbot im Strafverfahren (BGH NJW 2005, 2725 [betr. ohne Belehrung fortgesetzte Außenprüfung]), dessen revisionsrechtliche Geltendmachung § 344 Abs. 2 S. 2 StPO genügen muss. 65 Vgl. BVerfGE 56, 41 f.; NJW 2005, 352; zum Schweigerecht gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK s. EGMR NJW 2002, 501. 66 Vgl. auch Rüping/Kopp NStZ 1997, 532 f.; betr. §§ 90 Abs. 1, 97 Abs. 1 AO BayObLG StV 1998, 367; Dierlamm StraFo 1999, 290 ff. 67 Vgl. BGH NJW 2005, 764 f. mit zust. Anm. Rogall NStZ 2006, 42 f.; zust. wohl auch Rolletschke StV 2005, 358; weitergehend LG Göttingen wistra 2008, 235 f.: § 393 Abs. 2 S 2 AO mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht vereinbar; offen gelassen noch in BGHSt 47, 15 f.; vgl. auch BVerfGE 56, 48 ff. 68 Nach BGH NJW 2009, 1987 wird die Berichtigungspflicht gemäß § 153 AO erst mit der Bekanntgabe der Einleitung eines (auch) diesbezüglichen Steuerstrafverfahrens suspendiert (krit. Gaede JA 2009, 636 f.).
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dungsverbot69 gemäß § 393 Abs. 2 S. 1 AO gilt nach hM unabhängig davon, ob eine allgemeine Straftat mit einer Steuerstraftat tateinheitlich zusammentrifft. § 393 Abs. 2 S. 1 AO soll hingegen nicht anwendbar sein, wenn eine allgemeine Straftat gerade nicht in Erfüllung steuerrechtlicher Pflichten, sondern in falschen Angaben gegenüber dem Finanzamt besteht70. c) Diese wenigen Beispiele lassen erkennen, dass Finanzbehörden verschiedentlich überfordert sein könnten, strafprozessuale Beweisschwierigkeiten hinreichend zu antizipieren, zumal auch die Judikatur einem ständigen Entwicklungs- bzw Wandlungsprozess unterliegt. Daher erscheint es zur Erfüllung dieses Prüfkriteriums als unvermeidlich, die StA anlässlich der vorgesehenen regelmäßigen Besprechungen (vgl. Nr. 132 Abs. 1 AStBV) zu konsultieren oder aber gar eine stärkere „Verzahnung“ anzustreben71. Da dies indes für sonstige Belange der Finanzbehörden (vgl. dazu oben II. 1., 2.) abträglich sein könnte, mögen Zweifel daran angebracht sein, inwieweit sie sich einheitlich diesem Prüfkriterium anschließen werden.
69 Vgl. bereits BGHSt 47, 12, wonach eine Strafbarkeit wegen der Nichtabgabe einer Umsatzsteuererklärung entfällt, wenn wegen der Abgabe unrichtiger Umsatzsteuervoranmeldungen desselben Jahres ein Strafverfahren anhängig ist. 70 Betr. die Vorlage unechter Urkunden BGHSt 49, 136 (vgl. auch BVerfG NJW 2005, 353) mit abl. Bspr Eidam wistra 2004, 413 f. sowie wistra 2006, 12 f. 71 Vgl. aus der finanzbehördlichen Praxis etwa Kummer aaO, Kap. 18 Rn 201; vgl. aber auch Rolletschke StRR 2009, 265: die Praxis werde zeigen, ob eine solche erfolgen müsse.
Ungereimtheiten bei der Anwendung von § 299 StGB Volker Erb I. Einführung Das wissenschaftliche Interesse an den Korruptionsdelikten konzentrierte sich lange Zeit ganz auf die §§ 331 ff. StGB, mit denen sich auch der verehrte Jubilar eingehend beschäftigt hat.1 Seit der Ersetzung des alten § 12 UWG durch § 299 StGB, der Aufdeckung einiger spektakulärer Fälle von Wirtschaftskorruption, der Schaffung internationaler Vorgaben zu deren Bekämpfung und daran anknüpfenden weiteren Reformvorhaben des Gesetzgebers findet nunmehr auch die Bestechung und Bestechlichkeit von Angestellten und Beauftragten in der Privatwirtschaft im Schrifttum zunehmende Beachtung. Eine der zentralen Fragen lautet dabei: Ist § 299 StGB auch dann anwendbar, wenn ein Angestellter den von dritter Seite als Gegenleistung für eine unlautere Bevorzugung im Wettbewerb gewährten Vorteil mit Billigung seines Geschäftsherrn entgegennimmt? Mit deren Bejahung hat das Reichsgericht in der berühmten „Sektkorken-Entscheidung“, die schon kurze Zeit nach Einführung der Vorgängernorm in § 12 UWG erging,2 den Grundstein für Probleme gelegt, die nicht nur bis heute ungeklärt sind, sondern durch die Einbeziehung von Zuwendungen an Dritte, die das Gesetz seit Überführung der Regelung in das StGB im Jahre 1997 vorsieht, eine gewaltige Sprengkraft erlangt haben: Die Sichtweise des Reichsgerichts mag zwar für sich genommen eine gewisse Plausibilität aufweisen, wenn man das von § 299 StGB / § 12 UWG a.F. geschützte Rechtsgut, in dessen Verletzung der Geschäftsherr in Ermangelung einer Dispositionsbefugnis (selbstverständlich) nicht wirksam einwilligen kann, im lauteren Wettbewerb erblickt.3 1
Geppert Jura 1981, 42 (45 ff.). RGSt 48, 291 (294 f.). 3 Weshalb ihr die wohl hM bis heute folgt, vgl. etwa Bürger wistra 2003, 130 (134); Ulbricht Bestechung und Bestechlichkeit im geschäftlichen Verkehr, 2007, S. 103 ff., 117 f.; Lackner/Kühl StGB, 26. Aufl. 2007, § 299 Rn 5; MünchKomm-StGB/Diemer/Krick Bd. 4, 2006, § 299 Rn 19, 30; Schönke/Schröder/Heine StGB, 27. Aufl. 2006, § 299 Rn 30; Otto Grundkurs Strafrecht BT, 7. Aufl. 2005, § 61 Rn 162; Möhrenschläger in: Dölling, Handbuch der Korruptionsprävention, 2007, Kap. 8 Rn 99. Überblick über die Diskussion im älteren Schrifttum bei Rengier FS Tiedemann, 2008, S. 837 (838 ff.). 2
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Bei genauer Betrachtung erweist sich der hieraus gezogene Schluß auf die Strafbarkeit der Angestellten indessen schon in der Ausgangskonstellation als höchst zweifelhaft (s.u. II.). Nach der gesetzlichen Einbeziehung von Vorteilen für Dritte führt nun aber die auch im Rahmen der §§ 331 ff. StGB verbreitete Interpretation, wonach die Entgegennahme (bzw. auf der Aktivseite die Gewährung) solcher Vorteile auch dann tatbestandsmäßig sein soll, wenn es sich bei dem Dritten um den Dienst- bzw. Geschäftsherrn desjenigen handelt, der den Vorteil fordert, sich versprechen läßt oder annimmt,4 zu denkbar großen Schwierigkeiten.5 Der Angestellte bzw. Beauftragte gelangt auf diese Weise nämlich in eine undurchschaubare Grauzone zwischen der Erfüllung von arbeitsvertraglichen und wettbewerbsrechtlichen Pflichten, die durch § 266 StGB auf der einen und § 299 Abs. 1 StGB auf der anderen Seite mit einer doppelseitigen Strafbarkeitsfalle versehen ist (s.u. III.). Die angebliche Unbeachtlichkeit einer Einwilligung des Geschäftsherrn versperrt dabei den Ausweg, der im Rahmen der §§ 331, 333 StGB durch den jeweiligen Absatz 3 (Genehmigung durch die zuständige Behörde im Rahmen ihrer Befugnisse) eröffnet wird.6 Besonders gravierend sind die Auswirkungen, wenn es sich beim Geschäftsherrn um eine Kapitalgesellschaft handelt, die Vorteile kaum anders als durch taugliche Täter i.S. von § 299 StGB vereinnahmen kann (s.u. IV.). Eine sachgerechte Ausräumung dieser Wertungswidersprüche kann keinesfalls dadurch erfolgen, daß man de lege ferenda auch den Geschäftsinhaber selbst generell als tauglichen Täter einstuft (s.u. V.). Zur Bewältigung der Probleme und zur Ausräumung unerträglicher Rechtsunsicherheiten bedarf es vielmehr zumindest eines klaren Bekenntnisses von Rechtsprechung und Kommentarliteratur zu einer (derzeit nicht in ausreichendem Umfang erkennbaren) restriktiven Auslegung der Vorschrift, besser einer ausdrücklichen gesetzlichen Beschränkung ihres Anwendungsbereichs, die man mit einer behutsamen Ausweitung an anderer Stelle verbinden könnte (s.u. VI.).
4 LK/Tiedemann Bd. 10, 12. Aufl. 2008, § 299 Rn 26; MünchKomm-StGB/Diemer/ Krick (Fn 3) § 299 Rn 10; Schönke/Schröder/Heine (Fn 3), § 299 Rn 12, 30; Möhrenschläger in: Dölling (Fn 3), Kap. 8 Rn 95; Ulbricht (Fn 3), S. 73 f.; vgl. auch Bernsmann StV 2005, 576 (578); anders nunmehr Bernsmann/Gatzweiler Verteidigung in Korruptionsfällen, 2008, Rn 602. 5 Vgl. bereits Winkelbauer FS Weber, 2004, S. 385 (387 ff.). 6 Zu dessen Bedeutung Geppert Jura 1981, 42 (50 f.).
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II. Die Abhängigkeit der Beeinträchtigung des Wettbewerbs von der Hintergehung des Geschäftsherrn Auch wenn man anerkennt, daß § 299 StGB dem Schutz des lauteren Wettbewerbs dient,7 insofern also ein Rechtsgut betroffen ist, in dessen Verletzung der Inhaber des Betriebs, bei dessen Geschäften einschlägige Dinge geschehen, nicht wirksam einwilligen kann, stößt die mit der Entscheidung des Reichsgerichts im Sektkorken-Fall begründete Rspr. und hM im Ergebnis auf durchschlagende Bedenken. Ob die Gewährung von Vorteilen und deren Annahme durch Angestellte oder Beauftragte mit oder ohne die Billigung von deren Geschäftsherren erfolgt, ist nämlich nicht nur für die Vermögensinteressen des Unternehmens, sondern auch für die wettbewerbsverzerrende Wirkung entsprechender Praktiken von zentraler Bedeutung: Die Gefahr, daß sich bestochene Angestellte und Beauftragte bei der Entscheidung über den Bezug von Waren und Dienstleistungen für ein Unternehmen statt am Preis-Leistungs-Verhältnis mehr an der Höhe ihres persönlichen Vorteils orientieren, ist naheliegend und groß, wenn das Ganze hinter dem Rücken des Geschäftsherrn geschieht. Wo letzterer die Annahme der Vorteile billigt, wird das Preis-Leistungs-Verhältnis hingegen niemals aus dem Blick geraten, denn ein Betriebsinhaber wird die Entgegennahme von Vorteilen durch seine Mitarbeiter nur so lange tolerieren, wie die hierdurch begünstigten Geschäfte uneingeschränkt in seinem eigenen wirtschaftlichen Interesse liegen.8 Damit sind die Auswirkungen der Gratifikationen auf den Wettbewerb nicht stärker als dort, wo sich der Betriebsinhaber diese selbst einräumen läßt und dafür einer bestimmten Ware oder Dienstleistung bei der Verwendung in der Produktion oder beim Weitervertrieb an Dritte (ggf. auch durch entsprechend intensive Bewerbung des Produkts) gegenüber vergleichbaren Produkten der Konkurrenz den Vorzug gewährt.9 Ein solches Verhalten ist aber spätestens seit Abschaffung der Zugabeverordnung, die hier bis zum Jahre 2001 be-
7 So die hM, vgl. Vormbaum FS Schroeder, 2006, S. 649 (652); Kahmann Die Bestechlichkeit und Bestechung im geschäftlichen Verkehr, 2009, S. 169 ff.; Rönnau in: Achenbach/Ransiek, Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, 2. Auf. 2008, Kap. III 2 Rn 7; NK-StGB/ Dannecker 3. Aufl. 2010, § 299 Rn 4 mwN; spezieller (Schutzgut sei das „Leistungsprinzip als Entscheidungsmaßstab“ als Grundlage des Wettbebwerbs) Koepsel Bestechung und Bestechlichkeit im geschäftlichen Verkehr, 2006, S. 99 ff.; aA etwa Szebrowski Kick-Back, 2005, S. 167 ff.; Pragal Die Korruption innerhalb des privaten Sektors und ihre strafrechtliche Kontrolle durch § 299 StGB, 2006, S. 112 ff.; ders. ZIS 2006, 63 (75 ff.); Zöller GA 2009, 137 (145 ff.). 8 Zutr. bereits Hirschenkrämer WRP 1965, 130 (131); Wollschläger Der Täterkreis des § 299 Abs. 1 StGB und Umsatzprämien im Stufenwettbewerb, 2009, S. 54, 80; tendenziell auch NK-StGB/Dannecker (Fn 7), § 299 Rn 80 a.E.; zweifelnd LK/Tiedemann (Fn 4), § 299 Rn 55; vgl. im übrigen Fischer StGB, 57. Aufl. 2010, § 299 Rn 18. 9 Hirschenkrämer WRP 1965, 130 (131 f.); Wollschläger (Fn 8), S. 54, 80.
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stimmte Gestaltungsformen verbot, grundsätzlich (zu besonderen Ausnahmen s.u. V.4.) nicht zu beanstanden.10 Der Betriebsinhaber wäre dabei insbesondere auch befugt, seine Mitarbeiter verbindlich anzuweisen, das betreffende Produkt bevorzugt einzusetzen bzw. zu bewerben, und er dürfte auch ohne weiteres ein betriebsinternes Anreizsystem schaffen, welches sie dazu motiviert, eben dies zu tun. Bei einem solchen Vorgehen besteht wirtschaftlich gesehen aber kein Unterschied mehr gegenüber der Situation, in der der Unternehmer Umsatzprämien an seine Mitarbeiter weiterreicht oder diesen erlaubt, sich entsprechende Prämien der Einfachheit halber direkt vom Lieferanten gewähren zu lassen (was in seinem eigenen wirtschaftlichen Interesse liegen kann, weil er für die hierdurch mitbewirkte allgemeine Motivationssteigerung seiner Mitarbeiter keine zusätzlichen Leistungen aus eigenen Mitteln aufbringen muß). Vor diesem Hintergrund erscheint die ausschließliche Kriminalisierung der letztgenannten Variante völlig willkürlich.11
III. Die Annahme von Drittvorteilen zugunsten des Geschäftsherrn 1. So einleuchtend und sinnvoll es war, den Anwendungsbereich von § 299 StGB ebenso wie denjenigen der §§ 331 ff. StGB auf Drittvorteile zu erstrekken, um die Möglichkeit einer Umgehung durch die Bestimmung einer dem Entscheidungsträger nahestehenden Person als Leistungsempfänger auszuschließen, so widersinnig erscheint es jedenfalls bei § 299 StGB,12 auch den Geschäftsherrn als „Dritten“ im Sinne dieser Vorschrift zu behandeln (eine Interpretation, die auch vom Gesetzeswortlaut her keinesfalls geboten erscheint und sich vielleicht nicht einmal aufdrängt, weil die Bezeichnung des von den betreffenden Vorgängen unmittelbar betroffenen Betriebsinhabers als „Dritten“ schon rein sprachlich betrachtet alles andere als naheliegt): Die mit dem Einkauf von Waren und Dienstleistungen für einen Betrieb betrauten Angestellten und Beauftragten haben regelmäßig gerade die Aufgabe, die Vertragsabschlüsse für ihren Geschäftsherrn so vorteilhaft wie möglich zu
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Vgl. Wollschläger (Fn 8), S. 49 f. Zutr. Winkelbauer FS Weber, 2004, S. 385 (392 f.); Rönnau StV 2009, 302 (305); ders. in: Achenbach/Ransiek (Fn 7), Kap. III 2 Rn 37; im Ergebnis auch Rengier FS Tiedemann, 2008, S. 837 (845); Wollschläger (Fn 8), S. 80 f.; Bernsmann/Gatzweiler (Fn 4), Rn 625; vgl. im übrigen bereits Hirschenkrämer WRP 1965, 130 (131 f.). 12 Bei den §§ 331 ff. StGB mögen die Dinge anders liegen, weil der Amtsträger nicht nur (bzw. nicht einmal in erster Linie) den Interessen seiner Anstellungskörperschaft, sondern vor allem dem objektiv nach Recht und Gesetz zu bestimmenden öffentlichen Wohl verpflichtet ist, mit dem es nicht zu vereinbaren wäre, wenn im Zusammenhang mit einer Amtshandlung eine gesetzlich nicht vorgesehene Abgabe gefordert wird, um z.B. dem maroden Haushalt einer Kommune eine informelle Entlastung angedeihen zu lassen. 11
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gestalten. Warum sollten sie (und nach § 299 Abs. 2 StGB spiegelbildlich dazu der Geschäftspartner auf der anderen Seite) einer Strafdrohung nach § 299 Abs. 1 StGB unterliegen, wenn sie in Erfüllung dieser Aufgabe eigenverantwortlich Vorteile für ihren Arbeit- oder Auftraggeber aushandeln oder entgegennehmen?13 Eine solche Strafbarkeit, die man auf der Grundlage der beiden Annahmen, wonach § 299 StGB erstens unabhängig von einer ausdrücklichen oder mutmaßlichen Einwilligung des Betriebsinhabers und zweitens auch in bezug auf diesem zugute kommende Vorteile Anwendung finden soll, ohne weiteres konstruieren kann, ließe sich überhaupt nur dann vom Verdikt reiner Willkür befreien, wenn man die Straflosigkeit in jeweils vergleichbaren Fällen, in denen der Betriebsinhaber die Vorteile selbst aushandelt, als Strafbarkeitslücke betrachtet, die aus Gründen der Gleichbehandlung möglichst schnell geschlossen werden müßte (dazu unten V.).14 2. Schon anhand der Situation des Angestellten oder Beauftragten, der im Zuge von eigenverantwortlich zu führenden Verhandlungen wie auch immer geartete Vorteile für den Betriebsinhaber erwirkt, läßt sich indessen aufzeigen, daß die Anwendung von § 299 StGB auf die Gewährung und Annahme von Vorteilen, die im wirtschaftlichen Interesse des Erwerbers der Waren oder Dienstleistungen liegt, von Grund auf verfehlt ist: Da sich letzten Endes jede Inanspruchnahme von Rabatten zugunsten des Geschäftsherrn als Fordern, Versprechenlassen oder Annahme (und auf der Gegenseite als Anbieten, Versprechen oder Gewähren) eines „Vorteils für einen Dritten“ darstellt, sind auf der Grundlage einer solchen Interpretation von § 299 StGB alle von Angestellten oder Beauftragten im Interesse des Geschäftsherrn (!) gut geführten Vertragsverhandlungen potentielle Kandidaten für die Anwendung von Absatz 1 dieser Vorschrift (und über dem Verhandlungspartner auf der Gegenseite schwebt das Damoklesschwert von Absatz 2). Was die Beteiligten ggf. vor einer Strafbarkeit bewahrt, ist dabei ausschließlich die Annahme, daß die Gewährung der Vorteile i.d.R. nicht geeignet ist, die Entscheidung über die Wahl des Lieferanten oder Dienstleisters sachwidrig zu beeinflussen.15 Damit stellt sich nun aber die Frage, wann die Bevorzugung eines Anbieters aufgrund dessen Gewährung von Vorteilen zugunsten des Betriebsinhabers denn „sachwidrig“ sein soll, so daß die Strafbarkeit zum Tragen kommt.
13 Zutr. kritisch Winkelbauer FS Weber, 2004, S. 385 (393); Wollschläger (Fn 8), S. 82; Rönnau StV 2009, 302 (305); ders. in: Achenbach/Ransiek (Fn 7), Kap. III 2 Rn 23; vgl. auch Fischer (Fn 8), § 299 Rn 12; NK-StGB/Dannecker (Fn 7), § 299 Rn 41. 14 Vgl. Lampe FS Stree/Wessels, 1993, S. 464 f. 15 Vgl. Rönnau in: Achenbach/Ransiek (Fn 7), Kap. III 2 Rn 26; zur Bedeutung dieses Merkmals allgemein NK-StGB/Dannecker (Fn 7), § 299 Rn 53a; Schönke/Schröder/Heine (Fn 3), § 299 Rn 19 f.
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a) Bei einer konsequent wirtschaftlichen Betrachtung wäre dies nur dann der Fall, wenn die erworbene Ware oder Dienstleistung gegenüber Konkurrenzprodukten in einem solchen Maße minderwertig oder überteuert wäre, daß der entsprechende Nachteil nicht durch den Wert des als Kaufanreiz gewährten Vorteils ausgeglichen wird. Diese Konstellation kann man indessen getrost vernachlässigen, denn ein Angestellter oder Beauftragter, der ausschließlich seinem Geschäftsherrn einen Vorteil verschaffen will (also nicht zugleich selbst „geschmiert“ wurde, was unproblematisch zur Anwendung von § 299 Abs. 2 StGB führen würde, und auch nicht aus anderen Gründen mit Schädigungsvorsatz handelt, was ohne weiteres eine Strafbarkeit nach § 266 StGB zur Folge hätte), wird sich auf kein Geschäft einlassen, das per saldo wirtschaftlich nachteilig erscheint, weil der gewährte Vorteil in seinem Wert nicht ausreicht, um ein ansonsten ungünstiges Preis-Leistungs-Verhältnis auszugleichen. b) Was bleibt, sind Fälle, in denen umgekehrt gerade die besondere Höhe oder aber die Ausgestaltung des Vorteils Anstoß erregt, etwa bei Umsatzrabatten mit extremer Progression, bei der Vereinbarung von „Regalmieten“ für den Vertrieb von Produkten eines bestimmten Lieferanten oder bei der Gewährung von Sachprämien mit privatem Charakter (Teilnahme an Gewinnspielen, Reisen, Luxusartikel u.s.w.). Hier ist die Bevorzugung des Lieferanten oder Dienstleisters, der so etwas zugunsten des Betriebsinhabers anbietet oder sich auf Verlangen darauf einläßt, aber durchaus wirtschaftlich sachgerecht:16 Die ungewöhnliche Ausgestaltung eines Rabatts (sei es in Form der Zahlung von „Regalmieten“, der Gewährung von Sachprämien oder wie auch immer) läßt dessen positive Auswirkung auf den Geschäftserlös in Höhe des für den Vorteil zu veranschlagenden Werts nicht geringer erscheinen, als das bei einem schlichten Preisnachlaß der Fall wäre,17 und die besondere Höhe eines dem Betriebsinhaber aus betrieblichen Gründen zufließenden und insofern das Betriebsergebnis verbessernden Vorteils macht den Geschäftsabschluß im Gegenteil sogar besonders wertvoll. Für einen dem wirtschaftlichen Interesse seines Arbeit- bzw. Auftraggebers verpflichteten Angestellten oder Beauftragten kann es also per definitionem niemals sachfremd sein, solche Vorteile bei der Entscheidung über die Wahl des Vertragspartners maßgeblich zu berücksichtigen.
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Vgl. Wollschläger (Fn 8), S. 45, 55 f., 119; Rönnau StV 2009, 302 (304). Entsprechend muß er ja auch verbucht werden; geschieht dies im Einzelfall nicht, ist insofern nicht das Wettbewerbs-, sondern das Steuerstrafrecht auf den Plan gerufen, zutr. Wollschläger (Fn 8), S. 45 f.; im Ergebnis nunmehr auch Pragal ZIS 2006, 63 (80); aA noch ders. (Fn 7), S. 117 ff., 140 ff., 217 ff. 17
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3. Wenn im Schrifttum trotzdem die Möglichkeit betont wird, daß sich der Angestellte oder Beauftragte auch durch die Aushandlung von Vorteilen zugunsten seines Geschäftsherrn nach § 299 StGB strafbar machen könne, geht es nach alledem nicht um die Sicherstellung einer allein nach wirtschaftlichen Sachkriterien erfolgenden Entscheidung. Der wahre Hintergrund ist vielmehr offensichtlich das Bestreben, den Leistungswettbewerb in bestimmten Bahnen zu halten, um eine übermäßige Bindung von Geschäftspartnern oder die Ausnutzung marktbeherrschender Stellungen beim Abfordern von Vorteilen, die nicht in einem schlichten Preisnachlaß bestehen, möglichst zu verhindern.18 Abgesehen von dem Einwand, daß hierdurch motivierte strafbewehrte Verbote in erster Linie beim Betriebsinhaber, der entsprechende Praktiken pflegt, nicht aber bei dessen nachgeordnetem Personal ansetzen müßten, ist die Frage, ob sich ein Rabattsystem im Rahmen eines fairen Leistungswettbewerbs bewegt, für sich genommen aber prinzipiell kein tauglicher Ansatzpunkt für eine Strafdrohung: Wo hier die Grenzen zwischen lauteren und unlauteren Strategien im Kampf um Marktanteile und Gewinnmaximierung verlaufen, ist eine Frage, über die man trefflich streiten kann und deren Beantwortung durch ein Gericht im Einzelfall völlig unvorhersehbar erscheint. Dies gilt um so mehr, als für die Abgrenzung zwischen lauteren und unlauteren Formen des Forderns und Gewährens von Rabatten im geschäftlichen Verkehr nach Abschaffung der ZugabeVO keinerlei gesetzliche Maßstäbe mehr existieren19 und sich die Bewertung entsprechender Rabattund Prämienmodelle (ebenso wie deren Entwicklung) – mit Tendenz zunehmender Liberalisierung – in einem ständigen Fluß befindet.20 Sobald man die angebliche Sachwidrigkeit des Anreizes nicht mehr allein mit Blick auf die wirtschaftlichen Interessen des Betriebsinhabers bestimmt (mit der Folge, daß sie bei Vorteilen, die allein diesem zugute kommen, wie gesagt stets zu verneinen ist), gibt es deshalb keine Möglichkeit mehr, zwischen Vorteilen, die Angestellte oder Beauftragte für ihren Arbeit- bzw. Auftraggeber fordern, sich versprechen lassen oder annehmen dürfen, und solchen, bei denen das nicht der Fall ist, sinnvoll zu differenzieren (schon gar nicht in einer Weise, die den Anforderungen von Art. 103 Abs. 2 GG auch nur annährend genügen würde).21 Der Gesetzgeber könnte hier ebensogut eine Vorschrift erlassen, die unmittelbar und ohne nähere Spezifizierung die übermäßige
18 Vgl. etwa Lampe FS Stree/Wessels, 1993, S. 449 (461 ff.); NK-StGB/Dannecker (Fn 7), § 299 Rn 53a. 19 Vgl. Heermann WRP 2006, 8 (9); Wollschläger (Fn 8), S. 49. 20 Dazu eingehend Heermann WRP 2006, 8 (13 ff., 19 f.); Rengier FS Tiedemann, 2008, S. 837 (842 ff.); Wollschläger (Fn 8), S. 29 ff., 49 f. 21 Zutr. Dölling Gutachten C zum 61. DJT, 1996, S. C 88; Odenthal wistra 2005, 170 (171); Pragal ZIS 2006, 63 (73); Wollschläger (Fn 8), S. 45 ff., 82, 119; Rönnau StV 2009, 302 (304); vgl. auch Satzger/Schmidt/Widmaier/Rosenau StGB, 2009 (SSW), § 299 Rn 21.
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Bindung von Vertragspartnern oder den Mißbrauch von Marktmacht gegenüber diesen mit Strafe bedroht, denn das sind die Kriterien, von denen nach dem, was einem Teil des Schrifttums offenbar vorschwebt, die Anwendbarkeit von § 299 StGB bei der Aushandlung von Vorteilen durch Angestellte und Beauftragte zugunsten des Geschäftsherrn de facto allein abhängt. 4. Dabei werden nicht etwa (was schon schlimm genug wäre) „nur“ die Konturen der Strafbarkeit verwischt. Weil der angestellte oder beauftragte Einkäufer seinem Geschäftsherrn die Aushandlung eines für diesen bestmöglichen Ergebnisses als Bestandteil seiner vertraglichen Vermögensbetreuungspflicht sogar positiv schuldet, kommt vielmehr erschwerend hinzu, daß ihm von der anderen Seite her eine Strafbarkeit nach § 266 StGB droht, wenn er beim Fordern und Vereinnahmen von wie auch immer gearteten Vorteilen für seinen Arbeit- bzw. Auftraggeber hinter dem zurückbleibt, was ihm ohne Verstoß gegen § 299 Abs. 1 StGB möglich wäre.22 Das bedeutet: Man setzt die für den Einkauf von Waren und Dienstleistungen zuständigen Mitarbeiter auf einen schmalen Grat zwischen zwei Strafbarkeiten, der für sie angesichts der völligen Unklarheit darüber, für die Etablierung welcher Rabattund Prämiensysteme sie sich zugunsten des Betriebsinhabers engagieren dürfen und für welche nicht, völlig unsichtbar bleibt. Dies ist kein hinnehmbarer Zustand.
IV. Die Situation bei Kapitalgesellschaften Besonderes Gewicht erlangen die vorgenannten Probleme, wenn es sich beim Träger des „geschäftlichen Betriebes“ i.S. von § 299 StGB nicht um eine oder (im Rahmen einer Personenhandelsgesellschaft) mehrere natürliche Personen, sondern um eine Kapitalgesellschaft handelt. Während im erstgenannten Fall die Möglichkeit besteht, Strafbarkeitsrisiken im Zusammenhang mit der Vereinbarung von Rabatt- und Prämiensystemen, die jemand möglicherweise als unlautere Benachteiligung von Mitbewerbern bewerten könnte, dadurch zu vermeiden, daß entsprechende Angebote an die Betriebsinhaber persönlich gerichtet und von diesen selbst angenommen werden (was freilich mit zunehmender Größe des Unternehmens schon hier erhebliche organisatorische Umstände bereitet), erscheint ein vergleichbar sicheres Vorgehen bei Kapitalgesellschaften nämlich weitaus komplizierter: Da diese selbst nicht handeln können, sondern durch Organe repräsentiert werden, bei denen es
22 Ebenso Rönnau StV 2009, 302 (305); Andeutung des Problems bereits bei Winkelbauer, FS Weber, 2004, S. 385 (393); Bernsmann/Gatzweiler (Fn 4), Rn 601.
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sich ihrerseits um Angestellte oder Beauftragte handelt,23 erscheint hier zweifelhaft, wer in der Lage sein sollte, in der Rolle als „Betriebsinhaber“ ohne unkalkulierbares Strafbarkeitsrisiko für sich (nach § 299 Abs. 1 StGB) und den Geschäftspartner (nach § 299 Abs. 2 StGB) Rabatte auszuhandeln, die aufgrund ihrer ungewöhnlichen Form oder Höhe von einem Staatsanwalt und einem Gericht vielleicht als anstößig empfunden werden könnten. Richtigerweise kommt dafür in der GmbH nur die Gesellschafterversammlung und in der Aktiengesellschaft nur die Hauptversammlung in Betracht, d.h. diese müßte jeweils einen Beschluß darüber fassen, den Vorteil für die Gesellschaft zu fordern, sich versprechen zu lassen oder anzunehmen.24 Bei Aktiengesellschaften erschiene eine solche (nach § 119 Abs. 2 AktG auf Verlangen des Vorstands theoretisch mögliche) Befassung der Kapitaleigner mit alltäglichen Geschäften des Unternehmens, um die es im vorliegenden Zusammenhang typischerweise geht, in der Praxis geradezu grotesk. Bei GmbHs (insbesondere bei kleineren) wäre ein entsprechendes Vorgehen wohl praktisch vorstellbar, aber doch immer noch sehr ungewöhnlich und im Falle der Einmann-GmbH im übrigen mit dem weiteren Problem behaftet, daß der geschäftsführende Alleingesellschafter im Schrifttum z.T. als tauglicher Täter von § 299 Abs. 1 StGB gehandelt wird.25 In jedem Fall ist es für Kapitalgesellschaften im Ergebnis weitaus schwieriger und umständlicher als für Unternehmen, die im Eigentum einer natürlichen Person stehen, von Lieferanten und Dienstleistern gewährte Vorteile als Betriebsinhaber selbst in einer Weise zu vereinnahmen, bei der die eigenen Angestellten oder Beauftragten auf der einen und der Geschäftspartner auf der anderen Seite keinem Strafbarkeitsrisiko ausgesetzt sind – eine offenkundige und in der Sache durch nichts zu rechtfertigende Ungleichbehandlung.26
V. Erstreckung von § 299 Abs. 1 auf den Betriebsinhaber? 1. Die sachwidrigen Ungleichbehandlungen, die sich aus der Anwendbarkeit von § 299 Abs. 1 StGB auf Angestellte und Beauftragte ergeben, die Vorteile für den Betriebsinhaber fordern, sich versprechen lassen oder anneh23 Vgl. MünchKomm-StGB/Diemer/Krick (Fn 3), § 299 Rn 5; NK-StGB/Dannecker (Fn 7), § 299 Rn 21; im Grundsatz ganz hM; für den Vorstand einer Aktiengesellschaft aA Brand/Wostry WRP 2008, 637 (643 f.). 24 Vgl. (auch zu Unternehmen in weiteren Rechtsformen) Wollschläger (Fn 8), S. 96 ff. 25 Vgl. Bürger wistra 2003, 130 (132); Pragal (Fn 7), S. 162 ff.; ders. ZIS 2006, 63 (73); Ulbricht (Fn 3), S. 52; Zöller GA 2009, 137 (148); Fischer (Fn 8), § 299 Rn 10c; zutr. aA Odenthal wistra 2005, 170 (171); Kahmann (Fn 7), S. 209; Wollschläger (Fn 8), S. 100 f., 105; LK/Tiedemann (Fn 4), § 299 Rn 10; MünchKomm-StGB/Diemer/Krick (Fn 3), § 299 Rn 4; NK-StGB/Dannecker (Fn 7), § 299 Rn 21; Bernsmann/Gatzweiler (Fn 4), Rn 568, 601. 26 Insoweit zutr. Bürger wistra 2003, 130 (132); Zöller GA 2009, 138 (148).
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men, während dieser selbst keiner entsprechenden Strafdrohung unterliegt, ließen sich als solche nicht nur durch Restriktionen bei der Anwendung der Vorschrift auf erstere, sondern grundsätzlich auch durch eine Ausweitung der Strafdrohung auf letzteren ausräumen.27 Die Analyse der Situation der Angestellten und Beauftragten hat indessen schon gezeigt, wie verfehlt ein solcher Schritt jedenfalls dann wäre, wenn er allgemein vollzogen würde: Bei Erstreckung auf Vorteile, die ausschließlich dem Betriebsinhaber zugute kommen, wirkt § 299 StGB nur als Sanktionsinstrument gegen die Etablierung von Rabattformen, die aufgrund ihrer Ausgestaltung, Form oder Höhe als anstößig empfunden werden. Als ein solches Instrument ist die Vorschrift aber nicht zu rechtfertigen, weil die Grenzen zwischen solchen und legitimen Rabattformen (zumal nach Abschaffung der ZugabeVO) völlig unbestimmt und fließend sind (s.o. III.3.). Dies gilt uneingeschränkt auch in bezug auf Vorteile, die der Betriebsinhaber selbst aushandelt. 2. Im Schrifttum erhobene Forderungen nach einer Erstreckung von § 299 Abs. 1 StGB auf Betriebsinhaber sind nun zumeist auch weniger von der Intention getragen, § 299 StGB zu einem Instrument im Kampf gegen die unangemessen feste Anbindung von Vertragspartnern oder gegen den Mißbrauch von Marktmacht zu erheben.28 Hier wird vielmehr auf Konstellationen verwiesen, in denen die Unlauterkeit der Vorteilsannahme aus einer besonderen „Drittverantwortlichkeit“29 des Betriebsinhabers resultiert, indem dieser das Vertrauen eines von seiner Auswahlentscheidung betroffenen Kunden mißbraucht, er werde die Auswahl in dessen Interesse nach rein sachlichen Kriterien treffen und sich dabei nicht durch Zuwendungen von Anbietern beeinflussen lassen.30 3. Eine Strafbarkeit der Annahme von Vorteilen durch (oder für, soweit es wiederum um Angestellte oder Beauftragte geht) Betriebsinhaber ließe sich in diesem Zusammenhang aber keinesfalls nur deshalb rechtfertigen, weil die Kunden des „geschäftlichen Betriebes“ eine fachgerechte Beratung über die Qualität der dort vertriebenen Waren erwarten, wie das z.B. gegenüber Fach-
27 So etwa Bürger wistra 2003, 130 (135); Satzger ZStW 115 (2003), 469 (488); Höltkemeier Sponsoring als Straftat, 2005, S. 169 ff., 173 f.; Ulbricht (Fn 3), S. 55 f.; vgl. auch (im Ergebnis wohl nicht befürwortend) Vogel FS Weber, 2004, S. 395 (405); ablehnend Lampe FS Stree/Wessels, 1993, S. 465. 28 So allerdings in der Tat bei Bürger wistra 2003, 130 (135). 29 So die Bezeichnung durch Wollschläger (Fn 8), S. 125 ff.; vgl. ferner NK-StGB/ Dannecker (Fn 7), § 299 Rn 27a. 30 Vgl. etwa Pragal ZIS 2006, 63 (73 f.); aus lauterkeitsrechtlicher Perspektive Heermann WRP 2006, 8 (11 ff.); MünchKommUWG/Heermann Bd. 1, 2006, § 4 Nr. 1 UWG Rn 206 ff.
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geschäften der Fall ist.31 Hier besteht zwar in der Tat eine nicht zu leugnende Gefahr, daß besondere Vorteile, die dem Betriebsinhaber für den Vertrieb der Waren eines bestimmten Herstellers zufließen, die Objektivität der Kundenberatung durch diesen selbst oder seine (durch Weisungen, Weiterreichung eines Teils der Vorteile oder innerbetriebliche Anreize, für deren Ausgestaltung der Phantasie keine Grenzen gesetzt sind, entsprechend motivierten) Angestellten beeinträchtigen – das Produkt wird nicht deshalb empfohlen, weil es für den Kunden besonders nützlich oder preiswert erscheint, sondern in erster Linie, weil sein Absatz dem Händler besondere Vorteile verschafft. Diese Gefahr läßt sich dort, wo ein Händler Waren von einem Lieferanten bezieht, um sie aufgrund einer eigenen Kalkulation zu einem höheren Preis weiterzuverkaufen, aber prinzipiell nicht ausräumen. Es liegt nämlich in der Natur der Sache eines freien Wettbewerbs im Handel, daß Händler vergleichbare Produkte von verschiedenen Herstellern und Lieferanten zu unterschiedlichen Konditionen erwerben können, die eine Weiterveräußerung mit evtl. stark voneinander abweichenden Gewinnspannen ermöglichen, und daß der Absatz für den Händler deshalb unterschiedlich attraktiv sein kann, wobei die hiervon ausgehende Anreizwirkung in keiner Weise mit der Preiswürdigkeit der Ware für den Kunden korrelieren muß.32 Dabei ist schon nicht ersichtlich, warum es für die strafrechtliche Bewertung überhaupt einen Unterschied machen sollte, ob dieser Effekt durch günstige Preise, wie auch immer ausgestaltete Rabatte, Prämien oder sonstige Vergünstigungen bedingt ist, die der Lieferant dem Händler gewährt und die unter Berücksichtigung des wirtschaftlichen Werts aller Vorteile per saldo zu einer besonders hohen Gewinnspanne führen.33 Vor allem aber ist es wiederum schlechthin unmöglich, angesichts der nahezu unendlichen Möglichkeiten, wie man Rabatte im weitesten Sinn ausgestalten kann, und angesichts der fließenden Übergänge zwischen dabei denkbaren Varianten eine den Anforderungen von Art. 103 Abs. 2 GG genügende Grenze zu ziehen.34 Für die notwendige Sanktionierung von Händlern, die bei der Kundenberatung allzu einseitig die Vorteile vor Augen haben, die ihnen aus dem forcierten Vertrieb eines bestimmten Produkts erwachsen, und darüber die Kundeninteressen vernachlässigen, sind die Kräfte des Marktes zuständig, die dafür sorgen, daß sich ein solches Verhalten am Ende nicht lohnt, weil der Händler mit Mängelrügen überhäuft
31 Bereits gegen die Annahme einer Wettbewerbswidrigkeit Wollschläger (Fn 8), S. 47 f.; insofern wohl aA Heermann WRP 2006, 8 (11 ff.); MünchKommUWG/Heermann (Fn 30), § 4 Nr. 1 UWG Rn 207. 32 Vgl. Wollschläger (Fn 8), S. 46. 33 Bereits für die lauterkeitsrechtliche Bewertung überzeugend Wollschläger (Fn 8) S. 45 ff. 34 Bedenken bzgl. der Abgrenzbarkeit auch bei NK-StGB/Dannecker (Fn 7), § 299 Rn 27a.
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wird und zugleich zusehen muß, wie seine unzufriedenen Kunden zur Konkurrenz abwandern.35 4. Richtigerweise sollte man über die Notwendigkeit einer Sanktionierung selbständiger Unternehmer nach § 299 Abs. 1 StGB deshalb nur dort diskutieren, wo diese die betreffenden Waren oder Dienstleistungen nicht einkaufen, um sie im eigenen Betrieb zu verarbeiten oder aufgrund einer eigenen Kalkulation mit entsprechendem Preisaufschlag an Dritte weiterzuverkaufen, sondern wo sie das Produkt für den Kunden beziehen, dem sie nur den Einkaufspreis als solchen weiterberechnen, weil sie ihren Gewinn nicht aus einem Preisaufschlag, sondern aus einem gesondert in Rechnung gestellten Honorar für ihre Dienstleistung erwirtschaften. Entsprechendes gilt auch und erst recht, wenn sie die Verträge mit den Lieferanten oder Dienstleistern gleich auf Rechnung der Kunden abschließen oder diesen nur eine Empfehlung geben, wo sie das betreffende Produkt selbst beziehen sollen. In all diesen Fällen, in denen der Betriebsinhaber letzten Endes nicht als Händler, sondern als Berater agiert,36 will dieser nämlich erklärtermaßen nicht an einem Handel mit dem Produkt, sondern nur an dem Honorar für eine ausschließlich zugunsten des Kunden erbrachte Dienstleistung verdienen. Deshalb kann der Kunde hier mit Fug und Recht darauf vertrauen, daß sich der Unternehmer bei seiner Auswahlentscheidung ausschließlich von einem aus Kundenperspektive (!) bestimmten Preis-Leistungs-Verhältnis des Produkts leiten läßt und nicht von Vorteilen, die ihm unter der Hand seitens des Lieferanten zufließen. Die Situation entspricht damit strukturell voll und ganz der klassischen Vorteilsannahme durch Angestellte und Beauftragte, bei denen ebenfalls die schutzwürdige Erwartung besteht, daß sie sich beim Einkauf von Waren und Dienstleistungen ausschließlich am Interesse desjenigen orientieren, in dessen Diensten sie stehen, weshalb jeder Anreiz, der ihnen von dritter Seite gewährt wird, hier in der Tat auf eine sachfremde Verzerrung des Entscheidungsverhaltens abzielt. Deshalb wäre eine Erstreckung der Strafdrohung von § 299 StGB auf Betriebsinhaber speziell für solche Konstellationen (und insofern auch auf Angestellte und Beauftragte, die in dieser Form unlautere Vorteile für den Betriebsinhaber akquirieren) in der Tat sachgerecht.37 Ihr kann man nicht entgegenhalten, daß es hier nur um der Schutz 35
Ähnlich Wollschläger (Fn 8), S. 44. Beispiel wäre etwa ein Architekt oder Hausverwalter bei der Vergabe von Handwerkeraufträgen, aber auch die Verschreibung eines bestimmten Medikaments durch einen Arzt, damit der Patient in der Apotheke dieses und nicht etwa ein Konkurrenzpräparat erwirbt, fällt in diese Kategorie! 37 Ähnlich Dölling Gutachten C zum 61. DJT, 1996, S. C 88; Volk GedS Zipf, 1999, S. 419 (427); Pragal ZIS 2006, 63 (78, 80); Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht BT, 2. Aufl. 2008, Rn 213; vgl. auch ders. FS Lampe, 2003, S. 759 (763); LK/Tiedemann (Fn 4), § 299 Rn 10. 36
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der Wirtschaftsmoral gehe und eine Unterscheidung zwischen der Inanspruchnahme unternehmerischer Freiheiten und Wettbewerbswidrigkeiten nicht möglich sei:38 Ein Architekt oder Hausverwalter, der sich von Handwerkern „schmieren“ läßt, handelt gegenüber seinem Vertragspartner auf der Abnehmerseite ebenso offensichtlich pflichtwidrig und wirtschaftlich sachwidrig wie der vom Lieferanten bestochene angestellte Einkäufer eines Unternehmens gegenüber seinem Arbeitgeber, was entsprechende Verzerrungen des Leistungswettbewerbs zur Folge hat. Der Umstand, daß in den einschlägigen Fällen zumeist eine Strafbarkeit nach § 266 StGB im Raum steht,39 bildet dabei hier wie da ebenfalls kein tragfähiges Argument gegen die Berechtigung und Notwendigkeit einer Erfassung des Verhaltens durch § 299 StGB. § 266 StGB ist nämlich keinesfalls in allen strafwürdigen Konstellationen anwendbar, weil wir es nicht immer mit der Verletzung einer qualifizierten Vermögensbetreuungspflicht zu tun haben; sie dürfte z.B. bei einem von der Pharmaindustrie bestochenen Arzt, der einem Privatpatienten40 ein überteuertes Medikament verschreibt, schwerlich zu bejahen sein (Hauptpflicht des Behandlungsvertrages ist ja die Förderung der Gesundheit und nicht die Wahrnehmung der Vermögensinteressen des Patienten oder dessen privater Versicherung).
VI. Vorschlag zur Lösung der Probleme 1. Soweit im Zuge der bisherigen Überlegungen Überkriminalisierungen festgestellt wurden, ist zunächst eine – in allen angeführten Punkten mögliche und von Teilen des Schrifttums jeweils auch geforderte – restriktive Auslegung von § 299 StGB geboten. Diese muß zum einen dahin gehen, daß Angestellte oder Beauftragte, die Vorteile ausschließlich für den Betriebsinhaber fordern, sich versprechen lassen oder annehmen (wobei das Spekulieren auf mittelbare Vorteile, die ihnen selbst vom Betriebsinhaber zufließen, z.B. eine schnelle Gehaltserhöhung oder Beförderung, ebenfalls unschädlich sein muß) und spiegelbildlich dazu deren Gegenüber nicht nach § 299 Abs. 1 bzw. Abs. 2 StGB strafbar sind; der „Dritte“ i.S. dieser Vorschrift muß insofern stets ein anderer als der Betriebsinhaber sein.41 Zum anderen ist aus den 38
So aber Wollschläger (Fn 8), S. 128 ff., 159 f. Wollschläger (Fn 8), S. 130. 40 Bei dem sich – im Gegensatz zum Kassenpatienten – die Anwendbarkeit von § 299 StGB nicht durch die (überdies höchst zweifelhafte) Annahme konstruieren läßt, der Arzt sei „Beauftragter“ der Krankenkassen; dazu Pragal NStZ 2005, 133 ff.; Fischer (Fn 8), § 299 Rn 10a f.; krit. Geis wistra 2005, 369 ff.; ders. wistra 2007, 361 (362 f.); Sahan wistra 2007, 69 ff.; ders. ZIS 2007, 69 ff.; Rönnau in: Achenbach/Ransiek (Fn 7), Kap. III 2 Rn 15; SSW/Rosenau (Fn 21), § 299 Rn 299 mwN. 41 Ebenso Winkelbauer FS Weber, 2004, S. 385 (387, 391, 393 f.), Koepsel (Fn 7), S. 166 ff., 171 ff.; Wollschläger (Fn 8), S. 82, 104; Rönnau StV 2009, 302 (305); ders in: Achenbach/ 39
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unter II. genannten Gründen entgegen der Sektkorken-Entscheidung des Reichsgerichts von einer Anwendung der Vorschrift immer dann abzusehen, wenn der Geschäftsherr das Verhalten der Angestellten kennt und billigt.42 2. Insbesondere für die erstgenannte Konstellation ist es mit einer restriktiven Auslegung der Vorschrift aber jedenfalls so lange nicht getan,43 wie keine diesbezügliche Entscheidung des BGH vorliegt und maßgebliche Stimmen in der Kommentarliteratur hier allgemein oder unter gewissen (aber nirgendwo klar abgegrenzten und wie gesagt auch nicht klar abgrenzbaren) Voraussetzungen einer Strafbarkeit das Wort reden. Unter diesen Umständen besteht hier nämlich eine unerträgliche Rechtsunsicherheit, die gerade zu Lasten derjenigen geht, die auf rechtstreues Verhalten bedacht sind und deshalb ggf. auch die Beratung von Strafrechtsexperten suchen – und zwar nicht zur Auslotung von Strafbarkeitslücken bei zumindest ethisch verwerflichen Praktiken, sondern im Zusammenhang mit Vertragsgestaltungen, die bei Zugrundelegung eines modernen Wettbewerbsverständnisses prima facie in keiner Weise anrüchig erscheinen: Was soll man einem Warenhersteller oder Dienstleister raten, der einem gewerblichen Abnehmer seiner Produkte ein neuartiges System von Preisnachlässen oder Rückvergütungen anbieten und dabei nach bestem Wissen und Gewissen Rechtsverstöße, vor allem aber jegliches strafrechtliche Risiko ausschließen will? Man wird ihm sagen können, daß letzteres zwar um so geringer ist, je weniger weit sich das Modell von traditionellen (d.h. insbesondere unter Geltung der ZugabeVO als zulässig betrachteten) Rabattformen entfernt. Eine Garantie dafür, daß nicht die Art und Weise oder die Höhe der dem Abnehmer zufließenden Vorteile bei einem Staatsanwalt und einem Gericht am Ende doch Anstoß erregt und diese daraufhin die Verhandlungspartner auf beiden Seiten mit einem Strafverfahren überziehen, wenn auf Abnehmerseite Angestellte oder Beauftragte agieren, kann man im Rahmen einer seriösen Beratung aber so lange nicht geben, wie prominente Vertreter des Schrifttums § 299 StGB hier als grundsätzlich anwendbar bezeichnen. Wollen die Beteiligten auf Nummer sicher gehen, wird man ihnen also dazu raten müssen, daß auf Abnehmerseite der Betriebsinhaber persönlich die Verhandlungen führt und über den Abschluß der Vereinbarung entscheidet, während die Mitarbeiter nur noch mit der
Ransiek (Fn 7), Kap. III 2 Rn 26; für den Fall „innerbetrieblicher Transparenz“ auch Odenthal wistra 2005, 170 (172). 42 Zutr. Winkelbauer FS Weber, 2004, S. 385 (392 f.); Koepsel (Fn 7), S. 157 ff., 163 ff.; Rengier FS Tiedemann, 2008, S. 837 (845, 848); Wollschläger (Fn 8), S. 81; Rönnau StV 2009, 302 (305); ders in: Achenbach/Ransiek (Fn 7), Kap. III 2 Rn 38; SSW/Rosenau (Fn 21), § 299 Rn 25; Blessing in: Müller-Gugenberger/Bieneck, Wirtschaftsstrafrecht, 4. Aufl. 2006, § 53 Rn 81; tendenziell auch NK-StGB/Dannecker (Fn 7), § 299 Rn 80. 43 Anders insoweit Wollschläger (Fn 8), S. 120 f.
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Ausführung betraut werden. Bedenkt man erstens die Umständlichkeit eines solchen Vorgehens bis hin zur Beschäftigung der Gesellschafterversammlung einer GmbH oder der Hauptversammlung einer Aktiengesellschaft (!) mit Alltagsgeschäften und zweitens den Umstand, daß sich die Strafbarkeit der Beteiligten nicht bei Orientierung an allen gängigen StGB-Kommentaren zuverlässig ausschließen läßt, wenn die Gesellschaft von einem geschäftsführenden Alleingesellschafter (und damit de facto vom Betriebsinhaber!) geführt wird (s.o. IV.), kann man dieses Ergebnis nur als grotesk bezeichnen. 3. Zur kurzfristigen Herstellung der erforderlichen Rechtssicherheit bedürfte es deshalb einer gesetzlichen Beschränkung des Anwendungsbereichs von § 299 StGB. Diese könnte man gleichzeitig mit einer Erweiterung um die unter III.4. genannten Konstellationen der Bestechlichkeit und Bestechung von Selbständigen verbinden, die nicht als Beauftragte eines geschäftlichen Betriebes agieren. Eine entsprechende Neufassung von § 299 Abs. 1 und 2 StGB, die mit Blick auf den Rahmenbeschluß 2003/568JI des Rates des EU vom 22. Juli 2003 zu Bekämpfung der Bestechung im privaten Sektor keine nennenswerten Probleme aufwerfen dürfte,44 könnte etwa wie folgt lauten: (1) Wer als Angestellter oder Beauftragter eines anderen45 oder als Angestellter oder Unterbeauftragter eines entsprechend Beauftragten46 im geschäftlichen Verkehr ohne Einverständnis des anderen einen Vorteil für sich oder einen Dritten (mit Ausnahme des anderen)47 als Gegenleistung dafür fordert, sich versprechen läßt oder annimmt, daß er bei dem Bezug von Waren oder gewerblichen Leistungen jemanden48 im Wettbewerb in unlauterer Weise bevorzuge, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. 44 Die in einem Entwurf der Bundesregierung vom 10.8.2007 (BT-Drucks. 548/07) in der vergangenen Legislaturperiode mit Blick auf internationale Vorgaben vorgeschlagene Erweiterung um eine Variante der Pflichtverletzung gegenüber dem Unternehmen als Folge der Bestechung des Angestellten oder Beauftragten (dazu Rönnau/Golombek ZRP 2007, 193 ff.; Rönnau in: Achenbach/Ransiek (Fn 7), Kap. III 2 Rn 65 ff.; NK-StGB/Dannecker [Fn 7], § 299 Rn 102 ff.) ließe sich mit dem Vorschlag notfalls kombinieren. Damit soll jener jedoch nicht das Wort geredet werden, vgl. vielmehr die überzeugende Kritik bei Rönnau/ Gomombek aaO. 45 Der Verzicht auf das Erfordernis der Tätigkeit für einen geschäftlichen Betrieb gewährleistet die Einbeziehung von Selbständigen, die sich unter den V.4. dargestellten Voraussetzungen als Beauftragte von Privaten bestechen lassen bzw. bestochen werden, vgl. Pragal (Fn 7), S. 194 ff.; Rönnau in: Achenbach/Ransiek (Fn 7), Kap. III 2 Rn 71. 46 Auf diese Weise werden die Angestellten und Beauftragten des von § 299 Abs. 1 StGB erfaßten Selbständigen, die für diesen (nicht für den Hauptauftraggeber!) einen Vorteil fordern, sich versprechen lassen oder annehmen, in die Strafdrohung einbezogen. 47 Dies ist die zentrale Einschränkung zur Ausräumung der unter III. und IV. aufgezeigten Ungereimtheiten, die mit der gegenteiligen Interpretation verbunden sind; für eine entsprechende Klarstellung (bei gleichzeitiger Skepsis bzgl. der Realisierbarkeit durch einen offenbar einseitig auf vorauseilenden Gehorsam gegenüber europarechtlichen Vorgaben bedachten Gesetzgeber) Rönnau in: Achenbach/Ransiek (Fn 7), Kap. III 2 Rn 71. 48 Sprachliche Anpassung, damit die Vorschrift nicht von zwei „anderen“ spricht.
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(2) Ebenso wird bestraft, wer im geschäftlichen Verkehr zu Zwecken des Wettbewerbs einem Angestellten oder Beauftragten eines anderen49 oder einem Angestellten oder Unterbeauftragten eines entsprechend Beauftragten50 einen Vorteil für diesen oder einen Dritten (mit Ausnahme des anderen)51 ohne Einverständnis des anderen als Gegenleistung dafür anbietet, verspricht oder gewährt, daß er ihn oder sonst jemanden52 bei dem Bezug von Waren oder gewerblichen Leistungen in unlauterer Weise bevorzuge.
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S.o. Fn 45. Zur Einbeziehung desjenigen, der die die in Fn 46 genannten Personen durch Gewährung eines Vorteils zugunsten ihres Arbeit- bzw. Auftraggebers (und insofern zu Lasten des Hauptauftraggebers) besticht. 51 S.o. Fn 47. 52 S.o. Fn 48. 50
„Der Tatrichter als Revisionsrichter“ Kritische Anmerkungen zur Beschränkung der Revision in Strafsachen durch tatrichterliche Beurteilungsspielräume Claudius Geisler I. Einleitung Die Entwicklung der Revisionspraxis in Strafsachen wird in erster Linie so beurteilt, dass es im Laufe der Jahre und Jahrzehnte zu einer ganz erheblichen Ausweitung der Prüfungskompetenzen durch die Revisionsgerichte gekommen sei. Diese Einschätzung ist unbestreitbar richtig: Die Rechtswirklichkeit des Revisionsrechts hat sich vom ursprünglichen normativen Grundkonzept der Strafprozessordnung und der mit ihm verbundenen Aufgabenverteilung zwischen Tat- und Revisionsgericht zunehmend entfernt.1 Ohne dass dies im Rahmen des vorliegenden Beitrages im Einzelnen nachgezeichnet werden kann, hat die revisionsgerichtliche Rechtsprechung Mittel und Wege gefunden, auf die tatrichterlichen Feststellungen „durchzugreifen“ sowie die Beweiswürdigung und die Sanktionsbemessung in einem Umfang zu überprüfen, wie es nach den Motiven zur Strafprozessordnung nicht vorgesehen war.2 Vor allem die Einbeziehung der tatrichterlichen Feststellungen in das „Prüfungsprogramm“ der Revisionsgerichte hat zu einer weitreichenden Kontrollerweiterung geführt. In den zugespitzten Worten von Rieß ist nunmehr der „unüberprüfbaren Freiheit des Tatrichters bei der Überzeugungsbildung“ eine „kaum überprüfbare Freiheit des Revisionsrichters“ nachgeschaltet, die sich auf die Akzeptanz dessen bezieht, was ihm die Darstellung des Tatrichters vermittelt.3 Erfahrene Praktiker des Revisionsrechts äußern vor dem Hintergrund dieser Gesamtentwicklung die Einschätzung, die Revisionsgerichte hätten ihren Kontrollbereich inzwischen schon so weit ausgedehnt, dass ein Senat, wenn er es nur wirklich wolle, nahezu jedes instanzgerichtliche Urteil „kassieren“ könne.4 Man mag diese Einschätzung als sehr 1 Zu dieser Entwicklung instruktiv Sowada Der gesetzliche Richter im Strafverfahren, 2002, S. 740 ff. 2 Näher zu den Stationen des Wandels Frisch FS Fezer S. 353, 354 ff. Vgl. auch Fezer FS Otto S. 901 f. 3 Rieß FS Fezer S. 455, 464. 4 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Sowada (o. Fn. 1) S. 742 mwN.
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pointiert ansehen oder sogar für übertrieben halten. Doch wie jede Übertreibung enthält sie ein starkes Moment der Wahrheit. Jedenfalls ist an dem Befund, dass die Revisionsgerichte ihre Prüfungskompetenzen zunehmend ausgeweitet haben und damit in Bereiche vorgestoßen sind, die ursprünglich dem Bereich der revisionsgerichtlichen Kontrolle entzogen sein sollten, nicht vorbeizukommen. Dieser Befund beschreibt freilich nur eine Seite der Medaille. Etwa seit der zweiten Hälfte der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts hat sich eine Entwicklung vollzogen, die der soeben dargestellten Grundtendenz geradezu entgegengesetzt erscheint. Denn sie hat im Ergebnis nicht zur einer Erweiterung, sondern zu einer Beschränkung der Revision in Strafsachen geführt. Gemeint ist die Begrenzung der Prüfungskompetenzen der Revisionsgerichte durch die Anerkennung „tatrichterlicher Beurteilungsspielräume“. Es geht hier regelmäßig um Fälle, in denen die Revisionsgerichte dem Tatrichter bei der Auslegung eines unbestimmten Rechtsbegriffs einen Bewertungsspielraum eingeräumt haben. Die Folge ist eine lediglich eingeschränkte Nachprüfbarkeit durch das Revisionsgericht. Die tatrichterliche Subsumtion kann im Rahmen einer Überprüfung vom Revisionsgericht nicht beanstandet werden, auch wenn eine andere rechtliche Beurteilung durchaus möglich gewesen wäre oder dem Revisionsgericht sogar näher gelegen hätte. Sofern und soweit die Subsumtion des Tatrichters sich noch im Rahmen des eingeräumten Beurteilungsspielraums bewegt, ist das Revisionsgericht gehalten, diese hinzunehmen. Die Eröffnung von Beurteilungsspielräumen betrifft demnach gerade nicht die vielkritisierte Problematik des „Revisionsrichters als Tatrichter“5. Es geht vielmehr um das gleichsam spiegelbildliche Phänomen des „Tatrichters als Revisionsrichter“. Denn bei Zuweisung eines Beurteilungsspielraums liegt in den aufgezeigten Grenzen die letztverbindliche Entscheidung über die fallbezogene Konkretisierung eines Rechtsbegriffs beim Tatrichter und gerade nicht mehr beim Revisionsrichter.6 Bereits im Jahr 2001 unterzog Tolksdorf diese Entwicklung einer sehr eingehenden und sehr kritischen Würdigung. Er gelangte zu dem Ergebnis, dass die tatrichterliche Gesetzesanwendung – entgegen der Praxis der Revisionsrechtsprechung – der revisionsgerichtlichen Kontrolle grundsätzlich in vollem Umfang unterworfen ist.7 Indes hat sich die revisionsgerichtliche Praxis außer Hörweite dieser Kritik fortentwickelt. Der Trend zu nur eingeschränkten revisionsrechtlichen Überprüfung unbestimmter Rechtsbegriffe ist nicht nur ungebrochen, sondern stärker geworden.
5 So der Titel eines Beitrages von Schmid ZStW Bd. 85 (1973) 360 ff. Zu diesem Aspekt näher Rieß FS Fezer S. 455, 470 f. 6 S. dazu auch Mosbacher FS Seebode S. 227, 243. 7 FS Meyer-Goßner S. 523 ff.
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II. Erscheinungsformen des „tatrichterlichen Beurteilungsspielraums“ 1. Anwendungsgebiete Entscheidungen, in denen die Strafsenate des Bundesgerichtshofs einen durchgreifenden Rechtsfehler unter Hinweis auf einen „tatrichterlichen Beurteilungsspielraum“ verneinen, sind inzwischen Legion.8 Tatrichterliche Beurteilungsspielräume werden dabei vom Bundesgerichtshof zum einen im Bereich des Verfahrensrechts anerkannt. So hat der Bundesgerichtshof einen Beurteilungsspielraum beispielsweise bei der Prüfung der Voraussetzungen des Tatverdachts und der Subsidiarität für die Anordnung einer Telekommunikationsüberwachung9, beim Beginn der Beschuldigteneigenschaft10, bei der Frage, ob die Mitwirkung eines Verteidigers „notwendig“ ist11 oder bei der Feststellung eines Anfangsverdachts, bei der Entscheidung über die Besetzung einer großen Strafkammer gemäß § 76 Abs. 2 GVG12 oder bei der Beurteilung, ob eine Amtshandlung „unaufschiebbar“ im Sinne des § 29 Abs. 1 StPO13 ist, angenommen. Zum anderen hat der Bundesgerichtshof aber auch bei der Subsumtion des materiellen Strafrechts – der eigentlichen Domäne der Revisionsgerichte – tatrichterliche Beurteilungsspielräume anerkannt.14 So hat die obergerichtliche Rechtsprechung dem Tatrichter etwa bei der Abgrenzung von Mittäterschaft und Beihilfe15, bei der Frage des „unmittelbaren Ansetzens“ im Sinne des § 22 StGB16, bei der Abgrenzung von Tun und Unterlassen17, bei der Entscheidung, wann eine Vollendung der Wegnahme anzunehmen ist18 oder bei der Abgrenzung von natürlicher Handlungseinheit und Tatmehrheit19 dem Tatrichter einen Beurteilungsspielraum zugestanden. Auch bei der Prüfung der Voraussetzungen einer Unrechtsvereinbarung im Sinne des § 331 StGB (Fall Utz Claassen) hat der Bundesgerichtshof der wertenden Beurteilung des Tatgerichts entscheidende Bedeutung eingeräumt und damit der
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Maatz Strafo 2002, 373. BGHSt 41, 30. 10 Vgl. BGHSt 38, 214, 227. 11 BGHSt 46, 93, 98; BGHSt 47, 172; BGHSt 47, 233. 12 BGH NJW 1999, 1644. 13 BGH NStZ 2002, 429. 14 Eine detaillierte Übersicht hierzu gibt Mosbacher (o. 6) S. 227, 228 ff. Vgl. auch die Zusammenstellungen bei Maatz/Wahl FS 50 Jahre BGH S. 531, 552; Maatz Strafo 2002, 373, 375; Störmer ZStW Bd. 108 (1996) 494, 495 f. und Tolksdorf (o. 7) S. 523, 526 ff. 15 BGH NStZ 2000, 482; BGH NJW 2004, 3051, 3053 f.; BGH NStZ-RR 2005, 71. 16 BGH NStZ 1998, 210. 17 BGH NStZ 1999, 607. 18 BGHSt 41, 198, 205. 19 BGH NStZ-RR 1998, 68 f. 9
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Sache nach der Figur des tatrichterlichen Beurteilungsspielraums einen weiteren Anwendungsfall hinzugefügt.20 Die Liste der aufgeführten Beispiele ließe sich erheblich erweitern. Tatrichterliche Beurteilungsspielräume, so der Eindruck, breiten sich wie ein Ölfleck aus. 2. Eine besonders problematische Konstellation: Tatrichterliche Beurteilungsspielräume im Kernbereich des materiellen Strafrechts (§ 211 StGB) Das alles wäre kein Anlass zur Beunruhigung, wäre das Phänomen tatrichterlicher Beurteilungsspielräume vor allem an der Peripherie des Straf- und Strafprozessrechts anzutreffen. Die tatsächliche Entwicklung ist jedoch eine andere. Tatrichterliche Beurteilungsspielräume sind vom Bundesgerichtshof selbst im Kernbereich des materiellen Strafrechts anerkannt worden. So hat der Bundesgerichtshof angenommen, dass dem Tatrichter bei der Bewertung von Tötungsmotiven im Rahmen der Prüfung der Voraussetzungen des Mordtatbestands ein vom Revisionsgericht lediglich nur eingeschränkt kontrollierbarer Beurteilungsspielraum zukommen soll. Dies gilt konkret für die Beantwortung der Frage, ob Beweggründe im Sinne von § 211 Abs. 2 StGB „niedrig“ sind. So hat der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs in einer Entscheidung aus dem Jahr 2006 in Anlehnung an vorausgegangene Entscheidungen anderer Senate hierzu wörtlich ausgeführt: „Bei den hier zu treffenden Wertungen steht dem Tatrichter ein Beurteilungsspielraum zu, den das Revisionsgericht nicht durch eigene Erwägungen ausfüllen kann. Hat der Tatrichter die genannten Maßstäbe erkannt und den Sachverhalt vollständig gewürdigt, ist dies auch dann nicht zu beanstanden, wenn ein anderes Ergebnis möglich oder sogar näherliegend gewesen wäre.“21 Manchen Leser erinnern solche Sätze des Bundesgerichtshofs an die bekannte Heck’sche Formel 22 des Bundesverfassungsgerichts, die den Prüfungsmaßstab des höchsten deutschen Gerichts bei der Kontrolle fachgerichtlicher Entscheidungen zu umschreiben versucht. Danach ist „die Feststellung und Würdigung des Tatbestands, die Auslegung des einfachen Rechts und seine Anwendung auf den einzelnen Fall (…) allein Sache der dafür allgemein zuständigen Gerichte und der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht entzogen (…).“23 Sofern es nicht um die Verletzung „spezifischen Verfassungsrechts“ geht, ist es danach nicht zu be20
BGH NStZ 2008, 688. BGH NStZ-RR 2006, 340, 341. Vgl. bereits BGH NStZ 2006, 284 sowie BGH Urt. v. 12.2.1998 – 4 StR 617/97 mit kritischer Würdigung durch Altvater NStZ 1998, 342, 343. 22 Benannt nach Karl Heck, von 1954 bis 1965 Richter des BVerfG, der an der nachfolgend zitierten Entscheidung mitgewirkt hat. 23 Hierzu und zum Folgenden: BVerfGE 18, 85, 92 f. Zur neueren Entwicklung in der Rspr. des BVerfG kritisch Lübbe-Wolff Kolloquium Murswiek, 2010, S. 193, 206 ff. 21
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anstanden, „wenn die Anwendung des einfachen Rechts durch den hierzu zuständigen Richter zu einem Ergebnis geführt hat, über dessen >Richtigkeit< (…) sich streiten lässt.“ Die Klangverwandtschaft zwischen der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist insoweit unüberhörbar. Sie täuscht jedoch über die unterschiedliche Aufgabenstellung und den unterschiedlichen Prüfauftrag beider Gerichte hinweg. Ein Verfassungsgericht tut gut daran, sich aus fachgerichtlichen Entscheidungsprozessen, die durch die Verfassung nicht determiniert sind, herauszuhalten. Dem Bundesgerichtshof kommt im deutschen Rechtsschutzsystem jedoch eine fundamental andere Rolle als dem Bundesverfassungsgericht zu. Als übergeordnetes Fachgericht, das nicht Verfassungsgericht ist, obliegt es ihm, die Gesetzesanwendung der Tatgerichte im vollen Umfang zu überprüfen und dort, wo es darauf ankommt, selbst Position zu beziehen und Orientierung zu geben. Die Eröffnung tatrichterlicher Beurteilungsspielräume im Auslegungsbereich des Mordtatbestands macht die prinzipielle Fragwürdigkeit eines Rückschnitts des revisionsrechtlichen Prüfungsmaßstabs auf bloße Vertretbarkeitserwägungen deutlich. Dabei ist der soeben erwähnte und vom 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs entschiedene Fall, bei dem inhaltliche Details hier außen vor bleiben können,24 zur Veranschaulichung der sich daraus ableitenden Problemstrukturen besonders geeignet: Zwar verhielt es sich in dem vom 5. Strafsenat entschiedenen Fall so, dass der Angeklagte vom Landgericht „lediglich“ wegen Totschlags (§ 212 StGB) verurteilt worden war und die hiergegen gerichtete Revision der Staatsanwaltschaft eine Verurteilung wegen Mordes erstrebte. Die Annahme des 5. Strafsenats, dem Tatrichter stehe bei der Frage der Bewertung, ob Beweggründe der Tat „niedrig“ sind, ein Beurteilungsspielraum zu, belastete demnach im konkreten Fall den Angeklagten nicht. Denn es blieb im Ergebnis bei der Verurteilung wegen Totschlags (§ 212 StGB). Insofern erscheint die hier in den Blick genommene Fallgestaltung vordergründig wenig brisant.25 Eine schlichte hypothetische Konkurrenzüberlegung legt indes den Finger in die Wunde: So fragt man mit Schneider 26, ob im umgekehrten Fall, nämlich bei Annahme eines niedrigen Beweggrundes und einer Verurteilung wegen Mordes (§ 211 StGB) durch das Landgericht, die Antwort des Strafsenats auch noch akzeptabel erschiene. In 24
Dazu eingehend Schneider FS Widmaier S. 759, 766 ff. Auch wenn der Senat am Ende seiner Entscheidungsbegründung eigens ausführt, dass eine andere Beurteilung des Mordmerkmals der niedrigen Beweggründe im Hinblick auf eines der beiden getöteten Opfer „ebenfalls vertretbar gewesen wäre und namentlich angesichts einer gewissen Vorplanung der Tat sogar näher gelegen hätte“, BGH NStZ-RR 2006, 340, 342. 26 (o. 24) S. 759, 768 Fn. 37. 25
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einem solchem Fall wäre das Revisionsgericht – seinen eigenen Prämissen folgend – gehalten, die Verurteilung zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe wegen Mordes auch dann hinzunehmen, wenn es ein anderes Ergebnis als möglich oder sogar als näherliegend ansehen würde. Es liegt auf der Hand, dass ein solcher Fall von richterlicher Selbstbeschränkung wohl nicht nur beim Angeklagten den Eindruck aufkommen ließe, das Revisionsgericht sei der ihm zugewiesenen Aufgabe der Rechtskontrolle nur unzureichend nachgekommen. Mosbacher weist mit Recht darauf hin, dass sich in einer solchen Konstellation der Revisionsführer vom Revisionsgericht mit seiner Rüge rechtsfehlerhafter Gesetzesanwendung (§ 337 StPO) geradezu „im Stich gelassen“ fühlen müsse.27 Die Indifferenz einer „Vertretbarkeitsrhetorik“, wonach man die Voraussetzungen des Mordtatbestands als erfüllt ansehen kann, aber auch nicht muss, bildet mithin kein ausreichend festes Fundament für eine Entscheidung eines Revisionsgerichts, die auch dem Rechtsfrieden dienen soll. Die Eröffnung eines tatrichterlichen Beurteilungsspielraums durch das Revisionsgericht erscheint dabei auch unter dem verfassungsgerichtlichen Gesichtspunkt der Garantie effektiven Rechtsschutzes überaus problematisch. Indem das Revisionsgericht dem Betroffenen eine eigene und von der Entscheidung des Tatrichters unabhängige Rechtsbewertung versagt, lässt es den nach der Prozessordnung vorgesehenen Rechtsschutz (§ 337 StPO) praktisch „leer laufen“. Gerade dann, wenn man mit dem Bundesverfassungsgericht 28 das Gebot effektiven Rechtsschutzes dynamisch begreift und deshalb verlangt, dass je schwerer der Tatvorwurf und je grundrechtsintensiver die drohende Sanktion ist, desto effektiver die Rechtskontrolle in ihrer Gesamttendenz ausgestaltet sein muss, vermag die Lückenhaftigkeit des Rechtsschutzes, die sich der Bundesgerichtshof in der Frage der Auslegung der „niedrigen Beweggründe“ selbst auferlegt hat, nicht zu überzeugen.
III. Ansätze zur Legitimation tatrichterlicher Beurteilungsspielräume Die Anerkennung tatrichterlicher Beurteilungsspielräume wird in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs regelmäßig nicht begründet.29 Sie wird vielmehr schlicht vollzogen. Dies erweckt den Anschein, die Rechtspre-
27 (o. Fn. 6) S. 227, 228. Gleichwohl zieht er von diesem Standpunkt aus nicht die Konsequenz, die gezogen werden müsste, nämlich: Die volle Überprüfbarkeit durch das Revisionsgericht. 28 Vgl. BVerfGE 83, 130, 148; BVerfGE 84, 34, 54 f.; BVerfGE 84, 59, 79; BVerfGE 88, 40, 59. Siehe dazu auch Störmer (o. Fn. 14) 494, 500. 29 Tolksdorf (o. Fn. 7) S. 523, 528.
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chung stehe in einer ganz festen, auch nicht mehr erklärungsbedürftigen Entscheidungstradition. Tatsächlich bedarf die Anerkennung von tatrichterlichen Beurteilungsspielräumen im hohen Maße einer rechtsdogmatischen Begründung, führt sie doch zu einer im positiven Recht jedenfalls nicht ausdrücklich vorgesehenen und in ihren Wirkungen weitreichenden Flexibilisierung des revisionsrechtlichen Prüfungsmaßstabs. Auch wenn die Gründe in den einschlägigen Entscheidungen regelmäßig nicht oder nur sehr wenig ergiebig sind, fehlt es doch nicht an Ansätzen zur Legitimation der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs. Hier ist an erster Stelle der Beitrag des (inzwischen ehemaligen) Richters am Bundesgerichtshof Maatz zu nennen, der in Auseinandersetzung mit der bereits erwähnten Kritik von Tolksdorf die Rechtsprechung und ihre Entwicklung in einem Beitrag30 aus dem Jahr 2002 verteidigt und Ansätze für ihre Legitimation vorgestellt hat. Mosbacher hat in einer Untersuchung 31 aus dem Jahr 2008 diesen Ansatz fortgeschrieben. Versucht man, die maßgebenden Legitimationsansätze zu systematisieren, so können bei aller Vergröberung und Vereinfachung mindestens drei Argumentationslinien herauspräpariert werden, denen im Weiteren näher nachgegangen werden soll. Sie können in aller Kürze wie folgt vorläufig zusammengefasst werden: Eine wichtige und in der Diskussion bislang kaum beachtete und dabei weit unterschätzte Bedeutung kommt zunächst der Bezugnahme auf die Tradition und die Rolle von „Beurteilungsspielräumen“ im Verwaltungsrecht zu. Im Weiteren spielt die Frage eine zentrale Rolle, ob es bei ausfüllungsbedürftigen Rechtsbegriffen in den Grenzbereichen der Bewertung überhaupt ein „richtig“ oder „falsch“ geben könne. Damit ist das Verständnis der „Gesetzesverletzung“ im Sinne des § 337 StPO auf das Engste verknüpft. Und schließlich wird die in der Strafzumessungsähnlichkeit liegende besondere Eigenart des richterlichen Wertungsakts zur Rechtfertigung tatrichterlicher Beurteilungsspielräume hervorgehoben. 1. Die Wertungsparallele zum Verwaltungsrecht a) „Im – immerhin dreibändigen – Deutschen Rechts-Lexikon kommt das Stichwort „Beurteilungsspielraum“ nur mit dem Zusatz „(Verwaltungsrecht)“ vor, als gäbe es dieses Institut in anderen Rechtsbereichen nicht. Dabei ist der Beurteilungsspielraum – was hier von Interesse ist – selbst im Strafrecht längst etabliert (…).“ Mit diesen Worten leitet der Beitrag 32 von Maatz in die Problematik tatrichterlicher Beurteilungsspielräume ein. Der 30 Strafo 2002, 373 ff. Argumentationsansätze finden sich bereits im Beitrag von Maatz/ Wahl (o. Fn. 14) S. 531, 551 ff. 31 FS Seebode S. 227 ff. 32 Strafo 2002, 373.
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Bezugnahme auf den Rechtsbereich des Verwaltungsrechts kommt in der Diskussion um die Anerkennung tatrichterlicher Beurteilungsspielräume große Bedeutung zu. Die dogmatischen Grundlagen des Beurteilungsspielraums sind im Verwaltungsrecht entwickelt worden. Sie gehen ganz wesentlich auf grundlegende Überlegungen zurück, die Bachof 33 im Jahr 1955 in die Diskussion über „Ermessen“ und „unbestimmte Rechtsbegriffe“ einbrachte. Sie haben sich als Grundlage für die Unterscheidung zwischen Ermessen und Beurteilungsspielraum in der deutschen Verwaltungs- und Verfassungsrechtswissenschaft durchsetzen können. Während das Ermessen einen Entscheidungsspielraum der Verwaltung auf der Rechtsfolgenseite einer Norm bezeichnet, bezieht sich ein Beurteilungsspielraum auf die tatbestandlichen Voraussetzungen des Handelns der Verwaltung. Er knüpft typischerweise an einen unbestimmten Rechtsbegriff als Bestandteil des Tatbestandes einer Rechtsnorm an und bezieht sich auf dessen Konkretisierung.34 Der Hinweis auf die gefestigte Rolle und Bedeutung des Beurteilungsspielraums im klassischen Anwendungsbereich des Verwaltungsrechts erscheint vor diesem Hintergrund besonders geeignet, die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs im Strafrecht zu stützen. Er suggeriert bei vordergründiger Betrachtung, dass es lediglich um die Transformation eines anerkannten Rechtsinstituts von einem in einen anderen Rechtsbereich ginge. Der Schein trügt. In Wahrheit muss gerade der Hinweis auf die Rechtsfigur des Beurteilungsspielraums im Verwaltungsrecht konkrete Zweifel an der dogmatischen Tragfähigkeit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs wecken. So muss deutlich gesehen werden, dass es um strukturell grundverschiedene Fallgestaltungen geht. Im Verwaltungsrecht obliegt der Vollzug von Rechtsnormen den Verwaltungsbehörden im Rahmen eines selbständigen Verfahrens. Die Verwaltungsbehörden entscheiden dabei in Wahrnehmung ihrer originären Kompetenz. Die Anerkennung von Beurteilungsspielräumen im Verwaltungsrecht geht dabei im Ausgangspunkt auf die Auseinandersetzung über die Reichweite des Grundsatzes der Gesetzesbindung der Verwaltung zurück, die im Spannungsfeld der Kompetenzabgrenzung von Legislative, Exekutive und Judikative steht. Der Begriff des Beurteilungsspielraums umschreibt dabei einen administrativen Freiraum bei der Rechtsanwendung, der sich unter bestimmten weiteren Voraussetzungen ausnahmsweise daraus ergibt, dass auf der Tatbestandseite einer Norm ein unbestimmter Rechtsbegriff gegeben ist. Die Anerkennung eines Beurteilungsspielraums hat dabei die Einräumung eines „exekutiven Interpretationsvorrechts“35 bei der Rechtsanwendung zur Folge.
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JZ 1955, 97 ff. Instruktiv dazu Pache Tatbestandliche Abwägung und Beurteilungsspielraum, 2001, S. 34 mwN. 35 Formulierung von Ewer NVwZ 1994, 140, 141. 34
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Im strafrechtlichen Anwendungszusammenhang kommt der Anerkennung von tatrichterlichen Beurteilungsspielräumen eine strukturell ganz andere Bedeutung zu. Hier geht es im Kern gerade nicht um die Zuweisung administrativer, sondern judikativer Freiräume. Zur Verdeutlichung sei nochmals auf ein bereits genanntes Anwendungsbeispiel verwiesen: Wenn der Bundesgerichtshof dem Tatrichter bei der Beantwortung der Frage, ob Beweggründe der Tat im Sinne von § 211 StGB „niedrig“ sind, einen Beurteilungsspielraum zuerkennt, so ist nicht das Außenverhältnis (wie im Falle der gerichtlichen Kontrolle einer in einem selbständigen Verfahren ergangenen Entscheidung einer Behörde), sondern nur und erst das „fachgerichtliche Binnenverhältnis“ von Tat- und Revisionsgericht betroffen. Anders liegt es in Fällen, in denen der Bundesgerichtshof dem Staatsanwalt oder dem Ermittlungsrichter – wie etwa bei den Voraussetzungen der Überwachung des Fernmeldeverkehrs (§ 100a Abs. 1 StPO) – einen Beurteilungsspielraum zuerkannt hat.36 Hier geht es um die Kontrolle einer Entscheidung, die gleichsam „exekutivischen“ Charakter hat. Und hier ist eine Struktur erkennbar, die der Selbständigkeit des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens jedenfalls nahe kommt und bei der man deshalb die Wertungsparallele zur Dogmatik des Verwaltungsrechts ziehen mag (aber keineswegs muss37). In allen übrigen Fallgestaltungen ist dies jedoch typischerweise nicht der Fall. Insofern ist bei näherem Hinsehen der Hinweis auf die Dogmatik des Verwaltungsrechts wenig geeignet, die Anerkennung tatrichterlicher Beurteilungsspielräume im Strafrecht abzusichern. b) Aber nicht nur aufgrund der aufgezeigten strukturellen Unterschiede vermag die Wertungsparallele zur Dogmatik des Verwaltungsrechts nicht zu überzeugen. So ist darauf hinzuweisen, dass im Bezugsbereich des Verwaltungsrechts über folgende drei Punkte sehr weitgehende Einigkeit besteht: So ist erstens anerkannt, dass nicht jeder unbestimmte Rechtsbegriff einen Beurteilungsspielraum begründet. Da die letztverbindliche Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe zu den Kernaufgaben richterlicher Tätigkeit zählt, ist – zweitens – im Regelfall nicht von der Einräumung eines Beurteilungsspielraums der Verwaltung auszugehen. Die Einräumung eines Beurteilungsspielraums stellt mithin die Ausnahme dar. Vom Grundsatz vollumfänglicher gerichtlicher Kontrolle ausgehend kann drittens – und damit schließt sich der Kreis –, ein Beurteilungsspielraum nur dann angenommen werden, wenn konkrete Umstände die Annahme rechtfertigen, dass der Gesetzgeber der Verwaltung einen Beurteilungsspielraum hat zuweisen wol36
BGH NStZ 1995, 510, 511. Siehe dazu auch Hoffmann NStZ 2002, 566, 567. So kann eingewandt werden, dass dem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren aufgrund der ihm innewohnenden Ausrichtung auf das (eventuelle) gerichtliche Hauptverfahren eine weniger eigenständige Bedeutung zukommt als der behördlichen Entscheidung im Verwaltungsrecht. In diesem Sinne: Störmer ZStW Bd. 108 (1996) 494, 502. 37
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len.38 Ein Beurteilungsspielraum besteht mithin nur dann, wenn sich eine entsprechende „Ermächtigung“ der Verwaltung normativ im Wege der Auslegung des jeweils einschlägigen Gesetzes begründen lässt. Sieht man diese Kriterien in der Zusammenschau, so wird deutlich, wie problematisch die Entwicklung in der strafrechtlichen Revisionsrechtsprechung tatsächlich ist. Die volle Revisibilität der Rechtsfrage entspricht dem normativen Grundkonzept der Revision.39 Abweichungen hiervon bedürfen der Begründung. Das bereits von Tolksdorf 40 beklagte Begründungsdefizit in der Rechtsprechung besteht jedoch weiterhin. Es fehlt in den einschlägigen Entscheidungen in der strafrechtlichen Revisionsrechtsprechung, soweit ersichtlich, an Hinweisen, die eine auch nur ansatzweise argumentative Auseinandersetzung mit der Problematik erkennen lassen. Von einer nachvollziehbaren Ermittlung einer aus dem jeweiligen Gesetz ableitbaren normativen Ermächtigung, die zur Annahme eines Beurteilungsspielraums berechtigt oder auch nur berechtigen könnte, kann jedenfalls keine Rede sein. Dabei legt die förmlich ins Auge springende Heterogenität der von der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs bejahten Anwendungsfälle eines tatrichterlichen Beurteilungsspielraums41 nahe, dass ihr kein übergreifendes Konzept zugrunde liegt.42 Vielmehr besteht der Eindruck, dass die Rechtsprechung „auf Sicht fährt“ und sich von Fall zu Fall zu hangelt. Die strafrechtliche Revisionsrechtsprechung zu den tatrichterlichen Beurteilungsspielräumen hat sich inzwischen zum „case-law“ im schlechten Sinne entwickelt. c) Der Hinweis auf die Rechtsfigur des Beurteilungsspielraums im Verwaltungsrecht ist aber auch in anderer Sicht geeignet, konkrete Zweifel an der dogmatischen Haltbarkeit der strafrechtlichen Revisionsrechtsprechung zu wecken. Die Fallgruppenanalyse zeigt, dass Beurteilungsspielräume von der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung nur im Bereich ganz spezifischer Referenzgebiete anerkannt worden sind. So hat die Rechtsprechung im Falle von Prüfungsentscheidungen, beamtenrechtlichen Beurteilungen, Wertungen, die nach dem Gesetz sachverständigen oder pluralistisch zusammengesetzten Gremien anvertraut sind, prognostischen Entscheidungen mit politi-
38 Vgl. die zusammenfassende Darstellung bei Pache (o. Fn. 34) S. 62. Siehe dazu ferner BeckOK Bader/Ronnellenfitsch/Aschke VwVfG § 40 Rn. 101 ff (Stand: Oktober 2009) und Ehlers, in Ehlers/Schoch, Rechtsschutz im öffentlichen Recht 2009, § 22 Rn. 81 ff sowie Schenke, Verwaltungsprozessrecht 12. Aufl. 2009, § 20 Rn. 748 ff, alle mwN. 39 Frisch (o. Fn. 2) S. 353, 374. 40 Tolksdorf (o. Fn. 7) S. 523, 528. Siehe dazu auch Störmer ZStW Bd. 108 (1996) 494, der ebenfalls moniert, dass oftmals nur „sibyllinische Formulierungen“ vorzufinden seien. 41 Siehe dazu nur die Zusammenstellung bei Mosbacher (o. Fn. 6) S. 227, 229 ff. 42 Davon ausgenommen ist die Anerkennung von tatrichterlichen Beurteilungsspielräumen im Bereich der Strafzumessung im engeren Sinne (§ 46 StGB) sowie im Bereich des Maßregelrechts.
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schem Einschlag sowie planerisch gestaltenden Entscheidungen anerkannt.43 Eine ähnlich differenzierte Ausformung der strafrechtlichen Revisionsrechtsprechung hat bislang nicht stattgefunden. d) Schließlich ist anzumerken, dass die neuere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine zunehmend restriktive Gesamttendenz aufweist und in immer mehr Bereichen den bisher von den Verwaltungsgerichten anerkannten Beurteilungsspielräumen entgegengetreten ist. Insgesamt lässt sich die neuere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in ihrer Gesamttendenz in den prägnanten Worten von Störmer wie folgt zusammenfassen: „Je größer die Grundrechtsbezogenheit und je intensiver der Grundrechtseingriff ist, desto höhere Anforderungen sind an die Einräumung eines Beurteilungsspielraums zu stellen, d.h. desto gewichtiger müssen die dafür sprechenden Gründe sein.“44 Es liegt auf der Hand, dass diesem Maßstab im besonders grundrechtsrelevanten Anwendungszusammenhang des Strafund Strafverfahrensrechts eine hervorgehobene Bedeutung zukommt. Werden Spielräume zugestanden, für deren Einräumung eine normative Ermächtigung nicht ersichtlich ist, droht die verfassungsrechtliche Garantie effektiven Rechtsschutzes „leer zu laufen“. Die gegenwärtige Entwicklung der strafrechtlichen Revisionsrechtsprechung lässt gegenüber diesem verfassungsrechtlich relevanten Befund eine viel zu unkritische Haltung erkennen. 2. Die Entscheidungskategorien von „richtig“ und „falsch“ im Spiegel des Rechtsfehlerbegriffs des § 337 StPO Die Auseinandersetzung um die Berechtigung tatrichterlicher Beurteilungsspielräume ist maßgeblich von der Frage bestimmt, ob es bei ausfüllungsbedürftigen Rechtsbegriffen überhaupt ein „richtig“ oder „falsch“ geben könne. So ist Maatz der Auffassung, dass diese Frage jedenfalls in den Grenzbereichen der Bewertung nicht positiv beantwortet werden könne.45 Ein „richtig“ oder „falsch“ könne es in diesem Bereich kaum geben. Daher könne es durchaus unterschiedliche Entscheidungen geben, die gleichermaßen „richtig“ und damit revisionsgerichtlich nicht zu beanstanden seien. Das Revisionsgericht könne in diesem Grenzbereich nur die Vollständigkeit und Widerspruchsfreiheit der tatrichterlichen Erwägungen prüfen, insbesondere ob der Tatrichter seiner Bewertung einen zutreffenden rechtlichen Ausgangspunkt zugrundegelegt habe; inhaltlicher Bewertungsmaßstab sei dabei die „Plausibilität“ des Ergebnisses. Unter diesen Vorzeichen bildeten der dem Tatrichter eröffnete Beurteilungsspielraum und der § 337 StPO zu43 Vgl. dazu nur BVerwG NVwZ 1991, 268, 269 und Ehlers (o. Fn. 38) § 22 Rn. 81 ff; Pache (o. Fn. 34) S. 120 ff und Schenke (o. Fn. 38) § 20 Rn. 756 ff. 44 ZStW Bd. 108 (1996) 494, 500. Parallele Einschätzung bei Pache (o. Fn. 34) S. 97. 45 Strafo 2002, 373, 377 ff.
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grundegelegte Rechtsfehlerbegriff letztlich nur zwei Seiten „derselben Medaille“. Sofern der Tatrichter die oben genannten Voraussetzungen beachtet und das Ergebnis seiner Überzeugungsbildung „plausibel“ ist, sei das Recht im Sinne des § 337 StPO „richtig“ angewandt worden. Diese Auffassung klingt auf den ersten Blick sehr einnehmend. Sie wirkt zurückhaltend und bescheiden zugleich, indem sie den Prozess der richterlichen Rechtsanwendung bereits im Ansatz in ein wirklichkeitsnahes Rechtssystem hineinzustellen versucht und dabei auf die Formulierung idealisierter, tatsächlich aber unerreichbarer Orientierungsmaßstäbe verzichtet. Ungeachtet der Plausibilität des ersten Anscheins der referierten Auffassung wird man jedoch einwenden müssen, dass von ihr aus nicht alle Fragen befriedigend beantwortet werden können. a) So ist zunächst allein vom Ergebnis betrachtet kritisch einzuwenden, dass der vorgestellte Ansatz zu Konsequenzen führt, die „radikaler“ anmuten, als es die ihm zugrundegelegten Prämissen eigentlich nahe legen. Die Annahme, dass es in den Grenzbereichen des Rechts ein „richtig“ und „falsch“ kaum geben könne, ist sicher nachvollziehbar. Die Konkretisierung von unbestimmten Rechtsbegriffen findet in einem Bereich statt, der regelmäßig sehr „weich“ ist. Der Übergang von noch „richtigen“ zu bereits „falschen“ Konkretisierungen (und umgekehrt) erfolgt dabei nicht notwendigerweise abrupt, als ob es darum ginge, ein Licht an- und ein anderes auszuschalten. Doch bei aller Schwierigkeit durchlaufen derartige Prozesse, ähnlich wie der Übergang von der Nacht zum Tag, typischerweise verschiedene „Helligkeitsphasen“. Dabei könnte vermutlich auch Maatz der schwächeren These zustimmen, dass es unter diesen nicht einfachen Bedingungen der Rechtsfindung wenigstens möglich sein sollte, solchen Rechtsbewertungen den Vorrang einzuräumen zu können, die sich „plausibler“ als andere erweisen. Dieser Weg ist jedoch versperrt, sofern und soweit dem Tatrichter ein Beurteilungsspielraum zugewiesen wird. So darf nicht übersehen werden, dass bei Eröffnung eines Beurteilungsspielraums das Revisionsgericht auch dann nicht zum Eingreifen berechtigt ist, wenn ein anderes Ergebnis nicht nur gleichermaßen möglich, sondern sogar „näher gelegen hätte“46. Auf diese spezifische Konsequenz seiner Rechtsprechung hat der Bundesgerichtshof in seinen einschlägigen Entscheidungen immer wieder ausdrücklich hingewiesen. Um im oben gewählten Bild zu bleiben: Damit ist dem Revisionsgericht im Rahmen seiner einzelfallbezogenen Urteilskontrolle die Möglichkeit verwehrt, sozusagen die passende „Dimm-Stufe“ zu wählen und überzeugendere rechtliche Bewertungen zugrunde zu legen. Es muss vielmehr aufgrund einer Beschränkung – die es sich selbst verordnet
46 BGH NStZ-RR 2005, 71 (die Abgrenzung von Mittäterschaft und Beihilfe betreffend).
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hat – sehenden Auges Bewertungen akzeptieren, die sich als weniger plausibel erweisen. Versteht man das Urteil als ein „Produkt der tatrichterlichen Tätigkeit“47 und begreift man die Rolle der Revision im Rahmen des Strafverfahrens (auch) als eine Art „Fertigungsendkontrolle“48, so ist das Revisionsgericht mithin gehalten, ein Produkt passieren zu lassen, das schlechter ist, als es sein könnte. Das Revisionsgericht gerät damit aus eigener Veranlassung in eine eigentümliche Rolle: Es weiß, wie es besser geht und darf es nicht besser machen. Der Qualitätsverlust des Rechtsergebnisses und die damit verbundenen Folgen können dabei für den Betroffenen im Einzelfall gravierend sein.49 Das allein wäre hier noch kein Einwand, würden diese Konsequenzen nicht auch außerhalb der Prämissen des Ansatzes von Maatz liegen. Gerade wenn man der Auffassung ist, dass in Grenzbereichen der binäre Code von „richtig“ und „falsch“ eine nur eingeschränkte Leistungsfähigkeit entfaltet, so spricht doch alles dafür und nichts dagegen, dass gleichsam als „Minus“ immerhin den „näherliegenden“ Rechtsinterpretationen Priorität eingeräumt werden kann. Bereits aus diesem Blickwinkel erscheinen sowohl die Logik als auch die Weisheit, die nach dem skizzierten Rechtsverständnis der Eröffnung von tatrichterlichen Beurteilungsspielräumen zugrunde liegen, fragwürdig. b) Ohnehin lenkt der Hinweis auf die Schwierigkeit oder Unmöglichkeit allein „richtiger“ Konkretisierungen im Bereich unbestimmter Rechtsbegriffe die Kontroverse schon im Ansatz auf ein falsches Gleis. Diesbezüglich ist der abermalige Blick auf die Diskussion von Beurteilungsspielräumen im Verwaltungsrecht hilfreich: Dort kommt dem Hinweis darauf, dass es bei der Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe in Grenzbereichen kaum ein „richtig“ oder falsch“ geben könne, keine richtungsweisende Bedeutung zu. Dieser Befund wird vielmehr vorausgesetzt. Wie bereits darlegt, wird daher im Kontext des Verwaltungsrechts die Diskussion sehr offen darum geführt, wem bei der Auslegung eines unbestimmten Rechtsbegriffs das Interpretationsvorrecht zukommt. Dem entspricht die Formulierung, dass Beurteilungsspielräume der Verwaltung im Verhältnis zu den Gerichten ein „Letztentscheidungsrecht“50 begründen. In diesem Effekt liegt die eigentliche Pointe der Zuschreibung von Beurteilungsspielräumen. Mit Recht führt daher Tolksdorf aus, dass es bei der Überprüfung durch das Revisionsgericht nicht darauf ankomme, welches Ergebnis im Grenzfall das richtige (oder richtigere) ist, sondern darum, wem bei der Konkretisierung eines unbestimmten Rechtsbegriffs die Befugnis zur letztverbindlichen Interpretation
47 48 49 50
Rieß (o. Fn. 3) S. 455, 459. So eine zugespitzte Formulierung von Rieß (o. Fn. 3) S. 459. Insoweit sei auf bereits Dargelegtes verwiesen (vgl. II.2). BeckOK-Aschke (o. Fn. 38) § 40 VwVfG Rn. 101.
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zugewiesen ist.51 Und diese Befugnis liegt nach dem normativen Konzept der Strafprozessordnung nicht beim Tatrichter, sondern beim Revisionsrichter. c) Diese Sichtweise wird durch die Auslegung des § 337 StPO zusätzlich gestützt. So ist nach dem zweiten Absatz dieser Vorschrift das sachliche Recht verletzt, wenn eine auf den festgestellten Sachverhalt anzuwendende Rechtsnorm „nicht oder nicht richtig angewendet worden ist.“ In beiden Fällen ist das Revisionsgericht unabhängig von der Auffassung des Tatrichters.52 Anhaltspunkte dafür, dass es demgegenüber auf die bloße „Plausibilität des Ergebnisses“ ankommen sollte, sind nicht vorhanden. Dem Wortlaut nach sind unbestimmte Rechtsbegriffe trotz ihrer inhaltlichen Ausfüllungsbedürftigkeit vollständig justiziabel.53 Für ein solches Verständnis des § 337 StPO sprechen vor allem auch der Sinn und der Zweck der Revision. Ungeachtet aller sich hierum im Einzelnen rankenden Kontroversen können mindestens zwei Funktionen der Revision als gesichert gelten: Die Aufgabe der Revision besteht zum einen in der Verwirklichung von Einzelfallgerechtigkeit und zum anderen in ihrer Leitlinienfunktion.54 Unter dem Aspekt der Einzelfallgerechtigkeit ist im Rahmen einer einzelfallbezogenen Urteilskontrolle eine Reduktion des revisionsrechtlichen Prüfungsmaßstabs auf bloße „Plausibilitäts- oder Vertretbarkeitserwägungen“ nicht zu rechtfertigen.55 Dies gilt auch und gerade dann, wenn nach der Auffassung des Revisionsgerichts eine andere rechtliche Konkretisierung „näher gelegen hätte“. Insoweit sei auf bereits Dargelegtes verwiesen. Ebenso wenig ist es unter dem Gesichtspunkt der Einzelfallgerechtigkeit akzeptabel, dass ein Revisionsgericht verpflichtet sein sollte, divergierende Entscheidungen bei im Grunde vergleichbaren Sachverhalten hinzunehmen. Aber auch unter dem Aspekt der Leitlinienfunktion der Revision sprechen die besseren Gründe dafür, dass die revisionsrichterliche Kontrolle der Gesetzesanwendung grundsätzlich uneingeschränkt ist.56 Die Revision kann ihre Leitlinienfunktion, in dem sie rechtliche Zweifelsfragen klärt und damit der Rechtsfortbildung und der Wahrung von Rechtseinheit dient, am besten dadurch erfüllen, wenn sie bei der Konkretisierung von unbestimmten Rechtsbegriffen selbst Position bezieht und dadurch Orientierung gibt.57
51 52 53
(o. Fn. 7) S. 531. Vgl. auch Meyer-Goßner, Strafprozessordnung, 53. Aufl. 2010, § 337 Rn. 33. Ausführlich Tolksdorf (o. Fn. 7) S. 523, 530. Siehe auch Schneider (o. Fn. 24) S. 759,
768. 54
Vgl. dazu hier nur Rieß (o. Fn. 3) S. 455, 457 ff. Tolksdorf (o. Fn. 7) S. 523, 533 ff. 56 In diesem Sinne auch Altvater NStZ 1998, 342, 343, der die Annahme eines tatrichterlichen Beurteilungsspielraums darüber hinaus auch mit Blick auf den Bestimmtheitsgrundsatz (Art. 103 II GG) als verfassungsrechtlich „bedenklich“ erachtet. 57 Nach der Komplexität des Sachverhaltes differenzierend: Frisch (o. Fn. 2) S. 353, 375 f. 55
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d) Schließlich: Das Straf- und Strafverfahrensrecht ist wie das Recht insgesamt von unbestimmten und damit im konkreten Einzelfall ausfüllungsbedürftigen Rechtsbegriffen geradezu durchzogen. Folgte man der These, dass es in den Grenzbereichen der rechtlichen Bewertung kaum ein „richtig“ oder „falsch“ geben könne und deshalb der Prüfungsmaßstab des Revisionsgerichts reduziert werden müsse, so gäbe es kein Halten mehr. Gerade wenn man mit Maatz davon ausgeht, dass bei der Ausfüllung unbestimmter Rechtsbegriffe nicht stets ein hinreichender „Kriterienkatalog“58 zur Verfügung steht, wäre eine weitere Anerkennung von „tatrichterlichen Beurteilungsspielräumen“ jedenfalls nur konsequent, und zwar immer dort, wo es um die Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe geht. Eine signifikante Verflachung des Kontrollniveaus der strafrechtlichen Revisionsrechtsprechung, insbesondere im Bereich des materiellen Rechts, und insgesamt eine „Verzwergung“ des doch gerade auf die Überprüfung der Rechtsfrage zugeschnittenen Rechtsmittels der Revision wäre mithin unausweichlich. Begreift man das gegenwärtige strafrechtliche Rechtsschutzsystem als eine Art Mobile, an dem die jeweiligen Rechtsschutzinteressen und Kontrollkompetenzen in etwa ausbalanciert hängen, so hieße die Ausweitung der bisherigen Tendenzen in der Revisionsrechtsprechung, an dieses fragile, schwebende Gebilde ein bleiernes Gewicht zu befestigen. Eine solche Entwicklung wäre unter dem Gesichtspunkt effektiven Rechtsschutzes durchgreifenden Bedenken ausgesetzt. Dem kann auch nicht mit Maatz entgegengehalten werden, dass aus der Garantie effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) mit Blick auf den Gewaltenteilungsgrundsatz allenfalls bei der nachträglichen Überprüfung behördlicher Maßnahmen eine vollständige und eigenverantwortliche richterliche Kontrolle abgeleitet werden könne; im Hinblick auf die Einschränkung der Revisibilität gerichtlicher Entscheidungen bestünden demgegenüber keine verfassungsrechtlichen Einwände.59 Diese Sichtweise verkennt die Reichweite der verfassungsrechtlichen Garantie effektiven Rechtsschutzes. Was den Zugang des Rechtsschutzsuchenden zu einer höheren Instanz angeht, gewährleisten zwar weder Art. 19 Abs. 4 GG noch andere Verfassungsbestimmungen einen Instanzenzug.60 Hat sich aber der Gesetzgeber für die Eröffnung einer weiteren Instanz entschieden und sieht die betreffende Prozessordnung dementsprechend ein Rechtsmittel vor, so sichert die Verfassung die Effektivität des Rechtsschutzes auch insoweit zu.61 Das Rechtsmit-
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Maatz StrafO 2002, 373, 378. Strafo 2002, 373, 379. Ähnlich Mosbacher (o. Fn. 6) S. 227, 242 f. 60 BVerfGE 87, 48, 61; BVerfGE 92, 365, 410; stRspr. 61 BVerfGE 54, 94, 96 f.; BVerfGE 77, 275, 284; BVerfGE 78, 88, 99; BVerfGE 112, 185, 208; stRspr. Zu dieser Position des BVerfG näher Voßkuhle Rechtsschutz gegen den Richter, 1993, S. 165 ff. 59
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telgericht darf ein von der jeweiligen Rechtsordnung eröffnetes Rechtsmittel nicht ineffektiv machen und für den Beschwerdeführer „leer laufen“ lassen.62 In die Garantie effektiven Rechtsschutzes wird daher auch bei der Einräumung von Spielräumen im Verhältnis zwischen Revisions- und Tatgericht eingegriffen.63 Ohne normative Ermächtigung darf der durch die Revision eröffnete Rechtsschutz nicht substantiell entwertet werden. 3. Der Spielraum des Tatrichters bei „originären Wertungsakten“ Die strafrechtliche Revisionsrechtsprechung zur Anerkennung tatrichterlicher Beurteilungsspielräume sowie der daran anknüpfende Begründungsansatz von Maatz sind in der strafrechtsdogmatischen Diskussion keineswegs nur kritisch aufgenommen worden. So hat Mosbacher in einem Beitrag64 aus dem Jahr 2008 den Versuch unternommen, die Anerkennung eines Spielraums des Tatrichters auf der Grundlage der Ansicht des Bundesgerichtshofs und unter Fortschreibung des Ansatzes von Maatz systematisch zu begründen. Mosbacher teilt dabei den gedanklichen Ausgangspunkt, dass es bei der auf den Einzelfall bezogenen Rechtsanwendung die Möglichkeit mehrerer richtiger Entscheidungen geben könne. Den Grund hierfür sieht er darin, dass es im Strafrecht zwei Arten von Urteilsakten gibt, die einen Kern nicht weiter rational überprüfbarer höchstpersönlicher Entscheidung enthalten. Hier sind zu einem sog. „Wahrscheinlichkeitsurteile“ hervorzuheben, die Verdachts- und Prognoseentscheidungen betreffen. Hier gehe es um Akte persönlichen Überzeugtseins von Geschehnissen in Vergangenheit und Zukunft. Zum anderen komme solche Entscheidungen besondere Bedeutung zu, bei denen die Bewertung menschlichen Verhaltens im Sinne eines „originären Wertungsakts“ im Vordergrund stehe. Für derartige Akte sei kennzeichnend, dass es um die „tadelnde Bewertung eines menschlichen Verhaltens durch einen Richter aufgrund einer Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalls innerhalb eines gewissen Rahmens gehe“. Solche „originären Wertungsakte“ seien nicht nur im Bereich der Strafzumessung, sondern auch in anderen Grenzbereichen des materiellen Rechts vorzunehmen. Für die Bewertung des soeben skizzierten Ansatzes erscheint es zunächst hilfreich, sich diejenigen Bereiche zu vergegenwärtigen, bei denen die sachliche Berechtigung der Annahme von tatrichterlichen Beurteilungsspielräumen außer Zweifel steht. So ist etwa anerkannt, dass dem Tatrichter bei der
62 Vgl. BVerfGE 78, 88, 99; BVerfGE 96, 27, 39; BVerfGK 11, 262, 266; BVerfGK 12, 402, 406. 63 So wie hier auch ausdrücklich Störmer ZStW Bd. 108 (1996) 494, 507 und Wittig GA 2000, 267, 283 f. (unter ausdrücklichen Hinweis auf Art. 20 Abs. 3 GG iVm Art. 97 Abs. 1 GG). Vgl. auch Neuhaus FS Rieß S. 375, 399. 64 Hierzu und zum Folgenden: FS Seebode S. 227 ff.
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Strafzumessung im engeren Sinne sowie bei prognostischen Entscheidungen im Bereich des Maßregelrechts Beurteilungsspielräume zugewiesen sind, die in der Revisionsinstanz nur eingeschränkt überprüfbar sind.65 Diese Einschränkung entspricht dem normativen Konzept des Gesetzgebers.66 Die Eigenheiten der Wertungsakte, die in diesem Rechtsspektrum vorzunehmen sind, werden im Konzept von Mosbacher durchaus zutreffend beschrieben. Die Problematik seines Konzepts liegt jedoch in seinem Anspruch auf Verallgemeinerungsfähigkeit. Dies zeigt sich besonders deutlich daran, dass Mosbacher einen Spielraum des Tatrichters, der auf der Annahme eines „originären Wertungsaktes“ beruht, im weiten Umfang anzuerkennen bereit ist. Zu den konkreten Anwendungsbereichen zählt Mosbacher neben der Strafzumessung (§ 46 StGB) auch Abgrenzungsfragen in Grenzfällen, ausdrücklich etwa die Frage der Abgrenzung von Mittäterschaft und Beihilfe. Hier sei die vom Tatrichter zu treffende Entscheidung zugleich eine „Art wertender Strafzumessungsakt durch Auswahl des richtigen Strafrahmens“67. Es gehe dabei um das „Maß tadelnder Bewertung“ und deshalb um Entscheidungen, die „Strafzumessungsakten“ angenähert seien. Entsprechendes gelte auch für die Abgrenzung von Tun und Unterlassen. Ein Beurteilungsspielraum sei auch dann eröffnet, wenn gesetzliche Tatbestandsmerkmale einen „originären Wertungsakt“ des Tatrichters erforderten. Dies sei bei der Bewertung eines Tötungsmotivs als „niedrig“ im Sinne von § 211 Abs. 2 StGB der Fall. Ein solcher Wertungsakt habe „gleichsam strafzumessungsähnlichen Charakter“68. Den aufgeführten Beispielen sei gemeinsam, dass dem tatrichterlichen Wertungsakt eine ganz besondere Bedeutung zukomme. Die Eigentümlichkeit dieses „dezisionistischen Wertungsakts“69 beruht nach der Auffassung von Mosbacher vor allem darauf, dass es im Strafrecht – im Unterschied zu anderen Rechtsordnungen – ganz „wesentlich um die tadelnde Bewertung menschlichen Verhaltens“70 gehe. Die suggestive Kraft dieses Begründungsansatzes ist indes stärker als seine tatsächliche dogmatische Tragfähigkeit. So ist zunächst kritisch einzuwenden, dass es mit Hilfe dieses Ansatzes nahezu unmöglich erscheint, der Anerkennung von tatrichterlichen Bewertungsspielräumen überhaupt Grenzen zu setzen. So ist jedes Merkmal, das zum gesetzlichen Tatbestand gehört, Voraussetzung des strafrechtlichen Unwerturteils und damit für die „tadelnde Bewertung eines menschlichen Verhaltens“ zumindest potentiell relevant. Ein Kriterium, das aber letztlich auf sämtliche auslegungsfähigen Merkmale des gesetzlichen Tatbestands „passt“, ist für eine Eingrenzung unbrauchbar. 65 66 67 68 69 70
Tolksdorf (o. Fn. 7) S. 523, 524. Siehe dazu auch Schneider (o. Fn. 24) S. 759, 768. (o. Fn. 6) S. 227, 239. (o. Fn. 6) S. 227, 240. (o. Fn. 6) S. 227, 238. (o. Fn. 6) S. 227, 238.
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Dabei vermag auch der Hinweis auf den „strafzumessungsähnlichen“ Charakter des zu treffenden Wertungsaktes eine andere Sichtweise nicht zu rechtfertigen. Zwar trifft es zu, dass die Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme, Tun und Unterlassen, Totschlag und Mord Auswirkungen auf die Strafzumessung hat (oder jedenfalls haben kann). Aber das allein rechtfertigt nicht, Merkmale, die nach dem normativen Konzept des Gesetzgebers unzweifelhaft als Merkmale des gesetzlichen Tatbestands und ganz bewusst gerade nicht als Aspekte der Strafzumessung ausgestaltet worden sind, den spezifischen Bewertungsmaßstäben der Strafzumessung zu unterwerfen. Beide Bereiche sind vom Gesetzgeber klar getrennt worden. Dabei geht es nicht nur um Unterschiede klassifikatorischer Art, sondern auch um inhaltlich-sachliche Differenzen, die einer Ähnlichkeitsbewertung entgegenstehen. Ein erster wesentlicher Unterschied ergibt sich aus dem Gesetz selbst: So gelten für die Begründung des Rechtsfolgenausspruchs nur eingeschränkte Dokumentationspflichten des Tatrichters. Im Urteil sind lediglich die für Strafe „bestimmenden“ Gründe und nicht etwa sämtliche Strafzumessungsgründe darzulegen (vgl. § 267 Abs. 3 Satz 1 StPO). Die Bewertungsgrundlage für das Revisionsgericht ist damit nach der normativen Entscheidung des Gesetzgebers im Bereich des Rechtsfolgenausspruchs eine ganz andere als im Bereich der Anwendung eines Strafgesetzes. Ein zweiter Unterschied besteht darin, dass „Wertungsakte“, die sich auf den Bereich der Strafzumessung im engeren Sinne beziehen, typischerweise eine eigene Komplexität aufweisen. Sie verlangen dem Tatrichter Abwägungen (vgl. § 46 StGB) ab, die auf das Direkteste an der Individualität des konkreten Täters auszurichten sind. Der Tatrichter kann sie allein aufgrund des Eindrucks treffen, den er aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung gewonnen hat. Dies ist bei Wertungsakten, die Merkmale des gesetzlichen Tatbestands betreffen, regelmäßig nicht in gleicher Weise der Fall. So erfordert etwa die Abgrenzung von Mittäterschaft und Beihilfe rechtliche Wertungen, die auch von einem Revisionsgericht ohne Rekonstruktion der Hauptverhandlung allein auf der Grundlage der vollständigen Feststellungen des Tatrichters getroffen werden können und die deshalb gerade nicht „strafzumessungsähnlich“ sind.71 Und auch Mosbacher merkt in seinem Beitrag einleitend an, dass es vordergründig nicht „ohne weiteres einsehbar“72 sei, weshalb das Revisionsgericht die Rechtsanwendung in einer solchen Konstellation nicht uneingeschränkt solle nachprüfen können. Allem Anschein nach geht es demnach auch nach der Auf-
71 Ebenfalls ablehnend-kritisch Schneider (o. Fn. 24) S. 759, 768: „Es mag einem vordergründigen Rechtsgefühl entspringen, tatrichterliche Wertungen angesichts ihrer (vermeintlichen) Komplexität in der Revisionsinstanz nur eingeschränkt zu überprüfen und demgemäss vieles als rechtens durchgehen zu lassen. Diese höchstrichterliche Zurückhaltung ist mit Blick auf § 337 StPO unhaltbar (…).“ 72 (o. Fn. 6) S. 227, 228.
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fassung von Mosbacher nicht um Fallgestaltungen, in denen sich die Grenzen der Revisibilität schon aus der beschränkten „Leistungsfähigkeit“ der Revision ergeben73 (ergänze: die daraus folgt, dass dem Revisionsgericht eine Beweisaufnahme zur Schuld- und Straffrage in einer Hauptverhandlung nach den Regeln des Strengbeweises nicht möglich ist). Für diese Interpretation spricht auch die Annahme von Mosbacher, dass der „originäre Wertungsakt“ des Tatrichters an sich durch einen eigenen Wertungsakt des Revisionsgerichts ersetzt werden könnte.74 Doch sein einschränkender Hinweis, dies sei dem Revisionsgericht von Rechts wegen (§ 337 StPO) verwehrt, da es jede „richtige“ Rechtsanwendung durch den Tatrichter hinnehmen müsse, beruht erkennbar auf einer petitio principii und führt damit in einen argumentativen Zirkel. Denn es ist gerade die Frage, weshalb es dem Revisionsgericht nicht erlaubt sein sollte, unabhängig von der Auffassung des Tatrichters eine eigene Rechtsbewertung vorzunehmen. Die Bedenken, die sich gegen das vorgestellte Konzept erheben, reichen aber in noch tiefere Schichten. So erscheint die Annahme von Mosbacher problematisch, dass die Anerkennung von Wertungsspielräumen in Grenzfällen, etwa bei Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme oder von Tun und Unterlassen, „nicht zwingend im Gesetz angelegt“75, sondern das Ergebnis höchstrichterlicher Rechtsprechung sei. Dieser Befund ist zwar unbestreitbar zutreffend. Doch werden auf seiner Grundlage nicht diejenigen Konsequenzen gezogen, die gezogen werden müssten. Man kann das Gesetz als reformbedürftig, nicht aber als unverbindlich ansehen. Für die Zuweisung eines Beurteilungsspielraums bedarf es, wie bereits dargelegt, einer normativen Ermächtigung durch den Gesetzgeber. An einer solchen Ermächtigung fehlt es aber gerade in den erwähnten Fallgestaltungen. Die Eröffnung von Beurteilungsspielräumen fällt damit aus dem vom Gesetzgeber festgelegten Koordinatensystem. Diese Sichtweise wird mit Blick auf das Gesamtkonzept der Strafprozessordnung und der mit ihm verbundenen Aufgabenverteilung zwischen Tatund Revisionsgericht zusätzlich bestätigt. Die Strafprozessordnung hat die Verantwortung für ein richtiges Urteil zwischen Tat- und Revisionsrichter aufgeteilt: Stark vereinfacht ist danach dem Tatrichter aufgegeben, den Sachverhalt festzustellen und die Strafe gerecht zu bemessen – dies ist seine Verantwortung. Demgegenüber ist es, ebenfalls stark vereinfacht, Aufgabe des Revisionsgerichts zu prüfen, ob das Verfahren korrekt gewesen ist, ob die Rechtsanwendung richtig und der Rechtsfolgenausspruch nach Rechtskrite-
73 Grundlegend zur sog. „Leistungsmethode“ Peters ZStW Bd. 57 (1938) 53, 70 ff. Kritisch dazu Rieß (o. Fn. 3) S. 455, 461. 74 (o. Fn. 6) S. 227, 238 f. 75 (o. Fn. 6) S. 227, 239.
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rien „vertretbar“ ist. Im materiellen Recht ist demnach der Subsumtionsvorgang auf der Grundlage der Feststellungen des Tatrichters der Letztverantwortung des Revisionsrichters überwiesen.76 Die Prüfung der Rechtsfrage und der damit verbundene Auftrag der Gewährung von Entscheidungsrichtigkeit stehen mithin im Zentrum der Revision. Sie sind die „Domäne“ des Revisionsrichters. Die Auslegung von unbestimmten Rechtsbegriffen ist dabei wie jede Auslegung einer Norm oder eines Begriffes eine „ausschließliche Rechtsfrage“77. Die Überprüfung von inhaltlich ausfüllungsbedürftigen Rechtsbegriffen im Rahmen der Revision findet mithin in einem Bereich statt, in dem der Revisionsrichter nach dem Konzept der Strafprozessordnung dem Tatrichter nicht nur Verantwortung abnehmen kann, sondern auch abnehmen muss.
IV. Schlussbemerkung In der strafrechtlichen Revisionsrechtsprechung sind, wie eingangs skizziert, gegenläufige Tendenzen erkennbar: Auf der einen Seite ist festzustellen, dass die Revisionsgerichte ihre Prüfungskompetenzen zunehmend ausgeweitet haben und damit in Bereiche (Tatsachenfeststellungen, Beweiswürdigung und Strafzumessung) vorgestoßen sind, die ursprünglich dem Bereich der revisionsgerichtlichen Kontrolle entzogen sein sollten. Diese Entwicklung kann unter dem Begriff „erweiterte Revision“ schlagwortartig zusammengefasst werden. Auf der anderen Seite führt die zunehmende Eröffnung von tatrichterlichen Beurteilungsspielräumen zu einer Beschränkung der revisionsrechtlichen Nachprüfung. Dieser Befund wirft die Frage auf, in welchem Verhältnis beide Entwicklungen zueinander stehen. Die Frage erscheint auch deshalb berechtigt, weil die Erweiterung der Revision wesentlich durch neue theoretische Einsichten zur Tat- und Rechtsfrage beeinflusst wurde. Die Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe auf den Einzelfall sowie die Strafzumessung wurden im Verlauf dieser Entwicklung dem Bereich der Rechtsfrage zugeordnet. Mit dieser Einbeziehung verwirklichte sich allerdings nur das Grundanliegen des historischen Gesetzgebers der Strafprozessordnung, nämlich die Revisibilität der Rechtsfrage.78 Sieht man diese Entwicklung im Zusammenhang, so müssen die Tendenzen zur Beschränkung der Revision durch die Anerkennung von tatrichterlichen Beurteilungsspielräumen – jedenfalls bei vordergründiger Betrachtung – umso mehr verwundern. Eine Ursachenanalyse wird dadurch erschwert, dass
76 77 78
So ausdrücklich auch Rieß (o. Fn. 3) S. 455, 461. Pache (o. Fn. 34) S. 44. Frisch (o. Fn. 2) S. 353, 368 ff.
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die Rechtsprechung die Eröffnung von tatrichterlichen Beurteilungsspielräumen regelmäßig nicht begründet. In Anbetracht dessen können hier nur einige wenige spekulative Annahmen über die Gründe dieser Entwicklung der Rechtsprechung angeführt werden: Eine Ursache für den ständig wachsenden Kreis gesetzlicher Voraussetzungen, die im Revisionsverfahren nur noch eingeschränkt überprüft werden, dürfte auf den justizökonomischen Aspekt der Knappheit der Ressourcen zurückzuführen sein. Dieser Aspekt ist bei der Annahme tatrichterlicher Beurteilungsspielräume in mehrfacher Hinsicht berührt: So schont die Zuschreibung tatrichterlicher Beurteilungsspielräume die begrenzten Ressourcen des Revisionsgerichts, weil es von einer ins Detail gehenden Rechtsbewertung absehen kann. Ein Entlastungseffekt stellt sich dabei für das Revisionsgericht nicht nur auf der Prüfungs-, sondern auch auf der Begründungsebene ein. So erlaubt der Verweis auf den Beurteilungsspielraum des Tatrichters auch und gerade in den entscheidungsrelevanten Punkten eher knapp gehaltene Ausführungen des Revisionsgerichts, die überdies weitergehende „Festlegungen“ nicht erfordern. Wesentlicher dürfte der Entlastungseffekt für die Tatgerichte sein. So ist nicht zu übersehen, dass mit der zunehmenden Annahme tatrichterlicher Beurteilungsspielräume offensichtlich auch die Zahl der revisionsverwerfenden Entscheidungen zugenommen hat.79 Die Notwendigkeit einer gegebenenfalls erneut durchzuführenden tatrichterlichen Hauptverhandlung entfällt damit. Freilich erklärt der justizokönomische Aspekt nur einen Teil der Entwicklung. Die skizzierte Entwicklung hat wohl auch damit zu tun, dass die normativen Vorgaben, die der Bundesgerichtshof den Tatgerichten an die Hand gibt, ihrerseits unbefriedigend sind. So dürfte es kein Zufall sein, dass tatrichterliche Beurteilungsspielräume nicht selten gerade dort eröffnet werden, wo es an einer klar formulierten Abgrenzungstheorie fehlt. Symptomatisch für diesen Befund ist die Annahme des Bundesgerichtshofs, dem Tatrichter sei bei der Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme ein Beurteilungsspielraum einzuräumen. Nach der vom Bundesgerichtshof vertretenen Theorie ist dabei bekanntlich ein ganzes Bündel von Kriterien zu beachten. Neben dem „Täterwillen“ und dem „Eigeninteresse“ ist die „Tatherrschaft“ sowie der „Umfang der Tatbeteiligung“ zu berücksichtigen. Die entscheidende Schwäche dieser Theorie liegt darin, dass die genannten Kriterien weder abschließend sind noch einer Rangfolge unterliegen und im Übrigen keinem normativen Leitprinzip unterstellt sind.80 Damit verfehlt der vom Bundesgerichtshof vertretene Ansatz eine wesentliche Aufgabe juristischer Theo-
79
So auch der Eindruck von Tolksdorf (o. Fn. 7) S. 523, 526. Roxin Strafrecht Allgemeiner Teil, Band 2, 2003, § 25/23 ff. mit umfänglichen Rechtsprechungsnachweisen. 80
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rien. Diese besteht darin, die Lösung praktischer Probleme zu erleichtern. Eine einigermaßen sichere Handhabung durch den Tatrichter ist kaum möglich. Denn die Konklusio kann nicht mehr aussagen, als die Prämissen eines Ansatzes beinhalten. Unter diesen Vorzeichen mag man die in der Eröffnung eines tatrichterlichen Beurteilungsspielraums liegende Zurückhaltung des Bundesgerichtshofs in gewisser Weise auch als ein Eingeständnis dafür ansehen, dass der eigene theoretische Ansatz unbrauchbar ist. Gerade wegen dieser grundlegenden Schwäche im theoretischen Ansatz ist es nachvollziehbar, dass es den Revisionsrichter in diesem Bereich nicht dazu „drängt“, eigene Rechtsbewertungen aufzuzeigen und selbst auf den Einzelfall bezogene Verantwortung zu übernehmen. Der „tatrichterliche Beurteilungsspielraum“ stellt aus dieser Perspektive betrachtet nur einen gleichsam sekundären Effekt dar. Die angemessene Lösung dieser Problematik liegt dabei freilich nicht in einer generellen Reduktion des revisionsrechtlichen Prüfungsmaßstabs (§ 337 StPO) auf bloße Plausibilitäts- oder Vertretbarkeitserwägungen. Die Lösung muss dort gesucht werden, wo die Problematik ihren Ursprung nimmt. Dies ist aber nicht das Strafverfahrensrecht, sondern das materielle Recht. So könnten die aufgezeigten Schwierigkeiten ohne weiteres vermieden werden, wenn sich der Bundesgerichtshof einer überzeugenderen materiellrechtlichen Theorie der Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme anschließen würde. Mit diesen Überlegungen ist der Erklärungshintergrund der zunehmenden „Einlesung“ tatrichterlicher Beurteilungsspielräume in das revisionsrechtliche Rechtsschutzsystem freilich noch nicht vollständig ausgefüllt. Das hier in Rede stehende Phänomen ist im größeren Zusammenhang einer Gesamtentwicklung der Revision zu sehen. Hierzu können im Rahmen dieses Beitrages nur einige Stichworte fallen. Für die Charakterisierung dieser Entwicklung sind nicht nur Gesichtspunkte der Ausweitung oder Beschränkung der Revision charakteristisch. Das Kennzeichnende und gemeinsam Verbindende dieser Entwicklung ist vor allem auch die ihr innewohnende Tendenz zur „Flexibilisierung“ der Revision. So ist insgesamt ein zunehmendes Eindringen wägender Momente, ein verstärkter Übergang von „harten“ zu „weichen“ Entscheidungskriterien und ein damit einhergehender Prozess nachlassender Gesetzesbindung zu beobachten.81 Diese Entwicklung trägt, wenn man es zuspitzen möchte, Züge eines gesetzlich nicht vorgesehenen „Annahmeverfahrens“, räumt sie doch dem Revisionsrichter bei der Auswahl „interventionswürdiger“ tatrichterlicher Entscheidungen eine Art apokryphes Auswahlermessen ein. Sofern der Preis dieser Entwicklung vor allem in einer zunehmenden „Unbestimmtheit und Unbestimmbarkeit“82 der
81 82
Instruktiv dazu Sowada (o. Fn. 1) S. 742 f. mwN. Sowada (o. Fn. 1) S. 743.
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Reichweite der Revision liegt, mag er hinnehmbar erscheinen. Unter diesem Aspekt ist mehr die Methode als das Ergebnis zu kritisieren. Denn es ist nicht zu übersehen, dass die skizzierte Entwicklung im Gegenzug in wesentlichen und wichtigen Bereichen zu einer sachgerechten Erweiterung der Eingriffsmöglichkeiten der Revision geführt hat.83 Eine Grenze ist jedoch nicht nur erreicht, sondern bereits überschritten, wenn die „Flexibilisierung“ der Revision dazu führt, dass dem Revisionsführer ohne normative Ermächtigung eine von der Entscheidung des Tatrichters unabhängige Rechtsbewertung des Revisionsrichters versagt wird, obwohl er auf sie einen verfassungsrechtlich geschützten Rechtsanspruch hat.
83 Diesen Aspekt mit Recht betonend: Frisch (o. Fn. 2) S. 353, 374 und passim. Vgl auch Fezer (o. Fn. 2).
Über Anomalien des steuerstrafrechtlichen Ermittlungsverfahrens und die daraus resultierenden Gefahren Karl Heinz Gössel
Auf mehr als 280 Milliarden Franken belaufen sich die Guthaben deutscher Privatkunden bei Schweizer Banken, von denen nach Schätzungen von Bankern mehr als 190 Milliarden nicht versteuert 1 sind. Diesem kriminellen Sumpf sind üble wirtschaftliche Blüten entwachsen: die Ermittlung solcher Daten in strafbarer Weise, welche die Täter zum Zwecke persönlicher Bereicherung deutschen Steuerbehörden gegen Geldzahlungen in Millionenhöhe 2 zugänglich machen, zum Teil ebenfalls in krimineller (s. dazu unten C III b 1 3) Weise. Die sich damit stellenden materiell-strafrechtlichen Fragen sollen hier indes nicht im Vordergrund stehen, zumal der erwähnte Sumpf durch das neue Doppelbesteuerungsabkommen, das zwischen den Finanzministern der Schweiz und Deutschlands erarbeitet wurde und vermutlich zum 1.1.2011 in Kraft treten wird, weitgehend trockengelegt werden wird: Die Schweiz wird konkrete und begründete Anfragen deutscher Steuerbehörden dahingehend beantworten, dass bestimmte deutsche Bürger bei bestimmten Schweizer Banken Guthaben4 in welcher Höhe unterhalten. Wie aus der Presse bekannt wurde, wurde nach Verhandlungen der „Wuppertaler Steuerfahndung […] im Ausland mit einem Informanten“ eine CD „mit den Daten von 1.500 deutschen Kunden der Schweizer Bank Credit Suisse“ um 2,5 Millionen Euro angekauft, die im Ergebnis zur Ermittlung von Steuerstraftaten 5 führte. Dies weist auf eine erste Anomalie des steuerstrafrechtlichen Ermittlungsverfahrens gegenüber dem normalen Ermittlungsverfahren hin: die Zuständigkeit der Finanzbehörden zur selbständigen Durchführung dieses Ermittlungsverfahrens. 1
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung – FAS – v. 28.3.2010, S. 41. Nach Berichten der Süddeutschen Zeitung – SZ – v. 27./28.2.2010, S. 7 („CD mit Schweizer Bankdaten übergeben“) und v. 6./7.3.2010, S. 3 („Alles muss raus“) so etwa beim Ankauf einer CD mit Daten von 1.500 deutschen Kunden der Schweizer Bank Credit Suisse. 3 Näheres dazu bei Gössel Verkauf und Erwerb unrechtmäßig erworbener Daten sowie deren Verwertbarkeit im Strafverfahren, FS Puppe, 2010. 4 FAS (Fn 1). 5 SZ v. 27./28.2.2010, S. 7: „CD mit Schweizer Bankdaten übergeben“. 2
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A. Die besondere Stellung der Finanzbehörden Freilich: Wie die Staatsanwaltschaft zur Durchführung des normalen strafrechtlichen Ermittlungsverfahren zuständig ist, so auch zu der des steuerstrafrechtlichen Ermittlungsverfahrens (§ 397 Abs. 1 AO), in dessen Rahmen den mit der Steuerfahndung betrauten Beamten der Landesfinanzbehörden und der Zollfahndungsämter (§ 404 AO) die Stellung von Ermittlungsbeamten der Staatsanwaltschaft zukommt. Beim Verdacht einer Steuerstraftat ermitteln Polizei (§ 397 Abs. 1 AO), die Finanzbehörden (nach § 386 Abs. 1 S. 2 AO: nur Hauptzollamt, Finanzamt, das Bundesamt für Finanzen und die Familienkasse, nicht aber Steuer- und Zollfahndung6), den Sachverhalt unselbständig, wie die Polizei im normalen Ermittlungsverfahren7 unter der Herrschaft der Staatsanwaltschaft, die insoweit gegenüber ihren Ermittlungsbeamten weisungsbefugt ist (§ 152 GVG), wie umgekehrt diese gegenüber ihren jeweiligen Vorgesetzten weisungsgebunden (§ 145 GVG) sind und der Dienstaufsicht der in § 147 GVG genannten Justizbehörden unterliegen. I. Eine bedeutsame Abweichung vom normalen strafrechtlichen Ermittlungsverfahren sieht aber § 386 Abs. 2 AO insoweit vor, als die „unselbständige Ermittlungskompetenz erweitert“ und die Finanzbehörden in den hier genannten Fällen „zur selbständigen Führung des Ermittlungsverfahrens ermächtigt“8 werden mit der Konsequenz, dass die Weisungsbefugnis der im Bereich der Staatsanwaltschaft jeweils Vorgesetzten nach §§ 145, 146 GVG ebenso entfällt wie die Dienstaufsicht nach § 147 GVG; beide Befugnisse werden nunmehr von den jeweils Vorgesetzten im Bereich der Finanzbehörden wahrgenommen9 – die Staatsanwaltschaft wegen ihres Rechts aus § 386 Abs. 4 S. 2 AO, die Strafsache jederzeit an sich zu ziehen (sog. Evokationsrecht), dennoch als „Herrin des Verfahrens“10 zu bezeichnen, erscheint zwar mehr als zweifelhaft, mag aber deshalb als bedeutungslos dahinstehen, weil die selbständige Führung des Ermittlungsverfahrens durch eine Finanzbehörde die faktische Herrschaft der Staatsanwaltschaft über das Ermittlungsverfahren ausschließt und das Evokationsrecht aus doppeltem Grunde allenfalls zu einer auch noch insoweit eingeschränkten potentiellen Herrschaft führen könnte: Einmal, weil die Finanzbehörden nicht verpflichtet
6
Klein-Jaeger AO10, 2009, § 386 Rn 1. Franzen/Gast/Joecks-Randt Steuerstrafrecht7, 2009, § 386 Rn 4. 8 Franzen/Gast/Joecks-Randt § 386, Rn 12. 9 LR26-Erb § 160 Rn 12; Franzen/Gast/Joecks-Randt § 386 Rn 4; die dazu entgegengesetzte Entscheidung des OLG Stuttgart NJW 1972, 2146 erging zur alten Rechtslage und ist durch die jetzigen Regeln der §§ 385 ff. AO überholt. 10 Vgl. Franzen/Gast/Joecks-Randt § 386 Rn 4 unter Berufung auf OLG Stuttgart wistra 1991, 190. 7
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sind, die Staatsanwaltschaft „umfassend und rechtzeitig […] über das steuerstrafrechtlich und sonst strafrechtlich Relevante zu informieren“11, zum anderen aber auch deshalb, weil die bundeseinheitlich geltenden Verwaltungsvorschriften der RiStBV (hier: Nr. 267) die Ausübung des Evokationsrechts faktisch und entgegen § 386 Abs. 4 S. 2 AO auf die Fälle beschränken, in denen dies „aus besonderen Gründen geboten erscheint“: eine wegen des verfassungsrechtlich gebotenen Vorrangs des Gesetzes kaum zulässige Beschränkung. Umgekehrt aber haben die Finanzbehörden umfangreiche Teilnahme- samt zugehörigen Unterrichtungsrechten an einem von der Staatsanwaltschaft geführten steuerstrafrechtlichen Ermittlungsverfahren (§ 403 AO), aber auch im gerichtlichen Verfahren gemäß § 407 AO zB dadurch, dass dem Vertreter der Finanzbehörden auf Verlangen das Wort zu erteilen ist und er Fragen an Angeklagte und Sachverständige richten darf – Teilnahmerechte, die der Staatsanwaltschaft eine selbständige Führung des Ermittlungsverfahren erschweren können, jedenfalls aber nicht in demselben Umfang erlauben wie es den Finanzbehörden nach § 386 Abs. 2 AO in den von ihnen selbständig geführten Ermittlungsverfahren gestattet wird. In der Praxis werden die steuerstrafrechtlichen Ermittlungsverfahren regelmäßig selbständig12 durch die Finanzbehörden mit der Konsequenz durchgeführt, dass diese „die Rechte und Pflichten“ wahrnehmen, „die der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren zustehen“ (§ 399 AO): Neben der Befugnis zur Wahrnehmung der der Staatsanwaltschaft durch die StPO zugewiesenen Ermittlungsrechte obliegt ihnen also auch die Ermittlungspflicht des § 152 Abs. 2 StPO (Legalitätsprinzip13) und die ihr weiter zB durch § 160 Abs. 2 und 3 StPO auferlegte Ermittlung auch der den Beschuldigten entlastenden Umstände sowie des für die Rechtsfolgenfestsetzung bedeutsamen Sachverhalts.14 II. Neben dieser Anomalie einer eigenständigen Zuständigkeit zur Durchführung von steuerstrafrechtlichen Ermittlungsverfahren liegt eine weitere Besonderheit dieses Verfahrens in einer sehr weitgehenden Zuständigkeit der Finanzbehörden zum Abschluss des Ermittlungsverfahrens, welche im normalen Ermittlungsverfahren allein der Staatsanwaltschaft zukommt und entweder mit der Einstellung des Verfahrens oder mit der Anklageerhebung herbeigeführt wird.
11 Rüping Das Verhältnis von Staatsanwaltschaft und Polizei, ZStW 95 (1983), 894, 915; zust. LR-Erb § 160 Rn 12. 12 Franzen/Gast/Joecks-Randt § 386 Rn 12. 13 Franzen/Gast/Joecks-Randt § 386 Rn 4. 14 LR-Erb § 160 Rn 12.
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a) Steuerstrafrechtliche Ermittlungsverfahren kann, abweichend von § 152 Abs. 1 StPO, auch die Finanzbehörde (ohne Mitwirkung der Staatsanwaltschaft) durch die Erhebung der öffentlichen Klage abschließen, dies allerdings nur mit dem Antrag auf Erlass eines Strafbefehls (§ 407 Abs. 1 S. 2 StPO iVm § 400 AO): Die Klageerhebung durch die Einreichung einer Anklageschrift ist der Finanzbehörde ebenso verwehrt wie auch jede andere Form der Anklageerhebung (etwa einer mündlichen Anklage im beschleunigten Verfahren nach § 418 Abs. 3 S. 2 StPO). Überdies kann die Finanzbehörde nach § 401 AO die Anordnung von Nebenfolgen im selbständigen Verfahren (zB Verfall und Geldbußen gegen eine juristische Person) ohne Mitwirkung der Staatsanwaltschaft beantragen. b) Die von der StPO allein der Staatsanwaltschaft eingeräumten Möglichkeiten zur Einstellung von Ermittlungsverfahren können nach § 399 Abs. 1 StPO auch von den Finanzbehörden in den von ihr selbständig durchgeführten steuerstrafrechtlichen Ermittlungsverfahren wahrgenommen werden: so zB die Einstellung mangels Tatverdachts nach § 170 Abs. 2 StPO, wegen Geringfügigkeit nach § 153 Abs. 1 StPO oder unter Auflagen und Weisungen nach § 153a Abs. 1 StPO – unter den zumeist gegebenen Voraussetzungen des § 153 Abs. 1 S. 2 StPO und des § 153a Abs. 1 S. 4 StPO sogar ohne Zustimmung des Gerichts –, endlich bei unwesentlichen Nebenstraftaten nach § 154 Abs. 1 StPO oder bei nicht beträchtlich ins Gewicht fallenden Teilen einer einheitlichen Tat nach § 154a Abs. 1 StPO.15 Auch können die das Ermittlungsverfahren führenden Finanzbehörden von dem Recht der Staatsanwaltschaft nach § 160b StPO Gebrauch machen, den Verfahrensstand mit den Verfahrensbeteiligten zu erörtern. Auf diese Weise können sie auf das Verfahren auch zur Vorbereitung einer Abrede nach § 257c StPO einwirken, wozu sie nach § 407 AO zwar zu hören sind, entgegen der Gesetzesbegründung – BT-Drucks. 16/11736 S. 11 – aber deshalb nicht als Verfahrensbeteiligte, weil § 407 AO keinerlei prozessuale Gestaltungsrechte gewährt: geht doch die Gesetzesbegründung zutreffend selbst davon aus, dass Verfahrensbeteiligter nur Personen oder Stellen sein können, die „durch eigene Willenserklärungen im prozessualen Sinn gestaltend als“ Subjekte des Prozesses „mitwirken müssen oder dürfen“ – genau dies aber gilt für die Finanzbehörden gerade nicht. So können diese Behörden den Inhalt von Abreden und damit das daraufhin ergehende Urteil stärker beeinflussen, als ein ohne Abrede zustandegekommenes Urteil. Darin zeigt sich: Wurde den Finanzbehörden auch schon im Jahre 1967 die Befugnis zur Festsetzung von Geldstrafen genommen, so dürfte es doch möglich sein, das selbständig geführte Ermittlungsverfahren auf eine Weise zu beenden, die der früheren Geldstrafenfestsetzung aufgrund einer Unterwerfungsverhandlung nahekommt. 15 Vgl. dazu LR-Erb § 160 Rn 12; Franzen/Gast/Joecks-Jaeger § 397 Rn 109–111; KleinJaeger § 399 Rn 86 ff.
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B. Über die Gründe für die Sonderstellung der Finanzbehörden Solche in strafrechtlichen Ermittlungsverfahren einmaligen Befugnisse bedürfen der Rechtfertigung. Insoweit werden in der Literatur vor allem zwei Argumente vorgebracht: Einmal ergäben „sich Verdachtsmomente über“ Steuerstraftaten „meist im Besteuerungsverfahren“16 (s. dazu unten I), zum anderen diene diese Regelung „dem eigenverantwortlichen Einsatz der besonderen Sach- und Steuerrechtskunde“ der Finanzbehörden zu dem Zweck „einer zielsicheren Verfolgung von Steuerstraftaten“ und damit „zugleich einer Straffung des Strafverfahrens im Sinne der Prozessökonomie“; überdies setze die Ahndung von Steuerdelikten besondere Kenntnisse im Steuerrecht voraus, schon deshalb, weil es sonst „zu Fehlgriffen oder Irrtümern bei der Strafverfolgung“17 kommen könne (s. dazu unten II). I. Dass sich der Verdacht von Steuerstraftaten in der Regel im Besteuerungsverfahren ergibt, ist zwar zutreffend, jedoch ein ungeeignetes Argument dafür, die Zuständigkeit der Finanzbehörden zur Durchführung des steuerstrafrechtlichen Ermittlungsverfahrens zu legitimieren. In weiten Bereichen des Verwaltungsrechts ergibt sich der Verdacht von Straftaten bei Verfahren in dem je betroffenen verwaltungsrechtlichen Bereich bei den jeweils zuständigen Verwaltungsbehörden: So wird sich der Verdacht strafbarer Verletzung gewerberechtlicher Vorschriften oder der strafbaren Verletzung von Prüferpflichten zB (§§ 148, 148a GewO) regelmäßig bei den Gewerbeaufsichtsbehörden (§ 139b GewO) ergeben, ohne dass diesen eine eigene, selbständige Ermittlungszuständigkeit eingeräumt worden wäre. Entsprechendes gilt für den Verdacht strafbarer Verletzungen lebensmittelrechtlicher Vorschriften (§ 59 LFGB), der bei den jeweils zur Überwachung zuständigen landesrechtlichen Behörden begründet werden wird sowie für Straftaten zB nach §§ 263, 266a StGB auf dem Gebiet des Sozialrechts: Ein entsprechender Verdacht wird zunächst bei den jeweils zuständigen Sozialbehörden entstehen – keiner der auf diesen Gebieten zuständigen Behörden ist eine eigene, selbständige Ermittlungszuständigkeit zuerkannt worden, und dies mit Recht. Wo immer auch der Verdacht einer Straftat entsteht, können und sollten die verdachtsbegründenden Tatsachen der für die Ermittlung von Straftaten zuständigen Staatsanwaltschaft angezeigt werden, wie dies auch in aller Regel geschieht – aus dem Entstehungsort des Verdachts einer Straftat bei einer bestimmten Verwaltungsbehörde lässt sich kein Grund für eine selbständige Ermittlungstätigkeit eben dieser Behörde herleiten. Deshalb auch erfolgen polizeiliche Ermittlungen im normalen Ermittlungsver-
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Klein-Jäger § 386 Rn 1. Franzen/Gast/Joecks-Randt § 386 Rn 8.
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fahren nach § 163 StPO nach weit überwiegender Auffassung stets im Rahmen eines einheitlichen staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens: Vereinzelte entgegengesetzte Auffassungen, die hier ein selbständiges polizeiliches Ermittlungsverfahren unter Ausschluss des staatsanwaltschaftlichen Weisungsrechts unter Eröffnung des Rechtswegs zu den Verwaltungsgerichten18 annehmen, haben keine Gefolgschaft gefunden. Wenn aber trotz der nach § 163 StPO faktisch weitgehend selbständigen Ermittlungstätigkeit der polizeilichen Ermittlungsbeamten kein selbständiges polizeiliches Ermittlungsverfahren angenommen werden kann, so dürfte es erst recht an einer Berechtigung für ein selbständiges steuerstrafrechtliches Ermittlungsverfahren der Finanzbehörden nach § 386 Abs. 2 AO fehlen. II. Dass „eine effiziente Ahndung von Steuerdelikten […] ohne besondere Kenntnisse des Steuerrechts fast ausgeschlossen“ sei, ist Randt19 schon angesichts der Kompliziertheit des Steuerrechts gewiss zuzugeben. Damit indessen lässt sich die Notwendigkeit eines von den Finanzbehörden selbständig geführten Ermittlungsverfahrens nicht begründen. Wie schon die zur Behandlung von Steuerstrafsachen zuständigen gerichtlichen Spruchkörper bis hinauf zum Bundesgerichtshof deutlich erkennen lassen, ist hoher steuerrechtlicher Sachverstand auch außerhalb der Finanzbehörden vorhanden, der schon im Ermittlungsverfahren etwa durch die Bestellung von steuerrechtlichen Experten als Sachverständige nach § 161a Abs. 1 iVm § 82 StPO durch die Staatsanwaltschaft20 herangezogen werden und zur Vermeidung einer etwaigen auch bei Beamten der Finanzbehörden nicht ausschließbaren Betriebsblindheit sogar empfehlenswert sein kann. Darüber hinaus ist zu bedenken, dass schon die Staatsanwaltschaften eigene Abteilungen zB im Bereich der Wirtschaftskriminalität zur Ermittlung von Straftaten etwa auf dem Gebiet des Lebensmittelrechts, des Kapitalanlagebetrugs und des unlauteren Wettbewerbs eingerichtet haben, deren Mitarbeiter über Spezialkenntnisse21 verfügen; die Inanspruchnahme speziellen Sachverstandes zeigt sich auch in der Einrichtung sog. Schwerpunktstaatsanwaltschaften, wie erst kürzlich zur Bekämpfung der im Umfeld der Dopingkriminalität zu ermittelnden Straftaten. Warum die Staatsanwaltschaften auf dem Gebiet des Steuerstrafrechts über entsprechenden Sachverstand verfügende Mitarbeiter nicht gewinnen und zB entsprechende Schwerpunktstaatsanwaltschaften nicht einrichten können oder sollen, erscheint kaum einsichtig: Wie sich aus
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Eingehend dazu LR-Erb § 163 Rn 3 ff. Franzen/Gast/Joecks-Randt § 386 Rn 8. 20 LR-Erb § 161a Rn 24 ff.; Meyer-Goßner52 § 161a Rn 14; Gössel Behörden und Behördenangehörige als Sachverständige vor Gericht, DRiZ 1980, 363, 368. 21 Vgl. dazu auch Gössel Überlegungen über die Stellung der Staatsanwaltschaft im rechtsstaatlichen Strafverfahren und über ihr Verhältnis zur Polizei, GA 1980, 325, 350. 19
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den folgenden Ausführungen ergibt, wäre es besser, die mit der Ermittlung und Verfolgung von Steuerstraftaten befassten Beamten der Finanzbehörden oder der Steuerfahndung in den Bereich der Polizei oder der Staatsanwaltschaften einzugliedern. III. Damit zeigt sich: Die für ein selbständiges steuerstrafrechtliches Ermittlungsverfahren der Finanzbehörden vorgebrachten Argumente sind untauglich, die Beibehaltung dieser Antinomie zum allgemeinen strafrechtlichen Ermittlungsverfahren zu begründen. In Wahrheit dürfte die Beibehaltung der insoweit bestehenden Sonderrechte der Finanzbehörden allein in der „relativ lange[n] Eigenentwicklung und [der] erst späte[n] Beseitigung der Strafgewalt der Finanzbehörde“22 zu erblicken sein. Aber auch mit diesem historischen Argument lässt sich ein eigenständiges steuerstrafrechtliches Ermittlungsverfahren nicht rechtfertigen: Tatsächlich dürfte es hier um die (beschränkte) Beibehaltung der Macht der Finanzverwaltung auf dem Gebiet der Verfolgung von Straftaten gehen, einer Macht, welche die Finanzbehörden schon faktisch auszuüben kaum noch in der Lage sind (unten C I) und die überdies als ein anachronistisches Überbleibsel aus vorrechtsstaatlicher Zeit erscheint (unten C II).
C. Gründe gegen ein selbständiges steuerstrafrechtliches Ermittlungsverfahren der Finanzbehörden I. „Der Bundesrepublik entgehen jedes Jahr Milliardeneinnahmen, weil in der Finanzverwaltung 15.000 Beamte fehlen“, wie „nach Angaben der Deutschen Steuergewerkschaft aus der Personalbedarfsberechnung der Bundesländer“23 hervorgeht. Wenn die Finanzbehörden bei einem derartigen Fehlbestand aber nicht einmal dazu in der Lage sind, die ihnen originär obliegenden Aufgaben in angemessener Weise zu erfüllen, wie sollen sie denn dann noch Aufgaben aus dem ihnen grundsätzlich fremden Gebiet der Justiz übernehmen können, zumal die Sachkompetenz zur Durchführung strafrechtlicher Ermittlungsverfahren bei den zuständigen Staatsanwaltschaften liegt, eine Sachkompetenz, welche die Finanzbehörden schon aufgrund ihrer Ausbildung auch nicht in einem nur annähernd gleichen Maß haben können – woraus insbesondere für die Beschuldigten im Steuerstrafverfahren zu vermeidende und vermeidbare Nachteile entstehen können, die insbesondere mit der verschiedenen Funktion der Finanzbehörden einerseits und der Staatsanwaltschaft andererseits bei der Ausübung staatlicher Macht verbunden sind (dazu sogleich unten II). 22 23
Rüping (Fn 11), 914, unter zutr. Berufung auf BVerfGE 22, 49, 77 ff. SZ v. 3./4./5.4.2010, S. 1: „Tausende Finanzbeamte fehlen“.
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II. Eine gegenüber der Staatsanwaltschaft selbständige Ermittlungskompetenz von Finanzbehörden wie aber auch sonstiger staatlicher Stellen wirft die Frage nach Stellung und Funktion der Staatsanwaltschaft und damit nach den Grundstrukturen eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens auf. Hier sei daran erinnert, dass die Forderung nach einer mit der eigenen Sachkompetenz begründeten eigenständigen Ermittlungskompetenz schon von der Polizei erhoben wurde: Im Vorentwurf eines Gesetzes zum Verhältnis von Staatsanwaltschaft und Polizei aus den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts24 wurde zB wegen der technischen Ausstattung und der fachlichen Aus- und Fortbildung der Polizei vorgeschlagen, das grundsätzliche Weisungsrecht der Staatsanwaltschaft gegenüber ihren polizeilichen Ermittlungsbeamten (damals noch verfehlt als „Hilfsbeamte“ bezeichnet) abzuschaffen und der Polizei das Recht zu grundsätzlich selbständigen Ermittlungen aufgrund eigener Entscheidungsgewalt25 zu übertragen. Kann es auch keinem Zweifel unterliegen, dass die Beamten der Polizei zB aufgrund der ihnen möglichen kriminaltechnischen Untersuchungen, aber auch auf vielfältige sonstige Weise die kriminaltechnisch größeren Erfahrungen gegenüber der Staatsanwaltschaft besitzen, so sind die erwähnten polizeilichen Vorschläge gleichwohl nicht Gesetz geworden – und dies aus gutem Grund deshalb, weil derartige Vorstellungen mit Stellung und Funktion der Staatsanwaltschaft unvereinbar sind. a) Von entscheidender Bedeutung ist die Funktion der Staatsanwaltschaft, mit deren Einführung in Deutschland nach französischem Vorbild etwa um die Mitte des 19. Jahrhunderts der bis dahin praktizierte gemeinrechtliche Inquisitionsprozess mindestens grundlegend umgestaltet, wenn nicht abgelöst26 wurde. Mit ihrer Unterstellung unter das Justizministerium wurde auch sie dem Dienst der schon diesem Ministerium obliegenden Aufgabe verpflichtet, „nicht die Macht des Staates, sondern seinen Rechtswillen“ zu „repräsentieren“27 – und damit dazu, dem dem alten Inquisitionsprozess immanenten staatlichen Zweckmäßigkeitsstreben entgegenzuwirken, das vorwiegend am Interesse der durch das Verbrechen bedrohten Machterhaltung28 orientiert war. Die Staatsanwaltschaft wird damit zum „Wächter des
24 Auf der Grundlage eines Gesamtberichts zur Klarstellung und teilweisen gesetzlichen Neuregelung des Verhältnisses von Staatsanwaltschaft und Polizei einer von der Justizministerkonferenz eingesetzten Kommission, zB nach dem Stand v. 17.11.1978. 25 Näheres bei Gössel (Fn 21), 325 mwN. 26 Vgl. dazu Gössel (Fn 21), 326; H. C. Schaefer Das Berufsbild des Staatsanwalts, FS Stöckel, 2010, S. 307, 308; jeweils mwN. 27 Eb. Schmidt Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 3. Aufl. 1965, S. 331 f. 28 Gössel (Fn 21), 327.
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Gesetzes“ im gesamten Strafverfahren, insbesondere „gegenüber den ermittelnden Exekutivbehörden“.29 Gegen diese Wächterstellung wurde schon 1841 eingewandt, eine Kontrolle der Polizei sei nicht erforderlich, weil diese schon angesichts ohnehin ständiger Kontrollen nicht willkürlich verfahren30 könnte, und auch in neuerer Zeit wird dieses Argument verwendet: Im Gegensatz zum alten Inquisitionsprozess sei heute auch die Polizei nach Art. 20 Abs. 3 GG an Gesetz und Recht gebunden und bedürfe deshalb keiner ständigen und umfassenden Rechtskontrolle31. Indessen ist dem schon die „ewige Erfahrung“ entgegenzuhalten, auf die bereits Montesquieu hingewiesen hat, derzufolge „jeder Mensch, der Macht hat, dazu getrieben wird, sie zu mißbrauchen“32 – und auch einer unbezweifelbar rechtsstaatlich gesinnten Polizei sind solche Strebungen nicht fremd, wie sich zB in den Forderungen zeigt, den „Primat der Strafprozeßordnung gegenüber dem Polizeirecht“ fallenzulassen und den Schutz der Gesellschaft als vorrangig gegenüber einer „Gerechtigkeit erstrebende[n] Strafverfolgung“ anzusehen, weshalb „selbstverständlich“ die „zahlreichen Bestimmungen, die den Täter im Rahmen des Strafverfahrens schützen, im taktischen Bereich nicht gelten“33 könnten. Damit aber zeigt sich: Die den Innenministerien unterstellten Polizeien rütteln an den ihnen gesetzlich verordneten Grenzen und bedürfen deshalb einer Kontrolle, damit das jeder Machtausübung immanente Streben zur Überschreitung notwendig gesetzter rechtlicher Grenzen gebändigt und begrenzt wird, und zwar durch die Staatsanwaltschaften, weil diese dem Rechtswillen des Staates und gerade nicht dessen Machtwillen verpflichtet sind. b) An der durch die Staatsanwaltschaft gewährleisteten rechtsstaatlichen Kontrolle der Ermittlungsbehörden im normalen Strafverfahren fehlt es im Steuerstrafverfahren: eine weitere Anomalie. Nicht nur die ermittelnden Finanzbehörden iS des § 386 Abs. 1 AO, sondern auch die Steuerfahndung sind als Dienststellen der Landesfinanzbehörden (§ 208 Abs. 1 S. 2 AO) der 29 Vgl. dazu die bei Otto Die preußische Staatsanwaltschaft, 1899, S. 37 f. und S. 40 abgedruckten Promemoria der preußischen Justizminister v. Savigny und Uhden. Das der Staatsanwaltschaft zugleich zukommende Wächteramt gegenüber den Gerichten übt sie wirkungsvoll durch ihre Rechte etwa zur Stellung von Beweisanträgen, vor allem aber durch ihre Rechtsmittelbefugnis aus und bedarf in diesem Zusammenhang keiner weiteren Erörterung. S. dazu schon Gössel (Fn 21), 337 f. und neuerdings auch H. C. Schaefer (Fn 26), S. 308 f. 30 Carsten Die Geschichte der Staatsanwaltschaft in Deutschland bis zu Gegenwart, 1932, S. 23. 31 Gemmer in: Polizei und Justiz, BKA-Vortragsreihe Bd. 23, 1976, S. 13, 15. 32 Montesquieu Vom Geist der Gesetze, dt. Ausgabe bei Reclam 1977, XI. Buch, Viertes Kapitel. 33 Wolf Verbrechensbekämpfung und Rollenverteilung auf die damit befaßten Institutionen, Kriminalistik 1975, 389, 392, 394, 390 Anm. 84.
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Dienstaufsicht und dem Weisungsrecht der Finanzministerien unterstellt, welches vornehmlich im Dienste des staatlichen Machtwillens steht, nicht aber in dem Maße im Dienste des Rechtswillens des Staates, wie die Justizministerien und die ihr unterstellten Staatsanwaltschaften. Während also einerseits die Steuerfahndung nach § 208 Abs. 1 S. 2 AO die gleichen Rechte genießt wie die mit der selbständigen Durchführung von steuerstrafrechtlichen Ermittlungsverfahren betrauten Finanzämter (§ 386 Abs. 1 und 2 AO) und zudem im selbständigen steuerstrafrechtlichen Ermittlungsverfahren der Finanzbehörden nach § 404 AO die gleichen Rechte, wie sie der Polizei im normalen strafrechtlichen Ermittlungsverfahren durch die StPO zukommen, untersteht die Steuerfahndung andererseits im Gegensatz zur Polizei nicht der Kontrolle durch die Staatsanwaltschaft – und deshalb können die Finanzbehörden ohne diese rechtsstaatlich notwendige Kontrolle selbständig geführte steuerstrafrechtliche Ermittlungsverfahren auch selbständig in dem oben A II dargestellten Umfang nicht nur durch Einstellung, sondern sogar bis hin zur Anklageerhebung durch Strafbefehlsantrag abschließen, wobei zudem zu berücksichtigen ist, dass auch die nur potentielle Kontrolle der Staatsanwaltschaft durch Ausübung ihres Evokationsrechts deshalb erheblich erschwert ist, weil keine Verpflichtung der Finanzbehörden besteht, die Staatsanwaltschaft über die von den Finanzbehörden eingeleiteten und durchgeführten Ermittlungsverfahren zu informieren.34 Mindestens in den Bundesländern, in denen Steuerfahndungs- und Straf- und Bußgeldsachenstellen „in einer Dienststelle vereint sind“ (Berlin, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Hamburg), führt dies dazu, der das Ermittlungsverfahren leitenden Finanzbehörde zugleich die Sachaufsicht über die von ihr selbst durchzuführenden Ermittlungen zu übertragen, dass also der Finanzamtsvorsteher „in einer Person ‚Polizeipräsident‘ und ‚Leitender Oberstaatsanwalt‘ ist“ 35 – die Finanzbehörde wird damit zu einer sich selbst kontrollierenden Behörde36, wodurch die der Staatsanwaltschaft im normalen Ermittlungsverfahren obliegende Aufgabe zur Kontrolle ihrer Ermittlungspersonen im selbständigen steuerstrafrechtlichen Ermittlungsverfahren der Finanzbehörden faktisch entfällt; aber selbst bei gegenüber den Finanzämtern selbständig organisierten Steuerfahndungsstellen ist wegen der Zugehörigkeit beider Behörden zum Bereich der Finanzverwaltung die Wahrung der der Staatsanwaltschaft zukommenden Funktion eines Gesetzeswächters kaum noch gewährleistet.
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Eingehend dazu Rüping (Fn 11), 914 f. Rolletschke Steuerstrafrecht, 3. Aufl. 2009, Rn 660. 36 Mit Recht harte Kritik daran übt Hentschel Staatsanwalt und Polizist in Personalunion? – Zur Abschaffung fundamentaler Prinzipien des Strafverfahrensrechts bei der Verfolgung von Steuerstrafsachen, NJW 2006, 2300. 35
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III. Die Notwendigkeit einer Kontrolle auch der Finanzbehörden am Maßstab der schon von Art. 20 Abs. 3 GG geforderten Bindung an Recht und Gesetz durch die Staatsanwaltschaften dürfte bereits dadurch deutlich werden, dass die Personalknappheit der Finanzbehörden auch zu einer über das normale Maß hinaus gestiegenen, kaum zumutbaren zusätzlichen und mit einer unvermeidbar erhöhten Fehlerquote verbundenen Arbeitsbelastung führt, die hier deshalb besonders bedenklich erscheint, weil sie sich in steuerstrafrechtlichen Ermittlungsverfahren mindestens auch zuungunsten der Beschuldigten auswirken kann. Die negativen Auswirkungen dieser fehlenden staatsanwaltschaftlichen Kontrolle dürften sich darüber hinaus insbesondere in den Ermittlungsverfahren zeigen, die aufgrund solcher Daten eingeleitet werden, welche Behörden der Landesfinanzverwaltung von solchen Personen erworben haben, welche sich diese Daten in krimineller Weise verschafft haben (oben vor A). a) So wurde zunächst schon die etwaige Strafbarkeit des Anbieters der angekauften CD (oben vor A) dadurch vernachlässigt, dass Bundesfinanzministerium und Bundeskanzleramt (wenn auch im Gegensatz zum Bundesjustizministerium und zum Auswärtigen Amt) einem Rechtshilfeersuchen der Schweizer Bundesanwaltschaft deshalb ablehnend gegenüberstehen, weil sie dem Informanten zugesagt haben, „seine Identität zu schützen“ und dass sie sich deshalb nicht an Ermittlungen gegen ihn beteiligen37: ein wohl doch krasses Überwiegen deutscher staatlicher Strafverfolgungs- und fiskalischer Interessen über die Orientierung staatlicher Machtausübung an Recht und Gesetz nach der gegenreformatorisch-jesuitischen Maxime, derzufolge der Zweck die Mittel heilige, der zu folgen der Staatsanwaltschaft hier insoweit nicht erlaubt ist, als sie auch der Strafbarkeit des Anbieters der CD im Rahmen ihrer Zuständigkeit nachgehen müsste. b) Ob im Zusammenhang mit dem Ankauf der CD mit den Daten deutscher Kunden der Credit Suisse (oben vor A) die Eignung dieser CD als ein zulässiges Beweismittel von Finanzbehörden oder Staatsanwaltschaften für vorrangig oder nur als weniger bedeutsam erachtet wurde, kann derzeit nicht sicher beurteilt werden: Wenn überhaupt, so dürfte diese Problematik jedenfalls nicht öffentlich oder in allgemein zugänglichen Quellen diskutiert worden sein. Auf den ersten Blick erscheint es naheliegend und auch verständlich, wenn die Finanzbehörden fiskalische Interessen durch Aufdeckung und Ermittlung bisher unbekannter Steuerfälle (§ 208 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AO) vorrangig behandeln und dabei die Klärung umstrittener Fragen der rechtlichen Zu-
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SZ (Fn 5).
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lässigkeit der Verwertung von Beweismitteln nicht selbst im Rahmen des Ermittlungsverfahrens klären, sondern den Gerichten überlassen wollen, entsprechend einer im Schrifttum vertretenen Meinung „einem strafprozessualen Beweisverwertungsverbot“ unterliegende Erkenntnisse seien „im Rahmen der Verdachtsprüfung nicht zu berücksichtigen“38. Wie aber diese Auffassung für das normale strafrechtliche Ermittlungsverfahren unvertretbar erscheint, so auch für die Sonderform des selbständigen steuerstrafrechtlichen Ermittlungsverfahrens. Dagegen sollen die Staatsanwaltschaften ihrem Auftrag als Wächter des Gesetzes gerade umgekehrt den Vorrang gegenüber fiskalischen Interessen einräumen (s. dazu oben II b). Ob die Finanzbehörden allerdings in dem hier erörterten Fall des Ankaufs der erwähnten CD zum Zwecke der Verwertung auch in Steuerstrafverfahren fiskalischen Interessen tatsächlich den Vorrang gegenüber einer rechts- und gesetzeskonformen Vorgehensweise eingeräumt haben, lässt sich auf einen genaueren zweiten Blick ebenso wenig sicher beurteilen wie eine mögliche vorrangige Beachtung von Recht und Gesetz durch die Staatsanwaltschaft – dies auch deshalb nicht, weil nicht bekannt ist, inwieweit Finanzbehörde und Staatsanwaltschaft in dem hier erörterten Fall zusammengearbeitet haben oder noch zusammenarbeiten39. Jedoch lässt sich für ein fiktiv von der Staatsanwaltschaft selbständig und ohne die Beteiligungsrechte der Finanzbehörden nach § 403 AO (oben A I) geführtes Ermittlungsverfahren wohl doch zutreffend annehmen, dass die Problematik der zulässigen Verwendung von Beweismitteln in Strafverfahren schon vor der Gewinnung dieser Beweismittel bedacht wird. Für diesen Fall lässt sich zudem annehmen, dass die Staatsanwaltschaft die Verwertung der angekauften CD deshalb für unzulässig gehalten hätte, weil dieses Beweismittel durch eine Straftat erzeugt oder erlangt wurde und insoweit ein Beweisverwertungsverbot vorlag. 1. Ob Ankauf und Verwertung der fraglichen CD gegen das Völkerrecht verstoßen und deshalb zu einem Verwertungsverbot40 dieses Beweismittels führen, bedarf einer sorgfältigen selbständigen Untersuchung, die an dieser Stelle nicht geleistet werden kann. Indessen kann diese Frage hier deshalb dahingestellt bleiben, weil schon nach nationalem Recht eine zur Unverwertbarkeit dieser CD führende Strafbarkeit bejaht werden kann: Ist doch die Übertragung der Daten von Kunden der Credit Suisse nach § 3 Abs. 3 BDSG als Erhebung personenbezogener Daten iS des Ordnungswidrigkeitentatbe-
38
Rolletschke (Fn 35), Rn 691. Vgl. insoweit den Pressebericht in der SZ v. 20./21.3.2010, S. 1: „Steuerfahnder verfolgen 1100 Verdächtige“. 40 Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen Nr. 56/83 v. 28.1.2002; vgl. dazu Heine Beweisverbote und Völkerrecht: Die Affäre Liechtenstein in der Praxis, HRRS 2009, 540, 541 ff., 544 ff. 39
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standes des § 43 Abs. 2 Nr. 1 BDSG und damit auch des Straftatbestandes des § 44 Abs. 1 BDSG41 anzusehen. Weil das BDSG nach seinem § 1 Abs. 1 das Persönlichkeitsrecht Einzelner schützt, richtet sich die Datenerhebung in den von § 44 Abs. 1 BDSG iVm § 43 Abs. 2 Nr. 1 BDSG erfassten Fällen gegen das jeweilige Persönlichkeitsrecht der deutschen Kunden der Credit Suisse mit der Konsequenz, dass § 44 Abs. 1 BDSG auch auf Auslandstaten dann anzuwenden ist, wenn die Tat auch nach dem Tatortrecht strafbar wäre (§ 7 Abs. 1 StGB). Dies lässt sich indessen schon deshalb nicht sicher feststellen, weil der genaue Tatort unbekannt ist: Spricht auch alles dafür, dass er in der Schweiz liegt, so kann doch nicht ausgeschlossen werden, dass auch aus anderen Ländern auf die Datenbestände der Credit Suisse zugegriffen wurde. Selbst wenn aber der Tatort in der Schweiz läge, lässt sich eine Strafbarkeit nach dem Schweizer Strafrecht nicht sicher feststellen. Mit dem Verrat von Geschäftsgeheimnissen nach Art. 162 SchwStGB wird das Vermögen, nicht aber, wie in § 44 Abs. 1 BDSG, das Persönlichkeitsrecht geschützt, so dass insoweit eine Strafbarkeit der von § 44 Abs. 1 BDSG erfassten Tat jedenfalls nach Art. 162 SchwStGB ausscheidet. Auch eine Strafbarkeit nach Art. 143 SchwStGB (unbefugte Datenbeschaffung) ist deshalb nicht sicher feststellbar, weil nicht bekannt ist, ob der Täter die weitergegebenen Daten nicht befugterweise (kraft seiner ihm übertragenen betrieblichen Aufgaben) wahrgenommen hat. Ebenso wenig sicher lässt sich die Verwirklichung von Straftatbeständen des Schweizer Datenschutzgesetzes (SchwDSG) feststellen: Zur Verwirklichung des Art. 35 SchwDSG wäre die nach bisherigem Kenntnisstand nicht mögliche Feststellung notwendig, dass der Täter die hier in Betracht kommenden Daten „bei der Ausübung seines Berufes erfahren hat“ – und die Verwirklichung des Tatbestandes der Verletzung von Informationspflichten beim Beschaffen von besonders schützenswerten Personendaten (Art. 7a Abs. 1 iVm Art. 34 S. 1 lit. b Nr. 1, Art. 3 lit. g SchwDSG) ist ebenfalls deshalb unsicher, weil der Tatort unbekannt ist. Dies mag indessen dahinstehen: Die etwaige Unverwertbarkeit der angekauften CD in Steuerstrafverfahren dürfte daraus hergeleitet werden können, dass dieses Beweismittel in nach § 44 Abs. 1 iVm § 43 Abs. 2 Nr. 1 BDSG strafbarer Weise gewonnen wurde. Schon die Übermittlung personenbezogener Daten durch den Anbieter über die Wuppertaler Verhandlungskommission an die deutschen Steuerbehörden an dem dann in Deutschland gelegenen Tatort (§ 9 StGB) ist nach § 3 Abs. 4 BDSG als „Verarbeiten“ von Daten iS der § 44 Abs. 1 iVm § 43 Abs. 2 Nr. 1 BDSG dann strafbar, wenn dies gegen Entgelt oder sonst in der Absicht, sich oder einen anderen zu bereichern, geschieht. Beim Anbieter der CD liegt dieses Merkmal (Entgelt) sicher vor,
41
Näheres dazu Gössel (Fn 3).
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aber auch bei den Erwerbern wegen ihrer Absicht, den Fiskus zu bereichern – diese Absicht ist unabhängig davon gegeben, dass dem Fiskus diese Bereicherung tatsächlich zustand: Schützen doch die Tatbestände des BDSG das Persönlichkeitsrecht des Individuums und gerade nicht Vermögen oder Eigentum42. Die Tathandlung des Verarbeitens wurde deshalb auch „unbefugt“ iS des § 43 Abs. 2 Nr. 1 BDSG verwirklicht, weil weder die betroffenen deutschen Bankkunden in die Übermittlung eingewilligt hatten, noch eine dies zulassende Rechtsvorschrift (§ 4 Abs. 1 BDSG) besteht – dass auch Privatpersonen wie der Anbieter der CD einer solchen und hier fehlenden Befugnis bedürfen, folgt daraus, dass § 1 Abs. 2 Nr. 3 BDSG ausdrücklich auch „nichtöffentliche Stellen“ als Adressaten43 des BDSG benennt, auf die folglich auch § 4 Abs. 1, Abs. 2 S. 2 Nr. 1 BDSG anzuwenden ist. 2. Damit allerdings dürfte der Einführung der angekauften CD und der darauf gespeicherten Daten ein Beweisverwertungsverbot entgegenstehen. Die umfassende Bindung aller staatlicher Gewalt an Recht und Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG) erlaubt es nicht, unter Gesetzesverstoß in strafbarer Weise gewonnene Beweismittel zu verwerten, auch dann nicht, wenn es durch eine Privatperson gewonnen wurde: Dieses Ermittlungsergebnis ist „derart kontaminiert“, dass „dessen Verwertung“ im Strafverfahren „unzulässig wird“44. c) Ganz allgemein wird überdies zu bedenken sein, ob nicht die derzeitige Praxis der Erledigung von steuerstrafrechtlichen Ermittlungsverfahren durch die Finanzbehörden negative Auswirkungen auf die Rechtstreue der einzelnen Mitglieder der Rechtsgemeinschaft haben kann. Bekanntlich wird immer wieder darauf hingewiesen, und dies mit Recht, dass Steuerstraftaten keine „Kavaliersdelikte“ seien, deren Täter lediglich „lässliche“ Steuersünden begingen, sondern nichts anderes als kriminelle Taten45 zum Nachteil des Staates und letztlich damit jedes einzelnen Mitglieds der gesamten Rechtsgemeinschaft. Wenn Verfahren, die durch eine früher angekaufte CD (sog. „Liechtenstein-CD“) eingeleitet und in denen fast 600 Millionen Euro Nachzahlungen geleistet wurden, überwiegend nach § 153a StPO gegen die zusätzliche Zahlung von Geldauflagen in Höhe von insgesamt 24,5 Millionen
42 Dies verkennt Damman in: Simitis BDSG5, 2003, § 44 Rn 8, wenn er meint, auf die Bereicherung dürfe kein Anspruch bestehen, „da sonst kein Grund für eine erhöhte Bestrafung“ bestehe; auf die insoweit gar nicht einschlägige Entscheidung BGHSt 19, 216 (zum Betrug bei Zeichnung von VW-Aktien) lässt sich diese Auffassung nicht stützen – überdies ist das von § 44 BDSG geforderte subjektive Strafbarkeitsmerkmal strafbegründender, nicht aber straferhöhender Art: Ordnungsunrecht ist ein aliud gegenüber kriminellem Unrecht. 43 Simitis (Fn 42), § 2 Rn 112. 44 LR-Gössel Einl. L Rn 113. 45 Vgl. dazu auch List Die Selbstanzeige im Steuerstrafrecht, 1963, 5 ff.
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Euro eingestellt46 wurden, so erscheint die Frage nicht unberechtigt, ob nicht die Finanzbehörden selbst durch Gewährung derartiger Freikaufmöglichkeiten dazu beitragen, dass Steuerstraftaten vielfach nicht als wirkliche Straftaten wahrgenommen werden. Wenn eine Steuerhinterziehung von 7,6 Millionen Euro nur mit einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde, geahndet wird, diesmal notwendig unter Beteiligung der Staatsanwaltschaft, so wird darin zugleich die verheerende Wirkung der sog. „Absprachen“ (vgl. § 257c StPO) deutlich, die sich darin zeigt, dass vermögende Täter im Bereich der Wirtschafts- einschließlich der Steuerkriminalität deutlich bessere Chancen als „normale“ Straftäter haben, sich von den Nachteilen einer zu vollstreckenden Freiheitsstrafe freizukaufen; dies gilt umso mehr in dem hier (oben vor A) erwähnten Fall von 1.500 Kunden der Credit Suisse, in dem der Fiskus allein durch Selbstanzeigen, darunter der eines hessischen Millionärs mit einer Einlage von 460 Millionen Euro, mit Mehreinnahmen von einer Milliarde Euro rechnet47.
D. Ergebnis I. Die derzeitige Existenz eines selbständigen steuerstrafrechtlichen Ermittlungsverfahrens der Finanzbehörden entbehrt einer tragfähigen Begründung (oben B). II. Gegen ein solches Verfahren spricht, dass • der Übernahme staatsanwaltschaftlicher Aufgaben schon die Personalknappheit der Finanzbehörden entgegenstehen dürfte (oben C I) und • den Finanzbehörden die Wahrnehmung staatlicher fiskalischer Interessen übertragen ist, nicht aber die den Staatsanwaltschaften eigene Funktion von Gesetzeswächtern (oben C II). Daraus können sich vermeidbare und zu vermeidende Nachteile auch für Beschuldigte in steuerstrafrechtlichen Ermittlungsverfahren ergeben (oben C III), insbesondere aber auch für die Rechtstreue der einzelnen Rechtsgenossen (oben C III c).
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SZ v. 7.4.2010, S. 5: „Liechtenstein-CD bringt 626 Millionen Euro“. S. Fn 5.
Die Nötigung im Straßenverkehr Martin Heger I. Zur Themenstellung Ein Schwerpunkt des Œuvres von Klaus Geppert liegt seit seiner Freiburger Dissertation über „Die Bemessung der Sperrfrist bei der strafgerichtlichen Entziehung der Fahrerlaubnis“ 1 auf dem Straßenverkehrsstrafrecht. Dieses Rechtsgebiet war zur Zeit des Erscheinens dieses Buches im Jahre 1968 zwar bereits praktisch von großer und zunehmender Bedeutung, zugleich aber wissenschaftlich noch weitgehendes Brachland, wie Volker Busse im Vorwort seiner im gleichen Jahr erschienenen Untersuchung zur „Nötigung im Straßenverkehr“ konstatierte: „In einer Zeit, in welcher Straftaten im Straßenverkehr einen immer größeren Anteil an der Gesamtkriminalität einnehmen und deshalb in immer größerem Umfang die Aufmerksamkeit des Strafrichters erfordern, fällt es auf, daß die Versuche einer monographischen Durchdringung der dabei auftretenden strafrechtlichen Probleme vergleichsweise gering sind. Dies ist umso bedauerlicher, als gerade durch die Straftaten im Straßenverkehr neue Akzente gesetzt werden, so daß der Straßenverkehr für den Strafrechtler zum Prüfstein mancher gesichert geglaubter Erkenntnis geworden ist.“2 Diese beiden Doktorarbeiten markieren gleichsam den Beginn einer monographischen Befassung mit Aspekten des Straßenverkehrsstrafrechts. Während Geppert mit der Entziehung der Fahrerlaubnis die typische Maßregel für strafbares Fehlverhalten im Straßenverkehr beleuchtete, nahm Busse mit der Nötigung iSv § 240 StGB einen der bis heute immer wieder bemühten Tatbestände des allgemeinen Strafrechts in den Blick. Mit diesem Tatbestand hat sich auch Geppert in den letzten Jahren befasst,3 doch legte er das Schwergewicht seiner Forschung – wie bereits in der Dissertation angelegt – auf spezifische Straßenverkehrsstrafnormen des Allgemeinen (§§ 44, 69 f.) und Besonderen Teils des StGB (§§ 142, 315b f.). Im Straßenverkehr als Ort massenhafter individueller Mobilität in einem Staat, in dem die Fläche der Bundesautobahnen das Territorium kleiner Bundeslän1
Geppert Die Bemessung der Sperrfrist bei der strafgerichtlichen Entziehung der Fahrerlaubnis, 1968. Die Thematik wird von ihm auch aufgegriffen in NJW 1971, 2154 ff. und MDR 1972, 280 ff. 2 Busse Nötigung im Straßenverkehr, 1968, S. 5. 3 Geppert Jura 2006, 31 ff.
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der übersteigt, kommt es freilich immer wieder auch zu Akten allgemeiner Kriminalität, wobei sich dann die Frage stellt, ob auch solche Straftaten iSv § 69 Abs. 1 StGB „bei oder im Zusammenhang mit dem Führen eines Kraftfahrzeugs oder unter Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers begangen“ wurden und somit als taugliche Anlasstaten für eine Entziehung der Fahrerlaubnis dienen können.4 Trotz der – auch von Geppert begrüßten5 – Restriktionen, die der Große Strafsenat des BGH in seinem grundsätzlichen Beschluss vom 27.4.20056 vorgesehen hat, hält der BGH hierzu fest: „‚Aus der Tat‘ kann sich die charakterliche Ungeeignetheit des Täters zum Führen von Kraftfahrzeugen für den Strafrichter daher nur dann ergeben, wenn die Anlaßtat selbst tragfähige Rückschlüsse darauf zuläßt, daß der Täter bereit ist, die Sicherheit des Straßenverkehrs seinen eigenen kriminellen Zielen unterzuordnen. Hierfür bedarf es keines – bereits von § 69 Abs. 1 Satz 1 Var. 1 u. 3 StGB erfaßten – Verstoßes gegen die Pflichten eines Kraftfahrzeugführers, wie er regelmäßig bei „Verkehrsstraftaten“ gegeben sein wird, auch soweit sie nicht vom Katalog des § 69 Abs. 2 StGB erfaßt sind. Hierzu zählen etwa die unter Benutzung eines Kraftfahrzeugs begangenen Fälle der Nötigung …“.7 Dem tritt auch Geppert bei; 8 und in Bezug auf das Fahrverbot als Nebenstrafe iSv § 44 StGB forderte er bereits 1989, dass dieses „vermehrt zB bei Nötigung im Straßenverkehr (§ 240 StGB) gegenüber dem Drängler eingesetzt werden sollte“.9 Damit schließt sich gewissermaßen der Kreis, denn notwendige Voraussetzung einer Entziehung der Fahrerlaubnis gem. § 69 StGB wie auch eines Fahrverbots gem. § 44 StGB ist die tatbestandsmäßige und rechtswidrige Verwirklichung des in Rede stehenden Straftatbestandes.10 Bei Verkehrsnötigungen stellen sich aber die typischen Probleme gerade auf der Ebene der Tatbestandsmäßigkeit – man denke nur an den schillernden Gewalt-Begriff – wie auch der Rechtswidrigkeit und hierbei insbesondere der Verwerflichkeitsklausel des § 240 Abs. 2 StGB,11 nicht so sehr auf der für die Verhängung von Maßregeln wie § 69 StGB ohnehin irrelevanten Schuldebene.
4 5 6 7 8 9 10 11
31 ff.
Vgl. dazu nur LK12-Geppert, § 69 Rn 35 ff. LK12-Geppert, § 69 Rn 34b. BGHSt 50, 93. BGHSt 50, 93, 102 f. LK12-Geppert, § 69 Rn 34c und Rn 39. Geppert Blutalkohol 27 (1990), 23, 28. Vgl. nur LK12-Geppert, § 69 Rn 16. Vgl. nur die Darstellung der wesentlichen Fragen einer Nötigung bei Geppert (Fn 3),
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II. Die Entwicklung der Strafbarkeit wegen Verkehrsnötigung Die Geschichte diskutierter und praktizierter Strafbarkeit wegen Verkehrsnötigung verläuft nicht nur parallel zu dem juristischen Werdegang des heutigen Jubilars; sie geht auch einher mit der Entwicklung der Massenmotorisierung in der Bundesrepublik Deutschland. Auf die nachteiligen Begleitumstände dieser offensichtlichen und damals allseits erwünschten Folge des Wirtschaftswunders sah sich die bundesdeutsche Justiz alsbald genötigt, auch mit den Mitteln des Strafrechts zu reagieren. Zu einem Instrument hierfür wurde der Tatbestand der Nötigung (§ 240 StGB), der sein bis heute typisches Gepräge in der Zeit des Nationalsozialismus erhalten hatte12 und – nachdem ihn zunächst der BGH rechtsstaatlich uminterpretiert hatte13 – im Zuge des Dritten Strafrechtsänderungsgesetzes vom 4.8.1953 auch begrifflich „entnazifiziert“ worden war.14 Als Geburtsstunde einer Strafbarkeit wegen Verkehrsnötigung kann man wohl das Urteil des AG Mannheim vom 1.2.1957 ansehen.15 Ab diesem Zeitpunkt wurden gravierende Verkehrsverstöße von den Strafjustizorganen vielfach auch unter dem Gesichtspunkt einer denkbaren Nötigungsstrafbarkeit untersucht (wenngleich nicht durchweg eine Nötigungsstrafbarkeit bejaht wurde), obwohl – wie Busse 1968 konstatierte – „die heute zunehmend als Nötigung angesehenen Fälle auch schon in der Vergangenheit vorgekommen sind …, ohne daß die Rechtsprechung sie unter dem Gesichtspunkt des § 240 geprüft hat“.16 Wie schon bald kritisiert worden ist, verzichtete die Rechtsprechung auf eine Begründung für ihren offensichtlichen Wandel.17 Die seit Ende der 1950er Jahre ergangenen obergerichtlichen Urteile bilden bereits das Spektrum der bis heute für Verkehrsnötigungen typischen Fälle ab: Drängeln, Behindern und Belehren im zunehmend dichter und gefährlicher werdenden Straßenverkehr sowie der „Kampf“ um den in den Großstädten rasch zum „knappen Gut“ gewordenen (und bis heute gebliebenen18) Parkraum.19 Die Sitten auf deutschen Straßen und (Park-)Plätzen waren rasch „verroht“, seit nicht mehr nur vereinzelte „Kavaliere der Land12 Deswegen krit. gegenüber der heutigen Fassung Wolf JuS 1996, 189 ff.; dagegen wiederum Spendel JuS 1996, 871. 13 Vgl. BGHSt 1, 84, 87. 14 Vgl. Welp in: Vormbaum/Welp Das Strafgesetzbuch, Supplementband 1, 2004, S. 139, 166. 15 AG Mannheim NJW 1959, 1597. Vgl. Busse (Fn 2), S. 50. 16 Busse (Fn 2) S. 50 m. Nachw. in Fn 84. 17 Busse (Fn 2) S. 51. 18 Vgl. nur LK11-Träger/Altvater, § 240 Rn 101 Fn 738, die eine Verneinung der Verwerflichkeit einer Parkplatzabnötigung wegen Geringfügigkeit heutzutage „in Zeiten der Parkplatznot“ für fraglich halten. 19 Vgl. zB Allgaier DAR 1987, 371, 373: „Der Kampf um die Parklücke ist immer noch nicht beendet“.
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straße“ darauf verkehrten; das veranschaulicht nichts besser als der fast flehentliche Appell von Bockelmann aus dem Jahr 1966: „Man prügelt sich nicht um Parkplätze“.20 Aus Sicht eines „Nachgeborenen“ verwundert diese Heftigkeit im Ausdruck, hat sich doch der Fahrzeugbestand im Bundesgebiet seither vervielfacht – von 1,7 Mio. (1953) über 15 Mio. (1970) bis auf heute 50,2 Mio. – und ist doch trotzdem nicht jeder Parkplatz zur Wildwest-Arena verkommen. Allerdings muss man sich in Erinnerung rufen, dass es damals trotz einer viel geringeren Zahl von Fahrzeugen offenbar viel gefährlicher war, sich im Verkehr zu bewegen, vergegenwärtigt man sich die immens hohe Zahl von Todesfällen auf (west)deutschen Straßen, deren Zahl von 11.449 (1953) – dem ersten Jahr der Statistik – bis auf 19.193 (1970) hochschnellte, um seither kontinuierlich zu sinken; waren es im Jahre 1991 – unmittelbar nach der Wiedervereinigung – noch über 11.300 Verkehrstote in Gesamtdeutschland sank diese Zahl inzwischen auf 4.160 Tote (2009). Trotz massiv abnehmender Letalität der Teilnahme am Straßenverkehr sind es aber bis heute gerade die tödlichen Verkehrsunfälle, die auch die Frage einer Nötigungsstrafbarkeit immer wieder in grelles Licht rücken.21 Andererseits gingen diese ersten Strafurteile wegen Verkehrsnötigung einher mit einer generellen Ausweitung der Nötigungsstrafbarkeit trotz unveränderter Fassung des Nötigungstatbestandes durch Ausdehnung des Gewaltbegriffs und Annahme grundsätzlicher Verwerflichkeit einer Gewaltnötigung seit Beginn der 1950er Jahre. Dabei ging es freilich nicht nur um die strafrechtliche Erfassung von Verkehrsverstößen; vielmehr wurden etwa auch die Teilnehmer an den Studentenprotesten, die bekanntlich an der Freien Universität – Gepperts langjähriger Wirkungsstätte – ihren Ausgangspunkt genommen hatten, angesichts ihrer neuen Demonstrationsformen – Sit-ins und anderen Blockaden – wegen Nötigung verfolgt.22 Bis heute wird das gerade aktuell in der Rechtsprechung zu § 240 StGB zugrunde gelegte Verständnis von nötigender Gewalt regelmäßig eingeleitet mit einem Rekurs auf die historische Entwicklung des Gewaltbegriffs in der höchstrichterlichen Rechtsprechung, der seine Konturen zunächst gerade in den Demonstrations-Fällen verloren hatte, um sie dann – im strafgerichtlichen Umgang mit späteren Protestgenerationen (gegen Nachrüstung etc) – jedenfalls ansatzweise wiederzugewinnen.23 Nachdem der ursprünglich
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Bockelmann NJW 1966, 748. Vgl. nur Maatz NZV 2006, 337 ff., der den tragischen „Fall ,Turbo-Rolf‘“ aus dem Jahr 2003 an den Beginn seiner Ausführungen zur Nötigung im Straßenverkehr stellt. Ebenso Kropp ZRP 2004, 4. 22 Vgl. dazu nur Dostal 1968 – Demonstranten vor Gericht, 2005, S. 204 ff. 23 Vgl. nur Geppert (Fn 3), 31, 33 ff.; Krey/Heinrich Strafrecht BT 1, 13. Aufl. 2005, Rn 328a ff. 21
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überaus restriktive Gewaltbegriff 24 noch vom Reichsgericht hinsichtlich des beim Täter erforderlichen Kraftaufwands relativiert worden war,25 „erweiterte und verwässerte“ – so Geppert – der BGH in den 1950er und 60er Jahren „alle drei vom Reichsgericht entwickelten Gewalt-Kriterien“.26 So konnte der BGH etwa im dichten Auffahren auf der Autobahn unter ständigem Hupen bzw Blinken wegen der dadurch beim Vorausfahrenden bewirkten starken seelischen Erregung eine strafbare Nötigung erkennen;27 mit dem bekannten Laepple-Urteil des BGH, in dem es um die demonstrative Blockade einer Straßenbahn ging, gelangte dann für fast drei Jahrzehnte der sog. vergeistigte Gewalt-Begriff zur Anerkennung.28 Diese Ausweitung des Gewaltbegriffs in § 240 StGB erleichterte der Strafjustiz jedenfalls die Erfassung von Verkehrsverstößen mit Nötigungswirkung auf andere Verkehrsteilnehmer.
III. Der Tatbestand der Nötigung in den Verkehrsfällen 1. Freiheit als Rechtsgut Der Tatbestand der Nötigung ist innerhalb des 18. BT-Abschnitts die in der Rechtspraxis wohl bedeutendste Strafvorschrift zum Schutz der persönlichen Freiheit. § 240 StGB schützt dabei nach ganz hM – und auch im Einklang mit der Sitzblockaden-Rechtsprechung des BVerfG29 – sowohl die Freiheit der Willensentschließung als auch der Willensbetätigung.30 Geschützt ist damit nicht nur, aber auch die Fortbewegungsfreiheit in einem dynamischen Sinne, das grundsätzlich unbeschränkte Recht des „von A nach B Kommens“. Da es beim Drängeln wie Behindern auf Deutschlands Straßen nicht um ein Verhindern des prinzipiellen Wegkommens – sei es mit oder ohne Auto – geht, scheidet bei Verkehrsnötigungen die Annahme einer Freiheitsberaubung iSv § 239 StGB als dem regelmäßig spezielleren Delikt31 selbst dann aus, wenn sich das Fahrzeug selbst – etwa durch dichtes Auffahren – nicht mehr fortbewegen lässt, könnte doch immer noch der Fahrer das Weite suchen. Verletzt ist dagegen seine allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG), weil er eben nicht mehr unverzüglich – wie geplant – mit seinem Auto weiterzufahren vermag.
24 25 26 27 28 29 30 31
RGSt 3, 179, 180; 9, 58, 59; 64, 113, 116 f. RGSt 45, 153. Geppert (Fn 3), 31, 33. BGHSt 19, 263, 265. BGHSt 23, 46. BVerfGE 73, 206, 237 mwN. Vgl. nur Geppert (Fn 3), 31; Lackner/Kühl 26 § 240 Rn 1; Busse (Fn 2), S. 52. BGHSt 30, 235; Lackner/Kühl 26, § 240 Rn 27.
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2. „Freie Fahrt für freie Bürger“ Die öffentliche Diskussion über rechtliche oder faktische Beschränkungen des von Gepperts früherem Berliner Fakultätskollegen Michael Ronellenfitsch so vehement verteidigten Grundrechts auf Mobilität32 gipfelte bereits vor vielen Jahren in der vom ADAC geprägten ebenso knappen wie griffigen Parole: „Freie Fahrt für freie Bürger“. Die Unmöglichkeit eines motorisierten Vorankommens galt und gilt vielen als Freiheitsverlust par excellence; dazu passt, dass seit nunmehr zwei Jahrzehnten in Politik und Wissenschaft darüber diskutiert wird, das Fahrverbot als eine „Freiheitsbeschränkungsstrafe“ – neben der klassischen Freiheitsstrafe iSv §§ 38 f. StGB – zu einer neuen Hauptstrafe auszubauen.33 Die alltägliche Erfahrung auf übervollen Straßen und bei der Suche nach Parkplätzen in Innenstädten weckt offenbar in manchem Autofahrer schlummernde Aggressionen,34 die sich entweder – Freiheit in Anspruch nehmend – in einem rücksichtslosen Vorankommen um jeden Preis oder – die (Rechts-)Ordnung verteidigend – in einem oberlehrerhaften Erziehen anderer Verkehrsteilnehmer äußern. Während ersterer prototypisch durch dichtes Auffahren und Lichthupe langsamere Fahrer zum Ausweichen oder durch riskante Überholmanöver den Gegenverkehr zum Abbremsen veranlasste, versucht letzterer zu schnelle Fahrer typischerweise durch (zu) langsames Fahren auf der Überholspur oder angedeutetes Abbremsen mit aufleuchtenden Bremslichtern zur Einhaltung der Verkehrsregeln zu veranlassen. Beide Konstellationen lassen sich auch kombinieren: Angesichts eines herannahenden „Rasers“ wechselt ein „Schulmeister“ auf die Überholspur, wodurch der andere Fahrer stark abbremsen muss, der dann seinerseits aber durch Drängeln den Vordermann zur Rückkehr auf die rechte Spur zu bewegen sucht. „Raser“ wie „Schulmeister“ verkennen bei ihrer Inanspruchnahme von „Freiheit vs. Ordnung“ freilich allzu leicht, dass sie selbst in einer freiheitlichen Rechtsordnung gerade nicht das Recht auf ihrer Seite haben, sei es wegen Überschreitung der zulässigen Geschwindigkeit (§ 3 StVO) oder des Mindestabstandes (§ 4 StVO) bzw wegen Verstoßes gegen das Rechtsfahrgebot (§ 2 Abs. 2 StVO) oder das Behinderungsverbot des § 1 Abs. 2 StVO. Typischerweise kombiniert treten Nötigungen auch in den
32 Ronellenfitsch DAR 1992, 321 ff. und 1994, 7 ff. sowie JöR 44 (1996), 167 ff.; aus strafrechtlicher Sicht jüngst zuneigend Hellwig Entziehung der Fahrerlaubnis gemäß § 69 StGB und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, 2008, S. 184 ff. 33 Zu den Etappen dieser Debatte LK12-Geppert, § 44 Rn 116 ff. Vgl. zu einem entsprechenden Reformvorschlag auch Kühl in: Heß Wandel der Rechtsordnung, 2003, S. 141, 155. 34 Vgl. Kölbel Rücksichtslosigkeit und Gewalt im Straßenverkehr, 1997; Maag/Krüger/Benminoun/Neunzig Zeitschrift für Verkehrssicherheit 2004, 132 ff.
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Parkplatz-Fällen auf: Ein Fußgänger, der eine freie Parkbucht für einen später kommenden Fahrer „reserviert“, wird durch verbale Drohungen und/oder das Auf-ihn-zu- bzw sogar An-Fahren zur Freigabe des Parkplatzes motiviert. 3. Strafrecht als ultima ratio des Freiheitsgüterschutzes Beschränkungen von Freiheitsgrundrechten wie Art. 2 Abs. 1 GG durch die öffentliche Hand müssen sich grundrechtlich rechtfertigen lassen. Und soweit die Freiheitsausübung im Straßenverkehr die anderen Verkehrsteilnehmern von Rechtswegen zukommende Freiheitssphäre – die Ausübung von deren ebenfalls grundrechtlich geschützter allgemeiner Handlungsfreiheit – tangiert, ist es Sache der Rechtsordnung, berechtigte motorisierte Freiheitsausübungen zu gewährleisten und notfalls mittels Sanktionen durchzusetzen. Das Strafrecht als „ultima ratio des Rechtsgüterschutzes“ kann freilich nur letztes Mittel zur Sicherstellung individueller Freiheitsausübung sein; mildere Mittel sind etwa Bußgeldtatbestände, aber auch präventive Maßnahmen wie die Umgestaltung von Zulassungsverfahren – zB die Einführung einer Probezeit für Fahranfänger 198635 – oder allgemein eine bessere Organisation der Verkehrsräume.36 Nur wenn das verkehrsrechtswidrige Verhalten zur Behinderung oder Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer von Gewicht führt, ist ein Einsatz des Strafrechts kein „mit Kanonen auf Spatzen schießen“.37 Gleichwohl finden sich in der Rechtsprechung bis heute regelmäßig Fälle, in denen das Verhalten einzelner Verkehrsteilnehmer am die Ausübung der persönlichen Handlungsfreiheit schützenden Straftatbestand der Nötigung (§ 240 StGB) gemessen wird.38 1988 befasste sich der 26. Deutsche Verkehrsgerichtstag mit dem Thema „Nötigung im Straßenverkehr“;39 eine ähnliche Thematik behandelte der 34. Deutsche Verkehrsgerichtstag 1996 („Gewalt und Nötigung im Straßenverkehr“)40 sowie – wenngleich unter dem reißerischen Titel: „Strafrecht gegen Verkehrsrowdies“ – der 43. Deutsche Verkehrsgerichtstag 2005.41
35 Lohmann 26. VGT 1988, S. 165 konstatiert: „Seit Einführung des Führerscheins auf Probe läßt sich feststellen, daß § 240 StGB bei Fahranfängern keine Rolle spielt“. 36 Suhren DAR 1996, 310, 313. 37 Vgl. LK11-Träger/Altvater, § 240 Rn 98. 38 Vgl. nur Busse (Fn 2), S. 50 f. 39 Veröffentlichungen des 26. VGT 1988, S. 1 ff.; dazu auch Voß-Broemme NZV 1988, 2 ff.; Salger DRiZ 1988, 210 ff. 40 Vgl. Suhren (Fn 36), 310 ff. 41 Veröffentlichungen des 43. VGT 2005, S. 162 ff.; dazu auch König NZV 2005, 27 ff.
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Und bis heute spielt eine Darstellung von § 240 StGB in den Kommentaren42 und Praxishandbüchern43 zum Straßenverkehrsrecht ebenso eine große Rolle wie umgekehrt eine Darstellung der verkehrstypischen Fragestellungen in den StGB-Kommentaren zu § 24044. Dabei werden traditionell Konstellationen im fließenden Verkehr – sog. „Drängler“-, „Ausbrems“- und „Schulmeister“-Fälle – von solchen im ruhenden Verkehr – den sog. „Parkplatz“-Fällen – unterschieden. Gemeinsam ist beiden Formen einer „Verkehrsnötigung“ allerdings, dass auch das Fernziel des jeweiligen Täters unmittelbar verkehrsbezogen ist, weil entweder ein eigener Vorteil – schnelleres Vorankommen bzw ein Parkplatz – oder eine Disziplinierung anderer Verkehrsteilnehmer angestrebt wird. Das unterscheidet die „Schulmeister“Fälle45 von den Demonstrations-Fällen, bei welchen der Straßenverkehr zum Erliegen gebracht werden soll, denn hiermit verfolgen die Blockierer verkehrsfremde (Fern-)Ziele wie die Abrüstung oder den Ausstieg aus der zivilen Nutzung der Kernenergie. Da aber nach der Rechtsprechung die Fernziele grundsätzlich für das Vorliegen einer Nötigung irrelevant sein sollen und deswegen als maßgeblicher Nötigungserfolg das vom Täter unmittelbar angestrebte Nahziel – zB die Blockierung eines oder mehrerer Verkehrsteilnehmer als demonstratives Symbol46 – anzusehen ist,47 besteht angesichts der teilweise gleichen (Nah-)Zielsetzung zwischen beiden Konstellationen eine gewisse Sachnähe.
42 Vgl. König in: Hentschel/König/Dauer Straßenverkehrsrecht, 40. Aufl., 2009; Janiszewski Verkehrsstrafrecht, 5. Aufl., 2004, Rn 561 ff.; Lütkes/Meier/Wagner Straßenverkehr, 2. Aufl., 19. Lfg. (Stand: März 1991). 43 Vgl. Burhoff in: Ludovisy (Hrsg.) Praxis des Straßenverkehrsrechts, 3. Aufl., 2005, S. 447 ff.; Gebhardt Das verkehrsrechtliche Mandat, 6. Aufl., 2009, S. 735 ff.; Winkler in: Himmelreich/Halm (Hrsg.) Handbuch des Fachanwalts Verkehrsrecht, 3. Aufl., 2010, S. 1714 ff.; Jung in: Ferner (Hrsg.) Handbuch Straßenverkehrsrecht, 2003, S. 890 ff.; Müller/Freyschmidt Verteidigung in Straßenverkehrssachen, 9. Aufl., 2009, S. 137 ff.; Blum Verkehrsstrafrecht, 2009, S. 139 ff.; Leipold/Kuhn Das Mandat in Verkehrssachen, 2002, S. 60 ff.; Seier Verteidigung in Straßenverkehrssachen, 3. Aufl., 2007, S. 47 ff.; Jung/Albrecht Die Verteidigung in Verkehrsstrafsachen und Verkehrsordnungswidrigkeiten, 2000, S. 171 ff.; Rosskopf/Thumm/Wehner Verkehrsstrafsachen, 1997, S. 162 ff. – Zur Verteidigung bei Verkehrsnötigungen siehe auch Lenhart NJW 2009, 967 ff. 44 Vgl. LK11-Träger/Altvater, § 240 Rn 98 ff.; MünchKommStGB-Gropp/Sinn, 2003, § 240 Rn 145 ff.; in: NK3-Toepel § 240 Rn 182 f.; BeckOK9-Valerius, § 240 Rn 63 f.; Schönke/Schröder27-Eser, § 240 Rn 24; Fischer56, § 240 Rn 27 ff.; Lackner/Kühl 26, § 240 Rn 9; SSW-StGB-Schluckebier, § 240 Rn 8. 45 So die Terminologie von Maatz (Fn 21), 337, 344 f. 46 Vgl. dazu Giehring in: Lüderssen/Sack (Hrsg.) Vom Nutzen und Nachteil der Sozialwissenschaften für das Strafrecht, 1980, S. 513 ff. 47 BGHSt 35, 270, 278; dagegen zB Eser in: FS Jauch, 1990, S. 35, 43 ff. Vermittelnd zB Geppert (Fn 3), 31, 40; Lackner/Kühl 26, § 240 Rn 18a.
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Die besondere Relevanz der Demonstrations-Fälle für die Verkehrsnötigung ergibt sich überdies daraus, dass seit Mitte der 1980er Jahre das BVerfG angesichts von Sitzblockaden und anderen – nach eigenem Anspruch der Demonstranten – gewaltfreien Demonstrationsformen immer wieder über die verfassungskonforme Auslegung von § 240 StGB zu befinden hatte. Während es in den verschiedenen Sitzblockade-Entscheidungen der Jahre 1986 bis 2001 mit Blick auf Demonstrationen einige Zweifelsfragen entschieden hat, hat es sich jüngst wieder einer Festlegung in Verkehrsnötigungs-Fällen entzogen. Umgekehrt sind die insbesondere mit der Ersten und Dritten Sitzblockaden-Entscheidung in das Nötigungsstrafrecht eingehauenen Pfähle – keine Indizwirkung von Gewalt als Nötigungsmittel im Rahmen der Verwerflichkeitsprüfung (§ 240 Abs. 2 StGB) und überhaupt keine Gewalt bei bloßem Sitzen- bzw Stehenbleiben – natürlich auch für die Verkehrsnötigungen von Belang.
IV. Nötigungsmittel im Straßenverkehr Als Nötigungsmittel im Straßenverkehr geht es zumeist um Gewalt etwa durch zu schnelles Auffahren oder Blockieren, seltener um die Drohungsalternative. Damit sind die meisten Fälle einer Verkehrsnötigung von den Kapriolen der Verfassungsgerichtsrechtsprechung zur Gewaltnötigung unmittelbar betroffen. Die Strafgerichte haben dabei die Frage zu beantworten, unter welchen Umständen bei konkreten Eingriffen in den Straßenverkehr, die zugleich die Freiheitsausübung anderer Verkehrsteilnehmer beeinträchtigen, Gewalt iSv § 240 Abs. 1 StGB angenommen werden kann. Weil das BVerfG bekanntlich seit seiner Ersten Sitzblockaden-Entscheidung eine Indizwirkung von Gewalt als eingesetztem Nötigungsmittel für die Verwerflichkeit der Zweck-Mittel-Relation verneint,48 muss weiterhin positiv festgestellt werden, dass das Verhalten auch verwerflich iSv § 240 Abs. 2 StGB ist. 1. Gewalt Worin sich Gewalt im Straßenverkehr äußert und welche strafrechtlichen Reaktionen zu deren Bekämpfung erfolgversprechend scheinen, wird in der kriminologischen Forschung seit vielen Jahren erörtert.49 Seit den 1970er Jahren entstand eine Reihe strafrechtsdogmatischer und kriminalpolitischer
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BVerfGE 73, 206, 252; 104, 92, 103. Vgl. nur Kaiser in: FS Salger, 1995, S. 55 ff.; Kölbel (Fn 34).
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Beiträge, was „Gewalt“ als objektives Straftatbestandsmerkmal auszeichnet 50 und welchen Inhalt dieses im Nötigungstatbestand hat.51 In der obergerichtlichen Judikatur findet sich häufig die Aussage: „Nötigung in Form der Gewaltanwendung kann bei missbräuchlichem Einsatz eines Kfz im fließenden Verkehr durch behindernde oder bedrängende Fahrweise begangen werden, sofern diese geeignet ist, einen besonnenen Autofahrer in Sorge und Furcht zu versetzen, und von ihm als körperlicher (und nicht bloß seelischer) Zwang empfunden wird, seinen Willen dem des Täters unterzuordnen.“52 a) vis absoluta und vis compulsiva Grundsätzlich umfasst der Gewaltbegriff in § 240 StGB vis absoluta wie vis compulsiva;53 beide Gewaltformen können auch Relevanz für Verkehrsnötigungen haben. So liegt vis absoluta vor, wenn ein in eine Parklücke einbiegender Kraftfahrer mit der Stoßstange einen darin wartenden Fußgänger hinausschiebt,54 aber ebenso, wenn – mit der Zweite-Reihe-Rechtsprechung. des BGH55 – nachfolgenden Fahrern durch eine erste Reihe von Fahrzeugen in mittelbarer Täterschaft ein unüberwindliches Hindernis entgegengestellt wird; vis compulsiva ist dagegen denkbar, wenn ein „Drängler“ durch zu dichtes Auffahren den Vorausfahrenden zum Ausscheren veranlasst. b) Die Sitzblockaden-Rechtsprechung des BVerfG Mit der Dritten Sitzblockaden-Entscheidung hatte das BVerfG 1995 explizit den bloß psychisch vermittelten Gewaltbegriff verabschiedet; seither muss eine Gewaltnötigung ausscheiden, wenn der Täter weder körperliche Kraft entfaltet (insbesondere wenn er untätig sitzen- oder stehenbleibt) noch der regelmäßig zum Anhalten Genötigte (auch) physisch wirkendem Zwang ausgesetzt ist. Der damit vom BVerfG verworfene „vergeistigte Gewaltbegriff“ wurde bis zur Kehrtwende des BVerfG Anfang 1995 verbunden mit dem berühmten „Laepple“-Urteil aus dem Jahr 1969.56 Auch wenn es hierin 50 Vgl. nur Calliess Der Begriff der Gewalt im Systemzusammenhang der Straftatbestände, 1974; Krey in: BKA (Hrsg.), Zum Gewaltbegriff im Strafrecht, 2. Teil, 1988. 51 Vgl. Bergmann Das Unrecht der Nötigung (§ 240 StGB), 1983, S. 64 ff.; Timpe Die Nötigung, 1989, S. 70 ff.; Sinn Die Nötigung im System des heutigen Strafrechts, 2000, S. 150 ff.; Krey in: BKA (Hrsg.), Zum Gewaltbegriff im Strafrecht, 1. Teil, 1986; v. Heintschel-Heinegg Die Gewalt als Nötigungsmittel im Strafrecht, Diss. Regensburg 1975. 52 OLG Köln NZV 1997, 318. 53 Vgl. nur Geppert (Fn 3), 31, 33; Lackner/Kühl 26, § 240 Rn 5. – Gegen vis absoluta als Nötigungsmittel, weil § 240 StGB nur die Willensbetätigungsfreiheit schütze, generell Hruschka JZ 1995, 743 ff. (dagegen wiederum mit der hM Geppert [Fn 3], 31). 54 Vgl. BayObLG NJW 1995, 2646; OLG Naumburg NZV 1998, 163. 55 BGHSt 41, 182 m. Anm. Geppert JK 1996 StGB § 240/17. 56 BGHSt 23, 46.
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um die Blockade des Schienenverkehrs ging, ließen sich die tragenden Erwägungen unschwer auf den Straßenverkehr übertragen.57 Nötigung mittels Gewalt konnte danach auch derjenige begehen, der sich bloß mittels seiner körperlichen Präsenz einem Kraftfahrzeug entgegenstellte, um dessen Fahrer allein psychisch unter Zugzwang zu setzen, seine Fahrt zu unterbrechen. Was von der Richtermehrheit im BVerfG Mitte der 1990er Jahre (und auch in der breiten Öffentlichkeit) wohl als überfällige Präzisierung eines im Laufe des 20. Jahrhunderts zunehmend entleerten Tatbestandsmerkmals verstanden wurde, führt doch heute in einigen Konstellationen von Verkehrsnötigungen und Blockadeaktionen auf öffentlichen Straßen zu neuen Fragen, mit denen sich die Strafjustiz auseinandersetzen muss.58 So zeigen heutige Sitzblockaden auf öffentlichen Straßen, dass auch im bloßen Sitzen- oder Stehenbleiben für andere Verkehrsteilnehmer – zB Fußgänger und Fahrradfahrer, aber auch die Fahrer kleinerer Pkw – durchaus ein physisches Hindernis gesehen werden kann.59 Stelle ich mich zB auf einem Hohlweg breitbeinig einem Radfahrer entgegen, ohne dass dieser mich passieren kann, so mag man mit dem BVerfG eine körperliche Kraftentfaltung verneinen, doch geht es hier nicht – wie angesichts „blockierter“ Panzer vor dem Mutlanger Raketendepot – um allein psychisch vermittelten Zwang;60 vielmehr ist die Nötigungswirkung keine andere als in der „Menschenmauer“-Entscheidung des Reichsgerichts vor nunmehr genau hundert Jahren.61 Die Dritte Sitzblockaden-Entscheidung nötigt aber den Strafrichter auch gar nicht zur Verneinung einer Gewaltnötigung, soll danach doch lediglich das kumulative Hinwegdenken körperlicher Kraftentfaltung und körperlicher Zwangswirkung bei der Auslegung des Begriffs „Gewalt“ in § 240 StGB verfassungswidrig sein, nicht bereits deren alternatives Hinwegdenken. Deswegen erscheint es mir auch fraglich, ob in den Parkplatz-Fällen auf Seiten des darin stehenden Fußgängers wegen BVerfGE 92, 1 stets Gewalt als Nötigungsmittel verneint werden muss; 62 entscheidend sollte vielmehr sein, ob der herannahende Kraftfahrer mit Einparkgeschwindigkeit den in der Parkbucht Stehenden unschwer hinausschieben könnte, was eine Frage des konkreten Einzelfalls ist; selbstverständlich darf der Fahrer ein derartiges Hinausschieben nicht versuchen, 57 Umgekehrt hat BGHSt 44, 34, 39 ff., auf den Schienenverkehr die Erwägungen in BGHSt 41, 812, 184, zur Nötigung im Straßenverkehr übertragen (vgl. Geppert [Fn 3], 31, 34 sowie ders. [Fn 55]). 58 Zu den Auswirkungen von BVerfGE 92, 1 auf Nötigungen im Straßenverkehr Berz NZV 1995, 297 ff. 59 Krey/Heinrich (Fn 23), Rn 350e. 60 In diese Richtung allerdings Geppert (Fn 3), 31, 34 in Bezug auf RGSt 45, 153. 61 RGSt 45, 153. 62 Krey/Heinrich (Fn 23), Rn 359; aA Lackner/Kühl 26, § 240 Rn 9; LK11-Träger/Altvater, § 240 Rn 101.
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doch könnte er solches in concreto problemlos bewerkstelligen, wirkte – wie auf den Panzerfahrer – eben nur psychischer Zwang auf ihn ein. Das BVerfG selbst will sich bei der Präzisierung des Gewalt-Begriffs bei Verkehrsnötigungen – jedenfalls verbal – zurückhalten. So enthält es sich etwa in der Vierten Sitzblocken-Entscheidung vom 24.11.2001 ausdrücklich einer Stellungnahme zu der in unmittelbarer Folge seiner Entscheidung vom 10.1.1995 vom Ersten Strafsenat des BGH kreierten „Zweite-Reihe-Rechtsprechung“;63 freilich wird in ersten Anmerkungen diese vordergründige Unentschiedenheit – wohl nicht zu Unrecht – als Billigung der BGH-Entscheidung verstanden.64 c) Der Kammerbeschluss vom 29.3.2007 zur Verkehrsnötigung Auch in seinem jüngsten Judikat zu Fragen einer Strafbarkeit wegen Verkehrsnötigung – dem Nichtannahmebeschluss der Ersten Kammer des Zweiten Senats vom 29.3.200765 – betont das BVerfG, dass die Bejahung nötigender Gewalt im Straßenverkehr nur eine Einzelfallentscheidung sein könne, weil „pauschale Wertungen darüber, wann ein Verhalten im Straßenverkehr körperlichen Zwang auf einen anderen Verkehrsteilnehmer ausübt, schwerlich getroffen werden können. … Von Bedeutung sein werden deshalb unter anderem die Dauer und Intensität des bedrängenden Auffahrens, die gefahrenen Geschwindigkeiten, die allgemeine Verkehrssituation zum Zeitpunkt des täterschaftlichen Handelns und ob der Täter bei dem Auffahrvorgang zugleich Signalhorn oder Lichthupe betätigt hat (vgl. OLG Stuttgart, DAR 1998, 153 [154]; OLG Hamm, DAR 1990, 392 [3993]; OLG Karlsruhe, NStZ-RR 1998, 58). Alle diese Faktoren lassen einzeln oder im Verbund Rückschlüsse auf die Auswirkungen des auf seine strafrechtliche Relevanz zu überprüfenden Verhaltens auf den Betroffenen zu. Werden diese Auswirkungen körperlich empfunden, führen sie also zu physisch merkbaren Angstreaktionen, liegt Zwang vor, der – auch gemessen an verfassungsrechtlichen Maßstäben – Gewalt sein kann (vgl. BGHSt 19, 263 [266]). … Bei bedrängender Fahrweise muss ein Fahrzeugführer grundsätzlich damit rechnen, dass sein Verhalten zu Furchtreaktionen anderer Verkehrsteilnehmer führen kann.“66 Diese Ausführungen sind wegen der Gleichsetzung von physischem mit psychosomatischem Zwang67 und dem Rekurs auf das im Schrifttum vielfach
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BGHSt 41, 182, 184. Sinn NJW 2002, 1024, versteht den Beschluss allerdings als Hinwendung zu dem in BGHSt 41, 182 zugrunde gelegten Gewaltbegriff. 65 BVerfG NJW 2007, 1699. 66 BVerfG NJW 2007, 1699, 1700. 67 Huhn DAR 2007, 387, 388. 64
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für überwunden gehaltene Gewaltverständnis in BGHSt 19, 263 in der Literatur auf Kritik gestoßen.68 Wie ich meine, stellt der Kammerbeschluss aber nur eine letztlich konsequente Fortschreibung der verfassungsgerichtlichen Judikatur seit 1995 dar, denn in der Dritten Sitzblockaden-Entscheidung wurde eben nur der allein auf psychisch vermitteltem Zwang aufbauende „vergeistigte Gewaltbegriff“ aus BGHSt 23, 46 verworfen, nicht auch die hier interessierende Gleichsetzung von physischem und psychosomatischem, also letztlich – wenngleich durch einen psychischen Vorgang bewirkt – körperlich fühlbarem Zwang.69 Die Kritik an dem Kammerbeschluss zeigt daher eher, dass die mit BVerfGE 92, 1 verbundenen hohen Erwartungen an eine Umkehr bei der Gewalt-Rechtsprechung zu § 240 StGB in Richtung auf eine Rückkehr zum „klassischen“ Gewaltbegriff, die bereits mit der erwähnten Nonchalance von BVerfGE 104, 92 im Umgang mit der Zweite-Reihe-Rechtsprechung einen deutlichen Dämpfer erhalten hatten, von Verfassungswegen nicht begründet waren; ex post hat es daher fast den Anschein, als ginge es dem BVerfG in den Sitzblockaden-Entscheidungen allenfalls vordergründig um eine Präzisierung des Gewaltbegriffs, tatsächlich aber um eine Stärkung der grundrechtlich garantierten Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG), welche für klassische Verkehrsnötigungen irrelevant ist.70 Festzuhalten ist in jedem Fall, dass das BVerfG mit den genannten Ausführungen die Strafgerichte nicht von der Last befreit hat aufzuklären, ob das „Drängeln“ in concreto tatsächlich wenigstens psychosomatische Auswirkungen hatte, denn im Kammerbeschluss werden nur einerseits Indizien dafür genannt;71 andererseits wird quasi eine Vermutung für das Vorliegen von Gewalt-Vorsatz aufgestellt. Empfindet der Bedrängte trotzdem keine Furcht, bleibt nur eine versuchte Nötigung (§ 240 Abs. 3 StGB). Danach äußert sich das BVerfG auch zu dem Kriterium der körperlichen Kraftentfaltung in den Verkehrsnötigungs-Fällen: „Weniger problematisch im Zusammenhang mit nötigender Gewalt im Straßenverkehr als das Kriterium der physischen Zwangswirkung ist das Merkmal der körperlichen Kraftentfaltung beim Täter. Die den Auffahrvorgang ausmachende dynamische Bewegung des Kraftfahrzeugs lässt sich ohne Weiteres als Kraftentfaltung begreifen (vgl. OLG Stuttgart, NJW 1995, 2647 [2648]). Dies gilt ungeachtet der letztlich gefahrenen Geschwindigkeit. Da es nach den Maßstäben des Verfassungsrechts für das Vorliegen nötigender Gewalt auf das Ausmaß der vom Täter entfalteten Kraft nicht ankommt, ist
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Sinn JuS 2009, 577, 580. Vgl. auch Krey/Heinrich (Fn 23), Rn 350d ff. 70 Dann wäre es vielleicht ehrlicher gewesen, entgegen BVerfGE 73, 206, 248 ff. doch wegen Art. 8 GG eine Rechtfertigung durch Grundrechtsgebrauch anzunehmen (vgl. dazu Kühl Strafrecht AT, 6. Aufl., 2008, § 9 Rn 112 ff.; Heger Jura 2003, 112, 115 ff.). 71 Zu Beweisfragen aus Sachverständigensicht Löhle NZV 1994, 302 ff. 69
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es nicht ausgeschlossen, im Betätigen des Gaspedals das unrechtsrelevante Verhalten zu sehen […]. Die Strafgerichte werden darüber zu entscheiden haben, welche Auffassung vorzugswürdig ist.“72 Sicherlich ist es nicht vorrangige Aufgabe der Verfassungsgerichtsbarkeit, den Strafgerichten eine bestimmte Auslegung eines Tatbestandsmerkmals – hier: Gewalt in § 240 StGB – in bestimmten Konstellationen – hier: für den Straßenverkehr – vorzugeben. Stufte man allerdings bereits das Betätigen des Gaspedals wirklich als maßgebliche körperliche Kraftentfaltung ein, müsste wohl auch im bloßen Betätigen des Bremspedals eine solche liegen. Dann aber wäre es durchaus fraglich, mit dem OLG Köln im bloßen Aufleuchtenlassen der Bremsleuchten – mE mit Recht – keine (versuchte) Nötigung zu erblicken, weil die roten Lichter beim nachfolgenden Fahrer nur psychischen Zwang auslösten,73 hat doch das BVerfG in seiner Dritten SitzblockadenEntscheidung nur den kumulativen Verzicht auf körperliche Kraftentfaltung und körperliche Zwangswirkung für verfassungswidrig erklärt und bliebe aufgrund des Tritts auf das Bremspedal dann doch immerhin eine (wenn auch geringfügige) körperliche Kraftentfaltung übrig. Deswegen erscheint es mir überzeugend, in den Verkehrsnötigungsfällen nicht so sehr auf den Krafteinsatz des Nötigenden als vielmehr auf die dadurch – vermittels des Kfz – bewirkte Kraftentfaltung abzustellen; wenn der Täter überdies auf das Opfer körperlichen Zwang ausübt, ist die diesem zugrunde liegende Kraftentfaltung nicht maßgeblich. 2. Drohung Die Drohungsalternative wurde immer wieder ins Gespräch gebracht, wenn die Sitzblockaden-Rechtsprechung des BVerfG in bestimmten Konstellationen der Annahme einer Gewaltnötigung entgegenstand.74 Durchgesetzt haben sich solche Konstruktionen aber – zu Recht – nicht; nicht nur, weil hiermit quasi durch die Hintertür von Verfassungswegen nicht als (Gewalt-)Nötigung strafbare Verhaltensweisen – wie das bloße Sitzen oder Stehen auf der Fahrbahn – mittels der Drohungsalternative identischer Bestrafung unterzogen worden wären, sondern auch, weil die Drohung hier allein darin liegen würde, dass der Täter dem Genötigten für den Fall eines Weiterfahrens Seelenpein aufgrund des Überfahrens in Aussicht stellt. In den typischen Konstellationen einer Verkehrsnötigung lässt sich dagegen durchaus auch an die Drohungsalternative denken. So kann im Zufahren auf einen anderen die Drohung liegen, diesen zu überfahren, wenn er
72 73 74
BVerfG NJW 2007, 1699, 1700. OLG Köln NZV 1997, 318. Vgl. Herzberg GA 1996, 577 ff.
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nicht die Fahrbahn oder einen Parkplatz räumt.75 Dass die Rechtsprechung trotzdem zumeist (nur) eine Gewaltnötigung annimmt, hängt allerdings damit zusammen, dass die Drohung aus Sicht des Drohenden vom Bedrohten ernst zu nehmen sein muss, was man in den Verkehrsnötigungsfällen regelmäßig mit dem Argument bezweifeln wird können, der in der Parkbucht Stehende etc habe die Drohung als bloße Übertreibung nicht ernst genommen.76 Daher wird eine Drohung mit dem Überfahrenwerden wohl nur ausnahmsweise – etwa in den Polizeifluchtfällen – in Betracht kommen,77 wobei dann § 240 StGB zumeist hinter § 315b StGB oder sogar ein (versuchtes) Tötungsdelikt zurücktreten wird und damit keine praktische Bedeutung erlangt.
V. Verwerflichkeitsklausel (§ 240 Abs. 2 StGB) Angesichts der Weite des Tatbestandes von § 240 StGB hat der Gesetzgeber in § 240 Abs. 2 StGB mit der Verwerflichkeitsklausel ein Korrektiv eingebaut; unabhängig davon, ob dieses bereits den Tatbestand einschränkt oder erst auf der Ebene der Rechtswidrigkeit wirkt, ist ein in diesem Sinne nicht verwerfliches Handeln jedenfalls kein strafbares Nötigungs-Unrecht.78 Seit der Ersten Sitzblockaden-Entscheidung des BVerfG ist klargestellt, dass allein dem Einsatz von Gewalt als Nötigungsmittel keine Indizwirkung für die Verwerflichkeit der Nötigung iSv § 240 Abs. 2 StGB zukommen kann, dass vielmehr unabhängig von dem in concreto eingesetzten Nötigungsmittel seitens der Strafgerichte stets positiv festgestellt werden muss, ob „die Anwendung der Gewalt oder die Androhung des Übels zu dem angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen ist“. Im Rahmen der dafür erforderlichen Wertung, kommt es heutzutage weniger auf eine sittliche Missbilligung, als vielmehr auf eine sozial-ethische Unerträglichkeit der Zweck-Mittel-Relation an.79 Dieser Wandel in der Rechtsprechung ist auch für die Bewertung von Verkehrsnötigungen von Bedeutung; als Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsprinzips gestattet der Blick auf die sozial-ethische Unerträglichkeit eine Differenzierung anhand der Gefährlichkeit des Verhaltens im konkreten Einzelfall.80 Solche sozial-ethische Unerträglichkeit dürfte etwa bei der nur 75
Vgl. BayObLG 1995, 2646. Vgl. BayObLG NJW 1963, 824. – Vgl. auch OLG Hamm Beschl. v. 24.6.2008 – 4 Ss 220/08 (bei Himmelreich/Halm NStZ 2009, 373, 375): Dichtes Auffahren wegen Imponiergehabes mangels Vorsatz keine Nötigung. 77 Vgl. zB OLG Düsseldorf StraFo 2001, 178 m. Bspr. Heger JA 2001, 833 ff. 78 Vgl. nur Geppert (Fn 3), 31, 38 f. 79 Vgl. nur Geppert (Fn 3), 31, 39 mwN. 80 Zu Fallgruppen in der Rspr. Krumm SVR 2009, 296. 76
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kurzfristigen Blockade einer Fahrspur auch aufgrund verkehrsfremder Eigennützigkeit zu verneinen sein,81 während ein Rekurs auf das Sittengesetz insoweit ein anderes Ergebnis nahezulegen scheint.82 Keinesfalls sozial-ethisch unerträglich erscheint mir das „Reservieren“ einer Parkbucht, während man durchaus vertreten könnte, dass solches Verhalten den Ansprüchen aller billig und gerecht Denkenden widerstreitet. Umgekehrt ist es sozial-ethisch nicht zu billigen, wenn ein einparkender Fahrer mittels seines Pkw einen darin stehenden Fußgänger hinauszuschieben versucht, selbst wenn er damit – wie von manchen vertreten – nur von einem Selbsthilfe- bzw Notwehrrecht Gebrauch macht,83 was sittlich normalerweise nicht zu beanstanden sein dürfte.
VI. Regelungsbedarf de lege ferenda? Immer wieder erklingt angesichts zunehmenden „Verkehrsrowdytums“ oder – etwas schlichter – einer Zunahme nötigenden Verhaltens im Straßenverkehr der Ruf nach neuen Tatbeständen oder zumindest schärferen Strafen. Auch Geppert hat sich bereits vor zwei Jahrzehnten mit der Frage: „Reicht das gesetzliche Instrumentarium zur Verbesserung der Verkehrssicherheit aus?“84 beschäftigt und dabei der Schaffung spezifischer Verkehrsnötigungstatbestände eine bis heute überzeugende Absage erteilt; solche seien zur Verbesserung der Verkehrssicherheit nicht erforderlich und liefen angesichts ihrer notwendigen tatbestandlichen Breite faktisch darauf hinaus, dass grundsätzlich alle iSv § 1 Abs. 2 StVO verkehrswidrigen Verhaltensweisen als Straftaten ausgestaltet wären.85 Demgegenüber plädiert er für eine effektivere Nutzung der Nebenstrafe des Fahrverbots gem. § 44 StGB gegenüber Dränglern.86 Nachdem insbesondere der tragische Unfalltod einer jungen Mutter und ihres kleinen Kindes bei einem Ausweichmanöver angesichts eines Autobahnrasers im Sommer 2003 die Debatte über den strafrechtlichen Umgang mit „Verkehrsrowdies“ angefacht hatte, wurde von juristischer Seite wiederum – wie schon von Geppert – einer Totalrevision des Verkehrsstrafrechts mangels Erforderlichkeit eine Absage erteilt, eine punktuelle Ergänzung des strafrechtlichen Instrumentariums aber „insbesondere bei § 240 StGB (Nötigung)“ von manchen für durchaus erwägenswert erachtet.87 Andere halten 81 82 83 84 85 86 87
So auch LG Dresden NZV 1998, 83. So wohl Paul NZV 1998, 312, 313. Vgl. BayObLG NJW 1995, 2646. Geppert (Fn 9), 23 ff. Geppert (Fn 9), 23, 26. Geppert (Fn 9), 23, 28. So Janker in: 43. VGT 2005, S. 162, 174.
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das vorhandene strafrechtliche Instrumentarium für ausreichend und sehen allenfalls Vollzugsdefizite88 oder wollen gar „das Rad zurückdrehen“ und eine Anwendung von § 240 StGB auf Verhaltensweisen im Straßenverkehr ausschließen.89 Geppert beschreitet mit seinen og Überlegungen den „goldenen Mittelweg“. Gelegentlich gefordert wird de lege ferenda insbesondere die Einführung eines vierten Regelbeispiels in § 240 Abs. 4 StGB. Während Kropp für die Indizwirkung bereits genügen lassen will, dass der Täter irgendeine Nötigungshandlung im Straßenverkehr begeht,90 möchte Janker nur Nötigungen im Straßenverkehr erfassen, die „Leib oder Leben oder fremde Sachen von bedeutendem Wert [konkret] gefährdet“ haben.91 Ersteres geht sicherlich viel zu weit; es kann nicht angehen, dass jedwede tatbestandsmäßige Nötigung, allein weil sie im – fließenden oder ruhenden – Verkehr begangen worden ist, im Regelfall mindestens ein halbes Jahr Freiheitsstrafe nach sich zieht; ein Abstellen auf konkrete Gefährdungen wäre zwar ein denkbarer Weg, doch ist dabei mE jedenfalls fraglich, ob bereits die Gefährdung fremder Sachen von bedeutendem Wert für einen regelmäßig erhöhten Strafrahmen genügen soll. Generell erscheint mir aber der überaus heterogene Regelbeispielskatalog in § 240 Abs. 4 StGB eher eine Spielwiese für politischen Aktionismus. Schon deswegen sollte man von der Aufnahme neuer Regelbeispiele im Zweifel absehen. Da Regelbeispiele ohnehin nur die Strafe schärfen können, ändert eine Aufnahme der Verkehrsnötigung als § 240 Abs. 4 Nr. 4 StGB überdies nichts an den bis heute immer noch nicht abschließend gelösten Fragen der Tatbestandsmäßigkeit und Verwerflichkeit und damit der grundsätzlichen Bejahung einer Nötigung im Straßenverkehr. Ist Folge einer Verkehrsnötigung die Verletzung oder gar Tötung anderer Verkehrsteilnehmer, gibt es andere – schwerere – Straftatbestände (§§ 315b, 315c, 211 ff., 223 ff. StGB); und in besonders schwer wiegenden (Ausnahme-)Fällen bliebe immerhin die Annahme eines unbenannten besonders schweren Falles iSv § 240 Abs. 4 StGB.
VII. Fazit Trotz zahlreicher Verfassungs- und Strafgerichtsentscheidungen und einer jahrzehntelangen wissenschaftlichen Diskussion ist der Tatbestand von § 240 StGB jedenfalls in seiner Anwendung auf Verkehrsnötigungs-Fälle bis heute schillernd geblieben. Gleichwohl sollte man – mit Klaus Geppert – von der 88 89 90 91
So Knaack in: 43. VGT 2005, S. 177, 191 ff. So Prasser in: 43. VGT 2005, S. 194, 197 ff. Kropp (Fn 21), 4 f. Janker (Fn 87), S. 162, 169.
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Schaffung eigener Verkehrsnötigungstatbestände absehen,92 weil diese entweder nahezu jedes verkehrswidrige Verhalten erfassen müssten und damit gegen den ultima-ratio-Grundsatz verstoßen würden oder aber – sofern sie enger als § 240 StGB gefasst wären und als lex specialis einer Nötigungsstrafbarkeit vorgehen sollten – den Straßenverkehr aus dem allgemeinen strafrechtlichen Freiheitsschutz ausklammerten,93 was sich angesichts der Alltäglichkeit von durch Verkehrsverstößen verursachten Eingriffen in die Freiheitssphäre anderer Verkehrsteilnehmer nicht ohne weiteres rechtfertigen ließe.
92
Geppert (Fn 9), 23, 26; aA Nehm NZV 1997, 432 ff. Vgl. Kölbel (Fn 34), S. 413, 427, der §§ 315b f. StGB abschließenden Charakter zuspricht. 93
Das vorsätzliche „Dazwischentreten“ des Täters in seine eigene Tat Bernd Heinrich A. Einleitung Der verehrte Jubilar hat sich in den vielen Jahren seines Schaffens oftmals auch literarisch zu Problemen geäußert, die in der akademischen Ausbildung eine große Rolle spielen. Nicht zuletzt hat er im Rahmen seiner Tätigkeit als Herausgeber und Autor der „Juristischen Ausbildung“ (JURA)1 mehrfach zu ausbildungsrelevanten Themen Stellung bezogen. Diese Beiträge haben mir bereits zu Zeiten meines eigenen juristischen Studiums stets eine wertvolle Hilfestellung gegeben. Auch im Rahmen des von uns später gemeinsam durchgeführten Examensrepetitoriums im Strafrecht der beiden Fakultäten der Freien Universität Berlin und der Humboldt-Universität zu Berlin konnte ich mich immer wieder von seinem großen Interesse an der Vermittlung von „prüfungsrelevantem“ Wissen für die Studierenden überzeugen. Daher lag es auch nahe, mich in meinem Beitrag zur vorliegenden Festgabe mit einer „Standardsituation“ näher zu befassen, die in studentischen Prüfungsaufgaben häufig anzutreffen ist, aber erstaunlicherweise noch kaum als abschließend diskutiert gelten kann. Dies ist jedoch insoweit nicht verwunderlich, als ihre Lösung ein tiefes Eindringen in die einerseits „neue“, andererseits aber noch stark umstrittene Materie der „objektiven Zurechnung“ erfordert.2 Im Übrigen taucht die Frage auch besonders häufig in Fallkonstellationen aus dem Straßenverkehr auf, einem Themenbereich, dem der Jubilar stets in besonderem Maße verbunden war.3 Insoweit hoffe ich, dass die fol1 Der Jubilar war von 1980 bis heute als Herausgeber dieser Zeitschrift tätig. Beeindruckend sind dabei nicht nur die ab 1979 jährlich erschienenen 24 Entscheidungsanmerkungen auf den „klassischen“ blauen JURA-Karteikarten, sondern darüber hinaus die insgesamt über 80 didaktisch orientierten Beiträge und sechs Übungsklausuren in dieser Zeitschrift. 2 Mit Fragen der objektiven Zurechnung hat sich der Jubilar insbesondere beschäftigt in: Geppert JURA 2001, 490.; ders. Comparative law (Nihon University Tokyo) Vol. 20 (2003), S. 71. 3 Vgl. nur die Kommentierungen zu §§ 44, 69, 69a, 69b, 142 in: Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch (LK), 11. Aufl., 1992 ff.; sowie die Kommentierungen zu §§ 44, 69, 69a, 142 in: Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch (LK), 12. Aufl., 2006 ff.; vgl. ferner neben der Freiburger Dissertationsschrift mit dem Titel „Die Bemessung der Sperrfrist bei
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genden Erörterungen bei ihm auf Interesse stoßen werden. Folgendes Beispiel soll dabei als Einstieg dienen: Ausgangsfall: 4 A fährt mit seinem PKW von einer feuchtfröhlichen Weihnachtsfeier nach Hause. Infolge des reichlich genossenen Alkohols ist er nicht mehr in der Lage, sein Fahrzeug im Straßenverkehr sicher zu führen. Auf Grund dessen sieht er, auf einer dunklen Landstraße fahrend, den ordnungsgemäß vor ihm fahrenden Mofafahrer M zu spät und kollidiert mit ihm. M bleibt schwer verletzt im Straßengraben liegen. A hält seinen PKW an und steigt aus. Obwohl er zutreffend davon ausgeht, dass M zwar noch lebt, er aber ohne sofortige Hilfe sterben würde, unternimmt A nichts und fährt nach Hause, da er Angst davor hat, „seinen Führerschein zu verlieren“.5 M stirbt.
Im Ergebnis ist man sich hier darüber einig, dass A jedenfalls wegen eines Totschlags durch Unterlassen zu bestrafen ist. Fraglich ist lediglich, ob in der vorliegenden Konstellation auch ein Mord infolge Verdeckungsabsicht anzunehmen ist.6 Die daneben verwirklichten § 315c Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a, Abs. 3 Nr. 2, § 316, § 142 Abs. 1 Nr. 2 StGB spielen dagegen für das Strafmaß keine wesentliche Rolle (die verwirklichten Verkehrsdelikte sind allerdings für die Maßregel der „Entziehung der Fahrerlaubnis“ nach § 69 Abs. 1, Abs. 2 der strafgerichtlichen Entziehung der Fahrerlaubnis“ aus dem Jahre 1968 u.a. Geppert GA 1970, 1; ders. ZStW 83 (1971), 947; ders. NJW 1971, 2154; ders. MDR 1972, 280; ders. JuS 1972, 271; ders. GA 1979, 281; ders. DAR 1980, 315; ders. JURA 1980, 204; ders. ZRP 1981, 85; ders. DAR 1981, 303; ders. NStZ 1984, 264; ders. NStZ 1985, 264; ders. Blutalkohol 1986, 157; ders. JURA 1986, 532; ders. NStZ 1986, 552; ders. Blutalkohol 1987, 262; ders. DAR 1988, 12; ders. Blutalkohol 1990, 23; ders. JURA 1990, 78; ders. Blutalkohol 1991, 31; ders. Seebode-FS, 1992, S. 655; ders. Blutalkohol 1992, 289; ders. JURA 1995, 310; ders. JURA 1996, 47; ders. JURA 1996, 639; ders. DAR 1997, 260; ders. DAR 2000, 106; ders. JURA 2001, 559; ders. DAR 2002, 11; ders. JR 2002, 114; ders. Gössel-FS, 2002, S. 303; ders. NStZ 2003, 288; ders. Lampe-FS, 2003, S. 839; ders. DAR 2007, 258; ders. DAR 2008, 125; ders. Eisenberg-FS, 2009, S. 287. 4 Vgl. zu ähnlichen Konstellationen BGHSt 7, 287; BGH VRS 13 (1957), 120; BGH VRS 17 (1959), 187; zum genannten Ausgangsfall auch B. Heinrich Strafrecht Allgemeiner Teil, Band I, 2. Aufl. 2010, Rn. 221 ff.; Kindhäuser Strafrecht Allgemeiner Teil, 4. Aufl. 2009, § 35 Rn. 2; Otto Grundkurs Strafrecht, Allgemeine Strafrechtslehre, 7. Aufl. 2004, § 6 Rn. 64 Bsp. 3; ders. Maurach-FS, 1972, S. 91 (99); Rengier Strafrecht, Allgemeiner Teil, 2009, § 49 Vor Rn. 1 Fall 1; ders. Strafrecht, Besonderer Teil II, 10. Aufl. 2009, § 4 Rn. 64. 5 Erstaunlicherweise ist die Angst vor der Entziehung der Fahrerlaubnis in solchen Situationen oft für den Betreffenden weitaus dominierender als die Angst vor strafrechtlichen Konsequenzen, denen sich viele nicht einmal so richtig bewusst sind. 6 Die Möglichkeit eines Verdeckungsmordes durch Unterlassen grundsätzlich ablehnend: Grünwald Mayer-FS, 1966, S. 281 (290); ders. JuS 1965, 311 (313); Jescheck JZ 1961, 752 (752 f.); jedenfalls in der vorliegenden Konstellation ablehnend: BGHSt 7, 287 (289 ff.); Freund JuS 1990, 213 (217); Freund/Schaumann JuS 1995, 801 (805 f.); Hellmann JuS 1990, L 61 (L 63); Mitsch JuS 1996, 213 (219); Roxin Lüderssen-FS, 2002, S. 577 (584 f.); die Möglichkeit eines Mordes durch Unterlassen dagegen annehmend: BGHSt 38, 356 (358); BGH NJW 1989, 2479 (2480); BGH NJW 1992, 583; BGH NJW 2000, 1730 (1732); BGH NJW 2003, 1060; LK-Jähnke (Fn. 3), 11. Aufl., § 211 Rn. 20; Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch (MüKo)-Schneider 2003 ff., § 211 Rn. 196; Otto JURA 1994, 141 (152); Schönke/Schröder-Eser Strafgesetzbuch, 28. Aufl. 2010, § 211 Rn. 35.
Das vorsätzliche „Dazwischentreten“ des Täters in seine eigene Tat
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Nr. 1, 2, 3 StGB von entscheidender Bedeutung). Im strafrechtlichen Gutachten stößt man jedoch schon früh auf ein ganz anderes Problem: Durch den fahrlässig verursachten Unfall liegt nämlich konstruktiv nicht nur eine Strafbarkeit nach § 315c Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a, Abs. 3 Nr. 2 StGB vor, sondern der Täter hat hierdurch auch einen kausalen Beitrag zur Tötung des Opfers geleistet. Folgt man nämlich der klassischen „Äquivalenztheorie“ (und auch die „Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung“ käme in diesem Fall kaum zu einem anderen Ergebnis7), so lässt sich das Verhalten des Täters (Autofahren) nicht hinweg denken, ohne dass der Erfolg in seiner konkreten Gestalt (Tod des Opfers) entfiele. Auch der Sorgfaltspflichtverstoß sowie der Pflichtwidrigkeitszusammenhang sind gegeben, denn der Unfall beruhte darauf, dass der Täter alkoholbedingt fahruntauglich war und infolgedessen den vor ihm fahrenden Mofafahrer nicht bemerkte. Wäre dieser an Ort und Stelle verstorben, so wäre an einer strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Täters wegen einer fahrlässigen Tötung, § 222 StGB, nicht zu zweifeln. Insofern kann dann aber der Umstand, dass das Opfer nicht sogleich, sondern erst etwas später stirbt, an sich an der Beurteilung nichts ändern. Infolge der „Zäsur“, die durch den Unfall eintritt, wird nun zumindest hinsichtlich der begangenen Trunkenheitsfahrt davon ausgegangen, dass regelmäßig zwei in Tatmehrheit stehende Fahrten vorliegen, wenn der Täter nach dem Bemerken des Unfalls weiterfährt.8 Überträgt man diesen Gedanken auf die Tötungsdelikte, käme man jedoch zu dem seltsam anmutenden Ergebnis, dass neben einer fahrlässigen Tötung durch aktives Tun (Verursachung des Unfalls) eine durch eine andere (spätere) Tat verursachte und daher in Tatmehrheit hierzu stehende Tötung (bzw. ein Mord) durch Unterlassen stünde. Dass in solchen Konstellationen zwei unterschiedliche Taten anzunehmen sind, ist allerdings auch in denjenigen Fällen unstreitig, in denen das Opfer nach dem Unfall nicht mehr zu retten war, der Täter dies aber irrtümlich verkannte und sich mit (bedingtem) Tötungsvorsatz entfernt. Hier wird überwiegend Tatmehrheit (§ 53 StGB) zwischen der durch die Verursachung des Unfalls begangenen fahrlässigen Tötung und dem durch die Nichtrettung begangenen versuchten Totschlag (bzw. Mord) durch Unterlassen angenommen.9 Die Annahme zweier Taten hätte im Ausgangsfall allerdings zur Folge, dass der Täter wegen zwei vollendeter Tötungsdelikte bestraft würde. Da aber derselbe Mensch nicht zwei Mal nacheinander getötet werden kann, ist
7
Zu diesen beiden Ansichten vgl. nur B. Heinrich AT I (Fn. 4), Rn. 221 ff. m.w.N. BGHSt 21, 203 (204 f.); BGHSt 23, 141 (144); BGH VRS 13 (1957), 120 (121 f.); so auch Geppert JuS 1972, 271 (274); differenzierend Schönke/Schröder-Stree/SternbergLieben (Fn. 6), Vorbem. §§ 52 Rn. 85 ff. 9 BGHSt 7, 287 (288 f.); BGH VRS 17 (1959), 187 (191); Hellmann JuS 1990, L 61 (L 64); Seelmann JuS 1987, L 33 (L 35); vgl. auch Hohmann/Matt JURA 1990, 544 (551). 8
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man sich im Ergebnis darüber einig, dass die fahrlässige Tötung in dieser Konstellation hinter der vorsätzlichen Tötung durch Unterlassen zurücktreten muss. Die Begründung ist allerdings umstritten. So wäre einerseits daran zu denken, eine Lösung auf Konkurrenzebene zu suchen. Bleibt man bei der Beurteilung, dass es sich bei der Verursachung des Unfalls und dem späteren Sich-Entfernen um zwei verschiedene Taten handelt, so könnte die fahrlässige Tötung hier als mitbestrafte Vortat angesehen werden, wobei es allerdings fraglich ist, ob ein Fahrlässigkeitsdelikt überhaupt als mitbestrafte Vortat eines späteren Vorsatzdeliktes angesehen werden kann.10 Andererseits wäre es auf Grund des vorliegenden engen zeitlichen und räumlichen Zusammenhangs auch denkbar, im Hinblick auf die Tötung nur eine Tat anzunehmen, wobei dann begründungsbedürftig wäre, warum dies bei den gleichzeitig vorliegenden Verkehrsdelikten (und bei der Kombination von Fahrlässigkeits- und Versuchsdelikt) anders zu beurteilen wäre.11 Eine dritte denkbare Lösung besteht darin, bereits die Frage der objektiven Zurechnung zu thematisieren und sich zu überlegen, ob der tödliche Erfolg hier überhaupt eine dem Täter zurechenbare Folge des fahrlässig verursachten Unfalls darstellt oder ob dieser Erfolg nicht vielmehr (allein) an das sich daran anschließende vorsätzliche Unterlassen anknüpft.12 Dieses Lösungsmodell soll im Folgenden genauer untersucht werden.
B. Lösungsmodell „Objektive Zurechnung“ Geht man davon aus, dass – jedenfalls bei Erfolgsdelikten – neben der kausalen Verursachung des Erfolges auch eine objektive Zurechnung dieses Erfolges zum Täterhandeln erforderlich ist, um die ansonsten zu weit reichende Strafbarkeit einzuschränken,13 so ist (unter rein normativen Gesichtspunkten) zu prüfen, unter welchen Voraussetzungen der tatbestandliche Erfolg tatsächlich (auch) als „Werk des Täters“ und nicht lediglich als Werk des Zufalls oder (ausschließlich) als Werk einer anderen Person anzusehen ist. Während die Rechtsprechung die Rechtsfigur der „objektiven Zurechnung“
10 So Kindhäuser AT (Fn. 4), § 35 Rn. 6; Rengier AT (Fn. 4), § 49 Rn. 18; vgl. auch ders. Erfolgsqualifizierte Delikte und verwandte Erscheinungsformen, 1986, S. 177; ders. BT II (Fn. 4), § 4 Rn. 64: „subsidiär“. 11 Man könnte hier allerdings argumentieren, dass bei der Trunkenheitsfahrt (= Tätigkeitsdelikt) die Handlung mit dem Anhalten des Fahrzeugs abgeschlossen ist und das spätere Weiterfahren eine neue Tat darstellt, während das Tötungsdelikt insoweit „fortwirkt“, als der Erfolg (= Tod) noch auf die ursprüngliche Handlung zurückzuführen ist. 12 Vgl. hierzu bereits B. Heinrich AT I (Fn. 4), Rn. 254a; Otto (Fn. 4), § 6 Rn. 64; ders. Maurach-FS, 1972, S. 91 (99); in diese Richtung auch Kett-Straub/Linke JuS 2008, 717 (718). 13 Vgl. hierzu B. Heinrich AT I (Fn. 4), Rn. 239 ff.
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bislang noch nicht ausdrücklich als solche anerkannt hat, obwohl in vielen Entscheidungen (allerdings zumeist sehr undifferenziert) von „Zurechnung“ gesprochen wird,14 wird die Notwendigkeit einer „objektiven Zurechnung“ in der Literatur zumindest bei Fahrlässigkeitsdelikten weitgehend angenommen. Dabei wird im Allgemeinen davon ausgegangen, dass ein tatbestandlicher Erfolg dem Täter (nur) dann objektiv zugerechnet werden kann, wenn das für den Erfolg ursächliche Verhalten ein rechtlich missbilligtes Risiko des Erfolgseintritts geschaffen hat, welches sich im Erfolg in seiner konkreten Gestalt auch in tatbestandstypischer Weise realisierte.15 Ausgehend von dieser Grundüberlegung wurden verschiedene Fallgruppen entwickelt, in denen entweder bereits die Schaffung eines rechtlich missbilligten Risikos abgelehnt wird (beim sog. „erlaubten Risiko“ bzw. bei der „Risikoverringerung“) oder aber davon ausgegangen wird, dass sich das geschaffene Risiko jedenfalls nicht im konkret eingetretenen Erfolg realisiert hat (bei atypischen Kausalverläufen, beim fehlenden Pflichtwidrigkeitszusammenhang, wenn der Schutzzweck der Norm nicht betroffen ist, bei der freiverantwortlichen Selbstschädigung bzw. Selbstgefährdung sowie beim vorsätzlichen Dazwischentreten Dritter).16 Die genannten Fallgruppen dienen allerdings nur als Hilfskonstruktionen und sind in ihrer Reichweite durchaus umstritten. Dies gilt insbesondere für die zuletzt genannte Fallgruppe des vorsätzlichen Dazwischentretens Dritter.17 Diese Konstellation soll im Folgenden näher untersucht werden. Sollte sich erweisen, dass das vorsätzliche Dazwischentreten Dritter im Ausgangsfall den Zurechnungszusammenhang unterbrechen würde, wäre anschließend zu prüfen, ob diese Grundsätze auch auf den Täter selbst übertragen werden können, der Täter also auch selbst durch ein späteres vorsätzliches Verhalten den Zurechnungszusammenhang seiner vorhergehenden (fahrlässig begangenen) Tat unterbrechen kann.18 14 Vgl. insbesondere BGHSt 46, 107 (110); BGH NJW 2000, 2286 (2287): „dass der Gesichtspunkt der Selbstgefährdung nach der positiv-rechtlichen Entscheidung des Gesetzgebers die objektive Zurechnung der Todesfolge nicht hindern soll“; BGH NJW 2000, 3013 (3014); BGH NJW 2006, 526 (528): „[die] allgemein anerkannten Regeln etwa über die objektive Zurechnung“; BGH NStZ 2009, 467 (468); ferner BGHSt 45, 270 (296); BGHSt 48, 77 (90); BGHSt 50, 1 (1 f., 10 f.); BGHSt 54, 44 (51). 15 Vgl. hierzu B. Heinrich AT I (Fn. 4), Rn. 243 f.; Krey Deutsches Strafrecht, Allgemeiner Teil, Band 1, 3. Aufl. 2008, Rn. 287; Wessels/Beulke Strafrecht Allgemeiner Teil, 39. Aufl. 2009, Rn. 179; ferner Geppert JURA 2001, 490 (491). 16 Vgl. hierzu B. Heinrich AT I (Fn. 4), Rn. 245 ff.; B. Heinrich/Reinbacher JURA 2005, 743 (744). 17 Vgl. hierzu B. Heinrich AT I (Fn. 4), Rn. 253 ff.; ders. Strafrecht Allgemeiner Teil, Band II, 2. Aufl. 2010, Rn. 869, 1050 ff.; auch Geppert JURA 2001, 490 (491) bezeichnet diese Fallgruppe der Verantwortungsbereiche Dritter als „noch heftig umstritten“. 18 Dies wird für zulässig angesehen von Otto (Fn. 4), § 6 Rn. 55; ders. Maurach-FS, 1972, S. 91 (99); ders. Lampe-FS, 2003, S. 491 (511 f.); darüber hinaus ist es zB aber auch aner-
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C. Das vorsätzliche Dazwischentreten Dritter als Fallgruppe der objektiven Zurechnung Wie bereits ausgeführt, ist das „vorsätzliche Dazwischentreten eines Dritten“ vom Grundsatz her eine anerkannte Fallgruppe des Ausschlusses der objektiven Zurechnung. Objektiv nicht zurechenbar sind hiernach jedenfalls Verhaltensweisen, die zwar ein rechtlich relevantes Risiko schaffen, bei denen der Erfolg aber erst dadurch eintritt, dass ein Dritter vorsätzlich und vollverantwortlich eine neue, an die ursprüngliche Handlung anknüpfende, selbstständig auf den Erfolg hinwirkende Gefahr begründet, die sich dann auch im konkreten Erfolg realisiert.19 Begründet wird der Ausschluss der objektiven Zurechnung dabei überwiegend mit dem Gedanken der notwendigen Abschichtung von Verantwortungsbereichen. Der Einzelne soll nur für sein eigenes, nicht aber für fremdes Verhalten verantwortlich gemacht werden können. So ging schon die früher vertretene – von der überwiegenden Ansicht in der Literatur jedoch abgelehnte – „Lehre vom Regressverbot“20 davon aus, dass man im Regelfall darauf vertrauen können muss, dass andere keine vorsätzlichen Straftaten begehen. Dieser Gedanke, den die Lehre vom Regressverbot auf Kausalitätsebene fruchtbar zu machen suchte, hat später im Rahmen der objektiven Zurechnung in abgewandelter Form eine Vielzahl von Anhängern gefunden. Entscheidende Voraussetzung für eine Unterbrechung des Zurechnungszusammenhangs ist dabei aber, dass der Zweithandelnde vorsätzlich handelt. Dagegen kann ein lediglich fahrlässiges Verhalten den Zurechnungszusammenhang nicht unterbrechen, selbst wenn der fahrlässig Handelnde eine neue Kausalkette in Gang setzt, die zum Erfolg in seiner konkreten Gestalt führt. Denn einerseits beruht der Erfolg auch in diesen Fällen noch auf dem Verhalten des Ersthandelnden (sonst würde es bereits an der Kausalität mangeln), andererseits kann dem fahrlässig Dazwischentretenden kein schwererer Vorkannt, dass der Zurechnungszusammenhang durch das Opfer selbst unterbrochen werden kann, wenn es nach einer Verletzung eine problemlos mögliche Heilbehandlung unterlässt und daraufhin verstirbt. Diese Verhaltensweisen werden aber regelmäßig schon im Rahmen der Fallgruppe der freiverantwortlichen Selbstgefährdung bzw. -schädigung des Opfers diskutiert; vgl. nur den Fall BGH NStZ 1994, 394; hierzu Geppert JURA 2001, 490 (492); B. Heinrich AT II (Fn. 17), Rn. 1048. 19 Vgl. hierzu B. Heinrich AT I (Fn. 4), Rn. 253; B. Heinrich/Reinbacher JURA 2005, 743 (744); Krey AT 1 (Fn. 15), Rn. 308 f.; Wessels/Beulke (Fn. 15) Rn. 192 f. 20 Entwickelt von Frank Das Strafgesetzbuch für das deutsche Reich, 18. Aufl. 1931, § 1 III 2a; vgl. auch Lampe ZStW 71 (1959), 579 (614); Naucke ZStW 76 (1964), 409 (424 ff.); Otto Maurach-FS, 1972, 91 (96 ff.); kritisch hierzu Geppert JURA 2001, 490 (491); Roxin Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. I – Grundlagen: Der Aufbau der Verbrechenslehre, 4. Aufl. 2006, § 11 Rn. 28; ders. Tröndle-FS, 1989, S. 177; Schünemann GA 1999, 207 (223 f.); Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch (SK)-Rudolphi Loseblattsammlung, 117. Aktualisierungslieferung Stand 7/2009, Vor § 1 Rn. 72.
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wurf gemacht werden als demjenigen, der die Kausalkette (sei es vorsätzlich oder fahrlässig) in Gang gesetzt hat. Dies folgt daraus, dass für eine Strafbarkeit wegen einer Fahrlässigkeitstat grundsätzlich jede Sorgfaltswidrigkeit ausreicht, die zur Herbeiführung des Erfolges geführt hat. Insoweit können mehrere Personen nebeneinander für einen strafrechtlichen Erfolg verantwortlich sein, ohne dass eine graduelle Abstufung im Rahmen des Fahrlässigkeitsvorwurfes erfolgt, da das Gesetz – zumindest im Regelfall – alle Formen der Fahrlässigkeit gleich behandelt.21 Dann aber kann dem fahrlässig handelnden Zweittäter – anders als beim vorsätzlichen Dazwischentreten eines Dritten – niemals ein schwererer Vorwurf gemacht werden, der Erfolg ist nicht allein „sein Werk“, sondern das Werk sowohl des einen als auch des anderen Täters. Im Ergebnis kann sich also ein fahrlässig handelnder Täter nicht auf die Fahrlässigkeit des anderen Tatbeteiligten berufen, selbst wenn durch die Zweithandlung eine völlig neue Gefahr geschaffen wurde, die den Erfolg in seiner konkreten Gestalt modifiziert. Dagegen spielt es für die Strafbarkeit des Ersthandelnden keine Rolle, ob dieser vorsätzlich oder fahrlässig gehandelt hat, denn es kommt im Hinblick auf den Ausschluss der objektiven Zurechnung allein darauf an, ob dem Dritten Vorsatz oder Fahrlässigkeit zur Last gelegt werden kann. Insoweit ergeben sich mehrere Fallkonstellationen, die im Folgenden näher betrachtet werden sollen: Fallvariante 1: A bemerkt im Ausgangsfall die Kollision nicht (oder hält den Mofafahrer M bereits für tot und jede Hilfeleistung daher für sinnlos). Nachdem er sich mit seinem PKW entfernt hat, betritt zufällig die Ehefrau E des M den Schauplatz und realisiert, dass ihr schwer verletzter Gatte blutüberströmt im Straßengraben liegt. Da sie schon länger mit dem Gedanken spielt, sich ihres Ehemannes zu entledigen, sieht sie ihre Chance gekommen. Sie nimmt einen Stein und erschlägt den auf Grund des Unfalls wehrlosen M.
In dieser Fallvariante kommt für A (neben der Strafbarkeit nach § 315c Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a, Abs. 3 Nr. 2 StGB) nur eine Strafbarkeit wegen einer fahrlässigen Tötung durch die Verursachung des Unfalls in Frage. Allerdings stellt sich die Frage, ob ihm der Tod auch objektiv als „sein Werk“ zugerechnet werden kann. Dies ist jedenfalls dann nicht der Fall, wenn die von A verursachte Verletzung allein nicht zum Tod des M geführt hätte. Zwar wäre sein Verhalten auch in diesen Fällen noch kausal für den tödlichen Erfolg (da die E den M ohne den Unfall jedenfalls nicht in dieser Weise und zu diesem Zeitpunkt hätte erschlagen können), dieser Erfolg läge jedoch außerhalb des Schutzzweckes der Norm: Das Gebot, im Straßenverkehr nicht alkoholisiert
21 Anders ist dies lediglich in denjenigen Fällen, in denen das Gesetz ausdrücklich ein „leichtfertiges“ Handeln verlangt, wie zB bei der Geldwäsche, § 261 Abs. 5 StGB, oder beim Raub mit Todesfolge, § 251 StGB. In diesen Fällen hat die Leichtfertigkeit jedoch regelmäßig eine strafbegründende Wirkung. Es findet hingegen keine graduelle Abstufung zwischen verschiedenen Fahrlässigkeitsformen statt.
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zu fahren, soll nicht davor schützen, dass bei einem hierdurch verursachten Unfall das nunmehr hilflose Opfer von einem Dritten erschlagen wird.22 Hätte dagegen auch die durch den Unfall verursachte Verletzung (später, d.h. ohne Einwirkung der E) zum Tod des M geführt, stellt sich die bereits angesprochene Frage, ob dieser Tod infolge des vorsätzlichen und schuldhaften Dazwischentretens eines Dritten (hier: der Ehefrau E) dem A noch zugerechnet werden kann.23 Während einige die Zurechnung in diesen Konstellationen grundsätzlich ablehnen,24 wird – insbesondere von der Rechtsprechung – die Zurechnung in diesen Fällen nicht weiter problematisiert und allein die kausale (Mit-)Verursachung für den Tod als ausreichend erachtet.25 Die wohl überwiegende Ansicht in der Literatur hingegen differenziert:26 Ein vorsätzliches und schuldhaftes Dazwischentreten eines vollverantwortlich handelnden Dritten kann dem die Vorbedingungen schaffenden Ersthandelnden jedenfalls dann (aber auch nur dann) zugerechnet werden, wenn entweder
22
Vgl. hierzu auch Otto Lampe-FS, 2003, S. 491 (502). Vgl. zu diesem „Standardproblem“ B. Heinrich AT II (Fn. 17), Rn. 1050 ff.; Hillenkamp 32 Probleme aus dem Strafrecht, Allgemeiner Teil, 12. Aufl. 2006, 32. Problem; darauf hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang, dass das fahrlässige Sich-Entfernen des A jedenfalls die objektive Zurechnung im Hinblick auf die Ersthandlung (= Unfall) nicht unterbricht. 24 Köhler Strafrecht, Allgemeiner Teil, 1997, S. 145 f.; Maurach/Gössel/Zipf Strafrecht Allgemeiner Teil, Teilband 2, 1989, § 43 Rn. 74; Otto (Fn. 4), § 6 Rn. 53 ff. (differenzierend allerdings ders. Lampe-FS, 2003, S. 491 [502 ff.]); Rutkowsky NJW 1963, 166; so auch die bereits genannte Lehre vom Regressverbot; vgl. Naucke ZStW 76 (1964), 409 (424 ff.); Otto Maurach-FS, 1972, S. 91 (97 ff.). 25 RGSt 61, 318 (320); BGHSt 4, 360 (361 f.); BGHSt 7, 268; OLG Karlsruhe MDR 1986, 431; aus der Literatur: Baumann/Weber/Mitsch Strafrecht Allgemeiner Teil, 11. Aufl. 2003, § 14 Rn. 33, 36; Fischer Strafgesetzbuch und Nebengesetze, 57. Aufl. 2010, Vor § 13 Rn. 38; Jescheck/Weigend Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996, § 54 IV 2; Maurach/Zipf Strafrecht Allgemeiner Teil, Teilband 1, 8. Aufl. 1992, § 18 Rn. 62; NomosKommentar zum Strafgesetzbuch (NK)-Puppe, 3. Aufl. 2010, Vor §§ 13 ff. Rn. 253 f.; Puppe JURA 1998, 21 (26 f.); Schmidhäuser Strafrecht Allgemeiner Teil, Studienbuch, 2. Aufl. 1984, 5/73; vgl. auch Zieschang Strafrecht Allgemeiner Teil, 2005, S. 111; dies gilt nach Ansicht des BGH auch (oder erst recht), wenn der Ersttäter den Erfolg vorsätzlich herbeiführen wollte, vgl. BGH NStZ 1992, 333 (334); BGH NStZ 2001, 29 (30); dagegen Dencker NStZ 1992, 311; Otto (Fn. 4), § 6 Rn. 56; ders. Lampe-FS, 2003, S. 491 (494 f., 502); Puppe Strafrecht Allgemeiner Teil im Spiegel der Rechtsprechung, Band 1, 2002, § 10 Rn. 7; dies. JR 1992, 511; Saito Roxin-FS, 2001, S. 261 (268 f.). 26 B. Heinrich AT II (Fn. 17), Rn. 1053; Jäger Examens-Repetitorium Strafrecht Allgemeiner Teil, 4. Aufl. 2009, Rn. 58; Kühl Strafrecht, Allgemeiner Teil, 6. Aufl. 2008, § 4 Rn. 49; ders. JA 2009, 321 (326 f.); LK-Schroeder (Fn. 3), 11. Aufl., § 16 Rn. 184; LK-Walter (Fn. 3), 12. Aufl., § 16 Rn. 109; Morgenstern JuS 2006, 251 (256); MüKo-Duttge (Fn. 6), § 15 Rn. 145 ff.; Neumann JR 1993, 161 (162); Roxin AT I (Fn. 20), § 24 Rn. 26 ff.; Schönke/ Schröder/Sternberg-Lieben (Fn. 6), § 15 Rn. 171; Schönke/Schröder-Lenckner/Eisele (Fn. 6), Vorbem §§ 13 ff. Rn. 100 ff.; SK-Rudolphi (Fn. 20), Vor § 1 Rn. 72; vgl. allerdings auch BGHSt 19, 152 (155); BGHSt 26, 35 (38). 23
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erkennbare Anzeichen für die Tatgeneigtheit des Dritten vorliegen27 (andere lassen hingegen eine bloße „Vorhersehbarkeit“ bzw. „Wahrscheinlichkeit“ der Tatverwirklichung durch Dritte genügen28) oder der Ersthandelnde als Garant zur Schadensvermeidung verpflichtet ist.29 Letzteres ist insbesondere dann anzunehmen, wenn dem Täter der Umgang mit bestimmten Gegenständen (zB Waffen) nur dann gestattet wird, wenn er Sicherungsmaßnahmen ergreift, um einen Missbrauch durch andere und damit eben gerade den später durch einen anderen verursachten Erfolg zu verhindern.30 Beides träfe im vorliegenden Fall nicht zu. Zwar besitzt A auch hier eine Garantenstellung aus Ingerenz, eine solche kann jedoch, da sie gerade nicht unabhängig von dem schädigenden Ereignis besteht, sondern ausschließlich auf diesem beruht, hier nicht ausreichen. Denn diese Garantenpflicht verpflichtet den A nur dazu, dem M zu helfen, nicht jedoch dazu, grundsätzlich Schäden von ihm abzuwenden, die ihm von Dritten drohen. Dieser differenzierenden Beurteilung ist zu folgen. Denn in aller Regel hat jeder sein Verhalten nur darauf einzurichten, dass er selbst keine fremden Rechtsgüter gefährdet, er muss nicht gleichzeitig dafür Sorge tragen, dass auch andere Personen keine Gefährdungshandlungen vornehmen, die an sein pflichtwidriges Verhalten anknüpfen.31 Das sanktionsfreie Vertrauen endet lediglich dann, wenn sich dem Ersthandelnden aufdrängen muss, dass sein Verhalten zur Deliktsverwirklichung durch Dritte führen wird oder wenn er eine besondere Schutzpflicht besitzt. Fraglich ist dieses Ergebnis allerdings dann, wenn der (vorsätzlich handelnde) Dritte keine neue, auf den Erfolg gerichtete Kausalreihe in Gang setzt, sondern es schlicht unterlässt, den (vom Ausgangstäter verursachten) Erfolg abzuwenden: Fallvariante 2: Wie in Fallvariante 1 bemerkt A die Kollision nicht (oder hält den Mofafahrer M bereits für tot und jede Hilfeleistung daher für sinnlos). Nachdem er sich mit seinem PKW entfernt hat, betritt wiederum die Ehefrau E des M den Schauplatz und stellt
27 Frister Strafrecht Allgemeiner Teil, 3. Aufl. 2008, 10. Kap. Rn. 13; Gropp Strafrecht Allgemeiner Teil, 3. Aufl. 2005, § 12 Rn. 44; Kühl (Fn. 26), § 4 Rn. 49; LK-Schroeder (Fn. 3), 11. Aufl., § 16 Rn. 184; MüKo-Duttge (Fn. 6), § 15 Rn. 147; Puppe JURA 1998, 21 (26 f.); Roxin AT I (Fn. 20), § 24 Rn. 28; ders. Tröndle-FS, 1989, S. 177 (190 ff.); SK-Rudolphi (Fn. 20), Vor § 1 Rn. 72; abweichend Jakobs ZStW 89 (1977), 1 (30). 28 Jäger (Fn. 26), Rn. 58; Krey AT 1 (Fn. 15), Rn. 309; SK-Rudolphi (Fn. 20), Vor § 1 Rn. 72 („konkrete Anhaltspunkte“); vgl. auch Schmoller Triffterer-FS, 1996, S. 223 (244); Wessels/Beulke (Fn. 15), Rn. 192. 29 Jakobs ZStW 89 (1977), 1 (30); LK-Walter (Fn. 3), 12. Aufl., § 16 Rn. 109; Otto Wolff-FS, 1998, S. 395 (408); Schönke/Schröder-Lenckner/Eisele (Fn. 6), Vorbem §§ 13 ff. Rn. 101d; SK-Rudolphi (Fn. 20), Vor § 1 Rn. 72; ablehnend zu diesem Kriterium allerdings MüKo-Duttge (Fn. 6), § 15 Rn. 147; Roxin AT I (Fn. 20), § 24 Rn. 33. 30 Vgl. hierzu Schünemann GA 1999, 207 (224); Wessels/Beulke (Fn. 15), Rn. 192. 31 So auch Roxin AT I (Fn. 20), § 24 Rn. 26; Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben (Fn. 6), § 15 Rn. 171; SK-Rudolphi (Fn. 20), Vor § 1 Rn. 72.
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fest, dass ihr schwer verletzter Gatte blutüberströmt im Straßengraben liegt. Obwohl sie erkennt, dass M noch zu retten ist, beschließt sie nach kurzer aber reiflicher Überlegung, M seinem Schicksal zu überlassen. Sie entfernt sich, worauf M an den Folgen des Unfalls verstirbt.
Diese Variante unterscheidet sich von der Fallvariante 1 dadurch, dass E den M nicht durch aktives Tun tötet, sondern die ihr mögliche Rettung des M unterlässt. Wenn man nun aber davon ausgeht, dass das Gesetz Tun und Unterlassen im Regelfall als gleichwertig ansieht (und E daher hier wegen eines Totschlags durch Unterlassen bestraft werden könnte), muss dies auch dazu führen, dass der Zurechnungszusammenhang jedenfalls im Hinblick auf das vorherige fahrlässige Verhalten des A unterbrochen wird. Dagegen könnte allerdings sprechen, dass durch E im vorliegenden Beispiel keine neue Kausalkette in Gang gesetzt wurde, sich also der Tod des M genau in der Weise und in der Gestalt verwirklichte, wie A ihn verursacht hat. Auch besitzen sowohl A (aus Ingerenz) also auch E (infolge natürlicher Verbundenheit) in gleicher Weise eine Garantenstellung, wobei man auch nicht davon ausgehen kann, dass die eine Garantenstellung der anderen „vorgeht“. Nimmt man jedoch die „Abschichtung der Verantwortungsbereiche“ ernst, so muss es auch in dieser Konstellation entscheidend darauf ankommen, dass der Ausgangstäter den Tod lediglich fahrlässig verursacht hat, während der hinzukommende Garant vorsätzlich handelte.32 Für einen Ausschluss der Zurechnung des fahrlässigen Verhaltens des Ausgangstäters spricht hier insbesondere, dass durch E zwar keine eigenständige neue Gefahr begründet wird, sich aber der Charakter des Gesamtgeschehens durch den „Eintritt“ des vorsätzlich unterlassenden Garanten ändert. Die fahrlässige Erstverursachung des Erfolges wird durch das überwiegende Verschulden des vorsätzlich untätig bleibenden Garanten überlagert. Man stelle sich nur vor, dass A den M fahrlässig verletzt, diesen dann zur Abwendung des Schadens ins Krankenhaus gebracht hat, wo der behandelnde Arzt die erforderlichen lebensrettenden Maßnahmen vorsätzlich unterlässt. In einem solchen Fall wird – noch klarer als in der Fallvariante 2 – deutlich, dass der tödliche Erfolg dem fahrlässig handelnden Ersttäter nicht mehr angelastet werden kann. Dieses Ergebnis kann zudem wiederum mit dem Vertrauensgrundsatz begründet werden: Selbst wenn man sich im Rechtsverkehr sorgfaltspflichtwidrig ver32 Diese Konsequenz wird allerdings von der überwiegenden Ansicht nicht gezogen; gegen den Ausschluss der objektiven Zurechnung in diesen Fällen Frisch Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs, 1988, S. 430 ff.; Kindhäuser AT (Fn. 4), § 11 Rn. 47; Kühl (Fn. 26), § 4 Rn. 51; Otto Lampe-FS, 2003, S. 491 (503); Renzikowski Restriktiver Täterbegriff und fahrlässige Beteiligung, 1997, S. 108 ff.; Rudolphi JuS 1969, 549 (556); Schmoller Triffterer-FS, 1996, S. 223 (232 ff.); SK-Rudolphi (Fn. 20), Vor § 1 Rn. 74; wie hier lediglich Burgstaller Jescheck-FS, 1985, S. 357 (365); Rengier Erfolgsqualifizierte Delikte (Fn. 10), S. 162 f., 165 f., 176 ff.; sowie bereits Ortmann GA 23 (1875), 268 (280); differenzierend auch Roxin AT I (Fn. 20), § 11 Rn. 143.
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hält, so muss man doch darauf vertrauen dürfen, dass andere jedenfalls nicht vorsätzlich gegen ihre Pflicht zur Rettung des Opfers verstoßen. Insbesondere in denjenigen Fällen, in denen das Opfer selbst zB eine lebensrettende Notoperation verweigert, ist dies auch überwiegend anerkannt.33 Dieses Ergebnis ist auf das pflichtwidrige Unterlassen eines Garanten übertragbar.34 Soweit E also die Erfolgsabwendung vorsätzlich unterlässt, wird, sofern A lediglich fahrlässig handelte, der Zurechnungszusammenhang unterbrochen und A ist nicht nach § 222 StGB zu bestrafen. Insoweit bleibt also festzuhalten, dass stets dann, wenn dem Ausgangstäter ein (lediglich) fahrlässiges Verhalten vorzuwerfen ist, ein daran anknüpfendes vorsätzliches Verhalten eines Dritten, welches zum strafrechtlich unerwünschten Erfolg führt, die objektive Zurechnung dieses Erfolges in Bezug auf den Ersthandelnden ausschließt, gleichgültig ob dem Dazwischentretenden ein Tun oder Unterlassen vorzuwerfen ist. Fraglich ist allerdings, ob dies auch dann gilt, wenn bereits das Verhalten des Ersthandelnden vorsätzlich war: Fallvariante 3: Nachdem A sich im Ausgangsfall mit seinem PKW entfernt hat, obwohl er den Unfall bemerkte und von der Notwendigkeit einer sofortigen Hilfeleistung wusste, betritt wiederum die Ehefrau E des Opfers den Schauplatz, erkennt die Sachlage und erschlägt den verunglückten Mofafahrer M wie in Fallvariante 1 mit einem Stein.
Da sich A in Kenntnis seiner Hilfeleistungspflicht und der Notwendigkeit von Hilfsmaßnahmen vorsätzlich entfernt hat, liegt insoweit an sich ein vorsätzlicher Totschlag durch Unterlassen vor (der nach der hier vorgeschlagen Lösung auch die fahrlässige Tötung durch die vorhergehende Verursachung des Unfalls ausschließt35). Wiederum unterbricht jedoch E den Zurechnungszusammenhang durch ihr aktives Eingreifen, indem sie M erschlägt. Dies folgt daraus, dass E auch hier eine neue Kausalkette in Gang setzt, die den Tod des M in seiner konkreten Gestalt bewirkt. Selbst wenn auch die vorsätzliche Untätigkeit des A den Tod des M (später und in anderer Form) bewirkt hätte, wäre dieser Tod doch in anderer Gestalt eingetreten. Der Tod durch „Erschlagen“ ist somit allein ein Werk der E. Daher ist auch nur E wegen eines vollendeten Totschlags bzw. Mordes nach §§ 212, 211 StGB zu bestrafen. Dem A wird insoweit kein Vollendungsdelikt, sondern nur ein Versuchsdelikt angelastet, da er den Tod des M jedenfalls bedingt vorsätzlich
33 Vgl. Frisch (Fn. 32), S. 448; Geppert JURA 2001, 490 (492); B. Heinrich AT I (Fn. 4), Rn. 1048; Jakobs Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1991, 7. Abschn. Rn. 59; Kindhäuser AT (Fn. 4), § 11 Rn. 54; Kühl JA 2009, 321 (326); LK-Walter (Fn. 3), 12. Aufl., § 16 Rn. 120; Otto (Fn. 4), § 6 Rn. 60; Roxin AT I (Fn. 20), § 11 Rn. 144; vgl. allerdings auch den Fall bei BGH NStZ 1994, 394. 34 Anders hingegen Otto Lampe-FS, 2003, 491 (510), der zur Begründung seiner abweichenden Ansicht § 216 StGB heranzieht. 35 Vgl. hierzu noch unten, Teil D.
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in Kauf genommen hat, sich aber – wie gesehen – nicht diese Gefahr (Tod durch Verbluten), sondern eine andere Gefahr (Tod durch Erschlagen) verwirklicht hat. Dieser Erfolg kann A aber nicht als sein Werk zugerechnet werden.36 Dies gilt im Übrigen auch für die vorhergehende fahrlässige Verursachung des Unfalls, die zwar kausal für den späteren Tod des Opfers wurde, bei der jedoch eine Zurechnung nach den oben im Rahmen der Fallvariante 2 aufgezeigten Gründen entfällt. Fragwürdig wird dieses Ergebnis jedoch, wenn man dem Zweithandelnden kein aktives Tun, sondern ein Unterlassen vorwirft: Fallvariante 4: Nachdem A sich im Ausgangsfall mit seinem PKW entfernt hat, obwohl er den Unfall bemerkte und von der Notwendigkeit einer sofortigen Hilfeleistung wusste, betritt wiederum die Ehefrau E des Opfers den Schauplatz und erkennt die Sachlage. Anders als in Fallvariante 3 unterlässt sie es nun aber lediglich, den verunglückten Mofafahrer M zu retten, weil ihr sein Tod gerade recht kommt. M stirbt.
Im Gegensatz zu den vorigen Fallkonstellationen ist hier sowohl dem A als auch der E ein vorsätzliches Unterlassen vorzuwerfen, wobei sich für A die Rechtspflicht zum Handeln aus seinem pflichtwidrigen Vorverhalten (Verursachung des Unfalls) und für E aus natürlicher Verbundenheit (als Ehefrau) ergibt. Da zwischen A und E keine Absprache getroffen wurde, scheidet ein mittäterschaftliches Unterlassen im vorliegenden Fall aus. Wiederum ist aber zu fragen, ob der spätere Tatentschluss der E, den M sterben zu lassen, den Zurechnungszusammenhang unterbricht. Obwohl auch hier von einer grundsätzlichen Gleichrangigkeit von Tun und Unterlassen auszugehen ist, muss das Ergebnis im vorliegenden Fall anders lauten als in der Fallvariante 2. Denn in Fallvariante 4 unterbricht das Unterlassen der E den Zurechnungszusammenhang deshalb nicht, weil auch dem A ein vorsätzliches Verhalten vorzuwerfen ist, welches in gleicher Weise wie das vorsätzliche Unterlassen der E zum Erfolg führt.37 E setzt dabei auch nicht, wie in Fallvariante 3, eine neue, auf den tatbestandlichen Erfolg gerichtete Ursache, die sich im Erfolg in seiner konkreten Gestalt niederschlägt. Was die Abschichtung der Verantwortungsbereiche angeht, ist der E also kein schwererer Vorwurf zu machen als dem A. Insoweit bleibt also festzuhalten: Setzt der Zweithandelnde durch sein aktives Dazwischentreten vorsätzlich eine neue Kausalkette in Gang, unterbricht dies die Zurechnung im Hinblick auf die Ersthandlung, gleichgültig ob diese vorsätzlich oder fahrlässig stattfand und
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Vgl. Otto (Fn. 4), § 6 Rn. 56. Ergänzend ist noch auf die hier nicht relevante Fallkonstellation hinzuweisen, dass der Ersttäter vorsätzlich handelt (A also im Ausgangsfall den Unfall vorsätzlich herbeiführt und dabei jedenfalls mit bedingtem Tötungsvorsatz handelt) und daraufhin ein Garant vorsätzlich die Rettung unterlässt. Auch hier unterbricht das Unterlassen den Zurechnungszusammenhang nicht; vgl. hierzu Otto (Fn. 4), § 6 Rn. 57; ders. Lampe-FS, 2003, S. 491 (503 ff.); Renzikowski Restriktiver Täterbegriff und fahrlässige Beteiligung, 1997, S. 109 f. 37
Das vorsätzliche „Dazwischentreten“ des Täters in seine eigene Tat
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auch gleichgültig, ob sich diese in einem Tun oder Unterlassen äußerte. Ist dem Zweithandelnden hingegen lediglich ein Fahrlässigkeitsvorwurf zu machen, kann eine solche Unterbrechung des Zurechnungszusammenhangs dagegen nicht angenommen werden, da es sich bei der Frage der objektiven Zurechnung um eine Wertungsfrage handelt, die nicht ausschließlich an der Ingangsetzung einer neuen Kausalkette anknüpft, sondern darüber hinaus auch und besonders berücksichtigt, in wessen Verantwortungsbereich der Erfolg fällt, was wiederum entscheidend davon abhängt, ob ein vorsätzliches oder ein fahrlässiges Verhalten vorliegt. Setzt der Zweithandelnde hingegen keine neue Kausalkette in Gang, sondern unterlässt lediglich pflichtwidrig die erforderliche Rettung, ist zu prüfen, ob ihm unter der Berücksichtigung der jeweiligen Verantwortungsbereiche ein schwerwiegenderer Verstoß vorgeworfen werden kann als dem Ersthandelnden. Dies ist immer dann der Fall, wenn der Zweithandelnde vorsätzlich, der Ersthandelnde hingegen lediglich fahrlässig handelt. In Fallvariante 4 ist dies nicht gegeben, da beide Beteiligten vorsätzlich handelten und insoweit der Tod des M sowohl des Werk des A als auch das Werk der E darstellt.38 Es liegt insoweit der klassische Fall einer Nebentäterschaft vor. Unbeachtlich ist dabei, dass A „lediglich“ mit bedingtem Vorsatz handelte, da das Gesetz den bedingten und den unbedingten Vorsatz – ebenso wie die unterschiedlichen Formen der Fahrlässigkeit – gleich behandelt.
D. Das vorsätzliche Dazwischentreten des Täters in seine eigene Tat Nachdem im vorigen Abschnitt untersucht wurde, in welchem Umfang das Dazwischentreten Dritter den Zurechnungszusammenhang unterbricht, sollen diese Ergebnisse im Folgenden auf die Situation übertragen werden, in welcher der Täter selbst durch ein späteres vorsätzliches Verhalten den tatbestandlichen Erfolg bewirkt. Dabei sind wiederum mehrere Fallkonstellationen möglich: Geht man davon aus, dass nur ein vorsätzliches Zweithandeln den Zurechnungszusammenhang unterbrechen kann, so ist zu untersuchen, inwieweit es eine Rolle spielt, ob der Täter (schon) bei der Ersthandlung vorsätzlich oder fahrlässig handelte. Ferner ist zu überlegen, ob sich am erzielten Ergebnis jeweils etwas ändert, wenn dem Täter im Rahmen seines Zweithandelns statt eines aktiven Tuns ein Unterlassen vorzuwerfen ist, da er nur beim aktiven Tun eine neue, auf einen (anderen) Erfolg in seiner konkreten Gestalt gerichtete Kausalkette in Gang setzt.
38 Dagegen schließt, wie sogleich noch in Teil D zu zeigen sein wird, das vorsätzliche Verhalten sowohl des A selbst als auch der E die objektive Zurechung im Hinblick auf das fahrlässige Vorverhalten des A (fahrlässige Verursachung des Unfalls) aus.
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Fallvariante 5: A fährt mit seinem PKW nachts auf der Landstraße, als er vor sich den Mofafahrer M auftauchen sieht. Da A sich schon mehrfach über M geärgert hat, beschließt er, ihm einen Denkzettel zu verpassen und führt eine Kollision herbei, durch die M schwer verletzt im Straßengraben landet. Bei der Kollision hat A allerdings damit gerechnet, dass er M tödlich verletzen könnte, was er auch billigend in Kauf nahm. A erkennt nun, dass der im Straßengraben liegende M zwar noch lebt, dieser aber sterben wird, wenn er ihm nicht umgehend hilft. Dennoch unternimmt A nichts und fährt davon. M stirbt.
Hier hat A den Tod des M bereits zum Zeitpunkt des Unfalls jedenfalls bedingt vorsätzlich in Kauf genommen. Sein späteres Unterlassen hat insoweit rechtlich keine Bedeutung mehr, da man dem A höchstens vorwerfen könnte, dass er einen zuvor vorsätzlich herbeigeführten Erfolg nun nicht mehr rückgängig gemacht hat. Wer vorsätzlich einen Erfolg herbeführen will, kann aber nicht (auch noch) dafür bestraft werden, dass er den Eintritt des Erfolges im Nachhinein nicht verhindert. Teilweise wird in diesem Zusammenhang bereits die Rechtspflicht zum Handeln (Garantenpflicht) verneint,39 wonach dann in Fallvariante 5 schon tatbestandlich kein Totschlag durch Unterlassen mehr vorläge. Andere lösen dieses Problem erst auf Konkurrenzebene, indem sie davon ausgehen, dass das spätere Unterlassen als mitbestrafte Nachtat zurücktritt.40 Einig ist man sich jedoch darüber, dass der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit hier auf dem aktiven Tun liegt, sofern bereits zu diesem Zeitpunkt ein vorsätzliches Handeln vorliegt. Das spätere vorsätzliche Unterlassen kann daher den Zurechnungszusammenhang nicht unterbrechen.41 Fraglich ist dies jedoch in denjenigen Fällen, in denen dem Täter kein späteres Unterlassen, sondern ein erneutes Tun vorgeworfen werden kann: Fallvariante 6: A verursacht, wie in Fallvariante 5, vorsätzlich eine Kollision, wobei er den Tod des Mofafahrers M wiederum bedingt vorsätzlich in Kauf nimmt. Als er den M nun röchelnd im Straßengraben liegen sieht, erschlägt er ihn, um ihm weitere Leiden zu ersparen, mit einem Stein, obwohl er weiß, dass er ihn auch noch hätte retten können. M, der ohne Hilfsmaßnahmen sonst wenige Stunden später seinen Verletzungen erlegen wäre, stirbt.
Im Gegensatz zum bloßen Unterlassen der Rettung in Fallvariante 5 setzt der Täter nunmehr eine neue, auf den Erfolg gerichtete Ursache durch akti39
BGH NStZ-RR 1996, 131; BGH JR 1999, 294 (295); offen gelassen in BGH NJW 2003, 1060 (1061). 40 B. Heinrich AT II (Fn. 17), Rn. 955a; Kühl (Fn. 26), § 18 Rn. 105a; Rengier AT (Fn. 4), § 50 Rn. 75; Stein JR 1999, 265 (267 ff.); vgl. auch Seelmann JuS 1987, L 33 (L 35): Subsidiarität. 41 Otto Lampe-FS, 2003, S. 491 (512); fraglich könnte dieses Ergebnis höchstens dann sein, wenn das spätere Unterlassen in seinem Unrechtsgehalt schwerer wiegt, weil zB bei einem ursprünglich durch aktives Tun verübten vorsätzlichen Totschlag nunmehr ein Mordmerkmal hinzutritt. Allerdings kann nicht allein die Tatsache, dass jemand nicht möchte, dass sein vorsätzlich begangener Totschlag ans Licht kommt, eine „Verdeckungsabsicht“ begründen; vgl. hierzu B. Heinrich AT II (Fn. 17), Rn. 869, 955a.
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ves Tun. Fraglich ist hier, ob dieses nachfolgende, selbstständige und „erfolgskausale“ Verhalten die objektive Zurechnung des tödlichen Erfolges im Hinblick auf das Ersthandeln (Unfall) ausschließt, sodass die eingetretenen Folgen lediglich der Zweithandlung zugerechnet werden können. Nimmt man den in Fallvariante 3 genannten Gedanken auf, dass hier (im Gegensatz zur bloßen Unterlassung der Rettung) eine neue Kausalkette in Gang gesetzt wurde, die den Erfolg in seiner konkreten Gestalt prägt und die der Täter auch vorsätzlich herbeiführt, so muss man wiederum zu dem Ergebnis kommen, dass der Zurechnungszusammenhang durch das Zweithandeln unterbrochen wird.42 Dabei kann es keine Rolle spielen, dass dieses Mal nicht ein Dritter, sondern der Täter selbst in seine eigene Tat „dazwischentritt“.43 Wird der Zurechnungszusammenhang hier unterbrochen, so gilt das selbstverständlich nicht nur dann, wenn der Täter bei der ersten Handlung vorsätzlich handelte, sondern (erst recht) auch dann, wenn ihm bei dieser ersten Handlung lediglich ein Fahrlässigkeitsvorwurf gemacht werden konnte.44
E. Lösung des Ausgangsfalles Nach diesen Vorüberlegungen fällt es nun nicht mehr schwer, die im Ausgangsfall aufgeworfene Frage zu lösen. Erkennt man grundsätzlich die Rechtsfigur der objektiven Zurechnung an und rechnet man einen strafrechtlichen Erfolg dem Täter nur zu, wenn dieser ein rechtlich missbilligtes Risiko geschaffen hat, welches sich im Erfolg in seiner konkreten Gestalt auch in tatbestandstypischer Weise realisierte, dann scheidet eine solche Zurechnung immer dann aus, wenn ein Dritter an ein zwar an sich erfolgstaugliches, aber fahrlässiges Verhalten des Ersthandelnden anknüpft und dabei vorsätzlich eine neue Kausalkette in Gang setzt, die den Erfolg in seiner konkreten Gestalt bewirkt. Dies gilt lediglich dann nicht, wenn der fahrlässig handelnde Ersttäter die Tatgeneigtheit des Dritten erkennen konnte oder er als Garant gerade dazu verpflichtet war, eine vorsätzliche Tatbegehung durch Dritte zu verhindern. Der Zurechnungszusammenhang wird aber auch dann unterbrochen, wenn nicht ein Dritter, sondern der Täter selbst durch ein weiteres (vorsätzliches) Verhalten den Erfolg in seiner konkreten Gestalt herbeiführt. Geht man ferner davon aus, dass bei fahrlässigem Ersthandeln der Zurech42
So auch Otto (Fn. 4), § 6 Rn. 64. So auch Köhler (Fn. 24), S. 145; Otto (Fn. 4), § 6 Rn. 55, 64; ders. Maurach-FS, 1972, S. 91 (99); ders. Lampe-FS, 2003, S. 491 (511 ff.). 44 Vgl. Burgstaller Das Fahrlässigkeitsdelikt im Strafrecht unter besonderer Berücksichtigung der Praxis in Verkehrssachen, 1974, S. 124; so auch Otto (Fn. 4), § 6 Rn. 64, der aber darüber hinaus – zu Unrecht – auch dann die Zurechnung ausschließen will, wenn der Täter nach einer vorsätzlichen Ersthandlung fahrlässig eine erneute, an die Ersthandlung anknüpfende Bedingung setzt. 43
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nungszusammenhang auch dann entfällt, wenn ein Dritter als Garant die Abwendung des Erfolges vorsätzlich unterlässt, kann es auch hier keinen Unterschied machen, ob ein Dritter oder der Täter selbst durch sein vorsätzliches Unterlassen eine Unterbrechung des Zurechnungszusammenhangs bewirkt. Zwar wird hier keine neue Kausalkette in Gang gesetzt, sodass der Erfolg in seiner konkreten Gestalt (auch) auf das Verhalten des Ersthandelnden zurückgeführt werden kann, dennoch entfällt auch hier die Zurechnung, da im Rahmen der Abschichtung von Verantwortungsbereichen ein vorsätzliches Verhalten (gleichgültig, ob durch Tun oder Unterlassen) stets schwerer wiegt als ein fahrlässiges Verhalten. Im Ausgangsfall scheitert eine Bestrafung wegen fahrlässiger Tötung somit nicht erst auf Konkurrenzebene, sondern bereits daran, dass der Erfolg in seiner konkreten Gestalt dem Täter im Hinblick auf die fahrlässige Herbeiführung des Unfalls nicht mehr zuzurechnen ist.45
45 So im Ergebnis auch Otto Lampe-FS, 2003, S. 491 (512 f.), der zwar nicht bei einem späteren Unterlassen eines Dritten, jedoch bei einem solchen des Täters den Zurechnungszusammenhang als unterbrochen ansieht.
Strafrechtliche Sozialkontrolle der Straftaten im Straßenverkehr – aktuelle rechtstatsächliche Befunde Wolfgang Heinz I. Zu den Forschungsschwerpunkten des verehrten Jubilars zählen seit der 1968 veröffentlichten Dissertation1 die §§ 44, 69, 69a StGB.2 Hierbei wurden auch rechtstatsächliche Befunde in ihrer Bedeutung sowohl de lege lata als auch de lege ferenda berücksichtigt, angefangen von der Frage, ob die unterschiedliche Bemessungspraxis bei Festsetzung der Sperrfrist gem. § 69a StGB gegen Art. 3 I GG verstoße,3 bis hin zur Skizzierung „kriminalstatistischer Aspekte […] verkehrsausschließender Maßnahmen […] im Hinblick auf die Reformdiskussion“.4 Deshalb mag es angebracht sein, in diesem, dem Jubilar gewidmeten Beitrag aktuelle Daten zur strafrechtlichen Sozialkontrolle von Straßenverkehrsvergehen beizusteuern, insbesondere hinsichtlich §§ 44, 69, 69a StGB. Entsprechend dieser Zielsetzung kommen als Datenquellen vor allem die vom Statistischen Bundesamt veröffentlichte Staatsanwaltschaftsstatistik (StA-Statistik) sowie die Strafverfolgungsstatistik (StVerfStat) in Betracht. Die im verkehrs(straf)rechtlichen Schrifttum 5 zumeist benutzten, aus dem 1 Die Bemessung der Sperrfrist bei der strafgerichtlichen Entziehung der Fahrerlaubnis, Berlin 1968. 2 Vgl. nur die Kommentierungen von §§ 44, 69, 69a und 69b StGB im Leipziger Kommentar (seit der 11. Aufl.) sowie die folgenden Beiträge: Totale und teilweise Entziehung der Fahrerlaubnis, NJW 1971, 2154 ff.; Auswirkungen einer früheren strafgerichtlichen Entziehung der Fahrerlaubnis und der dort festgesetzten Sperrfrist auf die Bemessung einer neuen Sperrfrist, MDR 1972, 280 ff.; Die Ahndung von Verkehrsverstößen durchreisender ausländischer Kraftfahrer, GA 1979, 281 ff.; Schwierigkeiten der Sperrfristbemessung bei vorläufiger Entziehung der Fahrerlaubnis, ZRP 1981, 85 ff.; Reicht das gesetzliche Instrumentarium zur Verbesserung der Verkehrssicherheit aus?, Blutalkohol 1990, 23 ff.; Neuere Rechtsprechung des BGH zur Entziehung der Fahrerlaubnis bei Nicht-Katalogtaten – zugleich Besprechung von BGH (Beschluss v. 5.11.2002 – 4 StR 406/02), NStZ 2003, 288 ff. 3 Geppert (Fn 1), S. 108 ff. 4 LK12-Geppert § 69 Rn 10. 5 Vgl. nur Barth Entwicklungen im Straßenverkehr 1975 bis 1988 aus statistischer Sicht, Blutalkohol 1990, 75 ff.; Bode Alkoholunfälle und Fahrerlaubnisentziehungen wegen Alko-
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Datenbestand des Verkehrszentralregisters erstellten Statistiken des Kraftfahrtbundesamtes (KBA) sind hierfür nicht bzw nur bedingt geeignet. Erkenntnisse über die Erledigung staatsanwaltschaftlicher Ermittlungsverfahren in Verkehrsstrafsachen, sei es durch Anklagen/Strafbefehlsanträge, sei es durch informelle Sanktionen (§§ 153 ff. StPO, §§ 45, 47 JGG), liefert nur die StA-Statistik.6 Hinsichtlich der Sanktionen besteht zwar ein Konkurrenzverhältnis zwischen einerseits der StVerfStat und den einschlägigen Statistiken des KBA andererseits. Hinsichtlich der Straßenverkehrsdelikte und der verhängten Hauptstrafen ist aber die StVerfStat wesentlich differenzierter als die Statistik „Verkehrsauffälligkeiten“ des KBA, die nur summarische Angaben enthält. Was die verkehrsausschließenden Maßnahmen (§§ 44, 69, 69a StGB) angeht, so sind zwar die Nachweise in der Statistik „Fahrerlaubnisse – Fahrerlaubnismaßnahmen“ (FE-KBA) des KBA hinsichtlich einiger Erhebungsmerkmale auch differenzierter als die StVerfStat.7 Entsprechend ihrer Zielsetzung enthält die FE-KBA aber keine Angaben zu den jeweiligen Grundgesamtheiten, also den Abgeurteilten bzw Verurteilten der Straftatbestände, weshalb die relative Häufigkeit der §§ 44, 69, 69a StGB, auf die es bei Bestimmung der Sanktionierungsdichte ankommt, nicht bestimmt werden kann.
II. Umfang, Struktur und Entwicklung der von der Polizei bearbeiteten Straßenverkehrsstraftaten sind unbekannt. Zwar wurden bis 1962 in der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) einige Gesamtzahlen zu den von der Polizei registrierten Verkehrsstraftaten nachgewiesen. Seit dem Berichtsjahr 1963 holverkehrsstraftaten in Deutschland von 1975 bis 1993, Blutalkohol 1994, 367 ff.; Bode Alkoholunfälle und Fahrerlaubnisentziehungen wegen Alkoholverkehrsstraftaten in Deutschland 1994, Blutalkohol 1995, 361 ff.; Kulemeier Fahrverbot (§ 44 StGB) und Entzug der Fahrerlaubnis (§§ 69 ff. StGB), Lübeck 1991, S. 149 ff. 6 Für die Justizgeschäftsstatistik der Strafgerichte (StP/OWi-Statistik), die über die informellen Sanktionen der Gerichte (nach Anklageerhebung) informiert, werden zwar ebenfalls seit 2004, wie in der StA-Statistik, die Daten für die einzelnen Sachgebieten erhoben, die Erledigungsarten werden aber nicht nach Sachgebieten aufbereitet und veröffentlicht. 7 Während in der StVerfStat §§ 69, 69a StGB gemeinsam erhoben werden, werden in der Statistik „Fahrerlaubnisse – Fahrerlaubnismaßnahmen“ die Entziehungen der Fahrerlaubnis getrennt von den isolierten Sperren gem. § 69a I 3 StGB nachgewiesen. Das Erhebungsmerkmal Alter wird zwar für die StVerfStat unklassiert erhoben, in der Aufbereitung aber zusammengefasst in die Altersgruppen „Erwachsene“, „Heranwachsende“ und „Jugendliche“. Das KBA weist hingegen fünf Altersgruppen aus. Andererseits ist der Nachweis der Straftatbestände in der StVerfStat differenzierter. Die Statistik des KBA weist nicht nur die verkehrsausschließenden Maßnahmen durch die Strafgerichte, sondern auch durch die Verwaltungsbehörden nach. Diese Zusatzinformationen werden für die vorliegende Darstellung der strafrechtlichen Sozialkontrolle nicht benötigt.
Strafrechtliche Sozialkontrolle der Straftaten im Straßenverkehr
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werden Straßenverkehrsdelikte jedoch nicht mehr erfasst.8 In ihrem Zweiten Periodischen Sicherheitsbericht stellte die Bundesregierung (bislang folgenlos) fest: „Die Datenlage über Vorkommen und zeitliche Entwicklung der Straßenverkehrsdelikte ist im Vergleich zu anderen Deliktgruppen lückenhaft. […] Mit den Daten des KBA lässt sich die Lücke zwischen StVerfStat und polizeilich erfassten (wenn auch nicht in der PKS ausgewiesenen) Normbrüchen nicht schließen.“ 9 Es ist nicht erkennbar, dass wiederholten Forderungen, diese Lücke zu schließen,10 in absehbarer Zeit entsprochen werden wird.
III. Seit 2004 werden dagegen in der StA-Statistik die einzelnen Erledigungstatbestände der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren in Verkehrsstrafsachen 11 gegen bekannte Täter nachgewiesen. Dies ist bedeutsam, ist doch die Staatsanwaltschaft (StA) „Richter vor dem Richter“12. Sie hat zum einen das Anklagemonopol, also eine Selektionskompetenz. Die StA verfügt aber auch über Sanktionskompetenz, teils negativer (Sanktionsverzicht, insb. § 153 StPO), teils positiver Art (konsensuale Sanktionierung, insb. § 153a StPO) als Folge der Einführung und Vervielfachung sowohl der Zahl der Opportunitätsgründe als auch der zunehmenden Verlagerung der Entscheidungskompetenz auf die StA.13
8 Für diese Herausnahme waren mehrere Gründe maßgebend: Verkehrskriminalität wurde damals für kriminalistisch und kriminologisch uninteressant gehalten. Die überproportionale Zunahme der Verkehrskriminalität wurde als die Kriminalitätsentwicklung verfälschend angesehen. Die Erfassung wurde als teilweise fehlerhaft beurteilt. 9 Bundesministerium des Innern/Bundesministerium der Justiz (Hrsg.): Zweiter Periodischer Sicherheitsbericht, Berlin 2006, S. 321, 336. 10 Vgl. zuletzt Rat für Sozial- und Wirtschaftsfragen (Hrsg.): Optimierung des bestehenden kriminalstatistischen Systems in Deutschland, Baden-Baden 2009, S. 25, 51 f. 11 Verkehrsstrafsachen iS der StA-Statistik sind neben den typischen Straßenverkehrsdelikten (zB §§ 142, 315b, 315c, 316 StGB, § 21 StVG, §§ 1, 6 PflVG) insbesondere Straftaten nach §§ 222, 229, 323a, 323c StGB, § 22 StVG, soweit sie im Verkehr begangen wurden. Die Straftaten nach §§ 185, 240 StGB werden, auch wenn sie im Zusammenhang mit dem Verkehr stehen sollten, nicht bei den Verkehrsstrafsachen erfasst. In der StA-Statistik werden die beiden Sachgebiete 35 (Verkehrsstraftaten mit fahrlässiger Tötung sowie gemeingefährliche Straftaten nach den §§ 315 bis 315d, ausgenommen Vergehen nach § 315c I Nr. 1 Buchst. a StGB) und 36 (Sonstige Verkehrsstraftaten) unterschieden, deren Ergebnisse bei den folgenden Auswertungen zusammengefasst werden. 12 Kausch Der Staatsanwalt, ein Richter vor dem Richter? Untersuchungen zu § 153a StPO, Berlin 1980. Aus empirischer Sicht zuletzt Heinz Der schöne Schein des Strafrechts, 2010 . 13 Hierzu auch Geppert Das Legalitätsprinzip, Jura 1982, 139 ff.; Geppert Das Opportunitätsprinzip, Jura 1986, 309 ff.
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Bedingt durch Anlage und Methode der StA-Statistik können die staatsanwaltschaftlichen Erledigungsstrukturen in Verkehrsstrafsachen nur in groben Zügen abgebildet werden. Bei der 1981 eingeführten StA-Statistik handelt es sich um eine sog. Verfahrensstatistik14, in der die Art der Geschäftserledigung gegen bekannte Täter (Js-Register) 15 nachgewiesen wird. Anfänglich wurden weder Angaben zu den Straftaten, die Gegenstand der Ermittlungen waren, noch zu den betroffenen Personen erhoben. Erst seit 1992 wird die Zahl der von Ermittlungsverfahren betroffenen Personen nachgewiesen,16 Beschuldigtenmerkmale selbst – Alter, Geschlecht – werden dagegen weiterhin nicht erhoben. Seit 1986 wurden erstmals auch die Erledigungsarten für einige Sondersachgebiete, ua „Straftaten im Straßenverkehr“ 17 nachgewiesen, seit 2004 erfolgt eine Kategorisierung der Ermittlungsverfahren nach Sachgebieten18, darunter auch „Straftaten im Straßenverkehr“, für die sämtliche Erledigungstatbestände aufgeschlüsselt nachgewiesen werden. Möglich sind deshalb seitdem summarische, nicht aber deliktbezogene Häufigkeitsangaben.19 Da erst ab 2004 in vergleichbarer Weise erhobene Informationen zur Sachgebietsgruppe Verkehrsstrafsachen vorliegen, scheidet zwar eine Längsschnittanalyse aus. Möglich ist aber die Deskription der gegenwärtigen Erledigungsstruktur einschließlich eines regionalen Querschnitts.20
14 Erhebungseinheit ist das Ermittlungsverfahren, für das die der Art nach schwerste Erledigung des Verfahrens nachgewiesen wird, und zwar nicht nur dann, wenn das Verfahren eine Person betrifft, sondern auch dann, wenn sich das Verfahren gegen mehrere Personen richtet. Minder schwere Erledigungsarten, zB (Teil-)Einstellungen mangels hinreichenden Tatverdachts oder aus Opportunitätsgründen, sind deshalb unterschätzt im Verhältnis zur Zahl der mit einer Anklage abgeschlossenen Verfahren. 15 Anzeigen gegen unbekannte Täter werden lediglich der Summe nach mitgeteilt. 16 Auch hier wird nur die schwerste Art der Schlussentscheidung nachgewiesen. 17 Nachgewiesen wurden Anklage, Antrag auf Erlass eines Strafbefehls, Einstellung mit Auflage, Verweis auf den Weg der Privatklage, anderweitige Erledigung; es fehlte aber insbesondere der gesonderte Nachweis der Einstellungen ohne Auflagen. 18 Diese Kategorisierung umfasst derzeit 30 Positionen, von denen acht in der veröffentlichten StA-Statistik nachgewiesen werden. Zur genauen Abgrenzung der Sachgebietsgruppen vgl. den im Anhang der StA-Statistik 2008 abgedruckten Katalog der Sachgebiete. 19 Zur Forderung, diese Verfahrensstatistik zu ergänzen durch eine Personenstatistik über Beschuldigte in staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren (Beschuldigtenstatistik), vergleichbar der StVerfStat, vgl. Rat für Sozial- und Wirtschaftsfragen (Fn 10), S. 26, 57 ff. 20 Da in der veröffentlichten StA-Statistik nur einige Sachgebiete nachgewiesen werden, wurden für die im Folgenden darzustellende Auswertung die beim Statistischen Bundesamt vorliegenden Daten zur Erledigungsart in sämtlichen Einzelsachgebieten zugrunde gelegt, und zwar für Beschuldigte. Der Verf. ist dem Statistischen Bundesamt für die Überlassung der Daten zu Dank verpflichtet.
Strafrechtliche Sozialkontrolle der Straftaten im Straßenverkehr
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2008 wurde danach in gut der Hälfte der gegen bekannte Täter wegen Verkehrsstrafsachen durchgeführten und abschließend erledigten Ermittlungsverfahren21 von der StA eine Verurteilung angestrebt bzw wurde eine konsensuale Sanktionierung als ausreichend angesehen (vgl. Schaubild 1). Im Einzelnen ergibt sich folgende Häufigkeitsverteilung: • In 12,7 % wurde Anklage erhoben, • in weiteren 28,2 % wurde ein Strafbefehlsantrag gestellt, was 69 % aller durch Anklage oder Strafbefehlsantrag beendeten Ermittlungsverfahren entspricht, • 10,2 % der Verfahren wurden aus Opportunitätsgründen mit Auflagen/ Weisungen eingestellt (§§ 153a StPO, § 45 III JGG, § 37 BtMG), • in weiteren 14,8 % wurde das Ermittlungsverfahren aus Opportunitätsgründen ohne Auflagen ieS (§§ 153, 153b StPO, §§ 45 I, II JGG, 31a BtMG) eingestellt, also Sanktionsverzicht geübt.22 • Vor allem im Hinblick darauf, dass die im jetzigen Verfahren zu erwartende Strafe neben einer bereits verhängten oder wegen einer in einem anderen Verfahren zu erwartenden Strafe nicht beträchtlich ins Gewicht fällt (§ 154 StPO), wurde in weiteren 2,5 % das Verfahren eingestellt.23 • Schließlich wurde in fast jedem dritten (31,6 %) Verfahren das Vorliegen eines hinreichenden Tatverdachts (§ 170 II StPO) verneint.24 Im Vergleich der Sachgebietsgruppen untereinander fallen zum einen die großen deliktspezifischen Unterschiede auf, nicht zuletzt im Ausmaß der Einstellungen gem. § 170 II StPO, obwohl es sich um – nach polizeilicher
21 Als (abschließend) erledigte Ermittlungsverfahren ieS werden im Folgenden solche Verfahren zusammengefasst, in denen aus staatsanwaltschaftlicher Sicht abschließend über Sanktionierung oder Nicht-Sanktionierung entschieden wird, sei es durch Anklage iwS, durch Strafbefehlsantrag, durch Opportunitätseinstellung oder durch Einstellung gem. § 170 II 2 StPO. Ausgeklammert werden damit alle Ermittlungsverfahren, in denen in der Sache (noch) nicht entschieden wird (Kategorien der StA-Statistik: Verweisung auf den Weg der Privatklage, Erledigungen durch Abgabe an die Verwaltungsbehörde als Ordnungswidrigkeit, Abgabe an eine andere Staatsanwaltschaft, Verbindung mit einer anderen Sache, vorläufige Einstellung sowie anderweitige Erledigung). 22 Die Einstellungswahrscheinlichkeit ist deliktspezifisch unterschiedlich. Älteren Aktenanalysen zufolge beschränkt sich die Einstellung wegen Geringfügigkeit (§ 153 StPO) weitgehend auf Nicht-Trunkenheitsdelikte (vgl. Hertwig Die Einstellung des Strafverfahrens wegen Geringfügigkeit, Göttingen 1982, S. 72 ff.). 23 Miterfasst sind hier auch die – in quantitativer Hinsicht bedeutungslosen – Einstellungen gem. §§ 153c, 154b–e StPO. 24 Bei welchen Delikten vor allem gem. § 170 II StPO eingestellt wurde, wird nicht nachgewiesen. Die Bundesregierung vermutet, es dürften „zumeist Fälle von Unfallflucht und Nötigung [sein], bei denen die polizeiliche Aufklärung zwar das Tatfahrzeug, nicht aber den Fahrer eindeutig identifizierte“ (2. PSB, Fn 9, S. 338). Nötigung wird aber in der StA-Statistik nicht bei den Verkehrsstrafsachen erfasst (vgl. oben Fn 11).
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Auffassung – hinreichend tatverdächtige Personen handelt. Zum anderen fallen die erheblichen Unterschiede – wohlgemerkt im Vergleich der Sachgebietsgruppen (nicht der Einzeldelikte, die nicht nachgewiesen werden) – in der Sanktionierungsdichte auf, also dem Anteil der von der StA durch Anklage, Strafbefehlsantrag oder Einstellung unter Auflagen erledigten Ermittlungsverfahren (vgl. Schaubild 1 und Datenblatt, Sp. 8). Die Bandbreite reicht von 4,9 % (Korruptionsdelikte) bis zu 51,1 % (Verkehrsstraftaten).25 Diesem Maßstab zufolge werden Verkehrsdelikte intensiver verfolgt als klassische Deliktsgruppen. Schließlich ist bei den Verkehrsstraftaten – erwartungsgemäß – der Anteil der Strafbefehlsanträge am Höchsten, und zwar sowohl bezogen auf die Beschuldigten als auch auf die Summe der durch Anklage oder Strafbefehlsantrag erledigten Verfahren. Schaubild 1: Erledigung staatsanwaltschaftlicher Ermittlungsverfahren nach Sachgebietsgruppen. Deutschland 2008.
25 Nur bei der SG-Gruppe „Serien-, Banden- und Gewaltkriminalität“ ist der Anteil der durch Anklage oder Strafbefehlsantrag erledigten Verfahren mit 42 % höher als bei Verkehrsstrafsachen mit 40,9 %. Werden freilich noch die Einstellungen unter Auflagen (10,2 %) berücksichtigt, dann ist die Sanktionsdichte mit 51,1 % bei Verkehrsstraftaten weitaus am höchsten.
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Auszüge aus dem Datenblatt zu Schaubild 1: Auf 100 erledigte Verfahren ieS kommen … 2008
erledigte Verfahren ieS
Ankla- Strafgen beiwS fehle
Einst. mit Auflagen
Einst. ohne Auflagen ieS
sonst. Opportunitätseinst.
§ 170 Ankl./ II, StrafSchuld- befehl/ unfähig- Einst. keit mit Aufl.
(1)
(2)
(3)
(4)
(5)
(6)
(7)
(8)
Staatsschutzsachen, politische Strafsachen usw.
39.939
14,6
6,7
1,9
14,3
4,7
57,9
23,2
Straftaten gg. die sexuelle Selbstbestimmung
78.455
12,0
4,8
3,1
25,0
2,5
52,5
19,9
Straftaten gg. das Leben und die körperliche Unversehrtheit
470.850
22,2
6,2
3,4
12,7
5,4
50,1
31,8
1.468.286
17,2
12,7
5,2
20,0
12,7
32,3
35,1
Serien-, Banden- und Gewaltkriminalität
107.029
30,7
11,2
1,5
9,0
12,0
35,4
43,5
Straftaten im Straßenverkehr
676.825
12,7
28,2
10,2
14,8
2,5
31,6
51,1
Wirtschafts- und Steuerstrafverfahren, Geldwäschedelikte
220.294
5,0
8,5
3,9
38,4
5,7
38,4
17,5
Straftaten gegen die Umwelt
22.571
4,7
10,1
10,9
19,3
3,6
51,4
25,7
Korruptionsdelikte und Straftaten von Amtsträgern
52.256
1,9
1,5
1,5
3,1
2,6
89,5
4,9
Einschleusung von Ausländern, Straftaten nach dem Ausländer- und dem Asylverfahrensgesetz
81.381
5,9
10,3
8,8
39,1
15,6
20,3
25,0
263.930
20,8
11,2
2,1
26,2
9,0
30,7
34,1
9.642
2,4
1,9
3,6
4,9
2,0
85,3
7,8
Eigentums- u. Vermögensdelikte
Straftaten nach dem Betäubungsmittelgesetz Sonstige besondere Straftaten des Nebenstrafrechts Sonstige Straftaten
1.058.810
12,5
8,5
4,0
13,9
8,9
52,3
25,0
Insgesamt
4.550.268
15,3
12,6
5,1
18,2
8,6
40,2
33,1
Datenquelle: SGL1_3_II_Einzelsachgebiete_2008-werte.xls, TabBlatt: HD-Deliktsgruppen; Sp. A, Z. 262 Legende: erledigte Verfahren ieS: Summe der Verfahren, die durch die in Spalten 2–7 aufgeführten Erledigungstatbestände abgeschlossen worden sind. Anklage iwS: Anklagen (nach allgemeinem Strafrecht und nach Jugendstrafrecht), Antrag auf Eröffnung eines Sicherungsverfahrens, Antrag auf Durchführung eines objektiven Verfahrens, Antrag auf sofortige
194
Wolfgang Heinz
Hauptverhandlung (bzw auf Entscheidung im beschleunigten Verfahren – § 417 StPO), Antrag auf vereinfachtes Jugendverfahren. § 170 II StPO + Schuldunfähigkeit: Einstellungen gem. § 170 II StPO sowie wegen Schuldunfähigkeit des Beschuldigten. Einstellung mit Auflage: § 153a I StPO, § 45 III JGG, § 37 I BtMG. Einstellung ohne Auflage ieS: §§ 153 I, 153b I StPO, § 45 I, II JGG, § 31a I BtMG. Sonstige Opportunitätseinstellungen ohne Aufl.: Einstellungen gem. §§ 154b I–III StPO, 154c StPO, 153c I, II StPO, 154d und e StPO, 154 I StPO. Datenquelle: Staatsanwaltschaftsstatistik
Durch die Zusammenfassung der Länderergebnisse zu Bundesergebnissen werden freilich zwischen den Ländern bestehende Unterschiede verdeckt (vgl. Schaubild 2). Wie der Vergleich der Erledigungsstruktur der einzelnen Länder zeigt, wird die bei bundesweiter Betrachtung gemessene Sanktionierungsdichte von 51,1 % bei Verkehrsstraftaten teils deutlich unter-, teils auch deutlich überschritten, die Bandbreite reicht von 37,3 % (Hamburg) bis 65,8 % (Baden-Württemberg). Entsprechend unterschiedlich sind auch die anderen Kennwerte: • Anklage iwS: bundesweit: 12,7 %, Bandbreite: 8,0 % (Hamburg) – 25,6 % (Brandenburg), • Strafbefehlsantrag: bundesweit: 28,2 %, Bandbreite: 18,8 % (Hamburg) – 45,2 % (Baden-Württemberg), • Opportunitätseinstellung mit Auflagen: bundesweit: 10,2 %, Bandbreite: 4,0 % (Saarland) – 21,0 % (Bremen), • Opportunitätseinstellungen ohne Auflagen ieS: bundesweit: 14,8 %, Bandbreite: 7,7 % (Bayern) – 20,6 % (Saarland), • Einstellung mangels hinreichenden Tatverdachts: bundesweit: 31,6 %, Bandbreite: 19,1 % (Baden-Württemberg) – 46,1 % (Berlin). Da sich diese Erledigungsmuster in früheren Jahren in ähnlicher Weise finden, dürfte es sich weniger um Unterschiede in der regionalen Tatstruktur als vielmehr um regional unterschiedliche Erledigungsstile handeln. Freilich kann diese Vermutung anhand der StA-Statistik nicht geprüft werden, hierzu bedürfte es einer die Einzeldelikte berücksichtigenden Aktenanalyse.
195
Strafrechtliche Sozialkontrolle der Straftaten im Straßenverkehr
Schaubild 2: Erledigung staatsanwaltschaftlicher Ermittlungsverfahren in Verkehrsstrafsachen (Sachgebiete 35 und 36)*, nach Ländern 2008.
* Sachgebiet 35: Verkehrsstraftaten mit fahrlässiger Tötung sowie gemeingefährliche Straftaten; Sachgebiet 36: Sonstige Verkehrsstraftaten
Auszüge aus dem Datenblatt zu Schaubild 2: Auf 100 erledigte Verfahren ieS kommen … 2008
erledigte Verfahren ieS
Anklagen iwS
(1)
(2)
(3)
(4)
(5)
(6)
(7)
(8)
Baden-Württemberg
66.738
9,8
45,2
10,8
13,5
1,6
19,1
65,8
Bayern
91.317
13,4
34,1
11,2
7,7
1,6
32,1
58,7
Berlin
38.186
8,7
23,2
7,3
12,8
1,9
46,1
39,2
Brandenburg
25.306
25,6
22,1
10,8
9,1
2,0
30,4
58,5
4.972
10,8
27,1
21,0
17,3
2,3
21,5
58,9
Bremen
Strafbefehle
Einst. mit Auflagen
Einst. ohne Auflagen ieS
sonst. Opportunitätseinst.
§ 170 II, Schuldunfähigkeit
Ankl./ Strafbefehl/ Einst. mit Aufl.
Hamburg
20.266
8,0
18,8
10,4
16,7
2,7
43,3
37,3
Hessen
56.203
12,8
23,6
8,8
18,4
3,9
32,4
45,3
Mecklenburg-Vorp.
15.897
12,5
34,1
8,4
14,6
2,9
27,5
55,0
60.291
12,3
29,8
11,3
15,8
2,5
28,3
53,4
167.021
13,7
20,2
10,1
18,1
2,3
35,6
44,0
Niedersachsen Nordrhein-Westf.
196
Wolfgang Heinz
Fortsetzung Auf 100 erledigte Verfahren ieS kommen … 2008
erledigte Verfahren ieS
Anklagen iwS
Strafbefehle
Einst. mit Auflagen
Einst. ohne Auflagen ieS
sonst. Opportunitätseinst.
§ 170 II, Schuldunfähigkeit
Ankl./ Strafbefehl/ Einst. mit Aufl.
(1)
(2)
(3)
(4)
(5)
(6)
(7)
(8)
32.825
10,7
32,1
12,3
16,6
3,6
24,7
55,1
Saarland
9.812
15,8
28,1
4,0
20,6
7,3
24,2
47,9
Sachsen
30.599
11,5
36,9
8,6
11,1
2,0
29,9
57,0
Sachsen-Anhalt
19.835
11,6
24,9
11,1
13,8
2,8
35,9
47,6
Schleswig-Holstein
22.989
11,7
21,7
11,8
19,4
2,4
32,9
45,2
Thüringen
14.568
13,6
35,2
7,0
16,5
3,4
24,3
55,9
Früheres Bundesgebiet
570.620
12,2
27,8
10,4
15,3
2,5
31,9
50,3
neue Länder
106.205
15,3
30,5
9,4
12,4
2,5
30,0
55,1
Deutschland
676.825
12,7
28,2
10,2
14,8
2,5
31,6
51,1
Rheinland-Pfalz
Datenquelle: SGL1_3_II_Einzelsachgebiete_2008-werte.xls, TabBlatt: Deliktsgruppen; Sp. A, Z. 593 Legende: vgl. oben Schaubild 1 Datenquelle: Staatsanwaltschaftsstatistik
IV. Entgegen dem allgemeinen Trend ist die relative, auf die strafmündige Wohnbevölkerung bezogene Zahl der Verurteilungen (= Verurteiltenbelastungszahl – VBZ) 26 wegen Straßenverkehrsvergehen 27 seit Jahrzehnten – in 26 Dass absolute Zahlen im zeitlichen Längsschnitt wie im Querschnittsvergleich, zB von Altersgruppen, ungeeignet sind, bedarf keiner Begründung. Jede der in Betracht kommenden Maßzahlen (Führerscheinbesitzer, Kfz-Bestand, jährliche Fahrleistung), die dazu dient, Vergleichbarkeit über die Zeit oder zwischen den Gruppen herzustellen, weist spezifische Probleme auf (vgl. hierzu 2. PSB, Fn 9, S. 334). Auch die hier verwendete Maßzahl – strafmündige Wohnbevölkerung bzw Größe der jeweiligen Altersgruppen – ist problematisch, weil der Zugang zum Straßenverkehr und die Fahrzeugnutzung in den einzelnen Altersgruppen ungleich verteilt sind. Hinzu kommt, dass die Wohnbevölkerung sowohl über die Zeit hinweg als auch in den einzelnen Altersgruppen in unterschiedlichem Maße unterschätzt wird (nicht meldepflichtige Personen, zB Touristen, Berufspendler; zwar meldepflichtige, aber nicht gemeldete Personen – Illegale). Schon wegen des Vergleichs mit den Straftaten ohne Straßenverkehr ist aber die Wohnbevölkerung die einzige hier in Betracht kommende Maßzahl. 27 Die Abgrenzung stimmt nicht völlig mit jener der StA-Statistik überein. Als Straßenverkehrsvergehen werden in der StVerfStat zusammengefasst die Vergehen gem. §§ 142,
Strafrechtliche Sozialkontrolle der Straftaten im Straßenverkehr
197
den alten Bundesländern28 – rückläufig (vgl. Schaubild 3) mit der Folge einer Halbierung des Anteils an allen Verurteilungen seit 1970.29 Dies gilt sowohl für die Straßenverkehrsstraftaten in Trunkenheit als auch für jene ohne Trunkenheit.30 Schaubild 3: Wegen Straftaten ohne Straßenverkehrsvergehen und wegen Straftaten im Straßenverkehr Verurteilte. VBZ. Früheres Bundesgebiet einschl. Westberlin, seit 1995 mit Gesamtberlin, seit 2007 Deutschland.
315b, 315c, 316 StGB, ferner gem. §§ 222, 229, 323a StGB iVm Verkehrsunfall sowie die Vergehen nach dem StVG. 28 In den neuen Bundesländern wurde die Führung der StVerfStat teilweise mit erheblicher zeitlicher Verzögerung aufgenommen. Die Daten der StVerfStat beziehen sich deshalb bis 1994 auf die alten Länder einschließlich Westberlin, seit 1995 einschließlich Gesamtberlin. Erst seit 2007 liegen Daten für Deutschland vor. 29 Für frühere Jahre vgl. Kerner Führerscheinentzug – Langjährige Tendenz der Gerichtsurteile, Forensia 1986, 79; Kulemeier (Fn 5), Anhang Tab. 1. 30 Dass es sich hierbei um Häufigkeitsverteilungen handelt, die in hohem Maße durch die Verfolgungsintensität der Polizei und die Erledigungspraxis der Staatsanwaltschaften bestimmt sind, versteht sich. Allgemeine Verkehrsvergehen kommen in der Regel erst nach Unfällen zur Anzeige. Ein beträchtlicher Anteil der Trunkenheitsdelikte wird bei vorbeugenden polizeilichen Kontrollen festgestellt.
198
Wolfgang Heinz
Auszüge aus dem Datenblatt zu Schaubild 3: Strafmündige Wohnbevölkerung
Verurteilte ohne Straftaten im Straßenverkehr
Verurteilte mit Straftaten im Straßenverkehr
insgesamt
in % Verurteilte insg.
pro 100.000 strafmündige WB
insgesamt
in % Verurteilte insg.
pro 100.000 strafmündige WB
1970
47.800.818
335.197
52,1
701,2
308.088
47,9
644,5
1975
49.476.242
367.261
55,3
742,3
297.275
44,7
600,8
1980
51.122.204
403.181
55,0
788,7
329.300
45,0
644,1
1985
52.516.280
452.291
62,8
861,2
267.633
37,2
509,6
1990
53.841.075
433.682
62,6
805,5
258.681
37,4
480,5
1995
57.143.409
497.935
65,5
871,4
262.054
34,5
458,6
2000
57.915.802
522.839
71,4
902,8
209.894
28,6
362,4
2005
59.382.333
591.357
75,8
995,8
189.302
24,2
318,8
2008
71.757.751
669.749
76,6
933,3
204.942
23,4
285,6
Datenquelle: Sanktionen_Strassenverkehr.xls, TabBlatt: VBZ_Verkehr; Sp. AU, Z. 15 Datenquelle: Strafverfolgungsstatistik
Innerhalb der Straßenverkehrsvergehen sind vor allem die Verkehrsgefährdungen (§§ 315b und c, 316 StGB) sowie die Körperverletzungen im Straßenverkehr deutlich zurückgegangen (vgl. Schaubild 4). Insgesamt spiegelt diese Entwicklung zum einen den Rückgang der Unfälle mit Personenschaden sowie der (entdeckten) Zahl der Unfälle mit Beteiligten unter Alkoholeinfluss wider.31 Vermutet wird zum anderen, ein „wichtiger Grund [dürfte] in einer langfristig vermehrten Bereitschaft seitens der Staatsanwaltschaften liegen, von weiterer förmlicher Verfolgung des Verurteilten, ggf. unter Auflagen (§ 153a StPO) abzusehen“ 32 (vgl. hierzu Schaubild 1). Da hierzu keine deliktspezifischen Längsschnittdaten verfügbar sind, kann diese Vermutung jedoch nicht geprüft werden.
31 32
Nachweise hierzu im 2. PSB (Fn 9), S. 319 ff. So die Bundesregierung im 2. PSB (Fn 9), S. 332.
199
Strafrechtliche Sozialkontrolle der Straftaten im Straßenverkehr
Schaubild 4: Wegen ausgewählter Straftaten im Straßenverkehr Verurteilte. VBZ. Früheres Bundesgebiet einschl. Westberlin, seit 1995 mit Gesamtberlin, seit 2007 Deutschland.
Auszüge aus dem Datenblatt zu Schaubild 4: Straftaten § 142 StGB § 222 StGB § 229 StGB § 323a StGB §§ 315b im Straßenund c, verkehr in Verbindung mit einem Verkehrsunfall 316 StGB
Straßenverkehrsgesetz
1970
644,5
63,2
9,0
219,0
4,7
240,0
108,7
1975
600,8
64,1
7,2
159,2
5,0
271,5
93,8
1980
644,1
84,8
6,1
127,1
5,1
303,5
117,6
1985
509,6
78,2
4,1
84,3
3,8
261,7
77,6
1990
480,5
76,6
3,2
74,2
3,9
258,8
63,9
1995
458,6
62,3
2,6
48,8
2,6
243,0
99,3
2000
362,4
54,6
2,1
37,9
1,8
187,0
79,0
2005
318,8
51,0
1,6
27,5
1,1
161,3
76,3
2008
285,6
46,0
1,3
23,0
0,6
145,2
69,5
Datenquelle: Sanktionen_Strassenverkehr.xls, TabBlatt: VBZ_Verkehr_BRD; Sp. AU, Z. 34 Datenquelle: Strafverfolgungsstatistik
200
Wolfgang Heinz
Die Differenzierung der VBZ nach Jugendlichen, Heranwachsenden und Erwachsenen zeigt nicht nur die – entsprechend dem Zugang zum Straßenverkehr – unterschiedliche Höhe der Belastung mit Straßenverkehrsdelikten, sondern auch eine teilweise unterschiedliche Entwicklung. Insgesamt aber liegen derzeit bei allen drei Altersgruppen die VBZ unter jenen des Jahres 1970 (vgl. Schaubild 5). Der Rückgang der VBZ wegen Straßenverkehrsvergehen ist besonders ausgeprägt bei den Heranwachsenden. Die Einzeldeliktanalyse zeigt, dass vor allem Straftaten gem. § 229 StGB iVm Verkehrsunfall deutlich zurückgegangen sind. Trunkenheitsdelikte (§§ 315b, 315c, 316 StGB) sind dagegen bis 1978 deutlich angestiegen; Anstiege bis Ende der 1970er Jahre zeigen sich auch bei § 142 StGB und Verstößen gegen das StVG. Seitdem gehen auch die VBZ bei diesen Delikten zurück, lediglich bei StVG-Verstößen nahmen in der ersten Hälfte der 1990er Jahre die VBZ wieder zu, danach gingen auch bei dieser Deliktsgruppe die VBZ wieder zurück. Die Entwicklung der VBZ bei den Erwachsenen zeigt strukturell dasselbe Bild wie bei den Heranwachsenden: Deutlicher Rückgang bei den Straftaten gem. § 229 StGB iVm Verkehrsunfall, Zuwächse bei Trunkenheitsdelikten und § 142 StGB bis Ende der 1970er Jahre, seitdem Rückgänge. Bei Verstößen gegen das StVG endet der Rückgang Mitte der 1980er Jahre, in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre nahmen die VBZ wieder zu, danach gingen sie wieder zurück. Im Unterschied zu Heranwachsenden und Erwachsenen kam es bei Jugendlichen bis 1983 zu einer Zunahme der VBZ, erst danach gingen die Zahlen zurück, allerdings mit erneuten Zunahmen zwischen 1997 und 2005. Die nähere Analyse zeigt, dass dies nicht auf Delikten in Trunkenheit beruht, die sich rückläufig entwickelt haben, sondern auf Verstößen gegen das Straßenverkehrsgesetz, auf die bei Jugendlichen im Schnitt zwei Drittel aller Straßenverkehrsvergehen entfallen.
Strafrechtliche Sozialkontrolle der Straftaten im Straßenverkehr
201
Schaubild 5: Wegen Straftaten im Straßenverkehr Verurteilte nach Altersgruppen. VBZ. Früheres Bundesgebiet einschl. Westberlin, seit 1995 mit Gesamtberlin, seit 2007 Deutschland.
Auszüge aus dem Datenblatt zu Schaubild 5: Jugendliche
Heranwachsende
in Trun- ohne Trunkenheit kenheit insg. dar. StVG
Erwachsene
in Trun- ohne Trunkenheit in Trunkenheit kenheit insg. dar. § 229 StGB
ohne Trunkenheit insg.
dar. § 229 StGB
1970
34,0
260,9
202,7
432,1
1.116,0
593,4
293,2
324,8
177,8
1975
74,1
257,6
196,7
605,0
873,6
423,5
314,7
257,0
126,2
1980
87,0
453,8
391,6
651,6
917,9
317,5
348,9
242,5
96,4
1985
63,7
305,6
262,6
471,0
610,2
200,2
301,3
179,6
61,8
1990
47,8
171,1
139,3
431,0
505,4
158,9
291,2
178,5
54,3
1995
37,9
116,9
90,8
392,7
506,4
115,3
270,6
186,1
34,1
2000
38,3
128,7
106,0
350,0
478,0
106,9
203,3
150,1
27,2
2005
40,3
211,6
190,7
366,7
358,7
59,0
174,5
131,1
19,5
2008
34,7
145,4
126,9
274,2
286,9
48,2
157,0
121,9
16,6
Datenquelle: Sanktionen_Strassenverkehr.xls, TabBlatt: Verkehr_Jgdl_Hwde_Erw._BRD r; Sp. S, Z. 17, 60, 105 Datenquelle: Strafverfolgungsstatistik
202
Wolfgang Heinz
V. Seit dem JGG 1953 sind Heranwachsende partiell in das Jugendstrafrecht einbezogen. Die durch § 105 I JGG getroffene Regelung wirft freilich ungelöste und offenbar unlösbare Anwendungsprobleme auf, sie wird in der Praxis bei vergleichbaren Tat- und Tätergruppen äußerst ungleich angewendet. Dies zeigt sich insbesondere bei Straßenverkehrsvergehen. Indikator für diese unterschiedliche Handhabung ist die mittels der Daten der StVerfStat ermittelbare Quote der nach JGG und der nach StGB verurteilten Heranwachsenden. Freilich sind die so ermittelbaren Einbeziehungsquoten durch die im regionalen Vergleich unterschiedlich hohen Diversionsraten33 systematisch verfälscht im Vergleich zur „wahren“ Einbeziehungsquote, die auch die informell Sanktionierten (§§ 153 ff. StPO, §§ 45, 47 JGG) berücksichtigt.34 Bei schweren Straftaten werden Heranwachsende fast ausnahmslos in das Jugendstrafrecht einbezogen.35 Bei vorsätzlichen Tötungsdelikten, Raub und Erpressung, gefährlicher Körperverletzung sowie schwerem Diebstahl liegen die Quoten der Einbeziehung in das JGG derzeit bei 90 % und höher. Die nicht qualifizierten Deliktsformen – einfache Körperverletzung und einfacher Diebstahl – weisen weitaus geringere Einbeziehungsquoten auf.36 Am unteren Ende der Skala liegen Verstöße gegen das Ausländergesetz/Asylver33
Mit Diversionsrate wird der Anteil der informell Sanktionierten (§§ 153, 153a, 153b StPO, §§ 45, 47 JGG) an den insgesamt – informell und formell (durch Verurteilung) – Sanktionierten bezeichnet. Mangels Angaben zur Altersgruppe der Beschuldigten kann allerdings nicht ermittelt werden, ob die 2008 für alle Beschuldigten festgestellten Unterschiede der Diversionsraten in Verkehrsstrafsachen (auf Ebene der StA 20,5 % Bayern – 40,5 % Bremen, vgl. Schaubild 2) in gleichem Maße für Heranwachsende gelten. 34 Dieses Problem wird in der Literatur nur selten diskutiert. Kölbel Zur Verkehrsdelinquenz der Heranwachsenden – Empirische und jugendstrafrechtliche Anmerkungen, ZfJ 1998, 12 Fn 2, hat zutreffend darauf hingewiesen, dass die Verurteiltenanteile zu einer Verzerrung führen, „sofern man nicht Verurteilungen, sondern strafrechtliche Behandlungen vergleichen will.“ Sein Ausweg, auf die Abgeurteilten abzustellen, „worin also alle Formen der Behandlung einschließlich der informellen Sanktionen enthalten sind“, beruht freilich auf der unzutreffenden Annahme, die staatsanwaltschaftlichen Einstellungen gem. § 45 JGG seien in den Zahlen über die Abgeurteilten enthalten. In ihnen sind aber nur die Einstellungen gem. § 47 JGG enthalten; nachgewiesen, aber nicht in der Abgeurteiltenzahl enthalten, werden noch die Einstellungen gem. § 45 III JGG. Knapp 80 % der informellen Sanktionen nach JGG sind nicht in der StVerfStat nachgewiesen. 35 Eingehende Nachweise bei Pruin Die Heranwachsendenregelung im deutschen Jugendstrafrecht, Mönchengladbach 2007, S. 55 ff. 36 Dadurch, dass nur Verurteiltenanteile gemessen werden können, werden allerdings die Unterschiede zwischen den deliktspezifischen Einbeziehungsquoten überschätzt. Denn die Diversionsrate ist umso höher, je leichter ein Delikt ist. Wäre eine Bezugnahme auf die Gesamtheit der informell oder formell sanktionierten Heranwachsenden möglich, dann würde der Anteil der in das Jugendstrafrecht (auch durch informelle Sanktionierung) einbezogenen Heranwachsen bei den mittelschweren und leichten Delikten höher sein als gegenwärtig gemessen.
Strafrechtliche Sozialkontrolle der Straftaten im Straßenverkehr
203
fahrensgesetz bzw das Aufenthaltsgesetz sowie die Straßenverkehrsdelikte. 2008 wurden insgesamt 62,7 % aller verurteilten Heranwachsenden in das JGG einbezogen, bei Verkehrsstrafsachen waren es aber nur 42,1 %. Die Einzeldelikte weisen hierbei keine allzu großen Unterschiede auf (vgl. Schaubild 6). Die Abweichung vom Durchschnitt bei fahrlässiger Körperverletzung im Straßenverkehr beruht auf der geringen Einbeziehungsquote von drei Ländern, aus denen 60 % aller verurteilten Heranwachsenden stammen; es handelt sich um Sachsen (8,6 % JGG), Baden-Württemberg (9,3 %) und Bayern (30,7 %). Bereits dieses Beispiel zeigt, dass die Durchschnittswerte nicht interpretierbar sind, weil sie eine regional höchst unterschiedliche Handhabung maskieren (vgl. Schaubild 7). Schaubild 6: Die Einbeziehung der Heranwachsenden in das Jugendstrafrecht nach ausgewählten Straßenverkehrsstraftaten. Deutschland 2008.
Zwischen den Ländern bestehen bei Straßenverkehrsvergehen extrem große Unterschiede in der Anwendung von Jugendstrafrecht auf Heranwachsende (vgl. Schaubild 7); bei keiner anderen Deliktsgruppe findet sich eine derart große Bandbreite. Auch bei Differenzierung nach den Einzeltatbeständen bleiben die Unterschiede in dieser Größenordnung erhalten.37 37 § 142 StGB: 13 % (SN) – 79 % (HH); § 229 StGB iVm Verkehrsunfall: 8 % (BB) – 90 % (SH); §§ 315c, 316 StGB: 15 % (BW) – 88 % (SH); § 21 I Nr. 1 StVG: 20 % (BE) – 83 % (HH).
204
Wolfgang Heinz
Vergleichsberechnungen für die letzten Jahre ergaben, dass die Unterschiede auch relativ stabil sind, was zeigt, dass es sich um eine mehr oder minder schematische, deutlich unterschiedliche Anwendung des Jugendstrafrechts handelt. Schaubild 7: Die Einbeziehung der Heranwachsenden in das Jugendstrafrecht bei Straftaten im Straßenverkehr, nach Ländern 2008. Anteile der nach Jugendstrafrecht verurteilten Heranwachsenden.
Auszüge aus dem Datenblatt zu Schaubild 7: Straftaten im Straßenverkehr 2008
Verurteilte nach JGG verurteilte Heranwachsende nach allgemeinem HeranStrafrecht verurteilte wach- insgesamt in % dar.: in Trunkenheit Heranwachsende sende Heraninsg. insg. wachsende insgesamt % Hwde insgesamt % Hwde insg. insg. insg.
Baden-Württemberg
2.958
502
17,0
190
6,4
2.456
83,0
Bayern
2.896
1.235
42,6
611
21,1
1.661
57,4
Berlin
454
124
27,3
53
11,7
330
72,7
Brandenburg
437
143
32,7
100
22,9
294
67,3
Bremen Hamburg
68
42
61,8
31
45,6
26
38,2
137
101
73,7
51
37,2
36
26,3
Strafrechtliche Sozialkontrolle der Straftaten im Straßenverkehr
205
Fortsetzung Straftaten im Straßenverkehr 2008
Hessen
Verurteilte nach JGG verurteilte Heranwachsende nach allgemeinem HeranStrafrecht verurteilte wach- insgesamt in % dar.: in Trunkenheit Heranwachsende sende Heraninsg. insg. wachsende insgesamt % Hwde insgesamt % Hwde insg. insg. insg. 1.005
784
78,0
429
42,7
221
22,0
506
161
31,8
94
18,6
345
68,2
Niedersachsen
1.644
1.058
64,4
541
32,9
586
35,6
Nordrhein-Westfalen
2.790
1.471
52,7
526
18,9
1.319
47,3
996
295
29,6
90
9,0
701
70,4
Mecklenburg-Vorp.
Rheinland-Pfalz Saarland
293
203
69,3
110
37,5
90
30,7
Sachsen
981
180
18,3
93
9,5
801
81,7
Sachsen-Anhalt
523
186
35,6
104
19,9
337
64,4
Schleswig-Holstein
309
262
84,8
175
56,6
47
15,2
Thüringen
487
193
39,6
131
26,9
294
60,4
Alte Länder
13.550
6.077
44,8
2.807
20,7
7.473
55,2
Neue Länder
2.934
863
29,4
522
17,8
2.071
70,6
Deutschland
16.484
6.940
42,1
3.329
20,2
9.544
57,9
Berechnungen: Heranwachsende.xls, Tab.Blatt: Hwde_Straßenverk._Einbezieh.JGG, Z. 220, Spalte O. Datenquelle: Strafverfolgungsstatistik 2008.
Das Ausmaß dieser deliktspezifischen Varianz kann mit regionalen Unterschieden in der Häufigkeit von Reifeverzögerungen oder der „jugendtypischen Verfehlungen“ nicht erklärt werden. Viele der üblichen Erklärungen für die unterschiedlich hohe Quote, mit der Heranwachsende in das JGG einbezogen werden,38 treffen hier nicht zu.39 Überzeugend ist lediglich die Annahme, dass diese regionalen Unterschiede vor allem eine Folge der unterschiedlichen Nutzung des Strafbefehlsverfahrens sind,40 also Folge von büro38
Ausführlich zu den möglichen Erklärungen Pruin (Fn 35), S. 77 ff. So wird zB angenommen, die größere Flexibilität des Jugendstrafrechts im Bereich der schweren Kriminalität fördere die Anwendung von Jugendstrafrecht. Da die teilweise als zu hoch angesehenen Mindeststrafen des StGB bei Anwendung von Jugendstrafrecht nicht gelten, werde der Begründungsaufwand für die Verhängung einer schuldangemessene Strafe reduziert. Weiter wird vermutet, „dass hier zumeist auch erheblich eingehendere Ermittlungen zum persönlichen und sozialen Hintergrund der Beschuldigten erfolgen“ (BT-Drs 15/2102, S. 3; ebenso Ostendorf Jugendgerichtsgesetz: Kommentar, 8. Aufl. Köln ua 2009, Grdl. z. §§ 105 und 106 Rn 6; Streng Jugendstrafrecht, 2. Aufl. Heidelberg 2008, S. 48.). 40 Ebenso Kölbel (Fn 34), 12 f. mwN auch zu weiteren, eher alltagstheoretischen Gründen auf richterlicher Ebene nach Anklageerhebung; Ostendorf (Fn 39), Grdl. z. §§ 105 und 106 Rn 6; Streng (Fn 39), S. 49. 39
206
Wolfgang Heinz
kratischen Faktoren und nicht Ergebnis einer individuellen Beurteilung. Mangels entsprechender statistischer Daten zum Strafbefehlsverfahren41 kann dies freilich nicht flächendeckend geprüft werden. Eine Sonderauswertung der StVerfStat 1998 in Baden-Württemberg liefert aber eine eindrucksvolle Bestätigung dieser These. Danach ist der Anteil der durch Strafbefehl erfolgten Verurteilungen in allen Hauptdeliktsgruppen bei den nach allgemeinem Strafrecht verurteilten Heranwachsenden höher als bei den Jungund den Vollerwachsenen.42
VI. Straftaten im Straßenverkehr werden, was angesichts der durchschnittlich geringeren Schwere erwartungsgemäß ist, milder sanktioniert als Straftaten ohne Straßenverkehr (vgl. Tabelle 1). Im Vergleich zu den Straftaten ohne Straßenverkehrsvergehen ist der Anteil der ambulanten Sanktionen, insbesondere der Geldstrafe, bei Straßenverkehrsvergehen überproportional hoch. Von allen wegen Straßenverkehrsvergehen Verurteilten wurden 2008 7,5 % zu einer Freiheits-/Jugendstrafe verurteilt, darunter 1,7 % zu einer unbedingten Strafe; bei den Straftaten ohne Straßenverkehrsvergehen waren es 21,5 % bzw 6,7 %. Innerhalb der Einzeltatbestände zeigen sich ebenfalls erwartbare Unterschiede. Der Anteil unbedingter Freiheits-/Jugendstrafen ist überdurchschnittlich hoch bei fahrlässiger Tötung im Straßenverkehr (6,6 %) und bei Führen von Kfz ohne Erlaubnis oder trotz Verbot (§ 21 I Nr. 1 StVG). Auswertungen der StVerfStat ergaben, dass sich die Sanktionierungspraxis bei Straßenverkehrsvergehen vor allem im Gefolge der Strafrechtsreform 1969 deutlich geändert hat; unbedingt verhängte, namentlich kurze Freiheitsstrafen wurden zurückgedrängt zugunsten ambulanter Sanktionen, also Geldstrafe und Strafaussetzung zur Bewährung.43 1968 betrug der Anteil bei Verurteilungen nach allgemeinem Strafrecht noch 22,9 %, 1978 2,4 %. Dieser Prozess hat sich fortgesetzt. 2008 wurden wegen Straßenverkehrsvergehen nur noch 1,7 % zu einer unbedingten Freiheitsstrafe verurteilt. Konformitätsdruck erfolgt vor allem durch die verkehrsausschließenden Maßnahmen.44
41 Lediglich in Baden-Württemberg und in Nordrhein-Westfalen wird durch eine Sondererhebung zur StVerfStat erfasst, ob die Verurteilung durch Strafbefehl erfolgte. 42 Vgl. Heinz Der Strafbefehl in der Rechtswirklichkeit, in: Festschrift für Müller-Dietz, München 2001, S. 294 f., 311, Tab. 6. 43 Zur Sanktionierungspraxis vor 1969 vgl. die Nachweise bei Kerner (Fn 29), 79; Kulemeier (Fn 5), S. 164 ff., Anhang, Tab. 15 ff.; Schöch Kriminologische und sanktionsrechtliche Aspekte der Alkoholdelinquenz im Verkehr, NStZ 1991, 14 ff. 44 Vgl. Kerner (Fn 29), 79 ff.
207
Strafrechtliche Sozialkontrolle der Straftaten im Straßenverkehr
Tabelle 1: Nach StGB und JGG wegen Vergehen im Straßenverkehr Verurteilte nach Art der Sanktion. Deutschland 2008. Wegen Straftaten im Straßenverkehr Verurteilte 2008
insgesamt
Freiheitsstrafe/Jugendstrafe insgesamt
unbedingt
Geldstrafe
Zuchtmittel
bedingt
Erziehungsmaßregel
(1)
(2)
(3)
(4)
(5)
(6)
(7)
Straftaten ohne Straßenverkehrsvergehen
669.749
144.114
45.004
99.110
441.303
77.173
7.159
Straftaten im Straßenverkehr
204.942
15.439
3.500
11.939
176.812
11.803
888
111.820
8.541
1.697
6.844
98.991
3.968
320
93.122
6.898
1.803
5.095
77.821
7.835
568
32.994
1.045
226
819
30.371
1.490
88
§ 222 StGB im StraßenV.
906
320
60
260
542
40
4
§ 229 StGB im StraßenV.
16.495
511
92
419
15.379
561
44
§ 315c StGB mit Unfall
11.434
551
117
434
10.256
573
54
5.831
387
78
309
5.071
353
20
§ 316 StGB
85.956
6.469
1.291
5.178
76.615
2.649
223
§ 21 I 1 Nr. 1 StVG
41.251
5.641
1.544
4.097
29.562
5.624
424
davon in Trunkenheit ohne Trunkenheit § 142 StGB
§ 315c StGB ohne Unfall
Anteile, bezogen auf Verurteilte insgesamt Straftaten ohne Straßenverkehrsvergehen
100
21,5
6,7
14,8
65,9
11,5
1,1
Straftaten im Straßenverkehr
100
7,5
1,7
5,8
86,3
5,8
0,4
davon in Trunkenheit
100
7,6
1,5
6,1
88,5
3,5
0,3
ohne Trunkenheit
100
7,4
1,9
5,5
83,6
8,4
0,6 0,3
§ 142 StGB
100
3,2
0,7
2,5
92,1
4,5
§ 222 StGB im StraßenV.
100
35,3
6,6
28,7
59,8
4,4
0,4
§ 229 StGB im StraßenV.
100
3,1
0,6
2,5
93,2
3,4
0,3
§ 315c StGB mit Unfall
100
4,8
1,0
3,8
89,7
5,0
0,5
§ 315c StGB ohne Unfall
100
6,6
1,3
5,3
87,0
6,1
0,3
§ 316 StGB
100
7,5
1,5
6,0
89,1
3,1
0,3
§ 21 I 1 Nr. 1 StVG
100
13,7
3,7
9,9
71,7
13,6
1,0
Datenquelle: Sanktionen_Strassenverkehr.xls, TabBlatt: Verkehr_2008; Sp. AW, Z. 5 Datenquelle: Strafverfolgungsstatistik
Zwischen unbedingten und bedingten Strafen erfolgte in den letzten Jahrzehnten, und zwar auch noch nach der Strafrechtsreform von 1969, ein bemerkenswerter Austau sch, wenngleich auf kleinem Niveau. Der Anteil der unbedingten Strafen ging, bezogen auf alle Verurteilten, von 3,2 % (1970) auf 1,7 % (2008) zurück (vgl. Tabelle 2, Sp. 3). Daraus kann jedoch nicht der Schluss
208
Wolfgang Heinz
gezogen werden, die Sanktionierungspraxis sei milder geworden, denn dies könnte auch eine Folge der Veränderung der Deliktstruktur innerhalb der letzten Jahrzehnte sein (vgl. Schaubild 4). Deshalb kann nur eine Einzeldeliktanalyse (im Rahmen der durch die StVerfStat vorgegebenen Grenzen) Aufschluss darüber geben, ob sich die Sanktionierungspraxis verändert hat. Tabelle 2: Nach StGB und JGG wegen Vergehen im Straßenverkehr Verurteilte nach Art der Sanktion. Früheres Bundesgebiet einschl. Westberlin, seit 1995 mit Gesamtberlin, 2008 Deutschland. Wegen Straftaten im Straßenverkehr Verurteilte insgesamt
Freiheitsstrafe/Jugendstrafe
Geldstrafe
Zuchtmittel Erziehungsmaßregel
insgesamt
unbedingt
bedingt
(1)
(2)
(3)
(4)
(5)
(6)
1970
308.088
25.274
9.818
15.456
264.769
17.395
650
1975
297.275
24.135
6.077
18.058
250.920
20.570
1.650
1980
329.300
30.857
7.416
23.441
259.698
34.189
4.556
1985
267.633
26.801
6.557
20.244
213.473
22.203
5.156
1990
258.681
23.132
5.642
17.490
219.488
13.204
2.857
1995
262.054
23.049
5.276
17.773
227.421
10.569
1.015
2000
209.894
19.449
5.097
14.352
179.094
10.593
758
2005
189.302
14.859
3.240
11.619
159.778
13.703
962
2008
204.942
15.439
3.500
11.939
176.812
11.803
888
(7)
Anteile, bezogen auf Verurteilte insgesamt 1970
100
8,2
3,2
5,0
85,9
5,6
0,2
1975
100
8,1
2,0
6,1
84,4
6,9
0,6
1980
100
9,4
2,3
7,1
78,9
10,4
1,4
1985
100
10,0
2,4
7,6
79,8
8,3
1,9
1990
100
8,9
2,2
6,8
84,8
5,1
1,1
1995
100
8,8
2,0
6,8
86,8
4,0
0,4
2000
100
9,3
2,4
6,8
85,3
5,0
0,4
2005
100
7,8
1,7
6,1
84,4
7,2
0,5
2008
100
7,5
1,7
5,8
86,3
5,8
0,4
Datenquelle: Sanktionen_Strassenverkehr.xls, TabBlatt: Sankt_i; Sp. R, Z. 60 Datenquelle: Strafverfolgungsstatistik
Wird als Indikator für eine Änderung der Sanktionierungspraxis der Anteil der zu bedingter/unbedingter Freiheitsstrafe Verurteilten gewählt, dann zeigt der Vergleich 1985, 1995 und 2008 hinsichtlich des allgemeinen Strafrechts (vgl. Tabelle 3):
Strafrechtliche Sozialkontrolle der Straftaten im Straßenverkehr
209
Tabelle 3: Nach StGB wegen Vergehen im Straßenverkehr zu Freiheitsstrafe Verurteilte. Früheres Bundesgebiet einschl. Westberlin, seit 1995 mit Gesamtberlin, 2008 Deutschland. Nach allgemeinem Strafrecht Verurteilte insgesamt
dar.: zu Freiheitsstrafe (in % der Verurteilten) insgesamt
unter 6 Mte
6 Mte bis ein- mehr als 12 bis schl. 12 Mte einschl. 24 Mte
>24
unbed.
bed.
unbed.
bed.
unbed.
bed.
(1)
(2)
(3)
(4)
(5)
(6)
(7)
(8)
insg. (9)
1985 Straftaten im Straßenverkehr 1995
239.484
10,86
1,50
6,50
0,99
1,70
0,13
0,03
0,01
250.054
9,05
1,11
5,13
0,81
1,76
0,12
0,11
0,02
2008
191.683
7,76
0,78
3,76
0,81
2,12
0,09
0,15
0,04
1985 § 142 StGB
37.231
5,72
0,59
2,91
0,70
1,36
0,12
0,03
0,01
1995
33.564
4,51
0,38
2,06
0,52
1,35
0,09
0,10
0,02
2008
31.319
3,03
0,11
1,07
0,36
1,31
0,10
0,07
0,01
1.804
33,43
0,00
2,33
4,27
20,73
4,71
1,05
0,33
1.368
32,46
0,07
1,75
2,05
16,89
5,70
4,97
1,02 2,51
1985 § 222 StGB im StraßenV. 1995 2008 1985 § 229 StGB im StraßenV. 1995 2008 1985 §§ 315c, 316 StGB 1995
837
35,24
0,00
1,43
0,96
19,71
3,35
7,29
41.482
3,28
0,29
1,83
0,29
0,78
0,08
0,01
0,00
26.695
3,93
0,26
1,79
0,45
1,22
0,10
0,09
0,01
15.858
3,02
0,08
1,12
0,34
1,32
0,08
0,04
0,04
129.021
13,10
1,83
8,70
0,96
1,52
0,06
0,02
0,00
133.405
9,64
1,05
6,02
0,77
1,68
0,06
0,06
0,01
2008
99.147
7,27
0,62
3,89
0,72
1,88
0,06
0,07
0,02
1985 § 21 I 1 Nr. 1 StVG 1995
21.542
19,32
3,85
9,53
2,70
3,04
0,17
0,03
0,01
42.777
14,08
2,62
7,67
1,44
2,15
0,11
0,08
0,01
2008
35.043
15,64
2,32
7,58
1,82
3,66
0,10
0,13
0,01
Datenquelle: Sanktionen_Strassenverkehr.xls, TabBlatt: StrVerk_Sankt_1985_95_2008; Sp. CX, Z. 46 Datenquelle: Strafverfolgungsstatistik
• Unerlaubtes Entfernen vom Unfallort ohne Personenschaden (§ 142 StGB): Der Anteil sowohl der zu unbedingter als auch der zu bedingter Freiheitsstrafen Verurteilten ist um ca. die Hälfte zurückgegangen. Dies beruht vor allem auf einem Rückgang der Freiheitsstrafen unter sechs Monaten. • Fahrlässige Tötung im Straßenverkehr (§ 222 StGB): Hier zeigt sich eine Tendenz zu härterer Bestrafung. Der Anteil der verhängten Freiheitsstrafen ist zwar nur leicht (von 33,4 % auf 35,2 %) gestiegen, was insgesamt auf einer Zunahme der zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafen beruht (von 24,1 % auf 28,4 %) bei gleichzeitigem Rückgang der unbedingt verhängten Strafen (von 9,3 % auf 6,8 %). In der Binnenstruktur zeigt sich
210
Wolfgang Heinz
aber eine deutliche Verschiebung zu längerfristigen Freiheitsstrafen. Der Anteil der Freiheitsstrafen bis zwölf Monate ging nämlich zurück (von 27,3 % auf 22,1 %), gleichzeitig stieg der Anteil der Freiheitsstrafen von mehr als zwölf Monaten. Die Freiheitsstrafen von mehr als zwölf Monaten bis einschließlich 24 Monate stiegen von 5,8 % auf 10,6 %, diejenigen von mehr als 24 Monaten von 0,3 % auf 2,5 %. Dies ging einher mit einer vermehrten Strafaussetzung zur Bewährung mit der Folge einer moderaten Zunahme des Anteils unbedingter Freiheitsstrafen von mehr als zwölf Monaten (von 5,0 % auf 5,9 %). • Fahrlässige Körperverletzung im Straßenverkehr (§ 229 StGB): Der Anteil der Freiheitsstrafen ging hier in fast allen Kategorien leicht zurück, lediglich bei Strafen mit einer Dauer von sechs bis einschließlich zwölf Monaten gab es leichte Zunahmen. • Verkehrsgefährdung in Trunkenheit (§§ 315c, 316 StGB): Der Anteil der verhängten Freiheitsstrafen hat sich zwischen 1985 und 2008 fast halbiert, besonders stark ging der Anteil der kurzen Freiheitsstrafen zurück. • Führen eines Kraftfahrzeuges ohne Fahrerlaubnis oder trotz Fahrverbots (§ 21 I Nr. 1 StVG): Auch hier gingen die relativen Zahlen der verhängten Freiheitsstrafen insgesamt und in fast allen Kategorien zurück. Insgesamt ist, diesem Indikator zufolge, die Sanktionierungspraxis im allgemeinen Strafrecht – trotz möglicher Ausweitung von Opportunitätseinstellungen – milder geworden, fahrlässige Tötung im Straßenverkehr ausgenommen.
VII. Die entsprechende Kontrolle für die Sanktionierungspraxis im Jugendstrafrecht ergibt dagegen ein diametral entgegengesetztes Bild. Im Gegensatz zum allgemeinen Strafrecht ist die Sanktionierungspraxis im Jugendstrafrecht härter geworden, jedenfalls gemessen am Anteil der verhängten Jugendstrafen (vgl. Tabelle 4). Freilich lässt sich der verfälschende Einfluss zunehmender Einstellungen gem. §§ 45, 47 JGG nicht kontrollieren. Denn durch Diversion werden vor allem leichtere Delikte ausgefiltert, weshalb der Anteil der zur Verurteilung gelangenden schweren Delikte zunimmt. Während im allgemeinen Strafrecht der Anteil der insgesamt verhängten Freiheitsstrafen von 10,9 % (1985) auf 7,8 % (2008) zurückging, stieg im Jugendstrafrecht der Anteil der Jugendstrafen von 2,8 % (1985) auf 4,3 % (2008). Dieselbe gegenläufige Entwicklung findet sich sowohl bei den unbedingten als auch bei den bedingten Strafen. Unbedingt verhängte Freiheitsstrafen gingen von 2,6 % auf 1,7 % zurück, unbedingt verhängte Jugendstrafen stiegen von 0,9 % auf 1,4 %; bedingt verhängte Freiheitsstrafen gingen zurück von 8,3 % auf 6,0 %, bedingt verhängte Jugendstrafen stiegen von 1,9 % auf 2,8 %. Erwartungswidrig ist sogar der Anteil der zeitigen Stra-
Strafrechtliche Sozialkontrolle der Straftaten im Straßenverkehr
211
fen von mehr als 24 Monaten Dauer bei den nach Jugendstrafrecht Verurteilten höher (2008: 0,30 %) als bei den nach allgemeinem Strafrecht Verurteilten (2008: 0,04 %). Wird noch Jugendarrest berücksichtigt, dann wurde 2008 bei 11,1 % der nach JGG Verurteilten auf eine stationäre – unbedingte Jugendstrafe, Jugendarrest – Sanktion erkannt, indes nur bei 1,7 % der nach allgemeinem Strafrecht Verurteilten. Dieser Befund gibt Anlass zu prüfen, ob diese Unterschiede in der Sanktionsintensität auch bei Kontrolle der Einzeldelikte vorhanden sind oder ob es sich nur um einen Effekt einer unterschiedlichen deliktischen Zusammensetzung der übergreifenden Deliktsgruppe „Straftaten im Straßenverkehr“ handelt. Tabelle 4: Nach allgemeinem Strafrecht und nach Jugendstrafrecht wegen Vergehen im Straßenverkehr Verurteilte. Früheres Bundesgebiet einschl. Westberlin, 2008 Deutschland. Nach allgemeinem Strafrecht Verurteilte
Nach JGG Verurteilte
dar.: zu Freiheitsstrafe insg.
1985 Straftaten im Straßenverkehr 2008
unbedingt
bedingt
>24 Mte
dar.: Jugendstrafe insg.
unbedingt
bedingt
> 24 Mte
Jugendarrest
(1)
(2)
(3)
(4)
(5)
(6)
(7)
(8)
(9)
239.484
2,63
8,23
0,01
28.149
0,9
1,9
0,09
11,0 9,7
191.683
1,73
6,03
0,04
13.259
1,4
2,8
0,30
1985 § 142 StGB
37.231
1,42
4,30
0,01
3.836
1,4
2,7
0,21
9,9
2008
31.319
0,57
2,45
0,01
1.675
2,7
3,0
0,54
7,8
100.570
3,13
10,73
0,00
5.514
1,0
1,7
0,05
11,2
2008
82.955
1,50
6,14
0,02
3.001
1,4
2,9
0,30
6,1
1985 § 21 I 1 Nr. 1 StVG 2008
21.542
6,73
12,59
0,01
12.487
0,5
0,9
0,06
12,4
35.043
4,26
11,38
0,01
6.208
0,8
1,8
0,10
12,4
1985 § 316 StGB
Datenquelle: Sanktionen_Strassenverkehr.xls, TabBlatt: StrVerk_JGG_1985_95_2008; Sp. E, Z. 94 Datenquelle: Strafverfolgungsstatistik
Für einen Vergleich eignen sich nur Delikte mit hinreichend großen absoluten Zahlen, also §§ 142, 316 StGB und § 21 I Nr. 1 StVG. Bei allen drei Straftatbeständen ergibt sich dasselbe Bild (vgl. Tabelle 4): • Der Anteil der nach allgemeinem Strafrecht zu einer Freiheitsstrafe Verurteilten ist 2008 deutlich niedriger als 1985; bei den nach Jugendstrafrecht Verurteilten ist dagegen der Anteil der verhängten Jugendstrafen deutlich höher. • Dasselbe gilt sowohl für die unbedingt verhängten Freiheitsstrafen im Vergleich zu den unbedingt verhängten Jugendstrafen als auch für die bedingten Freiheits- und Jugendstrafen.
212
Wolfgang Heinz
• Der Anteil der zu einer stationären Sanktion von mehr als 24 Monaten Verurteilten ist im Jugendstrafrecht bei allen drei Straftatbeständen sowohl 1985 als auch 2008 höher, und zwar um ein Mehrfaches. • Der Anteil der zu Jugendarrest Verurteilten ist zurückgegangen bzw – bei § 21 I Nr. 1 StVG – konstant geblieben. Unter Berücksichtigung auch von Jugendarrest ist der Anteil der stationären Sanktionen bei den nach JGG Verurteilten zwar bei §§ 142, 316 StGB zurückgegangen, bei § 21 I Nr. 1 StVG hingegen leicht gestiegen. Im Vergleich zu den nach allgemeinem Strafrecht Verurteilten ist der Anteil der 2008 nach JGG zu einer stationären Sanktion Verurteilten bei § 142 StGB um das 3,8fache höher, bei § 316 StGB um das 5,3fache und bei den nach § 21 I Nr. 1 StVG Verurteilten um das 16,4fache. Diese Unterschiede mögen sich bei genauerer Kontrolle der Strafzumessungsgesichtspunkte, was anhand der Daten der StVerfStat nicht möglich ist, vielleicht noch etwas verringern, gänzlich verschwinden werden sie angesichts dieses Ausmaßes jedoch nicht. Sie bestätigen vielmehr erneut, was schon wiederholt gezeigt wurde,45 dass bei vergleichbaren Delikten nach Jugendstrafrecht relativ häufiger mit freiheitsentziehenden Sanktionen reagiert wird als dies im allgemeinen Strafrecht der Fall ist.
VIII. Bei Straßenverkehrsstraftaten wird in den Ländern in unterschiedlich hohem Maße von Freiheits-/Jugendstrafen Gebrauch gemacht (vgl. Schaubild 8). Bei den drei Vergehen mit einer hinreichend großen absoluten Zahl von Freiheits-/Jugendstrafen zeigt sich, werden jeweils die vier „mildesten“ und die vier „härtesten“ Länder berücksichtigt, zum einen das klassische Nord-Süd-Gefälle, bei Verstößen gegen § 21 I 1 Nr. 1 StVG wird dies überlagert durch ein Ost-West-Gefälle. Ob diese deskriptiven Befunde, die anhand der Daten der StVerfStat zu gewinnen sind, auch bei Kontrolle weiterer Strafzumessungsvariablen erhalten bleiben, kann allerdings nur durch Aktenanalysen geklärt werden. Diese Transparenz zu schaffen, ist freilich Voraussetzung für die sich anschließenden Rechtsfragen um Gleichheit und Richtigkeit, die sich bei offenkundig schematischer Strafzumessung stellen.
45 Vgl. die Nachweise bei Kinzig Jugendstrafrecht: ein milderes Recht?, in: Festschrift für Eisenberg, München 2009, S. 379 ff.
213
Strafrechtliche Sozialkontrolle der Straftaten im Straßenverkehr
Schaubild 8: Sanktionierungspraxis (Freiheits-/Jugendstrafen) bei ausgewählten Straßenverkehrsvergehen, nach Ländern, 2008.
Auszüge aus dem Datenblatt zu Schaubild 8: § 315c StGB
§ 316 StGB
2008
Verurt. insg.
FS/JSA insg. in % VU
FS/FJ insg. in % VU
BW
2.520
5,6
0,9
11.745
8,6
1,4
BY
2.067
8,8
1,4
15.141
11,7
2,4
BE
988
4,1
1,3
2.224
4,9
BB
583
5,0
0,9
4.450
7,3
HB
127
4,7
0,0
581
5,0
0,2
338
7,7
0,9
HH
269
3,3
0,7
1.386
4,0
0,4
733
10,2
2,3
HE
1.459
5,1
1,2
5.985
7,2
1,2
2.761
13,8
2,8
MV
599
7,3
3,0
2.940
6,3
2,4
1.048
16,7
7,2
NI
1.531
3,7
0,7
9.113
5,6
1,3
4.645
10,3
2,6
NW
dar.: Verurt. unbed. insg. FS/FJ in % VU
§ 21 I 1 Nr. 1 StVG dar.: Verurt. unbed. insg. FS/FJ in % VU
FS/FJ insg. in % VU
dar.: unbed. FS/FJ in % VU
5.504
13,8
3,6
5.631
17,1
5,2
1,3
1.629
16,6
6,0
1,6
1.392
14,7
3,7
3.579
4,4
0,8
13.208
5,8
1,1
10.226
11,8
3,1
RP
931
7,3
1,4
4.333
9,1
1,7
2.278
13,8
3,6
SL
406
7,1
0,7
1.624
8,3
1,1
777
11,7
2,4
SN
690
5,4
2,2
5.107
6,7
1,3
1.500
17,7
4,9
ST
525
4,0
1,1
3.007
7,0
1,8
902
21,0
7,3
214
Wolfgang Heinz
Fortsetzung
2008
Verurt. insg.
§ 315c StGB
§ 316 StGB
FS/JSA insg. in % VU
FS/FJ insg. in % VU
dar.: Verurt. unbed. insg. FS/FJ in % VU
§ 21 I 1 Nr. 1 StVG dar.: Verurt. unbed. insg. FS/FJ in % VU
FS/FJ insg. in % VU
dar.: unbed. FS/FJ in % VU
SH
437
1,8
0,5
2.947
3,0
0,4
1.180
7,5
1,0
TH
554
6,5
1,8
2.165
4,7
1,3
707
20,9
5,7
17.265
5,4
1,1
85.956
7,5
1,5
41.251
13,7
3,7
BRD
Datenquelle: Sanktionen_Strassenverkehr.xls, TabBlatt: Verkehr_2008; Sp. AP, Z. 362 Datenquelle: Strafverfolgungsstatistik
IX. Als „eigentliche“ Strafe werden aber von den Betroffenen – und von den Gerichten vielfach auch so gemeint – die verkehrsausschließenden Maßnahmen der §§ 44, 69, 69a StGB empfunden. Aus empirischer Sicht ist die Kombination von Strafe und Ausschluss vom motorisierten Verkehr die Regel, 2008 war dies bei 63 % der wegen Verkehrsstraftaten Abgeurteilten46 der Fall (vgl. Schaubild 9); bei den Delikten mit der Regelvermutung gem. § 69a II StGB in 76,1 %. Während bei den verkehrsausschließenden Maßnahmen der Behörden etwas mehr als 90 % auf das Fahrverbot entfallen,47 dominiert bei den strafgerichtlichen Maßnahmen mit knapp 80 % die Entziehung der Fahrerlaubnis einschl. isolierter Sperre (im Folgenden FEE48), maW FEE wurden von den Strafgerichten 3,7mal häufiger angeordnet als Fahrverbote (122.860 : 33.032). Die FEE ist mit 97 % die weitaus am häufigsten verhängte Maßregel der Bes46 Abgeurteilte iSd StVerfStat sind Angeklagte, gegen die Strafbefehle erlassen wurden bzw Strafverfahren nach Eröffnung des Hauptverfahrens durch Urteil oder Einstellungsbeschluss rechtskräftig abgeschlossen worden sind. Ihre Zahl setzt sich zusammen aus den Verurteilten und aus Personen, gegen die andere Entscheidungen (Freispruch, Einstellung des Strafverfahrens, Absehen von Strafe, Anordnen von Maßregeln der Besserung und Sicherung sowie Überweisung an den Vormundschaftsrichter gem. § 53 JGG) getroffen wurden. Verurteilte sind Angeklagte, gegen die nach allgemeinem Strafrecht Freiheitsstrafe, Strafarrest oder Geldstrafe (auch durch einen rechtskräftigen Strafbefehl) verhängt worden ist, oder deren Straftat nach Jugendstrafrecht mit Jugendstrafe, Zuchtmitteln oder Erziehungsmaßregeln geahndet wurde. 47 KBA (Hrsg.): „Fahrerlaubnisse – Fahrerlaubnismaßnahmen“ 2008, Tab. 2 und 4. 2008 wurden 452.243 Fahrverbote in Bußgeldverfahren ausgesprochen, in 45.173 Fällen erfolgte eine Fahrerlaubnisentziehung durch die Fahrerlaubnisbehörden. 48 Fahrerlaubnisentziehung und isolierte Sperre werden für die StVerfStat nicht getrennt erhoben und können deshalb auch nicht gesondert ausgewiesen werden. Unter FEE wird deshalb im Folgenden immer Fahrerlaubnisentziehung und isolierte Sperre verstanden.
215
Strafrechtliche Sozialkontrolle der Straftaten im Straßenverkehr
serung und Sicherung (vgl. Tabelle 5, Sp. 5). Anlass zur Anordnung boten und bieten, dem Maßregelzweck entsprechend, fast ausschließlich die Straftaten im Straßenverkehr.49 2008 erfolgten 93,6 % aller Fahrerlaubnisentziehungen wegen dieser Delikte (vgl. Tabelle 5, Sp. 6), und zwar vor allem wegen Straftaten in Trunkenheit (77 %). Dementsprechend entfielen auf die folgenlose Trunkenheitsfahrt (§ 316 StGB) 57,5 % aller FEE. Tabelle 5: Entziehung der Fahrerlaubnis (Sperre) bzw Fahrverbot durch die Strafgerichte. Deutschland 2008.
2008
Abgeurteilte insg. (1)
Maßregeln (§§ 61 f.
§§ 69, 69a StGB insg.
% % % Abg. §§ 61 ff. Delikt
(2)
(3)
(4)
1.087.842
126.077
122.860
11,3
97,4
Straftaten ohne Straßenverkehrsvergehen
856.534
11.009
7.878
0,9
71,6
Straftaten im Straßenverkehr
231.308
115.068
114.982
49,7
davon in Trunkenheit
115.542
94.725
94.662
ohne Trunkenheit
115.766
20.343
Straftaten insge. samt
§ 142 StGB
§ 44 StGB
(5)
(6)
insg.
% Abg.
% §§ 44, 69
(7)
(8)
(9)
33.032
3,0
21,2
6,4
5.400
0,6
40,7
99,9
93,6
27.632
11,9
19,4
81,9
99,9
77,0
5.626
4,9
5,6
20.320
17,6
99,9
16,5
22.006
19,0
52,0
100
43.419
12.100
12.093
27,9
99,9
9,8
10.848
25,0
47,3
§ 222 StGB im V.
973
265
261
26,8
98,5
0,2
197
20,2
43,0
§ 229 StGB im V.
18.431
5.137
5.131
27,8
99,9
4,2
2.980
16,2
36,7
§ 315c StGB mit Unfall
11.839
10.130
10.125
85,5
100,0
8,2
725
6,1
6,7
§ 315c StGB ohne Unfall
7.465
4.977
4.972
66,6
99,9
4,0
626
8,4
11,2
§ 316 StGB
88.234
70.635
70.595
80,0
99,9
57,5
4.827
5,5
6,4
395
83,7
98,8
0,3
18
3,8
4,4
10.710
22,3
100,0
8,7
6.613
13,8
38,2
§ 323a StGB im V. mit Verkehrsunfall § 21 I 1 Nr. 1 StVG
472
48.070
400
10.710
Datenquelle: FahrerlaubnisE_Fahrverbot.xls, TabBlatt: Abgeurt._Maßr_2008_BRD; Sp. B, Z. 2 Datenquelle: Strafverfolgungsstatistik
49 §§ 44, 69, 69a StGB sind hier nur dann erfasst, wenn die schwerste der Aburteilung zugrundeliegende Straftat ein Straßenverkehrsdelikt war.
216
Wolfgang Heinz
Die Dauer der Sperrfrist bei Erwachsenen50 liegt zu 80 % im Bereich zwischen mehr als sechs Monaten bis einschließlich zwei Jahre (vgl. Tabelle 6, Sp. 7). Längere Sperrfristen finden sich vor allem bei Nicht-Verkehrsstraftaten sowie bei fahrlässiger Tötung im Straßenverkehr, was darauf hindeutet, dass sich die Dauer der Sperrfrist hier weniger am Zweck der Maßregel als vielmehr an dem durch das Delikt verursachten Schaden orientiert. Dies könnte auch erklären, weshalb sowohl bei Verkehrsunfallflucht als auch bei fahrlässiger Körperverletzung überdurchschnittlich häufig kurze Sperrfristen verhängt werden. Tabelle 6: Abgeurteilte Erwachsene mit Entziehungen der Fahrerlaubnis (Sperre) nach der Dauer. Deutschland 2008.
2008
§ 69 StGB
bis 6 Mte
mehrt als 6 Mte
% mehr als
2 Jahre
bis einschl.
für immer
bis 6 Mte, %
6 Mte
2 Jahre
bis einschl.
2 Jahre
5 Jahre
2 Jahre
5 Jahre
(1)
(2)
(3)
(4)
(5)
(6)
(7)
(8)
111.724
21.689
88.456
1.546
33
19,4
79,2
1,4
6.500
1.449
4.690
355
6
22,3
72,2
5,5
105.224
20.240
83.766
1.191
27
19,2
79,6
1,1
davon in Trunkenheit
86.793
14.701
71.218
857
17
16,9
82,1
1,0
ohne Trunkenheit
18.431
5.539
12.548
334
10
30,1
68,1
1,8
10.661
2.945
7.606
108
2
27,6
71,3
1,0
Straftaten insgesamt Straftaten ohne Straftaten im Straßenverkehr Straftaten im Straßenverkehr
§ 142 StGB § 222 StGB im V.
216
48
134
32
2
22,2
62,0
14,8
§ 229 StGB im V.
4.395
1.004
3.335
54
2
22,8
75,9
1,2
§ 315c StGB mit Unfall
8.837
1.673
7.106
56
2
18,9
80,4
0,6
§ 315c StGB ohne Unfall § 316 StGB § 323a StGB im V. mit Verkehrsunfall § 21 I 1 Nr. 1 StVG
4.402
913
3.448
41
0
20,7
78,3
0,9
65.536
11.356
53.549
620
11
17,3
81,7
0,9
363
52
302
9
0
14,3
83,2
2,5
10.188
2.085
7.857
241
5
20,5
77,1
2,4
Datenquelle: FahrerlaubnisE_Fahrverbot.xls, TabBlatt: FahrerlaubnisEntz_2008_BRD; Sp. AU, Z. 6 Datenquelle: Strafverfolgungsstatistik 50 Zur Dauer von FEE sieht die Zählkarte sowohl bei nach allgemeinem Strafrecht als auch bei nach Jugendstrafrecht Abgeurteilten zwar vor, folgende Daten zu erheben: „Entziehung der Fahrerlaubnis bzw Sperre (§§ 69, 69a StGB) bis einschließl. 6 Monate“, „mehr als 6 Mon. bis einschl. 2 Jahre“, „mehr als 2 Jahre bis einschl. 5 Jahre“ sowie „für immer“; in der Aufbereitung werden die oberen Kategorien bei Heranwachsenden zusammengefasst zu „mehr als 2 Jahren“, bei Jugendlichen zu „mehr als 6 Monate“. Eine differenzierte Auswertung der Dauer der Sperrfrist ist deshalb nur bei Erwachsenen möglich.
217
Strafrechtliche Sozialkontrolle der Straftaten im Straßenverkehr
Die Denkzettelstrafe des Fahrverbots wird häufiger verhängt bei Straßenverkehrsvergehen ohne Trunkenheit sowie bei Straftaten außerhalb des Straßenverkehrs (vgl. Tabelle 7, Sp. 3). 2008 wurden nur 6,4 % der FEE bei Delikten außerhalb des Straßenverkehrs angeordnet, aber 16,3 % der Fahrverbote. Nennenswerte Anteile von Fahrverboten weisen insoweit vor allem §§ 240, 229 (ohne Verkehrsunfall), 267 I StGB sowie Verstöße gegen das BtMG bzw das Pflichtversicherungsgesetz auf. Während FEE die RegelsankTabelle 7: Verurteilte mit Fahrverbot und nach dessen Dauer. Deutschland 2008. § 44 StGB nach der Dauer (in % § 44 StGB) 2008
Verurteilte
insg.
in % Verurt.
% Delikt
bis einschl. 1 Mt
mehr als 1 Mt
2 Mte
bis einschl. 2 Mte (1)
(2)
(3)
Straftaten insgesamt
874.691
33.032
3,8
Straftaten im Straßenverkehr
204.942
27.632
13,5
davon in Trunkenheit ohne Trunkenheit § 142 StGB
(4) 100 83,7
3 Mte
(5)
(6)
(7)
38,1
18,6
43,3
36,0
18,5
45,5
111.820
5.626
5,0
17,0
6,4
7,4
86,2
93.122
22.006
23,6
66,6
43,5
21,4
35,1
32.994
10.848
32,9
32,8
44,8
23,7
31,5
§ 222 StGB im V.
906
197
21,7
0,6
29,4
23,4
47,2
§ 229 StGB im V.
16.495
2.980
18,1
9,0
58,2
18,0
23,9
§ 315c StGB mit Unfall
11.434
725
6,3
2,2
18,6
15,0
66,3
5.831
626
10,7
1,9
24,0
20,6
55,4
85.956
4.827
5,6
14,6
5,9
7,1
87,1
465
18
3,9
0,1
0,0
0,0
100,0
41.251
6.613
16,0
20,0
35,2
18,6
46,2
669.749
5.400
0,8
16,3
48,8
18,9
32,3
§ 315c StGB ohne Unfall § 316 StGB § 323a StGB im V. mit Verkehrsunfall § 21 I 1 Nr. 1 StVG Straftaten ohne Straftaten im Straßenverkehr § 223 StGB ohne V.
50.492
455
0,9
1,4
39,8
22,2
38,0
§ 229 StGB o.V.
5.152
494
9,6
1,5
61,3
18,0
20,6
§ 240 StGB
7.540
1.580
21,0
4,8
56,2
19,4
24,4
§ 267 I StGB
17.876
369
2,1
1,1
34,1
20,3
45,5
Betäubungsmittelgesetz
61.256
332
0,5
1,0
62,7
14,5
22,9
Pflichtversicherungsgesetz
13.902
1.019
7,3
3,1
51,6
18,6
29,7
Datenquelle: FahrerlaubnisE_Fahrverbot.xls, TabBlatt: § 44_2008; Sp. B, Z. 2 Datenquelle: Strafverfolgungsstatistik
218
Wolfgang Heinz
tion bei Trunkenheitsdelikten im Straßenverkehr ist (77 %), beträgt der entsprechende Anteil an allen Fahrverboten nur 17 %, auf Straßenverkehrsdelikte ohne Trunkenheit entfielen aber 2008 66,6 % aller Fahrverbote (vgl. Tabelle 5, Sp. 6; Tabelle 7, Sp. 4). Die Anordnungswahrscheinlichkeit eines Fahrverbotes, gemessen als Anteil der verhängten Fahrverbote an den jeweiligen Verurteilten, war 2008 überdurchschnittlich hoch (vgl. Tabelle 7, Sp. 3) bei § 142 StGB (32,9 %), bei §§ 222, 229 in Verbindung mit einem Verkehrsunfall (21,7 % bzw 18,1 %) sowie bei § 240 StGB (21,0 %). Die Dauer des Fahrverbots51 variiert erwartungsgemäß deliktspezifisch. Wenn Anordnungsgrund ein Trunkenheitsdelikt ist, dann ist die Dauer überdurchschnittlich lang (vgl. Tabelle 7, Sp. 7). 2008 hatten 43,3 % aller Fahrverbote eine Dauer von mehr als zwei Monaten bis einschließlich drei Monate. Bei Trunkenheitsdelikten betrug der Anteil dieser Kategorie 86,2 %, was als Austauschfunktion mit der FEE erklärbar sein dürfte. Handelt es sich dagegen um ein Straßenverkehrsvergehen ohne Trunkenheit oder um ein Delikt außerhalb des Straßenverkehrs, dann wird überdurchschnittlich häufig ein Fahrverbot bis zu einem Monat verhängt (vgl. Tabelle 7, Sp. 5).
X. Relativ, bezogen auf Abgeurteilte,52 haben die verkehrsausschließenden Maßnahmen bei den Vergehen im Straßenverkehr bis Anfang der 1990er Jahre deutlich zugenommen (vgl. Schaubild 9: 1976: 52,2 %; 1991: 66,2 %).53 In den 1990er Jahren gab es nur geringe Schwankungen um einen Wert von 65%. Seit 1998 gehen die relativen Zahlen der verkehrsausschließenden Maßnahmen wieder leicht zurück (2008: 63,4 % früheres Bundesgebiet – FG; 61,7 % BRD). Die nähere Betrachtung zeigt, dass sich FEE und Fahrverbot in den letzten Jahren gegenläufig entwickelt haben. Bis Mitte der 1990er Jahre nahmen die relativen Zahlen bei FEE im Wesentlichen zu (FEE 1976: 46,5 %; 1995: 55,6 %); beim Fahrverbot kam es ab Mitte der 1980er Jahre zu einem leichten Rückgang (1976: 6,5 %; 1985: 12,4 %; 1990: 11,6 %, 1995:
51 Die Dauer des Fahrverbots wird in den Kategorien „1 Monat“, „mehr als 1 Monat bis einschließlich 2 Monate“, „mehr als 2 Monat bis einschließlich 3 Monate“ erhoben. 52 Da eine Entziehung der Fahrerlaubnis (Sperre) auch dann erfolgen kann, wenn der Beschuldigte wegen erwiesener oder nicht auszuschließender Schuldunfähigkeit freigesprochen wird, muss die Zahl der FEE auf die Abgeurteilten bezogen werden. Ein Fahrverbot ist nur neben einer Hauptstrafe wegen schuldhaft begangener Tat möglich, weshalb die Grundgesamtheit hier die Verurteilten bilden. Werden wegen möglicher Austauschprozesse beide Reaktionsarten zusammengefasst, ist die Bezugnahme auf die Abgeurteilten unausweichlich. Der Anteil der Fahrverbote wird dadurch allerdings etwas unterschätzt. 53 Zur Praxis der verkehrsausschließenden Maßnahmen vor 1976 vgl. die Nachweise bei Kulemeier (Fn 5), S. 166 ff., Anhang Tab. 2.
Strafrechtliche Sozialkontrolle der Straftaten im Straßenverkehr
219
10,2 %).54 Während seit Mitte der 1990er Jahre die relativen Zahlen der FEE zurückgehen (2008: 50,8 % FG bzw 49,7 % BRD), steigen die Zahlen der Fahrverbote (2008: 14,9 % FG bzw 13,5 % BRD). Dementsprechend hat im langfristigen Vergleich die quantitative Bedeutung des Fahrverbots zu-, die der FEE dagegen abgenommen. 1976 entfielen noch 89,0 % aller verkehrsausschließenden Maßnahmen auf FEE; einem leichten Rückgang auf 83,0 % bis 1985 folgte ein leichter Anstieg auf 86,3 % (1994), seitdem gehen die relativen Zahlen ziemlich kontinuierlich zurück. Gleichwohl dominiert innerhalb der verkehrsausschließenden Maßnahmen durch die Strafgerichte weiterhin die FEE mit derzeit (2008) 80,6 %. Schaubild 9: Wegen Vergehen im Straßenverkehr angeordnete Entziehung der Fahrerlaubnis/Sperre sowie verhängte Fahrverbote. Früheres Bundesgebiet einschl. Westberlin, seit 1995 mit Gesamtberlin, seit 2007 Deutschland.
Hinsichtlich der Dauer sowohl der FEE als auch des Fahrverbots ergeben sich im langfristigen Vergleich insgesamt leichte Veränderungen (vgl. Schaubild 10). Der Anteil der Sperrfrist von mehr als 6 Monaten ist leicht gestiegen 54 Die nach den Daten des KBA sprunghaft erfolgte Zunahme der FEE in den neuen Bundesländern (vgl. Bode, Fn 5, 373 f.) ist in Schaubild 9 nicht berücksichtigt. Die Daten der StVerfStat beziehen sich bis einschließlich 2006 nur auf die alten Länder einschließlich (seit 1995) Gesamtberlin.
220
Wolfgang Heinz
von 68,7 % (1976) auf 78,9 % (2008 FG) bzw 79,1 % (2008 BRD). Der Anteil der Fahrverbote mit einer Dauer von mehr als zwei bis einschließlich drei Monaten nahm zwischen 1976 (46,7 %) und 1986 (59,2 %) zu, seitdem ist er aber wieder zurückgegangen auf 46,6 % (2008 FG) bzw 45,5 % (2008 BRD). Schaubild 10: Wegen Vergehen im Straßenverkehr Abgeurteilte mit Fahrverbot oder Entziehung der Fahrerlaubnis (Sperre). Früheres Bundesgebiet einschl. Westberlin, seit 1995 mit Gesamtberlin, seit 2007 Deutschland.
Auszüge aus dem Datenblatt zu Schaubild 10: Abgeurteilte wg. Vergehen im Straßenverkehr
Fahrerlaubnis/Sperre insgesamt
% von % von Abgeurt. §§ 69, 44
Fahrverbot
zum wiederholten insgesamt % von Male §§ 69, 44 insg.
von § 69
%
1976
351.574
163.609
46,5
89,0
27.492
16,8
20.142
5,7
1976
351.574
163.609
46,5
89,0
27.492
16,8
20.142
5,7
1980
392.184
185.376
47,3
86,2
35.376
19,1
29.681
7,6
1985
318.797
162.835
51,1
83,0
32.987
20,3
33.247
10,4
1990
301.967
164.124
54,4
84,5
29.324
17,9
30.108
10,0
1995
298.010
165.721
55,6
86,1
28.778
17,4
26.821
9,0
2000
238.454
129.526
54,3
82,6
23.654
18,3
27.191
11,4
2005
215.070
111.180
51,7
80,5
15.511
14,0
26.956
12,5
221
Strafrechtliche Sozialkontrolle der Straftaten im Straßenverkehr
Fortsetzung Abgeurteilte wg. Vergehen im Straßenverkehr
Fahrerlaubnis/Sperre insgesamt
% von % von Abgeurt. §§ 69, 44
Fahrverbot
zum wiederholten Male insg.
insgesamt
von § 69
% von §§ 69, 44
%
2006
200.349
101.956
50,9
80,2
13.528
13,3
25.146
12,6
2007
198.227
100.044
50,5
80,0
13.639
13,6
25.067
12,6
2008
191.576
96.373
50,3
79,3
13.240
13,7
25.171
13,1
Deutschland 2007
239.326
119.396
49,9
81,2
15.783
13,2
27.555
11,5
2008
231.308
114.982
49,7
80,6
15.259
13,3
27.632
11,9
Datenquelle: FahrerlaubnisE_Fahrverbot.xls, TabBlatt: Fahrerl_F_Entz_FG; Fahrerl_F_Entz_BRD; Sp. BA, Z. 10
Auszüge aus dem Datenblatt zu Schaubild 10: Fahrerlaubnis/Sperre
Fahrverbot
insg.
bis einschl. 6 Mte
mehr als 6 Mte
insg.
bis einschl. 1 Mt
Mehr als 1 Mt b. e. 2 Mte
Mehr als 2 b. e. 3 Mte
1976
163.609
31,3
68,7
20.142
30,1
23,2
46,7
1980
185.376
29,0
71,0
29.681
27,0
19,9
53,1
1985
162.835
25,3
74,7
33.247
23,3
17,8
59,0
1990
164.124
23,3
76,7
30.108
24,3
17,7
58,0
1995
165.721
23,3
76,7
26.821
25,8
16,0
58,3
2000
129.526
20,7
79,3
27.191
30,9
16,6
52,6
2005
111.180
21,3
78,7
26.956
34,6
17,0
48,4
2006
101.956
21,1
78,9
25.146
35,5
18,1
46,4
2007
100.044
21,3
78,7
25.067
36,4
17,4
46,2
2008
96.373
21,1
78,9
25.171
35,1
18,3
46,6
Deutschland 2007
119.396
21,1
78,9
27.555
37,1
17,7
45,2
2008
114.982
20,9
79,1
27.632
36,0
18,5
45,5
Datenquelle: FahrerlaubnisE_Fahrverbot.xls, TabBlatt: Fahrerl_F_Entz_FG; Fahrerl_F_Entz_BRD; Sp. BA, Z. 10 Datenquelle: Strafverfolgungsstatistik
Entsprechend der Regelvermutung der Ungeeignetheit (§ 69 II StGB) ist die Anordnungswahrscheinlichkeit verkehrsausschließender Maßnahmen bei §§ 316, 315c StGB am höchsten (vgl. Schaubild 11), und zwar mit überdurchschnittlichen Anteilen der FEE.
222
Wolfgang Heinz
Schaubild 11: Wegen ausgewählter Straßenverkehrsdelikte Abgeurteilte mit Fahrverbot oder Entziehung der Fahrerlaubnis (Sperre). Anteile bezogen auf Abgeurteilte. Deutschland 2008.
Auszüge aus dem Datenblatt zu Schaubild 11:
2008
Straftaten im Straßenverkehr
Abgeurteilte insg.
§ 69, 69a StGB
§ 44 StGB
insg.
bis 6 Mte
>6 Mte
insg.
bis 1 Mt
231.308
49,7
10,4
39,3
11,9
4,3
> 1 .. 2 > 2 .. 3 Mte Mte 2,2
5,4
davon in Trunkenheit
115.542
81,9
15,2
66,7
4,9
0,3
0,4
4,2
ohne Trunkenheit
115.766
17,6
5,6
12,0
19,0
8,3
4,1
6,7
§ 142 StGB
231.308
49,7
10,4
39,3
11,9
4,3
2,2
5,4
§ 222 StGB im V.
115.542
81,9
15,2
66,7
4,9
0,3
0,4
4,2
§ 229 StGB im V.
115.766
17,6
5,6
12,0
19,0
8,3
4,1
6,7
§ 315c StGB mit Unfall
231.308
49,7
10,4
39,3
11,9
4,3
2,2
5,4
§ 315c StGB ohne Unfall
115.542
81,9
15,2
66,7
4,9
0,3
0,4
4,2
§ 316 StGB
115.766
17,6
5,6
12,0
19,0
8,3
4,1
6,7
§ 323a StGB im V. mit Verkehrsunfall
231.308
49,7
10,4
39,3
11,9
4,3
2,2
5,4
§ 21 I 1 Nr. 1 StVG
115.542
81,9
15,2
66,7
4,9
0,3
0,4
4,2
Datenquelle: FahrerlaubnisE_Fahrverbot.xls, TabBlatt: §§ 44, 69 StGB_2008_BRD; Sp. Z, Z. 1 Datenquelle: Strafverfolgungsstatistik
Strafrechtliche Sozialkontrolle der Straftaten im Straßenverkehr
223
XI. Dass sich für die Handhabung der §§ 44, 69, 69a StGB bei den Gerichten, wenngleich nicht einheitlich für das Bundesgebiet, zumindest für Trunkenheitsdelikte feste Sätze gebildet haben, ist bekannt. Soweit ersichtlich fehlen freilich neuere Daten zur strafgerichtlichen Praxis. Eine valide Messung etwaiger Unterschiede im Ländervergleich setzt Vergleichbarkeit der Gruppen voraus. Die Aggregatdaten der StVerfStat erlauben jedoch nur bedingt eine diesen Anforderungen genügende Gruppenbildung. Als Gruppenmerkmale stehen in den aufbereiteten Daten nur der Straftatbestand, bei einigen auch „mit/ohne Trunkenheit“, „mit/ohne Unfall“, Altersklassen (Erwachsene, Heranwachsende, Jugendliche) sowie das Geschlecht als unabhängige Variable zur Verfügung. Angaben zur Vorbelastung können mit den Aggregatdaten nicht verknüpft werden. Als Annäherung an eine möglichst homogene Gruppe wird im Folgenden nur die Altersgruppe der Erwachsenen bei jenen Einzeldelikten berücksichtigt, die zahlenmäßig hinreichend groß besetzt sind. Bei den uneingeschränkten Regelvermutungen (§§ 315c, 316 StGB) dürften in der Anordnungswahrscheinlichkeit von §§ 44, 69, 69a StGB keine großen Unterschiede zwischen den Ländern bestehen. Diese Annahme wird indes durch die Daten der StVerfStat nicht bestätigt. Unterschiede bestehen sowohl hinsichtlich der Anordnungshäufigkeit als auch der Sperrfrist (vgl. Schaubild 12). Die Bandbreite reicht 2008 bei § 315c StGB von 76 % (Bremen) bis 94 % (Saarland). Noch deutlich größer sind die Unterschiede bei § 316 StGB (vgl. Schaubild 13). Hier reicht die Bandbreite von 52 % (Brandenburg) bis 100 % (Saarland).
224
Wolfgang Heinz
Schaubild 12: Wegen Gefährdung des Straßenverkehrs (§ 315c StGB) abgeurteilte Erwachsene mit Fahrerlaubnisentziehung/Sperre und Fahrverbot. Länder 2008 (linke Säule) und 2007 (rechte Säule).
Auszüge aus dem Datenblatt zu Schaubild 12: 2008
Abge- § 69, urteilte 69a insg. StGB insg.
§ 69, 69a StGB in % § 44 Abgeurteilte StGB insg. insg. bis 6 > 6 Mte Mte
§ 44 StGB in % Abgeurteilte insg.
bis 1 > 1 .. 2 Mt Mte
> 2 .. 3 Mte
Baden-Württemberg
2.315
1.915
82,7
17,0
65,7
193
8,3
1,5
1,3
5,6
Bayern
1.942
1.499
77,2
11,3
65,9
221
11,4
3,0
2,0
6,4
Berlin
988
769
77,8
14,5
63,4
33
3,3
0,5
0,1
2,7
Brandenburg
590
449
76,1
21,4
54,7
22
3,7
0,5
0,8
2,4
Bremen
143
100
69,9
7,0
62,9
8
5,6
2,1
2,1
1,4
Hamburg
273
235
86,1
16,8
69,2
2
0,7
0,0
0,4
0,4
1.395
1.167
83,7
10,7
73,0
82
5,9
0,7
1,1
4,1
548
462
84,3
7,1
77,2
12
2,2
0,9
0,7
0,5
Niedersachsen
1.514
1.171
77,3
11,1
66,2
91
6,0
1,6
1,1
3,3
Nordrhein-Westf.
3.766
2.717
72,1
16,8
55,3
243
6,5
0,9
1,1
4,4
910
718
78,9
26,5
52,4
112
12,3
3,7
2,7
5,8
Hessen Mecklenburg-Vorp.
Rheinland-Pfalz Saarland
378
321
84,9
33,3
51,6
36
9,5
0,5
0,3
8,7
Sachsen
657
535
81,4
15,2
66,2
37
5,6
2,6
0,5
2,6
Strafrechtliche Sozialkontrolle der Straftaten im Straßenverkehr
225
Fortsetzung 2008
Sachsen-Anhalt
Abge- § 69, urteilte 69a insg. StGB insg. 474
401
§ 69, 69a StGB in % § 44 Abgeurteilte StGB insg. insg. bis 6 > 6 Mte Mte 84,6
6,8
77,8
14
§ 44 StGB in % Abgeurteilte insg. 3,0
bis 1 > 1 .. 2 Mt Mte 1,1
0,2
> 2 .. 3 Mte 1,7
Schleswig-Holstein
453
330
72,8
9,9
62,9
25
5,5
1,1
2,2
2,2
Thüringen
512
450
87,9
22,5
65,4
15
2,9
1,4
1,0
0,6
16.858
13.239
78,5
15,3
63,2
1.146
6,8
1,5
1,2
4,1
Deutschland
Datenquelle: FahrerlaubnisE_Fahrverbot.xls, TabBlatt: Erwachsene_44,69_2008_Laender; Sp. BC, Z. 402
Auszüge aus dem Datenblatt zu Schaubild 12: 2007
Baden-Württemberg
Abge- § 69, urteilte 69a insg. StGB insg.
§ 69, 69a StGB in % § 44 Abgeurteilte StGB insg. insg. bis 6 > 6 Mte Mte
2.459
2.041
83,0
Bayern
2.011
1.615
80,3
Berlin
1.044
798
76,4
18,1
§ 44 StGB in % Abgeurteilte insg. 8,5
bis 1 > 1 .. 2 Mt Mte 1,3
1,7
> 2 .. 3 Mte
64,9
210
5,6
13,3
67,0
185
9,2
1,9
1,8
5,4
13,9
62,5
37
3,5
0,6
0,3
2,7
Brandenburg
653
499
76,4
18,4
58,0
30
4,6
0,8
0,6
3,2
Bremen
188
128
68,1
10,6
57,4
15
8,0
1,1
1,6
5,3
Hamburg Hessen Mecklenburg-Vorp.
296
243
82,1
20,6
61,5
6
2,0
0,7
0,0
1,4
1.474
1.231
83,5
12,3
71,2
103
7,0
0,9
0,7
5,4
591
488
82,6
8,8
73,8
19
3,2
0,5
1,0
1,7
Niedersachsen
1.562
1.215
77,8
10,2
67,5
78
5,0
1,1
0,9
3,0
Nordrhein-Westf.
3.725
2.707
72,7
16,3
56,4
237
6,4
1,5
0,8
4,0
985
767
77,9
25,4
52,5
143
14,5
4,7
3,5
6,4
Rheinland-Pfalz Saarland
344
304
88,4
29,9
58,4
26
7,6
0,0
0,0
7,6
Sachsen
632
522
82,6
17,7
64,9
35
5,5
1,7
1,3
2,5
Sachsen-Anhalt
459
397
86,5
10,2
76,3
9
2,0
0,4
0,0
1,5
Schleswig-Holstein
473
341
72,1
9,3
62,8
28
5,9
2,1
0,6
3,2
538
484
90,0
19,9
70,1
17
3,2
1,1
0,6
1,5
17.434
13.780
79,0
15,6
63,4
1.178
6,8
1,4
1,1
4,2
Thüringen Deutschland
Datenquelle: FahrerlaubnisE_Fahrverbot.xls, TabBlatt: Erwachsene_44,69_2008_Laender; Sp. BC, Z. 363 Datenquelle: Strafverfolgungsstatistik
226
Wolfgang Heinz
Schaubild 13: Wegen Trunkenheit im Verkehr (§ 316 StGB) – ohne Fremdschaden – abgeurteilte Erwachsene mit Fahrerlaubnisentziehung/ Sperre und Fahrverbot. Länder 2008 (linke Säule) und 2007 (rechte Säule).
Auszüge aus dem Datenblatt zu Schaubild 13: Abge- § 69, urteilte 69a insg. StGB insg.
§ 69, 69a StGB in % § 44 Abgeurteilte StGB insg. insg. bis 6 > 6 Mte Mte
Baden-Württemberg
11.041
9.812
88,9
9,5
79,3
623
5,6
0,3
0,3
5,0
Bayern
14.226
11.631
81,8
12,6
69,2
806
5,7
0,2
0,3
5,2
Berlin
2.177
1.812
83,2
15,8
67,4
43
2,0
0,0
0,1
1,9
Brandenburg
4.526
2.289
50,6
13,1
37,4
46
1,0
0,0
0,1
0,9
570
430
75,4
7,9
67,5
56
9,8
0,2
0,5
9,1
1.389
1.141
82,1
14,6
67,5
45
3,2
0,2
0,2
2,8
2008
Bremen Hamburg
§ 44 StGB in % Abgeurteilte insg.
bis 1 > 1 .. 2 Mt Mte
> 2 .. 3 Mte
Hessen
5.640
5.212
92,4
12,8
79,6
395
7,0
0,3
0,5
6,3
Mecklenburg-Vorp.
2.685
1.965
73,2
7,5
65,7
22
0,8
0,0
0,1
0,7 6,0
Niedersachsen Nordrhein-Westf. Rheinland-Pfalz
8.521
6.579
77,2
8,0
69,2
584
6,9
0,4
0,5
12.629
10.641
84,3
19,6
64,7
955
7,6
0,4
0,4
6,7
4.069
3.612
88,8
35,0
53,7
327
8,0
0,3
0,4
7,3
Saarland
1.541
1.379
89,5
36,5
53,0
176
11,4
0,1
0,4
11,0
Sachsen
4.860
3.121
64,2
8,6
55,6
28
0,6
0,1
0,1
0,4
Strafrechtliche Sozialkontrolle der Straftaten im Straßenverkehr
227
Fortsetzung 2008
Abge- § 69, urteilte 69a insg. StGB insg.
§ 69, 69a StGB in % § 44 Abgeurteilte StGB insg. insg. bis 6 > 6 Mte Mte
§ 44 StGB in % Abgeurteilte insg.
bis 1 > 1 .. 2 Mt Mte
> 2 .. 3 Mte
Sachsen-Anhalt
2.841
1.857
65,4
7,4
57,9
20
0,7
0,1
0,0
0,6
Schleswig-Holstein
2.872
2.334
81,3
9,3
71,9
210
7,3
1,0
0,8
5,5
2.000
1.721
86,1
18,1
68,0
27
1,4
0,1
0,2
1,1
81.587
65.536
80,3
13,9
66,4
4.363
5,3
0,3
0,3
4,7
Thüringen Deutschland
Datenquelle: FahrerlaubnisE_Fahrverbot.xls, TabBlatt: Erwachsene_44,69_2008_Laender; Sp. BC, Z. 204
Auszüge aus dem Datenblatt zu Schaubild 13: Abge- § 69, urteilte 69a insg. StGB insg.
§ 69, 69a StGB in % § 44 Abgeurteilte StGB insg. insg. bis 6 > 6 Mte Mte
Baden-Württemberg
11.897
10.655
89,6
Bayern
15.318
12.548
81,9
Berlin
2.049
1.747
85,3
Brandenburg
4.648
2.455
52,8
13,0
39,8
54
1,2
0,0
0,2
0,9
587
442
75,3
6,5
68,8
59
10,1
0,5
0,0
9,5
2007
Bremen
10,2
§ 44 StGB in % Abgeurteilte insg.
6,2
bis 1 > 1 .. 2 Mt Mte 0,2
0,2
> 2 .. 3 Mte
79,4
737
5,7
13,9
68,0
845
5,5
0,1
0,4
5,0
16,8
68,4
40
2,0
0,0
0,1
1,8
Hamburg
1.522
1.228
80,7
15,0
65,6
47
3,1
0,3
0,2
2,6
Hessen
5.638
5.207
92,4
13,9
78,5
350
6,2
0,2
0,4
5,6
Mecklenburg-Vorp.
2.540
1.803
71,0
7,8
63,2
18
0,7
0,0
0,0
0,7
Niedersachsen
8.731
6.780
77,7
7,8
69,8
602
6,9
0,5
0,7
5,7
13.034
10.790
82,8
19,4
63,4
953
7,3
0,4
0,3
6,6
4.047
3.607
89,1
33,6
55,5
348
8,6
0,9
0,4
7,3
Nordrhein-Westf. Rheinland-Pfalz Saarland
1.359
1.218
89,6
39,7
49,9
159
11,7
0,0
0,1
11,6
Sachsen
4.790
3.028
63,2
7,3
55,9
30
0,6
0,0
0,1
0,5
Sachsen-Anhalt
2.954
2.016
68,2
7,5
60,8
21
0,7
0,1
0,0
0,6
Schleswig-Holstein
3.126
2.587
82,8
9,7
73,1
217
6,9
1,1
1,2
4,7
Thüringen
2.097
1.783
85,0
18,7
66,3
28
1,3
0,1
0,1
1,1
84.337
67.894
80,5
14,1
66,4
4.508
5,3
0,3
0,3
4,7
Deutschland
Datenquelle: FahrerlaubnisE_Fahrverbot.xls, TabBlatt: Erwachsene_44,69_2008_Laender; Sp. BC, Z. 204 Datenquelle: Strafverfolgungsstatistik
Die Bandbreite bei § 142 StGB, wo nur eine bedingte Regelvermutung der Ungeeignetheit besteht, ist deutlich größer (vgl. Schaubild 14).
228
Wolfgang Heinz
Schaubild 14: Wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort (§ 142 StGB) abgeurteilte Erwachsene mit Fahrerlaubnisentziehung/Sperre und Fahrverbot. Länder 2008 (linke Säule) und 2007 (rechte Säule).
Auszüge aus dem Datenblatt zu Schaubild 14: 2008
Abge- § 69, urteilte 69a insg. StGB insg.
§ 69, 69a StGB in % § 44 Abgeurteilte StGB insg. insg. bis 6 > 6 Mte Mte
§ 44 StGB in % Abgeurteilte insg.
bis 1 > 1 .. 2 Mt Mte
> 2 .. 3 Mte
Baden-Württemberg
5.059
1.616
31,9
7,2
24,8
1.339
26,5
11,4
6,9
8,2
Bayern
5.472
1.339
24,5
7,5
17,0
1.978
36,1
19,5
9,1
7,5
Berlin
2.641
629
23,8
7,6
16,2
532
20,1
7,3
4,2
8,7
Brandenburg
1.238
157
12,7
3,7
9,0
206
16,6
8,2
3,6
4,8
Bremen
258
80
31,0
3,1
27,9
54
20,9
6,6
2,7
11,6
Hamburg
1.488
315
21,2
4,8
16,3
321
21,6
12,2
4,6
4,7
Hessen
3.075
1.139
37,0
9,0
28,0
790
25,7
10,2
5,7
9,8
Mecklenburg-Vorp.
648
49
7,6
2,9
4,6
152
23,5
11,4
5,4
6,6
2.563
859
33,5
6,7
26,8
616
24,0
10,6
5,7
7,8
Nordrhein-Westf.
8.742
2.190
25,1
7,2
17,8
1.938
22,2
8,9
5,2
8,1
Rheinland-Pfalz
1.956
633
32,4
13,8
18,6
535
27,4
10,9
7,4
9,0
Niedersachsen
Saarland
577
256
44,4
15,4
28,9
190
32,9
9,7
6,8
16,5
Sachsen
2.103
512
24,3
7,7
16,6
534
25,4
11,7
6,2
7,5
Strafrechtliche Sozialkontrolle der Straftaten im Straßenverkehr
229
Fortsetzung 2008
Abge- § 69, urteilte 69a insg. StGB insg.
§ 69, 69a StGB in % § 44 Abgeurteilte StGB insg. insg. bis 6 > 6 Mte Mte
§ 44 StGB in % Abgeurteilte insg.
bis 1 > 1 .. 2 Mt Mte
> 2 .. 3 Mte
Sachsen-Anhalt
873
315
36,1
8,8
27,3
169
19,4
7,8
5,4
Schleswig-Holstein
694
235
33,9
8,5
25,4
75
10,8
5,9
2,2
2,7
1.080
337
31,2
8,3
22,9
209
19,4
9,1
4,4
5,9
38.467
10.661
27,7
7,7
20,1
9.638
25,1
11,2
6,0
7,9
Thüringen Deutschland
6,2
Datenquelle: FahrerlaubnisE_Fahrverbot.xls, TabBlatt: Erwachsene_44,69_2008_Laender; Sp. BC, Z. 94
Auszüge aus dem Datenblatt zu Schaubild 14: 2007
Baden-Württemberg
Abge- § 69, urteilte 69a insg. StGB insg.
§ 69, 69a StGB in % § 44 Abgeurteilte StGB insg. insg. bis 6 > 6 Mte Mte
5.158
30,0
1.548
6,9
23,1
1.367
§ 44 StGB in % Abgeurteilte insg.
bis 1 > 1 .. 2 Mt Mte
26,5
12,5
6,3
> 2 .. 3 Mte 7,6
Bayern
5.649
1.431
25,3
8,0
17,3
1.996
35,3
18,0
9,5
7,9
Berlin
2.403
553
23,0
7,4
15,6
482
20,1
7,7
4,2
8,1
Brandenburg
1.306
185
14,2
5,0
9,2
198
15,2
7,3
3,1
4,8
253
57
22,5
2,8
19,8
48
19,0
7,9
3,6
7,5
Bremen Hamburg
1.373
267
19,4
4,9
14,6
304
22,1
13,0
3,9
5,2
Hessen
3.223
1.189
36,9
9,3
27,6
874
27,1
11,1
5,7
10,3
Mecklenburg-Vorp.
660
56
8,5
4,2
4,2
149
22,6
13,2
3,9
5,5
2.696
1.007
37,4
7,6
29,7
621
23,0
9,6
6,1
7,4
Nordrhein-Westf.
8.887
2.239
25,2
6,8
18,3
1.885
21,2
9,2
4,3
7,7
Rheinland-Pfalz
2.013
671
33,3
13,0
20,3
544
27,0
11,5
6,7
8,8
Niedersachsen
Saarland
501
229
45,7
14,8
30,9
140
27,9
6,8
7,8
13,4
Sachsen
2.104
558
26,5
8,7
17,8
519
24,7
10,9
6,5
7,2
Sachsen-Anhalt
813
325
40,0
7,9
32,0
180
22,1
8,7
5,4
8,0
Schleswig-Holstein
777
289
37,2
7,9
29,3
86
11,1
5,5
2,4
3,1
1.090
337
30,9
9,3
21,7
206
18,9
9,1
4,6
5,2
38.906
10.941
28,1
7,7
20,4
9.599
24,7
11,2
5,8
7,7
Thüringen Deutschland
Datenquelle: FahrerlaubnisE_Fahrverbot.xls, TabBlatt: Erwachsene_44,69_2008_Laender; Sp. BC, Z. 273 Datenquelle: Strafverfolgungsstatistik
230
Wolfgang Heinz
Mittels der verfügbaren statistischen Daten können zwar Tat- und Täterstrukturen nicht hinreichend kontrolliert werden. Gegen die Annahme einer individuellen Beurteilung spricht aber, dass sich bei diesen drei Massendelikten 2007 und 2008 ein fast identisches Bild ergibt. Dies spricht für routinisierte, schematische Anwendung und gegen individuelle Prüfung.
XII. 1. Umfang, Struktur und Entwicklung der von der Polizei bearbeiteten Straßenverkehrsstraftaten sind unbekannt. Seit 1963 werden in der Polizeilichen Kriminalstatistik Straßenverkehrsdelikte nicht mehr erfasst. Diese Lücke kann durch keine andere Statistik geschlossen werden. 2. Seit 2004 werden in der Staatsanwaltschaftsstatistik die Erledigungsarten für Ermittlungsverfahren gegen bekannte Täter nachgewiesen. Von allen Sachgebieten weisen Verkehrsstrafsachen die höchste Sanktionsdichte auf, gemessen über den Anteil der durch Anklage, Strafbefehlsantrag oder Einstellung unter Auflagen erledigten Ermittlungsverfahren. Hierbei bestehen zwischen den Ländern große Unterschiede; die Bandbreite der Sanktionsdichte reicht von 37 % (Hamburg) bis 66 % (Baden-Württemberg). Die Wahrscheinlichkeit, dass die Staatsanwaltschaft gegen einen polizeilich ermittelten Beschuldigten Anklage erhebt oder einen Strafbefehl beantragt, war 2008 in Baden-Württemberg doppelt so groß wie in Hamburg. 3. Die auf 100.000 der strafmündigen Wohnbevölkerung bezogenen Verurteiltenbelastungszahlen (VBZ) sind seit 1970 bei den Straftaten ohne Straßenverkehrsvergehen um 50 % gestiegen. Im Gegensatz hierzu haben sich die VBZ bei den Straßenverkehrsvergehen seit 1970 halbiert. Dies beruht vor allem auf dem Rückgang der Verkehrsgefährdungsdelikte (§§ 315b, c und 316 StGB) sowie der fahrlässigen Körperverletzung im Straßenverkehr. Dieser Rückgang ist bei Jugendlichen, Heranwachsenden und Erwachsenen zu beobachten, wenngleich mit unterschiedlicher Intensität und Deliktsentwicklung. 4. Heranwachsende werden deliktspezifisch höchst unterschiedlich in das JGG einbezogen. Von allen Hauptdeliktsgruppen weisen die Straßenverkehrsvergehen die niedrigste Einbeziehungsquote auf. Der Ländervergleich zeigt indes, dass bei keiner anderen Deliktsgruppe derart große Unterschiede bestehen. 2008 wurden in Baden-Württemberg nur 17 % der Heranwachsenden in das JGG einbezogen, in Schleswig-Holstein hingegen 85 %. Die Unterschiede werden teilweise sogar noch größer, wenn auf Einzeldelike abgestellt wird. Diese Varianz zwischen den Ländern ist im zeitlichen Längs-
Strafrechtliche Sozialkontrolle der Straftaten im Straßenverkehr
231
schnitt relativ stabil, dh es handelt sich nicht um individuelle Prüfung von § 105 I JGG, sondern um schematische, aber deutlich unterschiedliche Anwendung des Jugendstrafrechts. 5. Der Anteil der wegen Straßenverkehrsvergehen verhängten stationären Sanktionen ist im Gefolge der Strafrechtsreform deutlich zurückgegangen. Auf unbedingte Freiheitsstrafen entfielen 1968 noch 23 % aller nach allgemeinem Strafrecht verhängten Strafen, 1978 waren es nur noch 2,4 %, 2008 schließlich nur noch 1,7 %. Sowohl insgesamt als auch bei den einzelnen Delikten, fahrlässige Tötung im Straßenverkehr ausgenommen, ist die Sanktionierungspraxis im allgemeinen Strafrecht auch nach 1969 milder geworden, gemessen über den Anteil stationärer Sanktionen. Gegenläufig hierzu hat sich die Praxis im Jugendstrafrecht entwickelt, wo der Anteil unbedingter Jugendstrafen in den letzten Jahrzehnten gestiegen ist. Wird auch noch Jugendarrest berücksichtigt, dann ist derzeit der Anteil stationärer Sanktionen bei den nach Jugendstrafrecht Verurteilten bei § 142 StGB um das 3,8fache, bei § 316 StGB um das 5,3fache, bei § 21 I Nr. 1 StVG gar um das 16,4fache höher als bei den nach allgemeinem Strafrecht Verurteilten. Jugendrichter vertrauen offenbar in weitaus höherem Maße auf die präventive Wirkung stationärer Sanktionen als die Richter, die nach allgemeinem Strafrecht verurteilen. 6. Wie schon bei anderen Indikatoren, so zeigen sich auch bei den formellen Sanktionen ausgeprägte Unterschiede zwischen den Ländern. Die Wahrscheinlichkeit bei einer Verurteilung nach § 316 StGB zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe verurteilt zu werden, war zB 2008 in Bayern viermal so hoch wie in Schleswig Holstein. Vergleichbare Unterschiede, die hier ebenfalls wieder über die Zeit hinweg relativ konstant sind, bestehen auch bei anderen Straftatbeständen. Es haben sich weitgehend feste Sätze herausgebildet, die indes, zumindest nach den Daten der StVerfStat, große Unterschiede aufweisen. 7. Von den Betroffenen als „eigentliche“ Strafe empfunden werden indes die verkehrsausschließenden Maßnahmen der §§ 44, 69, 69a StGB. Aus empirischer Sicht ist die Kombination von Strafe und Ausschluss vom motorisierten Verkehr die Regel, 2008 war dies bei 63 % der wegen Verkehrsstraftaten Abgeurteilten der Fall, bei den Delikten mit der Regelvermutung gem. § 69a II StGB in 76,1%. Hierbei entfallen knapp 80 % auf die Entziehung der Fahrerlaubnis einschließlich isolierter Sperre (FEE). Von den Anordnungsgründen her beruht die FEE zu 94 % auf Straftaten im Straßenverkehr, darunter zu drei Vierteln auf Trunkenheitsdelikten. Anordnungsgründe für ein strafgerichtliches Fahrverbot sind nur zu 84 % Straßenverkehrsdelikte und nur bei 17 % handelte es sich um ein Trunkenheitsdelikt.
232
Wolfgang Heinz
Die Sperrfrist bei FEE liegt zu 80 % im Bereich zwischen mehr als sechs Monaten und zwei Jahren. Längere Sperrfristen finden sich vor allem bei fahrlässiger Tötung im Straßenverkehr sowie bei Nicht-Verkehrsstraftaten. Ein Fahrverbot von mehr als zwei Monaten wurde vor allem bei Trunkenheitsdelikten verhängt, was auf eine Austauschfunktion mit FEE hindeutet. Trotz der uneingeschränkten Regelvermutung (§§ 315c, 316 StGB) bestehen zwischen den Ländern Unterschiede sowohl hinsichtlich der Anordnungshäufigkeit verkehrsausschließender Maßnahmen als auch hinsichtlich der Dauer der Sperrfrist. Dies ist besonders deutlich bei § 316 StGB. Die Bandbreite der Anordnung reicht von 52 % (Brandenburg) bis 100 % (Saarland). Der Vergleich 2007 und 2008 zeigt, dass diese Unterschiede delikt- und länderspezifisch konstant sind. 8. Bei kaum einer anderen Deliktsgruppe – Betäubungsmittel ausgenommen – findet sich eine derartig routinisierte, aber regional ungleiche Sanktionierungspraxis. Statt individueller Straf- und Maßregelzumessung dominiert ein Taxenstrafrecht mit unterschiedlichen Anwendungsregeln. Die Folgerungen hat der Jubilar schon vor Jahrzehnten im Zusammenhang mit den Sperrfristen gezogen: „Würde daher ein Gericht ohne eigene Überzeugung schematisch seine eigene Bemessungspraxis einer andernorts geübten angleichen, so wäre gerade das in der Tat eine willkürliche, weil nicht sachgerechte Begründung der Sperrfrist und nach Art. 3 GG unzulässig.“ 55
55
Geppert (Fn 1), S. 110 f.
Zwischenbilanz des langjährigen Meinungsstreits über die actio libera in causa Hans Joachim Hirsch I. Klaus Geppert, dem dieser Beitrag zu seinem 70. Geburtstag mit vielen guten Wünschen gewidmet ist, hat seine akademische Laufbahn mit einer Professur in Köln begonnen. Ich verbinde mit dieser gemeinsamen Zeit die besten Erinnerungen. Zu den späteren Begegnungen gehört ein Treffen bei dem Marburger Strafrechtsgespräch 1997. An die dort in überschaubarem Kreise geführte lebhaft-kontroverse Diskussion über die actio libera in causa (a.l.i.c.) 1 erinnere ich mich ebenfalls besonders gerne. Das gab dazu Anlass, nach nunmehr 14 Jahren weiter anhaltendem Schrifttumsstreit auf das Thema zurückzukommen und zu versuchen, eine Zwischenbilanz der bisherigen Debatte zu ziehen.
II. Seit Ende der 80er/Anfang der 90er Jahre wird die bis dahin unangefochtene traditionelle Rechtsfigur der a.l.i.c. in Frage gestellt.2 Einen Höhepunkt erreichte die Debatte, als im Jahre 1996 der 4. Strafsenat des BGH, dessen damaliger Vorsitzender Salger sich bereits literarisch ablehnend zu ihr geäußert hatte,3 in der Entscheidung des BGHSt 42, 235 Bedenken anmeldete. Der Senat meinte, einer grundsätzlichen Stellungnahme zu der Frage jedoch dadurch ausweichen zu können, dass er entschied, jedenfalls sei die a.l.i.c. bei der Straßenverkehrsgefährdung und dem Fahren ohne Fahrerlaubnis, um die es bei dem ihm vorliegenden Sachverhalt ging, nicht anwendbar. Die Entscheidung gab den Anstoß zu einer Flut einschlägiger Publikationen. Man kann sagen, dass seit der in der Nachkriegszeit geführten Debatte 1
Vgl. den Tagungsbericht von Dietmeier ZStW 110 (1998), 393, 400 ff. Siehe Hettinger Die „actio libera in causa“: Strafbarkeit wegen Begehungstat trotz Schuldunfähigkeit?, 1998; Schmidhäuser Die actio libera in causa: ein symptomatisches Problem der deutschen Strafrechtswissenschaft, 1992; Salger/Mutzbauer NStZ 1993, 561. 3 Vgl. o. Fn 2. 2
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über den Verbotsirrtum kaum ein dogmatisches Thema so viele Stellungnahmen provoziert hat.4 In späteren Urteilen anderer Strafsenate des BGH wird allerdings lapidar betont, dass sie an den Grundsätzen der a.l.i.c. festhalten.5 Jedenfalls sei eine über die Straßenverkehrsgefährdung und das Fahren ohne Fahrerlaubnis hinausgehende Einschränkung des Anwendungsbereichs nicht anzuerkennen.6 Im Schrifttum heißt es gleichwohl: „Welchen Weg der BGH in Zukunft gehen wird, bleibt abzuwarten.“ 7 Denn in der Literatur vertritt, wie Beulke konstatiert, eine „immer stärker werdende Ansicht“, dass die Berufung auf diese Rechtsfigur gänzlich abzulehnen sei.8
III. 1. Das Gewicht des Meinungsstreits wird dadurch gemindert, dass es bei ihm nicht um die Alternative „Strafbarkeit oder Straflosigkeit“ geht, sondern de lege lata um die zwischen der Strafbarkeit aus dem durch den Rauschzustand verwirklichten Tatbestand (z.B. dem Verbrechen des Totschlags) oder nur wegen § 323a StGB. Über die Strafbedürftigkeit solcher Fälle ist man sich einig. Die Mehrheit der Kritiker stimmt darin überein, dass § 323a StGB keine befriedigende Lösung für solche Fälle darstellt.9 Eine Alternative zur a.l.i.c. wird auch nicht in einer Regelung gesehen, wie sie sich in Strafgesetzen des ehemaligen Ostblocks findet, wonach die durch alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel entstandene Schuldunfähigkeit überhaupt unbeachtlich sein soll, so dass dort stets wegen der im Vollrausch verwirklichten Tat bestraft wird.10 4 Vgl. die umfangreichen Schrifttumsnachweise bei Perron in: Schönke/Schröder, StGB, 28. Aufl. 2010, § 20 vor Rn 1 und Wessels/Beulke Strafrecht Allgemeiner Teil, 40. Aufl. 2010, Rn 415 ff. 5 BGH JR 1997, 391; BGH NStZ 1999, 448; 2000, 584. 6 BGH NStZ 2000, 584. 7 Wessels/Beulke (o. Fn 4) Rn 416. 8 Wessels/Beulke (o. Fn 4) Rn 416a. 9 Vgl. die Nachw. bei Sch/Sch-Perron (o. Fn 4) § 20 Rn 35b. Der Unrechtsgehalt der Tat käme im Urteilstenor nicht zum Ausdruck. Auch lassen sich die Normalfälle des Vergehenstatbestands § 323a StGB nicht mit den Taten, bei denen es sich nach der a.l.i.c. um Verbrechen handelt, auf eine Stufe stellen. Daher ist der Vorschlag des Landes Berlin (BR-Drs. 123/97), die gesetzliche Obergrenze des § 323a StGB für besonders schwere Fälle zu erhöhen, nicht weiter verfolgt worden; vgl. zu dem Entwurf näher Sick/Renzikowski ZRP 1997, 484 ff. 10 Die de lege ferenda in diese Richtung gehende Ansicht von Hruschka JZ 1964, 554, die im Unterschied zu jenen Regelungen wenigstens eine fakultative Strafmilderung vorsieht, hat keine Zustimmung gefunden. Näher zu ihr Hirsch JR 1997, 391 f.
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2. Ist man sich insoweit im Wesentlichen einig, so konzentriert sich der Streit auf die Frage, ob es eine de lege lata gesetzeskonforme Begründung gibt, d.h. eine, die nicht gegen Art. 103 Abs. 2 GG verstößt, und wie aus dogmatisch-wissenschaftlicher Sicht eine solche auszusehen hat. De lege lata werden bekanntlich drei Lösungsmodelle vertreten: Ausnahme-, Ausdehnungs- und Tatbestandsmodell. Das Ausnahmemodell 11 besagt: Der bei der im Rausch begangenen Tat bestehende Schuldmangel wird dadurch ausgeglichen, dass sich der Täter im Hinblick auf diese schuldhaft um seine Einsichts- und Steuerungsfähigkeit gebracht hat.12 Einer derartigen Konstruktion ist jedoch entgegenzuhalten, dass sie sich über den eindeutigen Wortlaut des § 20 StGB hinwegsetzt;13 denn zum Zeitpunkt der Begehung der im Rausch erfolgten tatbestandsmäßigen Handlung war der Täter jedenfalls schuldunfähig. Dass er sich schuldhaft um die Einsichtsfähigkeit gebracht hat, lässt sie nicht aufleben. Der Gedanke, dass der Täter den Schuldausschluss verwirkt habe, wäre eine strafrechtsfremde Erwägung. Auch spricht gegen die Annahme eines bloßen Schuldausgleichs, dass dann Begründungen für Differenzierungen zwischen den Sachverhalten kaum noch möglich sind. Die Abstufung zwischen vorsätzlicher und fahrlässiger a.l.i.c. wäre ohne Basis,14 und überhaupt würde das Tor zu einem die fehlende Tatschuld kompensierenden „Vorverschulden“ weit geöffnet. Indem die Anhänger des Ausnahmemodells aber naheliegenderweise die herkömmlich bei der a.l.i.c. verlangten objektiven und subjektiven Erfordernisse der den Defektzustand herbeiführenden Handlung (actio praecedens) übernehmen, insbesondere den dabei die Verbindung zu der in diesem Zustand ausgeführten tatbestandsmäßigen Handlung herstellenden Doppelvorsatz,15 gehen sie genauer betrachtet von zum Zeitpunkt noch bestehender Schuldfähigkeit liegendem Beginn des Unrechts der Gesamttat aus. Damit jedoch tritt der Sache nach eigentlich das Tatbestandsmodell in den Blick. Das Ausdehnungsmodell will in § 20 StGB das in der Formulierung „bei Begehung der Tat“ zum Ausdruck gelangte zeitliche Koinzidenzprinzip ausdehnen auf die zum Zeitpunkt bei Beginn des Berauschens gegebene Schuldfähigkeit.16 Aber auch das ist mit dem Gesetzeswortlaut unvereinbar und ver-
11 Vgl. Wessels/Beulke (o. Fn 4) Rn 415; Jescheck/Weigend Lehrbuch des Strafrechts – Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996, § 40 VI 1; Lackner/Kühl StGB, 27. Aufl. 2007, § 20 Rn 25; Schöch in: Leipziger Kommentar zum StGB, 12. Aufl. 2007, § 20 Rn 194 ff. 12 Vgl. Wessels/Beulke (o. Fn 4) Rn 415. 13 Das wird auch von Vertretern dieser Auffassung eingeräumt; siehe Wessels/Beulke (o. Fn 4) Rn 415. 14 Sch/Sch-Perron (o. Fn 4) § 20 Rn 35b. 15 Vgl. Wessels/Beulke (o. Fn 4) Rn 417. 16 Vgl. Streng ZStW 101 (1989), 273, 311; ders. JZ 1994, 709, 711; 2000, 20; ders. in: Münchener Kommentar zum StGB, Band 1, 2003, § 20 Rn. 128; Jerouschek JuS 1997, 385 ff; ders. FS Hirsch, 1999, S. 241.
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stößt daher ebenfalls gegen Art. 103 Abs. 2 GG.17 Außerdem: Schuld an noch fehlendem Unrecht ist nicht denkbar. Sie setzt begrifflich einen begonnenen Normverstoß voraus, sonst hängt sie in der Luft. Soll die bei der Herbeiführung des Defektzustands noch bestehende Schuldfähigkeit genügen für die Tat, muss dieser Zeitpunkt bereits der Beginn des Unrechts der gesamten Tat sein. Beide Modelle lassen sich aus dem dogmatischen System, das dem Allgemeinen Teil zugrunde liegt, nicht ableiten. Die a.l.i.c. wäre, wenn man sie als Ausnahme von dem für das Verhältnis von Schuld und Unrecht geltenden Koinzidenzprinzip oder als Ausdehnung auf einen Bereich noch nicht vorhandenen Unrechts begreift, ein Fremdkörper im Strafrecht. Auch die Berufung auf gleichwohl bestehendes Gewohnheitsrecht scheidet aus, da die Annahme einer gewohnheitsrechtlichen Ausnahme oder Ausdehnung zu Lasten des Täters ginge und daher verfassungsrechtlich unzulässig sein würde18. Auch de lege ferenda bilden beide Modelle keine systemkonforme Lösung. Es verbleibt daher nur die Frage, ob das Tatbestandsmodell de lege lata – und auch de lege ferenda – die schlüssige Begründung darstellt. Dieses Modell, auf das sich schon das Reichsgericht gestützt hatte 19 und auf dem die herkömmliche Lehre von der a.l.i.c. basiert,20 besagt bekanntlich: Wie bei der mittelbaren Täterschaft die Begehung durch einen schuldunfähigen Tatmittler möglich (und allgemein anerkannt) ist, kann auch der Täter sich selbst als schuldunfähiges Werkzeug benutzen. Das Unrecht der Tat beginnt dann mit der in schuldfähiger Verfassung vorgenommenen actio praecedens. 17 So bereits BGHSt 42, 235, 240 f; Neumann FS Arth. Kaufmann, 1993, S. 581, 587 f; Roxin Strafrecht Allgemeiner Teil, Band 1, 4. Aufl. 2006, § 20 Rn 58 und 70 (ebenso in Vorauflagen). Zum Ausdehnungsmodell eingehende Kritik bei Hettinger FS Geerds, 1995, S. 623, 637, 644. 18 Auf Gewohnheitsrecht berufen sich ausdrücklich u.a. Jescheck/Weigend (o. Fn 11), § 40 VI 1, und Otto Jura 1986, 426, 430. Jescheck führt hierzu an, dass im Allg. Teil die Anwendung von Gewohnheitsrecht nichts Ungewöhnliches sei, wie man bei der Entwicklung von Garantenpflichten sehen könne; vgl. bei Dietmeier ZStW 110 (1998), 404. Demgegenüber hat man aber zu beachten, dass es bei jenen Konstruktionen um im Widerspruch zum Gesetzestext bestehendes, zu Lasten des Täters gehendes Gewohnheitsrecht ginge. Was den Hinweis auf die Entwicklung der Garantenpflichten betrifft, handelt es sich im Unterschied dazu um die durch Auslegung legitimierte Bestimmung des Umfangs der Garantenpflichten. Mit Recht wird deshalb in BGHSt 42, 235, 241 auf die Unzulässigkeit verwiesen, sich für die beiden Modelle auf Gewohnheitsrecht zu berufen. 19 Vgl. RGSt 22, 413, 415. 20 Vgl. Frank StGB, 18. Aufl. 1931, § 51 Anm V; Welzel Strafrecht, 11. Aufl. 1969, S. 156; Hirsch ZStW-Beiheft 1981, 2, 9; Roxin FS Lackner, 1987, S. 307, 314; ders. (o. Fn 17) § 20 Rn 59 ff; Spendel JR 1997, 133, 134 ff; Jakobs Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1991, 17/64; ders. FS Nishihara, 1998, S. 88, 105; Herzberg FS Spendel, 1992, S. 203, 218 ff; Puppe Strafrecht Allgemeiner Teil im Spiegel der Rechtsprechung, Band 1, 2002, S. 469; Satzger Jura 2006, 513; Schild in Alternativkommentar zum StGB, Band 1, 1990, § 20 Rn. 83 a.E.; ders. FS Triffterer, 1996, S. 203, 206; Schlüchter FS Hirsch, 1999, S. 345, 348 ff; Schünemann FS Lampe, S. 532, 554 ff; Spendel JR 1997, 133, 134 ff; Dold GA 2008, 427.
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Gegenüber dieser Lösung ist de lege lata vorgebracht worden, dass in § 25 Abs. 1, 2. Altern. StGB nur von der Begehung durch einen anderen die Rede ist. Dabei wird jedoch übersehen, dass es hier um die 1. Alternative geht. Es handelt sich bei diesem Fall der Selbsttäterschaft zwar um eine parallele Struktur zur mittelbaren Täterschaft, aber nicht um einen Unterfall jener die Tatvermittlung durch einen Dritten beinhaltenden Rechtsfigur. Dass der Selbsttäter, von dem § 25 Abs. 1, 1. Altern. StGB spricht, sich selbst zum bloßen Werkzeug seiner Tat machen kann, wird bereits an folgendem nicht dem Bereich der a.l.i.c. zugehörigen Fall deutlich: Der Täter hat psychische Hemmungen, den von ihm gewollten durch Knopfdruck fernzuzündenden Sprengstoffanschlag in nüchterner Verfassung vorzunehmen. Er führt die Tat deshalb in der Weise aus, dass er sich bis zur Handlungsunfähigkeit betrinkt und sich dazu bewusst so postiert, dass er schließlich umfällt und auf den auslösenden Knopf der Fernzündung auftrifft. Hier geht es um die vorsätzliche selbsttäterschaftliche Begehung des Sprengstoffdelikts, also eine Tat nach § 25 Abs. 1, 1. Altern. StGB. Es steht daher nichts entgegen, auch die a.l.i.c.Fälle der 1. Alternative zuzuordnen. Der Täter macht sich hier wie dort zum Werkzeug seiner Tat, und die Werkzeugeigenschaft ist nur abgestuft hinsichtlich der Höhe des Alkoholpegels. Dass § 25 Abs. 1, 1. Altern. StGB die herkömmlich mit der a.l.i.c. gelöste Fallgruppe nicht ausdrücklich erwähnt, spricht nicht gegen seine Anwendbarkeit. Auch bei der 2. Alternative sind die Anwendungsfälle nicht aufgelistet, obwohl dort das Bedürfnis nach Angabe von Inhalt und Grenzen größer sein dürfte.21 Für das Tatbestandsmodell der a.l.i.c. ist zudem anzuführen: Es wäre nicht nachvollziehbar, dass jemand dann, wenn er einen schuldunfähigen Dritten als Tatmittler einsetzt, zwar wegen der von diesem realisierten Tatbestandsverwirklichung bestraft würde, nicht aber dann, wenn er sich selbst als schuldunfähigen Tatmittler einspannt. Beides unterschiedlich zu bewerten, ist widersprüchlich. Die Parallele zur Struktur der mittelbaren Täterschaft lässt auch die Bedenken entfallen, die gegenüber der Tatbestandslösung vom Prinzip zeitlicher Koinzidenz her erhoben werden. Das Unrecht beginnt ebenso wie dort mit der actio praecedens. Der Anfang der Ausführung der geplanten Tat liegt aber nicht etwa, wie in BGHSt 42, 235 und anderswo unzutreffend dem Tatbestandsmodell unterstellt wird, bereits beim Beginn des Trinkens.22 Nicht anders als bei der mittelbaren Täterschaft ist hier zwischen dem Stadium bloßer Vorbereitungshandlung und dem Beginn der actio praecedens zu 21 Im Übrigen wäre eine Wortfassung der ersten Alternative „Wer die Tat selbst oder durch sich selbst… begeht“ wohl übertriebener Gesetzesperfektionismus. 22 Unzutreffend heißt es S. 239 der Entscheidung, es liege der Tatbestandslösung die Vorstellung zugrunde, dass „bereits das Trinken ein Anfang der Ausführung der geplanten Tat“ sei.
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unterscheiden. Bei der mittelbaren Täterschaft spricht die h.M. im Zusammenhang mit dem Versuchsbeginn vom Aus-der-Hand-Geben des Tatgeschehens.23 Es stellt sich die Frage, wann der entsprechende Zeitpunkt beim Tatbestandsmodell der a.l.i.c. liegt. Der Eintritt des Rauschzustands kommt nicht in Betracht; denn damit ist bereits Schuldunfähigkeit gegeben, und unmittelbar davor ist schon eine hochgradig geminderte Schuldfähigkeit eingetreten. Man hat deshalb eingewandt, dass die a.l.i.c. konsequenterweise dazu führt, dass stets eine verminderte Schuldfähigkeit anzunehmen wäre.24 Aber schon ein Blick auf § 323a StGB zeigt, dass dieser Einwand fehlgeht. Die Vorschrift verlangt, dass der Täter sich in einen die Schuldfähigkeit ausschließenden Rausch versetzt. Bevor dieser Zustand erreicht ist, durchläuft das Sich-Berauschen das Stadium verminderter Schuldfähigkeit, ohne dass deshalb § 21 StGB zur Anwendung kommt. Der Grund dafür ist, dass bei § 323a StGB der für den Anfang der den Vollrausch herbeiführenden Handlung ausschlaggebende Zeitpunkt an der Schwelle des Übergangs in die verminderte Schuldfähigkeit liegt – und für das Tatbestandsmodell der a.l.i.c. gilt das ebenso. Damit, dass die Schwelle zum Überschreiten der Grenze zur verminderten Schuldfähigkeit erreicht ist, liegt nunmehr ein manifestiertes Risiko vor und insoweit ein Aus-der-Hand-Geben des weiteren Verlaufs. Der Einwand, dass im Sozialleben das Überschreiten dieser Schwelle zu den Alltäglichkeiten gehört, lässt im Fall der a.l.i.c. außer Acht, dass der Anfang der unrechtmäßigen Handlung auf dem Hintergrund des Tatplans zu bestimmen ist. Wer bei der mittelbaren Täterschaft durch eine äußerlich harmlos wirkende Handbewegung oder einen harmlos wirkenden Telefonanruf das Werkzeug planmäßig in Tätigkeit setzt, hat mit der Ausführung der mittelbaren Tat begonnen. Bei der a.l.i.c. verhält es sich mit der angeblichen „Alltäglichkeit“ nicht anders.25 Sieht man beim Versuch einer mittelbaren Täterschaft das Kriterium des „Aus-der-Hand-Gebens“ ganz oder teilweise für zu weitgehend an, so wird dort vertreten, dass das Ansetzen des Tatmittlers zur unmittelbaren Tatausführung ausschlaggebend sei.26 Aber auch zu dieser Auffassung wäre eine Parallele möglich. Zu beachten hätte man jedoch, dass es dabei um eine objektive Begrenzung der Strafbarkeit ginge.27 Denn das Unrecht des Veranlassers beginnt bereits mit seinem Verhalten. Gegen ein Verbot wird 23 Vgl. BGH NStZ 1986, 547; Roxin FS Maurach, 1972, S. 227 ff; Fischer StGB, 57 Aufl. 2010, § 22 Rn 24 ff mwN. 24 Vgl. Neumann Zurechnung und „Vorverschulden“, 1985, S. 36. 25 Was den Versuch angeht, sind Rücktritt oder tätige Reue noch bis vor Eintritt des Erfolges der gesamten Tat, also der im Rausch erfolgten Tatbestandsverwirklichung möglich. Schläft der Täter rauschbedingt ein, so dass die vorgesehene Tatbestandsverwirklichung nicht mehr zu realisieren ist, handelt es sich um strafbaren fehlgeschlagenen Versuch. Zu Versuchsfragen siehe auch Roxin (o. Fn. 17), § 20 Rn 60 f, 66. 26 Vgl. Stratenwerth/Kuhlen Strafrecht Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 2004, § 12 Rn 105. 27 Vgl. Hirsch JR 1997, 391, 393.
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dadurch verstoßen, dass man ihm zuwiderhandelt. Das Verhalten des Veranlassers liegt logischerweise zeitlich bereits vor dem Tätigwerden des Tatmittlers. Entsprechend wären die Dinge bei der a.l.i.c. zu sehen. Es zeigt sich also, dass die vorstehenden Fragen eine Parallele bei der mittelbaren Täterschaft haben und sich darin Konformität mit dem dogmatischen System zeigt, das dem StGB zugrunde liegt. Die Entsprechung hat auch für die Notwehr zu gelten,28 da bereits mit der actio praecedens ein gegen das Opfer gerichtetes rechtswidriges Verhalten gegeben ist. Die hier wie dort möglichen zeitlichen Verzögerungen betreffen das für die konkrete Situation zu entscheidende Notwehrerfordernis der Gegenwärtigkeit des Angriffs. 3. Das Problem a.l.i.c. verengt sicht nach alledem auf die Frage, welche Konsequenzen sich für das Tatbestandsmodell und darüber hinaus für die Anerkennung der Rechtsfigur der a.l.i.c. daraus ergeben, dass bei eigenhändigen Delikten mittelbare Täterschaft nicht möglich ist. Eingangs wurde schon daran erinnert, dass der 4. Strafsenat des BGH bei den Tatbeständen der Straßenverkehrsgefährdung und des Fahrens ohne Fahrerlaubnis ausdrücklich die Anwendbarkeit der a.l.i.c. verneint hat. In den späteren Entscheidungen anderer Senate ist an diesen Punkt nicht gerührt worden, da es in den von ihnen zu entscheidenden Fällen nicht um derartige Sachverhalte ging, so dass sie sagen konnten: „Jedenfalls eine weitergehende Einschränkung des Anwendungsbereichs der Grundsätze der actio libera in causa ist nicht anzuerkennen.“ 29 Im heutigen Schrifttum wird überwiegend in dieser Verengung des Anwendungsbereichs ein Grund für die Ablehnung des Tatbestandsmodells gesehen.30 Die im Blickfeld stehenden Straftatbestände der Straßenverkehrsgefährdung und des Fahrens ohne Fahrerlaubnis sind an sich nicht von solchem Gewicht, dass eine ausreichende Ahndung ihrer Verwirklichung nicht auch durch § 323a StGB abgedeckt ist. Das jedoch lässt die grundsätzliche Frage unberührt, ob es richtig ist, dass bei ihnen a.l.i.c. ausscheidet. Ohnehin gibt es auch gewichtigere Tatbestände, bei denen mittelbare Täterschaft nicht möglich ist.31 In der Tat ist eine Differenzierung unbefriedigend; denn es handelt sich in allen Fällen übereinstimmend darum, dass der Täter sich zum schuldunfähigen Werkzeug seiner selbst macht. Man wird sich die Dinge daher 28 Auf die Fragen, die bei der Notwehr auftauchen, hatte Geppert bei dem oben erwähnten Marburger Strafrechtsgespräch 1970 (o. Fn 1) hingewiesen. 29 BGH (2. Strafsenat) NStZ 2000, 584, 585. 30 Vgl. Sch/Sch-Perron (o. Fn 4), § 20 Rn 35b; Wessels/Beulke (o. Fn 4), Rn 415 mwN. 31 Siehe die Übersichten zu den eigenhändigen Delikten sowie den echten Sonderdelikten (diese, wenn der Veranlassende nicht die Sondereigenschaft besitzt) bei Sch/Sch-Heine (o. Fn 4), § 25 Rn 44, 45–48 und Vor § 25 Rn 84 f, 86.
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genauer ansehen müssen: Bei der a.l.i.c. geht es zwar um eine parallel zur mittelbaren Täterschaft strukturierte Rechtsfigur, nicht aber um eine vollständig identische. Es handelt sich ja nicht um eine mittelbare Begehung durch einen anderen, sondern durch den unmittelbar Handelnden selbst, so dass bei eigenhändigen Delikten die Eigenhändigkeit grundsätzlich gewahrt ist.32 Ungenau ist es deshalb, wenn in BGHSt 42, 235 am Tatbestandsmodell kritisiert wird, dass es die a.l.i.c. als Sonderfall der mittelbaren Täterschaft begreife.33 Aufmerksamkeit beansprucht die Frage, ob aber dieses Modell nicht bei eigenhändigen Delikten wie der Straßenverkehrsgefährdung, die das Führen eines Kfz erfordert, dadurch in Schwierigkeiten gerät, dass es den Beginn des unrechtmäßigen Handelns bereits bei der actio praecedens sieht, also einem Zeitpunkt, an dem das Fahrzeug noch nicht in Tätigkeit gesetzt worden ist.34 Man hat indes zu beachten, dass jede Tathandlung das Stadium des Versuchs durchläuft, auch wenn dieser für sich allein noch nicht strafbar ist. Das Zuwiderhandeln gegen das Verbot (den Normbefehl) beginnt mit dem Ansetzen zu der betreffenden Handlung. Deshalb liegt hier schon die für die Schuldfähigkeit erhebliche Stelle. Bei dem im Zusammenhang der Erörterung vornehmlich interessierenden § 315c Abs. 1 Nr. 1 StGB ist der Versuch ohnehin – im Unterschied zu anderen Begehungsformen – pönalisiert. Das Fahren bildet erst den zur Vollendung der Tat bereits normwidrig herbeigeführten Zustand. Ausschlaggebend ist daher das Ansetzen zu der diesen Zustand bewirkenden Handlung: Im oben näher lozierten Zeitpunkt setzt der Täter vorsätzlich einen Automatismus in Gang, der das von ihm dann verwirklichte verkehrsgefährdende Führen eines Kfz auslöst. Bei Strafbestimmungen, die wie die den Gegenstand der Entscheidung BGHSt 42, 235 bildenden Straßenverkehrsdelikte das Führen eines Kfz verlangen, ist es deshalb sachentsprechend und gesetzeskonform, den Täter, der sich in einen die Schuldfähigkeit ausschließenden Rausch versetzt und dabei den Vorsatz hat, in diesem, wie es dann geschieht, ein Kfz zu führen, aus den einschlägigen Strafbestimmungen zu bestrafen.35 Stellt man die Frage, ob es nicht einen Wertungswiderspruch bedeutet, a.l.i.c. und mittelbare Täterschaft verschieden zu behandeln, wenn es um die vorgenannte Deliktsgruppe geht, so ist darauf zu antworten: Die Bewertung einer Straftat ergibt sich aus den Spezifika des verwirklichten Unrechts. In Fällen der a.l.i.c. liegt bei Delikten, die der Täter nur selbst begehen kann, das
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So bereits Hirsch NStZ 1997, 230, 231. BGHSt 42, 235, 240. 34 Dazu im Einzelnen BGHSt 42, 235, 238 ff. 35 Näher zu dieser Problematik Hirsch FS Nishihara, 1998, S. 101 ff (dort auch näher zu den von Roxin FS Lackner, S. 307, 317, erörterten Fällen der §§ 153 ff StGB, die er abweichend von der hier vertretenen Auffassung wie bei der mittelbaren Täterschaft lösen will, worin ihm BGHSt 42, 235, 239 gefolgt war). 33
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volle Unrecht vor, weil er sie selbst verwirklicht. Mittelbare Täterschaft scheidet dagegen bei ihnen aus, weil das täterschaftliche Unrecht nicht vom Veranlasser, sondern von einem anderen begangen wird, so dass dort nur Teilnahme in Betracht kommt. Die in BGHSt 42, 235 erfolgte Ablehnung der a.l.i.c. bei speziellen Tätigkeitsdelikten und die im Schrifttum verbreitete Ansicht, dass sie folgerichtig sei, beruht auf dogmatischem „Schubladendenken“: Wenn bei der Begründung der a.l.i.c. auf die Parallelität zur mittelbaren Täterschaft verwiesen werde, sei sie als „Sonderfall“ von dieser anzusehen,36 so dass wie bei der mittelbaren Täterschaft spezielle Tätigkeitsdelikte ausschieden. Es wird dabei aber übersehen, dass die „Schublade“ a.l.i.c. in diesem Punkte – weil es um ein und dieselbe Person geht – einen sachlich abweichenden Inhalt hat, weshalb bei ihr auch nicht die in § 25 StGB genannte zweite Täterschaftsform, sondern bereits die erste in Rede steht. Das von Missdeutungen bereinigte Tatbestandsmodell erklärt also gesetzeskonform die der a.l.i.c. zuzuordnenden Fälle. Auch der Einwand, dass es bei eigenhändigen Delikten den Umfang sachentsprechender Bestrafung verkürze, ist nicht berechtigt. 4. Für die vorsätzliche a.l.i.c. lässt sich nach alledem festhalten: Das tatbestandsmäßige Unrecht setzt sich in solchen Fällen aus zwei Handlungsabschnitten zusammen: Der erste (die actio praecedens) besteht in der vorsätzlichen Herbeiführung eines die Schuldfähigkeit ausschließenden Rauschzustands, bei welcher der Täter den Vorsatz hat, in diesem Zustand eine bestimmte Straftat zu begehen. Den zweiten Abschnitt bildet die in dem Rausch erfolgende vorsätzliche Verwirklichung der Tatbestandsmerkmale der Tat. Beide Abschnitte sind dadurch verknüpft, dass der Täter beim ersten den Vorsatz zu der dann im zweiten vorgenommenen Realisierung hat. Indem das Unrecht der gesamten Tat bereits mit dem Ansetzen zur actio praecedens beginnt, hier also der Verstoß gegen das Verbot einsetzt, ist für die Schuldfrage ausschlaggebend und genügend, dass zu diesem Zeitpunkt Schuldfähigkeit gegeben war, womit dem Koinzidenzprinzip entsprochen ist. Da bei der actio praecedens zum Inhalt des Vorsatzes gehört, eine bestimmte Vorsatztat zu begehen (weshalb im Schrifttum von „Doppelvorsatz“ die Rede ist 37) kann sich die Frage erheben, ob das Vorsatzerfordernis des im Rausch realisierten Tatbestands damit bereits abgedeckt wird. Aber sie zu bejahen, würde die subjektive Tatseite verkürzen. Verwirklicht der Täter den tatbestandlichen Erfolg, ohne bei der Realisierung aktuell vorsätzlich zu handeln, so lässt sich ihm nur die Begehung eines Fahrlässigkeitstatbestands 36
Vgl. o. Fn 33. Vgl. Paeffgen in: Nomos Kommentar zum StGB, 3. Aufl. 2010, Vor § 223a Rn 32, 37; Sch/Sch-Perron (o. Fn 4), § 20 Rn 37; Wessels/Beulke (o. Fn 4), Rn 417. 37
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anlasten. Es ist zu beachten, dass die a.l.i.c. eine Rechtsfigur darstellt, die dadurch in den Blick kommt, dass bei der im Rausch begangenen Tatbestandsverwirklichung die Schuldfähigkeit fehlt. Dass die Unrechtserfordernisse, somit auch der Vorsatz, weiterhin vorliegen müssen, bleibt unberührt. Die den Unrechtstatbestand verwirklichende Handlung erfordert den aktuellen Vorsatz als ihre subjektive Seite. Hier bestätigt sich erneut die strukturelle Parallelität zu der durch ein schuldunfähiges Werkzeug begangenen mittelbaren Täterschaft. Jescheck hat treffend vom bei der a.l.i.c. erforderlichen „dreifachen Vorsatz“ gesprochen.38 5. Das Tatbestandsmodell bildet auch die Grundlage in den Fahrlässigkeitsfällen. Der 4. Strafsenat meinte zwar in der Entscheidung BGHSt 42, 235, dass es für sie auf die Rechtsfigur nicht ankomme; denn beim fahrlässigen Delikt werde an jedes in Bezug auf den tatbestandsmäßigen Erfolg sorgfaltswidrige Verhalten angeknüpft. Diesem Argument ist jedoch entgegenzuhalten: Wenn man die a.l.i.c. deshalb ablehnt, weil das schuldhafte vorsätzliche Versetzen in den die Tatausführung ermöglichenden Vollrausch noch nicht als unrechtsrelevant anzusehen sei, dann ist es inkonsequent, es bei bloßer Fahrlässigkeit als ausreichend anzusehen. Vielmehr zeigt die Selbstverständlichkeit, mit der hier Fahrlässigkeit bejaht wird, dass es sich erst recht so verhalten muss, wenn Vorsatz gegeben ist. Im Übrigen wird dies offenbar nur deshalb übersehen, weil durch den bei der Fahrlässigkeit geltenden Einheitstäterbegriff leicht die genauere dogmatische Einordnung des Inhalts der als sorgfaltswidrig eingestuften Handlungen verdeckt wird. Es bildet also auch beim fahrlässigen Delikt die auf das Tatbestandsmodell gestützte a.l.i.c. die Begründung.
IV. Die Bilanz der nunmehr fast dreißigjährigen Diskussion der a.l.i.c. ergibt: Die Rechtsprechung hat keinen Anlass, die Rechtsfigur aus sachlichen Gründen aufzugeben. Auch besteht verfassungsrechtlich keine Notwendigkeit, sie de lege lata zu verwerfen. Rückschauend wird man sich angesichts des Umfangs der einschlägigen Literatur vielleicht fragen, ob das Thema einen so großen geistigen Aufwand verdient hat. Fischer weist mit Recht darauf hin, dass Fälle der a.l.i.c. „recht selten“ sind.39 Wäre die intensivere Beschäftigung zum Beispiel mit den Katalogen der Garantenstellungen und deren differenzierten Anwendungsbereichen sowie den Grenzen der mittelbaren Täter38
Jescheck bei Dietmeier ZStW 110 (1998), 404. Fischer (o. Fn 23), § 20 Rn 50. Auch ist in BGH LM 7 zu § 51 aF StGB von „sehr selten“ die Rede. 39
Zwischenbilanz des langjährigen Meinungsstreits über die actio libera in causa
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schaft nicht fruchtbarer für Wissenschaft, Rechtsprechung und künftige Gesetzgebung gewesen? Es mag so sein. Aber man darf nicht übersehen, dass die a.l.i.c. zuvor zu wenig wissenschaftlich durchforstet gewesen ist und dementsprechend zu ungenau gehandhabt wurde. Das ist jetzt anders. Durch die vertiefende Diskussion sind die Erfordernisse der a.l.i.c. deutlicher hervorgetreten: Es müssen einerseits die exakten Voraussetzungen, wie sie bei der mittelbaren Täterschaft (durch schuldunfähiges Werkzeug) verlangt werden, soweit sie sich auf die Selbsttäterschaft übertragen lassen, gegeben sein. Andererseits darf dabei eben nicht übersehen werden, dass es hier um Selbsttäterschaft geht. Auch wenn sich die gesetzeskonformen Ergebnisse bereits de lege lata erzielen lassen, wäre es an sich wünschenswert, wenn der Gesetzgeber angesichts der durch BGHSt 42, 235 und die Vielzahl der gegen die a.l.i.c. gerichteten Stellungnahmen eine Klarstellung vornehmen würde. Die Erfahrung lehrt allerdings, dass Änderungen des StGB zumeist neue Probleme heraufbeschwören. Zu beachten ist jedenfalls, dass sich die Vorschrift in das Gesamtsystem bruchlos einfügen muss. Das wird dadurch erleichtert, dass beim heutigen Stand der im Schrifttum geführten Diskussion der Streit weniger um das grundsätzliche Ergebnis als um die Frage geht, wie es de lege lata systemkonform begründet werden kann. Zweckmäßig wäre es, dem § 20 StGB einen Absatz 2 anzufügen mit etwa folgendem Wortlaut: „Versetzt sich der Täter durch alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel vorsätzlich in einen die Schuldfähigkeit ausschließenden Rausch und hat dabei den Vorsatz, in diesem Zustand eine bestimmte vorsätzliche Straftat zu begehen, so ist er wegen der im Rausch begangenen Tat zu bestrafen. Handelt der Täter insoweit fahrlässig, ist er wegen der im Rausch verwirklichten mit Strafe bedrohten fahrlässigen Tat zu bestrafen.“ Auf weitere gesetzliche Klarstellungen kann man verzichten, solange sie nicht auch bei mittelbarer Täterschaft für notwendig gehalten werden.
Vereinigungsbegriff im Wandel? – Begriffsprägende Systematik als Auslegungsgrenze Klaus Hoffmann-Holland I. Ausgangslage 1. Der Vereinigungsbegriff an der Schnittstelle von Allgemeinem und Besonderem Teil Vor dem Hintergrund des vielfältigen Werkes von Klaus Geppert bedarf es der Rechtfertigung, ihm ausgerechnet einen Beitrag zum Vereinigungsbegriff des § 129 StGB zu widmen. Angesichts der begeisternden Intensität, mit der Klaus Geppert junge Juristinnen und Juristen im Hörsaal auf Prüfungen und Berufsleben vorbereitet hat, könnte man daran denken, die Themenwahl dadurch zu rechtfertigen, dass § 129 StGB vielerorts Pflichtfachstoff für die erste juristische Staatsprüfung ist. Aber § 129 StGB wird nur recht selten geprüft. Auch ist die Themenwahl noch nicht dadurch legitimiert, dass sich der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs noch im Dezember 2009 ausführlich mit dem Vereinigungsbegriff in § 129 StGB auseinandergesetzt hat.1 Denn es darf vorweggenommen werden, dass dieser Entscheidung im Ergebnis zuzustimmen ist. Gleichwohl werde ich sie näher vorstellen. Denn mit ihr – so will ich behaupten – rundet der 3. Strafsenat seine Auseinandersetzung mit Bestrebungen ab, den Vereinigungsbegriff im Sinne einer richtlinienkonformen Auslegung auszuweiten. Daher wird auch kurz auf zwei frühere Entscheidungen aus den Jahren 2008 und 2009 einzugehen sein.2 Der eigentliche Grund für die Themenwahl sind methodische Aspekte. Gerade um Fragen der Methodik hat sich Klaus Geppert in besonderer Weise verdient gemacht. Der Vereinigungsbegriff steht an der Schnittstelle von Allgemeinem und Besonderem Teil. Daher sollte man sich auch nicht dadurch täuschen lassen, dass er ausgehend von Fragen der europarechtskonformen Auslegung beleuchtet wird. Das Europarechtliche ist nur der Impuls für methodische Überlegungen, die sich schlicht auf die Dogmatik des StGB beziehen. 1 2
BGHSt 54, 216 (BGH, Urt. v. 3.12.2009 – 3 StR 277/09). BGH NStZ 2008, 146; BGH NJW 2009, 3448, 3460.
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In einem ersten Schritt soll daher die jüngste Entscheidung des BGH zur Auslegung der Tatbestandsmerkmale in § 129 StGB kurz skizziert und daran anschließend der mögliche Einfluss des Europarechts auf den Vereinigungsbegriff beleuchtet werden. Vor diesem Hintergrund wird – als erster methodischer Schwerpunkt – die Auslegung bzw. Begrenzung des Vereinigungsbegriffs aus der Gesetzessystematik entwickelt. Über die Entscheidung hinaus soll – als zweiter methodischer Schwerpunkt – die Frage beantwortet werden, inwieweit Systematik nicht nur als Auslegungsmethode, sondern auch als Auslegungsgrenze fungieren kann. Die im Folgenden zu überprüfende These lautet: Eine äußere Grenze der Auslegung ist nicht nur der mögliche Wortsinn, sondern auch das in der Gesetzessystematik zum Ausdruck gebrachte Begriffsverständnis. 2. Skizze des Sachverhaltes (BGH, Urt. v. 3.12.2009 – 3 StR 277/09)3 Nach den Feststellungen des Landgerichts Dresden als Ausgangsinstanz traf sich eine Gruppe politisch rechtsorientierter Jugendlicher, die sich zunächst den Namen „Division Sächsischer Sturm“ gegeben hatte, ab dem Jahr 2005 täglich in einem eigens hierfür eingerichteten Treffpunkt. Zwischen der Gruppe und anderen Personen in der Umgebung kam es häufig zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, wobei sich die Angriffe der Gruppenmitglieder bevorzugt gegen – ich zitiere – Punker, „Linke“ und „Kiffer“ richteten. 2006 kam innerhalb der Gruppe die Idee auf, eine Kameradschaft zu gründen. Hauptziel war es, den Wohnort durch die Schaffung einer sog. national befreiten Zone „zeckenfrei“ und „braun“ zu machen. Dies bedeutete, gegen alle Personen, die keine rechtsorientierte politische Gesinnung hatten, mit Gewalt vorzugehen. Hierzu sollten sog. Skinheadkontrollrunden durchgeführt werden. Wurden dabei missliebige Personen angetroffen, organisierte man eine größere Einheit und ging gewalttätig gegen sie vor. Die Gruppe gab sich den Namen „Kameradschaft Sturm 34“. Das Landgericht Dresden hat die Angeklagten wegen mehrerer Fälle der gefährlichen Körperverletzung schuldig gesprochen. Die Voraussetzungen des § 129 StGB sah es demgegenüber nicht als erfüllt an, insbesondere stehe das Fehlen von Strukturmerkmalen wie „Satzung, Mitgliederliste, Mitgliederbeiträgen, (…) einheitlicher Kleidung u.Ä.“ der Annahme einer kriminellen Vereinigung entgegen. Die vom Generalbundesanwalt vertretene Revision der Staatsanwaltschaft hatte Erfolg, soweit das Landgericht die Angeklagten nicht wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer kriminel-
3 Die nachfolgende Schilderung des Sachverhalts ist nahezu wörtlich dem Urteil BGHSt 54, 216 ff. (Rn 1–10) entnommen. Ausführlich zu der Entscheidung auch Winkler jurisPRStrafR 5/2010 Anm. 1.
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len Vereinigung verurteilt hat. Nach Auffassung des 3. Strafsenates ist die „Kameradschaft Sturm 34“ entgegen den Ausführungen des Landgerichts als kriminelle Vereinigung im Sinne des § 129 StGB anzusehen.4
II. Vereinigungsbegriff und Europarecht Der 3. Strafsenat setzt sich in seiner Entscheidung ausgiebig mit einer europarechtskonformen Auslegung des Vereinigungsbegriffs auseinander. Das wäre – und das weiß natürlich auch der 3. Senat – für das Ergebnis indes gar nicht notwendig. Denn das Tatbestandsmerkmal der kriminellen Vereinigung wird ja gerade bejaht, ohne auf die in Literatur und Rechtsprechung teilweise geforderte ausweitende europarechtsfreundliche Auslegung des Vereinigungsbegriffs zurückzugreifen. 1. Festhalten am herkömmlichen Vereinigungsbegriff Der 3. Senat hält am herkömmlichen Vereinigungsbegriff fest. Nach ständiger Rechtsprechung ist „als Vereinigung im Sinne der §§ 129 ff. StGB (…) der auf eine gewisse Dauer angelegte, freiwillige organisatorische Zusammenschluss von mindestens drei Personen zu verstehen, die bei Unterordnung des Willens des Einzelnen unter den Willen der Gesamtheit gemeinsame Zwecke verfolgen und unter sich derart in Beziehung stehen, dass sie sich untereinander als einheitlicher Verband fühlen“.5 Der Vereinigungsbegriff umfasst mithin personelle, organisatorische, voluntative und zeitliche Kriterien. Die Antwort auf die Frage, ob denn der Vereinigungsbegriff im Wandel ist, will der 3. Strafsenat ausführlich und in aller Klarheit mit Nein geben: „Der vorliegende Fall gibt Anlass klarzustellen, dass es für den hier relevanten Begriff der kriminellen Vereinigung im Sinne des § 129 StGB für alle in Betracht kommenden Gruppierungen einheitlich bei der bisher in der Rechtsprechung gebräuchlichen Definition der Vereinigung zu verbleiben hat.“6 Letztlich sind die Ausführungen also ein sehr umfangreiches obiter dictum. Der 3. Strafsenat will grundsätzlich die Grenzen einer europarechtsfreundlichen Auslegung aufzeigen, welche einen der wesentlichen Europäisierungsfaktoren im Bereich des materiellen Strafrechts darstellt.7 4
BGHSt 54, 216, 220 (Rn 19). BGHSt 54, 216, 221 (Rn 23); vgl. BGH NJW 2009, 3448, 3459; BGHSt 28, 147; 31, 202, 204 f.; 31, 239 f.; 45, 26, 35; BGH NJW 2005, 1668; 2006, 1603; BGHR StGB § 129 Vereinigung 3. 6 BGHSt 54, 216, 222 (Rn 26). 7 Hecker Europäisches Strafrecht, 2. Aufl. (2007), § 10 Rn. 1; Satzger Die Europäisierung des Strafrechts (2001), S. 518. 5
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2. Ansätze zur extensiven europarechtsfreundlichen Auslegung Anlass für Überlegungen zu einer extensiven europarechtsfreundlichen Auslegung des Vereinigungsbegriffs bieten verschiedene europarechtliche Regelungen, insbesondere die Definition einer kriminellen Vereinigung in Art. 1 des EU-Rahmenbeschlusses zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität vom 24. Oktober 2008. Danach bezeichnet der Ausdruck der kriminellen Vereinigung „einen auf längere Dauer angelegten organisierten Zusammenschluss von mehr als zwei Personen, die, um sich unmittelbar oder mittelbar einen finanziellen oder sonstigen materiellen Vorteil zu verschaffen, in Verabredung handeln, um Straftaten zu begehen, die mit einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung im Höchstmaß von mindestens vier Jahren oder einer schwereren Strafe bedroht sind.“ Der hiernach erforderliche „organisierte Zusammenschluss“ soll nach Absatz 2 gegeben sein, wenn er nicht zufällig zur unmittelbaren Begehung eines Verbrechens gebildet wird und der Zusammenschluss auch – nicht notwendigerweise förmlich – festgelegte Rollen für seine Mitglieder, eine kontinuierliche Mitgliedschaft oder eine ausgeprägte Struktur hat. Nach Stimmen aus der Literatur soll der bisher bei § 129 StGB zugrundegelegte Vereinigungsbegriff künftig „europarechtsfreundlich“ interpretiert werden: Spricht die Definition des Rahmenbeschlusses die Willensbildung innerhalb einer Vereinigung nicht an, so sollen die Anforderungen an die voluntativen Voraussetzungen herabgesetzt werden; schon eine irgendwie regelhafte Willensbildung soll ausreichend sein.8 Auch wird gefordert, die organisatorischen Voraussetzungen abzuschwächen; schon jede rudimentäre Organisation soll für den Begriff der Vereinigung genügen.9
III. Auslegung des Vereinigungsbegriffs Diesem Ansatz einer extensiven europarechtsfreundlichen Auslegung tritt der 3. Strafsenat ausdrücklich entgegen und weist bereits im ersten Leitsatz des Urteils unmissverständlich darauf hin, dass „der Rahmenbeschluss des Rates der Europäischen Union vom 24. Oktober 2008 zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität nicht zu einer Änderung der bisherigen Auslegung des Tatbestandsmerkmals der Vereinigung im Sinne des § 129 Abs. 1 StGB (führt).“10
8 9 10
Kress JA 2005, 220, 224. Kress JA 2005, 220, 227. BGHSt 54, 216.
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1. Wortlaut und Struktur des § 129 StGB Dabei würden Wortlaut und Struktur der Vorschrift durchaus Raum dafür geben, die Definition aus dem Rahmenbeschluss zu übernehmen. Auf der Ebene des objektiven Tatbestandes spricht § 129 StGB schlicht von der Vereinigung.11 Deren Zwecke oder Tätigkeit müssen auf Straftatbegehung gerichtet sein. Die Tathandlungen sind recht umfassend angelegt: Es kommen Gründung, Beteiligung als Mitglied, Unterstützung und Werbung um Mitglieder oder Unterstützer in Betracht. Gründen ist das Mitwirken beim Zusammenschluss;12 Beteiligung als Mitglied setzt voraus, dass sich der Täter zur Verfolgung der Vereinigungsziele im Rahmen der Organisationsstruktur verpflichtet;13 Unterstützung ist eine zur Täterschaft verselbstständigte Form der Beihilfe;14 Werben bedeutet eine planmäßige Äußerung mit dem Ziel, andere für die Organisation zu gewinnen.15 Der subjektive Tatbestand setzt lediglich Vorsatz voraus.16 Weder die nach der obigen Definition des Vereinigungsbegriffs erforderliche Unterordnung des Willens des Einzelnen unter den Willen der Gesamtheit, noch das geforderte Erscheinen als einheitlicher Verband stellen nach der Struktur des § 129 StGB eine zwingende Voraussetzung einer kriminellen Vereinigung dar. Eine allein am Wortlaut der Vorschrift verhaftete Auslegung könnte mithin problemlos eine Absenkung der Anforderungen an das Vorliegen einer Vereinigung im Sinne einer „europarechtsfreundlichen“ Lösung vornehmen. 2. Systematische Auslegung Der Senat begründet seine Lösung dann auch nicht unter Berufung auf den Wortlaut des § 129 StGB, sondern mit einer systematischen Auslegung. Nach seiner Auffassung würde die Übernahme der Definition einer kriminellen Vereinigung aus dem Rahmenbeschluss zu einem „unauflösbaren Widerspruch zu wesentlichen Grundgedanken des Systems der Strafbarkeit mehrerer zusammenwirkender Personen führen, auf dem das deutsche materielle Strafrecht beruht.“17 Dies kann zum Anlass genommen werden, die Vereini-
11
Kress JA 2005, 220, 224. Lackner/Kühl StGB, 26. Aufl. (2007), § 129 Rn 4. 13 Rudolphi/Stein in SK, § 129 Rn 16. 14 BGHSt 20, 89 f.; 29, 99, 101. 15 Lenckner/Sternberg-Lieben in Schönke/Schröder 27. Aufl. (2006), § 129 Rn 14b; Rudolphi/Stein in SK, § 129 Rn 18. 16 Rudolphi/Stein in SK, § 129 Rn 19 unter Hinweis auf den Umstand, dass sich der Vorsatz auch auf die Strafbarkeit der vom Vereinigungszweck umfassten Aktivitäten erstrecken muss. 17 BGHSt 54, 216, 223 (Rn 29). 12
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gungsdelikte insgesamt gegenüber sonstigen Formen der Beteiligung Mehrerer an einer Straftat abzugrenzen. a) Abgrenzung zur Bande In der neueren Entscheidung wird die Vereinigung von der Bande abgegrenzt: Dabei stellt der 3. Senat zutreffend darauf ab, dass die Mitgliedschaft in einer Bande als solche noch nicht strafbar ist. Vielmehr stellt sie – wenn ein Grundtatbestand erfüllt ist – ein Qualifikationsmerkmal oder ein Regelbeispiel dar. Die Mitgliedschaft in einer Bande ist also – im Gegensatz zur Vereinigung – kein strafbegründendes, sondern lediglich ein strafschärfendes Merkmal.18 Dieser grundlegende systematische Unterschied ginge verloren, würde der Begriff der Vereinigung demjenigen aus der Richtlinie angepasst. Denn der Begriff der kriminellen Vereinigung nach Art. 1 des Rahmenbeschlusses vom 24.Oktober 2008 unterscheidet sich kaum vom Bandenbegriff: Eine Bande ist nach neuerer Rechtsprechung „gekennzeichnet durch den Zusammenschluss von mindestens drei Personen, die sich mit dem Willen verbunden haben, künftig für eine gewisse Dauer mehrere selbstständige, im Einzelnen noch ungewisse Straftaten zu begehen. Ein gefestigter Bandenwille und ein Tätigwerden in einem übergeordneten Bandeninteresse sind nicht erforderlich.“19 Das Abgrenzungskriterium zur Bande ist also vor allem ein voluntatives Element: Es ist der übergeordnete Gemeinschaftswille, der die Vereinigung auszeichnet. Bei Unterordnung des Willens des Einzelnen unter den Willen der Gesamtheit müssen gemeinsame Zwecke verfolgt werden. b) Abgrenzung zum Versuch der Beteiligung nach § 30 StGB Mit der Abgrenzung zum Versuch der Beteiligung nach § 30 StGB setzt sich eine frühere Entscheidung des 3. Senats aus dem Jahr 2008 auseinander, die einen Zusammenschluss von Personen zur Störung des Weltwirtschaftsgipfels in Heiligendamm betraf: 20 Dabei stellt der Senat auf das „abgestufte System der Strafbarkeit von Tatvollendung, Versuch und Vorbereitungshandlung“ ab. Grundsätzlich ist nur die Deliktsvollendung strafbar. Der Versuch nur bei Verbrechen oder wenn die Strafbarkeit ausdrücklich bestimmt ist. „Wird auch die Schwelle zum Versuch nicht überschritten, kommt eine Strafbarkeit nur bei Verbrechen und nur für bestimmte Vorbereitungshandlungen in Betracht“. In diesem System werden Begrenzungen der Strafbarkeit deutlich. Diese systematischen Grenzen erfordern, dass „nicht jeder Zusammenschluss von Tätern, die Straftaten (etwa Diebstähle) planen, schon als
18 19 20
BGHSt 54, 216, 223 f. (Rn 29). BGHSt 46, 321, 325 ff.; BGHSt 54, 216, 223 f. (Rn 29). Alle nachfolgenden Zitate in diesem Absatz: BGH NStZ 2008, 146, 149.
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solcher die Strafbarkeit“ begründet. Eine Strafbarkeit wegen des Zusammenschlusses kann nur dann angenommen werden, wenn schon der Zusammenschluss selbst ein strafwürdiges Gefährdungspotential für geschützte Rechtsgüter darstellt. „Das setzt aber voraus, dass sich für die in Frage stehende Gruppierung mehr als nur rudimentäre Organisationsformen feststellen lassen“. Die Vereinigung ist also anhand eines organisatorischen Elementes vom Versuch der Beteiligung abzugrenzen: Es bedarf der gegenseitigen ernsthaften Verpflichtung, wobei die Mitglieder unter sich derart in Beziehung stehen, dass sie sich untereinander als einheitlicher Verband fühlen. Hinzu kommt ein personelles Kriterium. Für eine Vereinigung sind mindestens 3 Mitglieder erforderlich. c) Abgrenzung zur Mittäterschaft Auch die Abgrenzung zur Mittäterschaft muss trennscharf möglich sein. Denn gegenüber der Mittäterschaft „ist die mitgliedschaftliche Betätigung in einer (kriminellen) Vereinigung unabhängig davon strafbar, ob konkrete Taten in strafbarer Weise vollendet, versucht oder vorbereitet werden“.21 Die Mittäterschaft kennzeichnet sich dadurch, dass mehrere Personen einen gemeinsamen Willen zur Tat aufweisen und die Tatherrschaft gemeinschaftlich ausüben.22 Aber die Vereinigung erfordert mehr: Mittäter können schon zwei, nicht erst drei Personen sein; Mittäter müssen auch – anders als Mitglieder einer Vereinigung – organisatorisch nicht zwangsweise in besonderer Weise miteinander verbunden sein; die Einzelmeinung muss nicht hinter einen besonderen Gruppenwillen zurücktreten; schließlich bedarf es für das Zusammenwirken von Mittätern auch keines Mindestzeitraums; schon die kurzfristige Verbindung zur Begehung einer Straftat kann genügen.23 Ergänzt man die Abgrenzungen der Vereinigung zur Bande und zum Versuch der Beteiligung um diejenige zur Mittäterschaft kommt also zuletzt – neben den voluntativen, organisatorischen und personellen Kriterien – noch die zeitliche Komponente hinzu: Eine Vereinigung muss auf eine gewisse Dauer angelegt sein. 3. Teleologisch-systematische Auslegung An der Schnittstelle von teleologischer und systematischer Auslegung finden sich Erwägungen aus einer Entscheidung des 3. Senats zur Unterstützung der Al Quaida durch Terrorismusfinanzierung mittels einer Lebensversicherung. Dabei wird auch deutlich, dass rein teleologische Ansätze häufig
21 22 23
BGH NStZ 2008, 146, 149. BGHSt 54, 216, 231 (Rn 45). Miebach/Schäfer in MünchKomm-StGB Band 2/2 (2005), § 129a Rn 35.
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zu kurz greifen. Den besonderen Sinn einer Vorschrift erkennt man häufig erst aus der Systematik. Daher kann von der Mischform einer teleologischsystematischen Auslegung gesprochen werden. Der 3. Senat geht davon aus, dass die Vereinigungsdelikte die erhöhte Gefährlichkeit einer „fest gefügten, auf die Begehung von Straftaten angelegten Organisation … kraft der ihr innewohnenden Eigendynamik“24 erfassen sollen. In dieser Dynamik wird das Gefühl der persönlichen Verantwortlichkeit des Einzelnen zurückgedrängt.25 Diese spezifische Gefährlichkeit hebt sich – systematisch – von den anderen Formen der Beteiligung Mehrerer ab. Daher bedarf es höherer Anforderungen an die Verbindung der Mitglieder und den Gruppenwillen.26 Zusammenfassend ist den vorstehenden Feststellungen zu entnehmen, dass die Vereinigung über zeitliche, personelle, organisatorische und voluntative Kriterien von den sonstigen Formen der Beteiligung Mehrerer abgegrenzt werden muss. Zeitlich: Eine Vereinigung muss auf eine gewisse Dauer angelegt sein; personell: Es ist ein Zusammenschluss von mindestens drei Personen erforderlich; organisatorisch: Es bedarf der gegenseitigen ernsthaften Verpflichtung, wobei die Mitglieder unter sich derart in Beziehung stehen, dass sie sich untereinander als einheitlicher Verband fühlen; voluntativ: Es müssen bei Unterordnung des Willens des Einzelnen unter den Willen der Gesamtheit gemeinsame Zwecke verfolgt werden. In diesem Zusammenhang ist die Klarstellung aus dem zweiten Leitsatz der aktuellen Entscheidung des 3. Senats vom Dezember 2009 zu verstehen, wonach der erforderliche übergeordnete Gemeinschaftswille regelmäßig angenommen werden kann, wenn die Mitglieder der Gruppierung durch koordiniertes Handeln nicht nur kurzfristig ein gemeinsames Ziel verfolgen, das über die Begehung der konkreten Straftaten hinausgeht, auf welche die Zwecke oder die Tätigkeit der Gruppe gerichtet sind.27
IV. Systematik als Auslegungsgrenze 1. Grenzen des Gebots richtlinienkonformer Auslegung im Europarecht Völlig zutreffend kommt der 3. Strafsenat in der Zusammenschau seiner Entscheidungen zu dem Ergebnis, dass die Systematik als Auslegungsgrenze einer richtlinienkonformen Erweiterung des Vereinigungsbegriffs entgegensteht.28 Darin kann aber keine generelle Ablehnung des Europarechts ge-
24 25 26 27 28
BGH NJW 2009, 3448, 3460. BGH NJW 2009, 3448, 3460. BGH NJW 2009, 3448, 3460. BGHSt 54, 216, 228 f. (Rn 40). Zustimmend auch Walter jurisPR-StrafR 5/2010 Anm. 1, S. 2.
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sehen werden, da der 3. Senat das Gebot richtlinienkonformer Auslegung – ein Ausfluss des Loyalitätsprinzips und der Umsetzungsverpflichtung (Art. 4 Abs. 3 EUV und Art. 288 Abs. 3 AEUV) 29 – ausdrücklich anerkennt. Zugleich verweist er aber auf die Grenzen des Gebots richtlinienkonformer Auslegung im Europarecht, wie es auch der EuGH besonders nachdrücklich in den Entscheidungen „Kolpinghuis Nijmegen“30 und „Telekom Italia“31 getan hat: Grenzen sind die sowohl dem nationalen Verfassungsrecht als auch dem primären Europarecht zu entnehmenden allgemeinen Rechtsgrundsätze. Zu diesen zählen insbesondere der Bestimmtheitsgrundsatz und der Vertrauensschutz.32 Obgleich die Vorschriften des Unionsrechts grundsätzlich zu einer strafbarkeitserweiternden Auslegung führen können, weil nach ihnen eine weitreichendere Begriffsinterpretation zugrundegelegt wird als im nationalen Recht, bleiben mithin insbesondere durch die Verfassung gezogene Schranken zulässiger Wortlautinterpretation zu beachten.33 2. Analogieverbot und begriffsprägende Systematik Wie jede Form der Auslegung muss somit auch die richtlinienkonforme die allgemeinen Grenzen der Auslegung beachten. Im nationalen Strafrecht begrenzt Art. 103 Abs. 2 GG bzw. § 1 StGB die Auslegung in Form des sogenannten Analogieverbotes. Danach kann eine Tat nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Darin wird nicht nur eine Handlungsanweisung an den Gesetzgeber gesehen, sondern zugleich eine Handlungsbegrenzung für den Richter.34 Diesem ist es untersagt, die gesetzlich bestimmten Voraussetzungen der Strafbarkeit zu Lasten des Betroffenen auszulegen.35 Für die Gesetzesanwendung wird hiermit zur entscheidenden Frage, wo genau die Grenze zulässiger Auslegung zu ziehen ist. Dies ist der Ansatzpunkt der zentralen These: Entgegen herkömmlicher Lehre ergeben sich die Grenzen zulässiger Auslegung nicht allein aus dem Wortlaut der betroffenen Norm. Vielmehr können auch diejenigen Begrenzungen Anteil am Analogieverbot haben, die aus einer systematischen Auslegung zu gewinnen sind. Der in Art. 103 Abs. 2 GG sowie dem gleichlautenden § 1 StGB verwandte Terminus „gesetzlich bestimmt“ betrifft hiernach nicht nur die einzelnen Begriffe der gesetzlichen Strafnorm,
29
Hecker Europäisches Strafrecht, 2. Aufl. (2007), § 10 Rn 6. EuGHE 1987, 3969, 3986. 31 EuGHE 1996, 6609, 6637 (unter Berufung auf das Gesetzlichkeitsprinzip nach Art. 7 Abs. 1 EMRK). 32 Ambos Internationales Strafrecht, 2. Aufl. (2008), S. 445 § 11 Rn 45. 33 Schmitz in MünchKomm-StGB Band 1 (2003), § 1 Rn 83. 34 Schmid-Aßmann in Maunz/Dürig GG, 56. Aufl. (2009), Art. 103 Abs. 2 Rn 225. 35 Hassemer/Kargl in NK, 3. Aufl. (2010), § 1 Rn 70. 30
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sondern bezieht auch das sich aus der gesetzlichen Festlegung in einem bestimmten System zum Ausdruck gebrachte Begriffsverständnis in das Analogieverbot mit ein. Dies gilt allerdings nur insoweit, als die jeweilige Systematik auch tatsächlich begriffsprägend ist. Wie sich diese begriffsprägende Systematik in die traditionelle Auslegungslehre einfügt und an welchen Stellen sie über diese hinausgeht, soll nachfolgend erläutert werden. Die Grenze zwischen zulässiger Auslegung und verbotener Analogie wird nicht einheitlich festgelegt. Teilweise wird vertreten, ein Abstellen auf den Wortsinn sei insgesamt unbrauchbar.36 Es finden sich dann offenere Kriterien, wie etwa die Abgrenzung zur „unzulässigen freie(n) Rechtsfindung“37 oder Schmidhäusers Abgrenzung nicht anhand des Wortlauttatbestandes, sondern anhand des den Gesetzessinn wiedergebenden Auslegungstatbestandes38. Die Schwäche derartiger Ansätze ist aber, dass sie keine Klarheit schaffen. Vielmehr werden die Unsicherheiten teleologischer Auslegung in das Gesetzlichkeitsprinzip hineingetragen, obwohl der Auslegung ja gerade Grenzen gesetzt werden sollen.39 Nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG und großen Teilen der Literatur markiert der noch mögliche Wortsinn des Gesetzes die Grenze der zulässigen Interpretation.40 Dass das BVerfG nicht vom Wortlaut, sondern vom Wortsinn spricht, lässt hierbei erkennen, „dass es ein Vorverständnis für die Auslegung annimmt“.41 Der Vorteil dieser von der herrschenden Meinung befürworteten Grenzziehung anhand des Kriteriums, welchen Alltagsgebrauch eines Wortes man annehmen kann, ist – ganz im Sinne Feuerbachs – die Vorhersehbarkeit: Die Grenze ist für jeden erkennbar, der die deutsche Sprache beherrscht.42 Wie weit aber der Bereich strafbaren Verhaltens gezogen wird, wenn man diesen allein durch die noch mögliche Wortbedeutung begrenzt, zeigt eine Formulierung von Schmidt-Aßmann aus dem Grundgesetz-Kommentar Maunz-Dürig: „Das Bestrafungsrisiko innerhalb möglicher Sinnvarianten des Wortlauts wird dem Täter durch Art. 103 Abs. 2 GG grundsätzlich nicht abgenommen“.43 Dementsprechend besteht das nahelie-
36 Vgl. etwa Hanack NStZ 1986, 263 f. sowie die weiteren Nennungen von Eser in Schönke/Schröder 27. Aufl. (2006), § 1 Rn 55. 37 Sax Das strafrechtliche „Analogieverbot“ (1953), S. 94 ff., 142 ff. 38 Schmidhäuser AT, 2. Aufl. (1984), 3/48 ff. 39 Hassemer-Kargl in NK, 3. Aufl (2010), § 1 Rn 77. 40 Exemplarisch BVerfGE 71, 108, 115; 82, 236, 269; BVerfG NStZ 1990, 276 f.; BGHSt 29, 129, 133; 35, 390, 395; Engels GA 1982, 109, 121 ff.; Baumann MDR 1958, 394; Roxin ZStW 83 (1971), 369, 376 ff.; Herzberg GA 1997, 251, 252; Eser in Schönke/Schröder 27. Aufl. (2006), § 1 Rn 55; Rudolphi in SK, § 1 Rn 22; Hassemer-Kargl in NK, 3. Aufl. (2010), § 1 Rn 78. 41 Schmid-Aßmann in Maunz/Dürig GG, 56. Aufl. (2009), Art. 103 Abs. 2 Rn 228. 42 Vgl. auch Eser in Schönke/Schröder 27. Aufl. (2006), § 1 Rn 55. 43 Schmid-Aßmann in Maunz/Dürig GG, 56. Aufl. (2009), Art. 103 Abs. 2 Rn 230.
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gende Problem eines allein am Wortsinn ausgerichteten Verständnisses von den Grenzen zulässiger Gesetzesinterpretation darin, dass es in bestimmten Bereichen einer ausufernden Auslegung und Anwendung von Strafvorschriften Vorschub leistet. Insbesondere diese Befürchtung dürfte es dann auch gewesen sein, die Landau dazu veranlasste in einem aktuellen Beitrag – wenn auch nur am Rande – darauf aufmerksam zu machen, dass wir uns bei der Frage des Bestimmtheitsgebotes der Rechtsanwendung nur auf einzelne Tatbestandsmerkmale konzentrierten und hierdurch die drohende unzulässige Auslegung einer gesamten Strafnorm aus dem Blick verlören.44 Diesen Gedanken aufgreifend kann für eine stärkere Berücksichtigung systematischer Gesichtspunkte bei der Gesetzesauslegung plädiert werden. Hiernach hat die mögliche tatsächliche Wortbedeutung zwar den Ausgangspunkt für die Bestimmung der Grenzen zulässiger Auslegung darzustellen, jedoch sollte man bei dieser nicht stehen bleiben. Nicht nur haben, um eine Entscheidung des BVerfG zu zitieren, die Strafgerichte den Gesetzgeber „beim Wort zu nehmen“45, auch muss sich der Gesetzgeber beim Wort nehmen lassen.46 Wenn der Gesetzgeber einem Wort durch den Systemzusammenhang ein begriffliches Gepräge gibt, muss dies als Auslegungsgrenze respektiert werden. Nur so kann das Gesetz durch Vorhersehbarkeit Freiheit sichern. Das ist der Gedanke der Rechtssicherheit, den das Analogieverbot ausformt, oder – um ein bekanntes Wort von Franz von Liszt aufzugreifen – dann wird das Gesetz zur magna charta des Verbrechers 47, oder genauer: des Bürgers48. Auch das zarte Aufleben des Analogieverbotes in wenigen neuen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts lässt sich nicht mit dem bloßen Abstellen auf den noch möglichen Wortsinn der einschlägigen Strafnorm erklären. Dies gilt insbesondere für die Feststellung, ein Personenkraftwagen sei „vom möglichen Wortsinn des Begriffs der ‚Waffe‘ in § 113 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 StGB nicht mehr umfasst“.49 Vielmehr stellt das BVerfG selbst fest, dass von den Mitgliedern des seinerzeit mit der Schaffung des § 113 StGB befassten „Sonderausschuss für die Strafrechtsreform die Auffassung vertreten wurde, der Waffenbegriff in der betreffenden Vorschrift sei „nicht im technischen … Sinne zu verstehen“ und erfasse auch sonstige Gegenstände, die zum Zwecke der Gewaltanwendung eingesetzt werden.50 Der PKW liegt also gerade im noch möglichen Wortsinn der Waffe. Aber auch hier bemüht das BVerfG systematische Erwägungen. Es vergleicht den § 113 Abs. 2 Satz 2
44 45 46 47 48 49 50
Landau ZStW 121 (2009), 965, 975. BVerfG NJW 1984, 225, 1986, 1671, 1672. BVerfGE 71, 108, 116. V. Liszt Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, Band 2 (1905), S. 80. Schunemann Nulla poena sine lege? (1978), S. 1 Fn. 2. BVerfG NJW 2008, 3627, 3628. BVerfG NJW 2008, 3627, 3629.
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Klaus Hoffmann-Holland
Nr. 1 StGB mit § 244 Abs. 1 Nr. 1a) bzw. § 250 Abs. 1 Nr. 1a) StGB, wo zwischen Waffen und gefährlichen Werkzeugen unterschieden wird und kommt zu dem Ergebnis, dass diese Begriffstrennung auch für § 113 StGB aufrechterhalten werden muss.51 Verallgemeinert man diese vom BVerfG getroffene Aussage, so entscheidet eben nicht allein der Wortlaut der im konkreten Fall einschlägigen Strafnorm über die im Rahmen der Auslegung zu ermittelnden Strafbarkeitsgrenzen, vielmehr ist der noch mögliche Wortsinn der Ausgangsnorm zusätzlich an der Gesetzessystematik zu überprüfen. Nur soweit in dieser kein abweichendes Begriffsverständnis zum Ausdruck gebracht wird, kann der im ersten Auslegungsschritt ermittelte Wortsinn bei der Prüfung der Strafbarkeit zugrundegelegt werden. Diese Struktur finden wir in den Entscheidungen des 3. Strafsenates zum Vereinigungsbegriff wieder: Der Begriff der Vereinigung selbst ist so weit, dass er mühelos die Definition aus dem EU-Rahmenbeschluss zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität aufnehmen könnte. Aber: Der Gesetzgeber hat den Begriff der Vereinigung schon dadurch geprägt, dass er ihn in einer bestimmten Systematik verwendet. Diese bestimmte Systematik wirkt auf den Begriff selbst zurück und muss vom Rechtsanwender respektiert werden. Eine äußere Grenze der Interpretation ist also nicht nur der mögliche Wortsinn, sondern enger: die durch Gesetzessystematik geprägte Begrifflichkeit. 3. Historische Auslegungsgrenzen? Grundsätzlich denkbar erscheint es, bei der Bestimmung der Grenze zwischen zulässiger Gesetzesinterpretation und verbotener Analogie auch die historische Auslegung zu berücksichtigen, da der viel zitierte „Wille des Gesetzgebers“ häufig nur unzureichend in Wortlaut und Systematik zum Ausdruck gebracht wird und sich durch seine Feststellung mitunter zusätzliche Elemente für die Festlegung der Strafbarkeitsgrenzen gewinnen ließen. Die praktischen Anforderungen an die Gesetzesauslegung sprechen freilich gegen diese Vorgehensweise: Der Gesetzesanwender muss in der Lage sein, innerhalb der durch den Wortlaut gezogenen Grenzen auf aktuelle Gegebenheiten und Entwicklungen zu reagieren, indem er die im konkreten Einzelfall betroffenen Vorschriften dynamisch interpretiert. Das Historische ist jedoch unveränderlich, so dass seine verbindliche Berücksichtigung den Rechtsanwender unzulässig binden, seine Arbeit statisch machen würde. Dass im vorliegenden Kontext der Weg, auch auf die Gesetzgebungsgeschichte abzustellen, nicht gangbar ist, ergibt sich aber insbesondere aus dem, was im Wortlaut des Art. 103 Abs. 2 GG bzw. demjenigen des § 1 StGB unmittelbar angelegt ist: hiernach entscheidet, was zum Zeitpunkt der Tatbegehung „gesetzlich
51
BVerfG NJW 2008, 3627, 3629.
Vereinigungsbegriff im Wandel?
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bestimmt“ ist. Während sich jedoch Wortlaut und Systematik unmittelbar aus dem Gesetz erschließen lassen, muss die Historie erst in dieses hineingelesen werden, so dass die geforderte „gesetzliche“ Bestimmtheit gerade nicht angenommen werden kann. Eine Berücksichtigung historischer Absichten und Motive kommt mithin immer nur solange in Betracht, wie diese im Wortlaut der betroffenen Norm 52 oder in der aus der Gesetzessystematik zu gewinnenden Begrifflichkeit auch tatsächlich einen Niederschlag gefunden haben. Hieraus erklärt sich, warum (wiederum) der 3. Strafsenat des BGH den Auslegungshinweis des Gesetzgebers, der Begriff des gefährlichen Werkzeuges in § 244 Abs. 1 Nr. 1a) StGB entspräche demjenigen in § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB (bzw. § 223a Abs. 1 StGB aF), als „nicht tauglich“ verwirft, da § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB an die Begehung „mittels“ eines gefährlichen Werkzeuges anknüpfe, während bei § 244 Abs. 1 Nr. 1a) StGB das bloße Beisichführen genüge,53 sich mit anderen Worten aus der Systematik des Gesetzes ein anderes Begriffsverständnis ergibt, als vom Gesetzgeber angenommen. Neben dem allgemeinen Wortsinn stellt somit allein die begriffsprägende Systematik eine zusätzliche verbindliche Schranke für den Gesetzesanwender dar.
V. Resümee Die betrachteten Entscheidungen des 3. Strafsenates wenden sich gegen eine richtlinienkonforme – oder europarechtsfreundliche – Erweiterung des Vereinigungsbegriffs. Die Entscheidungen des 3. Senats sind deshalb aber nicht europarechtsfeindlich. Ihre methodische Stärke liegt in der gründlichen Systematik. Vor diesem Hintergrund wird eine Begriffserweiterung als systemwidrig erkennbar. In der Zusammenschau der Entscheidungen des 3. Strafsenates zum Vereinigungsbegriff sowie den Ausführungen des BVerfG zum Waffenbegriff kann eine neue Grenze der Auslegung erkannt werden: Begriffsprägende Systematik hat Teil am Analogieverbot.
52 53
Insoweit zutreffend Hassemer/Kargl in NK, 3. Aufl. (2010), § 1 Rn 108. Beschluss vom 3.6.2008 – 3 StR 246/07 Rn 16 f.
Zum Ende des Fortbewegungszwecks beim verkehrsfeindlichen Inneneingriff Peter König I. Der Jubilar ist berühmt ob seiner didaktischen Fähigkeiten. Für diejenigen, denen es (wie dem Verfasser) nicht gegeben war, als Lernender seinen Vorlesungen beizuwohnen, bleiben nur die schriftlichen Beiträge. Zu nennen ist dabei nicht nur die nahezu geniale „JURA-Kartei“ – der Jubilar hat sie mitgeprägt; bei den anderen Ausbildungszeitschriften hat sie Nachahmer gefunden –, sondern auch die Vielzahl von Übersichtsaufsätzen zu examensrelevanten Problemen quer durch das ganze Strafrecht. In einem davon befasst sich der Jubilar mit dem gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr nach § 315b StGB.1 Der Aufsatz war noch „brandneu“, als sich der Verfasser an die Kommentierung der Verkehrsstrafvorschriften für die 11. Auflage des Leipziger Kommentars machte und diente ihm für die Erläuterung der bei näherem Hinsehen außerordentlich schwierigen Vorschrift des § 315b StGB gewissermaßen als „Leitfaden“, an dem er sich „entlang hangeln“ konnte. Der Jubilar hatte sich darin (wie auch der Kommentar) mit der seinerzeit beinahe unüberschaubaren Kasuistik zum verkehrsfeindlichen Inneneingriff nach der herkömmlichen Rechtsprechungsformel zu befassen. Er zog das Fazit, dass die Judikatur eine „durchgängig überzeugende einheitliche Linie“ nicht gefunden habe, wobei „die meisten einschlägigen höchst- und obergerichtlichen Entscheidungen“ „unverkennbar vom kriminalpolitisch gewünschten Ergebnis“ lebten, räumte aber andererseits ein, dass eine präzise Grenzziehung auch der Wissenschaft nicht gelungen sei.2 Das Unbehagen an der Kasuistik (und an § 315b StGB insgesamt) war dabei beileibe nicht auf den Jubilar und Teile der Wissenschaft beschränkt. Es hatte in jener Zeit auch in einigen Entscheidungen des Bundesgerichtshofs immer wieder durchgeschimmert und führte in BGHSt 48, 233 zur Kehrtwende: Seither muss der Täter, um einen verkehrsfeindlichen Inneneingriff begehen zu können, mit (zumindest bedingtem) Schädigungsvorsatz gehandelt haben. Damit war eine
1 2
JURA 1996, 639. Geppert wie Fn. 1 S. 644 und dort Fn. 77.
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Peter König
Linie gefunden, die – freilich unter Inkaufnahme von Strafbarkeitslücken – durchaus mehr Rechtssicherheit erbrachte. Jedoch blieben Unklarheiten (dazu unten V).3 In seinem Beschluss vom 9. Februar 2010 4 hat der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs nun ein im Schrifttum angemahntes 5 klärendes Wort gesprochen (unten VI). Es soll zum Anlass genommen werden, die Thematik nochmals aufzugreifen.
II. Zunächst aber eine Reminiszenz an die (guten?) alten Zeiten. Nach vormaliger Rechtsprechung war für den verkehrsfeindlichen Inneneingriff 6 über die geschriebenen Tatbestandsmerkmale des § 315b Abs. 1 Nr. 1 bis 3 StGB hinaus zweierlei erforderlich, aber auch ausreichend, nämlich subjektiv die verkehrsfeindliche Absicht und objektiv eine grobe Einwirkung von einigem Gewicht. Die Kriterien zielen auf die Abgrenzung zu – auch gänzlich aus dem Rahmen fallenden – fahrerischen Fehlleistungen, die nach dem Willen des Gesetzgebers7 nur unter den Voraussetzungen des § 315c Abs. 1 Nr. 2 StGB (grob verkehrswidrig und rücksichtslos begangene „Todsünden“ und dadurch verursachter Gefahrerfolg) mit dem Verdikt des Verkehrsstrafrechts versehen sind. Ermangelt es daran, so sind sie dem Ordnungswidrigkeitenrecht überantwortet; u.U. greifen auch allgemeine Verletzungsdelikte. Hinter der Anerkennung des Inneneingriffs als verkehrsfremdem Eingriff nach § 315b Abs. 1 StGB steht der m.E. schlüssige Gedanke, dass bei einem zu atypischen Zwecken pervertierten Fahrzeugeinsatz in Wirklichkeit überhaupt kein Verkehrsverhalten vorliegt, sondern sich unter dem Mantel der Verkehrsteilnahme ein Verhalten verbirgt, das in seiner Struktur den von außen auf den Straßenverkehr eindringenden Eingriffen wie dem Werfen von Steinen,8 Spannen von Seilen usw. gleichkommt.9 Die Rechtsprechung hatte den verkehrsfeindlichen Inneneingriff im Wesentlichen in zwei Fallgruppen angenommen. Die erste betrifft Konstella-
3
LK-König § 315 Rdn. 12b. 4 StR 556/09 – NStZ 2010, 391. 5 LK-König § 315 Rdn. 12b; König NStZ 2004, 175, 177 f. 6 Auch verkehrsfremder Inneneingriff genannt. 7 BTDrucks. IV/651 S. 28. 8 Besonders markanter Fall in BGH, Urteil vom 14.1.2010 – 4 StR 450/09. Die Täter hatten zur Nachtzeit u.a. 20 bis 30 kg schwere Steine auf die A 9 bei Leipzig geworfen. Dass niemand schweren Körperschaden erlitt, hatte das Landgericht zutreffend (und plastisch) „einem Heer von Schutzengeln“ zugeschrieben, „die über der Autobahn geschwebt sein müssen“. Die Mitglieder des 5. Strafsenats des BGH, die diese Autobahn berufsbedingt häufig frequentieren, hoffen insoweit auf einen Dauerzustand. 9 Rechtsprechungsmaterial bei LK-König § 315b Rdn. 24, 28 ff., 37, 40. 4
Zum Ende des Fortbewegungszwecks beim verkehrsfeindlichen Inneneingriff 261
tionen, in denen der Täter durch Einsatz seines Fahrzeugs fremde Rechtsgüter (Leben, körperliche Unversehrtheit, Eigentum) gezielt schädigen will, also in Verletzungsabsicht handelt. Sie wurde vom Rechtsprechungswandel nicht tangiert. Anders liegt es für das Handeln in Nötigungsabsicht, das die zweite Fallgruppe bildet. Untergliedert man diese zweite Fallgruppe nach tatsächlichen Vorgängen, so sind drei Phänomene besonders praxisrelevant, nämlich das Zufahren auf eine Person oder ein Fahrzeug, um diese(s) zur Freigabe des Wegs zu zwingen, das Schneiden bzw. Abdrängen eines Fahrzeugs, vor allem, um es am Überholen zu hindern, und das abrupte Abbremsen, um den Nachfolgenden insbesondere aus „Rache“ oder mit dem Ziel der Disziplinierung zur Vollbremsung zu zwingen. In der Praxis des Bundesgerichtshofs standen (und stehen) Fälle der Polizeiflucht im Vordergrund. Sie fallen heute ebenso wie vergleichbare Konstellationen durch den verkehrsstrafrechtlichen Raster, sofern „nur“ ein – für § 315b StGB ansonsten hinreichender – Gefährdungsvorsatz festgestellt werden kann.
III. Nun soll hier (trotz des Klammerzusatzes unter II eingangs) nicht der Eindruck erweckt werden, dass in den „alten“ Zeiten alles zum Besten gestanden hätte. Die Abgrenzung zwischen fahrerischen Fehlleistungen und verkehrsfremdem Verhalten bereitete erhebliche Schwierigkeiten, wobei es – was im Hinblick auf die breite Palette menschlicher Verhaltensweisen im Straßenverkehr nicht verwunderlich ist – Entscheidungen gegeben hat, über die man füglich diskutieren konnte.10 Nach Lektüre so ziemlich aller veröffentlichter Judikate des BGH und der Oberlandesgerichte zu § 315b StGB gelangte der Verfasser gleichwohl zu dem Ergebnis, dass es der Rechtsprechung cum grano salis gelungen war, mit den genannten Kriterien die unter dem Aspekt des § 315b StGB relevanten Taten zutreffend herauszuarbeiten.11 Hinzu kam, dass überlegene Lösungen nicht in Sicht sind bzw. waren. Natürlich könnte man § 315b StGB in einem glatten Schnitt auf Außeneingriffe beschränken und wäre danach aller insoweit bestehenden Differenzierungslasten enthoben.12 Eine derart radikale Reduktion lässt sich allerdings aus dem Gesetz nicht überzeugend ableiten und läuft dem Willen des Gesetzgebers eindeutig zuwider.13 Empfindliche Strafbarkeitslücken wären
10
Vgl. LK-König § 315b Rdn. 35, 51, 52. LK-König § 315b Rdn. 57; König NStZ 2004, 175. 12 So Obermann Gefährliche Eingriffe in den Straßenverkehr (2005) S. 23 ff.; S. 46 ff.; Solbach/Kugler JR 1970, 121. 13 BTDrucks. IV/651 S. 28. 11
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die Folge. Aus gutem Grund hat die dahingehende Lehre nur wenige Anhänger gefunden.14 Aber auch Vorschläge der Wissenschaft, Teilreduktionen innerhalb des beibehaltenen Inneneingriffs vorzunehmen, werfen mehr Fragen auf als sie zu beantworten vermögen. Das gilt etwa für die These Ranfts15, die Polizeiflucht sei aus dem Anwendungsbereich des § 315b StGB herauszunehmen, weil der Polizeibeamte nicht in seiner Eigenschaft als Verkehrsteilnehmer gefährdet werde, sondern als Person, die in Wahrnehmung amtlicher Befugnisse und Pflichten „von außen“ auf den Verkehrsablauf einwirke. Abgesehen davon, dass diese Sichtweise zu der herkömmlichen Bestimmung des „Verkehrsteilnehmers“ in Spannung tritt,16 kann nicht plausibel erklärt werden, warum nach dem äußeren Erscheinungsbild und den Auswirkungen auf die Verkehrssicherheit sowie nach den Intentionen des Täters identische Sachverhalte unterschiedlich behandelt werden sollen. Mit Recht sieht daher der Bundesgerichtshof den Polizeibeamten in ständiger Rechtsprechung als grundsätzlich tatbestandsrelevantes „Gefährdungsobjekt“ an.17 Problematisch erscheint schließlich der (nach dem Rechtsprechungswandel entwickelte) neuartige Ansatz Denckers zur Bestimmung des „ähnlichen“ ebenso gefährlichen Eingriffs in § 315b Abs. 1 Nr. 3 StGB. „Ähnlichkeit“ ist nach seiner Auffassung nur gegeben, „wenn der Eingriff so [ist], dass ein gedachter Verkehrsteilnehmer bei argloser Verkehrsteilnahme durch ihn in seiner Eigenschaft als Verkehrsteilnehmer in Gefahr geraten“ könne.18 Indessen kann ein von Dencker postuliertes Strukturelement der Arglosigkeit dem hierzu wertfrei formulierten § 315b Abs. 1 Nr. 1 und 2 StGB nicht entnommen werden. Die Lösung widerspricht auch dem Schutzzweck des § 315b StGB. Beispielsweise leuchtet nicht ein, dass die Vorschrift gegenüber den in der Praxis gar nicht so seltenen „fahrenden Stalkern“19 keinen Strafschutz gewähren sollte, weil es dem „Gestalkten“ wegen ständiger Verfolgung bei all seinem Tun an der Arglosigkeit fehlt. Gleiches gilt für den Polizeibeamten, dem Dencker den Strafschutz des § 315b StGB ebenfalls versagen will.20 Dass endlich ein Eingriff, der sich die Eigendynamik namentlich des Täterfahrzeugs zunutze macht, nicht tatbestandsrelevant sein kann,21 erscheint als kaum begründbare Behauptung. Erkennt man den eigentlich nicht bestreit-
14
Im Einzelnen LK-König § 315b Rdn. 13 ff. JURA 1987, 608, 611. 16 Hentschel/König/Dauer Straßenverkehrsrecht, 41. Aufl. 2011, § 1 StVO Rdn. 17. 17 Ausdrücklich etwa in BGH VRS 37, 430, 431; 46, 106, 109. 18 Festschrift für Nehm (2007) S. 373, 380 ff., 384 ff. 19 Anwendungsfälle in BGH NZV 2006, 270 sowie im hier besprochenen Beschl. v. 9.2.2010 – 4 StR 556/09 (unten VI). 20 Zur Kritik im Einzelnen LK-König § 315b Rdn. 57c. 21 So Dencker, wie Fn. 18, S. 385 f. 15
Zum Ende des Fortbewegungszwecks beim verkehrsfeindlichen Inneneingriff 263
baren Umstand an, dass der Täter mit seinem bewegten Fahrzeug ein Hindernis im Sinne des § 315b Abs. 1 Nr. 2 StGB bilden kann,22 so ist nicht ersichtlich, aus welchem Grund der Fahrzeugeinsatz zwar bei Verminderung der Energie (Abbremsen) tatbestandsrelevant sein soll, mangels „Ähnlichkeit“ im Sinne des § 315b Abs. 1 Nr. 3 StGB hingegen nicht bei deren vollem Einsatz (z.B. Täter fährt dem Opferfahrzeug mit gerade hierzu erhöhter Geschwindigkeit in die Seite, um es von der Straße abzudrängen).
IV. BGHSt 48, 233 ist bekanntlich einen anderen, die Fachwelt überraschenden Weg gegangen. Die Entscheidung verlangt für den verkehrsfeindlichen Inneneingriff in allen Tatvarianten des § 315b Abs. 1 StGB über die herkömmlichen Voraussetzungen hinaus (dazu oben II), dass der Täter mit zumindest bedingtem Schädigungsvorsatz handelt. Der BGH begründet seinen Standpunkt tragend damit, dass das in der gewollten Behinderung eines anderen Fahrzeugs liegende Nötigungselement allein ein Verkehrsverhalten noch nicht zu einem verkehrsfeindlichen Inneneingriff qualifiziere, sofern das eigene Fortkommen primäres Ziel des Täters sei; erst der (bedingte) Schädigungsvorsatz mache das Fahrzeug zur „Waffe“ bzw. zum „Schadenswerkzeug“ und konkretisiere das Vorstellungsbild des Täters zu der hierfür erforderlichen „Pervertierungsabsicht“, wohingegen bei bloßem Gefährdungsvorsatz Verkehrsverhalten gegeben sei, das an § 315c Abs. 1 Nr. 2 StGB zu messen sei.23 Der Rechtsprechungswandel hat im Schrifttum mehr Ablehnung als Zustimmung erfahren,24 und dem Verfasser ist es bis heute nicht gelungen, seinen Frieden mit dieser richterlichen Rechtsfortbildung zu schließen. So kollidiert das Erfordernis eines (bedingten) Schädigungsvorsatzes mit dem Charakter des § 315b StGB als konkreten Gefährdungsdelikts 25 und ist generell fraglich, wie ein (bedingter) Verletzungsvorsatz eine (verkehrsfeindliche) Absicht soll konkretisieren können.26 Vor allem aber trägt die gewählte Kon-
22
Hierfür richtigerweise auch Dencker, wie Fn. 18, S. 385. BGHSt 48, 233, 237 f. 24 Sternberg-Lieben/Hecker in Schönke/Schröder StGB, 28. Aufl. 2010, § 315b Rdn. 10; Horn/Wolters SK StGB, § 315b Rdn. 14; 16; Barnickel MK, § 315b Rdn. 10; Dreher JuS 2003, 1159; Hentschel NJW 2004, 659; König NStZ 2004, 175; Seier/Hillebrand NZV 2003, 486. Dem BGH zustimmend Fischer StGB, 57. Aufl. 2010, § 315b Rdn. 14, Maatz NZV 2006, 374; wohl auch Lackner/Kühl StGB 26. Aufl. 2007, § 315b Rdn. 4 und u.U. Herzog NK StGB § 315b Rdn. 10. Nur im Erg. weitgehend wie BGH Dencker wie Fn 18; zu seinem Standpunkt s. unter III. 25 Seier/Hillebrand NZV 2003, 490. 26 König wie Fn. 5, S. 177. 23
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struktion (Fahrzeug als Verkehrsmittel beim Ziel des Fortkommens, hingegen als Waffe bei zumindest bedingtem Schädigungsvorsatz) gerade in Fluchtfällen schon deswegen nicht, weil das Fortkommen auch bei (bedingtem) Schädigungsvorsatz das Hauptziel des Täters bleibt und ihm der Schadenseintritt in aller Regel höchst unerwünscht ist. Andererseits existieren gerade auch in den Fluchtfällen Konstellationen, in denen der Täter zwar fortkommen will, seine Handlungsweise aber augenfällig nicht als bloße Fehlleistung im Straßenverkehr qualifiziert werden kann. Beispiele geben Phänomene, in denen er eine sich an seinem Fahrzeug festklammernde oder sonst am oder im Fahrzeug befindliche Person durch Fahrbewegungen oder sonstige Handlungen abschüttelt, sie aus dem Fahrzeug stößt bzw. dies versucht oder im Gegenteil einen Mitfahrer durch hochriskante Fahrmanöver im Wagen halten will.27
V. Nach BGHSt 48, 233 und Folgeentscheidungen 28 war offen geblieben, ob das Erfordernis des Schädigungsvorsatzes auch für Handlungen gelten soll, deren Beweggrund nicht das Fortkommen (mit dem Kfz im Straßenverkehr) ist, oder ob für sie weiterhin bloßer Gefährdungsvorsatz hinreichen kann. Beispiele sind über die unter IV angesprochenen hinaus das „Ausbremsen“ eines anderen aus Rache oder zur Disziplinierung des Opfers 29 sowie das Zufahren auf einen anderen, bei dem es dem Täter um „puren“ Zwang geht.30 Die oberlandesgerichtliche Rechtsprechung und das überwiegende Schrifttum31 verstanden die Restriktion umfassend, ohne die Frage freilich zu problematisieren. So verlangte das OLG Köln32 Schädigungsvorsatz für das frontale Zufahren auf eine andere Person, um diese zum Anhalten zu zwingen und zur Rede zu stellen. Ebenso verfuhren das OLG München33 und das OLG Hamm34 für das „Gewaltbremsen“ zur Disziplinierung oder aus Rache. Im Hinblick darauf, dass der BGH den verkehrsfeindlichen Inneneingriff gerade am Ziel des Fortkommens ausrichtete, verstand sich die Richtigkeit dieser Urteilsauslegung nicht von selbst.
27
Hierzu mit Rechtsprechungsmaterial LK-König § 315b Rdn. 48 ff. BGH DAR 2004, 230; 2006, 30. 29 Dazu m.w.N. LK-König § 315b Rdn. 33. 30 LK-König § 315b Rdn. 44, 48. 31 Fischer § 315b Rdn. 14; Wessels/Hettinger Strafrecht BT/1, 34. Aufl. 2010, Rdn. 980. 32 DAR 2004, 469. 33 NJW 2005, 3794. 34 VD 2005, 192. 28
Zum Ende des Fortbewegungszwecks beim verkehrsfeindlichen Inneneingriff 265
VI. In seinem Besprechungsaufsatz zur vorgenannten Grundsatzentscheidung hatte der Verfasser der Hoffnung Ausdruck gegeben, dass der 4. Strafsenat um Schadensbegrenzung bemüht sein werde, wenn es um die Füllung der Lücken gehe, die seine neue Rechtsprechung gelassen habe. Der Schwebezustand ist nun ausweislich der Beschlussgründe vom 9. Februar 2010 beendet. In der Entscheidung geht es um einen Angeklagten, der seine Ehefrau aus Wut, Enttäuschung und Verzweiflung über deren Trennungsabsichten verfolgte. Er erblickte sie am Ende eines Stichwegs und beschleunigte den Pkw innerhalb von zwei Sekunden und einer Strecke von 20 m auf 45 bis 48 km/h. Damit wollte er ihr den Weg ins Elternhaus abschneiden und sie wegen der Trennung zur Rede stellen. Nach zwei Sekunden maximaler Beschleunigung leitete er jedoch eine Vollbremsung ein, „um … seine Ehefrau nicht weiter zu gefährden“. Der Tatrichter war zur Auffassung gelangt, der Angeklagte habe die Ehefrau nicht verletzen wollen. Er habe – bei in Kauf genommener Gefährdung – darauf vertraut, dass sie vom Pkw nicht erfasst werde. Betroffen ist demgemäß einer der unter V35 genannten Sachverhalte, in denen der Täter sein Handeln nicht am Zweck der Fortbewegung ausrichtet. Der Bundesgerichtshof beanstandet gleichwohl die vom Tatrichter ausgesprochene Verurteilung wegen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr, weil ein Schädigungsvorsatz nicht festgestellt sei. Er begründet dies wie folgt: „Soweit in BGHSt 48, 233, 238 ausgeführt wird, das Nötigungselement allein mache ein Verkehrsverhalten noch nicht zu einem gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr, wenn das eigene Fortkommen primäres Ziel einer gewollten Behinderung sei, ist diese Formulierung nicht im Sinne einer Einschränkung des oben ausgeführten Grundsatzes zu verstehen. Der Senat stellt vielmehr klar, dass ein vorschriftswidriges Verkehrsverhalten bei sog. Inneneingriffen im fließenden Verkehr grundsätzlich nur dann von § 315b Abs. 1 StGB, erfasst wird, wenn der Fahrzeugführer nicht nur mit Gefährdungsvorsatz, sondern mit zumindest bedingtem Schädigungsvorsatz handelt. Eine Differenzierung der Fälle danach, ob der Täter seine Fahrt nach dem gefährlichen Eingriff fortsetzen will oder nicht, würde nicht nur zu Abgrenzungsschwierigkeiten, sondern auch zu schwer nachvollziehbaren unterschiedlichen Ergebnissen bei gleichem Unrechtsgehalt der Tat führen.“ Dem zuletzt genannten Gedanken ist zuzustimmen. In der Tat würden bei einer nach dem Fortbewegungszweck differenzierenden Sachbehandlung Wertungswidersprüche in Fällen mit vergleichbarem Unrechtsgehalt auftreten. Richtig ist auch, dass die Last der Abgrenzung von Taten ohne und mit (ausschließlichem oder vorherrschendem) Fortbewegungszweck bestünde.
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Er ist dem von OLG Köln DAR 2004, 469 entschiedenen Fall sehr ähnlich.
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Es wäre – in anderem Gewande – eine Kasuistik ähnlich der vor dem Rechtsprechungswandel zu konstatierenden (oben II) zu befürchten. Gerade dem hatte der 4. Strafsenat in BGHSt 48, 233 aber ein Ende setzen wollen. So sehr man das Anliegen größtmöglicher Gleichbehandlung und das Streben nach Rechtssicherheit nachzuvollziehen vermag, so problematisch ist die Entscheidung indessen, wenn man sich nochmals an den Ausgangspunkt in BGHSt 48, 233 erinnert. Denn dort ging es ja (wie beim verkehrsfeindlichen Inneneingriff insgesamt) gerade darum, Verkehrsverhalten von verkehrsfremdem Verhalten abzugrenzen. Dementsprechend formuliert BGHSt 48, 233, 238: „Ist nämlich das eigene Fortkommen primäres Ziel einer bestimmten Fahrweise,36 so macht das in der gewollten Behinderung eines anderen Fahrzeugs liegende Nötigungselement allein ein Verkehrsverhalten noch nicht zu einem gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr.“ Wenn Worte einen Sinn haben, dann stellt der Fortbewegungszweck entgegen dem hier besprochenen Beschluss keine Einschränkung eines weiter reichenden „Grundsatzes“ dar, sondern den maßgebende Differenzierungsgrund. Mithin müsste der Satz auch in seiner Umkehrung Gültigkeit haben. Wenn hingegen nicht, dann ist die Konstruktion aus den Angeln gehoben. Bleibt die Frage von Wertungswidersprüchen. Sie sind zwar im Binnenvergleich denkbarer Verhaltensweisen eines durch das Erfordernis eines Schädigungsvorsatzes konstituierten Inneneingriffs ausgeräumt. Im Vergleich zu den strukturell ebenbürtigen Eingriffen mit „bloßem“ Gefährdungsvorsatz bestehen sie aber fort. Der gegenständliche Fall liefert dafür erneut Zeugnis. Der Angeklagte ist auf seine Frau mit höchster Geschwindigkeit zugefahren, um ihr den Weg abzuschneiden und sie zur Rede stellen. Solches Verhalten kann unzweifelhaft nicht als bloße fahrerische Fehlleistung im Straßenverkehr qualifiziert werden, die an § 315c Abs. 1 Nr. 2 StGB gemessen werden könnte. Vielmehr steht ein Fahrzeugeinsatz in Frage, der zum Zweck reiner Nötigung pervertiert worden ist, demnach ein verkehrsfremder Eingriff. Ob der Angeklagte seine Ehefrau verletzen wollte oder nicht, mag im Rahmen der Strafzumessung Berücksichtigung finden. Für die Abgrenzung von Verkehrsverhalten und verkehrsfremdem Verhalten ist der Verletzungsvorsatz hingegen kein geeigneter Gradmesser. Wertungswidersprüche sind schließlich auch in Bezug auf Außeneingriffe zu verzeichnen, bei denen durchgehend Gefährdungsvorsatz ausreicht. Der Sachverhalt hätte deshalb Anlass geben können, die Legitimität des Rechtsprechungswandels nochmals auf den Prüfstand zu stellen. Geschehen ist es nicht – „Roma locuta, causa finita“.
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Hervorhebung durch den Verfasser.
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VII. Der Beitrag ist einem Großmeister (auch) des Verkehrsstrafrechts gewidmet. Klaus Geppert hat sich, wofür er anderwärts eigens geehrt worden ist, bleibende Verdienste um dieses trotz seiner hohen Praxisbedeutung von der Wissenschaft vielfach vernachlässigte Teilgebiet des Strafrechts, aber auch um das Verkehrsrecht insgesamt erworben. Ihm gelten alle guten Wünsche namentlich in gesundheitlicher Hinsicht sowie die Hoffnung und Erwartung des Verfassers, dass der Jubilar die Entwicklung des Verkehrsrechts durch Abhandlungen, aber auch durch Präsenz u.a. bei den Verkehrsgerichtstagen in Goslar weiterhin kritisch begleiten möge.
Individualisierung contra Normativierung Oder: Überlegungen zum Auslegungsmaßstab konkludenter Täuschungshandlungen beim Betrug (§ 263 StGB) Erik Kraatz
Das Betrugsstrafrecht ist mit jährlich 955.804 Fällen und einem jährlichen Gesamtschaden von 2,2 Milliarden Euro (2009)1 einer der maßgeblichen rechtlichen Eckpfeiler unseres Wirtschaftslebens. Sein „monumentaler“2 Grundtatbestand § 263 StGB schützt ausweislich seiner normierten Handlungsmodalitäten („Vorspiegelung falscher“ oder „Entstellung oder Unterdrückung wahrer Tatsachen“), die anerkanntermaßen lediglich verschiedene, sich überlappende Formen des Oberbegriffs „Täuschung“ darstellen3, das Vermögen des Opfers als Ganzes4 vor eigenen schädigenden Handlungen infolge missbrauchten Vertrauens in ihm mittels Kommunikation durch den Täter vermittelte Informationen über die Realität 5.6 Solange die maßgebliche 1
Quelle: Bundeskriminalamt, Polizeiliche Kriminalitätsstatistik 2009 (2010), S. 187 und
190. 2 Tiedemann in: 50 Jahre Bundesgerichtshof, Festgabe aus der Wissenschaft, Band IV: Strafrecht, Strafprozeßrecht, herausgegeben von Claus Roxin und Gunter Widmaier, 2000, S. 551. 3 So bereits Binding Lehrbuch des Gemeinen Deutschen Strafrechts Besonderer Teil, Erster Band, 2. Aufl. 1902, S. 347 f.; ebenso Cramer/Perron in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch-Kommentar, 28. Aufl. 2010, § 263 Rn. 7; Fischer Strafgesetzbuch und Nebengesetze, 57. Aufl. 2010, § 263 Rn. 14; Hefendehl in: Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, 2006, § 263 Rn. 73; Hoyer in: Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch (Stand: 2010), § 263 Rn. 10, Kindhäuser in: Nomos Kommentar zum Strafgesetzbuch, 3. Aufl. 2010, § 263 Rn. 57; Lackner/Kühl Strafgesetzbuch-Kommentar, 26. Aufl. 2007, § 263 Rn. 3; Maaß GA 1984, 264 (265); Tiedemann in: Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch, 11. Aufl. 2005, § 263 Rn. 7. Um die vom Gesetzgeber offensichtlich gewollte Restriktion der tauglichen Betrugshandlung zu respektieren, wird jedoch vertreten, jedenfalls die Modalität der „Vorspiegelung falscher Tatsachen“ zumindest als Teil des Oberbegriffs beizubehalten („Täuschung durch Vorspiegeln falscher Tatsachen“): Lackner/Kühl (o. Fn. 3) § 263 Rn. 3; Tiedemann (o. Fn. 2) S. 551 (553); ders. (o. Fn. 3) § 263 Rn. 7. 4 Vgl. hierzu nur RGSt. 74, 167 (168); BGHSt. 16, 220 (221); BGHSt. 16, 321 (325); BGHSt. 16, 367 (372); BGH StV 1995, 254; BGH NStZ-RR 2000, 331. 5 Denn wie Kindhäuser/Nikolaus JuS 2006, 193 (194) zutreffend sagen: „Die erfahrbare Realität selbst kann weder wahr noch falsch sein; sie ist so, wie sie ist.“ 6 Ebenso Hefendehl (o. Fn. 3) § 263 Rn. 21. Wimmer DRZ 1948, 116 (118 Fn. 6) spricht daher von einem Vermögensschutz „gegen die zur Selbstschädigung veranlasste Täuschung“.
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Einwirkung auf das intellektuelle Vorstellungsbild 7 explizit über das Medium der Linguistik erfolgt, bereitet die tatrichterliche Feststellung einer objektiven Fehlinformation über äußere wie innere Tatsachen nur wenig Mühe. Ist die sprachliche oder schriftliche Informationsvermittlung jedoch wie zumeist unvollständig, weil bestimmte ausdrückliche Erklärungen nach gesellschaftlichen Konventionen nicht erforderlich sind oder sich sogar nicht ziemen, so hat der Täter sich lediglich auf eine bestimmte Art und Weise verhalten: er hat z.B. an der Kasse bestimmte Waren auf das Band gelegt 8 (vorher aber die Waren manipuliert oder weitere eingesteckt), er hat in ein Hotel eingecheckt und im Hotelrestaurant etwas bestellt9 (will aber nicht bezahlen), er hat über bestimmte Leistungen eine Rechnung erstellt10 (diese aber nur zum Teil erbracht) oder er ist nach der Einreise in die Bundesrepublik Deutschland durch das grün gekennzeichnete Zolltor gegangen (hat aber etwas zu verzollen). Irrt sich das Opfer über eine entsprechende Tatsache, so bedeutet dies jedoch nicht zwingend dogmatisch, dass es auch vom Täter getäuscht wurde,11 schützt der Betrug doch das Opfer nicht vor jeder unrichtigen Wahrnehmung der Realität und bürdet dem Täter damit keine strafrechtliche Verantwortung für von ihm nicht steuerbare interne neurologische Vorgänge des Opfers auf.12 Erst wenn das Verhalten des Täters dem Opfer einen bestimmten Erklärungswert über die Realität vermittelte, das Opfer von dem Verhalten also auf eine bestimmte (unwahre) Informationsleistung schließen konnte und durfte und auf diese bei seiner Vermögensverfügung vertraute, ist der Schutzbereich des Betruges eröffnet. Daher ist inzwischen im Wege einer an der Lebenswirklichkeit orientierten richterlichen Rechtsfortbildung13 in7
Vgl. nur Cramer/Perron (o. Fn. 3) § 263 Rn. 6; Hoyer (o. Fn. 3) § 263 Rn. 24; Lackner/Kühl (o. Fn. 3) § 263 Rn. 6; Trüg/Habetha JZ 2007, 878. 8 Dem werden von der Rechtsprechung die konkludenten Erklärungen beigemessen, der Kunde habe die Preisschilder der Waren nicht manipuliert (OLG Hamm NJW 1968, 1894 (1895); OLG Düsseldorf NJW 1982, 2268), die Verpackungen der Waren nicht ausgetauscht (OLG Hamm NJW 1978, 2209) und führe keine weiteren unbezahlten Waren bei sich (OLG Düsseldorf NJW 1993, 1407). 9 Dem komme die schlüssige Erklärung des Willens und der Fähigkeit zur Begleichung der Forderung bei Fälligkeit zu: BGH GA 1972, 209; BayObLG JR 1958, 66. 10 Dem komme die konkludente Erklärung zu, die aufgeführten Leistungen tatsächlich erbracht zu haben: BGH NStZ 1994, 188 (189); OLG Düsseldorf NStZ-RR 2008, 241. 11 Es gilt nicht: „Wo ein Irrtum ist, ist auch eine Täuschung“: so aber Mahnkopf/Sonnberg, NStZ 1997, 187; dagegen zu Recht BGHSt. 47, 1 (5); Garbe NJW 1999, 2868 (2869); Hoffmann GA 2003, 610; Martin JuS 2001, 1031 (1032); Satzger in: Satzger/Schmitt/Widmaier, Strafgesetzbuch-Kommentar, 2009, § 263 Rn. 37. 12 Vgl. nur Hefendehl (o. Fn. 3) § 263 Rn. 21. 13 So Tiedemann (o. Fn. 3) § 263 Rn. 28; Vogel Gedächtnisschrift für Rolf Keller, 2003, S. 313. Teilweise wird auch vertreten, die Möglichkeit einer konkludenten Täuschung sei bereits im Gesetzeswortlaut angelegt, bei der Handlungsvariante „Entstellung wahrer Tatsachen“ (Tiedemann [o. Fn. 3] § 263 Rn. 28) bzw. bei der Variante „Unterdrückung wahrer Tatsachen“ (RGSt. 20, 144; RGSt. 35, 311 [314]).
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nerhalb der Wortlautgrenze anerkannt, dass auch derartige konkludente (lat. concludere = „folgern, einen Schluss ziehen“) Täuschungshandlungen tatbestandsmäßig sind.14 Die Grenze zwischen einem rein tatsächlichen15, nicht täuschenden Verhalten16 und einer konkludenten Täuschung und damit zwischen einem straflosen Verhalten (bzw. strafloser Geschäftstüchtigkeit17) und strafbarem Betrug durch aktives Tun18 (teilweise mit der Unterbindung ganzer Geschäftsmodelle oder ihrer Verdrängung in „graue Märkte“19) ist im Einzelfall schmal. Dies sei verdeutlicht anhand eines kleinen Beispielsfalles 20: Ein Kunde beobachtete in einem Lebensmittelladen, wie ein anderer Kunde einen Becher Buttermilch von vorne aus dem Regal herausnahm und an anderer Stelle im Laden versteckte. Wie der erste Kunde bei seinem Einkauf bereits gesehen hatte, befanden sich vorne die Becher, deren Haltbarkeit an diesem Tage ablief. Dennoch informierte er den Ladeninhaber nicht. Vielmehr wartete er einen Tag, holte den Becher dann aus seinem Versteck, brachte ihn zur Information und verlangte die für das Auffinden und Abgeben abgelaufener Lebensmittel ausgelobte Prämie von 2,50 €, die er auch erhielt. Hat der Kunde legal sein Sonderwissen ausgenutzt oder war die Abgabe der Ware mit der Erklärung verbunden, die abgelaufene Ware an jenem Ort gefunden zu haben, an dem sie sich regelmäßig befinde (also im Regal) bzw. vor Ablauf
14 Im Zivilrecht ist gegenüber einer Erklärungszurechnung über das Verhalten die Lehre vom sozialtypischen Verhalten entwickelt worden: vgl. nur BGHZ 21, 319 (335 ff.); Larenz/Wolf Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 9. Aufl. 2004, § 30 Rn. 21 ff.; Medicus Allgemeiner Teil des BGB, 9. Aufl. 2006, Rn. 245 ff. 15 Beispielsweise in Form einer bloßen Sachverhaltsveränderung, die alleine straflos ist (bloße Ausnutzung einer bereits vorhandenen Vorstellung): Bockelmann Festschrift für Eberhard Schmidt, 1961, S. 438 f.; Geppert JK 93, StGB § 263/37; Hefendehl (o. Fn. 3) § 263 Rn. 75; Kindhhäuser (o. Fn. 3) § 263 Rn. 100; Rengier Strafrecht Besonderer Teil I, 12. Aufl. 2010, § 13 Rn. 5a; Tiedemann (o. Fn. 3) § 263 Rn. 4 und 22; aA Arzt in Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf, Strafrecht Besonderer Teil, 2. Aufl. 2009, § 20 Rn. 46; Krey/Hellmann Strafrecht Besonderer Teil Band 2, 14. Aufl. 2005, Rn. 338; einschränkend Hoyer (o. Fn. 3) § 263 Rn. 24: eine Sachverhaltsänderung genüge nur dann nicht, wenn allein durch Veränderung des Vorstellungsgegenstandes die Vorstellung unrichtig werde. 16 Die Strafbarkeit einer unterlassenen Informationsvermittlung ist wegen unseres Wirtschaftssystems, zu deren Wesen das Verschaffen und Ausnutzen eines eigenen Informationsvorsprungs gehört, über § 13 Abs. 1 StGB bewusst auf Ausnahmekonstellationen begrenzt: vgl. Arzt (o. Fn. 15) § 20 Rn. 7; Hefendehl (o. Fn. 3) § 263 Rn. 23. 17 Vgl. hierzu den Titel der Monographie von Kühne, Geschäftstüchtigkeit oder Betrug? Wettbewerbspraktika im Lichte des § 263 StGB, 1978. 18 In der konkludenten Täuschung wird überwiegend eine Täuschung durch aktives Tun erblickt: vgl. nur Cramer/Perron (o. Fn. 3) § 263 Rn. 12 und 14/15; Lackner/Kühl (o. Fn. 3) § 263 Rn. 7; Maurach/Schroeder/Maiwald Strafrecht Besonderer Teil, Teilband 1, 10. Aufl. 2009, § 41 Rn. 40; Wessels/Hillenkamp Strafrecht Besonderer Teil/2, 33. Aufl. 2010, Rn. 498. 19 Tiedemann (o. Fn. 2), S. 551. 20 In Abwandlung von OLG München Beschl. v. 28.01.2009 – 5 St RR 012/09.
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des Haltbarkeitsdatums keine Kenntnis von einem anderen Aufenthaltsort (wo die Marktkontrolleure nicht suchen würden) gehabt zu haben? Der hierüber entscheidende Maßstab für die Schlussregeln, mit denen von einem Verhalten auf eine bestimmte (konkludente) Erklärung geschlossen werden kann, ist noch immer nicht hinreichend geklärt und eines der großen äußerst praxisrelevanten dogmatischen Probleme des Betruges. Der Verfasser hofft daher, dass dieses Problem für einen Strafrechtsdogmatiker mit Blick auf die Praxis interessant ist, wie der hochverehrte Jubilar ausweislich seines bisherigen wissenschaftlichen Schaffens charakterisiert werden kann. Hinter dem Bestimmungsmaßstab konkludenter Täuschungshandlungen steht schließlich die dogmatische Grundsatzfrage, ob die Einbindung des Strafrechts in Recht und Gesellschaft dazu führt, dass bereits bei der Auslegung des Tatbestandsmerkmals der (konkludenten) Täuschung 21 vollständig oder jedenfalls teilweise die übrigen das Wirtschaftsleben ordnenden außerstrafrechtlichen – zumeist zivilrechtlichen – Normen und ihre Risikoverteilungen zu respektieren sind.
I. Der faktisch-normative Maßstab der Rechtsprechung Die Rechtsprechung 22 legt unter Zuspruch der überwiegenden Ansicht im Schrifttum23 das tatsächliche Täterverhalten danach aus, wie der Adressat der 21 Die Eingebundenheit in außerstrafrechtliche Normen führt jedenfalls dazu, dass als Vermögensbegriff nicht jede einer Person bereits rein faktische zugerechnete Summe aller geldwerten Güter ausreicht (so der rein wirtschaftliche Vermögensbegriff: RGSt. 44, 230 ff.; BGHSt. 2, 364, 365; BGHSt. 8, 254 ff.; BGH NStZ 2008, 627), sondern dass diese Zurechnung rechtlich zu korrigieren ist, sei es dadurch, dass die faktische Zurechnung unter Billigung der rechtlichen Güterordnung stehen müsse (sog. wirtschaftlich-juristischer Vermögensbegriff: Cramer JuS 1966, 472 [475]; Cramer/Perron [o. Fn. 3] § 263 Rdn. 82 ff.; Geppert JK 1/05, StGB § 263/75; Satzger [o. Fn. 11] § 263 Rdn. 97; Welzel Das Deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969, S. 372), sei es, dass die Zurechnung gar rechtlich erfolgen müsse (so der zutreffende sog. integrierte Vermögensbegriff: Hefendehl, Vermögensgefährdung und Exspektanzen, 1994, S. 115 ff.; ders. [o. Fn. 3] § 263 Rdn. 333 ff.; Nelles Untreue zum Nachteil von Gesellschaften, 1991, S. 448 ff.; Pawlik Das unerlaubte Verhalten zum Betrug, 1999, S. 259 ff.; Rönnau Festschrift für Kohlmann, 2003, S. 239 [254 ff.]; Tiedemann [o. Fn. 3] § 263 Rdn. 131 f.). 22 Vgl. nur BGHSt. 3, 69 (70 ff.); BGHSt. 29, 165 (167); BGHSt. 47, 1 (3); BGH NStZ 1982, 70; BGH NStZ 2004, 266 (267); OLG Hamm NJW 1982, 1405 (1406); OLG Celle StV 1994, 188 (189). 23 Bosch wistra 1999, 410 (413); Cramer/Perron (o. Fn. 3) § 263 Rn. 14/15; Hefendehl (o. Fn. 3) § 263 Rn. 88; Krey/Hellmann (o. Fn. 15) Rn. 337; Lackner/Kühl (o. Fn. 3) § 263 Rn. 7; Mitsch Strafrecht Besonderer Teil 2/Teilband 1, 2. Aufl. 2003, § 7 Rn. 26; Otto Grundkurs Strafrecht: Die einzelnen Delikte, 7. Aufl. 2005, § 51 Rn. 15; Ranft JA 1984, 723 (724); Rengier (o. Fn. 15) § 13 Rn. 5 a; Satzger (o. Fn. 11) § 263 Rn. 37; Tiedemann (o. Fn. 3) § 263 Rn. 30; ders. (o. Fn. 2) S. 551 (553); Triffterer JuS 1971, 181 (182 f.); Wessels/Hillenkamp (o. Fn. 18) Rn. 498.
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vermeintlichen schlüssigen Erklärung nach dem Maßstab des objektivierten Empfängerhorizontes24 das Täterverhalten unter Berücksichtigung der Gesamtumstände der konkreten Situation25 nach der in Bezug auf den konkreten Geschäftstyp bestehenden Verkehrsauffassung vernünftigerweise verstehen durfte. Bei erstmalig auftretenden Sachverhalten hat die Rechtsprechung anfangs noch versucht, Parallelen zu früher entschiedenen Fällen zu ziehen und Querverbindungen herzustellen 26, später behauptete sie zumeist nur noch dem Rechtsgefühl entsprechend, dem konkreten Täterverhalten komme in der konkreten Situation diese oder jene konkludente Erklärung zu oder auch nicht. Bei diesem bedenklichen Begründungsschema, im Einzelfall „ein bestimmtes Gesamtverhalten unter allzu großzügiger Nutzung des Zauberwortes von der ,Verkehrsauffassung‘ als schlüssig-konkludente Erklärung über eine Tatsache zu deuten und auf diesen Umweg ggf. über die Klippe einer an sich fehlenden Garantenpflicht zur Beseitigung eines bereits bestehenden Irrtums“27 „und der damit zusammenhängenden Zumutbarkeitsfragen (z.B. Kann einem Täter zugemutet werden, zur Aufklärung eines bestehenden Irrtums eigenes früheres strafbares Verhalten aufzudecken?!)“28 zu gelangen, ist freilich die Gefahr einander dogmatisch widersprechender Judikate vorprogrammiert. Diese Gefahr realisierte sich beispielsweise darin, dass der Leistungsempfänger mit der Annahme einer Zahlung (selbst einer Überzahlung oder Doppelzahlung) zwar nicht konkludent erkläre, dass ihm diese auch geschuldet sei,29 er bei der Annahme von zuviel Wechselgeld aber sehr wohl konkludent erkläre, mit der erhöhten Geldsumme bezahlt zu haben.30 Oder dem Geldumtausch wurde etwa vom OLG Hamm31 die konkludente Erklärung beigelegt, es handele sich beim hingegebenen Geldschein um einen gültigen Schein mit dem aufgedruckten Wert (verschwiegen wurde die zwischenzeitliche Abwertung der Fremdwährung), während das OLG Frankfurt32 hierin noch keine Täuschung sah. Um eine dies vermeidende Konkretisierung des Erklärungsmaßstabes bemühte sich der Bundesgerichtshof mit seiner „Hoyzer-Entscheidung“33, als 24 BGHSt. 47, 1 (3); BGHSt. 51, 165 (170); BGH NJW 1995, 539; Gaede HRRS 2007, 16; Hefendehl (o. Fn. 3) § 263 Rn. 88; Ranft JA 1984, 723 (724); Rengier (o. Fn. 15) § 13 Rn. 5; Satzger (o. Fn. 11), § 263 Rn. 38; Vogel (o. Fn. 13), S. 313 (323); Wessels/Hillenkamp (o. Fn. 18), Rn. 498. 25 BGHSt. 51, 165 (170). 26 Ebenso die Einschätzung von Maaß GA 1984, 264 (266). 27 Geppert JK 93, StGB § 263/37. 28 Geppert JK, StGB § 263/8. 29 RGSt. 25, 95 (96); OLG Düsseldorf NJW 1969, 623 (624 f.); OLG Köln, NJW 1980, 2366. 30 BGH bei Dallinger MDR 1953, 21. 31 MDR 1968, 778. 32 NJW 1971, 527. 33 BGHSt. 51, 165 ff.
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er sich selbst mit verschiedenen Judikaten zum Abschluss von Sportwetten unter Verschweigen einer Manipulation konfrontiert sah: Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs34 hatte in seiner Spätwetten-Entscheidung judiziert, dass es vor dem Ausgang des Rennens, auf das gewettet werde, die Regel sei, dass beide Parteien des Wettvertrages den Ausgang noch nicht kennen könnten, so dass sie auch keinen Anlass hätten, „sich diese selbstverständliche Unkenntnis gegenseitig zuzusichern“; die Annahme einer konkludenten Erklärung wäre eine „willkürliche Konstruktion“. Demgegenüber hatte bereits das Reichsgericht in seiner Pferdewetten-Entscheidung35 entschieden, dass der Beweggrund einer Wette die „mögliche Spekulation auf den Zufall“ sei, so dass sich beide Vertragspartner „stillschweigend ein entsprechendes Wissen bezüglich jener Ungewissheit zusichern“ würden. In diese Richtung argumentierte auch der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs in seiner Jockey-Entscheidung 36 sowie das Landgericht Berlin37 als erste Instanz im Hoyzer-Fall. In Anlehnung an Teile des Schrifttums38 erkannte der Bundesgerichtshof nun, dass Verkehrsanschauungen durch einschlägige Rechtsvorschriften geprägt (sog. normierte Standards39) und konkretisiert würden, deren typische Pflichten- und Risikoverteilung bei der strafrechtlichen Bewertung zu respektieren sei, indem die Grundlage eines Geschäfts (insbesondere die fehlende Manipulation des Vertragsgegenstandes) stets als miterklärt gelte.40 Oder anders ausgedrückt: „Gegenstand des konkludent Behaupteten sind […] die tatsächlichen Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit die ausdrückliche Erklärung den ihrem jeweiligen Zweck entsprechenden Inhalt hat.“ 41 Nach dieser Normativierung des faktischen Ausgangspunktes werde bei Abschluss eines Wettvertrages erklärt, „das wettgegenständliche Risiko nicht durch eine von ihm veranlasste, den Vertragspartner unbekannte Manipulation des Sportereignisses zu seinen Gunsten“ verändern zu wollen oder bereits verändert zu haben, z.B. durch Manipulationsabreden mit Teilnehmern an dem Sportereignis 42 (Denn: „Die Wette ist keine Wette mehr, wenn das Ergebnis bekannt ist oder aufgrund von Manipulationen kein Wettrisiko mehr besteht!“43). Demgegenüber obliege es jedem Vertragspartner selbst, sich allgemein zugängliche Informationen über den Vertragsgegenstand zu
34
BGHSt. 16, 120 ff. RGSt. 62, 415 ff. 36 BGHSt. 29, 165 ff. 37 Urt. v. 17.11.2005 – 512 Kls 42/05, Urteilsabdruck S. 43 f. 38 So maßgeblich Tiedemann (o. Fn. 3) § 263 Rn. 30; ebenso Hoyer (o. Fn. 3) § 263 Rn. 42 ff.; vgl. auch OLG Celle StV 1994, 188 (189). 39 Hefendehl (o. Fn. 3) § 263 Rn. 92. 40 BGHSt. 51, 165 (170 ff.). 41 OLG München Beschl. v. 28.01.2009 – 5 St RR 012/09. 42 BGHSt. 51, 165 (172). 43 Trüg/Habetha JZ 2007, 878 (880). 35
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verschaffen, so dass im Fall der Spätwette keine konkludente Erklärung liege, das jedermann zugängliche Ergebnis noch nicht zu kennen; ein tatsächlicher Widerspruch habe in den Wettmanipulationsfällen daher in Wahrheit nie bestanden.44 Vergleichbar der Wette sei beispielsweise auch der Abschluss eines Lebensversicherungsvertrages mit der konkludenten Erklärung verbunden, nicht über den subjektiven Willen zu verfügen, nach Vertragsschluss den Versicherungsfall vorzutäuschen (Die Versicherung gegen ein Risiko, das mit gewisser Wahrscheinlichkeit eintritt, ist keine Versicherung mehr, wenn die Zufälligkeit der Risikoverwirklichung durch eine gewollte Selbstherbeiführung des Versicherungsfalles ausgeschaltet werden soll).45 Für unseren Lebensmittelkunden ergäbe sich hieraus, dass jene tatsächlichen Voraussetzungen miterklärt wären, die zur Erfüllung der Auslobung (§ 657 BGB) als Zweck der Abgabe der abgelaufenen Buttermilch erforderlich wären. Eine derartige Auffindprämie soll gemessen am Erklärungsinhalt, wie ihn die angesprochene Öffentlichkeit auffassen durfte, den Kunden signalisieren, darum bemüht zu sein, nur frische Ware zu verkaufen und im Falle eines nicht auszuschließenden Kontrollfehlers dem Kunden einen Anreiz zur Mithilfe bieten. Sieht man diese ungeschriebenen, aber durchaus aufgrund des Zwecks der konkreten Auslobung erkennbaren Voraussetzungen als stillschweigend miterklärt an, so beginge nicht nur einen Betrug durch konkludente Täuschung, wer den Vertragsgegenstand selbst manipuliert hat (sprich: wer die Ware Tage vorher versteckt hat und sie nun „findet“46), sondern auch der Kunde, der wie im Beispiel vom Aufenthalt der Ware innerhalb der Haltbarkeitszeit außerhalb des Bereichs Kenntnis besitzt, der von den Angestellten bei ihrer Kontrolle der Haltbarkeit eines bestimmten Produkts abgesucht wird und abgesucht werden muss, hätte er die mit der Auslobung honorierte Nachkontrolle einer hausinternen Haltbarkeitskontrolle in Wahrheit doch gar nicht vorgenommen; das Risiko von Manipulationen sowie ausweislich § 123 Abs. 2 S. 1 BGB auch die Ausnutzung der Kenntnis fremder Manipulationen 47 bräuchte der Geschäftspartner nicht zu tragen.
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BGHSt. 51, 165 (172). BGHSt. 54, 69 (121). 46 So lag es im Originalfall des OLG München Beschl. v. 28.01.2009 – 5 St RR 012/09. 47 Nach BGHSt. 40, 331 ff. mit Anm. Otto JK 95, StGB § 263 a/8 braucht der Geschäftspartner auch das Risiko rechtswidrig erlangter Sonderinformationen zum erlaubten Risiko nicht zu tragen: so z.B. den entgegen § 17 Abs. 2 UWG vorgenommenen Kauf des geheimen Spielablaufs von Glücksspielautomaten; vgl. hierzu Kraatz Jura 2010, 36 (44 f.). Anders ist es freilich bei allgemein zugänglichen Informationen über Fehler im eigenen Organisationsablauf des Geschäftspartners, wie z.B. die Kenntnis einer defekten automatischen Tanksäule, die ab einer gewissen Benzinmenge wieder auf einen Gesamtpreis von 0 € wechselt: Geppert JK 10/08, StGB § 263 a/16 gegen OLG Braunschweig NJW 2008, 1464. 45
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So einsichtig diese Einbindung bereits des Täuschungsmerkmals in Gesellschaft (Verkehrsauffassung) und Recht (normative Ordnung einzelner Geschäftsbeziehungen) auch erscheint, sie ändert nichts daran, dass der Kommunikationsakt zwischen zwei konkreten Menschen mit individuellen Vorstellungen in einer bestimmten Situation überlagert wird durch allgemein bestehende und normativ unterlegte Erwartungen des Rechtsverkehrs, also durch die fiktive Übertragung der konkreten Kommunikationsinhalte und Verhaltensweisen zweier konkreter Menschen auf verobjektivierte Beteiligte mit Vorstellungen, die man in dieser Situation nach dem nur selten greifbaren und empirisch belegten Maßstab der Verkehrsanschauung zu haben hat.48 Der tatsächliche Sachverhalt wird also nicht bloß richterlich festgestellt, sondern zunächst durch einen fiktiven Sachverhalt ersetzt, bevor er unter den Tatbestand subsumiert wird. Dies wird von den Anhängern des faktisch-normativen Maßstabes teilweise sogar ausdrücklich zugegeben, indem sie nicht mehr von der Auslegung einer tatsächlich vorhandenen schlüssigen Erklärung sprechen und nicht mehr danach fragen, was der Täter konkludent erklärt habe, sondern danach, ob eine solche Erklärung über das Gegebensein oder Nichtgegebensein bestimmter Tatsachen „nach Treu und Glauben von Rechts wegen zu unterstellen“ sei.49 Dogmatisch bestraft wird der Täter dann nicht mehr für eine eigene begangene Täuschungshandlung und damit für ein Sein, sondern für eine fiktive Täuschungshandlung, für ein rechtliches Sollen.50 Dies hat Auswirkungen auch auf der nächsten Tatbestandsebene, den Irrtum: Koppelt man den subsumierten Tatbestand vom tatsächlichen Geschehen so weit ab, dass es auf die Vorstellungen eines verobjektivierten Erklärungsempfängers und nicht des tatsächlichen Empfängers ankommt, so wird es ontologisch regelmäßig an konkreten Fehlvorstellungen und damit einen Irrtum über den fiktiv unterstellten Erklärungsinhalt fehlen, ist dieser regelmäßig doch nicht geeignet, auf das tatsächliche Vorstellungsbild des konkreten Gesprächspartners einzuwirken.51 Die Anhänger der faktisch-normativen Ansicht sind daher gezwungen, nach den gleichen Maßstäben der Erklärungsfiktion52 auch das Vorstellungsbild auf der Seite des „Getäuschten“ zu fingieren. Dieser „Kunstgriff“53 wird als „sachgedankliches Mitbewusstsein“ bezeichnet und dadurch gerechtfertigt, dass bestimmte Bereiche gleichförmiger, massenhafter oder routinemäßiger Geschäfte von als selbstverständlich erwarteten Verhaltensmustern geprägt seien und der Empfänger sich so über
48
Ebenso Trüg/Habetha JZ 2007, 878 (879 ff.). Puppe NStZ 1991, 571 (573); ähnlich Ranft JA 1984, 713 (727). Vgl. zu dieser Kritik auch Frisch Festschrift für Jakobs, 2007, S. 97 (101); Pawlik (o. Fn. 22) S. 100. 50 Ebenso die Kritik von Jahn/Maier JuS 2007, 215 (218). 51 Vgl. zu dieser Kritik Trüg/Habetha JZ 2007, 878 (881 f.). 52 Vgl. Fischer (o. Fn. 3) § 263 Rn. 62; Tiedemann (o. Fn. 3), § 263 Rn. 79. 53 Trüg/Habetha JZ 2007, 878 (882). 49
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diese in jedem Einzelfall nicht ein aktuelles Bewusstsein bilden müsse.54 So ginge etwa der Mitarbeiter eines Wettbüros jeweils davon aus, „dass das wettgegenständliche Risiko nicht durch Manipulation des Sportereignisses zu Ungunsten ihres Unternehmens ganz erheblich verändert wird. Ansonsten hätten sie die jeweiligen Wettangebote zu der angebotenen Quote zurückgewiesen“55. Fragte man jedoch im Hoyzer-Fall den konkreten Mitarbeiter des Wettbüros, so äußerte dieser (bei seiner Zeugenaussage), dass er sich über mögliche Manipulationen der Fußballspiele überhaupt keine Gedanken gemacht habe. Erst wenn Oliver Kahn, damals noch Torwart bei Bayern München, hereingekommen und Geld auf eine Niederlage von Bayern München gewettet hätte, hätte er sich Gedanken gemacht. Dies zeigt, dass die faktisch-normative Ansicht angesichts der anerkannten normativen Restriktion bzw. normativen Fundierung auch des Vermögensbegriffs56 zu einer vollständigen normativen Reformulierung des Betrugstatbestandes führt57 und damit stets Gefahr läuft, zur Befriedigung verbreiteter Strafwürdigkeitsempfindungen der Gesellschaft den Unterlassungsvorwurf des „Normativ-hätte-es-sosein-sollen“ zu einem aktiven (konkludenten) Tun ohne das Erfordernis der Garantenstellung umzuwidmen58 und so den Betrugstatbestand letztlich zu überdehnen.
II. Der normativ-faktische Maßstab Diese Einwände verfangen freilich gleichfalls gegenüber jenen Stimmen im Schrifttum, die im Anschluss an Lackner 59 den Erklärungswert eines be54 Vgl. nur BGHSt. 2, 325 (326 f.); BGHSt. 24, 386 (389); OLG Hamburg NJW 1983, 768 f.; Arzt (o. Fn. 15) § 20 Rn. 54; Maurach/Schroeder/Maiwald (o. Fn. 18) § 41 Rn. 58; Mitsch (o. Fn. 24) § 7 Rn. 57; Tiedemann (o. Fn. 3) § 263 Rn. 83; Wessels/Hillenkamp (o. Fn. 18) Rn. 509. 55 BGHSt. 51, 165 (174). 56 Siehe zu den Nachweisen oben Fn. 22. 57 Dies räumt Hefendehl (o. Fn. 3) § 263 Rn. 15 ein (endgültig vom zivilistischen Denken besetzt). 58 Diese Gefahr erkennt explizit Gaede HRRS 2007, 16 f., wenn er auch jedenfalls für den Hoyzer-Fall dem Bundesgerichtshof zustimmt, da bei Manipulationen diese Gefahr in der Regel nicht bestünde. 59 Lackner in: Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch, 10. Aufl. 1988, § 263 Rn. 28 ff.; zustimmend Hoyer (o. Fn. 3) § 263 Rn. 42 ff.; Samson JA 1978, 469 (472); Seelmann NJW 1980, 2545 (2546 f.); Seier Der Kündigungsbetrug zum Schutz der Wohnraummiete aus zivil- und strafrechtlicher Sicht, 1989, S. 409 ff.; Tiedemann Festschrift für Klug Band II, 1983, S. 405 (407); Volk JuS 1981, 880 (881 f.). Ein besonderes normatives Modell vertritt auch Vogel (o. Fn. 13) S. 313 (322 ff.): „Konkludente Täuschung kann als Verletzung kommunikativer Verkehrspflichten begriffen werden, welche einerseits der lebensweltlichen Praxis von Verkehr und Sprache entspringen und andererseits rechtlich überformt sind.“ Freilich ist der aus der Fahrlässigkeitsdogmatik entliehene Begriff der Verkehrssicherungspflichten selbst höchst unbestimmt, wie Vogel (o. Fn. 13) S. 313 (323) selbst einräumt.
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stimmten Verhaltens primär nach den für die verschiedenen Geschäftstypen charakteristischen normativen Risikoverteilungen bestimmen, wenngleich auch hiernach das Verhalten nach der jeweiligen Gesamtsituation (aus der Perspektive des Adressaten60) und damit faktisch zu beurteilen sei.61 Die normativ-faktische Ansicht setzt also lediglich andere Schwerpunkte als die faktisch-normative Sichtweise62, so dass ihre Unterscheidung kaum mehr als ein „Streit um Worte“63 darstellt und beide Ansichten aufgrund des faktisch gleichen Maßstabs regelmäßig zu gleichen (fiktiven) Ergebnissen führen (so auch in unserem Buttermilch-Fall) und damit zu gleichen Unzulänglichkeiten.64
III. Das normative Konzept der „Bonner Schule“ Vor diesem Hintergrund haben sich die Anhänger der sog. „Bonner Schule“65 im Anschluss an Vorarbeiten von Jakobs66 und Timpe67 in verdienstvoller Weise um eine normative Neufundierung der Täuschungshandlung bemüht 68: Betrugsrelevant sei nur eine Täuschung, die ein Recht des Betrugsopfers auf Wahrheit verletze69, ihm also nicht jenen Pool an Informationen zur Verfügung stelle, für deren Zurverfügungstellung der Täter gerade zuständig sei.70 Worauf die Aufklärungspflicht des Täters beruhe, wird hier60
Lackner (o. Fn. 59) § 263 Rn. 28 f.; Rose wistra 2002, 13 (15). Zwischen einer konkludenten Täuschung und einer Täuschung durch Unterlassen bestünde hierdurch ein „innerer Zusammenhang“ (Lackner [o. Fn. 59], § 263 Rn. 56) derart, dass der Täter auch bei der konkludenten Täuschung zur Aufklärung eines bestimmten Umstandes normativ verpflichtet gewesen sei. Diese Äußerung Lackners darf jedoch nicht dahin missverstanden werden, dass hiernach auch für die konkludente Täuschung eine Garantenstellung iSd § 13 Abs. 1 StGB erforderlich sei (so aber Maaß GA 1984, 264 [267]), sondern dass nur dise Maßstäbe zur Bestimmung einer konkludenten Erklärung einerseits und der Garantenstellung andererseits ähnlich seien: so zutreffend Tiedemann (o. Fn. 3) § 263 Rn. 29. 62 Ebenso Hoffmann GA 2003, 610 (614); ähnlich Satzger (o. Fn. 11) § 263 Rn. 40. 63 Tiedemann (o. Fn. 3) § 263 Rn. 30. 64 Umso erstaunlicher ist daher, dass Lackner (o. Fn. 59) § 263 Rn. 30 den Grund für eine Normativierung gerade in der Vermeidung fragwürdiger Fiktionen eines Erklärungswillens erblickte. 65 So insbesondere Kindhäuser ZStW 103 (1991), 398 ff.; ders., Festschrift für Bemmann, 1997, S. 339 (354 f.); Kindhäuser (o. Fn. 3) § 263 Rn. 60 ff.; Pawlik (o. Fn. 22) S. 65 ff. 66 Jakobs Festschrift für Jescheck Erster Halbband, 1985, S. 627 (633 Fn. 29); ders., Gedächtnisschrift für Hilde Kaufmann, 1986, S. 791 (808 f.). 67 Timpe, Die Nötigung, 1989, S. 136 ff. 68 Vgl. zu den Grundlagen Pawlik (o. Fn. 22) S. 103 ff. 69 Diese „Renaissance“ des Wahrheitsrechts (Vogel [o. Fn. 13] S. 313 [318]) bedeute jedoch nicht, dass die Wahrheit auch zum Rechtsgut des § 263 StGB werde; dieses verbleibe das Vermögen, zumeist interpretiert als Freiheit im Umgang mit dem Vermögen, vgl. nur Kindhäuser ZStW 103 (1991), 398 (403); ders. (o. Fn. 3) § 263 Rn. 63. 70 Pawlik (o. Fn. 22) S. 97. 61
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bei unterschiedlich beurteilt: Kindhäuser stellt primär außerstrafrechtlich (faktisch) darauf ab, ob „ein – in der Regel durch die kommunikative Beziehung erst entstandenes – Rechtsverhältnis zwischen den Rechtsverhältnissen“ bestehe, „das die Erwartung begründet, eine bestimmte Information werde erteilt oder auf eine bestimmte Fehlvorstellung werde aufmerksam gemacht“71, wobei (wie nach der überwiegenden Ansicht) auf die „Perspektive eines objektivierten Dritten in der konkreten Situation“72 abzustellen sei. Was dieser aufgrund der Aufklärungspflicht des Täters aus dem Verhalten des Täters als hinreichende Information ableiten dürfe, wird sich kaum von den Ergebnissen der faktisch-normativen Ansicht unterscheiden, ist der Maßstab doch gleichfalls die Verkehrserwartung eines objektivierten Dritten; auch Kindhäuser stellt damit auf fiktive Kommunikationssituationen ab. Pawlik73 interpretiert das unerlaubte Betrugsverhalten gleichfalls in der Nichterfüllung einer berechtigten Erwartung einer Information, die dem Opfer in der sozialen Kommunikation als wahre Information garantiert sei. Diese Aufklärungspflicht leitet er jedoch aus dem Maßstab der Autonomie nach Maßgabe des konkreten gesellschaftlichen Verhältnisses ab74 und gelangt so zu normativen strafrechtsautonomen Garantenstellungen in Bezug auf die Wahrheit, wie dem Versprechen einer Informationsbeschaffung oder einer Ingerenz in Form einer Aufklärung nach der Verursachung eines Irrtums auf Opferseite. Er gelangt daher wie Lackner zu einer Entscheidung rein nach normativer Risikoverteilung,75 wenn diese jedoch anders als bei den bisherigen Ansätzen strafrechtsautonom gebildet wird. Durch diese gänzliche Abkopplung von zivilrechtlichen Vorwertungen setzt er sich jedoch der Gefahr aus, in einen Dezisionismus zu verfallen und je nach Strafwürdigkeitsempfinden willkürlich Aufklärungspflichten zu postulieren.76 Letztlich werden sich seine Ergebnisse jedoch kaum von denen der normativ-faktischen Ansicht unterscheiden77, wie etwa der „Hoyzer-Fall“ zeigt: Der Wettende habe die vertragstypische Unsicherheit eines Wettvertrages zu respektieren und sei daher bei der Kenntnis von Manipulationen aufklärungspflichtig.78 Gleiches würde für unseren Buttermilch-Fall gelten.
71 72 73 74 75 76 77 78
Kindhäuser (o. Fn. 3) § 263 Rn. 93. Kindhäuser (o. Fn. 3) § 263 Rn. 61. Pawlik (o. Fn. 22) S. 127 ff. Pawlik (o. Fn. 22) S. 130 ff.; kritisch hierzu Lampe ZStW 112 (2000), 883 ff. In diese Richtung auch Vogel (o. Fn. 13) S. 313 (321). Ebenso die Kritik von Kasiske GA 2009, 360 (363). Ebenso Kindhäuser (o. Fn. 3) § 263 Rn. 69. Kubiciel HRRS 2007, 68 (70 f.).
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IV. Das eigene Modell einer individualisierten Sichtweise Das Hauptmanko der bisherigen Ansichten liegt also darin, dass sie im Ausgangspunkt den Betrug zwar als Kommunikationsdelikt79 anerkennen, sie dann aber nur für die ausdrückliche Täuschung auf den Inhalt der konkreten Kommunikationsakte abstellen. Für die Beurteilung konkludenter Täuschungen wird dieser Maßstab dann verlassen und entsprechend der Auslegung zivilrechtlicher Willenserklärungen nach § 157 BGB gefragt, wie ein objektivierter Adressat das Verhalten nach „Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte“ zu verstehen hat 80 (was also „von Rechts wegen als gewollt zu verstehen ist“81), anstatt zu fragen, wie das Täuschungsopfer als tatsächlicher Kommunikationspartner tatsächlich das Verhalten verstanden hat. Für seine Verfügungshandlung bedarf das Opfer wie für die Planung jeder anderen menschlichen Handlung ein Mindestmaß an Informationen, die es über die Sinnesorgane aufnimmt. Auf diesen „Input“ wirkt der Täter kommunikativ ein und manipuliert damit das Informationsverarbeitungssystem des Opfers für eine ihm günstige Vermögensverfügung, er begeht also faktisch eine Vermögensfremdschädigung in mittelbarer Täterschaft kraft ausgenutzten Informationsvorsprungs (Täuschung). Hierzu verwendet er artikulierte oder geschriebene Worte oder andere Zeichen, Symbole oder Gesten, denen er aufgrund seines erfahrungsbasierten Wissens subjektiv eine bestimmte Bedeutung beimisst und genau mit dieser Information auf das Opfer einwirken will. Das Opfer interpretiert die Worte bzw. das Verhalten nach seinen Erfahrungen und misst so seinerseits subjektiv dem (verbalen wie non-verbalen) Erklärungsverhalten einen bestimmten Erklärungsgehalt zu. Stimmen Täter- und Opferinterpretation des Erklärungsverhaltens überein, wurde dieser Informationsgehalt auf das Opfer übertragen, mögen sie auch beide etwa einem bestimmten Wort aufgrund einer Vorverständigung eine bestimmte objektiv falsche Bedeutung beimessen 82. Misst das Opfer dem Erklärungsverhalten einen anderen Inhalt bei als der Täter und trifft es auf der so verstandenen, von der Wirklichkeit abweichenden Information seine Verfügungsentscheidung, so beruht sein Irrtum zwar kausal auf dem Erklärungsverhalten des Täters. Diesbezüglich fehlt es aber an einem „Tatherr-
79 Vgl. zu diesem Begriff nur Hefendehl (o. Fn. 3) § 263 Rn. 75; Schmidhäuser, Strafrecht Besonderer Teil Studienbuch, 2. Aufl. 1983, 11/8; Tiedemann (o. Fn. 3) § 263 Rn. 4. 80 Vgl. BGHZ 36, 30 (33); BGHZ 47, 75 (78); BGHZ 103, 275 (280); Köhler BGB Allgemeiner Teil, 33. Aufl. 2009, § 9 Rn. 7; Medicus (o. Fn. 14) Rn. 323; Singer in Staudinger, Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch mit Einführungsgesetz, Bearbeitung 2004, § 133 Rn. 18. 81 Medicus (o. Fn. 14) Rn. 323. 82 Dann gilt dieser festgelegte Bedeutungsinhalt: vgl. aus der zivilrechtlichen Rechtsprechung nur BGHZ 20, 109 (110); BGH NJW 1996, 1678 (1679); BGH NJW 2002, 1038.
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schaftsbewusstsein“ (für die Täuschung als faktisch mittelbare Täterschaft), mit einer bestimmten Information final auf das Vorstellungsbild des Opfers einzuwirken und damit in Bezug auf eine Täuschung. Die Hauptaufgabe des Gerichts besteht damit in der Feststellung des individuellen Verständnisses der gesprochenen oder geschriebenen Worte oder des Täterverhaltens durch Täter und Opfer. Wie bei jeder anderen tatrichterlichen Feststellung subjektiver Kenntnisse (und subjektiver Willensinhalte wie beim Vorsatz) muss das Gericht aus den festgestellten äußeren Umständen (z.B. das Opfer hat den Wettvertrag abgeschlossen) auf das konkrete Vorstellungsbild der Kommunikationsteilnehmer schließen, wobei der Richter von den logisch denkbaren, über (zumeist statistische 83) Erfahrungssätze vermittelten Schlüssen unter Berücksichtigung gesetzlicher Regel-Ausnahme-Vorwertungen den wahrscheinlichsten als Ausgangshypothese festlegen und dann unter Wahrung des Grundsatzes umfassender Sachverhaltsaufklärung subjektiv nach eigener Überzeugung (§ 261 StPO) entscheiden muss, ob dagegen, dass der konkrete Kommunikationsteilnehmer sich genau diese Vorstellung gebildet habe, konkrete, fallbezogene Zweifel vorliegen.84 Alleine für diese objektive Ausgangshypothese spielt die normative Risikoverteilung eine Rolle, auf welche Information ein objektivierter Erklärungsadressat für seine Verfügungsentscheidung angewiesen ist und deren Vermittlung er daher erwarten muss und erwarten kann, sodass – wenn dies nicht ausdrücklich mit Worten geschieht – er aus dem Täterverhalten entsprechende Rückschlüsse auf die benötigten Informationen ziehen muss. Im Wettbewerb bedeutet Wissen jedoch ein nicht zu unterschätzendes „Kapi-
83 So werden Erfahrungssätze bezeichnet, die im Gegensatz zu den wenigen zwingenden Erfahrungssätzen eine bloße Wahrscheinlichkeitsaussage vermitteln: so etwa die Bezeichnung von Eisenberg, Beweisrecht der StPO-Spezialkommentar, 6. Aufl. 2008, Rn. 7; Schöch in: Alternativ-Kommentar zur Strafprozessordnung, 1996, § 244 Rdn. 19; Helmut Weber, Der Kausalitätsbeweis im Zivilprozess, 1997, S. 175 Fn. 183. Andere Bezeichnungen sind „relativer“ (OLG Düsseldorf StV 1993, 572) oder „stochastischer“ (Kindhäuser Strafprozessrecht, 2006, § 20 Rn. 13) Erfahrungssatz. 84 Vgl. zum Zweifelmaßstab nur BGHSt. 25, 365 (367); BGH StV 1981, 221 (222); BGH StV 1983, 444; BGH NStZ 2007, 115; Ehrenzweig JW 1929, 85; Käßer Wahrheitserforschung im Strafprozess, 1974, S. 43; Kasper Freie Beweiswürdigung und moderne Kriminaltechnik, 1975, S. 25; Bertram Schmitt Die richterliche Beweiswürdigung im Strafprozess, 1992, S. 387; Stuckenberg in: Kleinknecht/Müller/Reitberger, Kommentar zur Strafprozessordnung, Stand: November 2009, § 261 Rn. 36. Rein theoretisch-abstrakte Zweifel stehen einer Überzeugung nicht im Wege: vgl. nur BGHSt. 5, 34 (36); BGHSt. 10, 208 (210 f.); BGHSt. 41, 206 (214 f.); BGH NJW 1951, 83 und 122; BGH VRS 39 (1970), 103 (105); BGH StV 1988, 190; BGH NStZ 1990, 28; BGH StV 1994, 580, 581; BGH NStZ-RR 1998, 275; BGH NJW 2009, 2834, 2836; Gollwitzer in: Löwe/Rosenberg, Kommentar zur Strafprozessordnung, 25. Aufl. 2001, § 261 Rn. 8; Hellmann Strafprozessrecht, 2. Aufl. 2006, Rn. 799; Kindhäuser (o. Fn. 83) § 23 Rdn. 53; Stree In dubio pro reo, 1962, S. 38; Stuckenberg (o. Fn. 84) § 261 Rn. 23.
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tal“85. Jeder ist bestrebt, eigene Informationsvorsprünge auszunutzen und es kann daher grundsätzlich nicht erwartet werden, dass Geschäftspartner einander sämtliche geschäftsrelevanten Informationen austauschen und beispielsweise der Verkäufer dem Kunden mitteilt, wo er das gleiche Produkt noch billiger erwerben kann. Dies wäre absurd und nur schwerlich mit der Privatautonomie vereinbar, die jedem Geschäftspartner grundsätzlich die Obliegenheit auferlegt, sich selbst die für eine Geschäftsentscheidung notwendigen Informationen zu verschaffen, indem er Preise vergleicht, den Vertragsgegenstand untersucht, notfalls Rat bei Experten einholt oder sich bestimmte Eigenschaften eines Vertragsgegenstandes ausdrücklich zusichern lässt. Dem Verhalten im zivilrechtlich strukturierten Wirtschaftsraum, eine Ware zu einem bestimmten Preis anzubieten, kommt daher zivilrechtlich in der Regel (objektive Ausgangshypothese) nicht der Erklärungswert zu, dass der sich nach Angebot und Nachfrage bestimmende Preis auch tatsächlich angemessen ist. Das im zivil- und öffentlichrechtlich vorstrukturierten Wirtschaftsraum aus Gründen des Rechtsgüterschutzes (durch Verbote) handlungslenkende Strafrecht ist in diese zivilrechtliche Vorwertung eingebunden und hat diese strafrechtlich zu respektieren, soweit dies dem Strafrechtszweck eines zum Rechtsgüterschutz geregelten menschlichen Zusammenleben nicht widerspricht, was beim Betrug hinsichtlich des vorrechtlich mitkonstruierten Vermögensbegriffs86 kaum der Fall sein wird.87 Auch auf der sekundären strafrechtlichen Bewertungsebene kann dem Verhalten des Verkäufers daher als Ausgangshypothese keine Erklärung zur Angemessenheit des Preises (sofern dieser kein Tax- oder Listenpreis ist)88 zugemessen werden,89 wenngleich die individuelle Kommunikation hierüber aufgrund entsprechender Vorverständigung durchaus im Einzelfall zu abweichenden Ergebnissen führen kann. Gleiches gilt für alle anderen im Strafrecht zu respektierenden Bereiche einer eigenen Informationsbeschaffungsobliegenheit des Täuschungsopfers, so z.B. für bestimmte Eigenschaften der Kaufsache,90 insbesondere das Vorliegen von Sach- oder Rechtsmängeln, für einen
85
Kindhäuser (o. Fn. 3) § 263 Rn. 93. Siehe oben Fn. 22. 87 Für eine Bindung an die außerstrafrechtlichen Vorwertungen daher auch Hefendehl (o. Fn. 3), § 263 Rn. 93 ff.; Tiedemann (o. Fn. 3), § 263 Rn. 30; ders. (o. Fn. 59) S. 405 (407); kritisch dagegen Kasiske GA 2009, 360 (365); Maaß GA 1984, 264 (267); Volk JuS 1981, 880. 88 Wie etwa für Arzneimittel (vgl. RGSt. 42, 147 ff.), Krankenhausleistungen (vgl. Tondorf/Waider MedR 1997, 102 (103)) oder das Rollgeld für Bahnspediteure (BGH LM § 263 StGB Nr. 5). 89 Ebenso RGSt. 42, 147 (150); BGH JZ 1989, 759 (760); OLG Stuttgart NStZ 1985, 503; BayObLG NJW 1994, 1078 (1079); OLG Stuttgart NStZ 2003, 554; Kindhäuser (o. Fn. 3) § 263 Rn. 130. 90 Vgl. RGSt. 2, 430 f.; RGSt. 14, 310 (311 f.); Cramer/Perron (o. Fn. 3), § 263 Rn. 16d; Kindhäuser (o. Fn. 3) § 263 Rn. 129 und 137. 86
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Anspruch des Täters für die an ihn vom Opfer geleistete Zahlung 91 oder für die Prüfung einer Kontodeckung durch die Bank vor Ausführung eines Überweisungsauftrages (§ 676 f. BGB).92 Den Inhaber eines Hotels oder einer Gaststätte trifft hinsichtlich der Leistungsfähigkeit seiner Kunden an sich die gleiche Obliegenheit, jedoch erscheint es ihm im geschäftlich-sozialen Umgang kaum zumutbar, jeden Kunden bei der Begrüßung danach zu fragen, ob er mal kurz seine Brieftasche vorzeigen könne – zu einer Bestellung oder einer Zimmeranmietung wird es dann nur selten kommen. Dieses Dilemma hat aber bereits das Zivilrecht erkannt93 und den Grundsatz statuiert, dass man Geld zu haben hat,94 so dass Geschäftspartner von beim anderen Teil bestehender Leistungsfähigkeit ausgehen können und daher bereits zivilrechtlich eine Informationsobliegenheit ausgeschaltet wird. Fehlt es aber an einer solchen wie eben nach der strafrechtlich zu respektierenden außerstrafrechtlichen Vorwertung bei der Leistungsfähigkeit oder weil der Informationsvorsprung des Täters auf einem Informationsmonopol beruht, wie dies vor allem hinsichtlich der täterinternen Tatsachen wie etwa der Leistungswilligkeit der Fall ist, so ist der Täter auf eine Informierung durch den Täter hierüber angewiesen. Erfolgt diese nicht ausdrücklich über Worte, so muss das Opfer auf das Vorliegen oder Nichtvorliegen dieser Tatsachen aus dem Täterverhalten schließen und kann und wird dabei von dem ihm von der Verkehrsauffassung suggerierten Regelfall nach der Grundannahme eines sich grundsätzlich redlich verhaltenden Geschäftspartners ausgehen, solange das Verhalten keine Anhaltspunkte für eine abweichende Interpretation bietet. In diesem Sinne kann etwa grundsätzlich (nochmals: bloße Ausgangshypothese) davon ausgegangen werden, der Geschäftspartner sei leistungsfähig und leistungswillig,95 bezogen auf den „Hoyzer-Fall“, dass er das Wettrisiko als Grundlage des Wettvertrages nicht durch eine Manipu-
91 Vgl. nur RGSt. 25, 95 (96); RGSt. 46, 414 (416); OLG Köln NJW 1980, 2366; OLG Köln JZ 1988, 101 (102). 92 Vgl. BGHSt. 46, 196 ff. mit Anm. Geppert JK 01, StGB § 263/58 unter Aufgabe von BGHSt. 39, 392 ff. mit Anm. Geppert JK 94, StGB § 263/40. 93 Man braucht daher nicht bezogen auf diesen Hauptanwendungsfall in der gesellschaftsrechtlichen Unzumutbarkeit der Informationsbeschaffung eine weitere Ausnahme der strafrechtlichen Bindung an außerstrafrechtliche Vorwertungen erblicken: so aber Kasiske GA 2009, 360 (366 f.). Derartige Unzumutbarkeiten sind bereits in die vorrechtliche Risikoverteilung eingeflossen. 94 Sog. Prinzip der unbeschränkten Vermögenshaftung: BGHZ 28, 123 (128); BGHZ 83, 293 (300); BGHZ 140, 223 (239 f.); Grothe in: Beck’scher Online-Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, herausgegeben von Bamberger und Roth, Edition 18, Stand: 1.8.2010, § 244 Rn. 14. 95 Vgl. nur RGSt. 24, 405 (407); BGHSt. 15, 24 (26); BGHSt. 27, 293 (294 f.); BGH GA 1972, 209; BGH GA 1974, 284; BGH wistra 1998, 177; BGH wistra 2005, 376 (377); OLG Hamm StraFo 2002, 337.
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lation ausgeschaltet habe,96 oder bezogen auf unseren Buttermilch-Fall, dass er auch keine Kenntnis von einer Manipulation durch Dritte besitzt. Normative Vorwertungen bleiben so zwar (beim Fehlen einer individuellen Abrede) prozessual für die Bestimmung des individuellen Verständnisses eines Kommunikationsaktes relevant. Dies ändert jedoch nichts daran, dass materiell-rechtlich auch auf der Irrtumsebene – bei der geprüft wird, ob das Opfer den im Sinne des Täters verstandenen Informationsgehalt auch für mit der Wirklichkeit übereinstimmend bewertet hat – einzig und allein danach gefragt werden darf, welche Gedanken sich das konkrete Täuschungsopfer tatsächlich gemacht hat und nicht, welche Gedanken sich ein derartiges Opfer in dieser Situation regelmäßig (verobjektiviert) macht. Letzteres spielt auch hier erst als Ausgangshypothese bei der richterlichen Feststellung des Vorstellungsbildes des Opfers eine Rolle. Ist etwa bekannt, welche Gedanken sich das Opfer tatsächlich gebildet hat und welche nicht, weil etwa im „Hoyzer-Fall“ der Angestellte des Wettbüros in seiner glaubhaften Zeugenaussage geäußert hat, sich über eine mögliche Manipulation keinerlei Gedanken gemacht zu haben, so fehlt es nachweislich an einer intellektuellen Beeinflussung des Angestellten und damit an einer Täuschung wie an einem Irrtum. Erst wenn der Inhalt des Vorstellungsbildes nicht bekannt ist, muss prozessual wieder aus den äußeren Umständen auf das entsprechende Vorstellungsbild geschlossen werden, mit dem sachgedanklichen Mitbewusstsein als bloße prozessuale Grundannahme, die bei der Kenntnis der individuellen Vorstellung dieser zu weichen hat. In unserem Buttermilch-Beispiel hat das Gericht daher zwar von der normativ bestimmten Ausgangshypothese auszugehen, dass sowohl der Täter als auch der Ladenmitarbeiter dem Fordern der ausgelobten Prämie den Erklärungswert beigemessen haben, der Täter gebe keine von ihm oder einem Dritten an einem Ort, den die Ladenmitarbeiter nicht nach verdorbener Ware kontrollieren, versteckte Ware ab. Das Gericht müsste dann im Rahmen der Beweisaufnahme aber erforschen, ob nach seiner Überzeugung der konkrete Täter (der wird dies kaum zugeben) und das konkrete Opfer diese Vorstellung auch tatsächlich besaßen, was – wenn entsprechende Missbrauchsfälle in der Vergangenheit nicht stattgefunden und ein Bewusstsein der Ladenmitarbeiter geschärft haben – für den Ladenmitarbeiter angesichts einer Prämie von nur 2,50 € wohl zu verneinen sein wird.
96 Anderes gilt freilich für den „Spätwette“-Fall (BGHSt. 16, 120 ff.), da die Information eines bereits erfolgten Rennens frei zugänglich war und daher unter die Informationsobliegenheitspflicht des Opfers fiel, die fehlende Kenntnis vom bereits erfolgten Ausgang des Rennens also mit dem Abschluss eines Wettvertrages gerade nicht konkludent miterklärt wird. Der aufgezeigte scheinbare Widerspruch in den höchstrichterlichen Entscheidungen zum Abschluss von Wettverträgen trotz Sonderwissens ist also in Wahrheit keiner.
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V. Fazit Die bisherige Diskussion um den Auslegungsmaßstab konkludenter Erklärungen erfolgt auf der falschen Denkebene. Die allseits befürwortete Einbeziehung normativer Vorwertungen spielt nicht bereits für die materiellrechtliche Bestimmung einer Täuschung eine Rolle, sondern erst auf prozessualer Ebene als objektive Ausgangshypothese, auf deren Grundlage dann aber erforscht werden muss, ob die konkreten Kommunikationsteilnehmer (Täter und Täuschungsopfer) tatsächlich das Erklärungsverhalten des Täters in diesem Sinne übereinstimmend interpretiert haben und so diese Information im konkreten Einzelfall auch tatsächlich kommuniziert wurde. Denn obgleich eine außerstrafrechtliche normative Vorordnung des Wirtschaftslebens vom Strafrecht zu respektieren ist, darf sie das Strafrecht nicht vollständig besetzen97; Bezugspunkt des strafrechtlichen Schuldvorwurfs muss eine konkrete Handlung in einem individuellen menschlichen Beziehungsgeflecht bilden. Schließlich schützt das Strafrecht als Friedens- und Schutzordnung das menschliche Zusammenleben98 vor bestimmten tatsächlichen menschlichen Handlungen, nicht vor bloß normativ fingierten.
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Anders Hefendehl (o. Fn. 3) § 263 Rn. 15, wonach dies längst der Fall sei. Jescheck/Weigend Lehrbuch des Strafrechts: Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996, S. 2.
Die Bekämpfung von Korruption mit dem OWiG Joachim Kretschmer
Im März 2010 wurde in den Medien über einen Bußgeldbescheid gegen den ehemaligen Siemens-Vorstandschef Heinrich von Pierer berichtet. Es gebe einen rechtskräftigen Bußgeldbescheid wegen fahrlässiger Verletzung der Aufsichtspflicht. Exakte Angaben zur Höhe des Bußgeldes wurden nicht gemacht. Aber er kann sich maximal auf 500.000 EUR belaufen. Nach Medienberichten soll er deutlich darunter liegen. Das mag Staunen hervorrufen. Der Siemens-Skandal hat Gerichte und Medien die letzten Jahre begleitet und wird es wohl auch in Zukunft noch. In dem Korruptionsskandal geht es um etwa 1,3 Milliarden EUR, die zur Erlangung von Aufträgen im Ausland eingesetzt worden sind. Das Unternehmen selbst zahlte nach Einigung mit den Behörden in Deutschland und in den USA Geldbußen in Höhe von rund 1 Milliarde EUR. Da erscheint das Bußgeld gegen von Pierer auf dem ersten Blick lächerlich. Inzwischen wurde der Siemens-Skandal von anderen Fällen der Korruption im Ausland eingeholt. So soll MAN einen zweistelligen Millionenbetrag an Bestechungsgeldern an ausländische Entscheidungsträger gezahlt haben: Geldbuße in Deutschland in Höhe von etwa 150 Millionen EUR. Daimler verteilte Schmiergelder im Ausland und zahlt für die Einstellung des Verfahrens in den USA rund 185 Millionen Dollar. Derzeit – im Mai 2010 – steht das Unternehmen Ferrostaal im Mittelpunkt der medialen Berichterstattung. Ich will im Folgenden einen Blick auf das Instrumentarium werfen, mit dem Korruption bekämpft wird. Im Schwerpunkt wende ich mich dem Ordnungswidrigkeitenrecht unter dem Aspekt der Korruptionsdelikte zu. Es geht um das Ordnungswidrigkeitenrecht als Mittel zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität. Beginnen will ich mit § 130 OWiG. Da liegt die Grundlage für das Bußgeld gegen von Pierer.
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I. § 130 OWiG – Verletzung der Aufsichtspflicht „Korruption beschädigt das Ansehen des Staats und seiner Beschäftigen.“1 Wer kennt diese Vorschrift des § 130 OWiG schon? Daher wird sie hier zitiert, obgleich es in studentischen Arbeiten und wissenschaftlichen Beiträgen als verpönt gilt, den Gesetzestext abzudrucken. § 130 (1) Wer als Inhaber eines Betriebes oder Unternehmens vorsätzlich oder fahrlässig die Aufsichtsmaßnahmen unterlässt, die erforderlich sind, um in dem Betrieb oder Unternehmen Zuwiderhandlungen gegen Pflichten zu verhindern, die den Inhaber treffen und deren Verletzung mit Strafe oder Geldbuße bedroht ist, handelt ordnungswidrig, wenn eine solche Zuwiderhandlung begangen wird, die durch gehörige Aufsicht verhindert oder wesentlich erschwert worden wäre. Zu den erforderlichen Aufsichtsmaßnahmen gehören auch die Bestellung, sorgfältige Auswahl und Überwachung von Aufsichtspersonen. (2) Betrieb oder Unternehmen im Sinne des Absatzes 1 ist auch das öffentliche Unternehmen. (3) Die Ordnungswidrigkeit kann, wenn die Pflichtverletzung mit Strafe bedroht ist, mit einer Geldbuße bis zu einer Million Euro geahndet werden. Ist die Pflichtverletzung mit Geldbuße bedroht, so bestimmt sich das Höchstmaß der Geldbuße wegen der Aufsichtspflichtverletzung nach dem für die Pflichtverletzung angedrohten Höchstmaß der Geldbuße. Satz 2 gilt auch im Falle einer Pflichtverletzung, die gleichzeitig mit Strafe und Geldbuße bedroht ist, wenn das für die Pflichtverletzung angedrohte Höchstmaß der Geldbuße das Höchstmaß nach Satz 1 übersteigt. Der Vorwurf der Begehung einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit gegenüber einem Unternehmensinhaber oder einer nach § 14 StGB/§ 9 OWiG gleichgestellten Person setzt voraus, dass ihm diese Tat nach den allgemeinen Grundsätzen der Täterschaft und Teilnahme, zu Tun oder Unterlassen zugerechnet werden kann. Ein solcher Nachweis scheitert oft. Nun kann man davon ausgehen oder man kann es eben nicht nachweisen, dass von Pierer als langjähriger Vorstandschef (1992 bis 2005, danach war er Vorsitzender des Aufsichtsrates von 2005 bis 2007) von Siemens selbst die Zahlung von Schmiergeldern geleistet oder angewiesen hat noch dass er konkret von Zah-
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Aus der Richtlinie zur Korruptionsbekämpfung der Bundesregierung v. 30.7.2004, Anlage 1: Verhaltenskodex gegen Korruption.
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lungen durch Mitarbeiter wusste. Die §§ 13 und 25 ff StGB führen nicht zu einer individuellen Strafbarkeit. In diesem Fall droht eine Geldbuße aus der Verletzung der Aufsichtspflicht in Betrieben und Unternehmen nach § 130 OWiG – ein typischer Auffangtatbestand.2 Die Norm ist subsidiär.3 Die Vorschrift ist ein Sonderdelikt. Die Sondereigenschaft eines Inhabers eines Betriebes oder Unternehmens kann nach § 9 OWiG auf Organe, Vertreter oder Beauftragte überwälzt werden.4 Wie in § 14 StGB gilt auch in § 9 OWiG das Prinzip des faktischen Geschäftsführers. Der Streit um die Weite dieses Rechtsinstituts beeinflusst so auch § 130 OWiG. Die Fakten: Im Siemensskandal geht es um Zahlungen von rund 1,3 Milliarden EUR, die über viele Jahre zur Erlangung von Aufträgen im Ausland eingesetzt wurden. Erwähnt werden Länder wie Griechenland, Nigeria, Staaten der früheren Sowjetunion. Siemens musste Geldbußen in Höhe von etwa 1 Milliarde EUR zahlen. Rund 600 Millionen EUR entfielen auf ein Bußgeld an das US-Justizministerium und an die Aufsichtsbehörde SEC, aber weitere 395 Millionen EUR Bußgeld verhängte die Staatsanwaltschaft München – Grundlage ist § 30 OWiG. Hinzu kamen Zahlungen für Steuerrückstände und für die Aufklärung des Korruptionsgeflechts. Bezüglich eines Teilkomplexes begann der Strafprozess gegen einen ehemaligen Bereichsvorstand des Siemens-Kommunikationssparte im April 2010 vor dem Landgericht München.5 In 58 Fällen sollen mehr als 55 Millionen EUR an Minister, Staatssekretäre und Generaldirektoren in Nigeria und Russland gezahlt worden seien, um Siemens Aufträge zu verschaffen. Im vergleichbaren Fall von Daimler soll6 der Konzern zwischen 1998 und 2008 in mindestens 22 Ländern Schmiergelder verteilt haben, in Ländern wie Nordkorea, China, Bulgarien, Rumänien, Ägypten, Nigeria oder Russland. Nach Angaben der SEC soll Daimler in der Zeit Schmiergelder in Höhe von mindestens 56 Millionen Dollar geleistet haben, um Umsätze in Höhe von 1, 9 Milliarden Dollar und einen Gewinn von mindestens 90 Millionen Dollar zu generieren. Gegen ein Bußgeld von 185 Millionen Dollar konnte Daimler das Verfahren in den USA beilegen. Dieser Beitrag ist im Übrigen eine Art Wettlauf. Während des 2 Siehe OLG Jena v. 2.11. 2005 – 1 Ss 242/05 NStZ 2006, 533; Achenbach in: Handbuch des Wirtschaftsstrafrechts, 2. Aufl., 2008, Kap I 3 Rn. 41; Hellmann/Beckemper Wirtschaftsstrafrecht, 2. Aufl., 2008, Rn. 954; Schmid in: Müller-Gugenberger/Bieneck, Handbuch des Wirtschafts- und Ordnungswidrigkeitenrechts, 4. Aufl., 2006, § 30 Rn. 104; Többens NStZ 1999, 1, 5; Wittig, Wirtschaftsstrafrecht, 2010, § 6 Rn. 128. 3 So Schmid in: Müller-Gugenberger/Bieneck, § 30 Rn. 109. 4 So KK-OWiG/Rogall § 130 Rn. 31; Schmid in: Müller-Gugenberer/Bieneck, § 130 Rn. 112. 5 Siehe den Bericht der Süddeutschen Zeitung v. 13.4.2010, Seite 18. 6 Siehe den Bericht der Süddeutschen Zeitung v. 3/4/5.4.2010, Seite 27.
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Schreibens wird in den Medien über neue Korruptionsvorwürfe berichtet. So ist einer Pressemitteilung von Transparency International vom 26.4.2010 zu entnehmen: „Korruption: Ermittlungen gegen Bahn-Tochter Münchensueddeutsche.de berichtet, die Staatsanwaltschaft Frankfurt ermittle gegen Mitarbeiter einer Tochterfirma der Deutschen Bahn. Sie sollen im Ausland, unter anderem in Algerien, Ruanda und Griechenland, Entscheidungsträgern Zuwendungen gewährt haben, die bis in das Jahr 2005 zurückgehen. Der Konzern habe die Staatsanwaltschaft bereits vor einem Jahr auf die Unregelmäßigkeiten aufmerksam gemacht.“ Und was macht eigentlich die Deutsche Bahn in Ruanda? 1. § 14 StGB/§ 9 OWiG Der Leser wird inzwischen ein OWiG neben sich zu liegen haben, so dass von der Zitierung weiterer Gesetzestexte abgesehen wird. Ein Vorstand einer AG ist nicht der Inhaber eines Betriebs oder Unternehmens. Es ist Organ der AG (§ 76 AktG). Die strafbarkeitsbegründende Sondereigenschaft wird nach § 14 StGB im Strafrecht und nach dem gleich lautenden § 9 OWiG im Ordnungswidrigkeitenrecht auf die stellvertretend für die Vereinigung handelnden Organe, Vertreter oder Beauftragte „überwälzt“. Strafnormen gelten auf diesem Weg für natürliche Personen, denen die Sondereigenschaft einer juristischen Person oder Personenvereinigung übertragen wird. § 14 StGB/§ 9 OWiG erweitert den Kreis der Normadressaten. a) § 14 StGB/§ 9 OWiG gilt allein für Sonderdelikte. Es geht um die Überwälzung von strafbarkeitsbegründenden besonderen persönlichen Eigenschaften. Besondere persönliche Eigenschaften, Verhältnisse oder Umstände im Sinne des § 14 StGB sind die mit einer Person verbundenen Merkmale geistiger, körperlicher oder rechtlicher Art.7 Die Eigenschaften müssen übertragbar sein. Es muss sich um objektiv-täterschaftliche Merkmale handeln. Das trifft weder auf subjektiv täterschaftliche Eigenschaften wie besondere Absichten zu noch auf objektive Eigenschaften höchstpersönlicher Art wie etwa die Beamteneigenschaft.8 Es geht im Wirtschaftsstrafrecht vor allem um Statusmerkmale, die eine wirtschaftliche Sonderrolle begründen. Es geht um Sonderpflichten, die bestimmten Personen, aber auch Personenvereinigungen auferlegt sein können. Es geht um besondere Beziehungen einer Person oder eben einer Personenvereinigung zu dem geschützten Rechtsgut. Es geht um besondere Täterbeschreibungen, die auf eine Person oder eine Personenvereinigung zutreffen. Die Vermögensbetreuungspflicht der Untreue (§ 266
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Siehe Hellmann/Beckemper Wirtschaftsstrafrecht § 15 Rn. 914; Többens NStZ 1999, 1,
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Siehe Hellmann/Beckemper Wirtschaftsstrafrecht, § 15 Rn. 914.
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StGB) kann einer juristischen Person, einem Kreditinstitut oder einer GmbH auferlegt sein. Über § 14 StGB trifft diese Pflicht Organe, Vertreter oder Beauftragte.9 Bei den Sonderdelikten der §§ 283 bis 283c StGB ist der Schuldner Täter, der in dieser Rolle in einer besonderen Beziehung zum geschützten Gläubigerinteresse steht. Juristische Personen sind selbst Schuldner. Die Zuschreibung strafrechtlicher Verantwortung für den persönlich Handelnden erfolgt über § 14 StGB.10 Und: Auch § 130 OWiG ist ein Sonderdelikt. Täter ist der Inhaber eines Betriebes oder Unternehmens. Es gilt § 9 OWiG.11 Zu beachten ist, dass die Kriterien der besonderen persönlichen Eigenschaften für § 14 und § 28 StGB nicht identisch sind. Das zeigt sich in der Beamteneigenschaft. Das liegt daran, dass die Eigenschaft für die Anwendung des § 14 StGB vom Vertretenen auf den Vertreter übertragbar sein muss. Von § 14 I Nr. 1 StGB/§ 9 I Nr. 1 OWiG sind die vertretungsberechtigten Organe einer juristischen Person oder deren Mitglieder erfasst. Juristische Personen sind Organisationen mit eigener Rechtspersönlichkeit nach bürgerlichem oder nach öffentlichem Recht. Auf deren Organe als natürliche Personen, die für die juristische Person handeln, werden die strafbarkeitsbegründenden Sondereigenschaften überwälzt. Als Beispiele gelten vor allem der Geschäftsführer einer GmbH (§ 35 GmbHG) und der Vorstand einer AG (§ 76 AktG)12 – das trifft auf Heinrich von Pierer zu. b) Nur am Rande, aber wichtig: „Nach gefestigter Rechtsprechung, die vor allem zur Verletzung der Insolvenzantragspflicht gem. §§ 64 I, 84 II Nr. 2 GmbHG sowie zu anderen Strafvorschriften ergangen ist, die mit der Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung einer GmbH im Zusammenhang stehen, ist als Geschäftsführer nicht nur der formell zum Geschäftsführer Berufene anzusehen, sondern auch derjenige, der die Geschäftsführung mit Einverständnis der Gesellschafter ohne förmliche Bestellung faktisch übernommen und ausgeübt hat (…).“13 Zur Bestimmung des faktischen Geschäftsführers sind folgende Kriterien14 maßgebend: sowohl betriebsintern als auch nach außen gehen alle Dispositionen weitgehend von dem faktischen
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Siehe SSW-StGB/Saliger StGB, 2010, § 266 Rn. 107. Siehe SSW-StGB/Bosch Vor §§ 283 ff Rn. 5 ff. 11 Siehe Laue Jura 2010, 339, 342; Schmid in: Müller-Gugenberger/Bieneck, § 30 Rn. 112 ff; Többens NStZ 1999, 1, 3. 12 Dazu Achenbach in: Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, Kap I 3 Rn. 9; MünchKommStGB/Radtke § 14 Rn. 70 ff.; SSW-StGB/Bosch § 14 Rn. 7; Schmid in: Müller-Gugenberger/Bieneck, § 30 Rn. 66 ff. 13 Siehe BGH v. 10.5.2000 – 3 StR 101/00 NJW 2000, 2285; auch OLG Karlsruhe v. 7.3. 2006 – 3 Ss 190/05 NJW 2006, 1364; BayObLG v. 20.2.1997 – 5 St RR 159/96 NJW 1997, 1936. 14 Dazu BGH v. 10.5.2000 – 3 StR 101/00 NJW 2000, 2285; BayObLG v. 20.2.1997 – 5 St RR 159/96 NJW 1997, 1936; KK-OWiG/Rogall § 9 Rn. 46 ff.; Schmid in: MüllerGugenberger/Bieneck, § 30 Rn. 36 ff. 10
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Geschäftsführer aus; er nimmt im Übrigen auf alle Geschäftvorgänge bestimmenden Einfluss; die Unternehmensführung darf nicht einseitig angemaßt sein, sondern muss mit dem Einverständnis der Gesellschafter, das als eine konkludente Bestellung zu werten ist, erfolgt sein; der faktische Geschäftsführer muss gegenüber dem formellen Geschäftsführer eine überragende Stellung, zumindest das deutliche Übergewicht haben. Der bestimmende Einfluss ist gegeben, wenn – so heißt es wiederholt –15 6 von 8 Kriterien im Bereich der faktischen Mitgeschäftsführung vorliegen: Bestimmung der Unternehmenspolitik; Unternehmensorganisation; Einstellung von Mitarbeitern; Gestaltung der Geschäftsbeziehung zu Vertragspartnern; Verhandlung mit Kreditgebern; Gehaltshöhe; Entscheidung in Steuerangelegenheiten; Steuerung der Buchhaltung. Wird die Rechtpraxis vom faktischen Geschäftsführer beherrscht, so gelten diese Grundsätze auch für andere Organe. Wer die faktische Geschäftsführung innehat und die Führung der Geschäfte bestimmt, muss auch die Pflichten erfüllen, die den Geschäftsführer treffen. Das klingt sachgerecht. Die Allgemeinheit ist vor einer kriminellen Handhabung der Geschäftsführung einer GmbH zu schützen. Die faktische Betrachtung dient auch der wirksamen Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität in diesem Bereich. Weder einen Verstoß gegen das Analogieverbot noch gegen den Grundsatz der Tatbestandsbestimmtheit des Art. 103 II GG sieht die Rechtsprechung16 darin. „Als Geschäftsführer“ heißt daher als formeller oder faktischer Geschäftsführer. Eine einseitige Anmaßung von Leitungsmacht begründet keine faktische Organstellung.17 Es bedarf des Einverständnisses der Gesellschafter. Mit dem OLG Karlsruhe18 ist die Billigung der Mehrheit der Gesellschafter für die Begründung der Pflichtenstellung als faktischer Geschäftsführer ausreichend, sofern eine solche Mehrheit nach den gesellschaftsvertraglich getroffenen Bestimmungen auch für eine formelle Bestellung ausreichend wäre. Die Bestimmungen des Gesellschaftsvertrags (§ 45 II GmbHG) sind maßgebend. Dieses faktische Verständnis gilt auch in § 14 StGB/§ 9 OWiG. Bereits § 14 I StGB – Organ – wird faktisch ausgelegt. Kern der strittigen Diskussion ist die Bedeutung von § 14 III StGB – deklaratorische Anerkennung des faktischen Prinzips oder abschließende Regelung? Danach gelten die Absätze 1 und 2 auch, wenn die Rechtshandlung, welche die Vertretungsbefugnis oder das Auftragsverhältnis begründen sollte, unwirksam ist. Muss eine solche Rechtshandlung zur Begründung eines faktischen Verhältnisses überhaupt vorliegen? Oder: Ist ein intentionaler, aber rechtsunwirksamer 15 Siehe BayObLG v. 20.2.1997 – 5 St RR 159/96, NJW 1997, 1936; Borchardt in: Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 15a Abs. 4, 5 Rn. 31. 16 BGH v. 10.5.2000 – 3 StR 101/00 NJW 2000, 2285. 17 Siehe OLG Karlsruhe v. 7.3.2006 – 3 Ss 190/05 NJW 2006, 1364. 18 Siehe OLG Karlsruhe v. 7.3.2006 – 3 Ss 190/05 NJW 2006, 1364.
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Bestellungsakt erforderlich? „Nein“ sagt vor allem die Rechtsprechung. Und das sowohl im Zivilrecht 19 als auch im Strafrecht.20 Eine Umgehung durch einen formalen „Strohmann“ und einen faktischen Geschäftsführer soll vermieden werden. Die maßgeblichen Kriterien sind zu beachten. Neben der tatsächlichen Ausübung von Leitungs- und Entscheidungsbefugnissen ist ein Verhalten der entscheidungsbefugten Gesellschafter zu verlangen, das sich zumindest als konkludente Bestellung verstehen lässt, sowie ein Auftreten des faktisch Handelnden mit Außenwirkung.21 Andere22 beschränken die Anwendung des § 14 III StGB auf das fehlerhaft bestellte Organ. Ihr Hauptargument ist und bleibt der Wortlaut der Norm. Pragmatisch und trickreich verweisen diese Stimmen auf eine Umdeutung nach § 14 II StGB, da in der faktischen Übertragung die Beauftragung liegen kann. c) § 14 StGB wie auch § 9 OWiG verlangen ein Handeln als Organ oder Vertreter bzw. ein Handeln auf Grund dieses Auftrags. Es galt bisher die sog. Interessentheorie.23 Gleich vorab: Der BGH 24 hat sie – wohl – aufgegeben. Der BGH:25 „Die Vorschrift des § 283 StGB stellt indes ein Sonderdelikt dar, dessen Täter nur der Schuldner sein kann (…), also die (natürliche oder juristische) Person, die für die Erfüllung einer Verbindlichkeit haftet (…). Ist der Schuldner – wie hier – eine juristische Person, die nur durch ihre Organe/ Vertreter handeln kann, so gilt § 14 StGB. Diese Vorschrift setzt für die strafrechtliche Zurechnung voraus, dass die handelnde Person „als“ Organ oder Vertreter (Abs. 1) bzw. „auf Grund dieses Auftrags“ (Abs. 2) agiert. Nach bisheriger Rechtsprechung des BGH und der wohl herrschenden Auffassung in der Literatur ist es danach für eine Strafbarkeit des Vertreters nach § 283 StGB erforderlich, dass er zumindest auch im Interesse des Geschäftsherrn handelt. Liegen ausschließlich eigennützige Motive vor, so kann eine Strafbarkeit wegen Untreue nach § 266 StGB in Betracht kommen; eine Verurteilung wegen Bankrotts scheidet hingegen aus (sog. Interessentheorie; …).“ Und dann der BGH 26 weiter: „Die von der Rechtsprechung entwickelte
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Siehe BGH v. 21.3.1988 – II ZR 194/87 NJW 1988, 1789. Siehe BGH v. 17.4.1984 – 1 StR 736/83, StV 1984, 461 auch HK-GS-StGB-StPO/Tag (2008) § 14 Rn. 19; Schmid in: Müller-Gugenberger/Bieneck, § 30 Rn. 44. 21 So KK-OWiG/Rogall § 9 Rn. 48. 22 Siehe MünchKomm-StGB/Radtke § 14 Rn. 118 f.; Lindemann Jura 2005, 305, 312; SSW-StGB/Bosch § 14 Rn. 20; Wegner in: Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, Kap VII 1 Rn. 11; Wittig, Wirtschaftsstrafrecht, § 6 Rn. 99. 23 Siehe OLG Karlsruhe v. 7.3.2006 – 3 Ss 190/05 NJW 2006, 1364, 1365; Hellmann/ Beckemper Wirtschaftsstrafrecht, § 13 Rn. 366; dagegen Arloth NStZ 1990, 570; Bittmann wistra 2010, 8; Link NJW 2009, 2228. 24 Nach BGH v. 10.2.2009 – 3 StR 372/08 NStZ 2009, 437; siehe dazu Bittmann wistra 2010, 8; Brand NStZ 2010, 9; Radtke GmbHR 2009, 875. 25 So BGH v. 10.2.2009 – 3 StR 372/08 NStZ 2009, 437, 438. 26 So BGH v. 10.2.2009 – 3 StR 372/08 NStZ 2009, 437, 438. 20
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Interessentheorie ist in der Literatur auf Ablehnung gestoßen, weil sie für die Insolvenzdelikte nur einen geringen Anwendungsbereich lässt, wenn Schuldner i.S.d. § 283 StGB eine Handelsgesellschaft ist (…). Dieser Kritik ist zuzugeben, dass die in § 283 StGB aufgezählten Bankrotthandlungen ganz überwiegend dem wirtschaftlichen Interesse der Gesellschaft widersprechen und der vom Gesetzgeber intendierte Gläubigerschutz in der wirtschaftlichen Krise insbesondere von Kapitalgesellschaften bei Anwendung der Interessentheorie weitgehend leerläuft. Besonders augenfällig wird dies in Fällen der Ein-Mann-GmbH, in denen der Gesellschafter/Geschäftsführer der Gesellschaft angesichts der drohenden Insolvenz zur Benachteiligung der Gläubiger Vermögen entzieht und auf seine privaten Konten umleitet, nach wirtschaftlicher Betrachtung also aus eigennützigen Motiven handelt. Nach der Interessentheorie ist er nicht des Bankrotts schuldig, obwohl er die Insolvenz gezielt herbeigeführt hat (...).“ „Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass Korruption und Bestechung gängige Geschäftspraxis waren.“27 Es ist vor allem die Ungleichbehandlung von Einzelkaufleuten und Kapitalgesellschaften und deren Organe und Vertreter in § 283 StGB, die eine Anwendung der Interessentheorie bei § 14 StGB bewirkt, die nicht überzeugt. Und bei Kommanditgesellschaften hat die Rechtsprechung die Interessentheorie selbst nicht angewendet, wenn der Komplementär der Verfügung zugestimmt hat. Und wie lässt sich eine subjektive Theorie im Fahrlässigkeitsbereich anwenden? Der Fall von Pierer zeigt das. Wenn er fahrlässig seine Aufsichtspflicht als Vorstand der AG verletzt, macht er das im Interesse der AG? Und so geht der BGH28 – als obiter dictum – einen Schritt weiter: „Der Senat neigt deshalb dazu, von der bisherigen Rechtsprechung des BGH zur Strafbarkeit eines Vertreters wegen Bankrotts abzuweichen und die Abgrenzung zwischen den Insolvenzdelikten der §§ 283 ff. StGB und insbesondere der Untreue nach § 266 StGB, aber auch den Eigentumsdelikten gemäß §§ 242, 246 StGB nicht mehr nach der Interessenformel vorzunehmen, zumal das Abstellen auf das Interesse des Vertretenen und damit auf ein subjektives Element vom Wortlaut des § 14 StGB nicht gefordert wird (…).“ Das ist das Ende der Interessentheorie in § 14 StGB/§ 9 OWiG! Dem neigt jetzt auch der 1. Senat des BGH zu.29 Die Konsequenzen sind noch unklar. Auch hier muss der BGH selbst zu Wort kommen: „Es erscheint vielmehr geboten, für die Zurechnung der Schuldnereigenschaft i.S.d. §§ 283 ff. StGB maßgeblich daran anzuknüpfen, ob der Vertreter i.S.d. 27 So der Direktor der zuständigen Abteilung der SEC zu Daimler (nach Süddeutsche Zeitung v. 3/4/5. April 2010, S. 27). 28 So BGH v. 10.2.2009 – 3 StR 372/08 NStZ 2009, 437, 438. 29 Siehe BGH v. 1.9.2009 – 1 StR 301/09 HRRS 2009 Nr. 818.
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§ 14 StGB im Geschäftskreis des Vertretenen tätig geworden ist. Dies wird bei rechtsgeschäftlichem Handeln zu bejahen, wenn der Vertreter entweder im Namen des Vertretenen auftritt oder letzteren wegen der bestehenden Vertretungsmacht jedenfalls im Außenverhältnis die Rechtswirkungen des Geschäfts unmittelbar treffen (…). Gleiches gilt, wenn sich der Vertretene zur Erfüllung seiner außerstrafrechtlichen, aber gleichwohl strafbewehrten Pflichten (vgl. § 283 I Nr. 5–7 StGB) eines Vertreters bedient (…). Bei faktischem Handeln muss die Zustimmung des Vertretenen – unabhängig von der Rechtsform, in der dieser agiert – ebenfalls dazu führen, dass der Vertreter in seinem Auftrag handelt und ihm die Schuldnerstellung zugerechnet wird (…).“ Die Interessentheorie der Rechtsprechung hatte ein gewisses Maß an Rechtssicherheit für sich. Nach ihrem Ende ist mit dem Kriterium des Geschäftskreises gewiss noch nicht das letzte Wort gesprochen. Die einen verlangen einen objektiven Bezug zu dem übertragenen Aufgabenkreis, dessen Reichweite der Konkretisierung im Einzelfall bedarf und für die der inhaltliche Zuschnitt als Geschäftsführeraufgabe im konkreten Betrieb Anhaltspunkte gibt.30 Andere31 suchen nach einem Maßstab, nach dem das rechtsgeschäftliche oder tatsächliche Verhalten des Organs dem Vertretenen wie eigenes Handeln zugerechnet wird. Andere32 wiederum begründen ein sog. Zurechnungsmodell, auf das sich auch der BGH in seiner aktuellen Entscheidung wiederholt bezieht. Danach führt rechtsgeschäftliches Handeln im Namen des Vertretenen zur Zurechnung. Das gilt ebenso für tatsächliches Handeln, wenn der Vertreter dem zustimmt bzw. wenn darin die Erfüllung einer außerhalb des Strafrechts liegenden Pflicht liegt. Schon bisher und gewiss auch wieder künftig steht eine funktionale Betrachtung.33 Gefordert wird ein funktionaler Zusammenhang der Tätigkeit mit dem Aufgaben- und Pflichtenkreis, der mit der Vertretung wahrgenommen wird. Das Verhalten muss sich aus den organspezifischen Einwirkungsmöglichkeiten ergeben. Bei einem Geschäftsführer einer GmbH oder einem Vorstandsmitglied einer AG muss es um eine Tätigkeit gehen, die ihm gerade seine Organstellung ermöglicht. Bei Rechtsgeschäften ist das nach dieser funktionalen Betrachtung anzunehmen, wenn der Vertreter im Namen des Vertretenen handelt, bei einem tatsächlichen Handeln soll das der Fall sein, wenn dieses seiner Art nach – also nicht notwendig in der besonderen Ausführung – als Wahrnehmung der Angelegenheiten des Vertretenen erscheint. Oder: Die Handlung
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So Fischer StGB, 56. Aufl., 2009, § 14 Rn. 5; SSW-StGB/Bosch, § 14 Rn. 10. Siehe Brand NStZ 2010, 9, 12 f. 32 Siehe MünchKomm-StGB/Radtke § 14 Rn. 62 ff.; Radtke GmbHR 2009, 875. 33 Siehe Arloth NStZ 1990, 570, 574; HK-GS-StGB-StPO/Tag § 14 Rn. 10; Schönke/ Schröder/Lenckner/Perron StGB, 27. Aufl., 2006, § 14 Rn. 26; Schmid in: Müller-Gugenberger/Bieneck, § 30 Rn. 77; Wegner in: Handbuch Wirtschaftsstrafecht, Kap VII Rn. 13. 31
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darf nicht allein bei Gelegenheit der übertragenen Funktion vorgenommen werden. Die nie beendete Diskussion ist wieder hoch aktuell. Die entscheidende Frage ist, ob das Organ, der Vertreter, der Beauftragte als Repräsentant des Vertretenen handelt und nach welchen Maßstäben sich das beurteilt. 2. Verletzung der Aufsichtspflicht § 130 OWiG ist demnach folgendermaßen zu lesen: Wer als Inhaber eines Betriebes oder Unternehmens oder als deren – faktisches – Organ (gemäß § 14 StGB bzw. § 9 OWiG) usw. … Tathandlung ist das Unterlassen der Aufsichtmaßnahmen, die erforderlich sind, um in dem Betrieb oder Unternehmen Zuwiderhandlungen gegen Pflichten zu verhindern, die den Inhaber treffen und deren Verletzung mit Strafe oder Bußgeld bedroht ist. Der Zweck der Vorschrift liegt darin, dass ein Unternehmensträger für ein Fehlverhalten der Mitarbeiter verantwortlich bleibt, wenn er durch Arbeitsteilung und Delegation seine Aufgaben und Pflichten auf diese überträgt. Die betreffenden Ordnungswidrigkeiten, aber auch Straftaten, die es zu vermeiden gilt, sind daher nicht allein Sonderdelikte, die allein den Unternehmensinhaber treffen. Dem Unternehmensinhaber sind nicht allein Sonderdelikte wie § 266a oder § 283 StGB untersagt, auch Allgemeindelikte wie die Korruptionsstraftaten oder § 263 StGB treffen ihn. Eine Zuwiderhandlung gegen Pflichten des Inhabers liegt daher vor, wenn es sich um eine betriebsbezogene Pflicht handelt.34 Die Norm knüpft an ein Unterlassen an. Was ein Unternehmer tun muss, um möglichen Verstößen gegen die für seinen Betrieb geltenden Verbote und Gebote vorzubeugen, hängt vom Einzelfall ab.35 In erster Linie sind für die Bestimmung der Aufsichtsmaßnahmen Art und Größe und Organisation und die Anfälligkeit des Betriebs für Verstöße entscheidend. Maßgebend ist der Grad der Delinquenzgeneigtheit der Tätigkeit. Die Aufsichtspflicht ist gesteigert, wenn es bereits zu einschlägigen Verstößen von Mitarbeitern gekommen ist. Stichworte sind: Organisation mit eindeutigen Zuständigkeiten, sorgfältige Auswahl der Mitarbeiter, deren Unterrichtung und Überwachung, Stichproben, Einrichtung einer inneren Revisionsabteilung. Die Aufsichtspflicht kann sich nicht uferlos auf jede Art der Zuwiderhandlung beziehen. Es geht einschränkend um die Vermeidung betriebs-
34 Siehe OLG Jena v. 2.11.2005 – 1 Ss 242/05 NStZ 2006, 533, 534; OLG Zweibrücken v. 25.6.1998 – 1 Ss 100/08 NStZ-RR 1998, 311, 312; Achenbach in: Handbuch des Wirtschaftsstrafrechts, Kap I 3 Rn. 44; Gürtler in: Göhler, OWiG, §130 Rn. 18; Hellmann/ Beckemper Wirtschaftsstrafrecht, Rn. 962; Schmid in: Müller-Gugenberger/Bieneck, § 30 Rn. 118; Sommer Korruptionsstrafecht (2010), Rn. 431; Többens NStZ 1999, 1, 5. 35 Siehe OLG Jena v. 2.11.2005 – 1 Ss 242/05 NStZ 2006, 533; OLG Zweibrücken v. 25.6.1998 – 1 Ss 100/08 NStZ-RR 1998, 311; Achenbach in: Handbuch des Wirtschaftsstrafrechts, Kap I 3 Rn. 50 ff.
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typischer Gefahren.36 Die Verhältnismäßigkeit und Zumutbarkeit der Anordnungen ist zu berücksichtigen – keine Bespitzelung im Betrieb. Ein gewisses Maß an Restrisiko muss das moderne Wirtschaftsleben tragen. Betriebstypisch für Unternehmen der Bauwirtschaft ist die Gefahr illegaler Beschäftigung und die Gefahr von Submissionsabsprachen, bei Unternehmen des Anlagen- und Maschinenbaus ist sorgfältig auf das Verbot der Bestechung im In- und Ausland zu achten – Siemens, Daimler, MAN, Ferrostaal beweisen das. Corporate Compliance37 ist das Stichwort. „Korruption ist kein Kavaliersdelikt; sie führt direkt in die Strafbarkeit.“38 Allein die vorsätzliche oder fahrlässige Verletzung der Aufsichtspflicht genügt nicht für eine Geldbuße nach § 130 OWiG. Die unterlassene Aufsicht muss sich in einer mit Strafe oder Geldbuße bedrohten Zuwiderhandlung eines Mitarbeiters realisieren. Diese Zuwiderhandlung ist eine objektive Bedingung der Ahndung.39 Vorsatz bzw. Fahrlässigkeit des Inhabers oder Organs müssen sich darauf nicht beziehen. Darin gerade liegt der Unterschied zur zurechenbaren Beteiligung durch Tun oder Unterlassen an dieser Zuwiderhandlung selbst. Jedoch ist eine Art Zurechnungszusammenhang zwischen der unterlassenen Aufsicht und der Zuwiderhandlung notwendig. Die im Einzelfall gehörige Aufsicht muss zur Beseitigung der betriebstypischen Zuwiderhandlungsgefahr geeignet sein. Wenn die Unternehmensleitung die gebotenen Aufsichts- und Kontrollmaßnahmen in ihrem Betrieb installiert, entgeht sie dem Haftungsrisiko nach § 130 OWiG. Für die objektive Bedingung der Zuwiderhandlung des Mitarbeiters genügt das Vorliegen der objektiven und subjektiven Voraussetzungen des Straf- bzw. Bußgeldtatbestandes – die Rede ist vom Tatbild –40 und dessen Rechtswidrigkeit.41 Bei Sonderdelikten muss der konkrete Täter nicht die Täterqualität haben. Der Mitarbeiter selbst muss nicht strafbar oder ahndbar sein. Die von ihm verletzte Pflicht muss nur eine betriebsbezogene Pflicht sein, auf dessen Einhaltung der Betriebsinhaber achten muss. Wenn ein Mitarbeiter in der Lohnstelle die Sozialversicherungsbeiträge nicht abführt, macht er sich nicht nach
36 Siehe Achenbach in: Handbuch des Wirtschaftsstrafrechts, Kap I 3 Rn. 55; Hellmann/ Beckemper Wirtschaftsstrafrecht, Rn. 970; Többens NStZ 1999, 1, 3. 37 Siehe dazu Sommer Korruptionsstrafecht, Rn. 449 ff. 38 Aus der Richtlinie zur Korruptionsbekämpfung der Bundesregierung v. 30.7.2004, Anlage 1: Verhaltenskodex gegen Korruption. 39 Siehe Hellmann/Beckemper Wirtschaftsstrafrecht, Rn. 968; Laue Jura 2010, 339, 342; Schmid in: Müller-Gugenberger/Bieneck, § 30 Rn. 131 ff; Többens NStZ 1999, 1, 4. 40 Bei Achenbach in: Handbuch des Wirtschaftsstrafechts, Kap I 3 Rn. 47; Hellmann/ Beckemper Wirtschaftsstrafrecht, Rn. 969. 41 Siehe Hellmann/Beckemper Wirtschaftsstrafrecht, Rn. 969.
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§ 266a StGB strafbar. Dennoch kann dieses Verhalten für eine Haftung nach § 130 OWiG genügen. Die Höhe der Geldbuße ist nach Abs. 3 von der Rechtsnatur der Zuwiderhandlung abhängig. Bei fahrlässiger Verletzung der Aufsichtspflichten halbiert sich nach § 17 II OWiG der Höchstbetrag der Geldbuße. Das traf zuletzt auf den ehemaligen Siemens-Vorstands- und Aufsichtsratvorsitzenden zu, der im März 2010 zu einem Bußgeld wegen § 130 OWiG verurteilt wurde. Im Siemens-Korruptionsskandal wurde ihm vorgeworfen, es versäumt zu haben, Prüfungen zu veranlassen, als er von dubiosen Zahlungen erfuhr. § 130 OWiG selbst ist eine betriebsbezogene Ordnungswidrigkeit im Sinne des § 30 OWiG und erlaubt daher den Durchgriff auf diese Norm.42 Die Fakten: Der Anlagenbauer Ferrostaal soll zur Erlangung von Aufträgen Bestechungszahlungen im großen Stil geleistet haben.43 Erwähnt werden Unregelmäßigkeiten im Zusammenhang mit angeblichen U-Boot-Lieferungen an Portugal.44 Es wurde zudem der Verdacht laut, dass der Konzern auch für andere Unternehmen das Schmiergeldgeschäft vermittelt hat. Das Unternehmen soll den Verkauf von U-Booten, Küstenbooten und Hochseeschleppern mit Geldzahlungen gefördert haben. So soll angeblich Ferrostaal 2006 für eine andere Firma ein Geschäft über ein Küstenwachboot für die kolumbianische Marine eingefädelt haben. Ferrostaal erhielt dafür eine Provision. Bei einem Auftragsvolumen von 28 Millionen EUR sollen Bestechungsgelder an Entscheidungsträger bei Marine und Ministerium zwischen 625 000 und 840 000 EUR geflossen sein. Übrigens dementiert das kolumbianische Verteidigungsministerium, dass 2006 ein solcher Vertrag zustande gekommen ist. Die Bestechung ausländischer Amtsträger im geschäftlichen Verkehr ist nach dem IntBestG strafbar.
II. Verbandsgeldbuße (§ 30 OWiG) Die Vorschrift ist eine Ausnahme vom Grundsatz, dass allein natürliche Personen Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten begehen können und strafoder ordnungsrechtliche Sanktionen auch allein gegen solche verhängt werden können. Der Zweck der Verbandsgeldbuße ist die Abschöpfung von Vorteilen.45 42 Siehe Gürtler in: Göhler, OWiG, § 130 Rn. 3; Sommer Korruptionsstrafrecht, Rn. 432. 43 Nach einem Bericht des SPIEGEL 13/2010, S. 66. 44 Bericht der Süddeutschen Zeitung v. 17/18.4.2010, S. 28. 45 Siehe KK-OWiG/Rogall § 30 Rn. 18.
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Eine Unternehmensgeldbuße unmittelbar gegen ein Unternehmen erlaubt § 30 OWiG. Adressat sind juristische Personen und die genannten Personenvereinigungen. Das setzt voraus, dass eine in § 30 I Nr. 1 bis 5 OWiG genannte Leitungsperson eine Straftat oder Ordnungswidrigkeit begangen hat und dadurch Pflichten, welche die juristische Person oder die Personenvereinigung betreffen, verletzt worden sind oder diese bereichert worden ist oder bereichert werden sollte. Erste Voraussetzung ist daher eine Straftat oder Ordnungswidrigkeit einer in der Norm erwähnten Leitungsperson. Bei Sonderdelikten muss die Sondereigenschaft nach § 14 StGB/§ 9 OWiG auf die handelnde Person überwälzt werden. Mag auch der Personenkreis in § 30 OWiG insbesondere durch die in Nr. 5 erfassten Personen mit Leitungsverantwortung weiter gefasst sein, fordert § 30 OWiG eine der Leitungsperson zurechenbare Straftat oder Ordnungswidrigkeit, was bei Sonderdelikten über § 14 StGB/ § 9 OWiG läuft. Als Anknüpfungsordnungswidrigkeit genügt auch das Sonderdelikt des § 130 OWiG.46 Das Delikt gilt in der Praxis als die bedeutsamste Anknüpfung für eine Verbandsgeldbuße. Die Eigenschaft des Unternehmensinhabers wird nach § 9 OWiG auf Organe, Vertreter oder Beauftragte überwälzt – so wirken die komplizierten §§ 9, 130 und 30 OWiG zur Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität zusammen.47 Bei Allgemeindelikten wie den Korruptionsstraftaten wirkt sich der erweitere Personenkreis des § 30 OWiG aus. Übrigens: Die Identität des Täters muss für die Verbandsgeldbuße nicht konkret feststehen.48 „Jemand“ als Leitungsperson muss eine Anknüpfungstat begangen haben – das aber muss feststehen.49 Zweitens ist erforderlich, dass durch die Handlung eine unternehmensbezogene Pflicht, die sich aus dem speziellen Wirkungskreis des Verbandes ergibt, verletzt wird,50 oder es um eine Bereicherung geht. Es muss sich um eine Pflicht handeln, die im Zusammenhang mit der Führung eines Betriebes steht. Es gilt – heute – eine Parallele zu § 130 OWiG. Eine betriebsbezogene Pflicht ist etwa die Pflicht des Herstellers einer Ware, die Käufer vor Gefährdungen der erworbenen Ware zu bewahren. Eine betriebsbezogene Pflicht liegt auch in der Verhinderung der Zahlung von Schmiergeldern. Erfasst werden daher sowohl Sonderdelikte als auch Allgemeindelikte, wenn sie eine betriebsbezo46 Siehe Hellmann/Beckemper Wirtschaftsstrafrecht, Rn. 1026; Gürtler in: Göhler, OWiG, § 130 Rn. 3; KK-OWiG/Rogall § 30 Rn. 75; Schmid in: Müller-Gugenberger/Bieneck, § 30 Rn. 111; Többens NStZ 1999, 1, 8. 47 Siehe Többens NStZ 1999, 1, 7. 48 So Hellmann/Beckemper Wirtschaftsstrafrecht, Rn. 1027; Többens NStZ 1999, 1, 7. 49 Siehe BGH v. 8.2.1994 – KRB 25/93 NStZ 1994, 346; OLG Jena v. 2.11.2005 – 1 Ss 242/05 NStZ 2006, 533. 50 Siehe Achenbach in: Handbuch des Wirtschaftsstrafrechts, Kap I 2 Rn. 7; Eidam wistra 2003, 447, 453; Hellmann/Beckemper Wirtschaftsstrafrecht, Rn. 1019; KK-OWiG/ Rogall § 30 Rn. 73 ff.; Laue Jura 2010, 339, 343; Többens NStZ 1999, 1, 6.
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gene Pflichtverletzung beinhalten. Bei Allgemeindelikten ist der unternehmensbezogene Charakter genau zu prüfen. Einer betriebsbezogenen Pflichtverletzung bedarf es bei der Bereicherung des Verbandes in Abs. 1, 2. Alt. nicht – Betrug oder Bestechung.51 Drittens wird verlangt, dass die Leitungsperson als Repräsentant des Unternehmens handelt. Wird von den einen52 verlangt, dass der Täter Verbandsinteressen verfolgen muss, genügt für andere 53 ein funktionaler Zusammenhang zwischen seiner Tat und dem Aufgabengebiet. Das Handeln des Organs usw. muss sich in die Geschäftspolitik des Verbandes einpassen lassen. Die Verfolgung von Verbandsinteressen ergänzt den funktionalen Zusammenhang. Das Handeln im Interesse des Verbandes ist ein wesentlicher Gesichtspunkt für das Handeln als Repräsentant. Der Täter kann dabei ein Handeln für die juristische Person mit der Wahrnehmung eigener Interessen verknüpfen.54 Das ist bei Zahlung von Schmiergeldern der Fall, um sich zu bereichern, aber auch, um dem Unternehmen wirtschaftliche Vorteile zu verschaffen. Bei einem Handeln ausschließlich im eigenen Interesse fehlt es an einer Tätigkeit für den Verband als Grundlage für § 30 OWiG.55 Ein Streit, der aus § 14 StGB bekannt ist – hat der Abschied von der Interessentheorie des BGH 56 in § 14 StGB auch hier Folgen? Eher nicht, da es in § 30 OWiG um Gewinnabschöpfung geht. Und diese ist gegenüber dem Verband nur gerechtfertigt, wenn ihm das Handeln der Organe wie eigenes zugerechnet wird, da es auch in seinem – wirtschaftlichen – Interesse erfolgt. Die Höhe der Geldbuße bestimmt sich nach § 30 II OWiG und ist zuerst abhängig vom Rechtscharakter der Anknüpfungstat. Wenn es um vorsätzliche Straftaten nach den §§ 331 ff. und 299 StGB geht, beträgt die Geldbuße bis zu einer Million EUR. Letztendlich setzt sich aber im Konkurrenzfall gegebenenfalls das Höchstmaß der für die Ordnungswidrigkeit angedrohten Geldbuße durch. § 30 III OWiG verweist auf § 17 IV OWiG. Das gesetzliche Höchstmaß darf überschritten werden, wenn der wirtschaftliche Vorteil, den der Täter aus der Tat gezogen hat, das gesetzliche Höchstmaß überschreitet – das Ziel ist die Gewinnabschöpfung. Das begründet die hohe Geldbuße von rund 395 Millionen EUR gegen Siemens durch die StA München im Dezember 2008.
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Siehe Eidam wistra 2003, 447, 454; KK-OWiG/Rogall § 30 Rn. 79. So Eidam wistra 2003, 447, 454; KK-OWiG/Rogall § 30 Rn. 93 f. 53 So Többens NStZ 1999, 1, 7. 54 So KK-OWiG/Rogall § 30 Rn. 93. 55 Siehe Achenbach in: Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, Kap I 2 Rn. 11; Többens NStZ 1999, 1, 7. 56 Siehe BGH v. 10.2.2009 – 3 StR 372/08 NStZ 2009, 437. 52
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Das Zusammenspiel aus den §§ 9, 130 und 30 OWiG illustriert die Korruptionsaffäre um den Nutzfahrzeug- und Maschinenhersteller MAN. Über viele Jahre hat der Konzern im In- und Ausland Geschäftspartner und Staatsbedienstete bestochen, um seine Produkte abzusetzen. Die Staatsanwaltschaft kam zu dem Ergebnis, dass innerhalb des Unternehmens die Vorkehrungen gegen kriminelle Delikte mangelhaft gewesen sind. Die Verletzung der internen Kontrollpflichten wurde als Ordnungswidrigkeit eingestuft. Im Dezember 2009 wurde vom Landgericht München gegen den Konzern eine Verbandsgeldbuße in Höhe von 150 Millionen EUR verhängt. Die Höhe diente auch der Abschöpfung der durch die Bestechung erzielten Gewinne. Das Beispiel beweist, dass auch Bestechungsdelikte im In- und Ausland als betriebsbezogene Pflichten des Inhabers im Sinne des § 130 OWiG gelten, der wiederum Anknüpfung für § 30 OWiG ist. Die Fakten: Blickt man auf die erwähnten Länder, in die Schmiergelder in den hier erwähnten Skandalen flossen, lohnt stets ein Blick in eine Rangliste von Transparency International. Der Corruption Perceptions Index listet Länder nach dem Grad auf, in dem dort Korruption bei Amtsträgern und Politikern wahrgenommen wird. 2009 liegen hier erwähnte Länder wie Portugal auf Platz 35 und Länder wie Griechenland, Rumänien und Bulgarien gleichrangig auf Platz 71, Kolumbien auf Platz 75, China auf Platz 79, Ruanda auf Platz 89, Nigeria auf Platz 130 und Russland auf Platz 146. Platz 1 übrigens hat Neuseeland inne und den letzten Platz mit Platz 180 hat Somalia. Deutschland liegt auf Platz 14. III. Verhältnis zum Verfall „Ist eine rechtswidrige Tat begangen worden und hat der Täter oder Teilnehmer für die Tat oder aus ihr etwas erlangt“ so ordnet § 73 I StGB den zwingenden Verfall des Erlangten an. Eine lückenlose Gewinnabschöpfung ermöglicht § 73a StGB, wenn er in Fällen der Unmöglichkeit den Verfall des Wertersatzes ermöglicht. Im Vergleich zum StGB bestimmt § 29a OWiG: „Hat der Täter für eine mit Geldbuße bedrohte Handlung oder aus ihr etwas erlangt und wird gegen ihn wegen der Handlung eine Geldbuße nicht festgesetzt, so kann gegen ihn der Verfall eines Geldbetrages bis zu der Höhe angeordnet werden, die dem Wert des Erlangten entspricht.“ Die vorrangige Abschöpfungswirkung im Strafrecht richtet sich auf das erlangte Etwas. Der Verfall im Ordnungswidrigkeitenrecht geht von vornherein auf Geldersatz, worin auch immer das erlangte Etwas besteht. In der Variante des Verfalls von Wertersatz greift man auf legales Vermögen zu. Erste materielle Voraussetzung ist das Vorliegen einer rechtswidrigen Tat bzw. einer mit Geldbuße bedrohten Handlung. Schuld bzw. Verantwortlich-
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keit des Beteiligten sind nicht erforderlich. Der Verfall bildet keine Strafe, sondern wird als kondiktionsähnliche Maßnahme angesehen. In subjektiver Hinsicht ist bei Vorsatztaten Tatbestandsvorsatz erforderlich. Bei gegebener Fahrlässigkeitsstrafbarkeit kommen auch Fahrlässigkeitsdelikte als Anknüpfung in Betracht.57 Im Ordnungswidrigkeitenrecht findet die Gewinnabschöpfung vorrangig durch die Geldbuße statt – § 17 IV OWiG. Es gibt nach dem Wortlaut des § 29a I OWiG kein Nebeneinander von Geldbuße und täterschaftlichem Verfall gegen eine natürliche Person.58 Ohne Feststellung einer rechtswidrigen Tat bzw. einer mit Geldbuße bedrohten Handlung gibt es keinen Verfall. Zweite Voraussetzung ist die Bemakelung des Erlangten für die Tat oder aus der Tat.59 Aus der Tat sind alle Vermögenswerte erlangt, die dem Beteiligten unmittelbar aus der Verwirklichung des Tatbestandes zufließen. Natürlich die Tatbeute. Für die Tat sind Vorteile erlangt, wenn sie dem Beteiligten als Gegenleistung für sein rechtswidriges Handeln zufließen. In dieser Gegenständlichkeit liegt der Unterscheid zur Einziehung nach § 74 StGB. Dieser unterliegen Gegenstände, die durch die Straftat hervorgebracht oder zu ihrer Begehung oder Vorbereitung gebraucht oder bestimmt gewesen sind. Siehe auch § 22 OWiG. Ein wichtiges Einschränkungsmerkmal für den strafrechtlichen als auch für den ordnungswidrigkeitenrechtlichen Verfall ist die Unmittelbarkeit des aus oder für die Tat erlangten wirtschaftlichen Vorteils.60 Verlangt wird ein Bereicherungszusammenhang zwischen der Tat und dem Vorteil. Vorteile für die mit Geldbuße bedrohte Handlung sind Vermögenswerte, die der Täter als Gegenleistung für sein rechtswidriges Handeln erhält und die nicht auf der Tatbestandsverwirklichung selbst beruhen – Lohn für die Tatbegehung. Vorteile aus der Handlung sind Vermögenswerte, die dem Täter unmittelbar aus der Verwirklichung des Tatbestandes selbst in irgendeiner Phase des Tatablaufs zufließen. Als ungeschriebenes Merkmal des Verfalls gilt die Unmittelbarkeit. Das Erlangte muss unmittelbar aus der Tat erlangt sein. Zwischen Tat und Vorteil muss eine unmittelbare Kausalbeziehung bestehen und die Abschöpfung muss spiegelbildlich dem Vermögensvorteil entsprechen.61 57 So Kempf/Schilling Vermögensabschöpfung (2007) Rn. 30; Schönke/Schröder/Eser § 73 Rn. 4; Wittig, Wirtschaftsstrafrecht, § 9 Rn. 10; auch ein Versuch genügt (BGH v. 29.6.2010 – 1 StR 245/09. 58 Siehe KK-OWiG/Mitsch § 29a Rn. 8 ff. 59 Siehe dazu BGH v. 21.10.2008 – 4 StR 437/08 NStZ 2010, 85; BGH v. 2.12.2005 – 5 StR 119/05 NStZ 2006, 210, 211; AG Stuttgart v. 3.11.2005 – 27 Gs 1368/05 NStZ 2006, 246, 247. 60 So BGH v. 2.12.2005 – 5 StR 119/05 NStZ 2006, 210, 211; BGH v. 21.3.2002 – 5 StR 138/01 NStZ 2002, 477; OLG Köln v. 25.9.2007 – 2 Ws 469/07, StraFo 2008, 35; AG Stuttgart v. 3.11.2005 – 27 Gs 1368/05 NStZ 2006, 246, 247; Kempf/Schilling Vermögensabschöpfung, Rn. 66 ff.; KK-OWiG/Mitsch § 29a Rn. 31. 61 Siehe BGH v. 2.12.2005 – 5 StR 119/05 NStZ 2006, 210, 212; AG Stuttgart v. 3.11. 2005 – 27 Gs 1368/05 NStZ 2006, 246.
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Bei einer ungenehmigten Maklertätigkeit sind die Gelder aus den Immobiliengeschäften nicht unmittelbar aus dem Verstoß gegen die Genehmigungspflicht nach § 34c GewO erlangt. Zwischen der nicht genehmigten Maklertätigkeit und dem Abschluss und der Durchführung einzelner Verträge ist zu unterscheiden. Nur letztere führen zu einem Geldfluss, nicht bereits die auch oft erfolglose – ungenehmigte – Maklertätigkeit. Allein die Möglichkeit, im Rahmen einer nicht genehmigten Geschäftstätigkeit den Abschluss von Maklerverträgen herbeizuführen, schafft keinen geldwerten Vermögensvorteil.62 Eine Wertschöpfung findet erst mit Abschluss eines Vertrages und mit dessen Abwicklung statt – diese Vermögensvorteile stehen jedoch nur in einem mittelbaren Zusammenhang mit der „mit Geldbuße bedrohten Handlung“ und unterlegen nicht dem Verfall. Eine vergleichbare Konstellation liegt bei der Bestechung des Leiters eines Bauamtes vor, um eine Wert steigernde Änderung eines Bebauungsplans zu erwirken.63 Erlangt wird durch die Bestechungshandlung nicht unmittelbar der gesamte spätere Verkaufspreis aus dem Grundstücksgeschäft, sondern das unmittelbar Erlangte ist die Gewinnchance auf den Spekulationsgewinn. Zu beachten ist heute das Bruttoprinzip – „etwas erlangt“. Die Bestimmung des erlangten Vorteils ist eine vorrangige und eigenständige Frage.64 Das Bruttoprinzip dient erst der Bestimmung des Umfangs des erlangten Vorteils. Der „Kölner Müllskandal“65: Die AVG GmbH war ein privatrechtlich organisiertes Unternehmen, an dem neben der Stadt Köln unter anderem auch Private beteiligt waren. Gegenstand des Unternehmens waren Abfallentsorgungsaufgaben. Im Rahmen eines Baus einer Müllverbrennungsanlage kam es zur Leistung von Bestechungsgeldern an den Geschäftsführer der AVG bei der Auftragsvergabe. Der Auftrag zu Errichtung der Anlage ging auf diesem Weg an die LCS-GmbH, die Verfallsbeteiligte, deren Geschäftsführer die Bestechungsgelder vereinbart hatte. In Frage steht, ob der gesamte Werklohn in Höhe von 792 Millionen damaliger DM das durch die Bestechung erlangte Etwas ist, das dem Verfall nach § 73 bzw. 73a StGB unterliegt. Die Entscheidung des BGH ist nicht allein für den Amtsträgerbegriff und die Untreue wichtig, sondern auch für den Verfall bei Korruptionsstraftaten (§§ 299, 331 ff StGB) und enthält eine bedeutsame Einschränkung:66 „Durch Bestechung (im geschäftlichen Verkehr) erlangt i.S.v. § 73 StGB ist bei der korruptiven Manipulation einer Auftragsvergabe nicht der vereinbarte Preis,
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Dazu AG Stuttgart v. 3.11.2005 – 27 Gs 1368/05 NStZ 2006, 246. So BGH v. 21.3.2002 – 5 StR 138/01 NStZ 2002, 477. 64 Siehe BGH v. 2.12.2005 – 5 StR 119/05 NStZ 2006, 210, 212; BGH v. 21.3.2002 – 5 StR 138/01 NStZ 2002, 477; AG Stuttgart v. 3.11.2005 – 27 Gs 1368/05 NStZ 2006, 246, 248. 65 Siehe BGH v. 2.12.2005 – 5 StR 119/05 BGHSt 50, 299 = NStZ 2006, 210. 66 BGH v. 2.12.2005 – 5 StR 119/05 BGHSt 50, 299, 309 = NStZ 2006, 210, 212. 63
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sondern der gesamte wirtschaftliche Wert des Auftrags im Zeitpunkt des Vertragsschlusses; dieser umfasst den kalkulierten Gewinn und etwaige weitere, gegebenenfalls nach § 73b StGB zu schätzende wirtschaftliche Vorteile.“ Unmittelbar aus der Bestechung erlangt ein Werkunternehmer im Rahmen der korruptiven Auftragsvergabe die Auftragserteilung. Diese steht im Bereicherungszusammenhang. Unmittelbar führt die rechtswidrige Tat nur zu dem schuldrechtlichen Vertragsschluss. Die Vorteile aus der Ausführung werden nach Ansicht der BGH nicht mehr unmittelbar aus der Tat erlangt. Das Gericht stellt klar, dass lediglich die Art und Weise, wie der Auftrag erlangt wird, strafrechtlich bemakelt ist, nicht dagegen die Ausführung selbst. Das ist eine bedeutsame Einschränkung des Verfallsgegenstands. Dem Verfall unterliegt nicht der Gesamterlös. Der BGH sieht den wirtschaftlichen Wert des Auftrags folgerichtig vorrangig im zu erwartenden Gewinn. Ein Risiko liegt jedoch darin, dass der BGH67 im Einzelfall auch weitere wirtschaftliche Vorteile, die durch den Vertragsschluss als solchen erlangt sind, annimmt. Dazu will er mittelbare Vorteile wie etwa die konkrete Chance auf Abschluss von Wartungsaufträgen für eine errichtete Anlage oder von sonstigen Folgegeschäften durch Aufbau einer Geschäftsbeziehung, die Chance zur Erlangung weiterer Aufträge für vergleichbare Anlagen, die Steigerung des wirtschaftlich werthaltigen „Goodwill“ eines Unternehmens durch Errichtung eines Prestigeobjekts für einen renommierten Auftraggeber, die Vermeidung von Verlusten durch Auslastung bestehender Kapazitäten oder die Verbesserung der Marktposition durch Ausschalten von Mitbewerbern zählen. Verräterisch ist die Eingangsformulierung „mittelbare Vorteile“. Die angesprochenen Aspekte stehen nicht im unmittelbaren spiegelbildlichen Zusammenhang mit der Tat. Als mittelbar erlangt ist jeder Zufluss zu betrachten, der erst aus einer neuen Aktion nach Abschluss der Tat mit Hilfe des unmittelbar aus der Tat gewonnenen Gegenstands ausgelöst worden ist.68 Das betrifft die vom BGH erwähnten mittelbaren Vorteile. Sie bedürfen weiterer Bewertungen und Verhandlungen und Verträge oder entbehren einer wirtschaftlichen Bewertung. Die Fakten:69 Die italienische Firma Enelpower, ein Tochterunternehmen von ENEL, schrieb 1999 einen Auftrag zur Lieferung von Gasturbinen europaweit aus. Der Auftragswert lag bei etwa 132,5 Millionen EUR. Mitarbeiter von ENEL traten an Siemens heran, um die Auftragsvergabe an Siemens zu beeinflussen. Das vereinbarte Schmiergeld lag bei 2,65 Millionen EUR. Es wurde aus ver67 BGH v. 2.12.2005 – 5 StR 119/05 BGHSt 50, 299, 311 = NStZ 2006, 210, 213; siehe dazu und insgesamt Kempf/Schilling Vermögensabschöpfung, Rn. 68 (53 ff.). 68 So KK-OWiG/Mitsch § 29a Rn. 31. 69 Nach BGH v. 29.8.2008 – 2 StR 587/07 NStZ 2009, 95.
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deckten Kassen gezahlt. Daran war unter anderem ein sog. SiemensBereichsvorstand des Geschäftsbereichs „Power Generation“ beteiligt. Ausdrücklich wird betont, dass dem Zentralvorstand –Vorstandschef war zu dieser Zeit von Pierer – die Existenz des etablierten Systems zur Leistung von Bestechungsgeldern nicht bekannt war. Bei einer weiteren Ausschreibung im Jahr 2000 im Wert von 205,6 Millionen EUR wurden Bestechungsgelder von etwa 3,47 Millionen EUR gezahlt. Übrigens: Italien steht auf dem PCI auf einem peinlichen Platz 63. Von besonderer Bedeutung im Wirtschaftsstrafrecht ist der Drittempfängerverfall nach § 73 III StGB bzw. § 29a II OWiG. Im AVG-Fall leistete der Geschäftsführer der LCS-GmbH die Bestechungsgelder, damit die LCS den Auftrag als Werkunternehmer erhält. Sie ist Verfallsbeteiligte. Erneut ist eine Besonderheit im Ordnungswidrigkeitenrecht zu beachten. § 29a II OWiG ermöglicht eine personelle Erweiterung des Verfalls auf einen Drittempfänger. Grundsätzlich ist jede Art von Handeln für einen anderen erfasst. Die Verbandsgeldbuße nach § 30 OWiG ist die vorrangige Gewinnabschöpfungsmethode (§ 30 V OWiG). Zu beachten ist aber der eingeschränkte Personenkreis in § 30 OWiG – außerdem muss im Gegensatz zum Verfall die für die Verbandsgeldbuße vom Leitungspersonal begangene Handlung auch vorwerfbar sein, während das beim Verfall nach § 29a OWiG nicht zwingend ist. „Korruption fängt schon bei einer kleinen Gefälligkeit an.“70 Das Bruttoprinzip gilt nach der Rechtsprechung auch beim Verfall gegen Drittempfänger. Auch in diesem Fall steht der Präventionszweck im Vordergrund und hat der Verfall keine Straffunktion. Der BGH:71 „Dieser Normzweck gilt auch für die Anordnung des Verfalls gegen den Drittbegünstigten nach § 73 III StGB, insbesondere dann, wenn dieser Nutznießer der rechtswidrigen Tat ist … Soweit der Täter oder Teilnehmer für den Dritten handelt, soll er das für den Dritten nicht risikolos tun können. Die den Dritten treffende Folge, dass auch seine Aufwendungen nutzlos waren, kann und soll bewirken, dass der Dritte – namentlich ein hierarchisch organisiertes Unternehmen – Kontrollmechanismen zur Verhinderung solcher Straftaten errichtet und auf deren Einhaltung achtet. Darin liegt der Präventionszweck des Verfalls gegen den Drittbegünstigten. Würde bei ihm lediglich der aus der Straftat gezogene Gewinn abgeschöpft, so würde sich die bewusst aus finanziellen Interessen begangene Tat im Ergebnis als wirtschaftlich risikolos auswirken. Ein derart risikolos zu erzielender Gewinn müsste geradezu als
70 Aus der Richtlinie zur Korruptionsbekämpfung der Bundesregierung v. 30.7.2004, Anlage 1. 71 So BGH v. 21.8.2002 – 1 StR 115/02 BGHSt 47, 369 = wistra 2002, 422.
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Tatanreiz für die Straftat wirken …“ Diese ausdehnende Anwendung des Bruttoprinzips in den Fällen des Drittverfalls wird zum Teil heftig kritisiert. In angeblich verfassungskonformer Auslegung des § 73 III StGB wird ein organschaftliches bzw. wenigstens organschaftähnliches Zurechnungsverhältnis zwischen Täter und begünstigter Personenvereinigung verlangt, um dem Schuldprinzip bei dem angeblich strafähnlichen Bruttoprinzip zu genügen.72 Daran fehlt es bei Mitarbeitern ohne Leitungsfunktion. Ist der Drittempfänger eine natürliche Person, ist nach dieser Ansicht regelmäßig nur die Nettogewinnabschöpfung zulässig, da ohne eigenes Verschulden eine strafähnliche Sanktion nicht verhängt werden kann. Dahinter steht die – strafrechtsdogmatische, gar strafrechtsphilosophische – Frage, ob der Verfall in seinem Zugriff über die Nettogewinnabschöpfung hinaus Strafcharakter hat. Dritter kann jede natürliche und jede juristische Person oder Personenvereinigung sein. BGH, Urt. v. 19. Oktober 1999 – 5 StR 336/99:73 „1. Bei der Anordnung des Verfalls gegen den Drittbegünstigten sind Vertretungsfälle im weiteren Sinn, Verschiebungsfälle und Erfüllungsfälle zu unterscheiden. 2. Hat der Dritte die Tatbeute (oder deren Wertersatz) aufgrund eines mit dem Täter oder Teilnehmer geschlossenen entgeltlichen Rechtsgeschäfts erlangt, das weder für sich noch im Zusammenhang mit der rechtswidrigen Tat bemakelt (Erfüllungsfall), so hat der Dritte den Vorteil nicht durch die Tat erlangt.“ Diese beiden Leitsätze nennen die Fallgruppen des Drittempfangs.74 Ein Vertretungsfall liegt vor, wenn der Täter für den Drittbegünstigten nicht nur als dessen Organ oder Vertreter nach § 14 StGB/§ 9 OWiG handelt. Auch das Handeln sonstiger Angehöriger der begünstigten kriminellen oder nichtkriminellen Organisation wird erfasst, auch wenn deren Organe selbst gutgläubig waren. Der Handelnde steht im Einflussbereich des Drittbegünstigten.75 Das begründet den Bereicherungszusammenhang, der den Verfall legitimiert. Diese Fallgruppe ist sachgerecht, da die verfallsbegründende Tat im Interesse des Vorteilsempfängers und von einer Person in dessen Einflussbereich begangen wird. Im Verschiebungsfall lässt der Täter die Tatvorteile dem Dritten unentgeltlich oder auf Grund eines bemakelten Rechtsgeschäfts zukommen, um sie dem Zugriff der Gläubiger zu entziehen oder um die Tat zu verschleiern. In dieser Fallgruppe muss der Täter nicht im Einflussbereich des Dritten stehen. Der Dritte kann sogar gutgläubig sein. Zwischengeschal72 Siehe Achenbach in: Handbuch Wirtschaftsstrafecht, Kap I 2 Rn. 32; Hellmann/ Beckemper Wirtschaftsstrafecht, Rn. 994 f.; Schönke/Schröder/Eser § 73 Rn. 37; für § 29a II OWiG siehe KK-OWiG/Mitsch § 29e Rn. 45. 73 BGHSt. 45, 325 = NJW 2000, 297. 74 Siehe auch HK-GS-StGB/Hölscher § 73 Rn. 10; anschaulich Kempf/Schilling Vermögensabschöpfung, Rn. 100 ff.; Podolsky in: Wabnitz/Janovsky, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 3. Aufl., 2007, 26. Kap. Rn. 31 ff.; Schmid/Winter NStZ 2002, 8, 12; kritisch Schönke/ Schröder/Eser § 73 Rn. 37a. 75 Das ist das entscheidende Kriterium für Schönke/Schröder/Eser § 73 Rn. 37.
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tete Rechtsgeschäfte sollen nicht entgegenstehen. Im Erfüllungsfall wendet der Beteiligte dem gutgläubigen Dritten die Tatvorteile zu, um eine nicht bemakelte entgeltliche Forderung zu erfüllen, deren Entstehung und Inhalt in keinem Zusammenhang mit der Tat steht. Praxisrelevant ist die personelle Erweiterung naturgemäß im Bereich der Wirtschafts- und Verbandskriminalität. Von großer praktischer Bedeutung ist, dass neben dem Handeln als Organ, Vertreter oder Beauftragtem i.S.v. § 14 StGB/§ 9 OWiG auch das Handeln sonstiger Angehöriger einer – betrieblichen – Organisation im Vertretungsfall erfasst wird. Unmittelbarkeit des Vorteils bedeutet in diesen Fällen nicht, dass der Vorteil durch ein und dieselbe Handlung erlangt wird. Der deliktische Bereicherungszusammenhang besteht in der Zugehörigkeit zur Organisation.76 Der gegebenenfalls auch gutgläubige Dritte muss sich die bei ihm zu Unrecht eingetretene Bereicherung zurechnen lassen. Der BGH nennt als Beispiel den Buchhalter, der eine Steuerhinterziehung zugunsten des Betriebsinhabers ohne dessen Wissen begeht. Oder: Der Geschäftsführer einer GmbH erlangt durch Bestechung einen Auftrag für die GmbH. Stets ist auf die Besonderheiten des Falls zu achten: Im Fall „Siemens“ haben Mitarbeiter aus sog. schwarzen Kassen Schmiergeldzahlungen ins Ausland geleistet. Nach dem BGH 77 haben diese Mitarbeiter sich wegen Untreue nach § 266 StGB zu Nachteil von Siemens strafbar gemacht, aus rechtlichen Gründen scheiterte eine Strafbarkeit nach den §§ 299, 331ff. StGB mit dem EUBestG und dem IntBestG. Bedenken ruft vor allem das restriktive Verständnis des BGH zu § 1 Nr. 2a IntBestG hervor, wenn es um die Bestimmung des Amtsträgers eines ausländischen Staates nach dieser Vorschrift geht. Weder soll das Recht des Staates, in dem der Betreffende tätig ist, entscheidend sein78 – also Italien, dessen Justiz die bestochenen Mitarbeiter von ENEL wegen der indirekten Beherrschung durch den italienischen Staat als solche ansah. Noch soll der Begriff unter der entsprechenden Anwendung der Merkmale des deutschen Amtsträgerbegriffs in § 11 I Nr. 2 StGB79 zu bestimmen sein. Der BGH entscheidet sich für eine autonome Bestimmung 80 auf der Grundlage des Art. 1 IV des der Vorschrift zugrunde liegenden OECD-Übereinkommens: „eine Person, die in einem anderen Staat durch Ernennung oder Wahl ein Amt im Bereich der … Verwaltung … innehat.“ Diese enge Begrifflichkeit steht im Widerspruch zu dem Gedanken, dass die
76 Siehe BGH v. 19.10.1999 – 5 StR 336/99 BGHSt 45, 235 = NJW 2000, 297; auch Schmid/Winter NStZ 2002, 8, 12; Schönke/Schröder/Eser § 73 Rn. 37a. 77 BGH v. 29.8.2008 – 2 StR 587/07 NStZ 2009, 95. 78 So Sommer Korruptionsstrafrecht (2010), Rn. 328. 79 So MünchKomm-StGB/Korte § 334 Rn. 7; siehe auch J. Kretschmer StraFo 2008, 496, 500. 80 So dann auch Satzger NStZ 2009, 297, 304; Schuster/Rübenstahl wistra 2008, 201, 203.
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Joachim Kretschmer
Amtsträgereigenschaft unbeschadet der zur Aufgabenerfüllung gewählten Organisationsform zu bestimmen ist. Und daher haben die betreffenden Siemensmitarbeiter nicht für einen anderen, sondern gegen einen anderen gehandelt, so dass § 73 III StGB nicht eingriff. Es fehlte in diesem Fall bereits an einem aus einer rechtswidrigen Tat erlangten „Etwas“, da aus rechtlichen Gründen keine Bestechungsdelikte vorlagen. Es zeigen sich im Siemens-Fall deutlich die Lücken des Verfalls als Mittel der Gewinnabschöpfung – ohne Anknüpfungsdelikt kein Verfall und keine Gewinnabschöpfung.
IV. Fazit Individuelle Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten dienen als Anknüpfung für Sanktionen gegen eine juristische Person oder Personenvereinigung. Bedeutsam ist der Auffangtatbestand des § 130 OWiG für den häufigen Fall, dass dem Leitungspersonal Bestechungshandlungen untergeordneter Mitarbeiter individuell nicht zugerechnet werden können. Über § 130 OWiG gelangt man zu § 30 OWiG, der Verbandsgeldbuße als Mittel der Gewinnabschöpfung. Die hohen Geldbußen gegen Siemens und MAN beweisen das. Die andere Möglichkeit ist der Verfall als Sanktion. Hier sind die Hürden höher, da sie zumindest eine rechtswidrige Tat oder eine mit Geldbuße bedrohte Handlung voraussetzen, durch die etwas erlangt ist. Die erste einschlägige Entscheidung im Siemens-Skandal – ENEL – zeigt die hohen Hürden. Mag eine Auslandsbestechung auch heute nach dem EUBestG und dem IntBestG strafbar sein, stecken in diesen Normen doch erhebliche restriktive Elemente, die den Verfall als Gewinnabschöpfungsmaßnahme in seiner Effektivität schmälern. „Die Zuständigkeiten der Europäischen Union im Bereich der Strafrechtspflege müssen zudem in einer Weise ausgelegt werden, die den Anforderungen des Schuldprinzips genügt. Das Strafrecht beruht auf dem Schuldgrundsatz. Dieser setzt die Eigenverantwortung des Menschen voraus, der sein Handeln selbst bestimmt und sich kraft seiner Willensfreiheit zwischen Recht und Unrecht entscheiden kann. Dem Schutz der Menschenwürde liegt die Vorstellung vom Menschen als einem geistig-sittlichen Wesen zugrunde, das darauf angelegt ist, in Freiheit sich selbst zu bestimmen und sich zu entfalten (…). Auf dem Gebiet der Strafrechtspflege bestimmt Art. 1 Abs. 1 GG die Auffassung vom Wesen der Strafe und das Verhältnis von Schuld und Sühne (…). Der Grundsatz, dass jede Strafe Schuld voraussetzt, hat seine Grundlage damit in der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG (…). Das Schuldprinzip gehört zu der wegen Art. 79 Abs. 3 GG unverfügbaren Verfassungsidentität, die auch vor Eingriffen durch die supranational ausgeübte öffentliche Gewalt geschützt ist.“
Die Bekämpfung von Korruption mit dem OWiG
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Dieser Abschnitt stammt aus dem Lissabon-Urteil des BVerfG.81 Das ist ein eindeutiges „Nein“ zu jeglicher Form eines Verbandsstrafrechts in Deutschland. Europäische Vorgaben nach den EU-Strafrechtskompetenzen82 dürfen Deutschland nicht die strafrechtliche Sanktionierung juristischer Personen vorschrieben. Das Mittel, solches zu verhindern, ist die sog. Notbremse in Art. 83 III AEUV. Ein Mitgliedstaat kann aus einer europäischen Harmonisierung aussteigen, wenn „grundlegende Aspekte seiner Strafrechtsordnung“ berührt sind. Das dient dem Schutz nationaler strafrechtlicher Grundprinzipien als Element der zentralen Lebensbereiche, die den einzelnen Mitgliedstaaten vorbehalten sind. Echte Kriminalstrafen gegen Verbände erlaubt das deutsche Strafrecht nicht. Das ist in anderen europäischen – so etwa auch in Italien –83 und sonstigen Staaten teilweise anders.84 Von Seiten der EU wird wiederholt die Verhängung von wirksamen, angemessenen und effektiven Sanktionen gegen juristische Personen gefordert. Siehe etwa den „Rahmenbeschluss zur Bekämpfung der Bestechung im privaten Bereich“ v. 22.7.2003 in seinen Art. 5 und 6.85 Das BVerfG macht im Lissabon-Urteil deutlich, was es davon hält – nichts.
81 82 83 84 85
Siehe Urteil v. 30.6.2009 – 2 BvE 2/08, Rn. 364. Siehe dazu Meyer NStZ 2009, 657; Zimmermann Jura 2009, 844. Siehe Schuster/Rübenstahl wistra 2008, 201, 202 in Fußnote 16. Siehe Dannecker GA 2001, 101; MünchKomm-StGB/Radtke § 14 Rn. 125 ff. ABlEG 2003 Nr. L 192, S. 54.
Einordnungs- und Anwendungsprobleme bei der Nachstellung Kristian Kühl I. Die Einordnung der Nachstellung in das System des Strafrechts Das gesellschaftliche Phänomen des „Stalking“ ist anscheinend ein weltweites. Dementsprechend gibt es auch weltweit Strafvorschriften, oft gemischt mit zivilrechtlich sanktionierten Vorschriften, die seiner „Bekämpfung“ dienen sollen. Das gesellschaftliche Phänomen ist schon seit langem, vor allem durch Untersuchungen in Großbritannien und den USA, empirisch untersucht. Als Definition des Stalking hat sich dabei herauskristallisiert, dass einer Person fortdauernd nachgestellt, aufgelauert oder auf sonstige Weise Kontakt mit ihr gesucht wird.1 Obwohl diese Definition offen und nicht ganz exakt ist, gibt sie doch das Phänomen anschaulich wieder. Ein so verstandenes Stalking hätte sich als Überschrift für den neuen § 238 StGB angeboten. In Japan ist man so verfahren und hat die entsprechende Strafvorschrift trotz japanischer Schrift im Text mit dem englischen Begriff „Stalking“ überschrieben, weil ua eine Übersetzung ins Japanische nicht zufriedenstellend gelungen war.2 Ein entsprechender Vorschlag des Autors dieses Beitrags in der Anhörung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestags ist nicht aufgegriffen worden. Das ist wohl eher mit der an sich verständlichen Abneigung gegen Anglizismen in deutschen Gesetzen als mit der Überlegenheit der gewählten Überschrift – Nachstellung – zu erklären, die aber immerhin noch besser ist als die zuvor auch diskutierte der schweren „Belästigung“, deren Strafwürdigkeit kaum zu vermitteln gewesen wäre. Doch wichtiger als die Überschrift, die ja ohnehin nicht zum Gesetz gehört, ist für die Rechtfertigung/Legitimität einer Strafvorschrift ihr Inhalt. Bevor auf diesen im Hinblick darauf eingegangen werden kann, ob er einen (strafwürdigen) Unrechtsgehalt erkennen lässt, ist zunächst der Standort der neuen Strafvorschrift im deutschen Strafrecht zu bestimmen. Man rechnet den Stalking-Paragraphen zu den Strafvorschriften, die das allgemeine Per-
1
Meyer ZStW 115 (2003), 249, 251. Löhr Zur Notwendigkeit eines spezifischen Anti-Stalking-Straftatbestandes in Deutschland, 2007, S. 265. 2
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sönlichkeitsrecht schützen.3 Diese Deliktsgruppe ist im deutschen Strafgesetzbuch nicht in einem eigenen Abschnitt des Besonderen Teils geregelt wie etwa die Tötungsdelikte oder die Körperverletzungsdelikte. Die persönlichkeitsrechtsschützenden Delikte sind über mehrere Abschnitte „verstreut“. Sie finden sich im Abschnitt über die Beleidigung und den Abschnitten, die den persönlichen Lebensbereich und die persönliche Freiheit schützen. Ein System lässt sich daraus nicht ableiten. Über ein solches System verfügt auch die deutsche Strafrechtswissenschaft nicht. Das liegt hauptsächlich daran, dass schon der eine Systembildung erst ermöglichende Begriff des allgemeinen Persönlichkeitsrechts – so einer der besten Kenner dieser Materie: Bernd Schünemann – eine „diffuse normative Struktur“ aufweist.4 Jedenfalls ist das Persönlichkeitsrecht kein so eindeutiger Begriff wie das Leben und die körperliche Unversehrtheit. Fehlt es aber an einem klaren Begriff des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und an einem darauf aufgebauten Schutzsystem, so bleibt dem Gesetzgeber nichts anderes übrig, als den strafrechtlichen Schutz des Persönlichkeitsrechts punktuell zu ergänzen. Das ist durch das 40. Strafrechtsänderungsgesetz vom 22.3.2007 für das Stalking geschehen. Davor ist zuletzt durch das 36. Strafrechtsänderungsgesetz vom 30.7.2004 ein neuer § 201a StGB geschaffen worden, der die Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch unbefugte Bildaufnahmen unter Strafe stellt – der auch so genannte „Paparazzi-Paragraph“. Seine Einfügung in die persönlichkeitsrechtsschützenden Strafvorschriften war lang überfällig, denn die Verletzung der Vertraulichkeit des Wortes war bereits seit 1967 in § 201 StGB für strafbar erklärt worden. Es war also eine Lücke zu schließen, was dann besonders dringlich wurde, als sich die Bildaufnahmetechniken rasant weiterentwickelten.5 Für § 238 StGB ist dagegen zu fragen, ob er nicht deshalb überflüssig ist, weil das Stalking auch schon bisher von zahlreichen Vorschriften des deutschen Strafgesetzbuches erfasst war. Die Lage ist hier anders als bei § 201a StGB, denn dort war eine Lücke im Strafgesetzbuch leicht auszumachen; diese wurde auch nicht durch § 33 KUG geschlossen, denn diese Vorschrift erfasst erst die Verbreitung und öffentliche Schaustellung eines Bildnisses, nicht aber die unbefugte Bildaufnahme. Bei der Nachstellung des § 238 StGB ist das nicht so klar, vielmehr besteht weitgehende Einigkeit dahingehend, dass vor allem Formen des so genannten „harten Stalking“6 auch schon bisher unter verschiedene Tatbestände des deutschen Strafgesetzbuches fielen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien genannt: Beleidigung (§ 185 StGB),
3 4 5 6
Kraenz Der strafrechtliche Schutz des Persönlichkeitsrechts, 2008, S. 253 ff. Schünemann LK-StGB, 12. Aufl., 2010, III. vor § 201. BT-Dr 15/1891, S. 6; Flechsig ZUM 2004, 605; Bosch JZ 2005, 377. Kinzig ZRP 2006, 255, 256; Meyer (Fn 1), 249, 259; Eiden ZIS 2008, 123, 125.
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Körperverletzung (§§ 223 ff. StGB), Nötigung (§ 240 StGB), Freiheitsberaubung (§ 239 StGB) und Hausfriedensbruch (§ 123 StGB). In dieser Aufzählung fehlt der oft in solchen Aufzählungen auch genannte § 201a StGB, nicht weil er nicht in diese Liste passen würde, sondern weil er gesondert angesprochen werden soll. Aus der Sicht des Stalking sind die unbefugten Bildaufnahmen eher eine „Randerscheinung“, die voyeuristisch veranlagte Täter oder „Paparazzi“ erfasst, aber auch „erotomanische“ Täter;7 für § 201a Abs. 3 StGB ist an den „rejected Stalker“ zu denken, der sich nach Beendigung der Beziehung durch die Zugänglichmachung befugt hergestellter Nacktfotos rächen will.8 Damit deckt § 201a StGB das Phänomen Stalking nicht vollständig ab, sondern nur bei Bildaufnahmen im höchstpersönlichen Rückzugsbereich (§ 201a Abs. 1 StGB) und deren spätere unbefugte Zugänglichmachung an Dritte (§ 201a Abs. 3 StGB). Kein Ersatz für § 238 StGB ist auch der ihm durchaus nahestehende § 241 StGB, der aber „nur“ die Bedrohung mit einem Verbrechen erfasst, nicht auch sonstige Bedrohungen (wie jetzt § 238 Abs. 1 Nr. 4 StGB). Auch die Körperverletzungsdelikte erfassen das Stalking nur dann, wenn es zu körperlichen Schäden beim Opfer kommt, rein seelische Beeinträchtigungen werden weder von der Tatbestandsalternative der „körperlichen Misshandlung“ noch von der Alternative der „Gesundheitsschädigung“ erfasst. Dies wurde auch vom Bundesverfassungsgericht in einer Entscheidung, die kurz vor Einführung des § 238 StGB erging, so gesehen. Das Gericht bestätigte die Entscheidungen von Strafgerichten (AG, LG, OLG), die ua eine fahrlässige Körperverletzung nach § 229 StGB in einem Fall angenommen hatten, der förmlich nach Stalking „riecht“. Der Täter bestellte bei 35 Firmen unter dem Namen des Opfers Waren und Dienstleistungen zur Lieferung an deren Adresse; das Opfer erhielt wiederholt Lieferungen von Apotheken, Pizzadiensten und Getränkemärkten; mehrmals sollte Heizöl geliefert werden, Kies wurde angeliefert. Das Gesamtverhalten würde heute unter § 238 Abs. 1 Nr. 3 StGB fallen, den es aber – wie gesagt – bei der hier interessierenden strafgerichtlichen und verfassungsgerichtlichen Entscheidung noch nicht gab. Die Strafbarkeit wegen Körperverletzung begründete das Bundesverfassungsgericht damit, dass „der Geschädigte nicht nur in seinem seelischen, sondern auch in seinem körperlichen Wohlbefinden beeinträchtigt“ worden war: „Mit der Verschlechterung des Gesundheitszustands des Geschädigten über einen längeren Zeitraum, die einer medikamentösen Behandlung bedurfte, ist die Steigerung eines pathologischen Zustands festgestellt, den die Tatgerichte in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise als Körperverletzung würdigen konnten“.9 Im vorliegenden Zusammenhang 7 8 9
Müller in: Krüger (Hrsg.), Stalking als Straftatbestand, 2007, S. 58. Müller (Fn 7), S. 59. BVerfG EuGRZ 2006, 603 mit Bespr. Jahn JuS 2007, 384.
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bedeutet dies, dass auch die Körperverletzungsdelikte nicht das Phänomen Stalking abdecken, vor allem nicht, wenn es um schwere seelische Beeinträchtigungen geht.
II. Die Rechtfertigung/Legitimation des Stalking-Tatbestandes § 238 StGB Ist also Raum für einen Stalking-Tatbestand bzw einen Anti-Stalking-Tatbestand im deutschen Strafgesetzbuch, so ist damit die Frage nach der Rechtfertigung/Legitimität einer solchen Vorschrift wie § 238 StGB noch nicht beantwortet. In einem ersten Schritt ist beim Rechtsgut der Vorschrift anzusetzen. Es besteht im Schutz der privaten Lebensgestaltung, die jedermanns persönlicher (Handlungs- und Entschließungs-)Freiheit überlassen bleiben soll.10 In den Worten des Bundesgerichtshofs in seiner ersten Grundsatzentscheidung zu § 238 StGB vom 19.11.2009: Schutz der eigenen Lebensführung vor gezielter Belästigung der Lebensgestaltung.11 Dabei handelt es sich um ein hochrangiges höchstpersönliches Individualrechtsgut, das allerdings relativ offen und unbestimmt ist. Damit teilt es die Schwäche des Rechtsguts „(allgemeines) Persönlichkeitsrecht“, das sich einer Definition weitgehend entzieht.12 Immerhin konkretisiert § 238 StGB das allgemein gefasste Persönlichkeitsrecht für die private Lebensgestaltung, die auch Aktivitäten im öffentlichen Leben umfasst und sich nicht darin erschöpft, allein gelassen zu werden (in der Sprache des amerikanischen Supreme Court: „right to be let alone“; in der Sprache des Bundesverfassungsgerichts: ein „Innenraum …, in dem er sich zurückziehen kann, zu dem die Umwelt keinen Zutritt hat, in dem man in Ruhe gelassen wird und ein Recht auf Einsamkeit genießt“).13 Außerdem schützt § 238 StGB – wie der obige Vergleich mit der Körperverletzung zeigt – auch die psychische Gesundheit vor schweren seelischen Beeinträchtigungen.14 Zum eigentlichen Problem wird die verbleibende Offenheit und Unbestimmtheit des Rechtsguts, weil § 238 Abs. 1 StGB die „Lebensgestaltung“ auch zum Tatobjekt macht, das durch eine Nachstellungshandlung beeinträchtigt werden muss.15 Es bleibt – wie so oft bei neuen Strafvorschriften – der Rechtsprechung überlassen, hier für die von Art. 103 Abs. 2 GG gefor-
10 Lackner/Kühl, StGB, 27. Aufl., 2011, § 238 Rn 1; krit. Kinzig (Fn 6), 255, 257; Steinberg JZ 2006, 30, 32; Rackow GA 2008, 552, 557. 11 BGHSt 54, 189. 12 Schünemann (Fn 4), vor § 201 Rn 6. 13 Nachweise bei Schünemann (Fn 4), vor § 201 Rn 2. 14 Schluckebier in: Satzger/Schmitt/Widmaier (Hrsg.), StGB, 2009, § 238 Rn 1. 15 Lackner/Kühl (Fn 10), § 238 Rn 1, 3.
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derte Bestimmtheit zu sorgen. In den Worten eines ehemaligen Richters am Bundesgerichtshof und jetzigen Richters am Bundesverfassungsgericht wird es „zunächst Aufgabe der Rechtsprechung sein, durch Konkretisierung … eine systemgerechte, auf den Kern des Unrechtsgehalts reduzierte Auslegung der Norm zu begründen und zu festigen.“16 Selbst wenn dies gelänge, entspricht dies nicht der verfassungsrechtlichen Forderung des Art. 103 Abs. 2 GG, denn dieser verlangt die Festlegung des Strafbarkeitsbereichs durch den Gesetzgeber. Freilich kann man von diesem nichts Unmögliches verlangen, sondern nur, dass er diesen Bereich so konkret wie möglich umschreibt. Das kann man für die Umschreibung des tatbestandlichen Erfolgs mit einer schwerwiegenden Beeinträchtigung der „Lebensgestaltung“ wohl noch bejahen, denn das vielschichtige Phänomen des Stalkings lässt sich nur schwer gesetzlich präziser fassen. Hinzukommt, dass der Gesetzgeber weitere Tatbestandsmerkmale aufgestellt hat, die den Unrechtsgehalt des § 238 StGB mitbestimmen. So etwa, dass die Beeinträchtigung der Lebensgestaltung eine schwerwiegende sein muss. Dies hat der Bundesgerichtshof in Strafsachen in seiner bereits angesprochenen Grundsatzentscheidung in Anlehnung an die Gesetzesbegründung dahingehend ausgelegt, dass gravierende ernst zu nehmende Folgen verursacht sein müssen, die über durchschnittliche, regelmäßig hinzunehmende Beeinträchtigungen erheblich und objektivierbar hinausgehen.17 Schon ein halbes Jahr vorher hatte ein Oberlandesgericht die Objektivierbarkeit der schwerwiegenden Beeinträchtigung verlangt und bei einem Professor, der von einer Gasthörerin durch Eindringen in seine Wohnung und Hinterlassen eines Umschlags mit Damenunterwäsche, durch E-Mails und Telefonate mit Sprüchen, Rätseln und Gedichten über den Tod usw belästigt worden war, verneint. Dies geschah – obwohl „damit gravierende psychische Folgen verbunden“ waren –, weil der Professor die Handlungen der Hörerin nur „subjektiv“ als schwerwiegende Beeinträchtigung empfunden habe.18 Damit ist zwar etwas zum Gewicht der Beeinträchtigung gesagt, wenn eine solche vorliegt. Wann eine solche vorliegt, bleibt aber weitgehend offen. Der Bundesgerichtshof wiederholt dafür nur die auch nicht besonders aufschlussreiche Gesetzesbegründung, die eine erzwungene Veränderung der Lebensumstände verlangt.19 Besondere Bedeutung für die Unrechtstypisierung kommt den Tathandlungen zu – wie immer bei relativ offenen, unbestimmten Rechtsgütern. Leistet das Rechtsgut diese Unrechtstypisierung nur unvollkommen, so kommt es vor allem auf die Angriffsformen und deren Eingriffstiefe an.20 Bei den 16 17 18 19 20
Schluckebier (Fn 14), § 238 Rn 3. BGHSt 54, 189 mit Bespr. Heghmanns ZJS 2010, 269; Kudlich JA 2010, 389. OLG Rostock OLGSt StGB § 238 Nr. 1 mit Bespr. Jahn JuS 2010, 81. BGHSt 54, 189. Schünemann (Fn 4), vor § 201 Rn 6.
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Tathandlungen der Nummern 1–4 des § 238 Abs. 1 StGB hat der Gesetzgeber versucht, typische Verhaltensweisen des Stalking herauszuarbeiten. Ohne hier auf den Wortlaut dieser Nummern einzugehen, kann man sagen, dass das sachlich gelungen ist. Erfasst sind: – Aufsuchen der räumlichen Nähe zu Opfern – Kontaktaufnahmen mit dem Opfer – Bestellungen unter dem Namen des Opfers – Qualifizierte Drohungen. Kritisieren kann man die genauere sprachliche Ausgestaltung. Dies hat – wie des öfteren – der „Sprachpurist“ unter den deutschen Strafrechtswissenschaften – Friedrich Christian Schroeder – auch hinsichtlich § 238 StGB getan. Er spricht von einer „Karikatur“ mit durch „fachterminologische Sprechblasen“ aufgemotzten „banalen Tathandlungen“.21 Eine auf die Sache bezogene Kritik an den Tathandlungen kann man, ja muss man an dem auch so genannten „Auffangtatbestand“ des § 238 Abs. 1 Nr. 5 StGB üben. Danach ist ebenfalls strafbar „eine andere vergleichbare Handlung“. Das liest sich wie eine unverhohlene Aufforderung zur Analogie, die im Strafrecht zur Begründung der Strafbarkeit verboten ist, denn was ist die Vergleichbarkeit anderes als die für den Analogieschluss geforderte Ähnlichkeit. Allerdings könnte es sich um eine so genannte „innertatbestandliche Analogie“ handeln, die vom verfassungsrechtlichen Analogieverbot nicht erfasst sein soll. So sieht man es etwa bei den gefährlichen Eingriffen in den Straßenverkehr (§ 315b StGB), wonach außer dem Beschädigen/Zerstören/Beseitigen von (Anlagen und) Fahrzeugen (Nr. 1 des Abs. 1) und dem Hindernisbereiten (Nr. 2 des Abs. 1) auch strafbar ist, wer „einen ähnlichen, ebenso gefährlichen Eingriff vornimmt“ (Nr. 3 des Abs. 1). Diese „innertatbestandliche Analogie“ wird deshalb für „verfassungsrechtlich noch vertretbar“ gehalten,22 weil der übrige Tatbestand mit den Tathandlungen und dem Oberbegriff der Sicherheit des Straßenverkehrs genügend Anhaltspunkte – verkehrsfremde Eingriffe in den Straßenverkehr von außen – für die als „ähnliche“ in Frage kommenden Tathandlungen enthält, so dass man deren genauere Festlegung der Rechtsprechung überlassen kann. Ob man das auch für § 238 StGB sagen kann, ist umstritten; der Bundesgerichtshof in Strafsachen hat in seiner ersten Grundsatzentscheidung zu § 238 StGB noch nichts dazu beigetragen; er hat sogar die Bestimmtheitsbedenken „geschürt“: § 238 Abs. 1 Nr. 5 StGB öffne „das Spektrum möglicher Tathandlungen in kaum überschaubarer Weise, indem er ohne nähere Eingrenzung jegliches Tätigwerden in die Strafbarkeit einbezieht, das den von § 238 Abs. 1 Nr. 1 bis 4 StGB erfassten Handlungen, ,vergleichbar‘ ist“.23 Gegen die 21 22 23
Maurach/Schroeder/Maiwald, Strafrecht BT 1, 10. Aufl., 2009, § 16 Rn 19. Lackner/Kühl (Fn 10), § 315 Rn 6. BGHSt 54, 189.
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Aussagekraft der Nummern 1 bis 4 spricht, dass dort sehr disparate Tathandlungen aufgezählt sind. Auch der Oberbegriff für diese Tathandlungen – das Nachstellen – ist als „gemeinsamer Nenner“ nicht besonders aussagekräftig, was beim Rechtsgut noch hinzunehmen war, sich hier aber negativ auswirkt. Etwas weiter bringt einen die Formulierung des Gesetzes, die eine „andere“ Handlung verlangt; daraus könnte man immerhin ein negatives Kriterium ableiten: die „andere vergleichbare Handlung“ darf nicht zu den von den Nummern 1–4 abgedeckten Sektoren – Nähesuchen, Kontaktaufnahme, Bestellungen und Drohungen – gehören; weder darf sie kurz davor noch knapp daneben liegen. Dass dieses Kriterium „unklar“, ja sogar „widersinnig“ sein soll,24 ist mangels überzeugender Begründung kaum nachvollziehbar. Bei Berücksichtigung dieses negativen Kriteriums kämen als „andere“ Handlungen etwa Verleumdungen oder Sachbeschädigungen durch Zerkratzen des Fahrzeugs oder Zerstechen von dessen Reifen in Betracht, weil sie anderen Sektoren zuzuschlagen sind.25 Doch fragt es sich, ob in ihnen „eine“ mit den ausformulierten Tathandlungen der Nummern 1–4 „vergleichbare Handlung“ gesehen werden kann. Das könnte daran scheitern, dass sie vor allem gegen die Ehre und das Eigentum gerichtet sind. Könnten sie aber auch als hartnäckige, beharrliche Nachstellungen verstanden werden, so käme eine Tateinheit von § 238 StGB und den §§ 187, 303 StGB in Betracht. Hebt man die Problematik auf eine höhere abstraktere Ebene, so könnte man den „Auffangtatbestand“ damit rechtfertigen, dass es sich eben gerade beim Stalking um ein vielgestaltiges Phänomen handelt, das in einer Strafvorschrift nicht vollständig zu erfassen sei (so auch die Gesetzesbegründung).26 Weiter könnte man anführen, dass eine Generalklausel noch unbestimmter sei als die Kombination von ausformulierten Tathandlungen und einer nichtausformulierten, aber vergleichbaren Handlung. Dagegen könnte man auf die „fragmentarische Natur“ des Strafrechts verweisen, für die Strafbarkeitslücken nicht schon deshalb geschlossen werden müssen, weil sie Lücken sind.27 Allerdings kann man sich mit Lücken dann schwer abfinden, wenn Handlungen straffrei bleiben, die denselben Unrechtsgehalt wie schon strafbare Handlungen aufweisen – so etwa bei den oben angesprochenen unbefugten Bildaufnahmen nach § 201a StGB, die endlich für strafbar erklärt wurden, wie es die unbefugten Tonaufnahmen schon länger waren, weil sie einen gleichen Unrechtsgehalt aufweisen. Anders als bei § 201a StGB ist das Merkmal der Unbefugtheit bei § 238 StGB ein Merkmal, das den Tatbestand erst komplettiert und zu einem Unrechtstatbestand typisiert.28 Das liegt vor allem daran, dass § 238 StGB 24 25 26 27 28
Fischer StGB, 57. Aufl., 2010, § 238 Rn 17. Schluckebier (Fn 14), § 238 Rn 12. BT-Dr 15/5410, S. 14; Fischer (Fn 24), § 238 Rn 17. Kühl Tiedemann-FS, 2008, S. 29, 35 ff. Lackner/Kühl (Fn 10), § 238 Rn 6.
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viele sozialübliche/sozialadäquate Handlungen wie Kontaktaufnahmen als Tathandlungen erfasst, so dass ein Handeln unbefugt, insbesondere gegen den Willen des Opfers gerichtet sein muss, damit es Unrecht genannt werden kann. Das kann man für die Nummern 3 und 4 des § 238 Abs. 1 StGB – Bestellungen und Drohungen – anders sehen.29 Das für alle Tathandlungen geltende Erfordernis der Beharrlichkeit steht zwar im Verdacht, ein Gesinnungsmerkmal zu sein, das in ein Tatstrafrecht nicht passt, doch wiegen diese Bedenken hier deshalb weniger schwer, weil dieses Merkmal bei § 238 StGB die Strafbarkeit einschränkt.30 Bedenken gegen die Bestimmtheit des Merkmals bleiben, doch wird die verfassungsrechtlich geforderte gesetzliche Bestimmtheit selbst vom „Hüter der Verfassung“ – dem Bundesverfassungsgericht – schon dann bejaht, wenn ein Merkmal durch die Rechtsprechung bestimmt gemacht werden kann.31 Die Bestimmtheit schaffende Auslegung dieses Merkmals ist schon durch die Auslegung desselben Merkmals in § 184e StGB (Ausübung verbotener Prostitution) vorgezeichnet. Diese ist jetzt vom Bundesgerichtshof auf § 238 StGB übertragen worden, der kumulativ verlangt: „wiederholtes Tätigwerden“ und darüber hinaus, „dass der Täter aus Missachtung des entgegenstehenden Willens oder aus Gleichgültigkeit gegenüber den Wünschen des Opfers in der Absicht handelt, sich auch in Zukunft entsprechend zu verhalten“.32 Sehr weit in Richtung Bestimmtheit trägt diese Auslegung aber nicht, denn eine Festlegung auf eine Mindestanzahl von Angriffen des Täters soll danach nicht möglich sein. Für die Rechtfertigung/Legitimation einer Strafvorschrift ist nicht nur die mit dem Unrechtsgehalt gerade belegte Strafwürdigkeit erforderlich, sondern auch die Strafbedürftigkeit. Dabei ist besonders das verfassungsrechtliche Subsidiaritätsprinzip zu beachten, das das Strafrecht als ultima ratio versteht. Das bedeutet, dass es zur Bewältigung von Konflikten dann zurückzutreten hat, wenn diese auch ohne die scharfe Sanktion der Strafe, die zusätzlich zur Übelszufügung eine sozialethische Missbilligung zum Ausdruck bringt, ebenso gut bewältigt werden können.33 Hierbei ist etwa an Ordnungswidrigkeiten mit der Sanktion der Geldbuße zu denken, die einer Geldstrafe nur in der Übelszufügung – Geldzahlung – gleichkommt, aber keine sozialethische Missbilligung zum Ausdruck bringt.34 Das bietet sich aber bei höchstpersönlichen Rechtsgütern wie dem des § 238 StGB nicht als Alternative an. Denk-
29
Mitsch NJW 2007, 1237, 1240; Neubacher/Seher JZ 2007, 1031. Lackner/Kühl (Fn 10), § 238 Rn 3. 31 Nachweise bei Kühl Seebode-FS, 2008, S. 62, 64 ff. 32 BGHSt 54, 189 mit Bespr. Heghmanns (Fn 17), 269 und Kudlich (Fn 17), 389. 33 Kühl (Fn 27), S. 29, 41 ff. 34 Zu diesem Kennzeichen der Strafe Kühl Eser-FS, 2005, S. 149 und in: Stöckel-FS, 2010, S. 117, 125 sowie in: Maiwald-FS, 2010, S. 433, 441; Roxin Volk-FS, 2009, S. 601. 30
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bar wären Selbstschutzmöglichkeiten wie das Wechseln der Telefonnummer oder ein Umzug mit Adressenänderung, doch fragt es sich zum einen, ob solche Veränderungen zumutbar sind, zum anderen kann man bezweifeln, ob sie vor einem hartnäckigen Stalker dauerhaft Schutz bieten. In Betracht kämen auch Möglichkeiten der Gefahrenabwehr aus dem Polizeirecht, das aber wohl nur in „Akutfällen“ zB durch Platzverweise Anwendung finden kann.35 Doch drängt sich als mildere Form der Konfliktbewältigung bei Stalking das Zivilrecht auf. Es bietet schon seit 2001 im so genannten Gewaltschutzgesetz mehrere Interventionsmöglichkeiten. So kann zunächst rein zivilrechtlich das Gericht auf Antrag der verletzten Person (befristete) Maßnahmen treffen, die zur Abwendung weiterer Verletzungen erforderlich sind. So etwa die Untersagung, die Wohnung der verletzten Person zu betreten, sich in einem bestimmten Umkreis der Wohnung aufzuhalten, bestimmte andere Orte aufzusuchen, an denen sich die verletzte Person regelmäßig aufhält oder auch Verbindung (unter Verwendung von Fernkommunikationsmitteln) zur verletzten Person aufzunehmen. Das klingt schon sehr nach einem zivilrechtlichen Stalking-Tatbestand. Das Besondere an dieser zivilrechtlichen Lösung ist aber, dass sie strafrechtlich flankiert ist. Nach § 4 des Gewaltschutzgesetzes ist der Verstoß gegen bestimmte vollstreckbare zivilgerichtliche Anordnungen strafbar. Kein Wunder also, dass es Stimmen gibt, die ganz auf dieses Instrumentarium setzen.36 Doch geht das zu weit, denn der Zivilrechtsweg, der erst erfolgreich beschritten sein muss, bevor Strafe greifen kann, setzt die Initiative des Opfers voraus. Außerdem – was noch mehr gegen seine Verabsolutierung spricht – kann sich der Stalker der zivilgerichtlichen Anordnung und damit der Strafe leicht dadurch entziehen, dass er sein Stalking-Verhalten auf andere Varianten umstellt, denn untersagt werden können immer nur bestimmte einzelne Verhaltensweisen. Noch zwei kurze Bemerkungen zur prozessualen Umsetzung des Stalking-Paragraphen 238. Gemäß Absatz 4 wird die Tat nach § 238 Abs. 1 StGB „nur auf Antrag“ verfolgt. Das ist im Grundsatz richtig, weil es in der Regel zu einem Strafverfahren erst kommen sollte, wenn dies die verletzte Person will. Es gibt aber eine selbstständige Interventionsmöglichkeit für die „Strafverfolgungsbehörde“, wenn sie „wegen des besonderen öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung ein Einschreiten von Amts wegen für geboten hält“. In welchen Fällen die Staatsanwaltschaft davon Gebrauch machen wird, ist noch nicht abzusehen. Dem Schutz des Rechtsguts der privaten
35
Müller (Fn 7), S. 67 ff. Vgl. etwa Kraenz (Fn 3), S. 338 und Eiden (Fn 6), 123, 128; gegen die Neukriminalisierung durch § 238 StGB schon Neubacher ZStW 118 (2006), 855, 864, 867 und Pollähne StraFo 2006, 398, 403. 36
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Kristian Kühl
Lebensgestaltung tut das gut, wenn dieses der leitende Gesichtspunkt für die Gebotenheit wird. Als eine Schwachstelle für den Persönlichkeitsschutz könnte sich aber erweisen, dass § 238 Abs. 1 StGB nicht nur als „Antragsdelikt“, sondern auch als „Privatklagedelikt“ ausgestaltet ist. Dies ergibt sich aus dem ebenfalls geänderten § 374 Abs. 1 Nr. 4 StPO. Die Staatsanwaltschaft verfolgt Privatklagedelikte nur, wenn daran ein öffentliches Interesse besteht (§ 376 StPO). Die praktische Erfahrung mit anderen Privatklagedelikten zeigt aber, dass dies selten der Fall ist. Noch seltener ist es, dass die verletzte Person im Wege der Privatklage vorgeht. Es wird deshalb schon jetzt die Herausnahme des § 238 Abs. 1 StGB aus den Privatklagedelikten gefordert.37 Von staatsanwaltschaftlicher Seite hört man aber auch, dass die Ausgestaltung als Privatklagedelikt ein probates Mittel sei, um „Spreu und Weizen“, also die Schale vom Kern zu trennen.38
III. Rückblick und Ausblick Bei einem Rückblick auf den hier vorgelegten Beitrag fällt vor allem auf, dass das Rechtsgut des (allgemeinen) Persönlichkeitsrechts trotz seiner Konkretisierungen in den §§ 201a und 238 StGB – höchstpersönlicher Lebensbereich und individuelle Lebensgestaltung – schwer zu bestimmen ist. Schon deshalb ist es schwierig, ein System der Strafvorschriften, die das Persönlichkeitsrecht schützen (wollen), zu entwerfen. Angesichts dieser von der Strafrechtswissenschaft mit zu verantwortenden Situation ist es nicht überraschend, dass sich der Gesetzgeber – gedrängt von spektakulären Fällen („Paparazzi“; „Stalker“) – darauf beschränkt, nach und nach einzelne Ergänzungen des strafrechtlichen Schutzes des Persönlichkeitsrechts vorzunehmen. Dass die Ergänzungen durch die §§ 201a, 238 StGB diesen Schutz verbessert haben, ist kaum zu bestreiten, denn unbefugte Bildaufnahmen und das hartnäckige Nachstellen verletzen das (allgemeine) Persönlichkeitsrecht so sehr, dass auf Strafe als Sanktion und die damit verbundene sozialethische Missbilligung nicht verzichtet werden kann. Ein Ausblick zeigt bereits neue „Kandidaten“ für eine Ergänzung des strafrechtlichen Schutzes des (allgemeinen) Persönlichkeitsrechts. Da ist zunächst der „Dauerbrenner“, der es trotz mehrerer Anläufe – in E 62, in AEStraftaten gegen die Person und im 6. Strafrechtsreformgesetz-Referentenentwurf – noch nicht geschafft hat, in den Gesetzesrang aufzusteigen. Es geht
37 Büttner ZRP 2008, 552, 568; krit. auch Krüger NK 2008, 144, 145 und Rackow (Fn 10), 552, 568; anders Mitsch (Fn 29), 1237, 1241: nachvollziehbar. 38 Peters NStZ 2009, 238, 242.
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um den indizierten und kunstgerecht durchgeführten, aber eigenmächtigen Heileingriff des Arztes, dessen gesetzliche Regelung es gestatten würde, solche Heileingriffe, die der körperlichen Unversehrtheit dienen und sie nicht verletzen, aus dem Bereich der Körperverletzungsdelikte herauszunehmen, in den sie die Rechtsprechung packt.39 Man kann diesen Heileingriff wegen der Eigenmacht des Arztes als „Persönlichkeitsrechtsverletzung“ einordnen,40 und könnte ihn irgendwo in den BT-Abschnitten 15, 17 oder 18 platzieren. Da das Scheitern des letzten Anlaufs jetzt auch schon über zehn Jahre zurückliegt, wäre ein neuer Anlauf denkbar. Jüngst hat Hendrik Schneider den Ruf nach dem Gesetzgeber des bekannten Arztstrafrechtlers Eberhard Schmidt in Erinnerung gebracht und ihm uneingeschränkt zugestimmt.41 Eher „Zukunftsmusik“ dürfte ein Gesetzesvorschlag von Reinhard Merkel enthalten. Er hat auf der Hamburger Strafrechtslehrertagung 2009 einen neuen § 237 StGB – also unmittelbar vor dem „Stalking“ § 238 StGB – vorgeschlagen, der die „mentale Selbstbestimmung“ gegen neuartige („verbessernde“?) Eingriffe in das Gehirn schützen soll.42 Da das so genannte „Neuroenhancement“ aber noch in den „Kinderschuhen“ steckt, ist der Gesetzgeber wohl noch nicht zum Handeln bereit. Auch noch nicht im Raum des Gesetzgebers befindet sich der Vorschlag, einen eigenen „Mobbing“-Straftatbestand zu schaffen.43 Dass er zu den Strafvorschriften gehören würde, die das Persönlichkeitsrecht schützen, ergibt sich aus der Rechtsprechung der Arbeitsgerichte.44 Die erste Schwierigkeit wäre, eine Überschrift zu finden. Die Übersetzungsvarianten des Anpöbelns, Angreifens oder Attackierens passen nicht so recht.
39 40 41 42 43
BGHSt 11, 111; 43, 306, 308; 45, 219, 221 = ständige Rspr. Katzenmeier in: Laufs/Katzenmeier/Lipps, Arztrecht, 6. Aufl., 2009, V 12. Schneider Leipzig-FS, 2009, S. 165, 180. Merkel ZStW 121 (2009), 919, 946. Abl. Fehr Mobbing, 2007, S. 207, die für eine „präventive Mobbingbekämpfung“ plä-
diert. 44 LAG Thüringen, NZA-RR 2001, 347; Buß Der Weg zu einem deutschen Stalkingstraftatbestand, 2008, S. 15.
Glaube, Glaubensfreiheit und Gefängnis Eckpunkte für ein zeitgemäßes religionsrechtliches Konzept des Strafvollzugsgesetzes Gero Meinen I. Einleitung Karl Peters hat 1974 in einem vor der Kirchlichen Hochschule in Berlin gehaltenen Vortrag das Spannungsverhältnis zwischen Gefangenen, Staat und Kirche skizziert und sich den verschiedenen Wechselbeziehungen angenommen: Hat der Gefangene gegen den Staat einen Anspruch auf religiöse Betreuung und welcher Art ist dieser Anspruch? Hat die Kirche einen Anspruch gegen den Staat auf seelsorgerische Betätigung innerhalb der Justizvollzugsanstalten? Hat der Staat einen Anspruch darauf, dass sich die Kirche der Gefangenen annimmt? Und hat er dabei einen Anspruch auf Beachtung eigener Vorstellungen und Grundsätze? Hat der Verurteilte gegenüber der Kirche einen Anspruch auf religiöse Betreuung und welcher Art? 1 Peters hat seine Fragen zu einem Zeitpunkt gestellt, als die Arbeiten für ein Strafvollzugsgesetz im Gange waren. Antworten hat das Gesetz in §§ 53, 54 StVollzG gegeben, soweit es um den Gefangenen und seine Rechte und in §§ 155, 157 StVollzG, soweit es um die Zusammenarbeit zwischen dem Staat auf der einen und den Religionsgemeinschaften und ihren „Seelsorgern“ auf der anderen Seite geht. Ist das Thema Glaube, Glaubensfreiheit und Gefängnis damit gar kein Thema mehr? Sind die individuellen und institutionellen Fragen gelöst und bedarf es allenfalls noch der gerichtlichen Einzelfallkorrektur 2? Die Frage zu stellen heißt, sie zu verneinen. Die Antworten, die das Strafvollzugsgesetz auf die Peters’schen Fragen gegeben hat, sind heute nicht mehr ausreichend. Auch wenn das Strafvollzugsgesetz von „Religionsgemeinschaften“ spricht, ist das Bild, das den religionsrechtlichen Vorschriften zugrunde liegt, das der christlichen Kirchen. An ihnen orientiert sich das Strafvollzugsgesetz. Ein multireligiöses Konzept besitzt es nicht. Dafür ein 1
Peters Seelsorge und Strafvollzug, JR 1974, 402 ff. Etwa zur Frage, was Gegenstände des religiösen Gebrauchs im Sinne von § 53 Abs. 3 StVollzG sind: Callies/Müller-Dietz StVollzG, 11. Aufl. 2008, § 53 Rn 3. 2
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Beispiel: Nach § 21 Satz 2 StVollzG ist es dem Gefangenen zu ermöglichen, Speisevorschriften seiner Religionsgemeinschaft zu befolgen. Die Vorschrift findet sich im Dritten Titel des Strafvollzugsgesetzes über die Unterbringung und Ernährung des Gefangenen und nicht aber dort, wo sie zu verorten wäre: Im Sechsten Titel über die „Religionsausübung“. Diese systematische Einordnung erschließt sich nur aus dem christlichen Blickwinkel, wo Speisevorschriften – anders als im Judentum und im Islam – nur eine geringe Bedeutung haben. Die religionsrechtlichen Vorschriften des Strafvollzugsgesetzes drücken das Selbstverständnis eines Staates aus, für den im ausgehenden 20. Jahrhundert das Thema von Religion und Glaube fast nur noch Privatsache ist. Sein Verhältnis zur Arbeit der Kirchen in den Gefängnissen deshalb entspannt – andere Religionsgemeinschaften spielen zu dieser Zeit noch keine Rolle. Er hat sich soeben selbst normativ der Aufgabe verschrieben, den Gefangenen im Vollzug der Freiheitsstrafe zu befähigen, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen (§ 2 Satz 1 StVollzG). Und damit hat er gegenüber den Kirchen eine Zäsur gesetzt. Vorbei sind die Zeiten, in denen die evangelische Kirche mit der Idee von Barmherzigkeit und Besserung in die preußischen Gefängnisse einzog. Wer die zwei alles beherrschenden Kirchtürme der JVA Tegel vor Augen hat, spürt den Zeitgeist, der sich im ausgehenden 19. Jahrhundert in den Worten eines evangelischen Pastors niederschlägt: „Die Strafanstalt muss von dem Grundgedanken aus angelegt werden, dass Gottes Wort in ihr seine volle Wirksamkeit entfalten kann. Gottes Wort ist das Fundament, auf dem die Strafanstalt erbauet werden muss, wenn sie zu einer Heilsanstalt werden soll. In dem Zuchthaus muss nicht nur eine Kirche sein, nein, das ganze Zuchthaus selber soll ein Gotteshaus sein.“3 Falsch wäre es aber, der Kirche nur vorzuhalten, dass sie ihre Rolle überschätzt hat. Sie protestierte eben auch gegen die unhaltbaren Zustände in den preußischen Haftanstalten und führte tatkräftig Veränderungen herbei. Namen wie Fliedner und Wichern sind hierfür beispielhaft zu nennen. Mit ihnen lieferte die Kirche auch die Blaupause für den späteren Behandlungsvollzug. Die staatliche Sozialarbeit zog in der Weimarer Republik noch zögerlich, dann aber regelhaft in den sechziger Jahren in die Gefängnisse ein. Mit § 2 Satz 1 StVollzG erfolgte die säkulare Adaption des christlichen Besserungsgedankens. Gleichzeitig entfiel damit aber der ursprüngliche Wirkgrund der Gefängnisarbeit der Kirchen. Nicht mehr Besserung sondern Betreuung, vor allem aber die Seelsorge sind jetzt die vordringlichen Aufgaben. Die Anstaltskirche steht nur noch räumlich im Mittelpunkt der alten Gefängnisse und Zuchthäuser. Dort, wo neu gebaut werden kann,
3 Zitiert nach Böhm Kirche im Strafvollzug – Gefängnisseelsorge im Wandel der Zeit, ZfStrVo 1995, S. 3 ff.
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treten an ihre Stelle Andachtsräume an der Anstaltsperipherie, modern gestaltet und auch als Mehrzweckräume nutzbar. So unverzichtbar die Arbeit der Kirchen im Rahmen der Gefängnisseelsorge heute auch ist: Die zentrale Verantwortung für den Gefangenen und seine Wiedereingliederung liegt ausschließlich und unwiderruflich beim Staat. Seit Karl Peters seine Fragen gestellt hat, sind über 35 Jahre vergangen und wieder beobachten wir einen gesellschaftlichen Wandel. In Deutschland hat sich der Islam in seinen unterschiedlichen Spielarten zu einer nicht nur zahlenmäßig bedeutenden Religion entwickelt. Dies zieht gesellschaftspolitische und rechtlichen Fragen nach sich4 – auch in den Gefängnissen. Schätzungsweise 10–15 % der Gefangenen im Berliner Justizvollzug bekennen sich zum Islam. Neben dem Islam gewinnen auch andere Religionen an Bedeutung. Damit einher geht eine Individualisierung des Glaubens. Als hierarchisch strukturierte Organisationen verlieren Religionsgemeinschaften an Einfluss und Legitimation und sind häufig nicht mehr in der Lage, Glaubensinteressen ihrer Angehörigen zu bündeln und nach außen hin zu vertreten. Muslime sind religionsgemeinschaftlich oft gar nicht gebunden und so wird Glaube tatsächlich immer mehr Privatsache. Und doch gibt es die gegenläufige Tendenz, dass auch muslimische Gemeinschaften Anspruch auf Mitwirkung im Strafvollzug erheben. Der gesellschaftliche Wandel spiegelt sich in einer veränderten Wahrnehmung der Religionsfreiheit wider. An der Rechtsprechung des BVerfG lässt sich ablesen, wie schwer es staatlichen Institutionen oftmals fällt, mit „fremden“ religiösen Vorstellungen umzugehen. Ob es um die Zuerkennung des Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts für die Zeugen Jehovas geht5, ob es das religiös motivierte Schächten ist6 oder ob das Tragen eines Kopftuches an öffentlichen Schulen in der Diskussion steht 7, immer musste das BVerfG das behördliche Vorgehen korrigieren. Kein anderes Grundrecht hat es so schwer, in der Gesellschaft „anzukommen“ wie die Glaubensfreiheit. Niemand ist hier leidenschaftslos – egal ob Christ oder Muslima, Jüdin oder Buddhist, Atheist oder Agnostikerin. Das Verdienst des BVerfG besteht darin, dass es aus dem Grundgesetz ein religionsrechtliches Verständnis herausdestilliert hat, das zwar keine Patentrezepte liefert, das aber geeignet ist, sich über Grund und Grenzen der Glaubensfreiheit in den verschiedenen Lebensbereichen Klarheit zu verschaffen. Wenn Deutschland auf dem Weg zu einer multireligiös geprägten Gesellschaft zu sein scheint, wird es unter anderem auch darum gehen müssen, über
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Kloepfer Der Islam als Verfassungsfrage, DÖV 2006, 45 ff. BVerfGE 102, 370 ff. BVerfGE 104, 310 ff. BVerfGE 108, 282 ff.
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die Glaubensfreiheit im Strafvollzug neu nachzudenken. Hierfür ist die Zeit gut. Nach dem Übergang der Gesetzgebungskompetenz vom Bund auf die Länder wird das Strafvollzugsgesetz des Bundes nach und nach durch Ländergesetze ersetzt werden. Bei aller Kritik, die die Verlagerung der Gesetzgebungskompetenz für den Strafvollzug in der Vergangenheit nach sich gezogen hat, bietet sie für die Frage der Neubestimmung von Grund und Grenzen der Religionsausübung im Strafvollzug Vorteile. Denn föderale Besonderheiten lassen sich so durch den Landesgesetzgeber besser abbilden und können zu Lösungen führen, die auf der Ebene des Bundes schwerer vorstellbar sind. Gerade für Berlin, wo der gesellschaftliche Wandel in Deutschland schneller voran schreitet als anderswo, ist das eine Chance.
II. Grundelemente eines religionsrechtlichen Konzepts 1. Das Spannungsfeld von Religion und Strafvollzug Wenn im Folgenden Eckpunkte eines multireligiösen Konzepts für den Strafvollzug identifiziert werden, steht die Auseinandersetzung mit dem Islam im Vordergrund. Dies geschieht deshalb, weil der Umgang mit ihm die vollzugliche Praxis vor schwierige Fragen stellt. Ein multireligiöses Konzept des Strafvollzugsgesetzes muss hier seine Tauglichkeit erweisen. Die Verrichtung des muslimischen Gebets außerhalb des Haftraums, die Organisation des Freitagsgebets, die Versorgung mit Nahrungsmitteln, die den Vorschriften des Islams entsprechen, die Möglichkeit der Einnahme der Warmverpflegung nach Sonnenuntergang während des Ramadan oder Bekleidungsvorschriften – dies sind Beispiele aus der aktuellen Diskussion über die Reichweite der individuellen Religionsfreiheit. Daneben wird zu erörtern sein, unter welchen Bedingungen islamische Religionsgemeinschaften in einer Justizvollzugsanstalt tätig werden dürfen. Die Bestandaufnahme der §§ 53, 54 StVollzG8 fällt wie folgt aus: Gegenüber dem Staat hat der Gefangene ein Recht auf Betreuung durch Seelsorger sowie einen Anspruch auf Hilfe zur Kontaktaufnahme. Er hat ein Recht auf Besitz grundlegender religiöser Schriften sowie von Gegenständen des religiösen Gebrauchs in angemessenem Umfang. Der Gefangene hat ein Teilnahmerecht am Gottesdienst und an anderen religiösen Veranstaltungen seines Bekenntnisses. Dabei setzt das Strafvollzugsgesetz voraus, dass eine religiöse „Veranstaltung“ von einer Religionsgemeinschaft angeboten wird. Die Eingriffstatbestände formuliert das Strafvollzugsgesetz wie folgt: Grundlegende religiöse Schriften dürfen dem Gefangenen nur bei grobem Missbrauch entzogen werden (§ 53 Abs. 2 Satz 2 StVollzG). Ein Ausschluss von der Teilnahme am Gottesdienst kann 8
Auf § 21 S. 3 StVollzG wurde schon hingewiesen.
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erfolgen, wenn dies „aus überwiegenden Gründen der Sicherheit oder Ordnung geboten ist“ (§ 54 Abs. 3 StVollzG). Geht es um die kollektive Religionsausübung und um die Rechte und Pflichten von Religionsgemeinschaften bestimmt § 157 Abs. 1 StVollzG, dass Seelsorger im Einvernehmen mit der jeweiligen Religionsgemeinschaft im Hauptamt bestellt oder vertraglich verpflichtet werden. Damit wird die Betätigung der „jeweiligen Religionsgemeinschaften“ institutionell gesichert. § 155 Abs. 2 StVollzG legt fest, dass für jede Anstalt die erforderliche Anzahl von Seelsorgern vorzusehen ist. Und schließlich bestimmt Art. 140 GG iVm Art 141 WRV: Soweit das Bedürfnis nach Gottesdienst und Seelsorge im Heer, in Krankenhäusern, Strafanstalten oder sonstigen öffentlichen Anstalten besteht, sind die Religionsgesellschaften zur Vornahme religiöser Handlungen zuzulassen, wobei jeder Zwang fernzuhalten ist. 2. Die Religionsfreiheit des einzelnen Gefangenen a. Religionsfreiheit am Beispiel des muslimischen Gebets Vollzugliche Abläufe können es erforderlich machen, dass Gefangene ihre Mittagspause am Arbeitsplatz abhalten müssen. Dann fragt sich, ob es gläubigen Muslimen gestattet ist, auch für den Fall hier zu beten, dass andere Gefangene dies wahrnehmen können. Das Gebet ist eine der fünf Säulen des Islam und gehört damit zum Kernbestand der religiösen Pflichten eines Muslims. Er hat es fünfmal am Tag Richtung Mekka zu verrichten und zwar nach herrschender Lesart am Morgen, zur Mittagszeit, am Nachmittag, bei Sonnenuntergang und am Abend. Das muslimische Gebet ist nicht einfach ein gesprochener oder gedachter Text, sondern eine festgelegte Abfolge von Körperhaltungen9. Damit bezeugt der Muslim seine Unterwerfung unter Gott. Es ist kein stilles Zwiegespräch. Unter die Vorschriften des Strafvollzugsgesetzes lässt es sich nicht fassen: Ebenso wie das christliche Gebet ist es keine „religiöse Veranstaltung“ im Sinne von § 54 Abs. 1 StVollzG. Es geht um die individuelle Ausübung des Glaubens und zwar dergestalt, dass der Muslim einer religiösen Pflicht nachkommt. Derzeit macht in Berlin der Fall eines muslimischen Schülers Schlagzeilen. Ein vierzehn Jahre alter Junge muslimischen Glaubens hatte in einem Weddinger Gymnasium gemeinsam mit Mitschülern auf seiner Jacke kniend in der Pause nach der sechsten Unterrichtsstunde in einem Flur des Schulgebäudes, nach seiner Darstellung in einem abgelegenen, nicht ohne weiteres einsehbaren Bereich, gebetet. Als die Schulleiterin hiervon erfuhr, schickte sie die Umstehenden weg und wies die beim Beten angetroffenen Schüler darauf hin, dass das Beten auf dem Schulgelände nicht geduldet werden könne. Die 9
Halm Der Islam – Geschichte und Gegenwart, 2007, S. 60 ff.
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Parallele zum Gebet eines Gefangenen während der Mittagspause am Arbeitsplatz liegt auf der Hand: In beiden Fällen findet es in einer staatlichen Einrichtung statt und zwar nicht hinter verschlossenen Türen und damit wahrnehmbar für andere, auch wenn es den Betenden hierauf nicht ankommt, es sie möglicherweise sogar stört. Die Sorge der Schulleiterin könnte durchaus auch die Sorge eines Anstaltsleiters sein, der nicht nur die Neutralität des Staates in Gefahr sieht, sondern auch eine Gefährdung der Sicherheit und Ordnung befürchtet. Hat das Verwaltungsgericht Berlin in seiner Entscheidung noch festgestellt, „dass der Kläger berechtigt ist, während des Besuchs des D-Gymnasiums außerhalb der Unterrichtszeit einmal täglich sein islamisches Gebet zu verrichten“10, ist diese Entscheidung durch das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg zwischenzeitlich aufgehoben worden11. Es soll im Folgenden nicht um das Für und Wider beider Entscheidungen gehen. Für die hier in Rede stehende Entwicklung von Eckpunkten steht vielmehr die Argumentation des VG Berlin im Mittelpunkt, da sie strukturell hilfreich ist, sich der Parallelproblematik im Strafvollzug zu nähern. Mangels einfachgesetzlicher Vorschriften hat das VG Berlin den Anspruch des Schülers unmittelbar aus Art. 4 Abs. 2 GG abgeleitet und unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des BVerfG dargelegt, dass die Gewährleistung der ungestörten Religionsausübung Teil der dem Einzelnen sowie religiösen oder weltanschaulichen Vereinigungen zustehenden Glaubens- und Bekenntnisfreiheit sei. Art. 4 GG garantiere in Absatz 1 die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses, in Absatz 2 das Recht der ungestörten Religionsausübung. Beide Absätze enthielten ein umfassend zu verstehendes einheitliches Grundrecht. Es erstrecke sich nicht nur auf die innere Freiheit, zu glauben oder nicht zu glauben, sondern auch auf die äußere Freiheit, den Glauben zu bekunden. Dazu gehöre das Recht des Einzelnen, sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten und seiner inneren Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln und in jeder Lebenssituation ein Verhalten zu bekunden, dass er nach Maßgabe seiner religiösen Überzeugung für richtig erachtet. Hieraus ergeben sich folgende Grundsätze12: • Der Staat hat die Gewissensentscheidung eines Gläubigen nicht zu bewerten oder gar zu hinterfragen. Zwar darf eine Behörde (und im Streitfall ein Gericht) sich ein Bild davon verschaffen, ob die Befolgung einer Glaubensregel für die betroffene Person Ausdruck ihres religiösen Bekenntnisses ist. Maßgebend dafür ist aber ihre Darstellung. Dabei kommt es auf die
10 11 12
VG Berlin, Urteil vom 29. September 2009, VG 3 A 984/07 in LKV 2010, 42 ff. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 27. Mai 2010, OVG 3 B 29/09. VG Berlin LKV 2010, 42 unter Hinweis u.a. auf BVerfGE 108, 282.
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Plausibilität des Gesamtverhaltens, nicht aber die „Überzeugung“ der Behörde oder des Gerichts an. • Ähnliches gilt für die Frage, welches Verhalten Ausdruck der Glaubensfreiheit ist. Hier ist auf das Selbstverständnis der jeweiligen Religionsgemeinschaft abzustellen, nicht aber auf die Behauptung der betroffenen Person. • Der Staat selbst darf die betroffene Person nicht darauf verweisen, dass schon nach den Glaubensvorschriften ihrer Religion Ausnahmen von dem eigentlich abverlangten Verhalten zulässig seien. Danach ist das muslimische Gebet, auch wenn es durch Dritte wahrnehmbar ist, vom Schutzzweck der Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG erfasst – in der Schule ebenso wie in einer Justizvollzugsanstalt. Einschränkungen der vorbehaltlos gewährleisteten Glaubensfreiheit können sich nur aus der Verfassung selbst ergeben, wozu die Grundrechte Dritter und Gemeinschaftswerte von Verfassungsrang zählen13. Konflikte zwischen gleichrangigen Verfassungsgütern sind nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz zu lösen. Keine der widerstreitenden Rechtspositionen darf danach bevorzugt und maximal behauptet werden, sondern es ist ein möglichst schonender Ausgleich herbeizuführen14. Sind es in der Schule das Gebot der weltanschaulichen Neutralität des Staates, die negative Bekenntnisfreiheit der anderen Schülerinnen und Schüler und deren Eltern (Art. 4 Abs. 1 GG) sowie deren elterliches Erziehungsrecht (Art. 6 Abs. 2 GG), der Bildungs- und Erziehungsauftrag des Staates gemäß Art. 7 Abs. 1 GG und die Wahrung des Schulfriedens, die die Glaubensfreiheit einschränken können, geht es im Strafvollzug neben dem Gebot der weltanschaulichen Neutralität des Staates um vergleichbare Güter: Die (negative) Bekenntnisfreiheit der Mitgefangenen, den Behandlungsauftrag des Strafvollzuges und die Sicherheit und Ordnung der Anstalt. b. Das muslimische Gebet und die konkrete Beeinträchtigung von Verfassungsrechtsgütern im Strafvollzug (1) Die weltanschaulich-religiöse Neutralität des Staates Ob das Gebot der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates eine Einschränkung der Religionsausübungsfreiheit begründen kann, hängt von seinem konkreten Inhalt ab. Eine Einschränkung kommt in Betracht, wenn das Gebot nicht nur den Staat verpflichtet, sich selbst jeder Form religiöser oder weltanschaulicher Betätigung zu enthalten, sondern es dies auch Dritten
13 Umfassend Fischer/Groß Die Schrankendogmatik der Religionsfreiheit, DÖV 2003, 932 ff. 14 VG Berlin LKV 2010, 42, 43.
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in einem staatlichen Kontext untersagt. Diesen Inhalt hat das Gebot aber nicht. Es zwingt den Staat nicht, sich gegenüber Religionsgemeinschaften im Sinne einer strikten Trennung von Kirche und Staat zu distanzieren. Weltanschaulich-religiöse Neutralität ist nach der Rechtssprechung des BVerfG als eine offene und übergreifende, die Glaubensfreiheit für alle Bekenntnisse gleichermaßen fördernde Haltung zu verstehen. Der Staat verhält sich neutral, um den einzelnen Staatsbürgern nichtneutrale bekenntnisgebundene Optionen zu eröffnen. Er bewahrt seine Neutralität, indem er die Vielfalt der von den Staatsbürgern eingenommenen religiösen und weltanschaulichen Positionen bejaht und nicht als Lästigkeit in den verschiedenen Lebensbereichen zu nivellieren versucht15. Die Feststellung, dass die religiöse Betätigung eines Einzelnen in einem staatlichen Kontext ihm nicht pauschal zuzurechnen ist, er also auch nicht durch die Duldung seine Neutralitätspflicht verletzt, ist für den Strafvollzug von besonderer Bedeutung. Würde man dies anders sehen, wäre ein Wirken von Kirchen und anderen Religionsgemeinschaften im Strafvollzug schlechterdings nicht möglich. Überspitzt gesagt müsste jeder anstaltsöffentliche Aushang, mit dem für eine religiöse Veranstaltung geworben wird, untersagt werden. Gottesdienste dürften nicht abgehalten werden, weil sie dem Staat zuzurechnen wären und er dadurch schon seine Neutralitätspflicht verletzen würde. Wo die Duldung aufhört und wo eine Unterstützung (und damit eine Verletzung der Neutralitätspflicht des Staates) beginnt, mag dabei nicht immer leicht festzustellen sein: Im Fall des muslimischen Schülers hatte die Schulleitung dargelegt, die Gebetsduldung führe zwangsläufig zu einer Leistungspflicht des Staates, da dem Schüler zur (ungestörten) Gebetsdurchführung ein Einzelraum zur Verfügung gestellt werden müsse. Das VG Berlin hat dieses Argument nicht gelten lassen. Diese „Leistung“ sei nur deshalb erfolgt, um die übrigen Schüler vor einer Konfrontation mit der Gebetsverrichtung und damit in ihrer negativen Glaubensfreiheit zu schützen. Unabhängig davon: Im Strafvollzug erbringt der Staat immer schon „Leistungen“, um die Religionsausübung zu gewährleisten. Das ist auch richtig und praktisch nicht anders vorstellbar: Die Anstaltskirchen gehören dem Staat, sie werden vom Staat unterhalten und den Kirchen zur Verfügung gestellt. Eine solchermaßen gewährende Haltung gegenüber den Kirchen wird in angemessener Form auch anderen Religionsgemeinschaften zugute kommen müssen. (2) Der Schutz der negativen Bekenntnisfreiheit Ein weiteres Verfassungsgut, das die Religionsausübung einschränken kann, ist die (negative) Bekenntnisfreiheit der Mitgefangenen. Will die die 15
BVerfGE 108, 282, 300.
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Anstalt die im Einzelfall widerstreitenden Verfassungsgüter möglichst schonend ausgleichen, wird sie gut daran tun, sich der Frage der Beeinträchtigung der negativen Bekenntnisfreiheit systematisch zu nähern. Voraussetzung für eine Beeinträchtigung der negativen Bekenntnisfreiheit ist, dass die Verletzung gegenüber der Anstalt geltend gemacht wird. Allein aus dem Umstand, dass in Ausübung der Religionsfreiheit für andere wahrnehmbar gebetet wird, lässt sich noch nicht auf eine Beeinträchtigung oder Verletzung der (negativen) Bekenntnisfreiheit schließen. Es gibt grundsätzlich kein staatliches Wächteramt, Bürger vor der Grundrechtausübung anderer Bürger in Schutz zu nehmen. Ausnahmen wird es sicher dann geben müssen, wenn eine Artikulation der Grundrechtsbeeinträchtigung nicht möglich ist, sei es aufgrund von Drohung oder Zwang, sei es aufgrund mangelnder Einsicht in die Tragweite. Im Regelfall wird aber erst die Behauptung der Beeinträchtigung der eigenen Grundrechtsposition Handlungspflichten des Staates auslösen. Behaupten Mitgefangene eine Beeinträchtigung der negativen Religionsfreiheit, wird die Anstalt dies anhand der Umstände des Einzelfalls beurteilen müssen. Dabei kommt es darauf an, wo und wie das Gebet konkret verrichtet wird, ob sich die betenden Gefangenen zurückhaltend oder demonstrativ verhalten, ob sie mit Rücksicht auf die Mitgefangenen handeln oder es hieran vermissen lassen. Ebenso ist von Bedeutung, ob Dritte in zumutbarer Weise der Gebetsverrichtung ausweichen können16, wobei zu beachten ist, dass die Bewegungsfreiheit von Gefangenen auch innerhalb der Anstalt eingeschränkt ist und sie nach § 82 Abs. 2 Satz 2 StVollzG einen ihnen zugewiesenen Bereich nicht ohne Erlaubnis verlassen dürfen. Liegt den Umständen nach eine erhebliche Beeinträchtigung oder gar Verletzung der negativen Religionsfreiheit vor, erfordert es der Grundsatz der praktischen Konkordanz, alternative Konfliktlösungsmöglichkeiten zu untersuchen. Von der Anstalt wird hier nichts Unmögliches zu fordern sein. Insbesondere wird sie nicht gezwungen sein, Organisationsabläufe einzuführen, die mit einem hohen Personal- und Kostenaufwand verbunden sind. Allein der Hinweis auf fehlende Alternativen der Konfliktlösung wird aber dem hohen Stellenwert, der der Religionsfreiheit zukommt, nicht gerecht. (3) Gebetsverrichtung und Gefährdung der Sicherheit und Ordnung Die Sicherheit der Anstalt umfasst die Abwendung von konkreten Gefahren für Personen oder Sachen in der Anstalt im Sinne von § 121 StGB und die Sicherung des durch den Freiheitsentzug begründeten Gewahrsams. Führt
16
BVerwGE 109, 40, 51 ff.
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die Gebetsverrichtung dazu, dass die Anstaltssicherheit durch ein daraus abgeleitetes Verhalten anderer Gefangener gefährdet wird und kann die Anstalt dem nicht durch zumutbare anderweitige Maßnahmen begegnen, dürfte sie – als ultima ratio – das Gebet untersagen. Notwendig ist jedoch eine tatsächliche Gefahrensituation. Allgemeine Befürchtungen reichen nicht aus17. (4) Gebetsverrichtung und die Sicherstellung des Behandlungsauftrags Abschließend ist zu überlegen, ob der Behandlungsauftrag des Strafvollzuges (§ 2 Satz 1 StVollzG) eine Einschränkung der Religionsausübungsfreiheit begründen kann. Es ist von Rechts wegen schon schwer vorstellbar, dass die individuelle Ausübung eines Grundrechts Realisierungsbemühungen beeinträchtigen kann. Anders verhält es sich dann, wenn das Gebet oder andere im Gewand der Religion auftretende Verhaltensweisen der zielgerichteten Unterminierung des Behandlungsauftrags dienen. Im Einzelfall ist es möglicherweise schwierig, solche Verhaltensweisen von der Verrichtung rein religiös motivierter Pflichten zu trennen. Hasspredigten und andere pseudoreligiöse Verhaltensweise fallen aber nicht unter die Religionsfreiheit und können durch die Justizvollzugsanstalt nicht nur aus Behandlungsgründen, sondern schon wegen der Gefährdung der Anstaltssicherheit untersagt werden. c. Zwischenbewertung Die vorstehenden Überlegungen zeigen einen Weg zur Abwägung widerstreitender Interessen bei der Ausübung der individuellen Religionsfreiheit auf. Ihr Schutz wird dabei fast immer vor dem Hintergrund des Einzelfalls betrachtet werden müssen. Durchgängig richtige Lösungen wird es so lange nicht geben, wie die Ausübung verschiedener Glaubensinhalte auf engem Raum noch nicht selbstverständlich ist. Ziel wird es deshalb sein müssen, nach Wegen zu suchen, die es allen Gefangenen ermöglichen, ihren Glauben möglichst uneingeschränkt ausüben zu können. Dies schließt den Schutz der nichtgläubigen Gefangenen ein. Dieses Ziel wird der Vollzug nur erreichen können, wenn er in den Stand versetzt wird, organisatorische Vorkehrungen zu treffen, ohne sich hierdurch dem Vorwurf aussetzen zu müssen, das Gebot der weltanschaulichen Neutralität zu verletzen. Wenn der Strafvollzug diese „Organisationsleistungen“ in angemessener Form allen in den Anstalten tätigen Religionsgemeinschaften anbietet, kann darin – auf der Grundlage der Rechtsprechung des BVerfG – kein Verstoß gegen seine Neutralitätspflicht gesehen werden. Normativ wäre das Ziel durch eine Vorschrift abzubilden, die sich an § 21 Satz 3
17
Callies/Müller-Dietz aaO, § 4 Rn 18.
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StVollzG orientiert. Wenn dem Gefangenen danach zu ermöglichen ist, Speisevorschriften seiner Religionsgemeinschaft zu befolgen, ergibt sich hieraus keine so weit gehende Leistungspflicht der Anstalt, dass sie gehalten wäre, tatsächlich für eine solche Ernährung zu sorgen. Dies würde gegen den Grundsatz der weltanschaulich-religiösen Neutralität in der Tat verstoßen. Aber die Anstalt muss dem Gefangenen einen Rahmen eröffnen, in dem er seinen religiösen Pflichten nachkommen kann und ihm etwa die Selbstverpflegung gestatten18. Neben einer „Ermöglichungsnorm“ bedarf es aber auch der gesetzlichen Formulierung, unter der es zu einer Einschränkung der Religionsfreiheit kommen kann. Auch wenn das Grundrecht des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG nur verfassungsimmanenten Schranken unterliegt, bedarf es dennoch zur Einschränkung der Religionsfreiheit einer hinreichend bestimmten gesetzlichen Grundlage19. Der Maßstab dürfte sich weitgehend an § 4 Abs. 2 Satz 2 StVollzG orientieren: Dem Gefangenen dürften also Beschränkungen der Religionsfreiheit auferlegt werden, soweit dies „zur Aufrechterhaltung der Sicherheit oder zur Abwendung einer schwerwiegenden Störung der Ordnung der Anstalt unerlässlich ist“, wobei dies um den Zusatz „oder zum Schutz der Grundrechte der Mitgefangenen“ zu ergänzen wäre. 3. Die Gewährleistung der Tätigkeit von Religionsgemeinschaften im Strafvollzug a. Grundlagen Ein multireligiöses Konzept für ein Strafvollzugsgesetz muss sich auch mit der Frage der Gewährleistung der kollektiven Religionsfreiheit auseinandersetzen. Es muss Kriterien benennen, unter welchen Voraussetzungen Religionsgemeinschaften im Strafvollzug tätig werden dürfen. Hierbei geht es nicht um die Abwehr des islamistischen Extremismus, der unter dem Deckmantel der Religionsfreiheit Indoktrinations- oder Rekrutierungsversuche im Strafvollzug zu unternehmen sucht. Dies ist unter genuinen Sicherheitspunkten zu erörtern, die auf anderer Ebene abzuhandeln sind. Die Vollzugspraxis muss vielmehr in den Stand versetzt werden, berechenbar die Frage zu beantworten, ob eine Religionsgemeinschaft genuin religiöse Inhalte, die zwar nicht sicherheitsgefährdend sind, die aber grundlegenden Verfassungsprinzipien widersprechen, im Strafvollzug bekunden darf. Dabei kann der Vollzug religiöse Veranstaltungen nicht auf Dauer überwachen, um so verfassungsfeindliche Äußerungen ggf. durch das Eingreifen von Vollzugspersonal zu unterbinden. Notwendig ist stattdessen ein Verfahren, in dem im Vorfeld 18 19
Callies/Müller-Dietz aaO, § 21 Rn 5. BVerfGE 83, 130, 142; 108, 282, 297.
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die Voraussetzungen für ein Tätigwerden einer Religionsgemeinschaft geprüft werden können und an dessen Ende die Zulassung oder die Versagung steht. Ein solches Verfahren kennt das Strafvollzugsgesetz bislang nicht. Da die christlichen Kirchen der genuine Ansprechpartner des Vollzuges sind und sie bereits nach Art. 140 GG iVm Art. 141 WRV in Strafanstalten zur Vornahme religiöser Handlungen frei von jedem Zwang zuzulassen sind, bedurfte es eines solchen Verfahrens nicht. b. Zur Zulässigkeit eines strafvollzugsrechtlichen Zulassungsverfahrens Art. 140 GG iVm Art 137 Abs. 5 Satz 1 WRV bestimmt, dass die Religionsgesellschaften Körperschaften des öffentlichen Rechts bleiben, soweit sie solche bisher waren. Nach Art. 140 GG iVm Art 137 Abs. 5 Satz 2 WRV sind anderen Religionsgesellschaften auf ihren Antrag gleiche Rechte zu gewähren, wenn sie durch ihre Verfassung und die Zahl ihrer Mitglieder die Gewähr der Dauer bieten. Die Existenz von Art. 140 GG iVm Art 137 Abs. 5 Satz 2 WRV schließt ein eigenes strafvollzugsrechtliches Zulassungsverfahren nicht aus. Die Zulassung einer Religionsgemeinschaft als Körperschaft des öffentlichen Rechts zielt auf das Recht ab, Steuern erheben und diese durch das Finanzamt einziehen zu dürfen (Art. 140 GG iVm Art 137 Abs. 5 Satz 2 WRV). Dass nur eine Religionsgesellschaft im Strafvollzug tätig sein darf, die in dieser Weise staatliche Anerkennung besitzt, ist mit dem Grundrecht der kollektiven Religionsfreiheit nicht zu vereinbaren. Daran ändert auch die Existenz von Art. 140 iVm Art. 141 WRV nichts. c. Zu den Inhalten eines strafvollzugsrechtlichen Zulassungsverfahrens Über welche Inhalte in einem strafvollzugsrechtlichen Zulassungsverfahren verhandelt werden darf, ist nicht abschließend geklärt. Explizit hierzu haben sich bislang weder Rechtsprechung noch Literatur geäußert. Heranziehen lassen sich aber die Grundsätze, die das BVerfG zur Frage entwickelt hat, welche Anforderungen eine Religionsgemeinschaft erfüllen muss, die Körperschaft des öffentlichen Rechts im Sinne von Art. 140 GG iVm Art. 137 Abs. 5 Satz 2 WRV werden will. Das BVerfG verlangt hierfür ein „rechtstreues“ Verhalten dieser Religionsgemeinschaft. Sie muss zum einen die Gewähr dafür bieten, dass sie das geltende Recht beachten, insbesondere die ihr übertragene Hoheitsgewalt nur in Einklang mit den verfassungsrechtlichen und sonstigen gesetzlichen Bindungen ausüben wird. Diesem Aspekt kommt hier keine Bedeutung zu, da einer Religionsgemeinschaft, die im Strafvollzug tätig werden will, keine Hoheitsgewalt übertragen wird. Wesentlich für die vorliegenden Überlegungen ist aber die zweite Gewährleistung, die einer Religionsgemeinschaft abverlangt wird: Ihr künftiges Verhalten darf die in Art. 79 Abs. 3 GG umschriebenen fundamentalen Verfassungsprinzipien, die dem staatlichen Schutz anvertrauten Grundrechte
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Dritter sowie die Grundprinzipien des freiheitlichen Religions- und Staatskirchenrechts des Grundgesetzes nicht gefährden20. Diese zweite Gewährleistung einer Religionsgemeinschaft könnte die Basis dafür sein, auf der ein Zulassungsverfahren aufbauen könnte. Letztlich beinhaltet sie die Verfassungsgüter, die eine Einschränkung der kollektiven Religionsausübung im Sinne verfassungsimmanenter Schranken begründet. Die praktischen Probleme des Vollzuges werden mit einem Zulassungsverfahren zwar nicht gelöst. Der Vollzug erlangt aber eine größere Handlungssicherheit. Für die Religionsgemeinschaften, die im Strafvollzug tätig werden wollen, werden transparente Kriterien geschaffen. Umgekehrt werden sie ihre Wertvorstellungen, soweit sie zur Beantwortung der Gewährleistungskriterien von Bedeutung sind, darlegen müssen. Auch tragen sie die Beweislast dafür, dass sie im Zweifel nicht gegen fundamentale Verfassungsprinzipien oder von Staatswegen zu schützende Grundrechte Dritter verstoßen.
III. Ausblick Die Fragen der individuellen und kollektiven Religionsfreiheit im Strafvollzug gewinnen in einer multireligiösen Gesellschaft mehr und mehr an Bedeutung. Die auf die Länder übergegangene Gesetzgebungskompetenz für den Strafvollzug und die damit ausgelösten gesetzgeberischen Aktivitäten der Länder können genutzt werden, sich ihnen zu widmen. Die hier aufgezeigten Eckpunkte sollten dafür einen Diskussionsrahmen abstecken.
20
BVerfGE 102, 370.
Verspätete Pflichterfüllung, Täter-Opfer-Ausgleich und Schadenswiedergutmachung bei § 142 StGB Wolfgang Mitsch I. Einleitung Zu den schwierigsten Themen bei der Einrichtung eines effektiven rechtlichen Risikomanagements für das moderne Straßenverkehrsgeschehen scheint die angemessene strafrechtliche Reaktion auf rechtswidriges Verhalten von Unfallbeteiligten nach einem Unfall im Straßenverkehr zu gehören. Es ist bezeichnend, dass § 142 StGB in einem renommierten StGB-Kommentar als „zu den am meisten verunglückten Bestimmungen des Besonderen Teils“1 gehörend bewertet wird. Umfassend, präzise und eindringlich wird diese Einsicht auch in der großartigen Kommentierung des § 142 StGB von Klaus Geppert im Leipziger Kommentar vermittelt. Kein Stein bleibt hier unumgedreht. Das gilt insbesondere für die seit langem intensiv diskutierte und vom Gesetzgeber bislang nicht befriedigend geregelte Thematik des Täterverhaltens, das allgemein, in anderen tatbestandlichen Zusammenhängen und eben auch bei § 142 StGB als Rücktritt, rücktrittsähnliches Verhalten oder tätige Reue bezeichnet wird.2 Die aktuelle Regelung fängt diese Thematik in erster Linie und möglicherweise abschließend in § 142 Abs. 4 StGB ein, was in der Literatur mit Unzufriedenheit zur Kenntnis genommen und kommentiert wird. Auch Geppert spart nicht mit Kritik am Gesetzgeber und wünscht sich wie viele andere einen breiter angelegten Rückzug des Strafrechts.3 Mir scheint die Festschrift zum 70. Geburtstag des verehrten Jubilars eine gute Gelegenheit zu sein, die Möglichkeiten privilegierender Strafrechtsanwendung bei nachträglicher Pflichterfüllung oder ähnlichem honorierungswürdigen Nachtatverhalten des Unfallbeteiligten de lege lata umfassend auszuloten. Vielleicht ist ja die Regelung dieses Bereichs nicht ganz so eng, wie es – von Geppert zu recht beklagt 4 – die Voraussetzungen des § 142 1 So bereits zur früheren Fassung des § 142 StGB Geppert GA 1970, 1; zur Neufassung ders. BA 1986, 157; Schild in: Nomos Kommentar zum StGB, 3. Aufl. 2010, § 142 Rn 24; Schönke/Schröder/Cramer/Sternberg-Lieben StGB, 28. Aufl. 2010, 142 Rn 1. 2 Geppert in: Leipziger Kommentar zum StGB, 12. Aufl. 2009, § 142 Rn 199 ff. 3 LK-Geppert § 142 Rn 211a. 4 LK-Geppert § 142 Rn 211.
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Abs. 4 StGB sind. Im Zentrum der Betrachtung soll dabei die Vorschrift des § 46a StGB stehen, die nicht nur die gleichen Rechtsfolgen wie § 142 Abs. 4 StGB normiert, sondern auch auf ihrer Voraussetzungsseite einige Ähnlichkeiten aufweist.
II. Das „Zeitfenster“ normkonformer Pflichterfüllung bei § 142 StGB Da Straftatbestände rechtsgutsbeeinträchtigendes und zugleich normübertretendes – nämlich die Norm, dass man Rechtsgüter nicht verletzen soll, missachtendes – Verhalten beschreiben, ist tatbestandsmäßiges Verhalten die Kehrseite normangepaßten Verhaltens. Die Umkehrung dieses Satzes – wer sich nicht tatbestandsmäßig verhält, verhält sich normkonform – trifft bei § 142 StGB jedoch nicht ganz zu. Verhält sich der Täter nur so, dass er den Tatbestand nicht erfüllt, verletzt er zwar das strafrechtlich geschützte Rechtsgut nicht. Vollkommen pflichtgemäß ist sein Verhalten deswegen aber auch nicht. Welche Pflichten ein Unfallbeteiligter nach einem Unfall im Straßenverkehr hat, regelt § 34 StVO.5 Der dort aufgestellte Pflichtenkatalog deckt sich nur teilweise mit § 142 Abs. 1 und Abs. 2 StGB.6 Denn nicht jede der in § 34 Abs. 1 und Abs. 3 StVO aufgeführten Pflichten ist für die Verwirklichung des Straftatbestandes in dem Sinne unmittelbar relevant, dass die Verletzung dieser Pflicht zugleich Erfüllung des Straftatbestandes ist.7 Die Nichtermöglichung der Feststellung ist so lange kein straftatbestandsmäßiges Verhalten gem. § 142 Abs. 1 Nr. 1 StGB, wie der Unfallbeteiligte am Unfallort verweilt. Sich am Unfallort unter die „Gaffer“ zu mischen, hat zwar – vorläufig – feststellungsvereitelnde Wirkung, erfüllt jedoch nicht den Tatbestand des § 142 Abs. 1 StGB.8 Anders als in § 142 Abs. 2 StGB ist in § 142 Abs. 1 Nr. 1 StGB keine „unverzügliche“ Pflichterfüllung vorgeschrieben. Tatbestandsmäßig ist erst das räumliche und physische Entfernen vom Unfallort. Umgekehrt ist daher Nichtentfernen allenfalls die Erfüllung eines Teils der in § 142 Abs. 1 Nr. 1 StGB aufgeführten Pflichten, nämlich die Feststellungsermöglichung „durch seine – des Unfallbeteiligten – Anwesenheit“. Vollkommen pflichtgemäß verhält sich der Unfallbeteiligte erst, wenn er auch noch seine Unfallbeteiligung angegeben hat.9 Die Unterlassung dieser Angabe ist also nicht das tatbestandsmäßige Verhalten, sie ist eine Voraussetzung dafür, dass das anschließende Entfernen vom Unfallort tatbestands5 6 7 8 9
Geppert JURA 1990, 78 (81). Lackner DAR 1972, 283 (287 f.). Küper GA 1994, 49 (55). Geppert JURA 1990, 78 (82). Küper GA 1994, 49 (59).
Verspätete Pflichterfüllung
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mäßig ist. Dennoch zielt natürlich der Schutzzweck des Straftatbestandes unmittelbar auf die Feststellungsermöglichungspflicht einschließlich der Pflicht, sich als Unfallbeteiligter aktiv zu „outen“. Nicht um ihrer selbst willen wird die physische Anwesenheit des Unfallbeteiligten am Unfallort strafrechtlich abgesichert, sondern als Voraussetzung für die Erhebung unfallerheblicher Daten vor Ort. Geschützt ist das Interesse anderer Unfallbeteiligter an der Aufklärung des Unfallgeschehens, insbesondere der zivilrechtlichen Verantwortlichkeiten der am Unfall Beteiligten.10 Befriedigt ein Unfallbeteiligter dieses Interesse nicht, indem er seine pflichtgemäße Mitwirkung an der Aufklärung verweigert, macht er sich dadurch noch nicht strafbar. Umgekehrt allerdings schließt die rechtzeitige Befriedigung des Interesses durch Erbringung des geschuldeten Beitrags die Strafbarkeit aus. Der Unfallbeteiligte handelt nicht tatbestandsmäßig, wenn er sich vom Unfallort entfernt, nachdem er alle seine Pflichten erfüllt hat. Daher ist es durchaus treffend, die Nichterfüllung der Feststellungsermöglichungspflicht als „Kern des Unrechts“ zu charakterisieren.11 Rechtzeitigkeit der Pflichterfüllung umfasst den Zeitraum bis zur Vollendung des Entfernens. Kehrt der sich entfernende Unfallbeteiligte rechtzeitig um und zum Unfallort zurück, kann er dadurch die Tatbestandserfüllung und Strafbarkeit vermeiden. Da der Versuch nicht mit Strafe bedroht ist, ist die Vollendungsverhinderung kein Rücktritt gem. § 24 Abs. 1 S. 1 StGB, sondern Verhinderung der objektiven Tatbestandsmäßigkeit. Hat der Unfallbeteiligte jedoch durch seine Entfernung die Vollendungsgrenze schon erreicht und überschritten, kann die Umkehr die objektive Tatbestandsmäßigkeit nicht mehr beseitigen. Hier beginnt der Bereich, in dem über Regelungen wie § 142 Abs. 4 StGB nachzudenken ist. Der Überschreitung der Vollendungsgrenze kann auch nicht deswegen ihre unumkehrbar strafbarkeitsbegründende Wirkung abgesprochen werden, weil danach noch eine möglicherweise strafrechtlich relevante Phase der Beendigung der Tat durchlaufen werden könnte. Grundsätzlich ist schon zweifelhaft, ob man eine derartige Nachtatphase mit strafrechtlicher Erheblichkeit überhaupt anerkennen kann. Soweit dies in Rechtsprechung und Literatur gleichwohl geschieht, sind die sich daran knüpfenden Folgen ausschließlich strafbarkeitsbegründende12, beispielsweise Strafbarkeit wegen Beihilfe13 oder Strafbarkeit des zunächst ohne Vorsatz handelnden und erst nach Vollendung mit Vorsatzwissen ausgestatteten Unfallbeteiligten.14 Die Eröffnung einer Nachtatphase, innerhalb derer die
10
LK-Geppert § 142 Rn 1. So Lackner/Kühl StGB, 26. Aufl. 2007, § 142 Rn 9, 18. 12 Allgemein zu strafbarkeitsbegründenden oder strafbarkeitsverschärfenden Folgen der Beendigungsphase LK-Hillenkamp vor § 22 Rn 35 ff. 13 BayObLG JZ 1981, 241; krit. dazu LK-Geppert § 142 Rn 191. 14 So der Vorschlag des BVerfG NZV 2007, 368 (370); krit. LK-Geppert § 142 Rn 135b. 11
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Strafbarkeit noch durch nachträgliche Pflichterfüllung abgewendet oder aufgehoben werden kann, wird nicht anerkannt. Wendete man sich davon ab, hätte dies für den Anwendungsbereich des § 142 Abs. 4 StGB, der nach Geppert eine Sperrwirkung gegenüber der Idee analoger Anwendung etwa der §§ 83a, 306e, 314a oder 320 StGB entfaltet,15 zur Folge, dass er allein nachträgliche Feststellungsermöglichungen erfassen würde, die erst nach Beendigung der Tat erfolgten. Indessen steht einer Analogie – wie Geppert zutreffend betont – tatsächlich der gesetzgeberische Wille entgegen. Der Gesetzgeber hat § 142 Abs. 4 StGB nicht etwa deswegen so – unbefriedigend – restriktiv ausgestaltet, weil er davon ausging, Nachholung der Feststellungsermöglichung vor Beendigung der Tat schließe ohnehin die Strafbarkeit aus. Vielmehr war eine über § 142 Abs. 4 StGB hinausgehende Honorierung verspäteter Pflichterfüllung schlicht nicht gewollt. Diese Entscheidung darf man kritisieren, aber als Richtlinie für die Rechtsanwendung nicht ignorieren, also auch nicht durch Analogie übergehen.16 Festzuhalten ist daher, dass der zeitliche Rahmen für eine die Tatbestandsmäßigkeit und damit die Strafbarkeit ausschließende verzögerte Pflichterfüllung verlassen ist, sobald die Grenze der Vollendung des Sich-Entfernens erreicht und überschritten ist. Handelt der Unfallbeteiligte danach pflichterfüllend in einer Weise, die die Strafbarkeit aus § 142 StGB ausgeschlossen hätte, wenn er es etwas früher – vor Vollendung der Tat – getan hätte, kann die Strafbarkeit nicht mehr aufgehoben werden. Jedenfalls für einen Teil der in Betracht zu ziehenden Fälle ist eine Rechtsfolgenmilderung nach § 142 Abs. 4 StGB möglich. Die Reichweite dieser Vorschrift ist zunächst zu bestimmen (unten III), um danach die strafrechtliche Behandlung der nichterfaßten Fälle zu klären (unten IV).
III. Sanktionsmilderung nach § 142 Abs. 4 StGB Grundlegende Anwendungsvoraussetzung des § 142 Abs. 4 StGB ist das Vorliegen einer Tat, die nach Auffassung des Gerichts oder der im Fall des § 153b StPO (mit)entscheidungsbefugten Staatsanwaltschaft17 alle Strafbarkeitsvoraussetzungen des § 142 Abs. 1 oder Abs. 2 StGB erfüllt.18 § 142 Abs. 4 StGB nimmt ausdrücklich auf Absatz 1 und Absatz 2 Bezug, wenngleich – wie sich zeigen wird (unten 1. e) – die Erfüllung der Voraussetzung „innerhalb von 24 Stunden“ in einem nach § 142 Abs. 2 StGB strafbaren Fall etwas schwieriger sein dürfte als in einem Fall des § 142 Abs. 1 StGB. 15 16 17 18
LK-Geppert § 142 Rn 181. LK-Geppert § 142 Rn 181. LK-Geppert § 142 Rn 209. Fischer StGB, 57. Aufl. 2010, § 142 Rn 65.
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1. Der von § 142 Abs. 4 StGB erfasste Bereich a) Unfallbeteiligter Die ausdrückliche und ausschließliche Erwähnung des Unfallbeteiligten im Text des § 142 Abs. 4 StGB drängt bei zunächst von weiterführendem Nachdenken unbelasteter Lektüre die Annahme auf, dass der persönliche Anwendungsbereich der Vorschrift auf den Täter beschränkt ist und Anstifter und Gehilfen, denen die Eigenschaft „Unfallbeteiligter“ fehlt, nicht in den Genuss der sanktionserleichternden Rechtsfolgen kommen können. In den Erläuterungstexten der Kommentare ist ebenfalls nur vom „Täter“ die Rede und/oder wird die Frage, ob die Vorschrift auch auf Teilnehmer, deren Strafbarkeit letztlich auch auf § 142 Abs. 1 oder 2 StGB beruht, anwendbar ist, nicht thematisiert.19 Missverständlich ist in diesem Zusammenhang zudem eine Aussage, wie: „… der nur für den ,reuigen‘ Täter, nicht aber für Teilnehmer gilt (§ 28 Abs. 2)“20. Ohne den Klammerzusatz suggerierte dieser Text die Ansicht des Autors, dass ein „reuiger“ Teilnehmer durch eigenes Bemühen um fristgemäße nachträgliche Feststellungsermöglichung nicht erreichen kann, dass er eine nach § 49 Abs. 1 StGB gemilderte Strafe auferlegt bekommt oder von seiner Bestrafung abgesehen wird. Gemeint ist vielmehr, dass die Rechtsfolgen der allein vom Täter geleisteten tätigen Reue dem Täter allein zugute kommen und nicht auf die Sanktionsentscheidung gegenüber selbst nicht reuigen Teilnehmern zu erstrecken sind.21 In der Sache kann kein Zweifel daran bestehen, dass der Anwendungsbereich des § 142 Abs. 4 StGB strafbaren Unfallfluchtteilnehmern nicht von vornherein verschlossen ist.22 Bringt der Anstifter oder Gehilfe den Täter dazu, sich binnen 24 Stunden beim Berechtigten oder einer nahe gelegenen Polizeidienststelle zu melden und so die Feststellungen nachträglich zu ermöglichen (§ 142 Abs. 3 StGB), wäre es unverständlich, wenn die begünstigenden Folgen aus § 142 Abs. 4 StGB allein dem Täter zugute kämen und nicht dem Teilnehmer, dessen Verhalten vielleicht sogar verdienstvoller als das des Täters gewesen ist. Dass der Gesetzgeber bei der Fassung von Vorschriften über tätige Reue allein den Täter erwähnt, ist eine redaktionelle Üblichkeit, für die es im StGB viele Beispiele gibt.23 Anders als bei § 142 Abs. 4 StGB wird bei einigen Vorschriften 19 Lackner/Kühl § 142 Rn 38; LK-Geppert § 142 Rn 200; Zopfs in: Münchener Kommentar zum StGB, 2005, § 142 Rn 129; Schönke/Schröder/Cramer/Sternberg-Lieben § 142 Rn 88. 20 Ernemann in: Satzger/Schmitt/Widmaier, StGB, 2009, § 142 Rn 58. 21 So auch – deutlicher – am Anfang der Erläuterung bei Schönke/Schröder/Cramer/ Sternberg-Lieben § 142 Rn 88: „… die Strafbarkeit von Teilnehmern also unberührt lassenden …“; Fischer § 142 Rn 62; NK-Schild § 142 Rn 114. 22 NK-Schild § 142 Rn 115. 23 So auch § 46a StGB, wo ebenfalls nur der „Täter“ erwähnt ist, Anstifter und Gehilfen aber auch erfasst sind, Maiwald GA 2005, 339 (342).
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dazu auch in Rechtsprechung und Literatur Stellung genommen und der zu enge Zuschnitt des Textes mit dem Hinweis korrigiert, dass der persönliche Anwendungsbereich entsprechend der vorbildhaften Regelung in § 24 Abs. 2 StGB auch Anstifter und Gehilfen umfasse. Verwiesen sei hier auf § 158 StGB24, § 264 Abs. 5 StGB25, § 266a Abs. 6 StGB26, § 306e StGB27 und auf § 314a StGB28. Vollkommen unbestritten ist die Anwendbarkeit auf Anstifter und Gehilfen bei der strafbefreienden Selbstanzeige im Steuerstrafrecht, § 371 AO.29 Soweit also ein aus § 142 StGB strafbarer Teilnehmer, der nicht Unfallbeteiligter ist,30 die rechtzeitige nachträgliche Feststellungsermöglichung des Täters bewirkt, braucht nicht auf § 46a StGB ausgewichen zu werden, um sein honorierungswürdiges Verhalten mit Strafmilderung oder Absehen von Strafe zu belohnen. b) Unfall außerhalb des fließenden Verkehrs Aus der Gesamtmenge von Unfällen, die Ausgangssituation einer strafbaren Verkehrsunfallflucht sein können, greift § 142 Abs. 4 StGB nur einen kleinen Teilbereich heraus. Die zahlreichen Unfälle im fließenden Verkehr scheiden von vornherein aus. Schon aus diesem Grund vermehrt sich an dieser Stelle das Fallmaterial erheblich, für dessen Behandlung eventuell § 46a StGB in Betracht kommen kann. Im Übrigen bereitet die Voraussetzung „außerhalb des fließenden Verkehrs“ erhebliche Auslegungsprobleme.31 Der schwierigen Aufgabe ihrer Lösung könnte die Praxis enthoben sein, wenn es möglich wäre, auf der Grundlage des – einer Beschränkung auf bestimmte Unfallarten nicht unterworfenen – § 46a StGB die gleichen Rechtsfolgen zu begründen, wie § 142 Abs. 4 StGB sie vorsieht.
24 Lackner/Kühl § 158 Rn 1; MK-Müller § 158 Rn 6; Schönke/Schröder/Lenckner § 158 Rn 2; Rudolphi, in: SKStGB, 7. Aufl. (Stand August 1999), § 158 Rn 2; SSW-Sinn § 158 Rn 3; einschränkend Mitsch Straflose Provokation strafbarer Taten, 1986, S. 244. 25 Schönke/Schröder/Lenckner/Perron § 264 Rn 69; SK-Hoyer § 264 Rn 103. 26 SK-Hoyer § 266a Rn 104. 27 Schönke/Schröder/Heine § 306e Rn 16. 28 Schönke/Schröder/Cramer/Heine § 314a Rn 5. 29 Rüping in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO (Stand November 2000), § 371 Rn 39. 30 Auch ein wegen Teilnahme aus § 142 StGB strafbarer Anstifter oder Gehilfe kann Unfallbeteiligter sein, soweit er nämlich die Unfallflucht eines anderen Unfallbeteiligten veranlasst oder unterstützt. Hat er die eigene Unfallbeteiligtenpflicht erfüllt, ist er selbst nicht als Täter strafbar, aufgrund des Bezugs seines Verhaltens zur täterschaftlichen Unfallflucht des anderen Unfallbeteiligten aber wegen Anstiftung oder Beihilfe zu § 142 StGB. 31 Fischer § 142 Rn 63.
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c) Ausschließlich nicht bedeutender Sachschaden Ein Unfall iSd § 142 StGB verursacht immer einen Schaden. Dieser kann Sachschaden oder Personenschaden sein.32 § 142 Abs. 4 StGB bezieht sich nur auf Sachschäden. Weiter eingeschränkt wird der Anwendungsbereich der Vorschrift durch das Erfordernis eines „nicht bedeutenden“ Sachschadens. Damit wird allein auf die Höhe des wirtschaftlichen Verlusts abgestellt, der infolge des Schadens an der Sache – z.B. einem Pkw – entstanden ist. Die vom Gesetz nicht konkretisierte Grenze soll derzeit bei 1300 € liegen.33 d) Feststellungsermöglichung gem. § 142 Abs. 3 StGB Welche Leistung der verpflichtete Unfallbeteiligte inhaltlich zu erbringen hat, ergibt sich aus § 142 Abs. 3 StGB. Die Pflicht zur aktiven Förderung der Feststellungen (§ 142 Abs. 3 S. 1 StGB) wird flankiert durch die Pflicht, die Feststellungen nicht absichtlich zu vereiteln (§ 142 Abs. 3 S. 2 StGB). Bedingt vorsätzliche oder fahrlässige Feststellungsvereitelungen sind unschädlich, stehen der Anwendung des § 142 Abs. 4 StGB also nicht entgegen. e) Innerhalb von 24 Stunden Die 24-Stunden-Frist beginnt nicht mit Vollendung der Tat, sondern ab dem Unfall.34 Dabei trägt der Täter das Risiko der Fristwahrung. Hält er die Frist nicht ein, ist § 142 Abs. 4 StGB unanwendbar, gleich ob der Täter die Fristversäumung verschuldet hat oder nicht. Das gilt selbst dann, wenn eine fristgerechte Feststellungsermöglichung von vornherein nicht möglich war, weil die Tat erst zu einem Zeitpunkt später als 24 Stunden nach dem Unfall vollendet war. Dies ist in Fällen des § 142 Abs. 2 Nr. 2 StGB denkbar, wenn die rechtfertigende oder entschuldigende Lage erst zu einem derart späten Zeitpunkt wegfällt und erst jetzt das tatbestandsmäßige Verhalten – Unterlassung unverzüglicher nachträglicher Feststellungsermöglichung – beginnt. f) Freiwillig Obwohl ratio des § 142 Abs. 4 StGB die Verbesserung der Chancen des Geschädigten auf Wahrung seiner durch die Unfallflucht zunächst gefährdeten Beweissicherungsinteressen sein soll,35 verzichtet die Vorschrift nicht auf das Freiwilligkeitserfordernis. In Anbetracht dieses Normzwecks wäre ein solcher Verzicht durchaus plausibel gewesen, wie das Beispiel des § 239a Abs. 4 StGB, dem eine ähnliche gesetzgeberische Überlegung zugrunde liegt, 32 33 34 35
Fischer § 142 Rn 7. Fischer § 142 Rn 64; NK-Schild § 142 Rn 113; SK-Rudolphi/Stein § 142 Rn 57. NK-Schild § 142 Rn 114; SK-Rudolphi/Stein § 142 Rn 55. Böse StV 1998, 509.
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bestätigt.36 Auch der Blick auf § 371 AO verhilft zu der Erkenntnis, dass es tunlich ist, die „goldene Brücke“ möglichst leicht begehbar zu gestalten, wenn damit erreicht werden soll, dass der Täter dem Geschädigten oder dem Staat eine Leistung erbringt und die Erlangung des Leistungsgegenstandes allein oder vorrangig die Legitimationsbasis der privilegierenden Vorschrift bildet.37 Bis zu den in § 371 Abs. 2 AO beschriebenen Ereignissen steht nämlich die Unfreiwilligkeit der Selbstanzeige der in § 371 Abs. 1 AO gesetzlich angeordneten und dem „Steuersünder“ versprochenen Straffreiheit nicht entgegen.38 Danach ist das fiskalische Interesse an möglichst starker Motivierung des Steuerschuldners zur Selbstanzeige geschrumpft, weil auf Grund der inzwischen eingeleiteten behördlichen Maßnahmen ohnehin die Chance geschaffen wurde, dass der Staat auch ohne Mitwirkung des Delinquenten an das ihm zustehende Geld kommt. Um dem § 142 Abs. 4 StGB mehr Schubkraft zu verschaffen, hätte man die Vorschrift ähnlich fassen können : Solange der Geschädigte bei der Durchsetzung seiner zivilrechtlichen Ansprüche oder der vermeintliche Schädiger bei der Abwehr ungerechtfertigter zivilrechtlicher Inanspruchnahme durch Dritte darauf angewiesen ist, dass der Unfallbeteiligte die in § 142 Abs. 3 StGB umschriebene Aufklärungshilfe leistet, sollte auf das hemmende 39 Freiwilligkeitserfordernis verzichtet werden. Ist das Beweissicherungsinteresse des Geschädigten hingegen inzwischen anderweitig befriedigt worden oder erloschen, wäre eine Strafmilderung oder ein Absehen von Strafe allenfalls noch auf der Grundlage einer § 24 Abs. 1 S. 2 StGB oder § 314a Abs. 4 StGB nachempfundenen – also auch Freiwilligkeit fordernden – Regelung begründet. Der Vergleich mit § 24 StGB zeigt zudem, dass § 142 Abs. 4 StGB unangemessen hohe Anforderungen stellt. Denn anders als der vom Versuch Zurücktretende begibt sich der nachträglich Feststellungen ermöglichende Unfallbeteiligte seines Schutzes durch den nemo-tenetur-Grundsatz.40 Insbesondere bei nachträglicher Mitteilung an eine Polizeidienststelle liefert er sich der Strafverfolgung aus und erbringt damit ein viel größeres Opfer als der Täter, der unentdeckt vom Versuch zurücktritt und dafür sogar mit Straffreiheit belohnt wird. Die obligatorische
36
MK-Renzikowski § 239a Rn 92, 97. BGHSt 29, 37 (40); 35, 36 (37); 37, 340 (346); Kohlmann Steuerstrafrecht, 7. Aufl. (Stand Oktober 1998), § 371 Rn 11; Rolletschke Steuerstrafrecht, 3. Aufl. 2009, Rn 546; Simon/Vogelberg Steuerstrafrecht, 2000, S. 156; anders z. B. Joecks in Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, 7. Aufl. 2009, § 371 Rn 28, der das Sprudeln der Steuerquelle lediglich als „angenehme Nebenfolge“, nicht aber als tragenden Grund der gesetzlichen Straffreiheitszusage anerkennt. 38 von Briel NStZ 1997, 33 (34); Kohlmann § 371 Rn 13; aA Löffler Grund und Grenzen der steuerstrafrechtlichen Selbstanzeige, 1992, S. 150 ff.; Hunsmann Das steuerstrafrechtliche Selbstanzeigeprivileg im Lichte des § 370a S. 3 AO, 2006, S. 57. 39 Kohlmann § 371 Rn 14: „Hemmschuh“. 40 Weigend FS Tröndle, 1989, S. 753 (759). 37
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Strafmilderung ist auch bei unfreiwilliger Feststellungsermöglichung berechtigt und wird im anzuwendenden gesetzlichen Normalstrafrahmen gem. § 46 Abs. 2 StGB berücksichtigt. Das Absehen von Strafe steht ohnehin im Ermessen des Gerichts. Daher könnte man an dieser Stelle dem Einzelfall gerecht werden, wenn einmal gerade wegen der Unfreiwilligkeit das Absehen von Strafe als überzogene Milde empfunden werden sollte. Jedenfalls empfiehlt sich im Kontext des § 142 Abs. 4 StGB eine weite Auslegung des Freiwilligkeitsbegriffs. 2. Der von § 142 Abs. 4 StGB nicht erfasste Bereich Den Anwendungsbereich des § 142 Abs. 4 StGB verfehlen alle die Fälle, bei denen entweder die Art des Unfalls den Anforderungen nicht entspricht oder die erforderliche nachträgliche Feststellungsermöglichung nicht vorschriftsgemäß geleistet wird. Es handelt sich also zunächst um alle Unfälle innerhalb des fließenden Verkehrs, sodann um alle Unfälle – sowohl innerhalb als auch außerhalb des fließenden Verkehrs – mit bedeutendem Sachschaden oder/und – bedeutendem und unbedeutendem (jedoch für die Tatbestandserfüllung ausreichendem) – Personenschaden. Des weiteren geht es um Handlungen, die gar keine Feststellungsermöglichung sind oder zwar Feststellungsermöglichung sind, jedoch die Voraussetzungen des § 142 Abs. 3 StGB nicht vollständig erfüllen. Schließlich seien noch Feststellungsermöglichungen genannt, die später als 24 Stunden nach dem Unfall bewirkt werden oder denen kein freiwilliger Handlungsentschluss des Täters zugrunde liegt. In Fällen mit diesen Kennzeichen ist eine Strafmilderung oder ein Absehen von Bestrafung nach § 142 Abs. 4 StGB nicht möglich. Jedenfalls wenn die Differenz zu einem von § 142 Abs. 4 StGB erfassten Fall gering ist, erscheint die Frage berechtigt, ob auf einer anderen rechtlichen Grundlage eine Sanktionsmilderung begründbar ist, die weiter geht als die allgemeine Milderungsmöglichkeit im Rahmen des § 46 StGB.41 Diese rechtliche Grundlage könnte § 46a StGB sein.
IV. Sanktionsmilderung nach § 46a StGB Rechtsfolge des § 46a StGB ist ebenso wie bei § 142 Abs. 4 StGB die Milderung des Strafrahmenniveaus gem. § 49 Abs. 1 StGB oder das Absehen von Strafe. Im Unterschied zu § 142 Abs. 4 StGB ist die Strafmilderung bei § 46a StGB nicht obligatorisch, sondern eine Entscheidung nach pflichtgemäßem Ermessen. Auf der Rechtsfolgenseite unterscheiden sich die beiden Vor-
41
SK-Rudolphi/Stein § 142 Rn 54.
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schriften also sehr gering. Gegen eine derartige § 142 StGB betreffende Rechtsfolgenentscheidung auf der Grundlage des § 46a StGB könnten drei rechtliche Gesichtspunkte sprechen: § 142 Abs. 4 StGB könnte eine abschließende Sonderregelung mit Sperrwirkung sein, die die Anwendung des § 46a StGB auch ausschließt, wenn dessen Voraussetzungen erfüllt sind (dazu unten 1.). Der Anwendungsbereich des § 46a StGB könnte so begrenzt sein, dass er Taten, die nach § 142 StGB strafbar sind, verschlossen ist (dazu unten 2.). Unerlaubtes Entfernen vom Unfallort könnte eine Tat sein, nach deren Begehung es unmöglich ist, die Voraussetzungen des § 46a StGB zu erfüllen (dazu unten 3.). 1. Verhältnis zwischen § 142 Abs. 4 StGB und § 46a StGB Eine explizite Aussage dahingehend, dass § 46a StGB hinter § 142 Abs. 4 StGB zurücktrete und deshalb beim Delikt „Unerlaubtes Entfernen vom Unfallort“ komplett unanwendbar sei, insbesondere auch in Fällen, in denen die Voraussetzungen des § 142 Abs. 4 StGB nicht erfüllt sind, findet man nirgends. Das Konkurrenzverhältnis des § 46a StGB zu anderen Vorschriften mit einem ähnlichen Regelungsgegenstand, für das es im geltenden Recht durchaus einige Beispiele gibt, stößt in der Literatur allein in Bezug auf § 371 AO auf größeres Interesse. Die Analyse dieses Konkurrenzverhältnisses mündet bei den meisten Autoren in der Feststellung, dass § 371 AO keine Ausschlussfunktion gegenüber § 46a StGB habe.42 Verallgemeinerbar ist dies aber nicht. Während § 371 AO und § 46a StGB sich deutlich sowohl im Bereich der Voraussetzungen als auch im Bereich der Rechtsfolgen unterscheiden und unterschiedliche Zwecke verfolgen, besteht zwischen § 46a StGB und § 142 Abs. 4 StGB auf der Rechtsfolgenseite eine starke Ähnlichkeit. Daher kann vom Verhältnis zwischen § 371 AO zu § 46a StGB nicht ohne weiteres auf ein entsprechendes Verhältnis zwischen § 142 Abs. 4 StGB zu § 46a StGB geschlossen werden. Nach Stein, der die Kommentierung des § 142 StGB von Rudolphi im Systematischen Kommentar fortführt, ist die sanktionserleichternde Berücksichtigung eines Nachtatverhaltens, das „der aus der Tat resultierenden Vermögensgefährdung entgegenwirkt oder gar den Eintritt eines Vermögensschadens verhindert“ in § 142 Abs. 4 StGB „abschließend geregelt“. Insbesondere analoge Anwendung von § 24 StGB oder anderen Tätige-ReueVorschriften sei ausgeschlossen.43 Diese in der letzten von Hans Joachim
42 Brauns wistra 1996, 214 ff.; von Briel NStZ 1997, 33, Klawitter DStZ 1996, 553 (554); Kottke DB 1997, 549 (551); NK-Streng § 46a Rn 10; Schwedhelm/Spatscheck DStR 1995, 1449 ff.; aA Blesinger wistra 1996, 90; Schabel wistra 1997, 201 ff. 43 SK-Rudolphi/Stein § 142 Rn 54.
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Rudolphi verfassten Kommentierung 44 noch nicht enthaltenen Ausführungen stammen nicht aus einer Zeit, als es den 1994 eingeführten § 46a StGB noch nicht gab. Obwohl die Vorschrift nicht ausdrücklich erwähnt wird, muss das „abschließend“ also auch auf § 46a StGB bezogen und dahingehend verstanden werden, dass die Anwendung des § 46a StGB auf Nachtatverhalten im Anschluss an strafbares unerlaubtes Entfernen vom Unfallort nicht in Betracht kommt. Auch Geppert geht in seinen Erläuterungen des § 142 Abs. 4 StGB auf § 46a StGB nicht ein, schlägt aber für Fälle, in denen die Voraussetzungen des § 142 Abs. 4 StGB nicht erfüllt sind, eine fakultative Strafmilderung vor.45 Das in § 46a StGB vorgesehene Absehen von Strafe erwähnt er in diesem Zusammenhang nicht. Daraus ist zu schließen, dass Geppert einer Anwendung des § 46a StGB ablehnend – oder zumindest nicht zustimmend – gegenübersteht. Soweit die Voraussetzungen des § 142 Abs. 4 StGB erfüllt sind, ist dagegen nichts einzuwenden, da der Täter durch die Anwendung des § 46a StGB nichts bekäme, was er nicht infolge der Anwendung des § 142 Abs. 4 StGB bekommt. Da § 142 Abs. 4 StGB anders als § 46a StGB in seiner Strafmilderungsvariante einen obligatorischen Rechtsanwendungsauftrag enthält und die Anwendbarkeit seiner Strafverzichtsvariante nicht durch ein fiktives Strafmaß beschränkt, kann § 142 Abs. 4 StGB insoweit Lex-specialis-Charakter zugeschrieben werden. Zudem ist § 142 Abs. 4 StGB im Verhältnis zu § 46a StGB lex posterior, was ebenfalls für einen – zumindest partiellen – Vorrang gegenüber § 46a StGB spricht.46 Problematisch ist dagegen die Behandlung der Fälle, in denen der Täter die Voraussetzungen des § 142 Abs. 4 StGB nicht erfüllt – z.B. die 24-Stunden-Frist überschreitet – aber einen erfolgreichen Täter-Opfer-Ausgleich durchführt oder Wiedergutmachung leistet und damit die Voraussetzungen des § 46a StGB erfüllt. Gerade in solchen Fällen kommt die ab- und ausschließende Wirkung einer vorrangigen Norm spürbar zur Geltung. Stein gibt für seine Behauptung der „abschließenden Regelung“ keine Begründung. Eine solche wäre an dortiger Stelle auch nicht notwendig, wenn es eine allgemeine Dogmatik der Konkurrenz von Normen, insbesondere derer mit Sperrwirkung und abschließender Regelung gäbe, die unter anderem auch für das Verhältnis des § 142 Abs. 4 StGB zu § 46a StGB gültig wäre. Dies ist jedoch nur eingeschränkt der Fall. Die Lehre von der zwischen Straftaten und Straftatbeständen bestehenden Konkurrenz ist für die hiesige Thematik wenig zielführend. Denn das Spezifikum der aus § 142 Abs. 4 StGB und § 46a StGB bestehenden Konstellation besteht darin, dass es sich um täterbegünstigende Vorschriften handelt, die 44
Stand September 1998. LK-Geppert § 142 Rn 211. 46 Röhl/Röhl Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 585; Rüthers Rechtstheorie, 3. Aufl. 2007, Rn 772. 45
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Nichtanwendung einer dieser Vorschriften trotz Erfüllung ihrer tatbestandlichen Voraussetzungen also eine täterbelastende Wirkung hat. Im Bereich der §§ 52 ff StGB geht es hingegen um die Konkurrenz von Normen, die jede für sich eine täterbelastende Wirkung haben. Die Nichtanwendung einer dieser Normen kann daher in der Regel den Täter nicht belasten. Entlasten kann sie ihn meistens aber auch nicht, da der Regelfall des Zurücktretens der eines milderen Straftatbestandes hinter einem schärferen ist. Zudem entfaltet der zurücktretende Tatbestand immer noch eine „Sperrwirkung nach unten“, indem seine höhere Strafrahmenuntergrenze die niedrigere Strafrahmenuntergrenze des vorrangigen Tatbestandes verdrängt.47 Anders ist es nur, wenn sich eine privilegierende Strafvorschrift gegenüber dem schwereren Grundtatbestand oder gar einem noch schwereren Qualifikationstatbestand durchsetzt. Aus der Dogmatik der Straftatbestandskonkurrenzen lässt sich daher für die hier thematisierte Situation immerhin die dem Grunde nach anerkannte „Sperrwirkung des milderen Tatbestandes“ aufgreifen. So wird etwa beim Zusammentreffen von § 211 StGB und § 216 StGB dem letztgenannten Privilegierungstatbestand eine § 211 StGB ausgrenzende Sperrwirkung zugeschrieben, damit dem Täter die Vergünstigung des milderen Strafgesetzes nicht nur neben dem ohnehin zurücktretenden § 212 StGB48, sondern auch im Verhältnis zu der Qualifikation des § 211 StGB erhalten bleibt.49 Die Lösung der Konkurrenzproblematik wird also von dem Bestreben geleitet, den Täter vor einer rechtlichen Verschlechterung seiner Stellung zu bewahren. Könnte man dies als zentrale Aussage einer allgemeingültigen „Meta-Regel“ zur Bewertung von Konkurrenzkonstellationen anerkennen, müsste das Verhältnis zwischen § 142 Abs. 4 StGB und § 46a StGB nicht im Sinne eines Ausschlusses, sondern im Sinne einer Ergänzung gedeutet werden. Ein Täter, der die Voraussetzungen des § 46a StGB erfüllt, soll nicht auf Grund der Existenz des § 142 Abs. 4 StGB schlechter stehen als er stünde, wenn es § 142 Abs. 4 StGB nicht gäbe. Allerdings darf auf der anderen Seite auch nicht eine Unterlaufung der engen Voraussetzungen des § 142 Abs. 4 StGB durch Anwendung des § 46a StGB bewirkt werden. Erbringt der Unfallbeteiligte erst 25 Stunden nach dem Unfall die ansonsten § 142 Abs. 4 StGB entsprechende Leistung, wäre die Begrenzungswirkung dieses zeitlichen Rahmens pulverisiert, könnte dieses Nachtatverhalten des Täters ohne weiteres die Anwendung des § 46a StGB auslösen. Diese Gefahr besteht jedoch zweifellos nicht. Zum einen stellen § 46a Nr. 1 und § 46a Nr. 2 StGB höhere Anforderungen an den Täter, hinter denen sogar eine komplette Erfüllung sämtlicher Voraussetzungen des 47
Küpper GS Meurer, S. 123 (134). LK-Rissing-van Saan vor § 52 Rn 115. 49 Küpper GS Meurer, S. 123 (124); Lackner/Kühl vor § 211 Rn 24; krit. MK-Schneider § 216 Rn 66. 48
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§ 142 Abs. 4 StGB in der Regel zurückbleiben wird. Nachträgliche Erfüllung der Feststellungsermöglichungspflicht reicht also allein gar nicht aus, um zur Anwendung des § 46a StGB zu gelangen. Zum anderen steht die Anwendung des § 46a StGB im Ermessen der Strafjustizorgane, das im konkreten Fall so ausgeübt werden kann, dass eine Ausmanövrierung des § 142 Abs. 4 StGB vermieden wird. Eine gewisse Ähnlichkeit weist das Nebeneinander von § 142 Abs. 4 StGB und § 46a StGB mit den Fällen auf, über die man unter dem Leitgedanken „Konkurrenz von Rechtfertigungsgründen“ eine – nicht sehr lebhafte – strafrechtsdogmatische Diskussion führt. Da es auf dem großen Feld unrechtsausschließender Rechtfertigungsgründe Überschneidungen und Kumulierungen gibt, drängt sich auch die Annahme auf, dass hier Konkurrenzverhältnisse bestehen können. Beispielsweise käme man in vielen Fällen rechtfertigender Notwehr auch auf der Grundlage des rechtfertigenden Notstandes – insbesondere des Defensivnotstands – zum Ergebnis der Tatrechtfertigung. Dennoch würde man in einem solchen Fall auf Notstand nur dann eingehen, wenn die prioritäre Notwehrprüfung mit der Feststellung endete, dass die Voraussetzungen des § 32 StGB nicht vollständig erfüllt sind. Ob danach eine Rechtfertigung der Tat durch Notstand möglich ist, hängt von zwei Bedingungen ab: Erstens müssen die Voraussetzungen des rechtfertigenden Notstands erfüllt sein und zweitens darf § 32 StGB keine die Anwendung des § 34 StGB (oder evtl. § 228 BGB) ausschließende Sperrwirkung entfalten.50 Ersteres ist recht unproblematisch, wenn Notwehr etwa deswegen ausscheidet, weil der Angriff noch nicht gegenwärtig ist. Wegen der unterschiedlichen Bezugsgrößen der Gegenwärtigkeit – Angriff bei § 32 StGB und Gefahr bei § 34 StGB – kann es im Einzelfall durchaus sein, dass im Zeitpunkt eines zu erwartenden aber noch nicht gegenwärtigen Angriffs bereits einer gegenwärtige „Angriffsgefahr“ vorliegt.51 So verhielt es sich bekanntlich in dem vom BGH auf der Basis der §§ 34, 35 StGB erörterten und entschiedenen „Spanner-Fall“. Die Erfüllung der zweiten Bedingung – dass die Anwendung des § 34 StGB nicht an einer Ausschlusswirkung des § 32 StGB scheitert – ist vor allem deswegen fraglich, weil die Gefahr einer Umgehung des § 32 StGB besteht und dieser Gefahr durch ein Anwendungsverbot bezüglich § 34 StGB begegnet werden könnte. Der BGH hat dazu in der Spanner-Entscheidung nicht Stellung genommen, weil er der Anwendung des § 34 StGB dadurch auswich, dass er sich auf den jedenfalls eingreifenden § 35 StGB stützen zu können meinte.52 Hirsch und Hruschka haben diese Vorgehensweise zu Recht beanstandet.53 Schroeder hat darüber hinaus in seiner 50 51 52 53
Eingehend dazu Gropengießer JURA 2000, 262 ff. Otto JURA 1999, 552. BGH NJW 1979, 2053 (2054): „… kann dahingestellt bleiben …“. Hirsch JR 1980, 115 (118); Hruschka NJW 1980, 21 (23).
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Entscheidungsbesprechung das Thema der Konkurrenz zwischen § 32 StGB und § 34 StGB explizit angeschnitten, im Ergebnis der Notwehr jedoch keine Sperrwirkung gegenüber dem Notstand zugeschrieben.54 Ein weiteres markantes Beispiel einer derartigen Rechtfertigungs-Konkurrenz ist die zwischen der medizinischen Indikation des Schwangerschaftsabbruchs (§ 218a Abs. 2 StGB) und dem rechtfertigenden Notstand (§ 34 StGB). Die Existenz des § 218a StGB beinhaltet zumindest eine teilweise Sperrwirkung im Verhältnis zu § 34 StGB. Denn die engeren Rechtfertigungsvoraussetzungen des § 218a Abs. 2 StGB – z. B. das Arzterfordernis – sollen nicht durch den weiteren allgemeinen Notstandsrechtfertigungsgrund umgangen werden können.55 Enthielte § 34 StGB hingegen strengere Voraussetzungen als § 218a Abs. 2 StGB, könnte von einer Umgehung des § 218a Abs. 2 StGB nicht die Rede sein. Eine Verdrängung des § 34 StGB durch § 218a Abs. 2 StGB stünde dann wohl nicht zur Debatte. Die Erkenntnisse zur Konkurrenz von Rechtfertigungsgründen geben im Ergebnis keinen Anlass, von der Existenz des § 142 Abs. 4 StGB auf eine völlige Unanwendbarkeit des § 46a StGB in der nachtatlichen Zone eines Unerlaubten Entfernens vom Unfallort zu schließen. Die Voraussetzungen des § 46a StGB haben im Vergleich mit denen des § 142 Abs. 4 StGB zum Teil aliud-Charakter, zum Teil sind sie strenger. Der Täter, der sich die Chance auf Behandlung seiner Tat nach § 46a StGB verdienen will, muss etwas anderes oder mehr leisten als das, was § 142 Abs. 4 StGB von ihm verlangt. Zudem müsste eine von § 142 Abs. 4 StGB ausstrahlende Ausschlusswirkung gegenüber § 46a StGB auf ihre verfassungsrechtliche Unbedenklichkeit überprüft werden. Denn einem Täter, der durch sein Verhalten nach der Tat sämtliche Voraussetzungen des § 46a StGB erfüllt, das bonum der dort vorgesehenen Rechtsfolgen nach Maßgabe pflichtgemäßer Ermessensausübung kategorisch zu verweigern, wäre eine täterbelastende Rechtsanwendung – genauer gesagt: Nichtanwendung von geltendem Recht – entgegen dem Gesetzeswortlaut. Dies kann im Lichte der Art. 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB nicht ohne weiteres akzeptiert werden.56 Eine klarstellende sprachliche Verknüpfung von § 142 Abs. 4 StGB mit § 46a StGB wäre wünschenswert und gesetzestechnisch gewiss unschwer zu realisieren. Das diesbezügliche Schweigen des Gesetzes darf deshalb wohl als Indiz für die Richtigkeit der hier vertretenen Meinung gewertet werden.
54
Schroeder JuS 1980, 336 (338). Vgl. LK-Rönnau vor § 32 Rn 78; LK-Zieschang § 34 Rn 85; LK-Kröger § 218 Rn 42. 56 Zur Restriktion von gesetzlich geregelten Rechtfertigungsgründen ohne positivgesetzliche Restriktionsanordnung vgl. Schönke/Schröder/Eser § 1 Rn 14a. 55
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2. Anwendungsbereich des § 46a StGB Als rechtliche Grundlage der Berücksichtigung von Nachtatverhalten bei unerlaubtem Entfernen vom Unfallort ungeeignet wäre § 46a StGB, wenn dessen Anwendungsbereich auf bestimmte Taten und Tatbestände beschränkt wäre und § 142 StGB zu diesen Tatbeständen nicht gehörte. Dem Wortlaut des § 46a StGB ist eine derartige Ausgrenzung des § 142 StGB nicht zu entnehmen.57 Umgekehrt enthält auch der Text des § 142 StGB keinen Hinweis darauf, dass diesem Delikt der Anwendungsbereich des § 46a StGB verschlossen sei. Der daraus hervorgehende Eindruck, dass der Gesetzgeber bei der Schaffung des § 46a StGB eine deliktsspezifische Begrenzung des Anwendungsbereichs nicht gewollt habe, trifft zu. Weder die Art des betroffenen Rechtsgutes noch die Schwere des begangenen Unrechts sind explizit als Ausschlusskriterien herangezogen worden.58 § 46a StGB kann deshalb auch bei schweren Verbrechen anwendbar sein.59 Eine Grenze setzt § 46a StGB der konkret fallbezogenen Anwendung daher allein durch seine Voraussetzungen, insbesondere durch das in Nr. 2 enthaltene Erfordernis „erheblicher persönlicher Leistungen“ oder eines „persönlichen Verzichts“ (dazu unten 3b). Eine abstrakte deliktsgruppenbezogene Anwendbarkeitsschranke ergibt sich allerdings sowohl aus dem Wortlaut des § 46a StGB als auch aus dem Wesen des Täter-Opfer-Ausgleichs und der Schadenswiedergutmachung in dem Sinne, dass diese Täterleistungen ohne ein durch die Tat verletztes Opfer bzw. ohne einen durch die Tat verursachten Schaden nicht denkbar sind. Daher ist § 46a StGB nicht anwendbar bei „opferlosen Delikten“.60 Je nachdem, was man unter „Opfer“ versteht und ob man demzufolge z.B. Delikte gegen juristische Personen und/oder die Allgemeinheit als „opferlos“ qualifiziert, ist der Kreis der Taten, die „von vornherein“ keinen Zugang zum Anwendungsbereich des § 46a StGB haben, unterschiedlich groß. Hier interessiert allein, ob das genannte Ausschlusskriterium „Nichtvorhandensein eines Opfers“ auf § 142 StGB zutrifft. Der Gesetzeswortlaut des § 142 StGB gibt auf diese Frage keine eindeutige Antwort. Zwar ist dort die Rede von „anderen Unfallbeteiligten“, „Geschädigten“ (§ 142 Abs. 1 Nr. 1 StGB) und „Berechtigten“ (§ 142 Abs. 3 S. 1 StGB). Doch ist mit keiner dieser drei Bezeichnungen der Status einer Person umschrieben, die auf Grund einer
57 Pielsticker § 46a StGB – Revisionsfalle oder sinnvolle Bereicherung des Sanktionenrechts?, 2004, S. 26. 58 HK-GS/Rössner/Kempfer § 46a Rn 14; Kasperek Zur Auslegung und Anwendung des § 46a StGB, 2002, S. 60; NK-Streng § 46a Rn 9; SSW-Eschelbach § 46a Rn 8. 59 BGHSt 48, 134 (140); Lackner/Kühl § 46a Rn 1b; Meier Strafrechtliche Sanktionen, 2. Aufl. 2006, S. 327; ders. JuS 1996, 436 (439); Schönke/Schröder/Stree § 46a Rn 4; krit. SSW-Eschelbach § 46a Rn 18. 60 Meier JuS 1996, 436 (439); Pielsticker S. 114 ff.; Kasperek S. 60 ff.; NK-Streng § 46a Rn 10; Rössner/Bannenberg GS Meurer, S. 157 (166); SK-Horn § 46a Rn 3.
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Straftat eine Rechtsgutsverletzung erlitten hat. Der „Geschädigte“ heißt so, weil er durch den Unfall geschädigt worden ist. Der „andere Unfallbeteiligte“ ist an dem Unfall beteiligt, was keineswegs voraussetzt, dass er durch den Unfall überhaupt geschädigt worden ist. Der „Berechtigte“ schließlich ist entweder anderer Unfallbeteiligter oder Geschädigter oder beides. Indem er dies geworden ist, ist er aber noch nicht zum Tatopfer geworden. Denn der Unfall ist keine Straftat und das unfallursächliche Fehlverhalten ist – wenn überhaupt eine Straftat – nicht die Straftat, um die es geht. Verletzter oder Tatopfer ist jemand, der durch die Begehung der Straftat verletzt worden ist. Hier geht es um die Straftat „Unerlaubtes Entfernen vom Unfallort“. Das Opfer dieser Tat müsste also gerade durch das Entfernen in seinen Rechtsgütern geschädigt worden sein. Voraussetzung ist deshalb, dass es einen Rechtsgutsinhaber gibt, dem der Schutzzweck des § 142 StGB gewidmet ist und der durch die Tat angegriffen, dessen Rechtsgut also durch das unerlaubte Entfernen vom Unfallort beeinträchtigt wird. An diesem Punkt erweist sich der Gesetzeswortlaut – anders als die irreführende Einordnung des § 142 StGB bei den „Straftaten gegen die öffentliche Ordnung“61 – letztlich doch als aufschlussreich. Indem er den „Berechtigten“ erwähnt (§ 142 Abs. 3 S. 1 StGB) und den Gegenstand der Berechtigung durch den Verweis auf § 142 Abs. 1 Nr. 1 StGB definiert, stellt er die Existenz einer Person klar, die eine Rechtsposition innehat, die gerade durch das Entfernen vom Unfallort in eine gefährliche Schieflage gebracht wird. Dieser Berechtigte erleidet infolge der Tat eine Beeinträchtigung seines Rechts auf Verschaffung unfallrelevanter Informationen bzw. auf Duldung der Erhebung unfallrelevanter Informationen.62 Beeinträchtigt werden dadurch auch die dahinter stehenden Vermögensinteressen, wenn ein Unfallbeteiligter sich unerlaubt vom Unfallort entfernt. Überwiegend wird diese Straftat als (abstraktes) Vermögensgefährdungsdelikt charakterisiert.63 Dass es sich um ein ausschließlich individualgutsbeeinträchtigendes Delikt handelt, wird vor allem durch die allgemein anerkannte Relevanz der Einwilligung bekräftigt.64 Für die Anwendbarkeit des § 46a StGB folgt daraus, dass es bei diesem Delikt immer einen individuellen Rechtsgutsinhaber und eine Beeinträchtigung des geschützten Rechtsgutes gibt. Das unerlaubte Entfernen vom Unfallort ist deshalb kein dem Anwendungsbereich des § 46a StGB entzogenes opferloses Delikt.
61
LK-Geppert § 142 Rn 1; NK-Schild § 142 Rn 7. Geppert BA 1986, 157 (160); Lackner/Kühl § 142 Rn 1. 63 Joecks StGB, 8. Aufl. 2009, § 142 Rn 1; Lackner/Kühl § 142 Rn 2; LK-Geppert § 142 Rn 1; Schönke/Schröder/Cramer/Sternberg-Lieben § 142 Rn 1; SSW-Ernemann § 142 Rn 1. 64 Joecks § 142 Rn 75. 62
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3. Voraussetzungen des § 46a StGB § 46a StGB stellt in Nr. 1 und Nr. 2 StGB unterschiedliche Voraussetzungen auf. Diese Unterschiedlichkeit hat zur Folge, dass bei manchen Straftatbeständen nur eine der beiden Alternativen in Betracht kommt bzw. eine der beiden Alternativen deutlich im Vordergrund steht. So wird beispielsweise zur Steuerhinterziehung (§ 370 AO) überwiegend die Ansicht vertreten, dass – wenn überhaupt – allein § 46a Nr. 2 StGB anwendbar sei, weil die Erfüllung der in § 46a Nr. 1 StGB aufgestellten Voraussetzungen bei diesem Delikt nicht möglich sei.65 In Bezug auf § 142 StGB ist also abschließend ebenfalls zu überlegen, ob durch diese Straftat eine TOA- oder wiedergutmachungskompatible Lage geschaffen wird. a) § 46a Nr. 1 StGB Nicht jede Straftat, die einem individuellen Opfer einen Schaden zufügt, ist für einen Täter-Opfer-Ausgleich gem. § 46a Nr. 1 StGB geeignet. Im Vordergrund dieser Alternative steht die Wiedergutmachung immaterieller Straftatfolgen.66 Der Anwendungsbereich wird dadurch aber nicht auf Delikte beschränkt, die immaterielle Rechtsgüter beeinträchtigen.67 Auch Vermögensdelikte können beim Opfer Schäden verursachen, die sich nicht durch bloße rechnerische Kompensation des erlittenen wirtschaftlichen Verlusts ausgleichen lassen, sondern einen kommunikativen Aussöhnungs- und Friedenstiftungsprozess zwischen Täter und Opfer erfordern. Daher ist unerlaubtes Entfernen vom Unfallort als abstraktes Vermögensgefährdungsdelikt nicht von vornherein dem Anwendungsbereich des § 46a Nr. 1 StGB entzogen. Über die allein wirtschaftlich bedeutsame Verschlechterung der Chance auf Durchsetzung eines Schadensersatzanspruchs hinaus hinterläßt die Unfallflucht beim Geschädigten oftmals eine starke und langanhaltende emotionale Erschütterung. Wut, Enttäuschung, Verbitterung, Ohnmachtsgefühle des Opfers angesichts der Unfairness, Feigheit, Gemeinheit68 und Rücksichtslosigkeit des Täters sind mögliche Begleiterscheinungen einer Ver-
65 BayObLG wistra 1996, 152; Joecks, in: Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, 7. Aufl. 2009, § 371 AO Rn 240; Klawitter DStZ 1996, 459 (460); Schabel wistra 1997, 201 (203); Simon/Vogelberg Steuerstrafrecht, 2000, S. 159; Woring DStZ 1996, 459 (460). 66 BGH NStZ 1995, 492; Schönke/Schröder/Stree § 46a Rn 2. 67 HK-GS/Rössner/Kempfer § 46a Rn 21; SSW-Eschelbach § 46a Rn 28. 68 Dass diese Worte seinerzeit von Roland Freisler zur Typisierung des Unfallfluchttäters verwendet wurden und dass diese Charakterisierung auf viele – vielleicht sogar die meisten – Täter nicht zutrifft, sollte dennoch nicht den Hinweis darauf verbieten, dass es solche Täter gibt und dass in derartigen Fällen die psychische Verfassung des Opfers TOAkompatibel sein kann, vgl. Lackner DAR 1972, 283 (285 f.).
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kehrsunfallflucht.69 Daher erzeugt eine solche Tat durchaus einen „Gesamtkonflikt“, um dessen Lösung durch umfassende Ausgleichsbemühungen des Täters es im Täter-Opfer-Ausgleich gehen soll. Welche materielle Wiedergutmachungsleistung der Täter darüber hinaus zu erbringen hat, ist Sache der Verhandlung und Vereinbarung zwischen Täter und Opfer und richtet sich nicht ausschließlich nach dem zivilrechtlichen Maßstab etwaiger Schadensersatzansprüche. Deshalb steht der Anwendung des § 46a Nr. 1 StGB auch nicht entgegen, dass der materielle Beeinträchtigungserfolg der Unfallflucht nicht identisch ist mit dem Sach- oder Personenschaden, der durch den Unfall verursacht worden ist, mag der Verletzte auch gegen den Unfallfluchttäter einen solchen Schadensersatzanspruch haben. Die „Wiedergutmachung“ iSd § 46a Nr. 1 StGB muss also nicht zwingend in einer Leistung bestehen, durch die ein Anspruch gem. § 823 Abs. 1 BGB komplett erfüllt worden ist. Umgekehrt ist es aber auch nicht ausgeschlossen, dass der Täter durch Erbringung der Leistung, zu der er als Anspruchschuldner zivilrechtlich verpflichtet ist, die Tat ganz oder zum überwiegenden Teil wiedergutgemacht hat. Denn gewiss können Täter und Opfer im Rahmen ihrer Ausgleichvereinbarung für den konkreten Fall eine Definition von „Wiedergutmachung“ festlegen, die einen Schadensersatzanspruch einbezieht, der im Zusammenhang mit der Tat steht, ohne durch sie begründet worden zu sein.70 Es steht dem auch nicht entgegen, dass der Täter damit zur Wiedergutmachung seiner Tat eine Leistung erbringen muss, die über die rein rechnerische Kompensation der durch die Tat verursachten Folgen hinausgeht. Schließlich ist die Auferlegung der strafrechtlichen Hauptsanktion Freiheits- oder Geldstrafe auch eine Nachteilszufügung, die zu den zivilrechtlichen Lasten des Schadensausgleichs hinzukommt. b) § 46a Nr. 2 StGB Praktische Bedeutung erlangt diese Alternative vor allem dann, wenn ein Täter-Opfer-Ausgleich scheitert, weil z. B. das Opfer seine Mitwirkung verweigert oder die Beteiligten sich nicht einigen können. Dann kann der Täter auch durch einseitige Wiedergutmachung erreichen, dass die Strafe nach § 49 Abs. 1 StGB gemildert oder von Strafe abgesehen wird. Verdienen muss er sich dies durch „erhebliche persönliche Leistungen oder persönlichen Verzicht“ im Zusammenhang mit der Schadenswiedergutmachung. Allerdings legt der Ausdruck „Schadenswiedergutmachung“ die Annahme nahe, dass mit „Entschädigung“ die Leistung von materiellem Schadensersatz nach
69 Dies hatte der Verf. selbst miterlebt, nachdem der geparkte Pkw seiner Ehefrau in den frühen Morgenstunden von einem unbekannten Fahrzeug gerammt worden war und der flüchtende Fahrer einen Schaden von 3000 Euro zurückgelassen hatte. 70 Rössner/Bannenberg GS Meurer, S. 157 (170).
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zivilrechtlichem Maßstab gemeint sei.71 Daher ist fraglich, ob durch eine Straftat nach § 142 Abs. 1, Abs. 2 StGB überhaupt eine wiedergutmachungstaugliche Verletztensituation geschaffen wird. Wie oben schon erläutert wurde, darf man sich die Beantwortung der Frage nicht zu leicht machen, indem man auf den in § 142 Abs. 1 Nr. 1 StGB erwähnten „Geschädigten“ verweist. Gewiss ist dieser in der Regel ein Rechtsgutsinhaber, der unfallbedingt einen Schaden iSd § 823 Abs. 1 BGB erlitten hat, für den oftmals der Täter des unerlaubten Entfernens verantwortlich und zivilrechtlich ersatzpflichtig ist. Jedoch ist das kein Schaden, der durch die Tat verursacht worden ist, die den Tatbestand des § 142 Abs. 1 StGB erfüllt. Mit der Zahlung des Schadensersatzbetrages macht der Täter also nicht seine „Tat“ wieder gut. Der „Schaden“, der dem Inhaber des von § 142 StGB geschützten Rechtgutes durch eben diese Tat zugefügt wird, ist nicht die Zustandsverschlechterung seines in den Unfall verwickelten Fahrzeugs oder seiner Gesundheit, sondern ist die Vorenthaltung der Informationen, deren Gewinnung die Feststellungsermöglichungspflicht dient. Dieser Nachteil erfüllt zwar nicht die Voraussetzungen des § 823 Abs. 1 BGB72, wohl aber die des § 823 Abs. 2 BGB. Die Strafvorschrift § 142 StGB hat individualgutsschützende Zweckbestimmung und ist daher ein „Schutzgesetz“ iSd § 823 Abs. 2 BGB.73 Dass der entstandene Schaden nicht durch Zahlung eines Geldbetrages, sondern nur im Wege der Naturalrestitution – Beseitigung des Informationsdefizits durch nachträgliche Ermöglichung der Feststellungen – aus der Welt geschafft werden kann, steht der Qualifikation dieser Leistung als zivilrechtlich vollwertige Schadenswiedergutmachung nicht entgegen, sondern entspricht sogar der Regelform des Schadensersatzes, § 249 Abs. 1 BGB.74 Der Täter „entschädigt“ demnach das Opfer ganz oder zum überwiegenden Teil, indem er nachträglich seinen Beitrag zur Aufklärung des Unfallgeschehens leistet und das Opfer letztendlich in die Lage versetzt, in der es sich befände, wenn er sich nicht vom Unfallort entfernt hätte. Soweit deckt sich dieser Wiedergutmachungserfolg mit dem Resultat der Leistungen, die nach § 142 Abs. 4 StGB honorierungsfähig sind. Daher muss darauf geachtet werden, dass durch Anwendung des § 46a Nr. 2 StGB nicht die in § 142 Abs. 4 StGB gezogenen Grenzen unterlaufen werden. Dies gewährleisten die besonderen Voraussetzungen des § 46a Nr. 2 StGB „erhebliche persönliche Leistungen oder persönlichen Verzicht“. Diese Voraussetzung zu erfüllen, wird dem Täter in vielen Fällen nicht gelingen, es sei denn, man anerkennt bereits den Umstand, dass der Täter eine mehr oder weniger gute Chance, sich jeglicher zivil- und 71 Kasperek S. 51; MK-Franke § 46a Rn 13; NK-Streng § 46a Rn 18; Rössner/Bannenberg GS Meurer, S. 157 (173). 72 MüKo-BGB/Wagner 5. Aufl. 2009, § 823 Rn 184: „Vermögen – kein sonstiges Recht.“ 73 BGH NJW 1981, 750 (751). 74 Schönke/Schröder/Stree § 46a Rn 5.
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strafrechtlicher Verantwortung für das von ihm zu verantwortende Geschehen endgültig entziehen zu können, freiwillig preisgibt, als „persönlichen Verzicht“ im Sinne dieser Vorschrift.75 Überwiegend wird das jedoch mit der Begründung abgelehnt, es fehle an dem erforderlichen Ermöglichungszusammenhang zwischen dieser Art von Leistung bzw. Verzicht und dem Wiedergutmachungserfolg.76 Praktisch wird sich der aus § 142 StGB strafbare Täter oder Teilnehmer also darauf konzentrieren müssen, einen Täter-Opfer-Ausgleich nach § 46a Nr. 1 StGB zustande zu bringen, um in den Genuss der Rechtsfolgen des § 46a StGB zu kommen.
V. Schluss Die obenstehenden Ausführungen regen hoffentlich den Leser an, der sanktionserleichternden Berücksichtigung honorierungswürdigen Nachtatverhaltens jenseits des von § 142 Abs. 4 StGB erfassten Bereichs auf der Rechtsgrundlage des § 46a StGB gedanklich näher zu treten. Den vor allem im Interesse des Geschädigten geschaffenen Sanktionsinstrumenten TäterOpfer-Ausgleich und Schadenswiedergutmachung sollte auch bei dem Delikt „Unerlaubtes Entfernen vom Unfallort“ die Beachtung durch die Strafrechtspraxis nicht verweigert werden. Gewiss wird dadurch die unbefriedigende Enge des § 142 Abs. 4 StGB nur teilweise und insgesamt nicht ausreichend kompensiert. Da aber die aktuelle politische Groß- und Kleinwetterlage gesetzgeberischen Entkriminalisierungsinitiativen keinen Rückenwind verschafft, ist auf der Baustelle des § 142 StGB – vor allem nach dem Kammerbeschluss des BVerfG vom 19.3.2007 – eher mit strafbarkeitsausdehnenden Maßnahmen zu rechnen.77 Die Praxis sollte deshalb versuchen, mit § 46a StGB einiges von dem Fallmaterial aufzufangen, was der schmale Anwendungsbereich des § 142 Abs. 4 StGB nicht aufnehmen kann. Der Verfasser ist gespannt, was Klaus Geppert davon hält und freut sich auf hoffentlich zahlreiche weitere Beiträge zu § 142 StGB und anderen Themen aus der Feder des verehrten Jubilars.
75 76 77
Ablehnend NK-Streng § 46a Rn 20. Kasperek S. 55. Geppert DAR 2007, 380 (382).
Die Beteiligungsregelung des Römischen Statuts im Lichte der jüngsten Rechtsprechung des Internationalen Strafgerichtshofs Ingrid Mitgutsch I. Einleitung Klaus Geppert hat sich in seinem reichen Schaffen immer wieder mit Fragen der Mitwirkung mehrerer an der Deliktsverwirklichung befasst. Regelmäßig hat er, vor allem in der von ihm mit herausgegebenen und maßgeblich geprägten Ausbildungszeitschrift „Jura“, Beiträge über die verschiedenen Formen der Täterschaft und der Teilnahme sowie über damit zusammenhängende Rechtsfragen wie die Akzessorietät sowie das Zusammenspiel mit dem Besonderen Teil verfasst.1 Auch die internationale Dimension des Strafrechts war stets in seinem Blickfeld und findet etwa in seinen „Strafrechtlichen Gedanken zum Kosovo-Krieg“ oder einem Beitrag zum Fair-TrialGrundsatz der Europäischen Menschenrechtskonvention Niederschlag.2 Es liegt daher nahe, die beiden Themenkreise zu verbinden und einen Blick auf die mittlerweile bereits seit einigen Jahren in Anwendung befindlichen Beteiligungsregelungen des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs zu werfen sowie die Ergebnisse dieser Betrachtung im vorliegenden Beitrag zusammenzufassen, der dem Jubilar herzlichst gewidmet ist.
II. Die Beteiligungsregelung des Art 25 Abs 3 ICC-Statut Die zentrale Bestimmung des Römischen Statuts in Bezug auf die Beteiligung mehrerer an einer Straftat, genauer an einem der vier3 im Statut der Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs (International Criminal 1 Vgl etwa zuletzt Geppert Die Akzessorietät der Teilnahme (§ 28 StGB) und die Mordmerkmale Jura 2008 34 ff. 2 Vgl Geppert Strafrechtliche Gedanken zum Kosovo-Krieg in: Graul/Wolf (Hg) Meurer-GdS (2002) 315 ff; ders Zum „fair-trial-Prinzip“ nach Art 6 Abs 1 Satz 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention Jura 1992 597 ff. 3 Auch wenn das Verbrechen der Aggression (Art 5 Abs 1 lit d ICC-Statut) noch keiner genauen Definition zugeführt und deshalb in der Praxis des ICC noch nicht anwendbar ist – eine Änderung mag die erst nach Redaktionsschluss für diese Festschrift vom 31.5. bis
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Court, ICC) unterworfenen Makroverbrechen, ist Art 25 Abs 3 lit a bis c leg cit4. Ergänzt werden dessen Vorschriften durch den in Art 25 Abs 3 lit d ICC-Statut enthaltenen Beitrag zu einem Gruppenverbrechen5 sowie durch die Vorgesetztenverantwortlichkeit des Art 28 ICC-Statut. Bis auf Art 25 Abs 3 lit c ICC-Statut sind alle genannten Bestimmungen bereits vom ICC angewendet worden, sei es als Grundlage für die Ausstellung eines Haftbefehls6 oder einer Ladung 7 gemäß Art 58 ICC-Statut oder – in den bereits weiter fortgeschrittenen Verfahren – auch im Rahmen der Bestätigung der Anklage gemäß Art 61 Abs 7 ICC-Statut8. In der Folge sollen dennoch die flankierenden Bestimmungen der Art 25 Abs 3 lit d und 28 ICC-Statut aus Platzgründen ausgeklammert und die Ausführungen auf den Kernbereich der Beteiligungsregelungen in Art 25 Abs 3 lit a bis c ICC-Statut konzentriert werden. Dieser Kernbereich beinhaltet als erste Gruppe von Mitwirkungsformen (lit a leg cit) die selbst vorgenommene = eigenhändige Begehung der strafbaren Handlung („as an individual“9), die gemeinschaftliche Begehung der
11.6.2010 stattfindende Überprüfungskonferenz in Uganda bringen –, so gelten die Mitwirkungsregelungen des Art 25 Abs 3 ICC-Statut doch mangels expliziter Ausnahmeregelung auch für dieses. 4 Die hier interessierenden Teile des Art 25 ICC-Statut lauten in der amtlichen deutschen Übersetzung wie folgt: „(3) In Übereinstimmung mit diesem Statut ist für ein der Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs unterliegendes Verbrechen strafrechtlich verantwortlich und strafbar, wer a) ein solches Verbrechen selbst, gemeinschaftlich mit einem anderen oder durch einen anderen begeht, gleichviel ob der andere strafrechtlich verantwortlich ist; b) die Begehung eines solchen Verbrechens, das tatsächlich vollendet oder versucht wird, anordnet, dazu auffordert oder dazu anstiftet; c) zur Erleichterung eines solchen Verbrechens Beihilfe oder sonstige Unterstützung bei seiner Begehung oder versuchten Begehung leistet, einschließlich der Bereitstellung der Mittel für die Begehung“. 5 Die Bestimmung ist das Ergebnis der gescheiterten Bemühungen um eine Aufnahme der Verschwörung („conspiracy“) zur Begehung eines Völkerrechtsverbrechens ins Römische Statut; vgl Ambos Der Allgemeine Teil des Völkerstrafrechts (2001) 641; ders Zur Rechtsgrundlage des Internationalen Strafgerichtshofs ZStW 111 (1999) 186 (175); Satzger Internationales und Europäisches Strafrecht3 (2009) § 14 Rn 63. Werle Völkerstrafrecht2 (2007) 174 spricht insoweit von einer „verkappten Verschwörungsregelung“. 6 ZB gegen Omar Hassan Ahmad Al Bashir; vgl ICC-02/05-01/09-1. 7 Bislang der einzige Beschuldigte vor dem ICC, gegen den kein Haftbefehl, sondern eine bloße Ladung ausgestellt wurde, ist Bahar Idriss Abu Garda. Die Anklagevorwürfe gegen ihn wurden von der Pre-Trial Chamber I des ICC in der Folge auch nicht bestätigt; vgl ICC-02/05-02/09-243 Red. 8 ZB im Verfahren gegen Thomas Lubanga Dyilo; vgl ICC-01/04-01/06-803-tEN. 9 Auf die unglückliche, weil die Eigenhändigkeit der Tatbegehung nicht hinreichend zum Ausdruck bringende Formulierung der englischen Formulierung bereits mehrfach hingewiesen hat Ambos Allgemeiner Teil (Fn 5) 546; ders in: Triffterer (Hg) Commentary on the Rome Statute of the International Criminal Court2 (2008) Art 25 Rn 7.
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Straftat mit einem anderen („jointly with another“) sowie die Begehung des Verbrechens durch einen anderen („through another person“). In der deutschen Literatur hat sich für diese Gruppe entsprechend der Terminologie des dem Teilnahmesystem verpflichteten deutschen Kriminalstrafrechts allgemein die Bezeichnung „Täterschaft“ eingebürgert, deren drei genannte Unterformen im Schrifttum als Alleintäterschaft, als Mittäterschaft sowie als mittelbare Täterschaft bezeichnet werden.10 Eine zweite Gruppe möglicher Beteiligungsarten umfasst in lit b leg cit das Anordnen („orders“), Auffordern („solicits“) oder Anstiften („induces“) zur Begehung eines Verbrechens, im deutschen Schrifttum mit dem ebenfalls vom Teilnahmesystem geprägten Oberbegriff der „Anstiftung“ als einer Form der „Teilnahme“ an fremden Straftaten umschrieben11. Schließlich pönalisiert die in lit c leg cit enthaltene dritte Gruppe von Mitwirkungsformen iS einer subsidiären Auffangklausel12 die „Beihilfe“ zur („aids, abets“) bzw sonstige Unterstützung („otherwise assists“) der versuchten oder vollendeten Begehung und nennt als Paradebeispiel dieser Mitwirkungsform die Bereitstellung der Mittel für die Begehung des Verbrechens. Mit der genannten Systematisierung in Gruppen und der Dreiteilung der Mitwirkungsformen lässt das Statut eine Abkehr von dem das Völkerstrafrecht traditionell dominierenden formalen Einheitstätersystem erkennen, das nicht weiter zwischen verschiedenen Arten der Mitwirkung an einer Straftat unterscheidet und iS eines Eintypenmodells13 alle auch nur entfernt oder untergeordnet am deliktischen Geschehen Beteiligten unterschiedslos als Täter bezeichnet (extensiver Täterbegriff). Vielmehr bedeutet die in Art 25 Abs 3 lit a bis c ICC-Statut vorgenommene Abschichtung der verschiedenen Mitwirkungsformen eine Hinwendung zu einem Differenzierungsmodell, das sehr wohl eine Klassifizierung kennt (restriktiver Täterbegriff) und diese nach der Art des geleisteten Tatbeitrags vornimmt.14 Damit ist allerdings noch nichts darüber ausgesagt, ob es sich bei diesem Differenzierungsmodell auch um ein Teilnahmesystem deutscher Prägung handelt. Denn etwa auch die im § 12 öStGB Gesetz gewordene funktionale
10 Vgl Ambos Allgemeiner Teil (Fn 5) 546 ff; ders Internationales Strafrecht2 (2008) § 7 Rn 13 ff; ders Rechtsgrundlage (Fn 5) 186; Satzger (Fn 5) § 14 Rn 50 ff; Vogel Individuelle Verantwortlichkeit im Völkerstrafrecht ZStW 114 (2002) 427 (403); im Ergebnis auch Werle (Fn 5) 174 ff; differenzierend Kreß Die Kristallisation eines Allgemeinen Teils des Völkerstrafrechts: Die Allgemeinen Prinzipien des Strafrechts im Statut des Internationalen Strafgerichtshofs HuV-I 1999 9 (4). 11 Vgl die Nachweise in Fn 10. 12 Vgl Ambos in: Triffterer (Fn 9) Art 25 Rn 16. 13 Kienapfel/Höpfel Grundriss des Strafrechts Allgemeiner Teil13 E 2 Rn 32. 14 Vgl Ambos Allgemeiner Teil (Fn 5) 543; ders in: Triffterer (Fn 9) Art 25 Rn 2; ders Internationales Strafrecht2 (Fn 10) § 7 Rn 13; Satzger (Fn 5) § 14 Rn 51.
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Variante des Einheitstätersystems15 differenziert nach verschiedenen Tätertypen (unmittelbarer, Bestimmungs- und Beitragstäter) und knüpft an diese Einteilung Rechtsfolgen, etwa die Gewährung von (fakultativ anzuwendenden) Strafmilderungsgründen für Beitragstäter16, wiewohl die einzelnen Tatbegehungsformen einander wert-, wesens- und haftungsmäßig gleichgestellt bleiben, weshalb sie prinzipiell auch denselben Strafdrohungen unterliegen17.18 Zu beantworten ist damit die Frage, ob die im Römischen Statut getroffene Beteiligungsregelung eher einem Einheitstäter- oder einem Teilnahmemodell entspricht, nicht danach, ob zwischen verschiedenen Täterschaftsformen unterschieden wird oder nicht, sondern nach den Rechtsfolgen, die sich an eine solche Differenzierung knüpfen, sowie nach den inhaltlichen Merkmalen, welche die jeweiligen Systeme kennzeichnen. Im Teilnahmemodell ist dies bekanntlich zunächst ein auf der Annahme unterschiedlicher Strafwürdigkeit von Täterschaft und Teilnahme beruhendes „normatives Wertgefälle“19 zwischen beiden Kategorien, welches den Täter prinzipiell strengeren Strafdrohungen unterwirft als den bloßen Teilnehmer20 und ihn von jenem anhand des maßgeblich von Roxin geprägten und in Lehre und jüngerer Rspr weithin anerkannten Kriteriums der Tatherrschaft abgrenzt21. Damit aufs engste verbunden ist die das „zentrale dogmatische Strukturprinzip des dualistischen Systems“22 darstellende limitierte (= qualitative) Akzessorietät, also die Abhängigkeit der Teilnahmehandlung (und ihrer Strafbarkeit) von bestimmten Mindestanforderungen an die Qualität der Haupttat in rechtlicher Hinsicht 23. Beide Merkmale 15 Zum Wandel von formaler zu funktionaler Einheitstäterschaft vgl Kienapfel Der Einheitstäter im Strafrecht (1971) 22; ders Probleme der Einheitstäterschaft in: Strafrechtliche Probleme der Gegenwart (1973) 19 ff. 16 Vgl § 34 Abs 1 Z 6 öStGB („in untergeordneter Weise beteiligt“). 17 Vgl Kienapfel/Höpfel (Fn 13) E 2 Rn 33 mN. 18 Die von Werle (Fn 5) 175 Fn 198 vorgenommene pauschale Einteilung der Literaturstimmen in solche, die dem Differenzierungsmodell und solche, die dem Einheitstätersystem folgen, überzeugt daher nicht. 19 Kienapfel/Höpfel (Fn 13) E 2 Rn 13; eingehend Roxin Strafrecht Allgemeiner Teil II (2003) § 25 Rz 10 ff; Jescheck/Weigend Lehrbuch des Strafrechts Allgemeiner Teil5 (1996) 646. 20 Das dStGB bringt dies für den Gehilfen durch die obligatorische Strafmilderung gemäß §§ 27 Abs 2 iVm § 49 Abs 1 zum Ausdruck, das schwStGB in Art 25. 21 Vgl Roxin Täterschaft und Tatherrschaft8 (2006) 60 ff; Jescheck/Weigend (Fn 19) 652 und 654 mwN. Kienapfel Einheitstäter (Fn 15) 31 beschreibt die Kritik der älteren Rspr am Tatherrschaftskriterium in der Staschinsky-Entscheidung des BGH. 22 Kienapfel/Höpfel (Fn 13) E 2 Rn 14. 23 Dementsprechend fordern etwa §§ 26 f dStGB ausdrücklich und Art 24 f schwStGB implizit die Begehung einer tatbestandsmäßigen, rechtswidrigen und vorsätzlichen Haupttat; vgl Jescheck/Weigend (Fn 19) 656, Roxin AT II (Fn 19) § 26 Rz 2 ff; Schönke/Schröder/Cramer/Heine Strafgesetzbuch Kommentar27 (2006) Vorbem §§ 25 ff Rn 23 ff; Noll/ Trechsel Schweizerisches Strafrecht Allgemeiner Teil I6 (2004) 176.
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können in atypischen Fallkonstellationen, zB bei einem im Einzelfall entlasteten Täter oder belasteten Gehilfen, zu unbefriedigenden Ergebnissen führen, die durch besondere bzw zusätzliche Rechtsfiguren wie die (im dStGB explizit erfasste) mittelbare Täterschaft oder den umstrittenen „Täter hinter dem Täter“ hintangehalten werden.24 Demgegenüber verlagert das (funktionale) Einheitstätermodell, dem eine Akzessorietät in rechtlicher Hinsicht ebenso fremd ist wie eine obligatorische Verschiedenbehandlung von unmittelbarem Täter einerseits und Beteiligtem andererseits den Schwerpunkt der Behandlung solcher Fälle auf die Ebene der Strafzumessung. Jeder Beteiligte ist ausschließlich nach eigenem Unrecht und eigener Schuld zu bestrafen, und die geleistete Mitwirkung ist – je nachdem, ob der Betreffende den Wortlauttatbestand des Delikts zumindest teilweise selbst erfüllt hat 25 – entweder als unmittelbare Täterschaft oder aber als Bestimmungs- bzw Beitragstäterschaft zu werten. Für alle drei Täterschaftsformen gelten prinzipiell einheitliche Strafrahmen, auf deren Strafwürdigkeit aber jeweils im Einzelfall mit maximal individualisierter Strafbemessung Bedacht zu nehmen ist.26 Dementsprechend besitzt das funktionale Einheitstätersystem ein vergleichsweise geringes dogmatisches Instrumentarium27; systemergänzende Konstruktionen wie etwa die mittelbare Täterschaft, von den österreichischen Verfechtern des Teilnahmesystems aufgrund systemterminologischer Notwendigkeit als „verdeckte unmittelbare Täterschaft“28 bezeichnet, erübrigen sich aufgrund der wert-, wesens- und haftungsmäßigen Gleichstellung aller drei Täterschaftsformen völlig. Auf den ersten Blick enthält Art 25 ICC-Statut nun zwei Elemente, die eine Einordnung der Bestimmung in ein Teilnahmesystem vermuten lassen könnten. So nimmt zunächst lit a leg cit explizit die Bestimmung der mittelbaren Täterschaft (Begehung „durch einen anderen“) in seinen Anwendungsbereich auf.29 Diese ist, wie bereits erläutert, der mit einem Minimum
24 Vgl Cryer/Friman/Robinson/Wilmshurst An Introduction to International Criminal Law and Procedure (2007) 303. Zum Streitstand bezüglich des „Täters hinter dem Täter“ Jescheck/Weigend (Fn 19) 653 mN; zur Lösung dieser Fälle im Einheitstätersystem vgl Kienapfel Einheitstäter (Fn 15) 34. 25 Vgl dazu Kienapfel/Höpfel (Fn 13) E 3 Rn 10 ff. 26 Vgl Kienapfel Einheitstäter (Fn 15) 25 f; ders/Höpfel (Fn 13) E 2 Rn 25 ff; Fuchs Österreichisches Strafrecht Allgemeiner Teil I7 (2008) 32/29 ff und 32/40 ff; Triffterer Die österreichische Beteiligungslehre (1983) 37 ff. 27 Vgl Kienapfel Probleme (Fn 15) 17. 28 Burgstaller Zur Täterschaftsregelung im neuen StGB RZ 1975 16 (13). 29 Zum Verhältnis von mittelbarer Täterschaft im ICC-Statut und in der Rspr des Jugoslawientribunals (ICTY), insb mit Bezug auf die Fälle Furundžija und Milutinović, vgl Boas/Bischoff/Reid Forms of Responsibility in International Criminal Law (2007) 125 f.
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an Dogmatik ausgestatteten Einheitstäterlehre in der Tat fremd.30 Doch kann ihre (formulierungsmäßige) Aufnahme ins Statut für sich allein noch nichts über die systematische Grundentscheidung dieser neuen Völkerstrafrechtsordnung aussagen. Prüfstein für die Zuordnung müssen auch hier inhaltliche Kriterien und dabei wie bereits angedeutet insbesondere die Frage sein, ob der Beteiligungssystematik, in welche die mittelbare Täterschaft eingebettet ist, insgesamt das Erfordernis einer limitierten = qualitativen Akzessorietät in rechtlicher Hinsicht zugrunde liegt oder nicht. Diese Frage wird für die Beteiligungsregelungen des Art 25 Abs 3 ICCStatut aber eher in einem negativen Sinn zu beantworten sein. Ein Indiz dafür bildet die – speziell für die Fälle der mittelbaren Täterschaft aufgenommene31 – Formulierung „gleichviel ob der andere strafrechtlich verantwortlich ist“. Im deutschen Schrifttum wird diese Wendung zwar nicht als bedeutsam für die Akzessorietätsfrage gesehen, sondern vielmehr als Klarstellung dahingehend gewertet, dass nach dem Statut zusätzlich zu den Regelfällen der mittelbaren Täterschaft, die durch eine aus verschiedenen Gründen gegebene Straflosigkeit des die Tat unmittelbar Ausführenden gekennzeichnet sind32, auch der Hintermann iS der Figur des „Täters hinter dem Täter“ sogar dann strafbar sein kann, wenn es der (unmittelbare) Täter auch ist33 – ein im Einheitstätersystem im Übrigen selbstverständliches Merkmal34. Über die eben genannte Klarstellungsfunktion hinaus lässt sich die Wendung „gleichviel ob der andere strafrechtlich verantwortlich ist“ aber sehr wohl auch als Argument gegen eine qualitative Akzessorietät heranziehen. Sie bedeutet zwar nicht automatisch, dass beim anderen nicht doch zumindest Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Vorsatz erforderlich sein können, da diese drei Erfordernisse allein zur Strafbarkeit ja noch nicht genügen.35 Doch ergibt sich aus Art 30 ICC-Statut, der die subjektiven 30 Die dieser Rechtsfigur zugrundeliegenden Fälle werden in Einheitstätersystemen fast alle von der Bestimmungstäterschaft erfasst. 31 Aus dem deutschen Wortlaut des Statuts („der andere“) ist eine solche Reduktion nicht herzuleiten, wohl aber aus der englischen („that other person“ anstatt „the other“), französischen („celle-ci“) und spanischen („éste“) Fassung; vgl Ambos in: Triffterer (Fn 9) Art 25 Rn 12. 32 Vgl dazu Jescheck/Weigend (Fn 19) 665 ff. 33 Vgl Satzger (Fn 5) § 14 Rn 59; Werle (Fn 5) 182 f; Ambos Internationales Strafrecht2 (Fn 10) § 7 Rn 29; ders in: Triffterer (Rn 9) Art 25 Rn 10; Kreß Claus Roxins Lehre von der Organisationsherrschaft und das Völkerstrafrecht GA 2006 307 f (304); krit dazu Vogel (Fn 10) 427 Fn 112. 34 Kritisch aus traditionell-völkerstrafrechtlicher Perspektive auch Cryer/Friman/Robinson/Wilmshurst (Fn 24) 303. 35 Vgl Hamdorf Beteiligungsmodelle im Strafrecht (2002) 396. Das von Hamdorf aaO gegen ein Akzessorietätserfordernis weiter ins Treffen geführte Argument, aus Art 30 ICCStatut iVm Art 25 Abs 3 lit d Satz 2e contrario ICC-Statut ergebe sich, dass das Statut impli-
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Tatbestandsmerkmale für die der Gerichtsbarkeit des ICC unterliegenden Verbrechen statuiert und „vorsätzliche und wissentliche“ Tatbegehung („with intent and knowledge“) nur vorschreibt, „sofern nichts anderes bestimmt ist“ („unless otherwise provided“), dass das Statut zumindest prinzipiell auch Fahrlässigkeitstaten erfasst. Wenn das Statut diese als Anknüpfungstaten für die Mitwirkung eines anderen iS von qualitativer Akzessorietät ausschließen hätte wollen, so hätte es einer ausdrücklichen Regelung bedurft; der pauschale Verweis in Art 25 Abs 3 lit b und c ICC-Statut auf die Begehung eines solchen Verbrechens („commission of such a crime“) hätte dann nicht genügt. Überdies hätte iS eines Akzessorietätserfordernisses auch auf das Erfordernis rechtswidriger Tatbegehung hingewiesen werden müssen, was ebenso wenig erfolgt ist, da das Statut dogmatisch nicht zwischen Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründen differenziert, sondern sie als „Gründe für den Ausschluss strafrechtlicher Verantwortlichkeit“ („grounds for excluding criminal responsibility“) gemeinsam in Art 31 ICC-Statut regelt36. Die Voraussetzung einer explizit rechtswidrigen Tat iS eines Akzessorietätserfordernisses kann dem Statut daher nicht unterstellt werden. Vielmehr betont die Wendung „gleichviel ob der andere strafrechtlich verantwortlich ist“ die völlige Unabhängigkeit der Strafbarkeit der einzelnen am Verbrechen Mitwirkenden voneinander und weist somit doch eher auf einheitstäterschaftlich geprägtes Denken hin. Eng mit dem eben Gesagten verbunden ist auch das zweite möglicherweise auf ein Teilnahmemodell hindeutende Merkmal im ICC-Statut: Art 25 Abs 3 lit b leg cit macht die Strafbarkeit des Anstifters ausdrücklich davon abhängig, dass das betreffende Verbrechen „vollendet oder versucht wird“, was wiederum in Richtung eines Akzessorietätserfordernisses gedeutet werden könnte. Aber auch dieses Merkmal hält im Ergebnis der Prüfung in Richtung Teilnahmesystem nicht stand. Denn bei genauerer Betrachtung handelt es sich dabei nicht um eine qualitative = rechtliche 37, sondern um eine bloß faktische Akzessorietät, die den Strafbarkeitsbereich des zur Tat Auffordernden auf jene Fälle einengt, in denen der unmittelbare Täter bereits zumindest ins Versuchsstadium eingetreten ist. Besondere rechtliche Erfordernisse, insb Tatbestandsmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit, werden an das Verbrechen, zu dem aufgefordert wird, nicht gestellt.38 Diese Betonung der faktischen Komponente bringt auch das Statut selbst zum Ausdruck, indem es erfordert, dass das in Frage stehende Verbrechen „tatsächlich“ ver-
zit von der Möglichkeit fahrlässiger Teilnahmehandlungen ausgehe, geht jedoch ins Leere, da die Akzessorietät Vorsatz (und Rechtswidrigkeit) hinsichtlich der Haupttat und nicht hinsichtlich der Teilnahmehandlungen verlangt. 36 Vgl Ambos Internationales Strafrecht2 (Fn 10) § 7 Rn 82; Satzger (Fn 5) § 14 Rn 18. 37 So aber implizit Satzger (Fn 5) § 14 Rn 51. 38 So auch Hamdorf (Fn 35) 396.
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sucht oder vollendet worden ist. IdS ist im genannten Erfordernis (nur) eine quantitative Akzessorietät iS einer faktischen Bezogenheit zu erblicken, die zwar zwischen der (strafbaren) Aufforderung zum Versuch und dem (straflosen39; arg: Art 25 Abs 3 lit f ICC-Statut) Aufforderungsversuch differenziert, aber nichts an der inhaltlichen Gleichwertigkeit von Täter und Teilnehmern ändert.40 Diese Gleichwertigkeit wird vor allem auch dadurch bestätigt, dass das Statut auf der Ebene der Strafdrohung wie auch der -zumessung keine Differenzierung vorschreibt – die in Art 77 ICC-Statut genannten Strafdrohungen gelten unterschiedslos für alle Personen „convicted of a crime referred to in article 5 of this Statute“. Der Beteiligungsform ist erst auf der Zumessungsebene Rechnung zu tragen, was sich implizit aus Regel 145 Abs 1 lit c der Verfahrensregeln (Rules of Procedure and Evidence, RPE-ICC) ergibt, wonach zu den allgemeinen das Strafmaß bestimmenden Umständen41 gemäß Art 78 Abs 1 ICC-Statut „the nature of the unlawful behaviour and the means employed to execute the crime“ sowie „the degree of participation of the convicted person“ zählen.42 Da es sich dabei aber um keine obligatorische Strafmilderung bzw -erschwerung handelt, lässt sich auch daraus kein Argument für ein Teilnahmesystem ableiten.43 Aus dem Gesagten lässt sich somit als Arbeitshypothese ableiten, dass die Beteiligungsregelung des Römischen Statuts trotz einiger an das Teilnahmemodell angelehnter Elemente insgesamt tendenziell eher von einheitstäterschaftlichem Denken geprägt ist.44 Ob dieser Ansatz auch einer Analyse der ersten Aussagen des ICC zu diesem Thema standhält, soll in der Folge untersucht werden.
39 Eine Einschränkung dieser Straflosigkeit bringt bis zu einem gewissen Grad die unmittelbare und öffentliche Aufstachelung zum Völkermord gemäß Art 25 Abs 3 lit e ICC-Statut, die aber in Wahrheit keine Beteiligungsform, sondern ein eigenständiges Massengefährdungsdelikt bildet; vgl Ambos Internationales Strafrecht2 (Fn 10) § 7 Rn 48. 40 IdS auch Hamdorf (Fn 35) 397 und 405. 41 Nicht zu den konkreten Milderungs- oder Erschwerungsgründen; auf diese bezieht sich Regel 145 Abs 2 RPE-ICC, die insoweit nicht einmal implizit eine Bezugnahme auf die Täterschaftsform enthält. 42 Vgl dazu auch Bassiouni Introduction to International Criminal Law (2003) 330. 43 AM offenbar Eser Individual Criminal Responsibility in: Cassese/Gaeta/Jones (Hg) The Rome Statute of the International Criminal Court: A Commentary Volume I (2002) 787 (767). 44 In diese Richtung auch Hamdorf (Fn 35) 396 und Kreß Kristallisation (Fn 10) 9, wenngleich ohne ausdrückliche Differenzierung zwischen formaler und funktionaler Variante des Einheitstätersystems, sowie wohl auch Cassese International Criminal Law (2003) 180. Tendenziell aM Eser (Fn 43) 788.
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III. Die Beteiligungsregelung der Art 25 Abs 3 lit a bis c ICC-Statut in der Rechtsprechung des ICC 1. Ausgestellte Haftbefehle Aus den bisher ergangenen Haftbefehlen selbst sind keine essentiellen Aussagen des ICC zum Beteiligungskonzept des Art 25 Abs 3 ICC-Statut ersichtlich. Sie beschränken sich idR darauf, die jeweils für einschlägig gehaltene Tatbegehungsform anzuführen und das Verhalten der verdächtigen Person unter Schilderung der Kontextsituation mehr oder weniger ausführlich darunter zu subsumieren. Theoretische Ausführungen zu den einzelnen Varianten der Mitwirkung an einem Völkerrechtsverbrechen enthalten sie allesamt nicht.45 2. Entscheidungen des Gerichtshofs über die Ausstellung von Haftbefehlen und über die Bestätigung der Anklagepunkte Etwas aufschlussreicher sind die den genannten Haftbefehlen zugrundeliegenden Entscheidungen und erst recht jene Entscheidungen, mit denen der ICC in den bereits weiter fortgeschrittenen Verfahren – im hier gegebenen Zusammenhang mit Art 25 Abs 3 lit a bis c ICC-Statut sind dies insb jene gegen Thomas Lubanga Dyilo sowie gegen Germain Katanga und Mathieu Ngudjolo Chui 46 – die Anklagepunkte bestätigt hat. a) Entscheidungen über Anträge auf Erlassung von Haftbefehlen aa) gegen Thomas Lubanga Dyilo Eine ausführliche threoretische Auseinandersetzung mit dem Thema liefert zwar auch diese Entscheidung nicht. Der ICC bezeichnet Lubanga, einen kongolesischen Warlord, der des Kriegsverbrechens der Rekrutierung und Verwendung von Kindersoldaten gemäß Art 8 Abs 2 lit b sublit xxvi
45 Als Beispiel mag hier der Haftbefehl gegen den nach wie vor amtierenden Präsidenten des Sudan, Omar Hassan Ahmad Al Bashir, vom 04.03.2009 dienen; vgl ICC-02/05-01/ 09-1. 46 Die Entscheidung der Pre-Trial Chamber III des ICC über die Bestätigung der Anklage gegen Jean-Pierre Bemba Gombo betrifft dagegen hauptsächlich die im Rahmen dieses Aufsatzes ausgeklammerte Vorgesetztenverantwortlichkeit gemäß Art 28 ICC-Statut. Die zu Art 25 Abs 3 lit a ICC-Statut getätigten Aussagen bestätigen dagegen fast ausschließlich jene der Confirmation-of-Charges-Entscheidungen in den Fällen Lubanga sowie Katanga und Chui („the Chamber finds no reason to deviate fom the approach and line of reasoning embraced by Pre-Trial Chamber I“) und können daher im hier gegebenen Zusammenhang außer Betracht bleiben; vgl ICC-01/05-01/08-424 para 348.
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sowie lit e sublit vii ICC-Statut beschuldigt ist 47, als Mittäter („co-perpetrator“), gemeinsam mit anderen Offizieren der von ihm gegründeten „Forces Patriotiques pour la Libération du Congo“ (FPLC), und subsumiert das Verhalten Lubangas anhand dessen hierarchischer Stellung in der FPLC unter diesen Begriff.48 Immerhin weist der Gerichtshof in einem Satz darauf hin, dass auch das Konzept der mittelbaren Täterschaft („indirect perpetration“) anwendbar sein könnte, aber außer einem erneuten knappen Hinweis auf die hierarchische Beziehung zwischen Lubanga und den anderen FPLCMitgliedern liefert er dafür keine weitere Begründung.49 Interessant ist in dieser Entscheidung allerdings ein Zitat aus dem (nicht veröffentlichten) Antrag des Anklägers auf Ausstellung eines Haftbefehls gegen Thomas Lubanga Dyilo, wonach das Konzept der „co-perpetration“ auf „shared intent“, „common goal/plan“ und „joint control“ beruhen solle – Elemente, die in dieser Kombination stark an das vom ICTY entwickelte Beteiligungskonzept der „joint criminal enterprise“50 erinnern, dem die Vorverfahrenskammer I im weiteren Verlauf des Verfahrens gegen Lubanga aber eine klare Absage erteilte51. bb) gegen Ahmad Harun und Ali Kushayb sowie gegen Omar Hassan Ahmad Al Bashir Auch diese Entscheidungen halten sich mit theoretischen-dogmatischen Aussagen zurück. Das Verhalten Haruns, des sudanesischen Staatsministers für humanitäre Angelegenheiten, und Kushaybs, des Janjaweed-Milizenführers im Darfur-Konflikt im Sudan, wird – ebenfalls nach einer (bloßen) Nennung der einschlägigen Tatbegehungsalternativen (Art 25 Abs 3 lit d und, im hier gegebenen Zusammenhang interessierend, lit a ICC-Statut) – unter Schilderung der Faktengrundlage unter die genannten Mitwirkungsformen subsumiert.52 Eine Stellungnahme des Gerichtshofs zu den inhaltlichen Anforderungen an die Mitwirkungsformen sowie insb über das Verhältnis der Alternativen zueinander, was im Fall Harun und Kushayb nahe gelegen hätte, weil die Anklage „in addition“ zu Art 25 Abs 3 lit d ICC-Statut auch lit b angenommen hatte, findet sich nicht 53. 47 Vgl dazu Mitgutsch Das Kriegsverbrechen der Rekrutierung von Kindersoldaten vor dem Internationalen Strafgerichtshof in: Mitgutsch/Wessely (Hg) Jahrbuch Strafrecht Besonderer Teil 2008 177 ff. 48 Vgl ICC-01/04-520 paras 107 ff; Dokument einbezogen in den Fall The Prosecutor vs Bosco Ntaganda, ICC 01/04-02/06. 49 Vgl ICC-01/04-520 para 110. 50 Vgl dazu ausführlich Ambos Internationales Strafrecht2 (Fn 10) § 7 Rn 23 ff und 30 ff mN. 51 Vgl ICC-01/04-01/06-803-tEN paras 334 f. 52 Vgl ICC-02/05-01/07-1 paras 76 ff. 53 Dieses Schweigen könnte allerdings auch darin begründet sein, dass der Gerichtshof von der Annahme dogmatisch insoweit unproblematischer Realkonkurrenz ausgegangen
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In der Entscheidung, einen Haftbefehl gegen den sudanesischen Staatspräsidenten Al Bashir zu erlassen, verweist die Vorverfahrenskammer I im Hinblick auf die rechtlich-theoretische Behandlung der Beteiligungsregelungen in Art 25 Abs 3 lit a bis c ICC-Statut mehrfach auf ihre Aussagen in den Confirmation-of-Charges-Entscheidungen in den Fällen Lubanga sowie Katanga und Chui 54 und bestätigt diese implizit.55 Nach ihrer Subsumtion wertet sie Al Bashir als mittelbaren Täter („indirect perpetrator“) oder als mittelbaren Mittäter56 („indirect co-perpetrator“)57 und begründet dies ebenfalls wieder mit der politisch-hierarchischen Position Al Bashirs58. b) Entscheidungen über die Bestätigung der Anklagepunkte aa) gegen Thomas Lubanga Dyilo In der Bestätigung der Anklagepunkte im Verfahren gegen Thomas Lubanga Dyilo finden sich zum ersten Mal theoretisch-dogmatische Ausführungen des ICC zur Beteiligungsregelung des Art 25 Abs 3 ICC-Statut. In concreto unterzieht der ICC das Konzept der Mittäterschaft („coperpetration“), welches die Verantwortlichkeit Lubangas am besten beschreibe59, einer Analyse. Demnach bedeute Mittäterschaft, dass die Summe der einzelnen Tatbeiträge in der Erfüllung aller objektiven Merkmale eines Delikts resultiere und dass jeder Mitwirkende auch für die Tatbeiträge der anderen Mittäter verantwortlich gemacht werden könne. Er hafte dann als „principal“ und nicht bloß als „accessory“ des gesamten Verbrechens.60
ist, wofür spricht, dass die „in addition“ angenommenen Tatbegehungen anderen Anklagepunkten untergeordnet sind; vgl ICC-02/05-01/07-1 paras 76 f. 54 Siehe dazu gleich unten b. 55 Vgl ICC-02/05-01/09-3 paras 210 ff. Die abweichende Stellungnahme der Richterin Anita Ušacka betrifft lediglich die hinreichende Beweisbarkeit der Mittäterschaft – daher solle Al Bashir ihrer Auffassung nach nur wegen mittelbarer Täterschaft verhaftet werden –, nicht aber deren rechtlich-dogmatische Anforderungen; vgl ICC-02/05-01/09-3 paras 103 ff. 56 Vgl dazu unten b.bb. 57 Vgl ICC-02/05-01/09-3 para 223. 58 So argumentierte der ICC wie folgt: „Al Bashir and the other high-ranking Sudanese political and military leaders directed the branches of the ‚apparatus‘ of the State of Sudan that they led, in a co-ordinated manner, in order to jointly implement the common plan“; vgl ICC-02/05-01/09-3 para 216. Weiter: „Al Bashir was in full control of all branches of the ‚apparatus‘ of the State of Sudan“; vgl ICC-02/05-01/09-3 para 222. 59 Der Gerichtshof zitiert in seiner Entscheidung diesbezüglich die Auffassung der Anklage; vgl ICC-01/04-01/06-803-tEN para 319 mN. 60 Vgl ICC-01/04-01/06-803-tEN para 326. In der Folge werden auch im Text die englischen Bezeichnungen „principal“ und „accessory“ (und nicht „Täter“ und „Teilnehmer“) verwendet, um die Ausführungen des ICC nicht iS einer Entscheidung für oder gegen ein Einheitstäter- oder Teilnahmesystem zu präjudizieren.
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Damit eng verbunden sei die generelle Frage nach dem entscheidenden Abgrenzungskriterium zwischen „principals“ und „accessories“ eines Verbrechens. Insoweit erteilt der Gerichtshof sowohl einer rein objektiven Theorie – „principal“ ist, wer ein oder mehrere objektive Deliktsmerkmale erfüllt – als auch dem in der Rspr des ICTY mit dem Konzept des „joint criminal enterprise“ vertretenen subjektiven Ansatz – egal wie der Tatanteil objektiv gelagert ist, ist „principal“, wer mit dem gemeinsamen Vorsatz („shared intent“) handelt, das Delikt (als Täter) zu begehen – eine ausdrückliche Absage. Die objektive Theorie verbiete sich aufgrund der Aufnahme der damit unvereinbaren mittelbaren Täterschaft („commission through another person“) in das Statut. Ein subjektiver Ansatz könne den Autoren des Statuts aber ebenso wenig unterstellt werden, weil sie einen solchen schon dem der „joint criminal enterprise“ nachempfundenen Art 25 Abs 3 lit d ICC-Statut zugrundegelegt hätten, sodass, wäre ein subjektives Abgrenzungskriterium gewollt gewesen, diese Bestimmung (und nicht Art 25 Abs 3 lit a ICC-Statut) die Basis61 für das Konzept der Mittäterschaft gebildet hätte.62 Vielmehr stelle das Statut auf ein in zahlreichen Rechtssystemen angewendetes Tatherrschaftskriterium („control over the crime approach“) ab, das sowohl objektive als auch subjektive Elemente enthalte. „Principal“ sei danach nicht nur, wer selbst die objektiven Deliktsmerkmale verwirkliche, sondern auch, wer zwar nicht am Tatort anwesend sei, aber das deliktische Geschehen dahingehend kontrolliere oder lenke, dass er entscheide, ob und wie das Delikt begangen werden solle. Dieses Kontrollkriterium erfülle, wer die objektiven Elemente eines Delikts persönlich („physically“) verwirkliche (unmittelbare Täterschaft), wer den Willen des die Deliktsmerkmale unmittelbar Verwirklichenden kontrolliere (mittelbare Täterschaft) und wem gemeinsam mit anderen essentielle Aufgaben bzw Funktionen übertragen seien.63 Die typischste Manifestation des Tatherrschaftskriteriums sei nach Auffassung des ICC die in Art 25 Abs 3 lit a ICC-Statut als drittes genannte mittelbare Täterschaft, also die Begehung des Verbrechens „durch einen anderen“. Im Hinblick auf diese schließt sich der Gerichtshof zunächst der von der deutschen Lehre vertretenen Ausdehnung auf die Rechtsfigur des „Täters hinter dem Täter“ an.64 Anschließend betont er, dass aber auch das (im Fall Lubanga maßgebliche) Konzept der Mittäterschaft (Begehung „gemeinschaftlich mit einem anderen“) mit der Wahl der (insoweit gemein61 Und nicht nur eine bloße Auffangbestimmung, wie dies nach der geltenden Fassung des Statuts der Fall ist (arg: „in any other way“). 62 Vgl ICC-01/04-01/06-803-tEN paras 328 f und 333 ff. 63 Vgl ICC-01/04-01/06-803-tEN paras 330 ff und 338. 64 Vgl ICC-01/04-01/06-803-tEN para 339 unter Hinweis auf Eser (Fn 43) 795.
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samen) Tatherrschaft als maßgebliches Kriterium für die Unterscheidung zwischen „principal“ und „accessories“ vereinbar sein müsse. Dies sei im Hinblick auf die essentielle Natur der bei der Mittäterschaft geleisteten Tatbeiträge der Mitwirkenden der Fall.65 Wesentlich für die auf der gemeinsamen Tatherrschaft basierende Mittäterschaft sei die dem Zweck der Verbrechensbegehung dienende Teilung essentieller Aufgaben zwischen zwei oder mehr Personen, die aufeinander abgestimmt agieren und von denen keiner die alleinige Kontrolle besitzt. Letztere sei vielmehr dergestalt aufgeteilt, dass jeder die Verbrechensbegehung durch Nichtleistung seines Anteils vereiteln könne. Objektive Elemente der Mittäterschaft seien demnach die Existenz eines gemeinsamen Tatplans zwischen zwei oder mehr Personen66, der allerdings nicht explizit ausformuliert sein müsse, sondern sich auch aus der in casu abgestimmten Vorgehensweise ergeben könne67, sowie ein koordinierter essentieller Beitrag jedes Mittäters, der in die Verwirklichung der objektiven Elemente des jeweiligen Verbrechens münde und nicht an die Begehung im Ausführungsstadium gebunden sei, sondern auch bereits im Vorbereitungsstadium geleistet werden könne68. Subjektiv sei zunächst erforderlich, dass der Mittäter in eigener Person alle subjektiven Elemente des jeweiligen Verbrechens inklusive allfälliger (delikts)spezifischer Vorsatzerfordernisse erfülle, wofür die allgemeine Regelung der subjektiven Tatbestandsmerkmale in Art 30 ICC-Statut maßgeblich sei.69 Weiter müssten sich alle Mittäter wechselseitig dessen bewusst sein und akzeptieren („be mutually aware and mutually accept“), dass die Ausführung des gemeinsamen Plans in die Verwirklichung der objektiven Elemente des betreffenden Verbrechens münden könne, da es nur auf diese Weise gerechtfertigt werden könne, die jeweiligen Tatbeiträge den anderen Mittätern wechselseitig zuzurechnen und diese sogar als „principals“ des Verbrechens einzustu-
65 Zur Untermauerung verweist der ICC nicht nur auf seine eigene, insoweit unveröffentlichte Entscheidung über die Erlassung eines Haftbefehls gegen Thomas Lubanga Dyilo (ICC-01/04-01/06-1-US-Exp-Conf para 110), sondern auch auf die entsprechenden Ausführungen von Ambos in: Triffterer (Hg) Commentary on the Rome Statute of the International Criminal Court1 (1999) Art 25 Rn 8; vgl ICC-01/04-01/06-803-tEN para 340 f. 66 Bloß faktisches Mitwirken ohne Koordinierung, etwa iS der deutschen Nebentäterschaft, falle dagegen aus dem Bereich der Mittäterschaft iS des Art 25 Abs 3 lit a ICC-Statut heraus. 67 Vgl ICC-01/04-01/06-803-tEN para 343 ff. 68 Insoweit wendet sich der Gerichtshof damit gegen die vor allem von Roxin Täterschaft und Tatherrschaft8 (Fn 21) 294 f vertretene Auffassung und folgt der Gegenauffassung um Jescheck/Weigend (Fn 19) 680 mwN; vgl ICC-01/04-01/06-803-tEN para 348. 69 In diesem Zusammenhang erläutert das Gericht seine Sicht der verschiedenen von Art 30 ICC-Statut erfassten Vorsatzgrade und insb die in der Lehre strittige Frage nach der Einordnung des dolus eventualis; vgl ICC-01/04-01/06-803-tEN para 349 ff.
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fen.70 Schließlich müsse sich der Mittäter der tatsächlichen Umstände, die ihn zur Ausübung der gemeinsamen Tatherrschaft befähigen, insb seiner essentiellen Rolle im Geschehen, bewusst sein.71 bb) gegen Germain Katanga und Mathieu Ngudjolo Chui Die beiden kongolesischen Milizenführer Katanga und Chui wurden gemäß Art 25 Abs 3 lit a ICC-Statut als Mittäter („co-perpetrators of a common plan“) und damit als „principals“ der von Mitgliedern ihrer Milizen begangenen Straftaten im Zusammenhang mit dem Massaker im kongolesischen Dorf Bogoro am 24. Februar 2003 angeklagt.72 „In the alternative“ zog die Anklage aber auch eine Verantwortlichkeit wegen Anordnens gemäß Art 25 Abs 3 lit b ICC-Statut in Betracht.73 Die Bestätigung der Anklagepunkte durch den Gerichtshof baut in mehrerer Hinsicht auf jene im Lubanga-Fall auf. Zunächst bekräftigt das Gericht unter Anführung der einschlägigen Lehre, insb jener Roxins, seine in der Bestätigung der Anklagepunkte gegen Lubanga zur Unterscheidung von „principals“ und „accessories“ eines Verbrechens getroffenen Aussagen, wonach es entscheidend auf das Abgrenzungskriterium der Tatherrschaft ankomme.74 Anschließend wiederholt es die Beschreibung der drei zu einer Haftung als „principal“ führenden Arten der Ausübung von Tatherrschaft.75 Auch die objektiven und subjektiven Erfordernisse für die gemeinsame Tatbegehung iS von Mittäterschaft werden gleichlautend aus der Lubanga-Entscheidung übernommen.76 Neuland betritt die Entscheidung des ICC aber dahingehend, dass sie in Bezug auf die Tatbegehungsform eine Synthese zwischen Mittäterschaft und mittelbarer Täterschaft vornimmt: Entgegen der Auffassung der Verteidigung77 sei nämlich das Wort „oder“ in Art 25 Abs 3 lit a ICC-Statut nicht in einem exklusiven, sondern in einem inklusiven Sinn zu verstehen, der entweder die eine oder die andere, wahrscheinlich aber beide Alternativen zulasse („either one or the other, and possibly both“). IS einer Kombination der genannten Tatbegehungsformen sei daher auch eine mittelbare
70
Vgl ICC-01/04-01/06-803-tEN paras 361 f. Vgl ICC-01/04-01/06-803-tEN paras 366 f. 72 Das die Anklagepunkte enthaltende Dokument wurde am 26.06.2008 eingebracht; vgl ICC-01/04-01/07-649-Anx1A paras 90 ff. 73 Vgl ICC-01/04-01/07-649-Anx1A para 94. 74 Vgl ICC-01/04-01/07-717 paras 480 ff. 75 Vgl ICC-01/04-01/07-717 paras 487 ff. 76 Vgl ICC-01/04-01/07-717 paras 519 ff und 527 ff. 77 Diese hatte nämlich – wiederum in Auseinandersetzung mit der Lehre Roxins – vertreten, dass streng zwischen Mittäterschaft und mittelbarer Täterschaft zu unterscheiden sei; vgl ICC-01/04-01/07-698 paras 13 ff, insb 24. 71
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Mittäterschaft („indirect co-perpetration“) denkbar, welche es ermögliche, die Strafwürdigkeit von sog „senior leaders“, die auf einer höheren Befehlsebene zusammenwirken, nach unten aber jeweils auf ihre eigenen Leute einwirken, die aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit auch von niemand anderem Befehle akzeptieren, hinreichend zu erfassen.78 Für eine Strafbarkeit nach dieser kombinierten Täterschaftsform genügen nach Auffassung des ICC die bereits erwähnten, aus der Lubanga-Entscheidung übernommenen objektiven und subjektiven Elemente der Mittäterschaft für sich allein nicht. Zusätzlich sei auf der objektiven Tatseite eine auf der Lehre vom „Täter hinter dem Täter“ basierende und besonders im internationalen Strafrecht einschlägige Organisationsherrschaft, wiederum iS der Lehre Roxins, erforderlich. Deren zentrales Erfordernis, die Kontrolle des Beschuldigten über die Organisation, habe ins ICC-Statut selbst Eingang gefunden, was sich aus einem Zusammenspiel der mittelbaren Täterschaft in Art 25 Abs 3 lit a leg cit mit der Präambel des Statuts, welche auf kollektive Kriminalität abstelle, ergebe. Auch nationale Rechtsordnungen würden in zunehmendem Maße auf dieses Kriterium abstellen, was der Gerichtshof ua unter Heranziehung des Mauerschützenurteils des BGH aus 199479 belegt. Aus der internationalen Strafrechtsprechung zitiert das Gericht insoweit zunächst die Entscheidung der ICTY-Trial Chamber II im Fall Stakić, welche die Figur der mittelbaren Mittäterschaft angewendet hatte, jedoch vor der Berufungskammer des Tribunals keinen Bestand hatte. Die Ablehnung dieser Entscheidung durch die Appeals Chamber sei nach Auffassung der ICC-Vorverfahrenskammer I nicht auf die Rechtslage vor dem ICC übertragbar, da ihr zentrales Argument eine fehlende Grundlage der Rechtsfigur im Völkergewohnheitsrecht sei, welche aber vor dem ICC aufgrund der Existenz der gemäß Art 21 Abs 1 lit a ICC-Statut primär maßgeblichen Statutsregelung des Art 25 Abs 3 lit a leg cit ohnehin nicht nötig sei. Weiter habe sich auch die ICC-Vorverfahrenskammer III in ihrer Entscheidung über den Antrag der Anklage auf Erlassung eines Haftbefehls gegen Jean-Pierre Bemba Gombo 80 dieser Auffassung angeschlossen. Im Zusammenspiel mit der Fülle von in der modernen Rechtswissenschaft vertretenen, ebenfalls in diese Richtung gehenden Meinungen komme dem Erfordernis der Kontrolle über die Organisation daher universelle Akzeptanz zu.81 Allerdings sei nicht jede Organisation als Ausgangspunkt für die Organisationsherrschaft geeignet, sondern nur eine solche, die einen organisierten 78
Vgl ICC-01/04-01/07-717 paras 491 ff. BGHSt 40, 236 ff (218); vgl dazu Roxin AT II (Fn 19) § 25 Rn 110; krit Jescheck/Weigend (Fn 19) 653 mwN. 80 Vgl ICC-01/05-01/08-14-tENG para 78. 81 Vgl ICC-01/04-01/07-717 paras 500 ff. 79
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und hierarchischen Machtapparat darstelle, welcher, ua durch eine ausreichende Anzahl von Untergebenen, garantiere, dass die Anweisungen übergeordneter, mit Macht und Autorität ausgestatteter Personen, einschließlich der Auftrag zur Begehung von der Gerichtszuständigkeit unterliegenden Verbrechen, auch ausgeführt werden.82 IS Roxins83 müsse die Ausführung der Verbrechen durch eine fast automatische Befehlsbefolgung durch austauschbare Empfänger, quasi im Wege einer „Mechanisierung“ erfolgen. Dies unterscheide diese Tatbegehungsform auch von der mehr einzelfallbezogenen „Accessory“-Verantwortlicheit der Anordnung gemäß Art 25 Abs 3 lit b ICC-Statut.84 Durch die generelle Kontrolle über die Organisation entscheide die höchste Autorität darüber, ob und wie das betreffende Verbrechen begangen werde. Im Hinblick auf die subjektive Tatseite konkretisiert der Gerichtshof das im Lubanga-Fall formulierte Erfordernis wechselseitiger Akzeptanz und Bewusstseins der Mittäter dahingehend, dass die Planausführung in die Verwirklichung der objektiven Deliktsmerkmale führen könne, iS obiger Ausführungen in Richtung der mittelbaren (Mit-)Täterschaft: Erforderlich sei zusätzlich, dass sich die Beschuldigten der tatsächlichen Umstände, welche sie zur Ausübung ihrer Kontrolle befähigen, insb des Charakters der Organisation, ihrer eigenen hierarchischen Stellung darin und der fast automatischen Befehlsbefolgung, bewusst seien.85 cc) gegen Bahar Idriss Abu Garda Der Vollständigkeit halber ist auch auf die Entscheidung der Vorverfahrenskammer I im Verfahren gegen Abu Garda zu verweisen, der ebenfalls der mittelbaren Mittäterschaft beschuldigt war 86, dessen Anklage vom ICC aber nicht bestätigt wurde. Die Kammer verweist auch hier auf ihre Ausführungen in der Katanga und Chui- sowie der Lubanga-Entscheidung und betont erneut die Möglichkeit einer „indirect co-perpetration“, von deren bereits in den genannten Entscheidungen zugrundelegelten Voraussetzungen sie keinen Grund finde abzuweichen.87
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Vgl ICC-01/04-01/07-717 paras 511 ff. Täterschaft und Tatherrschaft8 (Fn 21) 244 f. 84 Vgl ICC-01/04-01/07-717 paras 515 ff mwN. 85 Vgl ICC-01/04-01/07-717 para 534. 86 Laut (nicht veröffentlichter) Auffassung der Anklage Tatbegehung „through the combined rebel forces over which he exercised joint command and control“; vgl ICC-02/0502/09-243-Red para 23. 87 Vgl ICC-02/05-02/09-243-Red paras 154 ff. 83
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IV. Conclusio Die Aussagen des ICC zur Mitwirkungsregelung des Art 25 Abs 3 ICCStatut sind im Hinblick auf deren Einordnung in ein Einheitstäter- oder Teilnahmesystem differenziert zu sehen. Eine Nähe eher zu einem Teilnahmesystem lässt das Gericht zunächst durch die Ablehnung der objektiven Theorie und damit des Wortlautkriteriums als maßgebliches Abgrenzungsmerkmal zwischen „Principal“- und „Accessory“-Haftung erkennen. Die Bekräftigung des Tatherrschaftskriteriums und seiner besonderen Ausformung der Organisationsherrschaft iVm der Anerkennung der Rechtsfigur des „Täters hinter dem Täter“ sind im einheitstäterschaftlichen Instrumentarium, wie bereits erwähnt, nicht vorgesehen und auch nicht vonnöten. Ebenfalls in Richtung Teilnahmesystem könnte das vom Gericht im Zusammenhang mit der (mittelbaren) Mittäterschaft aufgestellte Erfordernis weisen, dass sich alle Mitwirkenden dessen bewusst sein und akzeptieren müssten („be mutually aware und mutually accept“), dass die Planausführung in die Verwirklichung der objektiven Deliktsmerkmale münden könne. Denn dieses Kriterium repräsentiert nicht nur eine rein faktische Bezogenheit wie etwa im Merkmal „tatsächlich vollendet oder versucht wird“ in Art 25 Abs 3 lit b ICC-Statut, sondern könnte durchaus eine rechtliche Abhängigkeit der Strafbarkeit des einen Mitwirkenden vom Vorsatz der anderen bedeuten. IVm der Aussage des Gerichts, ohne das genannte Erfordernis könne es nicht gerechtfertigt werden, die jeweiligen Tatanteile den verschiedenen Mitwirkenden wechselseitig zuzurechnen, könnte die Wendung mithin als Akzessorietätserfordernis gewertet werden. Unbeantwortet bleibt bei einer solchen Interpretation allerdings die Frage nach der Rechtswidrigkeit des Tatanteils der anderen Mitwirkenden, die ja im Rahmen einer limitierten Akzessorietät traditionell ebenfalls Voraussetzung ist88 und die in der Aussage des Gerichts keinerlei Erwähnung findet. Und auch der Umstand, dass der ICC dem in Frage stehenden Erfordernis im Vergleich zu den anderen von ihm aufgestellten Abgrenzungskriterien zwischen „principal“ und „accessory“, in denen er sich ausführlich und eingehend auch mit der deutschen Literatur zum Thema auseinandersetzt, gerade einmal 26 Zeilen inhaltlicher Auseinandersetzung widmet, lässt eher nicht darauf schließen, dass das Gericht damit eine solche Grundsatzentscheidung wie die Frage nach der Bejahung oder Verneinung rechtlicher Akzessorietät treffen wollte89, sodass die Frage an dieser Stelle letztlich offen bleibt. 88
Vgl nur Jescheck/Weigend (Fn 19) 656 mN. Auch wenn, wie Eser (Fn 43) 774 betont, das Statut in Bezug auf die Regelungen des Allgemeinen Teils lediglich fragmentarisch ausgestaltet ist und idS im Statut eine Akzessorietät bloß stillschweigend vorausgesetzt („tacitly presupposed“) würde, hätte das Gericht deren Existenz und Ausgestaltung wohl eingehender begründet als bloß implizit und in der im Text angesprochenen Kürze. 89
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Den Entscheidungen des ICC lässt sich aber auch in Richtung (funktionales) Einheitstätersystem eine Aussage entnehmen. Denn mit der Interpretation des Wortes „oder“ in Art 25 Abs 3 ICC-Statut als inklusiv iS von „either one or the other, and possibly both“ betont der Gerichtshof die Austauschbarkeit und damit implizit die im funktionalen Einheitstätersystem gegebene Gleichwertigkeit der Täterformen, im Rahmen derer die Zuordnung zu einer der Alternativen lediglich einen Strafzumessungsfaktor bildet. Zur Frage der Strafzumessung allerdings trifft das Gericht keinerlei Aussagen, was darin begründet sein mag, dass es die Zumessungsfrage in diesem frühen Verfahrensstadium noch nicht im Blick hatte90. Aber selbst dann ist das diesbezügliche Schweigen des Gerichts von Bedeutung, denn wenn das Gericht eine obligatorische dogmatische Verschiedenbehandlung der Täterformen für geboten gehalten hätte, hätte es die Frage erst recht nicht bis zum Urteils- und damit Zumessungsstadium aufschieben dürfen, sondern bereits im Zuge der dogmatischen Erörterung des Beteiligungsmodells ein diesbezügliches Erfordernis feststellen müssen. Angesichts des Fehlens obligatorischer Strafschärfungs- oder -milderungsgründe im Statut und im Hinblick auf die allgemeine Zumessungsregel in Regel 145 Abs 1 lit c RPE-ICC wäre dies dann aber wieder eine Interpretation contra legem gewesen, die das Gericht offenbar bewusst nicht vornehmen wollte. Insgesamt ist daher auch nach Lektüre der einschlägigen Aussagen des Gerichtshofs zu Art 25 Abs 3 ICC-Statut davon auszugehen, dass sich die unter II. getroffene Arbeitshypothese, es handle sich um ein grundsätzlich auf einem funktionalen Einheitstätermodell basierendes System mit einzelnen Elementen eines Teilnahmemodells, fürs erste bestätigt, und es bleibt abzuwarten, ob und wie der Gerichtshof in seinen künftigen Judikaten diese Linie weiter verfolgen wird.
90 Nach insoweit übereinstimmender Auffassung von Anklage und Verteidigung im Fall Katanga und Chui habe eine detaillierte Auseinandersetzung mit der Verantwortlichkeitsfrage im Rahmen des Art 25 Abs 3 ICC-Statut überhaupt erst im Hauptverhandlungsstadium stattzufinden; vgl ICC-01/04-01/07-717 para 472.
Höchststrafe und Verfassung: Verteidigung des geständigen und resozialisierten Doppelmörders Axel Montenbruck
Der verehrte Kollege Geppert, nicht nur einer unserer großen Strafrechtswissenschaftler, sondern auch ein begnadeter Lehrer und über Jahre hinweg Richter am Kammergericht Berlin, wird hoffentlich meinen Versuch schätzen, Wissenschaft und Praxis zu verbinden. Auch wird er gewiss zumindest die Idee als solche begrüßen können, „die Verteidigung des geständigen und resozialisierten Doppelmörders“ als ein Plädoyer vor einem geduldigen Schwurgericht durchzuspielen. Als Inhaber auch der venia für den Strafvollzug interessiert den Jubilar vielleicht ferner mein Blick auf dieses Rechtsgebiet.
I. Der Prüfstein für die Höchststrafe „Mord“ Abstrakte Erörterungen zur Höchststrafe eines Staates stehen stets in der Gefahr, sich selbst in einen Elfenbeinturm der reinen Wissenschaften zu verbannen. Deshalb ist in Anlehnung an die Methode des sokratischen Hinterfragens eine Gerichtsszene zu skizzieren. Sie behandelt einen fiktiven Extremfall, der zugleich helfen könnte, den Normalfall besser zu verstehen.1 Den praktischen Prüfstein für die Frage nach der Höchststrafe in Deutschland bildet der Mord gem. § 211 StGB mit seiner scheinbar starren Rechts1 Vgl. auch die alte Diskussion um die voll resozialisierten „Auschwitztäter“: Kaufmann, Arthur, Unzeitgemäße Betrachtungen zum Schuldgrundsatz im Strafrecht, Jura (eine Zeitschrift, deren Mitherausgeber der Kollege Geppert ist) 1986, 225 ff.; Kaufmann, Arthur, Über die gerechte Strafe. Ein rechtsphilosophischer Essay, in: Hirsch, Hans Joachim/Kaiser, Günther/Marquardt, Helmut (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Hilde Kaufmann, 1986, 425 ff., 429 ff.; Bruns, Hans-Jürgen, Neues Strafzumessungsrecht? „Reflexionen“ über eine geforderte Umgestaltung, 1988, 34; Müller-Dietz, Heinz, Integrationsprävention und Strafrecht. Zum positiven Aspekt der Generalprävention, in: Vogler, Theo (Hrsg.), Festschrift für Hans-Heinrich Jescheck zum 70. Geburtstag, 2. Halbband, 1985, 813 ff., 826 f.; Schreiber, Hans-Ludwig, Widersprüche und Brüche in heutigen Strafkonzeptionen, ZStW 1982, 279 ff., 291; sowie: Achenbach, Hans, Individuelle Zurechnung, Verantwortlichkeit, Schuld, in: Schünemann, Bernd (Hrsg.), Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, 1984, 135 ff., 144 f.
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folge lebenslange Freiheitsstrafe einerseits. Andererseits bietet das Strafrecht zahlreiche Öffnungsregeln. Dazu gehören aus dem Allgemeinen Teil die Rechtsfolgennormen der §§ 46a, 46b StGB. Die außergesetzliche „Rechtsfolgenlösung“ mit der Wirkung des § 49 StGB tritt hinzu. Auch die bedingte Entlassung gem. §§ 57a StGB löst die starre Rechtsfolge auf. Selbst eine „Strafvollstreckungslösung“ sorgt für eine bestimmte Art der Kompensation. Das Vollzugsgesetz wird zudem gern verdrängt. Es eröffnet aber vor allem mit dem Freigang im Sinne von §§ 11, 13 StVollzG dem Gefangenen einen weiten Bereich der Freiheiten. Die argumentative Grundlage bildet vor allem die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Es beruft sich im Kern auf das – deutsche – Schuldprinzip und auf das, wie anzufügen ist, allgemein-europäische Verhältnismäßigkeitsprinzip. Ausgeblendet werden soll die Hintergrundfrage, ob auf der internationalen Meta-Ebene nicht menschenrechtlich anzusetzen wäre, sodass jede, zumindest jede längere Freiheitsstrafe, vor allem eine „Menschen-RechtsStrafe“ sein müsste2. Zudem wird nur gelegentlich und mit einigen Begriffen die Idee einer gesamtwestlichen „demokratischen Straftheorie“ aufscheinen. Sie könnte immerhin das schwere Verbrechen und auch die schwere Strafe demokratisch erklären. Denn hoch vereinfacht lassen sich die Tat und die Reaktion auf sie aus der Dreifaltigkeit von „Freiheit, Gleichheit und Solidarität“ und deren „Negation“ ableiten. Zugrunde liegt diesem Ansatz ein Menschenbild, das sich modellhaft aus einem Dreiklang zusammensetzt, dem subjektiven Element der „egoistischen und gestalterischen Freiheit“, dem objektiven Element der „systembezogenen gerechten Gleichheit“ und dem ganzheitlichen Element der „humanen empathischen Solidarität“.3 Aber das deutsche Schuldprinzip ist immerhin in der ebenfalls universellen (monistischen4) Idee der „Menschenwürde“ verankert.
2 Dazu einige Thesen bei Montenbruck, Axel, Menschenrechtsstrafe, in: ders., Strafrechtsphilosophie. Vergeltung, Strafzeit, Sündenbock, Menschenrechtsstrafe, Naturrecht (1995–2010), Dokumentenserver der FU Berlin (open access), http://edocs.fu-berlin.de/, 2. Aufl. 2010, Rn. 400 ff., Rn. 474 ff. 3 Dazu: Montenbruck, Axel, Western Anthropology: Democracy and Dehumanization, 2nd slightly revised edition 2010, Dokumentenserver der FU-Berlin (open access), http://edocs.fu-berlin.de/, passim. 4 Zu diesen beiden Ausrichtungen des Naturrechts, siehe: Montenbruck, Axel, Naturrecht, in: ders., Strafrechtsphilosophie. Vergeltung, Strafzeit, Sündenbock, Menschenrechtsstrafe, Naturrecht (1995–2010), Dokumentenserver der FU Berlin (open access), http://edocs.fu-berlin.de/, 2. Aufl. 2010, Rn. 500 ff.
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II. Der Fall und die Einlassungen des geständigen Doppelmörders Der Sachverhalt soll lauten: Der damals 22-jährige A. hatte zwei Mitglieder einer konkurrierenden Bande grausam, heimtückisch und aus Habgier getötet. Kurz danach löste er sich aus dem Milieu und zog in eine andere Stadt um. A holte seine Schulausbildung nach und studierte Sozialarbeit. Er ist verheiratet und hat ein Kind. Als er nach 5 Jahren als Zeuge in der immer noch unaufgeklärten Mordsache vernommen wird, bespricht er sich mit einem Verteidiger und gesteht die Tat in vollem Umfang, wohl wissend, dass sie andernfalls vermutlich nicht mehr aufklärbar gewesen wäre. Damit erleichtert er also die Aufklärung der Tat erheblich (vgl. § 46b StGB). Zudem erklärt sich der Beschuldigte sofort und auch glaubhaft bereit, mit etwaigen Angehörigen jede ihm mögliche Form des Täter-Opfer-Ausgleichs vorzunehmen (vgl. § 46a StGB). Auch die Staatsanwaltschaft hält den Angeklagten zwar für nicht mehr resozialisierungsbedürftig. Eines entsprechenden Gutachtens bedürfe es deshalb nicht. Sie lehnt aber strikt irgendwelche Vereinbarungen über die Rechtsfolgen ab. In der Hauptverhandlung wiederholt der Angeklagte sein Geständnis und seine Angebote. Danach erklärt er, er werde zur Buße auch einen noch überschaubaren mehrjährigen Freiheitsentzug auf sich nehmen. Aber dann fügt er an, er erwartet aber nach spätestens fünf Jahren bei erwiesener guter Führung bedingt zur Familie, in sein Heim, in seinen Beruf, zu seiner Gewerkschaft und zu seiner religiösen und kommunalen Gemeinde wenigstens tagsüber entlassen zu werden, um wie es das Bundesverfassungsgericht zur lebenslangen Freiheitsstrafe so elegant formuliert habe, seiner „Freiheit teilhaftig zu werden“.5
III. Der Verteidiger und seine Anträge Sein Wahlverteidiger, ein Professor des Strafrechts und der Rechtsphilosophie und als Rechtslehrer an einer deutschen Hochschule gemäß § 138 I StPO zur Strafverteidigung berechtigt, greift diese Erwartung in seinem Plädoyer auf. Er erklärt, er selbst sehe sich nicht als reinen Vertreter des Angeklagten, sondern spreche im Sinne der herrschenden Meinung im Strafprozessrecht auch als eigenverantwortliches „Organ der Rechtspflege“. Er appelliere zugleich an die absolute Unabhängigkeit dieser Richter und rege 5 BVerfGE 45, 183 ff., 243 ff., siehe auch: BVerfGE 113, 154 ff., 165; BVerfG, Entscheidung vom 16.1.2010 – 2 BvR 2299/09, Absatz-Nr. 22 (Lissabon-Vertrag).
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ggf. eine Vorlage nach Art. 100 I GG beim Bundesverfassungsgericht an. Auch behalte sein Mandant sich ausdrücklich den Gang zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vor und werde gegebenenfalls erwägen, Verletzung der Grundrechtscharta in geeigneter Form zu rügen. Für seine Rechtsansichten erbitte er nachdrücklich, ihm das rechtliche Gehör gem. Art. 103 I GG umfassend zu gewährleisten. Er erwarte zumindest eine faire Erörterung seiner Ansichten im Urteil, und zwar auch im Sinne des Art. 6 II EMRK, der die Verteidigungsrechte ebenso besonders betone wie Art. 48 II, 47 II der Grundrechtecharta. Als Verteidiger beantrage er eine Strafe, die es so eigentlich in Deutschland noch nicht gebe, und mit diesem Antrag wolle er gleich beginnen. Er fordere für den vorliegenden Mord zumindest der Sache nach eine Freiheitsstrafe mit einem Strafrahmen von „fünf bis fünfzehn Jahren, bei Bejahung der Schwere der Schuld gem. § 57a StGB bis fünfundzwanzig Jahren“, – und zwar davon – zur harten Sühne fünf Jahre im faktischen Normalvollzug, – danach fünf Jahre im offenen Vollzug und als Freigänger, §§ 11, 13 III StVollzG. Den Strafrest, zwischen 15 und 25 Jahren, erwarte sein Mandant dann bei weiterhin günstiger Prognose zur Bewährung ausgesetzt. 1. Erste Erläuterungen des Verteidigers Die Obergrenze von 15 oder auch 25 Jahren hänge von der Auslegung des Merkmals „schwere Schuld“ ab. Blicke man lediglich auf die Schwere der Tatschuld im engen Sinne6, so sei vermutlich bei diesem kaltblütigen Doppelmord gem. §§ 211, 57a StGB sogar auch eine Vollstreckungszeit von 25 Jahren angemessen. Entscheidend sei jedoch die Frage nach der verfassungs- und menschenrechtskonformen Untergrenze der sozialrealen Vollstreckung ohne Freigang und Urlaub. Seine Forderung an das Tatgericht, die Untergrenze auf fünf Jahre im geschlossenen „Normalvollzug“ bereits im Urteil festzulegen, sei 6 Zur Strafzumessungsschuld im Sinne von § 46 I StGB: BVerfG, NJW 1995, 3244 ff., Fischer, Thomas, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, 57. Aufl. 2010, § 46, Rn. 11 ff. (Gesamtwürdigung bei Ermordung mehrerer Menschen und Mehrheit von Mordmerkmalen); auszuklammern ist allerdings die sogenannte Strafvollstreckungsschuld, die von der Strafvollstreckungskammer eigenständig zu bewerten ist, etwa im Hinblick auf den Gesundheitszustand des Gefangenen, siehe dazu: BVerfG, NStZ 1996, 54 ff. Zu den Grenzfragen dieses Begriffes, siehe auch: Köhler, Michael, Über den Zusammenhang von Strafrechtsbegründung und Strafzumessung – erörtert am Problem der Generalprävention, 1983, 60 f. Auch der BGH will den Begriff der Schwere der Schuld nicht nur im Sinne spezieller Generalprävention verstehen, BGHSt 24, 40 ff., 43 ff.
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vor allem mit der Ungefährlichkeit des Angeklagten zu rechtfertigen. Unnötige Strafen verstießen gegen die Menschenwürde, zumindest solche über 5 Jahren, und das verfassungsrechtliche ultima ratio-Prinzip, Art. 1 I, 20 III GG. Für die nächsten fünf Jahre sei dem Angeklagten statt des Ermessens der Vollstreckungsorgane ebenfalls im Urteil des Schwurgerichts der gerichtlich überprüfbare Rechtanspruch auf 5 Jahre „Freigang und 21 Tage Urlaub“ zu eröffnen, so wie es das Strafvollzugsgesetz schon jetzt als vage Aussicht eröffne, vorausgesetzt selbstverständlich, dass sein Mandant dann, wie § 10 StVollzG es verlange, zu diesem Zeitpunkt noch „den Anforderungen des offenen Vollzuges genügt, und namentlich nicht zu befürchten ist, dass er sich dem Vollzug der Freiheitsstrafe entziehen oder die Möglichkeiten des offenen Vollzuges missbrauchen“ werden. Der Wortlaut der §§ 10, 11, 13 III StVollzG eröffne zwar schon jetzt den Weg, ungefährliche Mörder sofort nach Erstellung des Vollzugsplans in den offenen Vollzug zu verlegen. Darauf bestehe sein Mandant aber nicht, er wolle 5 Jahre Buße tun. Aber die Praxis des Vollzuges verlange üblicherweise eine Verbüßungszeit von 10 Jahren im geschlossenen Vollzug. Ferner sei sicherlich auch auf die Idee der Strafe „zur Erhaltung der Rechtstreue der Allgemeinheit“ Rücksicht zu nehmen. Die so genannte positive Generalprävention wolle auch er nicht außer Acht lassen. Aber insgesamt ergebe sich dann eine für die Allgemeinheit vermutlich gerade noch erträgliche verbüßte Freiheitsstrafe von 10 Jahren. Nach 10 Jahren sei sein Mandant dann bedingt zu entlassen. Die Begrenzung auf 10 Jahre ergebe die verfassungs- und menschenrechtskonforme Auslegung aller einschlägigen Vorschriften des Strafrechts. Im Einzelnen: 2. Das Schuldprinzip Von tragender verfassungsrechtlicher Bedeutung für die Strafe sei das Schuldprinzip. Was stecke aber hinter diesem Grundsatz? Das Bundesverfassungsgericht erklärte jüngst folgendes und stützte sich dabei auf eine Kette von älteren Entscheidungen: 7 „Das Strafrecht beruht auf dem Schuldgrundsatz. Dieser setzt die Eigenverantwortung des Menschen voraus, der sein Handeln selbst bestimmt und sich kraft seiner Willensfreiheit zwischen Recht und Unrecht entscheiden kann. Dem Schutz der Menschenwürde liegt die Vorstellung vom
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BVerfG, NJW 2009, 2267 ff., Absatz-Nr. 364 ff.
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Menschen als einem geistig-sittlichen Wesen zugrunde, das darauf angelegt ist, in Freiheit sich selbst zu bestimmen und sich zu entfalten (vgl. BVerfGE 45, 187, 227)“. Damit leite das Bundesverfassungsgericht die Schuldstrafe, so sei hier schon anzumerken, aus der Willensfreiheit ab. Es fahre dann fort und spreche von „Sühne“: „Auf dem Gebiet der Strafrechtspflege bestimmt Art. 1 Abs. 1 GG die Auffassung vom Wesen der Strafe und das Verhältnis von Schuld und Sühne (vgl. BVerfGE 95, 96, 140). Der Grundsatz, dass jede Strafe Schuld voraussetzt, hat seine Grundlage damit in der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG (vgl. BVerfGE 57, 250, 275; 80, 367, 378; 90, 145, 173). Das Schuldprinzip gehört zu der wegen Art. 79 Abs. 3 GG unverfügbaren Verfassungsidentität, die auch vor Eingriffen durch die supranational ausgeübte öffentliche Gewalt geschützt ist“. Darüber sei kurz nachzudenken: Das „Wesen“ der Strafe sei zumindest aus der Sicht des Schuldausgleichs bekanntlich ein „Übel“ und gleiche insofern dem „Übel“ der Tat. Es handele sich um einen schweren Eingriff zumindest in die Freiheitsrechte. Mit einem anderen Wort bewirke jede Strafe wie jede Tat einen „Schmerz“. Dessen müsse man sich bewusst bleiben.8 Denn dieser Schmerz sei als Buße und eben auch zur „Sühne“ gewollt. Lege man nun die Lupe über das Schuldprinzip, so zerfalle es aber, wie jede große Leitidee in verschiedene Unterideen. Zumindest drei positive Elemente des Schuldgrundsatzes ließen sich trennen, und zwar zählten dazu mit den Worten des Bundesverfassungsgerichts
8 Zum Element des Schmerzes: Jung, Heike, Was ist Strafe?, 2002, 16; unter Hinweis auf die angloamerikanische Deutung bei: Kleinig, John, The Hardness of Hard Treatment, in: Ashworth, Andrew/Wasik, Martin (Hrsg.), The Fundamentals of Sentencing Theory, Clarendon Press, Oxford 1998, 273 ff., 273, 275; sowie: Britz, Guido, Strafe und Schmerz – eine Annäherung, in: Britz, Guido/Jung, Heike/Koriath, Heinz/Müller, Egon (Hrsg.), Grundfragen staatlichen Strafens. Festschrift für Heinz Müller-Dietz zum 70. Geburtstag, 2001, 73 ff., 73; Gephart, Werner, Strafe und Verbrechen. Die Theorie Emile Durkheims, 1990, 122; Jakobs, Günther, Staatliche Strafe. Bedeutung und Zweck, 2004, 26 ff. Noch einfacher: Honderich, Ted, Punishment, the Supposed Justifications, 1969, 19 (dazu kritisch: Wolf, Jean-Claude, Verhütung oder Vergeltung? Einführung in ethische Straftheorien, 1992, 20). Strafe sei gesetzliche Strafe (penalty) gegen einen Gesetzesbrecher (offender). Siehe auch: Montenbruck, Axel, Zivilreligion. Eine Rechtsphilosophie II. Grundelemente: Versöhnung und Mediation, Strafe und Geständnis, Gerechtigkeit und Humanität aus juristischen Perspektiven, 2010, Dokumentenserver der FU-Berlin (open access), http://edocs.fuberlin.de/, Rn. 413.
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(1) die „Eigenverantwortung“, die zur Vorwerfbarkeit der Tat führe, (2) die „Sühne“, als die Gerechtigkeitsidee des Ausgleichs, die auch dem Rechtsstaatsprinzip innewohne. (3) Ferner bestimme das „Verhältnis von Schuld und Sühne“ eben im Groben die Höhe der Strafe. Für die Rechtsfolge der Sühne eröffnet sich allerdings rasch eine alte, aber inhumane Folgerung. Der Ansatz des „Schuldausgleichs“, hinter dem die alte Gerechtigkeitsidee der ausgleichenden Gerechtigkeit (iustitia commutativa) stecke, müsste beim Mord eigentlich auch Todesstrafe ermöglichen. Das Schuldprinzip verlangt deshalb nach „menschenrechtlichen“ Korrekturen, die sich aus seiner Ableitung aus der „Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG“ ergebe. Einzuweben sei in das Schuldprinzip aus verfassungsrechtlicher Sicht deshalb also ebenfalls (4) die (negative) Sperrwirkung für bestimmte Strafen durch die Idee der Menschenwürde. Verboten seien deshalb bekanntlich die Todesstrafe, Art. 102 GG, Kap. I Grundrechtecharta, Art. 2 II EMRK, 6. Zusatzprotokoll. Untersagt seien zudem grausame und erniedrigende Strafen, Art. 104 I GG, Art. 4 Grundrechtecharta, Art. 3 EMRK. Unzulässig sei zumindest für Deutschland ferner eine lebenslange Freiheitsstrafe ohne die Aussicht, der Freiheit je wieder teilhaftig werden zu können. Zudem sei dann auch der nachfolgende Abs. 2 des Art. 1 GG zu beachten. Er verbinde die Menschenwürde mit den „Menschenrechten“ und auch mit den universellen Ideen „des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“. Die Beachtung dieses Ideenpaares gelte nicht nur für die Welt, sondern auch ganz praktisch für Deutschland. Der „Frieden“ ziele auf Versöhnung9 von Streitenden. Die „Gerechtigkeit“ sei auf den Ausgleich ausgerichtet. Aber verfassungspolitisch seien beide Ideen stets miteinander zu verschmelzen.
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Siehe dazu: den Sammelband von Bongardt, Michael/Wüstenberg, Ralf K. (Hrsg.), Versöhnung, Strafe und Gerechtigkeit, Das schwere Erbe von Unrechts-Staaten, 2010, sowie: Montenbruck, Axel, Zivilreligion. Eine Rechtsphilosophie I. Grundlegung: Westlicher „demokratischer Präambel-Humanismus“ und universelle Trias „Natur, Seele und Vernunft“, 2. Aufl. 2010, Dokumentenserver der FU-Berlin, http://edocs.fu-berlin.de/; zur „Mediation“ als alte Aufgabe der praktischen Juristen: Montenbruck, Axel, Zivilreligion. Eine Rechtsphilosophie II. Grundelemente: Versöhnung und Mediation, Strafe und Geständnis, Gerechtigkeit und Humanität aus juristischen Perspektiven, 2010, Dokumentenserver der FU-Berlin, http://edocs.fu-berlin.de/.
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Wer einen Tatschuld-Ausgleich verlange, verdeutliche überdies schon mit dem Wort Ausgleich, dass er innerhalb des Schuldprinzips das klassische Gerechtigkeitselement10 meine. Er reagiere auf das schwere Unrecht11 mit der Forderung nach Gleichheit im Sinne ausgleichender Wechselseitigkeit (Reziprozität). Dieser Ausgleich müsse als Teil der Gerechtigkeit vom „Rechtsstaat“ des Art. 20 III GG gewiss auch gewährleistet werden. Die alte Idee der gerechten Vergeltung, des mit dem aufgrund der Tat verdienten Strafübels bleibe deshalb weiterhin ein Teil des Schuldprinzips. Dann aber müsse man sich auch 10 Kant, Immanuel, Die Metaphysik der Sitten, Erster Teil, Metyphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, 1797/98, in: Weischedel Wilhelm (Hrsg.), Immanuel Kant. Werke in sechs Bänden, 1956, § E, 340 (Nach Kant bedeutet die Gerechtigkeit einprägsam das Gerade-Rücken von etwas Krummem. Danach setzt die Gerechtigkeit das Wissen um das Gerade und damit auch um das Krumme, also um Recht und Unrecht und Wert und Unwert, schlicht voraus.); zudem: Siep, Ludwig, Naturgesetz und Rechtsgesetz, in: Krawietz, Werner/Gerhardt, Volker (Hrsg.), Recht und Natur. Beiträge zu Ehren von Friedrich Kaulbach, 1993, 132 ff., 137. Aristoteles, Nikomachische Ethik, Dirlmeier, Franz (Übrs.), 1999, Buch V: „Gerechtigkeit ist Gleichheit. Das weiß jeder, und es braucht nicht bewiesen zu werden“. Allerdings differenziert Aristoteles: „Da der Ungerechte Ungleichheit will, und Unrecht Ungleichheit ist, muss es offenbar zwischen solcher Ungleichheit eine Mitte geben, und das ist die Gleichheit … Ist also Unrecht Ungleichheit, so ist Recht Gleichheit … Aber da fangen die Streitigkeiten und Vorwürfe an, sobald Gleiche nicht Gleiches haben und zugewiesen bekommen. Auch aus dem Wert folgt dies. Denn es ist allgemein anerkannt, dass das Recht bei der Verteilung dem Wert entsprechen müsse, nur dass man über den Wertmesser nicht überall gleicher Meinung ist; für die Volksherrschaft ist es die Freiheit, für die Klassenherrschaft der Reichtum oder die Abstammung, für die Herrschaft der Besten die Tugend. Also besteht das Recht in einer Vergleichung …“. 11 Radbruch, Gustav, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, Süddeutsche Juristenzeitung 1946, 105 ff., 107, im Hinblick auf die Nürnberger Prozesse mit dem Satz: „Wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewusst verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur ‚unrichtiges Recht‘, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur“. Hieran erinnert Frommel, Monika, Die Mauerschützenprozesse – eine unerwartete Aktualität der Radbruch’schen Formel, in: Haft, Fritjof/Hassemer, Winfried/Neumann, Ulfrid/Schild, Wolfgang/Schroth, Ulrich (Hrsg.), Strafgerechtigkeit. Festschrift für Arthur Kaufmann zum 70. Geburtstag, 1993, 81 ff., 87. Immer wieder und immer auch mit Einschränkungen wie „im Kern“ wird die Gerechtigkeit in Bezug zur Gleichheit gesetzt. Weitere Beispiele: Koller, Peter, Die Rechtfertigung und Kritik sozialer Ungleichheit, Österreichische Zeitschrift für Soziologie, Heft 12, 4 ff.: „elementaren Kern der herkömmlichen Auffassungen von Moral und Gerechtigkeit“; siehe etwa: Ebert, Udo, Talion und Vergeltung im Strafrecht – ethische, psychologische und historische Aspekte, in: Jung, Heike/Müller-Dietz, Heinz/Neumann, Ulfrid (Hrsg.), Recht und Moral. Beiträge zu einer Randerscheinung, 1991, 249 ff., 256, „… ist doch der Gleichheitsgedanke mit der Gerechtigkeit unbestreitbar engstens verbunden“; in der Sache ebenso (der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts): Benda, Ernst, Der soziale Rechtsstaat, in: Benda, Ernst/Maihofer, Werner/Vogel, Hans-Jochen (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1983, 477 ff., 483: „Das Gerechtigkeitspostulat ist zugleich eng mit dem Gleichbehandlungspostulat verbunden“.
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die Frage stellen, in wieweit der „blinde“ Ausgleich mit der Idee der Menschenwürde zu vereinbaren sei. Zwar könne man den Gedanken der gerechten Vergeltung durchaus auch mit einer der beiden anderen Strafbegründungen abstützen. Andere europäische Staaten, die auf die Idee der sozialen Verteidigung setzen, würden diesen Weg auch wohl beschreiten. Denn das „Verhältnismäßigkeitsprinzip“ ist zur Begrenzung der Strafe in die Europäische Grundrechtecharta mit aufgenommen worden, nicht aber das deutsche Schuldprinzip.12 Andere westliche Rechtskulturen setzten offenbar etwa andere Schwerpunkte. Jedenfalls habe es des Rückgriffs auf das Subsidiaritätsprinzip13 und der Klarstellung in der Lissabon-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bedurft. 12 In der Grundrechtecharta heißt es jedenfalls für das Strafen insgesamt, nachdem der Vertrag zuvor noch den nullum crimen-Satz in Art. 49 I aufgegriffen hat und in Art. 49 II noch die Strafbarkeit „nach den allgemeinen, von der Gesamtheit der Nationen anerkannten Grundsätzen“ proklamiert hat, in Art. 49 III dann nur noch: „Das Strafmaß darf gegenüber der Straftat nicht unverhältnismäßig sein“. Von einer Schuldangemessenheit im deutschen Sinne ist also nicht die Rede. Aber der Begriff der Verhältnismäßigkeit ist vom Wort her für jeden Maßstab offen und erlaubt damit auch die gesamte deutsche Vereinigungstheorie offen mit einzubeziehen. Denn danach kann die Verhältnismäßigkeit zwar auch Art und Ausmaß des verschuldeten Unrechts bilden. Aber ebenso kann den Maßstab Art und Ausmaß eines Eingriffs meinen, der dazu dient die generalpräventiven Bedürfnisse zu befriedigen oder auch der individuellen Gefährlichkeit des Täters etc. zu begegnen. Auch die zusammenfassende Bündelung der drei großen Ansätze kommt in Betracht. So gelesen käme die Verwendung des Oberbegriffs der Verhältnismäßigkeit der deutschen Vereinungstheorie zu „Sinn und Zweck des Strafens“ also entgegen. Subsidiär jedenfalls ist diese EU-europäische Idee zur Strafbegrenzung im Blick zu behalten. Auch könnte man zur Begründung des Schuldprinzips aus deutscher Sicht auf die Überschrift des gesamten Titel I der Grundrechtecharta verweisen, der mit „Die Würde des Menschen“ überschrieben ist, und auf den Art. 1 Satz 1 aufmerksam macht und der an das deutsche Grundgesetz angelehnt erschient und lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Ausgeschlossen erscheint es also nicht, das Schuldprinzip in der Grundrechtecharta zu verankern. 13 Zum Subsidiaritätsprinzip siehe: Art. 5 Abs. 2 EGV; Art. 5 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 3 des Vertrags über die Europäische Union in der Fassung des Vertrags von Lissabon EUVLissabon, zudem: BVerfG, NJW 2009, 2267 ff., 2274 Absatz-Nr. 253 und 2287 AbsatzNr. 355 ff. Absatz-Nr. 253: „Die Strafrechtspflege ist, sowohl was die Voraussetzungen der Strafbarkeit als auch was die Vorstellungen von einem fairen, angemessenen Strafverfahren anlangt, von kulturellen, historisch gewachsenen, auch sprachlich geprägten Vorverständnissen und von den im deliberativen Prozess sich bildenden Alternativen abhängig, die die jeweilige öffentliche Meinung bewegen (vgl. dazu Weigend, Strafrecht durch internationale Vereinbarungen – Verlust an nationaler Strafrechtskultur?, ZStW 1993, S. 774, 785). Die diesbezüglichen Gemeinsamkeiten, aber auch die Unterschiede zwischen den europäischen Nationen belegt die einschlägige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte zu den Garantien im Strafverfahren (vgl. die Beiträge von Bank, Kap. 11; Grabenwarter/Pabel, Kap. 14 und Kadelbach, Kap. 15 in: Grote/Marauhn, EMRK/GG, 2006; Gollwitzer, Menschenrechte im Strafverfahren: MRK und IPBPR, 2005). Die Pönali-
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Zwar könne man die Idee der gerechten Strafe auch als übliche Forderung der „positiven Generalprävention“ verstehen und sie aus dem Gebot des Strafens „zur Erhaltung der Rechtstreue“ ableiten. Dann würde aber umgekehrt die Generalprävention, hinter dem vagen Gedanken des „Gemeinwohls“ seine Kraft entfalten (vgl. Art. 52 EU-Grundrechtecharta), aufgewertet und in den Vordergrund gerückt, weil sie dann auch noch die Gerechtigkeit vereinnahme und sich damit zugleich direkt auf den ethischen Kern des Rechtsstaatsprinzips stützen könnte. Vermutlich auch deshalb habe sich das deutsche Strafrecht, und zwar zu Recht, dafür entschieden, „Schuld und Gerechtigkeit“ mit einander zu verbinden. Wie auch immer, seit jeher schon werde die Gerechtigkeit durch die Idee der Barmherzigkeit (eines gottgefälligen Samariters) oder der Gnade (eines Landesherrn) korrigiert. In der Demokratie sei die – strenge – Gerechtigkeit durch die (geschwisterliche) „Solidarität“ der Demokraten und durch die sierung sozialen Verhaltens ist aber nur eingeschränkt aus europaweit geteilten Werten und sittlichen Prämissen normativ ableitbar. Die Entscheidung über strafwürdiges Verhalten, über den Rang von Rechtsgütern und den Sinn und das Maß der Strafandrohung ist vielmehr in besonderem Maße dem demokratischen Entscheidungsprozess überantwortet (vgl. BVerfGE 120, 224 ff., 241 f.). Eine Übertragung von Hoheitsrechten über die intergouvernementale Zusammenarbeit hinaus darf in diesem grundrechtsbedeutsamen Bereich nur für bestimmte grenzüberschreitende Sachverhalte unter restriktiven Voraussetzungen zu einer Harmonisierung führen; dabei müssen grundsätzlich substantielle mitgliedstaatliche Handlungsfreiräume erhalten.“ Zu den Folgen der Lissabon-Entscheidung des BVerfG für das Strafrecht vgl. Ambos, Kai/Rackow, Peter, Erste Überlegungen zu den Konsequenzen des Lissabon-Urteils des Bundesverfassungsgerichts für das Europäische Strafrecht, ZIS 2009, 397 ff.; Braum, ZIS 2009, 418 ff.; Böse, Martin, Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von Lissabon und ihre Bedeutung für die Europäisierung des Strafrechts, ZIS 2010, 76 ff.; Folz, Hans-Peter, Karlsruhe, Lissabon und das Strafrecht – ein Blick über den Zaun, ZIS 2009, 427 ff.; Frenz, Walter/Wübbenhorst, Hendrik J. C., Die Europäisierung des Strafrechts nach der Lissabon-Entscheidung des BVerfG, wistra 2009, 449 ff.; Heger, Martin, Perspektiven des Europäischen Strafrechts nach dem Vertrag von Lissabon. Eine Durchsicht des (wohl) kommenden EU-Primärrechts vor dem Hintergrund des Lissabon-Urteils des BVerfG vom 30.6.2009, ZIS 2009, 406 ff.; Kubiciel, Michael, Das „Lissabon“-Urteil und seine Folgen für das Europäische Strafrecht, GA 2010, 99 ff.; Meyer, Frank, Die LissabonEntscheidung des BVerfG und das Strafrecht, NStZ 2009, 657 ff.; Reiling, Katharina/ Reschke, Dennis, Die Auswirkungen der Lissabon-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts auf die Europäisierung des Umweltstrafrechts (Das Umweltstrafrecht nach zweimal Lissabon), wistra 2010, 47 ff.; Spemann, Thomas Friedrich, Bundesverfassungsgericht zum Lissabon-Vertrag, StraFo 2009, 499 ff. Allgemein zu den Prinzipien der Rechtsfortbildung im europäischen Rechtsraum vgl. Bogdandy, Armin von, Prinzipien der Rechtsfortbildung im europäischen Rechtsraum Überlegungen zum Lissabon-Urteil des BVerfG, NJW 2010, 1 ff.; Vogel, Joachim, Transkulturelles Strafrecht, GA 2010, 1 ff. Beukelmann: Europäisierung des Strafrechts – Die neue strafrechtliche Ordnung nach dem Vertrag von Lissabon, NJW 2010, 2081 ff., 2082 („Die Sorge vieler ist, dass das fein ziselierte deutsche Strafrecht auf dem Altar europäischer Harmonisierung und dem Rennen nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner geopfert wird … Droht gar ein Präventiv- oder Interventionsstrafrecht?“).
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Idee der Unantastbarkeit der Menschenwürde begrenzt. Angelegt sei jede Art der Abweichung der blinden Wechselseitigkeit auch schon in der alten Gerechtigkeitsidee der „zuteilenden Gerechtigkeit“. Derart aufgefächert stehe das Schuldprinzip in einem verfassungsrechtlichen Licht dar. Bezüglich der Höchststrafe beinhalte es eine Art von verkapptem „schuldinternem Abwägungsgebot“. Vereinfacht und modernisiert verlange es die „Menschenwürde (Schuld im engen Sinne)“ und die „Gerechtigkeit“ (als Tat-Schuld-Ausgleich) miteinander in Einklang zu bringen. Die Menschenwürde umfasse dabei auch den Grundsatz der Eigenverantwortung, zu der sich sein Mandant auch bekenne. Die Grundidee der vergeltenden Gerechtigkeit beinhalte aber auch das Korrektiv der zuteilenden Gerechtigkeit, die vor allem von der Notwendigkeit bestimmt sei. Neben dem Schuldprinzip und seiner Verankerung in der Menschenwürde setze das Bundesverfassungsgericht aber – zusätzlich – auch auf die Prävention und das Verhältnismäßigkeitsprinzip. Zur Begründung der Sicherungsverwahrung kontrastiere es dabei die Menschenwürde mit dem Bild vom Menschen als „sozialem Wesen“ 14. Jenes beruhe auf dem „Spannungsfeld“ zwischen Einzelnem und Gemeinschaft. Offenbar erlaube die Sozialpflichtigkeit des Menschen, der in diesem Verfassungsstaat leben wolle, – auch ohne Schuld – existentielle Sonderopfer von gefährlichen Personen abzufordern.14a Das Verhältnismäßigkeitsprinzip selbst bricht der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts15 zudem mit folgenden Worten auf die lebenslange Strafe um: 14 BVerfG, Beschluss vom 8.11.2006 – 2 BvR 578/02 = BVerfGE 117, 71 ff., Absatz-Nr. 69: „Der Einzelne ist eine sich innerhalb der sozialen Gemeinschaft entfaltende Persönlichkeit. Der Gewährleistung des Artikel 1 Absatz I GG liegt die Vorstellung vom Menschen als einem geistig-sittlichen Wesen zu Grunde, das darauf angelegt ist, sich in Freiheit selbst zu bestimmen und sich zu entfalten (BVerfGE 45, 187, 227). Die Spannung zwischen dem Individuum und der Gemeinschaft hat das Grundgesetz allerdings insofern im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden, als der Einzelne Einschränkungen seiner Grundrechte zur Sicherung von Gemeinschaftsgütern hinnehmen muss (vgl. BVerfGE 65, 44; BVerfGE 109, 133, 151, w. Nachw.)“. Auf diese Weise wird der Mensch zum sozialen Wesen erklärt, das Sozialpflichten unterliegt. Zu diesen Pflichten gehört auch der unter Umständen lebenslange Freiheitsentzug aufgrund einer Maßregel der Besserung und Sicherung gem. §§ 63, 64, 66 StGB zu ertragen. So kann das Bundesverfassungsgericht dann auch folgern: Absatz-Nr. 70 a): „Vor diesem Gehalt des Artikel 1 Absatz I GG ist die Vollstreckung der lebenslangen Freiheitsstrafe auch unter dem Aspekt der Verfolgung des Sicherungszwecks zum Schutz der Allgemeinheit grundsätzlich mit dem Grundgesetz vereinbar“. 14a BVerfG, Beschluss vom 8.11.2006 – 2 BvR 578/02 = BVerfGE 117, 71 ff., AbsatzNr. 71: „Es ist der staatlichen Gemeinschaft nicht verwehrt, sich gegen einen gemeingefährlichen Straftäter auch durch einen lang andauernden Freiheitsentzug zu sichern (vgl. BVerfGE 45, 187, 24)“. Das (anerkannte) Gemeinwohl geht also den Freiheitsrechten des Gefährlichen vor. 15 BVerfG, Beschluss vom 26.2.2008 – 2 BvR 392/07 = BVerfGE 120, 224 ff.
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„Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebietet – bei Androhung von Freiheitsstrafe auch im Hinblick auf die Gewährleistung der Freiheit der Person durch Art. 2 II 2 GG (vgl. BVerfGE 90, 145, 172) –, dass eine Strafnorm dem Schutz anderer oder der Allgemeinheit dient (vgl. BVerfGE 90, 145, 172; s. auch BVerfGE 27, 18, 27; BVerfGE 39, 1, 46; BVerfGE 88, 203, 257)“. Über die Sicherungsverwahrung bedrängt das öffentliche Recht der „Gefahrenabwehr“ das deutsche Strafrecht, vermutlich weit stärker als das Strafrecht selbst es wahr haben mag. Es handelt sich um die alte offene Flanke der Strafe als „ultima ratio“. Die beiden klassischen Strafbegründungen, die gerechte Vergeltung und die notwendige Prävention, müssten also am besten zusammen die konkrete Strafe begründen. Auch das Bundesverfassungsgericht vermenge gern die Frage der Gefährlichkeit mit der schuldangemessenen Strafe. So erkläre das Bundesverfassungsgericht zur Idee der Schuldangemessenheit der Strafe: 16 „In dieser Ausprägung deckt sich das Schuldprinzip mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (vgl. BVerfGE 50, 205, 215; BVerfGE 73, 206, 253) bzw. stellt eine Konkretisierung des Übermaßverbots, insbesondere der Angemessenheitskontrolle, für den Bereich strafrechtlicher Sanktionen dar („vgl. auch Appel, Verfassung und Strafe, 1998, S. 192 ff.)“. Dasselbe gelte für den Bundesgerichtshof bei der Begründung von Strafmilderung bei einem Geständnis.17 Wenig bedacht werde, dass an sich die Rückfallgefahr bei Tötungsdelikten nicht gering, sondern für jeden Bürger außerordentlich hoch sei. Weshalb kennen wir alle die Geschichte von Kain und Abel? Weshalb halten wir durch die tägliche Sensationspresse und durch die Lust an Kriminalspiele und -bücher die kollektive Erinnerung an diese scheinbar so seltene Gefahr so hoch? Dazu müsse man nur einmal die folgende, allerdings selten gestellte Frage beantworten. Wodurch würden, wie viele unserer deutschen Mitbürger sterben, wenn jeder der 80 Millionen Deutschen nur ein einziges Mal (!) in seinem gesamten Leben auch nur einer 50 % Lebensgefahr ausgesetzt werde, von einem Gewalttäter auch nur mit bedingtem Vorsatz getötet zu werden? Es wären 40 Millionen. Aber nicht einmal 1 Million oder auch nur 10 Tausend könnten wir uns als Lebens-Restrisiko erlauben. Diebstähle jedoch, gegen die man sich auch noch versichern könne, könnten wir dagegen sogar mehrfach in unserem Leben ertragen. Mit versuchten Betrügereien würden wir faktisch täglich leben.
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BVerfG (2. Kammer des Zweiten Senats), Beschluss vom 7.10.2008 – 2 BvR 578/07. Vgl. im Einzelnen: BGHSt 43, 195 ff., 209 f., Fischer, Thomas, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, 57. Aufl. 2010, § 46, Rn. 46 ff. 17
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Zudem fänden vorsätzlich Tötungen sehr häufig im persönlichen Umfeld statt. Es könne also jede Schicht treffen, einmal das Opfer zu werden. Aus diesen beiden Gründen müsse sich jeder von uns vor den statistisch so recht seltenen Tötungsdelikten fürchten. Mehr noch, deshalb sei auch sachgerecht jede auch nur leicht erhöhte, und sei es auch nur eine „potentielle Rückfallgefahr“ mit langem geschlossenem Vollzug zu bekämpfen. Aber im vorliegenden Fall fehle eben ausnahmsweise diese Rückfallgefahr. Sein Mandant habe sich selbst resozialisiert. Auch handele es sich nicht einmal um eine Emotionstat, sondern um eine Art von kaltem „Geschäftskrieg“. Die individualpräventive Seite des Strafens zum „Schutz von Anderen“ trage die Strafe deshalb überhaupt nicht mit. Es greife aus präventiver Sicht nur die Idee des „Schutzes der Allgemeinheit“, und zwar dann auch nur als Langzeitstrafe zur „Erhaltung der Rechtstreue“. Doch der Idee der sichtbaren Bewährung des Rechts werde in diesem besonderen Fall mit einer Strafe von 10 Jahren hinreichend gedient. Denn dieser Täter bekenne sich zu seiner Tat, er unterwerfe sich dem Recht, habe mit dem Geständnis seine Verurteilung erst ermöglicht und biete auch, soweit dies bei einem Mord möglich sei, einen Täter-Opfer-Ausgleich an. Auf den Gnadenweg wolle er sich aber nicht verweisen lassen. Das Rechtsstaatsprinzip stünde dem entgegen.18 Notwendig in diesem Sinne sei also – allenfalls – eine „verbüßte Strafe“ von 10 Jahren. 3. Die strafrechtlichen Wege a: Einleitung Das Strafrecht selbst eröffne eine Reihe von Wegen, um dieses Ergebnis am Ende zu rechtfertigen. Insofern sei entweder § 57a StGB – verfassungskonform – abzuändern, der ausnahmslos eine Mindestverbüßungszeit von 15 Jahren vorsieht, oder aber das Gericht müsse eine – verfassungskonforme – „Strafzumessungslösung“ finden, bei der bestimmte Ermessenentscheidungen über den Vollzug bereits dem Tatgericht übertragen werden. Dazu empfehle er selbst dem Gericht den bequemen Weg, schlicht den Strafrahmen für den Mord abzusenken. Dafür sehe schon das Gesetz selbst jedenfalls grundsätzlich zumindest zwei Normen vor. Aber auch bei diesen Normen gehe es eigentlich im Hintergrund um eine verfassungskonforme Auslegung der §§ 211, 57a StGB.
18 Grundlegend ebenfalls: BVerfGE 45, 187 ff., 229, jüngst auch: BVerfG, Entscheidung vom 16.1.2010 – 2 BvR 2299/09, Absatz-Nr. 21 ff., 22.
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b: Täter-Opfer-Ausgleich, §§ 46a StGB, 155 StPO So gebe es bereits jetzt und in diesem Fall den rechtlichen Weg, mit schlichter weiter Auslegung von sinnvollen Sondernomen zum geforderten Ergebnis zu gelangen: Denn an sich würde es ausreichen, wenn das Gericht – entgegen der üblichen Praxis – auch für den Doppelmord eine „Strafrahmenabsenkung“ über die Sondernorm zum Täter-Opfer-Ausgleich des §§ 46a, 49 StGB i.V. m. § 155 StPO prüfen und vornehmen würde. Danach würde sich ein Strafrahmen von 3 bis 15 Jahren eröffnen. Bei einer Verurteilung zum Höchstmaß von 15 Jahren könnte die Strafe – zumindest schon einmal – nach 10 Jahren zur Bewährung gem. § 57 StGB ausgesetzt werden. Ein echter Täter-Opfer-Augleich scheitere allerdings – nach den bisherigen Anforderungen – daran, dass mit dem Opfer kein „kommunikativer Vorgang“ mehr in Gang gesetzt werden könne, weil es tot sei. Zwar habe sich der Angeklagte bemüht, dem Verstorbenen posthum wieder Respekt zu zollen und von seiner Opferrolle zu befreien. Auch habe er sich jedenfalls, soweit es in einem Mordfall möglich sei, um einen Ausgleich mit den Angehörigen bemüht. Aber ihrem „Wortlaut“ nach schließe die Norm des § 46a StGB auch keine Tatbestände aus. Insofern handelt es sich also um eine Frage der Auslegung. Entgegen stünde also die bisherige Praxis, die sich zumeist auf leichte bis mittelschwere Kriminalität beschränke. Diese Übung sei fast rechtswidrig zu nennen. Denn mit ihr werde der allgemeine Täter-Opfer-Ausgleich faktisch zum Ersatz für die Geldstrafe degradiert. Allenfalls würden die Strafverfolgungsorgane mit dieser Norm noch die günstige Prognose der Strafaussetzung zur Bewährung schaffen. Bei allen schweren Gewaltdelikten werde diese Norm in der Regel ausgeblendet. Aber immerhin habe der Bundesgerichtshof in seiner großen Leitentscheidung zum Täter-Opfer-Ausgleich19 auch schon eine Vergewaltigung miteinbezogen. c: Aufklärungshilfe, § 46b StGB Ferner sehe § 46b StGB, der die Hilfestellung zur Aufklärung belohne, sogar die Reduktion einer lebenslangen Freiheitsstrafe auf 10 Jahre vor. Nach zwei Dritteln davon bestünde dann sogar der Anspruch auf eine bedingte Entlassung. An dem Doppelmord seines Mandanten sei allerdings, anders als § 46b StGB es verlange, keine weitere Person beteiligt; worunter die Berücksichtigung seiner umfassenden Aufklärungshilfe eigentlich nicht leiden dürfe. Diese Norm sei deshalb notfalls mit Blick auf das verfassungsrechtliche Gebot der Gleichbehandlung, Art. 3 GG, anlog anzuwenden. 19 BGHSt 48, 134 ff., 142 ff.; Fischer, Thomas, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, 57. Aufl. 2010, § 46a, Rn. 10a ff.
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d: Rechtsfolgen-Lösung Denselben methodischen Weg habe der Große Senat des Bundesgerichtshofes in Strafsachen beschritten. Aufgefordert durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur lebenslangen Freiheitsstrafe habe er – praeter legem und von den nachfolgenden Strafrechtsreformgesetze geduldet – seine so genannte „Rechtsfolgenlösung“ entwickelt.20 Bei außerordentlichen mildernden Umständen sei auch für den nachgewiesenen Mord ein Strafrahmen zwischen drei und 15 Jahren vorzusehen, §§ 211, 49 StGB. Entwickelt sei die Rechtsfolgenlösung zwar für besondere Fälle der andauernden Provokation. Aber diese Rechtsprechung könne das Gericht durchaus aufgreifen und für die verfassungskonforme Auslegung auf den Fall des geständigen, reuigen und ungefährlichen Angeklagten erweitern. Halte das hohe Gericht sich zu dieser Rechtsfortbildung nicht berechtigt, müsse es zumindest die Rechtsfolgenregelungen für den Mord als verfassungswidrig ansehen und diese Sache dem Bundesverfassungsgericht vorlegen, Art. 100 I GG. In Betracht kämen ferner die Anwendung der Strafidee für Strafmilderungen, so wegen Vorliegens der Voraussetzungen von Vorschriften des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuches (§§ 21, 23 II, 27 II 2 StGB) oder des Jugendgerichtsgesetzes (§ 106 I JGG).21 Sie alle beruhten auf der verminderten Unrechtschuld. Das „Nachtatverhalten“, das § 46 StGB selbst anspreche, vermindere zumindest die Strafzumessungsschuld im Sinne des § 46 II StGB. Die Vorstellung, die Höchststrafe für den Mord in bestimmten Mordfällen zu unterschreiten, sei dem deutschen Strafrecht also immanent. Es müssten nur außergewöhnliche Fälle sein, wie etwa der vorliegende. e: Verfassungskonforme Härtefallregelung für § 57a StGB mit Kompensation Halte das Gericht daran fest, die genannte Strafzumessungslösung nicht zu verfolgen, also die Sonderwege, die der Gesetzgeber für den Täter-OpferAusgleich und die Strafverfolgungshilfe anbietet, nicht zu nutzen, müsse und könne es zumindest für § 57a StGB eine Härtefallregelung vorsehen. Die Regelung der bedingten Entlassung gemäß § 57a StGB, die erst nach fünfzehn Jahren die Rückkehr in die Gesellschaft erlaube, sei in diesen Fällen grundgesetzwidrig und entsprechend durch Ausnahmereglung verfassungskonform abzuändern. Es gehe dabei in diesem Falle lediglich um die bedingte Entlassung nach 10 Jahren, in bestimmten Härtefällen, wie dem vorliegenden. Entscheidend sei aber, dass sein Mandant einen Rechtsanspruch auf eine bedingte Entlassung, analog zu den Voraussetzungen des § 57 StGB, zuge20 BGHSt 30, 105 ff.; bestätigt von BVerfG (2. Kammer des Zweiten Senats), Beschluss vom 7.10.2008 – 2 BvR 578/07. 21 Siehe zu dieser Normenkette: BVerfGE 45, 187 ff., 261 ff.
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sprochen erhalte, und zwar nicht nach 15 Jahren, sondern in seinem Fall nach 10 Jahren Haftzeit. Auch könne für die weiteren 5 Jahre bis zur Regel-Mindeststrafe von 15 Jahren gem. § 57a StGB eine Kompensation stattfinden. Die geforderte bedingte Entlassung seines Mandanten nach 10 Jahren könne nach dem Gesetz mit (a) zusätzlichen strafähnlichen Auflagen, mit (b) Auflagen zur Wiedergutmachung sowie mit (c) besonderen Weisungen zu Lebensführung verbunden werden, §§ 57a III, 56a, 56b StGB. f: Vollstreckungs- statt Strafzumessungslösung Eine solche Art von Härtefallregelung wäre dann eine Art von „Strafvollstreckungslösung“. Man könnte vielleicht sogar auch mutig dieses neue Institut aufgreifen und die Art der „Strafvollstreckungslösung“ übernehmen, die der Bundesgerichtshof als „Kompensation“ für Verstößen gegen die Menschenrechtskonvention entwickelt hat22 und mit Hinweis auf das Geständnis und die Ausgleichbemühungen des Angeklagten fünf Jahre als verbüßt ansehen. Dazu sei dieses Institut jedoch wohl noch nicht ausgereift. Aber offenkundig gäbe es auch diesen Weg. Den rechten aus diesen vielen Wegen zu wählen, sei die Aufgabe – auch – der Rechtsprechung, und damit auch des Tatgerichts.23 4. Rechtsanspruch auf tatrichterliche Entscheidungen a: Rechtsanspruch auf Vollzugslockerungen, §§ 11, 13 III StVollzG und § 57 StGB analog Der Überführung nach 5 Jahren in den offenen Vollzug stehe derzeit auch noch der Umstand entgegen, dass es sich um den Sonderfall der lebenslangen Freiheitsstrafe gem. § 13 III StVollzG handele. Diese Vorschrift spreche von einer 10 Jahresfrist. Aber dem Wortlaut nach gelte sie nur für diejenige
22 BGHSt (GrSen) 52, 124 ff., 137, Fischer, Thomas, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, 57. Aufl. 2010, § 57a, Rn. 13 ff. („selbst im Falle einer lebenslangen Freiheitsstrafe“ und „durch das Tatgericht im Urteilstenor“ auszusprechen). 23 Zur Zuständigkeit des Tatgerichts für die Frage der Schwere der Schuld: BVerfGE 68, 288 ff., sowie Fischer, Thomas, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, 57. Aufl. 2010, § 57a, Rn. 14 m.w.N. Auf den vorliegenden Fall durchaus übertragbar, führt die 2. Kammer des Zweiten Senats (Beschluss vom 7.10.2008 – 2 BvR 578/07, Absatz-Nr. 31 ff.) zur Frage der fehlenden Verwerflichkeit aus: „Die Frage, wie sichergestellt werden kann, dass eine nicht in diesem Sinne besonders verwerfliche Tat auch nicht zu einer Verurteilung zu lebenslanger Freiheitsstrafe auf der Grundlage des § 211 StGB führt, ist eine Frage der Auslegung der Strafgesetze und obliegt daher den zuständigen Strafgerichten (vgl. BVerfGE 45, 187, 267). Das BVerfG prüft jedoch, ob den Strafgerichten nach dem Gesetz hierfür ein hinreichender Spielraum verbleibt (vgl. BVerfGE 45, 187, 261 ff.)“.
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„Lebenslängliche“, die ihre Strafe im geschlossenen Vollzug verbüßen würden. Die vorhergehende Überführung in den offenen Vollzug wäre danach möglich, und dann würde diese Sperrfrist nicht gelten. Doch die Praxis halte sich üblicherweise an die 10 Jahresfrist und sehe damit 10 Jahre im geschlossenen Vollzug vor. Aus rechtsstaatlichen Gründen müsse und könne das Tatgericht in diesem Fall anordnen, dass die Frage der Überführung des Angeklagten in den gelockerten Volkzug gem. § 11 StVollG, spätesten nach 5 Jahren den Grundsätzen des § 57 StGB unterliege. Das sei vom Tatgericht schon in seinem Urteil festzuschreiben. Denn die wesentlichen Tatsachengrundlagen dafür ergäben sich schon zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung. Es handele sich im Sinne des § 46 StGB um schuldrelevantes Nachtatverhalten. Ein Schwurgericht, das aus denselben Gründen auch gehalten sei, die „Schwere der Schuld“ im Sinne des § 57a StGB selbst festzuschreiben,24 müsse sich anlog dazu verhalten. Das Tatgericht könne und müsse in diesem Fall also die strafzumessungsrechtlich „entschuldigend“ wirkende Umstände nicht nur im Urteil festschreiben. Vielmehr müsse das Tatgericht auch selbst schon die rechtlichen Folgerungen für den Eintritt in den Genuss der (vollen) Vollzugslockerungen daraus ziehen. Auch insofern könne es §§ 57, 57a StGB verfassungskonform analog heranziehen. b: Unbestimmte Rechtsbegriffe im Vollzugsrecht Der Blick in das Vollzugsrecht belege zudem das Problem des „Beurteilungsspielraums“ der Exekutive. Kontraindikationen zu Vollzuglockerungen seien z.B. die Fluchtgefahr und Missbrauchsgefahr des offenen Vollzuges. Diese stellten nach der herkömmlichen Rechtsprechung einen unbestimmten Rechtsbegriff dar, bei dem der Vollzugsbehörde bislang jedenfalls ein „erheblicher Beurteilungsspielraum“ zuzubilligen sei.25 So habe der Gefangene auch keinen Rechtsanspruch auf Gewährung von Vollzugslockerungen, sondern nur einen Anspruch auf fehlerfreien Ermessengebrauch.26 Ferner erfolge etwa die Zulassung zum Freigang in der Regel nur in Verbindung mit einer Arbeitsstelle.27 24
BVerfG, Entscheidung vom 03.06.1992 – 2 BvR 1041/88 = BVerfGE 86, 288 ff. BGHSt 30, 320 ff., OLG Frankfurt, NStZ-RR 1998, 91 ff., Ullenbruch, Thomas, in: Böhm, Alexander/Schwind, Hans-Dieter/Jehle, Jörg-Martin/Laubenthal, Klaus (Hrsg.), Strafvollzugsgesetz, Bund und Länder, 5. Aufl. 2009, § 11, Rn. 14. 26 Ullenbruch, Thomas, in: Böhm, Alexander/Schwind, Hans-Dieter/Jehle, Jörg-Martin/ Laubenthal, Klaus (Hrsg.), Strafvollzugsgesetz, Bund und Länder, 5. Aufl. 2009, § 11, Rn. 26. 27 Ullenbruch, Thomas, in: Böhm, Alexander/Schwind, Hans-Dieter/Jehle, Jörg-Martin/ Laubenthal, Klaus (Hrsg.), Strafvollzugsgesetz, Bund und Länder, 5. Aufl. 2009, § 11, Rn. 10. 25
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Das Recht und die Praxis des Strafvollzuges seien erkennbar nicht auf bereits resozialisierte Gefangene zugeschnitten, sondern auf potentielle Rückfalltäter ausgerichtet und auf solche Gefangenen, deren Gefährlichkeit erprobt werden müsse. Deshalb bedürfe es – ausnahmsweise – einer tatrichterlichen Entscheidung, die an dem Rechtsanspruch auf die bedingte Entlassung gem. § 57 StGB anzulehnen sei. Andernfalls sei – zumindest in diesem Fall – das Rechtsstaatsprinzip, und zwar in der Form des strafrechtlichen Gebotes, keine Strafe ohne – bestimmtes – Gesetz, verletzt. Dieses Gebot sei bekanntlich nicht nur im Grundgesetz in Art. 103 II GG verankert, sondern auch in Art. 7 EMRK aufgeführt. Es sei auch in der neuen Grundrechtecharta, Art. 47 I, verbürgt. 5. Schuldstrafe und Verfügbarkeit: Menschenwürde und Autonomie (des Ungefährlichen und Reuigen) Wie aber sei die Begrenzung der Strafbuße auf nur, aber immerhin 5 Jahren im geschlossenen Vollzug zu begründen, die sein Mandant auf sich zu nehmen bereit sei? Seines Erachtens verstoße jede Freiheitsstrafe von mehr als fünf Jahren im Normalvollzug gegen den Ursprung der Grundrechte, die Menschenwürde. Nur der, allerdings regelmäßig, mit vorliegendem zusätzlichem Nachweis der fortwährenden individuellen Wiederholungsgefahr könne eine längerfristige Strafe tragen. Die verfassungsrechtliche Grundlage bilde das Schuldprinzip. Diese gründe das Bundesverfassungsgericht nicht nur auf Art. 1 I GG, sondern auch auf das Freiheitsrecht des Art. 2 GG, und aus diesem ergebe sich auch der Gedanke der „Eigenverantwortung“. Die Idee der Eigenverantwortung dürfe aber nicht sofort mit dem Gedanken des Schuldausgleichs im Sinne der vollen Widervergeltung verbunden werden. Die ideale Widervergeltung eines Mordes mit einem Mord sei überhaupt nur auf der Ebene des Streites zwischen clanähnlichen Gruppen möglich. Von diesem Denken habe sich der westliche Individualismus weitgehend, aber was die Generalprävention angeht, offenbar doch nicht ganz vollständig gelöst. Das sei auch zu akzeptieren. Dort, also zur Erhaltung der Rechtstreue, solle sie dann auch ihre eigene Bedeutung erhalten. Die Idee von der Würde des Menschen gelte aber bekanntlich selbst auch für den Mörder.28 Deshalb sei – insofern und zunächst – einmal sein Blickwinkel einzunehmen. Für ihn wie für jeden Menschen sei nunmehr nur noch an die große Idee der Autonomie zu erinnern, die das gesamte Zivilrecht präge
28
Vgl. BVerfGE 109, 133 ff., 134 f., nur die Freiheit dürfe beschnitten werden.
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und die Freiheit und Würde ausfülle. Die Idee der Autonomie aber müsse an die menschlichen Realitäten gebunden werden. Aber könne der Mensch denn über 10, 15 oder gar 25 Jahre seines Lebens wirklich frei verfügen? Nur mittelfristige Zeiträume von höchsten 5 Jahren seien für den – einzelnen – Menschen gerade noch überschaubar. Nur große Gesellschaften und die Clans würden in Generationen denken können. Selbst jedes gut geführte Unternehmen könne seine Strategie nur mittelfristig planen. Spätestens dann müsse der Kaufmann nachsteuern. Gesamte Legislaturperioden dauerten auch nicht länger etc. Die persönlichen Zeiträume seien für einen Menschen etwas ganz anderes als die soziale Zeit, etwa im Sinne der Zeitgeschichte. Fünf Jahre könne man deshalb gerade noch als den für einen Menschen wirklich „verfügbaren Zeitraum“ bezeichnen.29 Anders gewendet, könne man im Sinne einer mit Di Fabio modernisierten Sozialvertragslehre30 zum Beispiel durchaus folgende alte Metapher aufgreifen und sagen: Der Angeklagte habe „einen Preis“31 für seine Tat zu entrichten. Aber so könne das nur für diesen Bereich des Verfügbaren gelten. Alles andere sei eine Art von „Gefährdungshaftung“, die dann aber auch entsprechend begründet werden müsste. Hier aber fehle es an der zusätzlichen Gefahr. Bei langjährigen Freiheitsstrafen die vernünftigerweise von keinem Menschen mehr überschaubar seien, werde der Gedanke des Autonomieprinzips im Sinne des Art. 1 GG missbraucht. Es handelt sich um eine – soziale – 29 Montenbruck, Axel, Strafzeit, in: Strafrechtsphilosophie. Vergeltung, Strafzeit, Sündenbock, Menschenrechtsstrafe, Naturrecht (1995–2010), Dokumentenserver der FUBerlin (open access), http://edocs.fu-berlin.de/, 2. Aufl. 2010, Rn. 200 ff. 30 Aus der deutschen Sicht zur „geistigen Fortwirkung der Vertragstheorie“ im Sinne der „Verfassung als Vertrag zwischen Bürgern“: Di Fabio, Udo, Das Recht offener Staaten. Grundlinien einer Staaats- und Rechtstheorie, 1998, 35 ff. 31 Beccaria, Cesare, Über Verbrechen und Strafe (1766), Alff, Wilhelm Josef (Übrs.), 1966, 51: Gesetze seien die „Bedingungen, unter denen unabhängige isolierte Menschen sich in Gesellschaft zusammenfanden, Menschen, die müde waren, in einem ständigen Zustand des Krieges zu leben und eine infolge der Ungewissheit ihrer Bewahrung unnütz gewordene Freiheit zu genießen. Sie opferten davon einen Teil, um des Restes in Sicherheit und Ruhe sich zu erfreuen“. Der Rechtswissenschaft in Erinnerung gerufen von: Deimling, Gerhard, Kriminalprävention und Sozialkritik im Werk Cesare Beccarias „Über Verbrechen und Strafen“, in: Hirsch, Hans Joachim/Kaiser, Günther/Marquardt, Helmut (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Hilde Kaufmann, 1986, 51 ff., 52. Eine „liberale Konzeption der Gleichheit“ entwickelt auch: Dworkin, Ronald, Bürgerrechte ernst genommen (Taking Rights Seriously, 1979), 1984, vgl. insbes. 439; siehe auch: die Besprechung von Brugger, Winfried, Rezension von: Brülisauer, Bruno, Moral und Konvention. Darstellung und Kritik ethischer Theorien, 1988, ARSP 75 (1989), 279 ff. Siehe auch: Horster, Detlef, Die Wirklichkeit der Freiheit, ARSP 75 (1989), 145 ff., mit dem Schlusssatz, 160: „Freiheit ist dadurch diskursiv einlösbar, indem jedes empirische Subjekt sich mit seinen Interessen und Bedürfnissen in einem bestehenden Normgefüge zur Geltung bringt. Auf der Basis so verstandener Freiheit können Normen intersubjektive Anerkennung finden“.
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Zuschreibung von Freiheit, die in Wirklichkeit so nicht bestehe. Das gelte zumal auch, wenn, wie es sogar der Satz „Keine Strafe ohne Gesetz“ in Art. 103 II GG andeute, schlicht gefolgert werde, der Täter selbst habe schon mit der Tat das ihm vorher bekannte Risiko einer solchen Strafe bewusst auf sich genommen. Solche Art sittenwidriger Selbstverpfändungen auf 10, 15 und mehr Jahre könne die deutsche Rechtsordnung schon um ihrer selbst willen nicht dulden. Im Übrigen gingen er und sein Mandant weiter. Selbstverständlich müsse und werde sein Mandant die „sozialen“ Zeiträume der Gesellschaft mit bedenken, in der er lebe. Er sei und fühle sich auch mit dem Bundesverfassungsgericht als soziales Wesen.32 Vor dem Hintergrund der Ängste der Allgemeinheit, zu der sich der Angeklagte auch zählen würde und die er verstehen könne, sollte der Vollzug über die fünf Jahre hinaus als „offener Vollzug“ mit Freigang fortgesetzt werden. Insgesamt ergibt sich dann eine Zeit im Vollzug von 10 Jahren. Diese Frist aber reiche aus, wie auch in entsprechenden anderen Fällen des Mordes zeige, bei der günstigen Legalprognose, in denen die lebenslange Strafe für den Mord über § 49 StGB abgesenkt worden sei. Menschenwürdig und vertretbar sei der Vollzug von weiteren 5 Jahren gerade noch deshalb, wenn und weil der Angeklagte für weitere dann ebenfalls noch überschaubare fünf Jahre alle Vollzugslockerungen, wie Freigang tagsüber und 21 Tage Urlaub erhalte. Denn damit könne er einen großen Teil seiner Grund- und Menschenrechte wahrnehmen. Allerdings müsse er zugleich jetzt schon auf den offenen Vollzug mit Freigang und Urlaub etc. einen Rechtsanspruch erhalten. Von einer festen Arbeitstelle zum Beispiel dürfe der Frage nicht abhängig gemacht werden. Denn das Legalverhalten seines Mandanten müsse nicht mehr erprobt werden.
32 Zur Sicherungsverwahrung: BVerfG, Beschluss vom 8.11.2006 – 2 BvR 578/02 = BVerfGE 117, 71 ff., Absatz-Nr. 69: „Der Einzelne ist eine sich innerhalb der sozialen Gemeinschaft entfaltende Persönlichkeit. Der Gewährleistung des Artikel 1 Absatz I GG liegt die Vorstellung vom Menschen als einem geistig-sittlichen Wesen zu Grunde, das darauf angelegt ist, sich in Freiheit selbst zu bestimmen und sich zu entfalten (BVerfGE 45, 187, 227). Die Spannung zwischen dem Individuum und der Gemeinschaft hat das Grundgesetz allerdings insofern im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden, als der Einzelne Einschränkungen seiner Grundrechte zur Sicherung von Gemeinschaftsgütern hinnehmen muss (vgl. BVerfGE 65, 44; BVerfGE 109, 133, 151, w. Nachw.)“. Auf diese Weise wird der Mensch zum sozialen Wesen erklärt, das Sozialpflichten unterliegt. Zu diesen Pflichten gehört es auch, den unter Umständen lebenslangen Freiheitsentzug aufgrund einer Maßregel der Besserung und Sicherung gem. §§ 63, 64, 66 StGB zu ertragen. So kann das Bundesverfassungsgericht dann auch folgern: Absatz-Nr. 70: „… Vor diesem Gehalt des Artikel 1 Absatz 1 GG ist die Vollstreckung der lebenslangen Freiheitsstrafe auch unter dem Aspekt der Verfolgung des Sicherungszwecks zum Schutz der Allgemeinheit grundsätzlich mit dem Grundgesetz vereinbar“.
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Aber mit jedem darüber hinaus gehenden Entzug der Fortbewegungsfreiheit werde der Verurteilte dann endgültig zum bloßen Objekt degradiert, das vor allem zur Befriedigung eines – insofern – inhumanen Vergeltungsbedürfnisses der Allgemeinheit diene.
IV. Schluss der Begründung des Hauptantrages und die Stellung von Hilfsanträgen 1. Absolute Höchststrafe aus der Sicht des Bundesverfassungsgerichts Die angemessene Strafe und ihre Vollstreckung für diesen besonderen Fall seien natürlich auch von der üblichen Höchststrafe und deren Vollstreckung abhängig. Absolute Höchststrafen aus der Sicht des Bundesverfassungsgerichts ergäben sich in etwa aus folgenden: So werde die Bedeutung der Menschenwürde, aber auch die Vermengung von Schuldausgleich und Vorbeugung, aus der Sicht des Bundesverfassungsgerichts33 in den folgenden Sätzen erkennbar: „Die Vollstreckung der lebenslangen Freiheitsstrafe über den durch die besondere Schwere der Schuld bedingten Zeitpunkt hinaus aus Gründen der Gefährlichkeit des Straftäters verletzt weder die Garantie der Menschenwürde (Artikel 1 Absatz I GG) noch das Freiheitsgrundrecht (Artikel 2 II GG)“. Außerdem füge das Gericht ebendort gleich an: „Jedoch hat der Gesetzgeber verfassungsrechtlich unbedenklich (BVerfGE 45, 187, 242; BVerfG NJW 2007, 1933, Rn. 63, 68 ff.) an der lebenslangen Freiheitsstrafe per se festgehalten und will es auch für den Fall einer guten Kriminalprognose nicht zu einer Art „Entlassungsautomatik“ kommen lassen (BVerfGE 86, 288, 321; BVerfG NJW 2007, 1933, Rn. 64)“. Diese Entlassungspraxis sei aber auch gesetzlich zu regeln, was die Auslegung vorhandener Normen nicht ausschließe, und auch ihre analoge Anwendung zugunsten der Grundrechtsträger eröffne: „Für den Strafvollzug im Geltungsbereich des Grundgesetzes genügt zwar nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts das Institut der Begnadigung allein nicht, um die verfassungsrechtlich unaufgebbare Aussicht auf Wiedererlangung der Freiheit in einer Weise abzusichern, die rechtsstaatlichen Anforderungen entspricht …“. 33
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Deshalb sei auch sein Mandant nicht auf diesen Weg zu verweisen. „…Vielmehr folgt aus dem Rechtsstaatsprinzip für die Strafvollstreckung in Deutschland das Erfordernis einer gerichtlich kontrollierbaren und kontrollierten Entlassungspraxis. Die Voraussetzungen, unter denen die Vollstreckung einer lebenslangen Freiheitsstrafe ausgesetzt werden kann, und das dabei anzuwendende Verfahren sind gesetzlich zu regeln (vgl. BVerfGE 45, 187, 243 ff. und Leitsatz 3 Satz 2)“.34 Das gelte für den vorliegenden Fall auch für die Anordnung des offenen Vollzuges. Deshalb sei die Sache entweder dem Bundesverfassungsgericht vorzulegen, oder eine verfassungskonforme Auslegung, etwa als Erst-RechtSchluss, aus §§ 57, 57a StGB erforderlich. Mit diesen verschiedenen Leitgedanken begründe das Bundesverfassungsgericht gleichsam die absolute Schuld-Höchststrafe. Hier aber entfalle die „Schwere der Schuld“, sobald man jedenfalls für die Strafzumessungsschuld im Sinne von § 46 StGB auch das Nachtatverhalten mitberücksichtige. Der Schuldgrundsatz erfordere also schon eine Milderung, die der Gesetzgeber offenbar gem. § 57a StGB bei 15 Jahren ansetze. Geboten sei aber eine zweite Milderung, die sich in §§ 46a und 46b StGB widerspiegele. Denn es fehle hier an der „Gefährlichkeit des Straftäters“, jedenfalls diejenige im individualpräventiven Sinne, und er habe aktiv an der Schaffung von „Rechtsfrieden“ beigetragen. Ferner könne das Tatgericht in diesem Fall schon über die Ungefährlichkeit selbst entscheiden. Auch werde hier keine „Entlassungsautomatik“ ausgelöst. Denn selbstverständlich unterwerfe sich sein Mandant der Prognose, die auch eine bedingte Entlassung nach § 57 StGB (analog) erfordere. 2. Zur Kulturabhängigkeit der Strafe aus der Sicht des Bundesverfassungsgerichts Das Bundesverfassungsgericht habe zudem bereits im Jahre 1977, also vor mehr als 30 Jahren, die Vereinigungstheorie ausdrücklich nur für einen abänderbaren, damaligen sozialethischen Konsens begriffen. Sie steige bei der Idee der Menschenwürde mit den Worten ein: „Bei alledem darf nicht aus den Augen verloren werden: Die Würde des Menschen ist etwas Unverfügbares. Die Erkenntnis dessen, was das Gebot, sie zu achten, erfordert, ist jedoch nicht von der historischen Entwicklung zu trennen“.
34
BVerfG, Entscheidung vom 16.1.2010 – 2 BvR 2299/09, Absatz-Nr. 22.
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Dann füge das weise Gericht für die Strafe an: „Die Geschichte der Strafrechtspflege zeigt deutlich, dass an die Stelle grausamster Strafen immer mildere Strafen getreten sind. Der Fortschritt in der Richtung von roheren zu humaneren, von einfacheren zu differenzierteren Formen des Strafens ist weitergegangen, wobei der Weg erkennbar wird, der noch zurückzulegen ist. Das Urteil darüber, was der Würde des Menschen entspricht, kann daher nur auf dem jetzigen Stande der Erkenntnis beruhen und keinen Anspruch auf zeitlose Gültigkeit erheben“.35 Zu „Sinn und Zweck“ des Strafens äußere sich das Bundesverfassungsgericht in derselben Leitentscheidung – vor mehr als einer Generation – ebenso zurückhaltend:36 „Das Bundesverfassungsgericht hat sich wiederholt mit Sinn und Zweck des staatlichen Strafens befasst, ohne zu den in der Wissenschaft vertretenen Straftheorien grundsätzlich Stellung zu nehmen. Auch im vorliegenden Fall besteht kein Grund, sich mit den verschiedenen Straftheorien auseinanderzusetzen; denn es kann nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts sein, den Theorienstreit in der Strafrechtswissenschaft von Verfassungs wegen zu entscheiden. Der Gesetzgeber hat in den Strafrechtsreformgesetzen seit 1969 zu den Strafzwecken ebenfalls nicht abschließend Stellung nehmen wollen und sich mit einer begrenzt offenen Regelung begnügt, die keiner der wissenschaftlich anerkannten Theorien die weitere Entwicklung versperren wollte (vgl. BTDrucks V/4094, S. 4 f.)“. Die Zeit für eine neue Überprüfung des Konsenses notfalls durch das Bundesverfassungsgericht sei deshalb reif, falls das Schwurgericht mit den erwähnten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts überhaupt auf die „lebenslange Freiheitsstrafe“ erkenne und nicht eine Absenkung des Strafrahmens vornehmen wolle. Die Überprüfung dieses Konsenses stehe jeder Generation zu. Darauf bezögen sich seine Hilfsanträge: 3. Strafe im Licht der Kultur- und Naturwissenschaften Weiterer Sachverstand sei bei weiteren Wissenschaften zu erwarten, und er verzichte darauf, wissenschaftliche Belege anzubieten. (1) So seien hilfsweise die Gutachten eines Philosophen, eines Neurologen und eines Kulturwissenschaftlers zur Frage der „Willensfreiheit“ des 35
BVerfG, Entscheidung vom 21.6.1997 – 1 BvL 14/76 = BVerfGE 45, 187 ff., AbsatzNr. 146. 36 BVerfG, Entscheidung vom 21.6.1997 – 1 BvL 14/76 = BVerfGE 45, 187 ff., AbsatzNr. 210.
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Menschen einzuholen. Denn sie sei die Grundlage für das Schuldprinzip und auch das Bundesverfassungsgericht beziehe sich, wie dargetan, darauf. Sie würden ergeben, dass nach vorherrschender Ansicht in allen drei Wissenschaften die Willensfreiheit des Menschen jedenfalls nicht voll nachzuweisen sei. Die Willensfreiheit werde nach vorherrschender Ansicht, und zwar auch in der Strafrechtswissenschaft37 vielmehr fingiert, vermutlich nicht zuletzt um die Freiheits- und Menschenrechte einerseits und die Herrschaftsform der Demokratie andererseits aus dem Bild vom autonomen Menschen ableiten zu können. Dennoch entfällt damit die – tatsächliche – Grundlage für beides, die verfassungsrechtlichen und die gesetzlichen Voraussetzungen der Schuldstrafe. Strafe werde also in Wirklichkeit folglich nur kulturell zugerechnet. Der Täter lebe zwar in dieser Kultur und er profitiert grundsätzlich von ihr. Deshalb müsse der Täter sich zwar dieser Kultur auch grundsätzlich beugen. Aber Langzeitstrafen hebelten die Freiheitsrechte weitgehend aus. Deshalb sei in einer westlichen aufgeklärten Kultur wenigstens zu verlangen, dass dieser Umstand angemessen mit berücksichtigt werde. Zumindest beim „Gegenbeweis“ der günstigen Rückfallsprognose dürfen nur noch mittelfristige Strafen vollstreckt werden, und der Rest müsse sofort zur Bewährung ausgesetzt werden. Weisungen könnten der zusätzlichen Sicherung dienen. Kreative Auflagen könnten das Strafbedürfnis zu befriedigen helfen. So dürften das gesamte Vermögen und erworbene Rentenansprüche nicht unantastbar sein. Den Preis für die Einfallslosigkeit des Gesetzgebers und der Gerichte dürfe jedenfalls nicht dieser Angeklagte in Form von verlängerter Strafhaft entrichten. (2) Zudem werde das Gutachten eines Kriminologen ergeben, dass die „Notwendigkeit“ von Freiheitsstrafe nicht hinreichend erforscht sei. Vielmehr sei die Notwendigkeit zu Gefahrenabwehr sogar zweifelhaft. Diese Zweifel seien zumindest strafmildernd mit zu berücksichtigen.
37
Eine „staatsnotwendige Fiktion“: Kohlrausch, Eduard, Sollen und Können als Grundlagen der strafrechtlichen Zurechnung, in: Angehörige der Fakultät Königsberg (Hrsg.), Festgabe für Karl Güterbock zum 80. Geburtstag, 1910, 1 ff., 36. Dazu auch: Roxin, Claus, Das Schuldprinzip im Wandel, in: Haft, Fritjof/Hassemer, Winfried/Neumann, Ulfrid/ Schild, Wolfgang/Schroth, Ulrich (Hrsg.): Strafgerechtigkeit. Festschrift für Arthur Kaufmann zum 70. Geburtstag, 1993, 519 ff., 521. Zur sprachlich-kulturellen Seite, siehe: Schünemann, Bernd, Die Funktion des Schuldprinzips im Präventionsstrafrecht, in: Schünemann, Bernd (Hrsg.), Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, 1984, 153 ff., 163 f., dazu auch: Montenbruck, Axel, Western Anthropology: Democracy and Dehumanization, 2nd slightly revised edition 2010, Dokumentenserver der FU-Berlin (open access), http://edocs.fu-berlin.de/, Rn. 41 ff.
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Eine konkrete Studie eines Strafvollzugsforschers werde zudem schon jetzt ergeben, dass Mörder, mit Ausnahmen von Impuls- und Triebtätern, relativ ungefährlich seien. Die Schuldangemessenheit, und damit die Fiktion der Willensfreiheit, würden also insbesondere bei den Lebenslänglichen über die Dauer bestimmen. (3) Ferner sei das Gutachten eines Soziologen darüber einzuholen, das Straftaten in der sozialen Welt tatsächlich nur ein abweichendes und vor allem ein natürliches Verhalten des Menschen darstellen, und darüber, dass Strafen vor allem die Gesellschaft stabilisieren. Auch diese Erkenntnis sei bei langfristiger Haft zumindest, und dann mildernd, mit zu bedenken. Mit der gleichen Zielsetzung seien zusätzlich die Gutachten eines Psychologen, eines Ethnologen und eines Religionswissenschaftlers darüber einzuholen, dass Strafe tatsächlich vorrangig einen Sündenbockcharakter besitzt. Sie dient als Strafe vorrangig dem Frustrationsabbau der Allgemeinheit. Er könne zumindest auch auf andere Weise bewirkt werden. Freiwillige Buße als unterwürfige Demutshaltung findet in allen alten Rechtsordnungen Beachtung. Zumindest langjährige Freiheitsstrafe diene also vor allem generalpräventiven Bedürfnissen. (4) Dieselben Sachverständigen würden zudem die Erfahrungssätze darlegen, dass (a) Demutsgesten durch den Täter und (b) rituelle Achtungsbezeugungen durch die Allgemeinheit gegenüber den Opfern die realen Bedürfnisse der Allgemeinheit und der Angehörigen nachweislich in weitem Umfang befriedigen. (c) Mit den Angehörigen sei statt Strafe fachkundige Trauerarbeit zu leisten. Der Angeklagte werde seinen Teil mit seinem Angebot, fünf Jahre zu verbüßen, erbringen. Das Gericht werde diese Demutsgeste mit seinem öffentlichen Schuldspruch absichern. Das übrige habe dann aber ein fort zu entwickelndes ziviles und soziales Opferrecht zu bewirken. (5) Es sei ferner das Gutachten eines Verhaltensbiologen darüber einzuholen, dass kein anderes soziales Lebewesen das nachträgliche Strafen kenne und benötige. Strafe sei allein dem Menschen eigen. Auch deshalb könne gerade der Mensch die Strafe auf ein kulturelles Minimum und ansonsten auf die Gefahrenabwehr beschränken. Die vom Gesetz vorgesehene Höhe der Strafe für den Mord gebiete deshalb weit mehr als das kulturell mögliche Minimum. Sie beinhalte auch unter diesem Gesichtspunkt nicht die „ultima ratio“.
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V. Rückblick Aber darauf könne das Gericht auch verzichten. Denn die dreifaltige Vereinigungstheorie umfasse bereits alle Sichtweisen. Die Generalprävention bediene vor allem soziale Zwecke, die Individualprävention richte sich an der naturwissenschaftlichen Sicht der Gefahrenabwehr aus und Schuldausgleich an den normativen Ideen der Wertverletzungen, der Eigenverantwortung und der Gerechtigkeit aus. Das hohe Gericht solle sich nur das Trilemma verdeutlichen, das sich aus den „Antinomien“, den – zumindest gelegentlich aufbrechenden38 – Widersprüche zwischen allen drei Strafbegründungen, ergeben müsse. So liege es auch hier. Denn würde Strafe gem. §§ 211, 57a StGB hier, wie üblich, die Anforderungen aller drei Strafbegründungen im üblichen Umfang bedienen, so reiche die deutsche Freiheitsstrafe in der Form der besonderen „Schuldstrafe“ aus. Denn sie decke auch die Ansprüche der beiden anderen Strafziele mit ab. Aber wenn – ausnahmsweise – eine dieser drei Säulen nicht trage, bedürfe es Sonderreglungen. Bei der Sicherungsverwahrung fehle die Schuld, sodass das Maßregelrecht eingreife. Hier fehle nicht nur die Notwendigkeit der Gefahrenabwehr. Eigentlich reicht aus der Sicht der Gefahrenabwehr eine sofortige Strafaussetzung zur Bewährung aus. Außerdem unterwerfe sich der Täter auch noch mit seinem Geständnis und mit tätiger Reue dem Recht, sodass auch die Idee der „Verteidigung der Rechtsordnung“ (so die Worte in §§ 56 II, 47n II StGB) bei diesem grausamen Doppelmord keine Höchststrafe gebiete. In angloamerikanischen Staaten würde vielleicht kurzerhand eine „Vereinbarung“ im Sinne des neuen § 257c StPO geschlossen, in dem vor allem wegen der Geständnisse die Höchststrafe reduziert werde. Aber § 257c StPO greife nicht bei der Punktstrafe der lebenslangen Freiheitsstrafe des § 211 StGB. Sonderregelungen könnten, wie aufgezeigt, Abhilfe schaffen. Welche Wege das Gericht (oder die Rechtsprechung allgemein) wähle, sei Sache der Judikative. Das Gericht könne § 46a und § 46b StGB weit auslegen. Am sinnvollsten erscheine ihm selbst eine Härtefallregelung für § 57a StGB. Das sei 38 Frisch, Wolfgang, Gegenwärtiger Stand und Zukunftsperspektiven der Strafzumessungsdogmatik. Das Recht der Strafzumessung im Lichte der systematischen Darstellungen von Hans-Jürgen Bruns und Franz Pallin, Teil I und II, ZStW 99 (1987), 349 ff.; 751 ff., 366: Die theoretische Durchschlagskraft des Antinomieeinwandes versucht Frisch mit dem Hinweis zu entkräften, man würde das Problem der Widersprüchlichkeit vermutlich überschätzen. Über die spezial- oder generalpräventive Wirkung der Strafe sei zu wenig bekannt. Gesicherte, langfristige Prognosen seien kaum zuverlässig zu stellen. Mit seiner Einschätzung hat Frisch für den Regelfall vermutlich immer noch recht, aber die Gerichte arbeiten gleichwohl mit derlei Begründungen.
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eine Art „Rechtsfolgen-Lösung“ für wirklich außergewöhnliche Fälle. Das Schwurgericht könne aber, wie seiner Zeit das Schwurgericht in Verden, nunmehr § 57a StGB mit seiner strikten Untergrenze von 15 Jahren für verfassungswidrig erachten und die Sache dem Bundesverfassungsgericht vorlegen. Damit schließe er sein Plädoyer, bitte um rechtliches Gehör und verweise noch einmal auf seine anfänglich gestellten Anträge.
VI. Schlussbemerkung Generell, und unterhalb der gesetzlichen Regelstrafe für den Mord führt jedenfalls schon das Geständnis, mit oder ohne eine Absprache, zu einer erheblichen Strafmilderung. Deren typische Auswirkungen reichen bis zur Art des (eher offenen) Vollzuges hinein. Dieser Umstand bedeutet im Umkehrschluss und zugespitzt, dass zumindest das „letzte Drittel der Freiheitsstrafen“, von den Ideen der „Prävention“ regiert und nicht mehr vom Tat-Schuld-Ausgleich im engen Sinne bestimmt wird.39 Auch und vor allem für die Höchststrafe, üblicherweise für Mord, ist über das außerordentliche Gewicht der Gerechtigkeits- oder auch Vergeltungsidee nachzudenken. In seinem Kern des „Vergeltens“ (sprachlich verwandt mit „Geld“) passt diese „goldene Regel“ am besten für den freien Markt von freien Akteuren. Aber selbst Evolutionsbiologen greifen diesen Gedanken auf. Andererseits setzt Recht immer auch die tatsächliche Existenz von Ungerechtigkeiten voraus.40 39 Dazu ausführlicher: Montenbruck, Axel, Zivilreligion. Eine Rechtsphilosophie II. Grundelemente: Versöhnung und Mediation, Strafe und Geständnis, Gerechtigkeit und Humanität aus juristischen Perspektiven, 2010, Dokumentenserver der FU-Berlin (open access), http://edocs.fu-berlin.de/, Rn. 780 ff. 40 Zur binären Kodierung von Recht und Unrecht, die jedenfalls aus der wertfreien Sicht der Rechtssoziologie sachgerecht erscheint: Luhmann, Niklas, Die Codierung des Rechtssystems, in: Roellecke, Gerd (Hrsg.), Rechtsphilosophie oder Rechtstheorie?, 1988, 337 ff., 340 ff.; Heraclitus Ephesius, Fragmente (Fragmente, griechisch und deutsch), Snell, Bruno (Hrsg.), 1983, Fragment 23, erklärt: Recht kenne der Mensch nur, weil es Unrecht gebe. Zur Untrennbarkeit von Recht und Unrecht aus der Sicht der allgemeinen Rechtsphilosophie: Marcic, René, Um eine Grundlegung des Rechts. Existentiale und fundamental-ontologische Elemente im Rechtsdenken der Gegenwart, in: Marcic, René/Tammelo, Ilmar (Hrsg.), Naturrecht und Gerechtigkeit. Eine Einführung in die Probleme; Salzburger Schriften zur Rechts-, Staats- und Sozialphilosophie, Band 9, 1989, 13 ff., 14, sowie aus der Sicht der besonderen Strafphilosophie: Kaufmann, Arthur, Recht und Rationalität. Gedanken beim Wiederlesen der Schriften von Werner Maihofer, in: Kaufmann, Arthur/Mestmäcker, ErnstJoachim/Zacher, Hans F. (Hrsg.), Rechtsstaat und Menschenwürde. Festschrift für Werner Maihofer zum 70. Geburtstag, 1988, 11 ff., 16. Nachdrücklich auch: Rottleuthner, Hubert, Ungerechtigkeiten. Anmerkungen zur westlichen Leidkultur, 2008, 6 ff. Ebenso auch in Bezug auf das Strafrecht: Rössner, Dieter, Autonomie und Zwang im System der Straf-
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Die ur-ethische Idee der „Gerechtigkeit“ und ihre Verankerung als ethisches Minimum im Rechtsstaatsprinzip stehen aber schon einmal nicht allein und nicht über allem. Gleichrangig dürfte die soziale Idee des Friedens daneben existieren. Beide bilden zudem ein Ideenpaar. Beherrscht werden beide, jedenfalls in der Reihung des Art. 1 I, II GG, von der Bedeutung der recht vagen Idee der höchstpersönlichen Menschenwürde, die im Übrigen auch die Demokratie als absolute Idee begründet. Aus der Sicht des Rechtsund Verfassungsstaates tritt zwar ferner die Gemeinwohl-Idee der Effektivität des Rechts, und hier der Strafrechtspflege hinzu. Vielleicht aber sollte man, wie hier geschehen, daneben auch schlicht über die Art der Bestimmung der Gefährlichkeit bei Tötungsdelikten nachdenken. Ferner ist vor diesem Hintergrund die alte zivile Idee der „vorstaatlichen Mediation mit dem Ziel der Wiedergutmachung“ zu bedenken, die das Gesetz und die Praxis bei der Strafbemessung in erheblichem Umfang berücksichtigen. Im Täter-Opfer-Ausgleich und in den prozessualen Vereinbarungen spiegelt sich diese Idee ebenfalls. Auch ist der Gedanke der (aktiven) Heilung des Rechtsbruches (Restauration) durch das (möglichst baldige) Geständnis des Täters zu bedenken, und nicht nur der (passive) Ausgleich durch die Strafe. Denn neben der materiellen Gerechtigkeit geht es auch um das, was das Strafprozessrecht gern als ein Ziel mitberücksichtigt, den Frieden in der Form des „Rechtsfriedens“ zu befördern. Vom Allgemeinen wieder zum Konkreten: Häufig verdrängt wird schließlich, vermutlich auch von den Strafgerichten, welche bunten Möglichkeiten der Vollzug der Freiheitsstrafe offeriert. Zuständig sind dafür aus der Sicht der Rechtsprechung allerdings die Strafvollstreckungskammern, die nicht mehr im Lichte der Öffentlichkeit agieren. Ausgeblendet werden auf diese Weise die üblichen rechtsstaatlichen Gefahren der hoheitlich-effektiven Vollstreckung, hier des Strafvollzuges, mit ihren Ermessensentscheidungen. Eingedämmt werden sie derzeit vor allem über eine starke Binnenethik des Vollzuges, diejenige der Resozialisierung. Aber zum Beispiel Gewalttaten im Vollzug – und zwar vor allem innerhalb des geschlossenen Vollzuges – bleiben weitgehend ohne Aufklärung. Sie stellen faktisch eine in Kauf zu nehmende „Zusatzstrafe“ für die (mutmaßlich) gefährlichen Gefangenen dar. Was jedenfalls Tatgerichte entscheiden können, sollten sie auch entscheiden müssen. Die möglichst enge Verknüpfung von konkreter Strafe und konkreter Tat gebietet, nicht zuletzt, die deutsche Leitidee der Schuldstrafe. Dieser große Leitgedanke wiederum beruht vor allem auf dem individualistirechtsfolgen, in: Arzt, Günther/Fezer, Gerhard/Weber, Ulrich/Schlüchter, Ellen/Rössner Dieter (Hrsg.), Festschrift für Jürgen Baumann zum 70. Geburtstag 22. Juni 1992, 1992, 269 ff., 269. Aus kriminal- und verfassungspolitischer Sicht erklärt Hassemer, in: Wassermann, Rudolf (Hrsg.), Kommentar zur Strafprozeßordnung in drei Bänden. Reihe Alternativkommentare, 1996, Vor § 1, Rn. 15, für weite Teile der Bevölkerung bis hin zu juristischen Anfängern sei „Recht“ im Wesentlichen gleichbedeutend mit „Strafrecht“.
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schen Prinzip der „Eigenverantwortung“. In der Regel überdeckt und verwaltet das Schuldprinzip im Strafrecht die vor allem soziale Idee der „Gefährdungshaftung“ gleich mit. Aber in Wirklichkeit bedarf es, pathetisch formuliert, der Tragkraft der beiden Säulen, um den argumentativen Triumphbogen für die volle Strafbegründung zu errichten. Zu beachten ist dann aber auch noch die prozessuale Idee. Denn durch diesen Bogen hindurch führt der Prozessionsweg zur Wiedererlangung des „Rechtsfriedens“.
Systemgerechtigkeit und Normakzeptanz im Straßenverkehrsstrafrecht unter besonderer Berücksichtigung der Geschwindigkeitsüberschreitung Henning Ernst Müller
Klaus Geppert hat neben den zahlreichen Studien, die er zu den verschiedensten Themen im materiellen und prozessualen Strafrecht vorgelegt hat, speziell auch zum Straßenverkehrsstrafrecht1 intensiv geforscht und gelehrt. Unter seinen Schülern befand sich auch der Beitragsverfasser, der in der Fortgeschrittenenübung des Jubilars im Wintersemester 1985/86 eine Hausarbeit mit straßenverkehrsrechtlichem Schwerpunkt anzufertigen hatte. Im folgenden Beitrag soll der Versuch unternommen werden, das straßenverkehrsstrafrechtliche System aus kriminologischer und strafrechtstheoretischer Perspektive zu betrachten und zwar unter den in der Überschrift angedeuteten Aspekten. Der Jubilar wird mir nachsehen, dass ich im Ergebnis zu einer anderen Auffassung gelange als er sie vor einigen Jahren geäußert hat.2 Straßenverkehrsunfälle sind trotz großer Fortschritte in den vergangenen vier Jahrzehnten3 nach wie vor eine der Hauptursachen für gravierende und tödliche Verletzungen von Menschen in der Bundesrepublik Deutschland. Die menschlichen und volkswirtschaftlichen Kosten sind immens. Das System der Sanktionierung von Verkehrsverstößen beruht auf der Annahme, dass die meisten Unfälle durch vermeidbares Fehlverhalten der Verkehrsteilnehmer4, vor allem der Kraftfahrer, verursacht werden und dass solches Fehl-
1 Vgl. nur seine eingehenden Kommentierungen zu den §§ 44, 69, 69a, 69b und 142 StGB in mehreren Auflagen des Leipziger Kommentars zum StGB. 2 Geppert Reicht das gesetzliche Instrumentarium zur Verbesserung der Verkehrssicherheit aus? In: Blutalkohol 1990, 23 (26 f.). 3 Vgl. Stat. Bundesamt, Verkehrsunfälle Zeitreihen 2009, Tab. 3.1: Getötete 1970: 21332; 2009: 4152, also ein Rückgang um 80 %; allerdings ist die Zahl der Unfälle mit Personenschaden nur wenig rückläufig, d.h. die Überlebenswahrscheinlichkeit bei Unfällen hat sich v. a. durch die passive Sicherheit der Fahrzeuge und Fortschritte im medizinischen Notfallwesen erhöht. 4 Vgl. Pfeiffer/Hautzinger Auswirkungen der Verkehrsüberwachung auf die Befolgung von Verkehrsvorschriften 2001, S. 7.
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verhalten durch Androhung und Durchsetzung von Sanktionen erheblich reduziert werden kann. Grundlage der hier angestellten Überlegungen ist die Frage, inwieweit die „Gerechtigkeit“ des Sanktionensystems zur Normakzeptanz bei den Straßenverkehrsstraftaten beiträgt. Die Beantwortung dieser Frage wird zur weitergehenden Frage danach führen, ob und an welchen Stellen eine Systemungerechtigkeit gegeben ist und wie diese ggf. zu beseitigen ist. Ein besonderer Blick wird dabei auf Geschwindigkeitsüberschreitungen gerichtet.
I. Das straßenverkehrsrechtliche Sanktionensystem Praktisch das gesamte komplexe Regularium des Straßenverkehrs ist über die Ahndung von Verstößen als Ordnungswidrigkeiten abgesichert, die meisten Verkehrsverstöße werden als Ordnungswidrigkeiten verfolgt. Mit der Ahndung einer Ordnungswidrigkeit soll im Unterschied zu Straftatbeständen zwar kein moralisches Unwerturteil verknüpft sein, doch sind damit schon ganz erhebliche Eingriffe in die Freiheit der Verkehrsteilnehmer verbunden. Die Hauptsanktion des Ordnungswidrigkeitenrechts erfolgt ganz regelmäßig nach dem bundeseinheitlichen Bußgeldkatalog, der als Verordnung aufgrund der Ermächtigung in § 26a StVG durch das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung erlassen wurde (BKatV). Geldbußen sind danach in abgestufter Höhe abhängig von Schwere des konkreten Verstoßes vorgesehen. Hinzu treten kann ein Fahrverbot bis zu drei Monaten als Nebenfolge nach § 25 Abs. 1 StVG, – auch dieses ist im Bußgeldkatalog jeweils für schwerere Verstöße vorgesehen (§ 4 Abs. 1 und 2 BKatV). Bei einer Vielzahl von Verstößen erfolgt eine weitere Ahndung durch das Schlechtpunktsystem im Verkehrszentralregister. Die Punkte werden unabhängig von der Festsetzung des Bußgeldes eingetragen – die Bewertung erfolgt nach der Fahrerlaubnisverordnung (Katalog in Anl. 13 zu § 40 FeV). Bei Ordnungswidrigkeiten werden nach diesem Katalog zwischen einem und vier Punkte eingetragen. Die Punkte können zu Maßnahmen bis hin zur Entziehung der Fahrerlaubnis führen. Nur schwere Verstöße im Straßenverkehr werden dagegen mit dem Strafrecht geahndet. Strafrecht kennzeichnet ein Verhalten als besonders verwerflich. Das symbolische Unwerturteil des Strafrechts signalisiert, dass das unter Strafe gestellte Verhalten völlig unakzeptabel ist. Die im Vergleich mit einem Bußgeld regelmäßig empfindlichere Strafdrohung soll besonders abschreckend wirken. Mit Strafdrohung und Strafdurchsetzung wird zugleich im Sinne der positiven Generalprävention die Norm stabilisiert, d. h. es wird durch ihre Anwendung bestätigt, dass das gezeigte Verhalten ernsthaft als Unrecht gekennzeichnet und damit unterdrückt werden soll.
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Im Straßenverkehrsstrafrecht geht es regelmäßig um unmittelbar schädigendes Fahrverhalten, oder solches, das häufig bzw. besonders gravierend schadensträchtig ist. Wenn die Tat im Zusammenhang mit dem Führen eines Kraftfahrzeugs steht, kommen neben Geld- und Freiheitsstrafe noch die Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 69 StGB) oder ein Fahrverbot (§ 44 StGB) in Betracht. Zudem gilt auch im Strafrecht das Punktesystem nach § 4 StVG, § 40 FeV (Anl. 13) mit erhöhten Schlechtpunktwerten. Ein gravierender Unterschied zwischen Bußgeldsystem und Strafrecht ist offenkundig: Während der Bußgeldkatalog für die Verkehrsordnungswidrigkeiten eine detaillierte Zuordnung von Sanktionen für eine Vielzahl bestimmter häufiger Verstöße und damit eine fast ausschließlich objektive und tatbezogene Sanktionszumessung vorsieht, ist dies im Strafrecht deutlich anders. Ein Katalog mit Strafbemessungen für jeden konkreten Verstoß existiert im Strafrecht nicht. Innerhalb des jeweils gesetzlich vorgegebenen Strafrahmens ist seitens der Gerichte zwischen den angedrohten Mindest- und Höchststrafen jeweils eine bestimmte Strafe im Einzelfall zu bemessen. Im Vordergrund stehen dabei die individuelle Schuld des Täters sowie die Spezialprävention, also eher täterbezogene Umstände, insbesondere solche der subjektiven Beziehung des Täters zur Tat, dem Konzept „Schuld“ folgend. Besonders schwere Folgen eines Unfalls können dem Täter bei der Strafzumessung nur dann als gegen ihn sprechende Umstände angerechnet werden, wenn er gerade diese schweren Folgen „schuldhaft“, also etwa durch sein besonders riskantes Verhalten vorwerfbar herbeigeführt hat. Dennoch haben sich in der Gerichtspraxis vielerorts an tatbezogenen Kriterien orientierte „Taxen“ etabliert. Das Strafrecht wird legitimiert durch den Anspruch an den Staat, Rechtsgüter des Einzelnen wie Leben, Gesundheit, Eigentum vor dem schädigenden Verhalten anderer zu schützen. Wenn andere staatliche Schutzmaßnahmen nicht ausreichen, ist ein Schutz durch Strafrecht nicht nur angemessen und zulässig, sondern auch geboten. Das Verkehrsstrafrecht wird allerdings wegen des ultima-ratio-Gebots als weitgehend entkriminalisiert angesehen; die meisten Verstöße werden daher (nur) als Ordnungswidrigkeiten erfasst. Unter Hinweis auf dieses ultima-ratio-Gebot traten wichtige Stimmen aus der Rechtswissenschaft in der Vergangenheit einer Verschärfung des Strafrechts im Straßenverkehr entgegen.5 Die Differenzierung zwischen Ordnungswidrigkeiten und Strafrecht ergibt sich aus der Annahme, Strafrecht müsse, um seine Wirkungen entfalten zu können, so gestaltet sein, dass nur herausgehobene sozialschädliche Ver-
5 Berz Sondermaßnahmen gegen Temposünder? In: ZRP 1988, 205; ihm zustimmend Geppert Blutalkohol 1990, 26.
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haltensweisen davon erfasst werden. Würden schon häufig begangene Taten mit Strafe nach dem StGB bedroht, könnte das eine allgemeine Erosion der symbolischen Bedeutung des Strafrechts zur Folge haben. Daraus ergibt sich zugleich die Notwendigkeit, häufige Verstöße im Straßenverkehr, die geringere Sozialschädlichkeit aufweisen, „nur“ als Ordnungswidrigkeiten zu verfolgen, also in der Tendenz eine Entkriminalisierungsstrategie zu verfolgen.6 In der Straßenverkehrsrealität geschieht der Übergang von Ordnungswidrigkeit zu Straftat fließend: Es sind meist keine Merkmale des Verhaltens, sondern des zufälligen „Erfolgs“ bzw. „Gefährdungserfolgs“, die den strafrechtlichen Vorwurf begründen: So wird die „nur“ bußgeldbewehrte verkehrsordnungswidrige Fahrweise in den Fällen des § 315c Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3 StGB dann zur Straftat, wenn durch sie eine konkrete Gefährdung, also ein Unfall oder zumindest ein „Beinaheunfall“, verursacht wurde. In diesem Zufallsmoment zwischen Ordnungswidrigkeit und Strafrecht kann eine erste Systemungerechtigkeit erkannt werden. Man kann sich aber damit beruhigen, dass statistisch über alle Fälle hinweg gesehen das Unfallereignis tendenziell auch die Tatschwere des Verhaltens selbst belegt.
II. Kriminologische Erwägungen Ob Strafe oder Bußgeld als Präventionsmaßnahmen effektiv sind, hängt eng mit der Beantwortung der Frage zusammen, was die Ursachen für Verkehrsverstöße sind. Die Forschung nach den Ursachen für abweichendes Verhalten macht bei Straßenverkehrsdelinquenz im Vergleich zu anderen Bereichen der Delinquenz auf erhebliche Besonderheiten aufmerksam. Der Straßenverkehr ist allgemein zugänglich und mit der Teilnahme am Straßenverkehr ergeben sich unmittelbar auch die Möglichkeiten, Verkehrsnormen zu übertreten. Menschen kommen hier außerhalb von gefährlichen Berufstätigkeiten in ihrem ganz normalen Alltag in Situationen, in denen sie andere Menschen mit ihrem Verhalten gefährden, verletzen oder gar töten können. Der Straßenverkehr ist für jeden Verkehrsteilnehmer bereits eine „potentielle Deliktssituation“7, jeder Verkehrsteilnehmer ist hinsichtlich fahrlässiger Delikte „potentieller Straftäter“8. Es entfallen damit für die ganz überwiegende Anzahl von Verkehrsverstößen kriminologische Erklärungsansätze für das Verhalten, die
6
Kaiser Verkehrsdelinquenz und Generalprävention 1970, S. 148. Göppinger Zur Kriminologie der Verkehrsdelikte, NJW 1959, S. 2283 ff.; ebenso ders. Kriminologie, 5. Aufl. 1997, S. 596. 8 Eisenberg Kriminologie 2005, § 46 Rn. 2. 7
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eine besondere Tatgelegenheitsstruktur voraussetzen.9 Ebenso scheiden weitestgehend die Angehörigkeit zu einer bestimmten Subkultur 10 und das Erlernen abweichender Verhaltensweisen11 als Erklärungsansätze aus. Andererseits ist festzustellen, dass das persönliche Unfallrisiko mit der Fahrpraxis zurückgeht und also entweder die Quote von Fehlverhaltensweisen mit steigendem Lebensalter abnimmt oder der erfahrene Kraftfahrer Risiken, die er durch Verkehrsverstöße eingeht, besser beherrscht als der Fahranfänger. Wahrscheinlich ist beides der Fall. Der Rückgang der Delinquenz mit dem Lebensalter ist eine kriminologische Konstante, die bei (fast) allen Deliktsgruppen nachzuweisen ist. In den 1960er Jahren wurde teilweise vertreten, Häufigkeit und Schwere von Unfällen im Straßenverkehr seien weitgehend statistische Konstanten, abhängig von Verkehrsdichte und Geschwindigkeit.12 Die Folgerung in der früheren kriminologischen Literatur, abweichendes Verkehrsverhalten sei ubiquitär und deshalb nicht vergleichbar mit anderer Kriminalität, da „die Persönlichkeitsstruktur des Verkehrssünders mit der des Kriminellen, gleich welcher Kategorie, nichts zu tun habe“13, wurde freilich schon damals aus verkehrspsychologischer Sicht bezweifelt.14 Dennoch hat sich bis heute bei der gerichtlichen Beurteilung eine tendenziell eher „mildere“ Beurteilung von Verkehrsstraftaten erhalten, was möglicherweise an einem informellen „Schutzwall“ für statushohe Verkehrsdelinquenten liegt.15 Schon der gängige Begriff „Verkehrssünder“ (im Gegensatz zu „Straftäter“ oder „Krimineller“) verrät hier eine gewisse Tendenz zur geringeren Unrechtsbewertung von Verkehrsverstößen. Dabei weicht die richterliche Wertung nicht unbedingt ab von einer allgemein gesellschaftlichen Bewertung, nach der eine „üblicherweise eher gleichmütige Einstellung gegenüber Verkehrssündern“16 besteht, da Verkehrsdelinquenz nur als quantitativ, nicht als qualitativ abweichend vom eigenen Verhalten empfunden wird.
9 Schon der „normale“ Führer eines Kraftfahrzeugs erfüllt alle persönlichen und technischen Voraussetzungen, im Straßenverkehr einen gängigen Verstoß zu begehen, anders liegt es etwa für Verstöße, die eine besondere Fahrzeugart voraussetzen (z.B. LKW). 10 Anders hinsichtlich etwa Motorrad-Cliquen oder Teilnehmern an illegalen Straßenrennen. 11 Das Erlernen des Führens eines Kfz. genügt meist, um auch Verkehrsverstöße mittels Kfz. zu begehen. 12 Nachweise bei Kaiser Verkehrsdelinquenz und Generalprävention, S. 150 f. 13 Nass Kriminologische Überlegungen zur Rationalisierung der Strafverfolgung bei Verkehrsdelikten, Monatsschrift für Kriminologie 1963, 264. 14 Nachweise bei Kaiser Verkehrsdelinquenz und Generalprävention, S. 151 ff. 15 Karstedt Normbindung und Sanktionsdrohung. Eine Untersuchung zur Wirksamkeit von Gesetzen am Beispiel der Alkoholdelinquenz im Straßenverkehr 1993, S. 47. 16 Brandenstein/Kury Die Verkehrsdelinquenz im Spannungsfeld von Recht, Medien und Verhaltensgewohnheiten; in: NZV 2005, S. 225 (226).
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Bei der Ursachensuche für abweichendes Verhalten im Straßenverkehr kommen allerdings bei allen genannten Unterschieden durchaus auch kriminologische Erklärungsansätze zum Tragen, die auch bei anderen Kriminalitätsformen eine Rolle spielen, nämlich vor allem der Rational-Choice-Ansatz und die (mit diesem verwandten) Kontrolltheorien. Nach dem Rational-Choice-Ansatz, der aus der ökonomischen Theorie stammt und somit wirtschaftliches (rationales) Verhalten auf andere menschliche Verhaltensbereiche überträgt, tendieren Menschen im Allgemeinen zur Nutzenmaximierung und Schadensvermeidung.17 Verkehrsverstöße können vielfach als ökonomische Nutzenmaximierung interpretiert werden,18 etwa wenn die Geschwindigkeitsüberschreitung die Produktivität erhöht, da bei schnellerer Ankunft am Ziel früher andere Aufgaben übernommen werden können. Im Straßenverkehr verhalten sich die meisten Menschen „vernünftig“, d.h. sie wollen möglichst schnell, aber grundsätzlich ohne sich und andere zu verletzen und ohne Bestrafung an ihr Ziel gelangen. Allerdings gibt es auch einen – teilweise durch die Werbung der Automobilbranche beförderten – Anteil von Vergnügungsfahrten bzw. Fahrvergnügungen, die sich nicht immer mit einer vernünftigen verkehrsgerechten Fahrweise in Einklang bringen lassen. Regelrecht wirtschaftlich geplante Verkehrsverstöße ergeben sich etwa bei der Tourenplanung im Speditionsgewerbe. Insofern ist Verkehrsdelinquenz auch Ausdruck der „Diskrepanz zwischen allgemeinen gesellschaftlichen Erwartungen wie Leistung und Konkurrenz einerseits und dem (strafrechtlich) erwarteten Verkehrsverhalten andererseits.“19 Auch im Hinblick auf die Kriminalprävention durch abschreckende Sanktionsandrohung spielt der Ansatz eine wichtige Rolle: Der Grundgedanke der Kriminalprävention, durch Erhöhung des Risikos einer Bestrafung den „Preis“ einer verbotenen Verhaltensweise anzuheben und damit das Verhalten zumindest bei vorausschauenden Menschen tendenziell unattraktiver zu machen, entspricht dem Grundgedanken des Rational-Choice-Ansatzes. Die Kontrolltheorien haben zum gemeinsamen Ausgangspunkt die Auffassung, die Begehung von Straftaten gehöre zum allgemeinen Verhaltensrepertoire des Menschen und werde nur dann unterlassen bzw. unterdrückt, wenn bestimmte Kontrollen installiert seien. Dabei kann grob zwischen Selbstkontrolle und sozialer Kontrolle unterschieden werden. Während die Selbstkontrolltheorie (Gottfredson/Hirschi 20) davon ausgeht, die Begehung von Straftaten geschehe aus individuell defizitärer Selbstkon17 Becker Crime and Punishment: An Economic Approach; in: The Journal of Political Economy 1968, S. 169 ff. 18 Beispielhaft Tränkle Die Beeinflussung des Verhaltens von Verkehrsteilnehmern durch Verbote, Zeitschrift für Verkehrssicherheit 1993, S. 107. 19 Eisenberg Kriminologie 2005, § 46 Rn. 2. 20 Gottfredson/Hirschi A General Theory of Crime, 1990.
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trolle, was vor allem genetische oder erziehungsbedingte Grundlagen habe, werden Menschen nach sozialen Kontrolltheorien insbesondere durch ihre Bindungen an ihren sozialen Nahraum (Familie, Kollegen) und durch soziale Kontrollen (einschließlich Strafverfolgung) von Delinquenz abgehalten. Straßenverkehrsverhalten weist gegenüber anderem Verhalten auch wesentliche Unterschiede auf, die dazu geeignet sind, das jeweils eigene Fehlverhalten im Verkehr auf den ersten Blick nicht als abweichend zu definieren. Beim Führen eines Kraftfahrzeugs fällt es leicht, sich im Sinne von Neutralisierungstechniken (Sykes/Matza21) vom eigenen Fehlverhalten und auch von den Folgen desselben zu distanzieren. Neutralisierungstechniken können nicht nur im Nachhinein, sondern auch prospektiv das eigene Fehlverhalten legitimieren und wurden deshalb als echte Ursachen für Straftaten interpretiert. Der Ansatz lässt sich auf Straßenverkehrsdelinquenz gut übertragen: Normen, gegen die Straßenverkehrsstraftäter verstoßen, werden von diesen durchaus meist als richtig akzeptiert. Neutralisierungstechniken ermöglichen es etwa dem Kraftfahrzeugführer trotzdem, ohne Selbstzweifel Verstöße zu begehen. So lauten etwa typische Gedankengänge von Fahrern, die gegen Verkehrsnormen verstoßen: „alle anderen verstoßen auch gegen die Norm“; „ich muss schnell vorwärts kommen, die anderen behindern mich“; „die Straße ist doch frei, es wird niemand sichtbar gefährdet“; „Polizeikontrolle dient nur der Abzocke“; „Geschwindigkeitsbeschränkung ist an dieser Stelle überflüssig“. Es wird daran zugleich erkennbar, dass Straßenverkehrsdelinquenz auch mit Akzeptanz der Normen bzw. Reaktanz zu tun hat.
III. Normwirkung In der kriminologischen Wirkungsforschung wird versucht zu bestimmen, welche von den strafrechtstheoretischen Mechanismen empirisch bedeutsam sind. Allgemein ist in der Kriminologie, nach einer Hinwendung zu spezialpräventiven und interaktionistischen Ansätzen in den 60er und 70er Jahren, in den letzten 25 Jahren wieder eine Tendenz zu generalpräventiven Sichtweisen und zu utilitaristischen Grundlagen zu erkennen.22 In der Folge resultierten ausgehend vom angloamerikanischen Raum eine Vielzahl von Forschungsarbeiten zum Themenkomplex Abschreckung („deterrence“), die allerdings zu der Einsicht führten, dass die Abschreckung keineswegs ein 21
Sykes/Matza Techniken der Neutralisierung (engl. 1957); in: Sack/König (Hrsg.) Kriminalsoziologie 1974. 22 Karstedt (Fn. 15) S. 18 ff., insbes. S. 21 f.: „Marktkräfte“ wie Angebot und Nachfrage, die auch in der Kriminalität wirken; „Preisgestaltung“ durch Strafen.
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simpler Wirkmechanismus ist.23 Herauszufinden, ob und wie Strafrecht tatsächlich „wirkt“, erfordert komplexe Forschungsmethodik, wobei insbesondere deliktsspezifische Unterschiede in Rechnung gestellt werden müssen: Strafandrohung und Bestrafung hat bei verschiedenen Delikten verschiedenes Gewicht. Ebenso ist zwischen verschiedenen Arten der Abschreckung zu unterscheiden: So wirkt etwa eine „partielle Abschreckung“ im Straßenverkehr, wenn eine neu eingeführte allgemeine Geschwindigkeitsbeschränkung zwar nicht dazu führt, dass sich Verkehrsteilnehmer an diese Beschränkung halten, jedoch ihre bisherige Höchstgeschwindigkeit immerhin reduzieren, oder wenn eine allgemeine Absenkung der Grenzwerte für die Blutalkoholkonzentration beim Autofahren zwar nicht zur Einhaltung dieser neuen Grenze führt, aber zu einer durchschnittlichen Absenkung der bisher gemessenen Werte.24 Ob allein die Strafe (und ihre Durchsetzung) wirkt, lässt sich aber deshalb kaum präzise ermitteln, weil Menschen ihr Verhalten nicht nur auf sanktionsrechtlich relevante Verbote sondern auf alle möglichen erwarteten „Reaktionen“ ihrer Umwelt einrichten. Sie unterlassen das schädliche oder gefährliche Verhalten nicht nur aus Furcht vor formaler Strafe, sondern auch aus Furcht vor Ansehensverlust oder – aus Sicht der Prävention äußerst wünschenswert – weil sie überzeugt sind von der Richtigkeit der Norm, möglicherweise auch unabhängig von der Strafdrohung. Im Straßenverkehr kommt hinzu, dass ja viele Normen den Verkehrsteilnehmer selbst schützen, so dass auch die Einsicht, sich nicht selbst unnötig einer Gefahr auszusetzen, das verkehrsgerechte Verhalten begünstigt. Auf der anderen Seite wird die Wirksamkeit von Normen im Straßenverkehr wesentlich dadurch beeinträchtigt, dass es sich, insbesondere bei den besonders häufigen Geschwindigkeitsverstößen, um gewohnheitsmäßiges Routineverhalten handelt, das sich besonders schlecht beeinflussen lässt. Bislang herrscht bei Gesetzgebern und Gesetzesanwendern ein instrumentelles Verständnis der Kontrolle und Durchsetzung von Straßenverkehrsvorschriften vor. Es wird überwiegend angenommen, Verkehrsteilnehmer würden sich umso eher an die Vorschriften halten, je höher die Bußgeld- und Strafandrohung und je dichter die Kontrollen seien. Zumindest ersteres wird in der Kriminologie in Frage gestellt – die konkrete Härte der Sanktion hat allgemein wenig Einfluss auf die Abschreckungswirkung.25 Anders ist es hinsichtlich der Kontrolldichte: Die Annahme, das Fehlverhalten werde von der Polizei bemerkt bzw. (bei Ge23
Karstedt (Fn. 15) S. 22 ff. Karstedt (Fn. 15) S. 24 m.w.N. 25 In der Tendenz konnten Pfeiffer/Hautzinger (Fn. 4, S. 72) allerdings die empfundene Sanktionshärte bei Alkoholfahrten als abschreckenden Faktor feststellen. 24
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schwindigkeits- und Rotlichtverstößen) automatisch erfasst, führt regelmäßig zur Vorsicht und zum Einhalten der Vorschrift. Die Wirksamkeit von Überwachungsmaßnahmen ist vielfach mit methodisch durchaus unterschiedlichen Untersuchungen belegt worden.26 Pfeiffer/Hautzinger stellten allerdings fest, dass z.B. ortsfeste Geschwindigkeitskontrollen, aber auch bekannte Alkoholkontrollstellen, selbst bei hoher Dichte nicht die allgemeine Normakzeptanz fördern, sondern nur die punktuelle Befolgung.27 Die Richtigkeit der Annahmen kann durch tatsächlich erstaunliche Entwicklungen im Straßenverkehrsgeschehen belegt werden. Dazu können zwei Normen herausgehoben werden, erstens die Gurtanlegepflicht und zweitens das Verbot von Trunkenheitsfahrten. Die bloße zusätzliche Sanktionsbewehrung der schon zuvor bestehenden Gurtanlegepflicht hat ab 1. September 1984 den Anteil derjenigen Fahrer, die die Pflicht befolgten, erheblich erhöht.28 Das bedeutet freilich nicht, dass durch Strafandrohung jedes Verhalten so positiv beeinflusst werden könnte. Vielmehr wirkten hier Akzeptanz und Gewohnheit bei einem Großteil der PKW-Fahrer, Ausbildung und Aufklärung mit der Sanktionsbewehrung zusammen. Zudem ist das Fehlverhalten „nicht angeschnallt Fahren“ von außen leicht erkennbar, also gut zu kontrollieren. Hinsichtlich der Alkoholfahrten ist es in den vergangenen 30 Jahren gelungen, dieses Delikt aus dem Bewertungszusammenhang „Kavaliersdelikt“ herauszulösen und deutlicher als Straftat im Bewusstsein der Bevölkerung zu verankern. Die Trunkenheitsfahrt gilt heute in den meisten Bevölkerungskreisen als moralisch verwerflich und unakzeptabel, was sich einerseits im deutlich fallenden Unfallursachenanteil29, andererseits auch in der Strafzumessung in Extremfällen niederschlägt.30 Die Installation bzw. Verschärfung und Verfolgung beider Normen kann insgesamt als Erfolg der Prävention durch Aufklärung und durch gleichzeitige Sanktionierung beschrieben werden. Im Vergleich mit solchen Normen wie Gurtanlegepflicht und dem Verbot des Fahrens unter (erheblichem) Alkoholeinfluss muss allerdings bei Geschwindigkeitsnormen ein anderer Verhaltensaspekt beachtet werden. Hin-
26 Gelau Die Wirksamkeit polizeilicher Überwachung im Straßenverkehr aus verhaltenswissenschaftlicher Sicht; in: Die Polizei 2001, S. 68 m.w.N. Differenziert zu unterschiedlichen Überwachungsstrategien: Pfeiffer/Hautzinger (Fn. 4). 27 Pfeiffer/Hautzinger (Fn. 4) S. 72 f. 28 Stat. Bundesamt Verkehrsunfälle Zeitreihen 2009, Tab. 7.7. Gurtanlegequote Fahrer 1983: 45 %, 1984: 88 %; dazu Karstedt S. 28. 29 Stat. Bundesamt Verkehrsunfälle Zeitreihen 2009, Tab 6.2. Unfallursache Alkohol 1995: 4,1 % 2009: 1,9 %. 30 So sollen laut einer Urteilsbegründung zum so genannten „Autobahnraserfall“ Verurteilungen zur Freiheitsstrafe ohne Bewährung bei tödlichen Verkehrsunfällen nur bei Trunkenheit vorgekommen sein, LG Karlsruhe NZV 2005, 274.
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sichtlich der Wahl der Geschwindigkeit ist nicht ein einzelner Zeitpunkt (bei Nüchternheitsgebot und Gurtanlegepflicht in der Regel der Beginn der Fahrt) ausschlaggebend, sondern es ist eine Verhaltenssteuerung über den gesamten Zeitraum der Fahrt hinweg erforderlich. Weil die Geschwindigkeit in jedem Zeitpunkt der Fahrt geändert werden kann und deshalb die Frage, ob ein Verstoß vorliegt, immer wieder neu zu beantworten ist, stellt es eine besondere Herausforderung dar, solches Fehlverhalten dauerhaft und generell durch Aufklärung und Sanktionierung zu beeinflussen. Das ist auch der Grund dafür, dass auch mit Sanktionen bewehrte Kontrollen nur eine punktuelle Anpassung herbeiführen und Trotzreaktionen besonderes Gewicht haben: Sogar der bestrafte Verkehrsteilnehmer kann bestrebt sein, den durch eine Geschwindigkeitskontrolle eingetretenen Zeitverlust unmittelbar wieder wettzumachen.
IV. Normakzeptanz und Sanktionsgesamtsystem Die Wirksamkeit einer Norm hängt ganz wesentlich davon ab, ob die Norm als richtiges und angemessenes Verhalten im gesellschaftlichen Umfeld und speziell im sozialen Nahraum des Betroffenen als moralisch geboten anerkannt wird.31 Wenn die Norm einen solchen Status erreicht hat, dann wird sie weit eher befolgt, als wenn sie (nur) verboten ist und bußgeldrechtlich bzw. strafrechtlich geahndet wird. Da eine dichte und effektive Kontrolle des Straßenverkehrsverhaltens technisch und personell großen Aufwand erfordert und die bloße Verschärfung von Bußgeldern und Strafandrohungen kriminologisch kaum den erwünschten Effekt hat, muss es Ziel jeder vernünftigen staatlichen Einwirkung auf Verkehrsteilnehmer sein, Straßenverkehrsnormen so zu fördern, dass sie allgemeine gesellschaftliche Anerkennung erreichen, bzw. wenn diese erreicht ist, diese zu stützen und zu erhalten. Denn ein solcher Status bedeutet, dass die meisten Verkehrsteilnehmer nicht nur deshalb dem Gebot/Verbot folgen, weil sie nicht bestraft werden wollen, sondern weil sie davon überzeugt sind, richtig zu handeln. Das korrekte Verhalten wird dann nicht nur unter dem Druck der Sanktionsdrohung, sondern aus Überzeugung bzw. Gewohnheit (z.B. Gurtanlegepflicht) ausgeführt. Zwar können Staat und gesellschaftliche Initiativen durch Aufklärungskampagnen die Überzeugung zu wecken oder zu stärken versuchen, aber 31 Cauzard/Quimby The attitudes of European drivers towards the enforcement of traffic regulations 2000, S. 4; Schlag Road Pricing – Maßnahmen und ihre Akzeptanz, 1996, schätzt, dass mindestens 50 % der Verkehrsteilnehmer eine Norm akzeptieren müssten, damit sie nachhaltig verhaltenssteuernd wirken kann. Vgl. auch Karstedt (Fn. 15) S. 33 m.w.N.
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dennoch sind Bußgeld- und Strafdrohungen nicht überflüssig. Vielmehr interagieren Überzeugungsarbeit und Strafdrohung auf eigentümliche Weise miteinander: Ein Verhalten, das nicht nur als unvernünftig und schädlich bezeichnet wird, sondern zugleich strafbewehrt ist, wird durch das strafrechtliche Verbot zusätzlich ernsthaft delegitimiert. Allerdings kann diese zusätzliche Ernsthaftigkeit umschlagen in das Gegenteil, nämlich Trotz bzw. Reaktanz, wenn Verbot, Strafe oder Kontrollaktivitäten als unnötig oder ungerecht empfunden werden. Auch eine im System vergleichsweise zu geringe Strafe kann zu dem Eindruck führen, der Staat nehme die Warnungen und Verbote nicht allzu ernst. Eine neuere Theorie des britischen Kriminologen Sherman32 versucht zu erklären, warum manche Personen sich von Strafandrohung und Strafe disziplinieren lassen und manche nicht. Er entwickelt, auf Grundlage der korrespondierenden Ideen von Braithwaite 33, Tyler 34 sowie Scheff/Retzinger 35eine Theorie des Trotzes. Sie basiert darauf, dass die Begehung von Straftaten auch darauf beruhen kann, dass eine vorherige oder angedrohte Bestrafung als unfair empfunden wird.36 Damit kann auch die empfundene Legitimität der staatlichen Kontrolle ein Aspekt sein, der mittelbar die Häufigkeit der Begehung von Ordnungswidrigkeiten/Straftaten steuern kann. Dies ist zu beachten, wenn Geschwindigkeitsbegrenzungen und Überwachungsmaßnahmen den Eindruck erzeugen, eher fiskalische Erwägungen als solche der Sicherheit des Straßenverkehrs seien konkretes Motiv der Kontrolle. Die „Akzeptanz“ von Verboten und Kontrollen im Straßenverkehr zu erhöhen ist daher zutreffend seit jeher ein wichtiges und in der Rechtswissenschaft betontes Anliegen.
V. Systemgerechtigkeit und „Schwere“ des Verstoßes Aus den sehr differenzierten Sanktionsdrohungen für eine Vielzahl von Verkehrsverstößen im Bußgeldkatalog und den wenigen herausgehobenen Verkehrsstraftaten ergibt sich insgesamt ein Kontinuum von Sanktionierungen. Gerechtigkeitserwägungen würde das Gesamtsystem am ehesten entsprechen, wenn dieses Kontinuum zugleich die „Schwere“ der Verstöße abbildete, so dass über das gesamte System hinweg den jeweils leichteren Ver-
32 Sherman Defiance, Deterrence and irrelevance: a Theory of the Criminal Sanction, in: Journal of Research in Crime and Delinqunecy 1993, 445 ff. 33 Braithwaite To punish or persuade; Enforcement of Coal Mine Safety 1985; ders. Crime Shame and Reintegration, 1989. 34 Tyler Why People Obey the Law, 1990, S. 170 ff. 35 Scheff/Retzinger, Emotions and Violence: Shame and Rage in Destructive Conflicts, 1991. 36 Sherman (Fn. 32) 459 ff.
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stößen mit geringeren Sanktionsdrohungen, schwereren mit härteren Sanktionen begegnet würde. Diese Folgerung setzt allerdings einen von der Sanktionsdrohung unabhängigen Maßstab für die „Schwere“ eines Verstoßes voraus. Es kommen für ein solches Schwere-Maß verschiedene – zum Teil auch kumulativ denkbare – Ansätze in Betracht. Es sollen hier nur einige naheliegende angeführt werden: 1. Das Unfallrisiko des Verhaltens, also die Anzahl von Unfällen in Relation zur Häufigkeit des Verhaltens insgesamt: Je höher das Risiko eines Unfalls, desto schwerer der Regelverstoß. 2. Die in der Öffentlichkeit empfundene „Schwere“ des Verstoßes, zu messen durch repräsentative Befragung. 3. Der Grad der Abweichung vom erlaubten Verhalten, etwa messbar in km/h bei Geschwindigkeitsüberschreitungen, in Promillewerten der BAK bei der Trunkenheitsfahrt: Je stärker sich der Verkehrsteilnehmer vom erlaubten Verhalten entfernt, desto schwerer ist der Verstoß. 4. Die Häufigkeit des Fehlverhaltens als Unfallursache, gemessen an den registrierten Unfällen: Je häufiger der Regelverstoß als Unfallursache festgestellt wurde, desto schwerer ist der Verstoß. 5. Die (durchschnittliche) Folgenschwere, gemessen an Unfallkostenberechnung: Je höher die durch dieses Verhalten ausgelösten Unfallkosten, desto schwerer ist der Verstoß. In manchen Fällen tendieren diese Maßstäbe zu einer übereinstimmenden Rangfolge. So etwa liegt die Annahme nicht fern, dass Unfallrisiko (1.) und Unfallschwere (5.) in der Tendenz mit dem Grad z.B. einer Geschwindigkeitsüberhöhung (3.) steigen und dass die öffentliche Bewertung eines Verhaltens (2.) ebenfalls wesentlich von der Unfallschwere beeinflusst wird. Andererseits kann aber ein „Ranking“ je nach Maßstab durchaus unterschiedlich ausfallen: Ein Fehlverhalten, das sehr häufig als Unfallursache festgestellt wird (4.) oder sehr riskant ist (1.), kann zugleich bei der durchschnittlichen Unfallschwere eher niedrig eingestuft werden, z.B. wenn dieses Fehlverhalten überwiegend bei nur geringen Geschwindigkeiten im Stadtverkehr auftritt. Will man die angeführten Maßstäbe tatsächlich praktisch nutzen, müssen sie allerdings in der Realität messbar sein. Die angeführten Maßstäbe unterscheiden sich in ihrer praktischen Messbarkeit erheblich. So ist der Maßstab „Unfallrisiko“ kaum zu beziffern, da bei vielen Verstößen eine Abschätzung des Dunkelfelds fehlt oder zumindest große Schwierigkeiten aufwirft:37 Bei
37 Vgl. H. E. Müller Das Dunkelfeld der Alkoholfahrten und die Atemalkoholmessung in § 24a Abs. 1 StVG; in: Blutalkohol 1999, S. 313 ff.
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vielen Fehlverhaltensweisen im Straßenverkehr weiß man nicht, wie oft dieses Fehlverhalten unfallfrei und unregistriert begangen wird, so dass das Gesamtrisiko, durch das Verhalten einen Unfall zu verursachen, kaum zutreffend anzugeben ist. Methodisch nicht ganz unproblematisch ist es auch, die „Schwere“ von Verstößen mittels Bevölkerungsbefragung zu klären,38 auch wenn dieser Maßstab am ehesten der gewünschten Übereinstimmung zwischen empfundener Gerechtigkeit als Grundlage für Legitimität und Normakzeptanz entspricht. Ein Grad der Abweichung lässt sich zwar bei einigen wichtigen Verkehrsverstößen angeben, weshalb er auch dem Bußgeldkatalog zugrunde gelegt ist, aber bei Weitem nicht bei allen. Wo im Gesamtsystem ganz verschiedene Normverstöße untereinander eingeordnet werden, bleibt aber offen. Zwar lässt sich eine Geschwindigkeitsüberschreitung von mehr als 40 km/h regelmäßig als gravierenderer Verstoß ansehen als eine Überschreitung von nur 10 km/h, aber der Vergleich zu einem anderen Verkehrsregelverstoß (etwa Trunkenheitsfahrt) ist so noch nicht gewährleistet. Die Auswertung der Unfallstatistik gibt ein zuverlässiges Bild über diejenigen Verkehrsverstöße, die tatsächlich häufig Unfälle verursachen und eine Abstufung der Sanktionierung nach diesem Maßstab kann daher auch als legitim zur Unfallverhütung angesehen werden. Nachteilig könnte sein, dass sehr häufige Verstöße in ihrem Unfallrisiko überschätzt werden, dass also die interne Wahrnehmung des Verkehrsteilnehmers über das Unfallrisiko nicht der statistischen Darstellung entspricht, die retrospektiv (nur) aus den Unfällen ermittelt wird. Weil mit der Unfallschwere ein weiteres wichtiges Datum in den aus der Unfallstatistik gewonnenen Unfallkosten-Maßstab einfließt, hat dieser in Bezug auf die Legitimität noch einen Vorsprung vor dem zuvor genannten. Allerdings teilt er mit ihm den Nachteil, dass das Unfallrisiko nicht zugleich einbezogen werden kann. Es ist davon auszugehen, dass die meisten Verstöße gar keinen Unfall verursachen. Weil sie aber im Dunkelfeld verbleiben, können sie nicht mit dem Wert „null“ in eine Durchschnittsberechnung einbezogen werden. Dennoch erscheint aus pragmatischer Sicht die Strategie einer Orientierung an der Unfallschwere, insbesondere daran, wie häufig ein bestimmtes Fehlverhalten Personenschäden verursacht, als am ehesten durchführbar. Es ist auch die Annahme zulässig, dass der Maßstab „Schwere der möglichen Unfallfolgen“ in der Bevölkerungsempfindung eine maßgebliche Rolle spielt, insbesondere wenn es um Personenschäden geht.
38 Vgl. zur Erstellung von Schwere-Indizes H. E. Müller Schwereeinschätzungsuntersuchungen nach Sellin und Wolfgang – fabrizierter Konsens? In: Monatsschrift für Kriminologie 1991, 290 ff.
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VI. Geschwindigkeitsüberschreitungen, gemessen am Maßstab der Unfallhäufigkeit und Unfallschwere Geschwindigkeitsüberschreitungen, haben den höchsten Anteil an den Unfallursachen durch Fehlverhalten – etwa 1/5 aller Unfälle, die auf einem Fehlverhalten beruhen, werden durch nicht angepasste Geschwindigkeit verursacht oder mitverursacht.39 Zwei andere Fehlverhaltensweisen (Vorfahrt/ Vorrangverstoß, Fehler beim Abbiegen/Wenden etc.) haben ebenfalls einen hohen Anteil am Unfallgeschehen.40 Im Vergleich dieser drei häufigsten Unfallursachen weisen Geschwindigkeitsunfälle außerdem einen besonders hohen Anteil an Getöteten und Schwerverletzten auf. Lässt man seltenere Unfallursachen außer Betracht, ist die überhöhte Geschwindigkeit als Unfallursache besonders schadensträchtig und zwar insbesondere was die Anzahl der Getöteten und Schwerverletzten betrifft. Insgesamt lässt sich feststellen: Geschwindigkeitsüberschreitungen gehören einerseits zu den häufigsten Unfallursachen, andererseits haben sie erheblich schwerere Folgen als Unfälle mit anderen häufigen Ursachen. Aus diesen Daten lässt sich folgern, dass im Sinne des Präventionsgedankens die Geschwindigkeitsüberschreitungen primäre Beachtung verdienen.
VII. Zur strafrechtlichen Sanktionierung von Geschwindigkeitsüberschreitungen Im Folgenden soll die strafrechtliche Bewertung von Geschwindigkeitsverstößen anhand der vorherigen Überlegungen auf Unstimmigkeiten untersucht werden. Die strafrechtliche Bewertung von Verkehrsunfällen geschieht ganz überwiegend anhand der §§ 222 und 229 StGB sowie § 315c StGB. Während die Normen § 222 und § 229 StGB sehr weit und undifferenziert jegliche Fahrlässigkeit dann (und nur dann) mit Strafe bedrohen, wenn sie die Schädigung einer Person zur Folge hatte, ist § 315c StGB so differenziert, dass nur ganz bestimmte Verkehrsverstöße erfasst werden. In § 315c Abs. 1 Nr. 2d StGB wird eine Geschwindigkeitsüberschreitung nur dann erfasst, wenn sie an „unübersichtlichen Stellen“ oder an „Straßenkreuzungen, -einmündungen oder Bahnübergängen“ geschieht. Zwar subsumiert die h.M. mittlerweile unter „unübersichtliche“ Stelle – bei einer gewissen Dehnung des Wortlauts – auch eine Einschränkung der Sichtverhältnisse.41 Jedoch wird mit einer noch
39 40 41
Stat. Bundesamt Verkehrsunfälle Zeitreihen 2009, Tab. 1.4. Stat. Bundesamt Verkehrsunfälle Zeitreihen 2009, Tab. 6.1. MüKo-StGB- Groeschke § 315c Rn. 41.
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so erheblichen „bloßen“ Geschwindigkeitsüberhöhung selbst bei dadurch verursachtem Unfall oder Beinaheunfall keine Straßenverkehrsgefährdung begangen. Zwar wird auch für einen Geschwindigkeitsverstoß eine strafrechtliche Sanktion erfolgen, wenn tatsächlich ein Personenschaden eingetreten ist. Die Strafe folgt dann aber aus den universalen Fahrlässigkeitsnormen §§ 222 und 229 StGB, wobei im Gesetz die Tatsache einer der Fahrlässigkeit vorausgegangenen oft vorsätzlichen Verkehrsübertretung nicht besonders berücksichtigt wird. Auch bei der gerichtlichen Strafzumessung in diesen Fällen kann eine Tendenz dazu eintreten, dem Verkehrsteilnehmer, der einen Unfall verursacht hat, die Folgen zu einem größeren Teil als Unglück zuzuordnen und deshalb milder zu verfahren als nach § 315c StGB. So ergibt sich eine Lücke in der strafrechtlichen Sanktionierung dergestalt, dass gemessen an Unfallhäufigkeit und Unfallschwere gravierende Verstöße von § 315c StGB nicht erfasst werden. Legt man die Häufigkeit und Folgenschwere als Maßstab zugrunde, dann fehlt insbesondere eine allgemeine Strafdrohung für die deutliche Geschwindigkeitsüberschreitung in § 315c StGB. Zudem ist auf ein weiteres Problem des § 315c StGB hinzuweisen, das gerade bei Geschwindigkeitsverstößen eine gewichtige Rolle spielt: Im Strafrecht kommt dem Unterschied zwischen fahrlässigem und vorsätzlichem Verhalten allgemein eine herausragende Rolle zu. Bloß fahrlässige Verhaltensweisen werden grundsätzlich nur (und selbst dann deutlich geringer als Vorsatztaten) bestraft, wenn es zu einem erheblichen Schaden, regelmäßig einem Personenschaden gekommen ist. Vorsätzliches Verhalten wird hingegen in vielen Abstufungen sehr konkret strafrechtlich erfasst und dann meist deutlich härter bestraft. Verkehrsverstöße ergeben sich oftmals aus einer Kombination aus Vorsatz und Fahrlässigkeit. Gegen die Verkehrsnorm selbst wird häufig bewusst und damit vorsätzlich verstoßen. Wer z.B. innerhalb des zusammenhängend bebauten Teils einer Ortschaft deutlich über 50 km/h fährt, wird meist vorsätzlich handeln, ebenso, wer in einer Baustelle auf der BAB z.B. mit 140 km/h fährt. Bei weniger deutlichen Verstößen können diese selbst auch nur fahrlässig (etwa auch durch Übersehen entsprechender Ausschilderung) begangen werden. Freilich liegt nur in ganz seltenen Fällen ein Vorsatz hinsichtlich der Gefährdung bzw. Verletzung anderer Personen oder Sachen vor. § 315c Abs. 3 StGB berücksichtigt dies, indem für eine Strafbarkeit die fahrlässige Gefährdung ausreicht. Die Vorsatz-Fahrlässigkeits-Kombination nach § 315c Abs. 3 Nr. 1 StGB ist nach dem Willen des Gesetzgebers als Vorsatzdelikt zu behandeln, § 11 Abs. 2 StGB. Dem damit erheblich höheren Unrechtsgehalt der Nr. 1 – also bei vorsätzlichem Handeln – wird die Gleichsetzung der
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Strafdrohung mit dem reinen Fahrlässigkeitsdelikt in Nr. 2 nicht gerecht. Vielmehr müsste nach der gesetzgeberischen Vorgabe in § 11 Abs. 2 StGB die Strafdrohung des § 315c Abs. 3 Nr. 1 derjenigen des Vorsatzdelikts in Abs. 1 entsprechen42 oder sich jedenfalls von der Strafdrohung des reinen Fahrlässigkeitsdelikts der Nr. 2 abheben. Dies würde bei der sehr häufigen und gravierenden Unfallursache Geschwindigkeitsüberschreitung auch regelmäßig zu einer – angemessenen – Verurteilung wegen vorsätzlicher Straßenverkehrsgefährdung führen.
VIII. Fazit und Überlegungen de lege ferenda Bei der Zuordnung einzelner Verstöße zu Strafrecht und Ordnungswidrigkeitenrecht und innerhalb der strafrechtlichen Bewertung zeigen sich insbesondere bei den untersuchten Geschwindigkeitsverstößen Systemschwächen. § 315c Abs. 1 Nr. 2 StGB enthält einen Katalog von Verkehrsverstößen, der in Bezug auf erhebliche Geschwindigkeitsverstöße nicht korrespondiert mit der Unfallhäufigkeit und -schwere dieses Regelverstoßes. Daher ist im Sinne der Systemgerechtigkeit de lege ferenda zu empfehlen, in den Katalog generell erhebliche Geschwindigkeitsüberschreitungen aufzunehmen bzw. die Nr. 2d entsprechend auszuweiten.43 Einen entsprechenden Vorschlag hatte das Land NRW schon im Jahr 1989 in den Bundesrat eingebracht.44 Die dagegen vorgebrachte Argumentation überzeugt im Ergebnis nicht: Zwar führt eine Aufnahme in den Katalog des § 315c Abs. 1 Nr. 2 StGB, also in den Katalog der sogenannten „Todsünden“, zu einer Erweiterung des Verkehrsstrafrechts und strebt damit der Tendenz verkehrsrechtlicher Entkriminalisierung entgegen. Jedoch ist die Aufnahme erheblicher Geschwindigkeitsverstöße wegen deren überragender Bedeutung beim Unfallgeschehen durchaus sachlich begründet und verstößt daher nicht gegen das Gebot der ultima ratio strafrechtlicher Verhaltenssteuerung. Zudem werden erhebliche Geschwindigkeitsverstöße ganz regelmäßig vorsätzlich begangen und erfüllen somit eher die Voraussetzungen einer strafrechtlichen Ahndung als andere von § 315c StGB erfasste Regelverstöße, die in der Praxis häufig oder gar regelmäßig (nur) fahrlässig begangen werden. Ein Verkehrsverstoß, der typischerweise überwiegend vorsätzlich be-
42
So auch zutreffend Schönke/Schröder-Cramer/Sternberg-Lieben § 315c Rn. 42. Zugleich wäre an eine Streichung der Nr. 2g) zu denken, da dieser Verstoß zumeist nur fahrlässig begangen wird und zudem nur relativ selten vorkommt. Hier genügt die Strafdrohung der §§ 222, 229 StGB. 44 Gesetzesantrag des Landes Nordrhein-Westfalen vom 19.04.1989, BR-Drs. 227/89, dazu ablehnend Geppert, Blutalkohol 1990, 26. 43
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gangen wird, ist eher und stärker strafrechtlich zu ahnden als typischerweise fahrlässiges Verhalten. Daher ist auch die Regelung des § 315c Abs. 3 StGB mit der Tendenz einer differenzierten Strafandrohung für die Vorsatz-Fahrlässigkeits-Kombination zu reformieren. Beide Maßnahmen, die Aufnahme der erheblichen Geschwindigkeitsüberschreitung in den Katalog des § 315c Abs. 1 Nr. 2 StGB sowie die Erhöhung der Strafdrohung der Vorsatz-Fahrlässigkeitskombination in § 315c Abs. 3 Nr. 1 StGB sind nicht nur aus Gerechtigkeitsgründen empfehlenswert, sondern auch aus dem Gedanken der Normakzeptanz: Hierfür ist eine Korrespondenz derjenigen strafbaren (und nicht nur ordnungswidrigen) Verkehrsverstöße mit denjenigen, die besonders schwerwiegende Folgen haben, anzustreben. Auch für die häufige und gravierendste Unfallursache, die erhebliche Geschwindigkeitsüberschreitung, könnte die allgemeine Einsicht gefördert werden, diesen Verstoß in der Gesellschaft als moralisch unakzeptabel und verwerflich anzusehen.
Strafrecht im Zukunftsstaat? – Zur negativen Utopie in Juli Zehs Roman „Corpus Delicti“ Heinz Müller-Dietz 1. Der Jubilar und die Strafrechtsreform Der in fachlicher wie menschlicher Hinsicht besonders geschätzte Kollege – dem dieser essayistisch angelegte Beitrag zum 70. Geburtstag gewidmet ist – hat die Entwicklung des Strafrechts und Strafprozessrechts in Gesetzgebung, Rechtsprechungspraxis und Wissenschaft mit vielen kompetenten Analysen aufmerksam verfolgt und kommentiert. Dies ist keineswegs allein, aber doch vor allem in der von ihm maßgeblich mitgestalteten Zeitschrift „Jura“ geschehen. In diesen Studien hat Klaus Geppert Dogmatik nie als Selbstzweck verstanden, sondern vielmehr in einem vernünftigen, auf die praktische Anwendung bezogenen Sinn gehandhabt. Ein anschauliches Beispiel dafür stellt etwa sein Plädoyer für die „Einheitsstrafe“ dar, nachdem der Große Senat des BGH mit Beschluss vom 3.5.1994 de facto die umstrittene Rechtsfigur der fortgesetzten Handlung abgeschafft hat.1 Klaus Gepperts einschlägige Arbeiten – die stets von einem ebenso sachgerechten wie praxisnahen Umgang mit dem geltenden Recht geprägt waren und sind – haben nicht zuletzt in weiterführender Weise zur verständigen – und verständlichen – Auslegung von Neuregelungen beigetragen. Es sind freilich nicht nur im engeren Sinne kriminalpolitisch veranlasste Änderungen gewesen, die seine Stellungnahmen herausgefordert haben. Auch die strafrechtlichen Auswirkungen gesamtpolitischer Entwicklungen, wie sie sich namentlich im Zuge der deutschen Wiedervereinigung ergeben haben, haben ihn zu einer Standortbestimmung bewogen. In diesem Beitrag hat er einmal mehr Konsequenzen für die Rechtsanwendung im Blick auf die frühere und die jetzige Rechtslage nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik gezogen.2
1 Geppert in: Geisler (Hrsg), Zur Rechtswirklichkeit nach Fortfall der fortgesetzten Tat, 1998, S. 117 (128 ff). 2 Geppert Jura 1991, 610.
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2. Maßgebende Tendenzen der heutigen Kriminalpolitik Gerade zu Erläuterungen von und Stellungnahmen zu den Änderungen, die das materielle Strafrecht – etwa auf den Gebieten des Sanktionenrechts und des Besonderen Teils – in den letzten Dezennien erfahren hat, hat es ja reichen Anlass gegeben. Wenn auch nach der grundlegenden Reform des Allgemeinen Teils in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts namentlich im Bereich der Rechtsfolgen3 keine vergleichbar gewichtige Neugestaltung in strafrechtlicher Hinsicht mehr zustande gekommen ist. In der Folgezeit ist ja selbst die zur Kennzeichnung eines bedeutsamen sachlichen Unterschieds getroffene Unterscheidung zwischen Strafrechtsreform- und Strafrechtsänderungsgesetzen nicht immer und in jeder Hinsicht geglückt. Dazu hat freilich vor allem eine hektische Gesetzgebung beigetragen, die fast unablässig bestrebt war und ist, der Entwicklung der registrierten Kriminalität in der Ausgestaltung der Tatbestände und der Rechtsfolgen möglichst dicht auf den Fersen zu bleiben. Das war und ist in einer Welt, deren gesellschaftlicher Wandel in immer stärkerem Maße dem Gesetz der Beschleunigung unterliegt, alles andere als ein leichtes Unterfangen. Die kriminalrechtliche Entwicklung der letzten Zeit auf dem Gebiet des Rechtsfolgensystems ist – in freilich recht pauschaler Charakterisierung – durch eine Renaissance der Freiheitsstrafe, die nunmehr einen weltweiten Anstieg zu verzeichnen hat,4 und der Sicherungsverwahrung5 gekennzeichnet. Letztere hat durch die Einführung der vorbehaltenen und dann auch nachträglichen Sicherungsverwahrung jedenfalls hinsichtlich der Anordnungsmöglichkeiten und -voraussetzungen einen Aufschwung genommen, der in einem fast schon paradox anmutenden Gegensatz zu der einstigen – aber immer noch andauernden – Kritik an dieser Maßregel steht.6 Das Bemühen des Gesetzgebers ist augenscheinlich von dem Ziel geleitet, jede nur erdenkliche, selbst ferner liegende „Sicherheitslücke“ zu schließen. Diese Tendenz zeitigt freilich nicht nur entsprechende Konsequenzen für den Bereich der Rechtsfolgen, sondern hat darüber hinausgreifenden, umfassenden Charakter, der von der (kommunalen) Kriminalprävention7 über eine möglichst weitgehende Vorverlagerung des Strafrechtsschutzes – etwa in Gestalt der Pönalisierung von Vorbereitungshandlungen – bis hin eben zur Ausweitung sichernden Freiheitsentzugs reicht. Sie gilt vor allem jenen drei 3 Vgl. zB Jescheck Strafrecht im Dienste der Gemeinschaft, hrsg von Vogler, 1980, S. 101 (121 ff); Roxin JA 1980, 545. 4 H. J. Schneider FS Seebode, 2008, S. 525; ders. Internationales Handbuch der Kriminologie Bd 2, 2009, S. 1025. 5 Laubenthal ZStW 116 (2004), 703; Skirl ZfStrVo 2005, 323. 6 Vgl. zB H.-J. Albrecht FS Schwind, 2006, S. 191 (208 ff); Kinzig Die Legalbewährung gefährlicher Rückfalltäter, 2008, S. 314 ff.; Graebsch FS Eisenberg, 2009, S. 725 (739 f). 7 M. Walter GA 2005, 489 (491 ff).
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Personengruppen, die sich unter den Etiketten des Terrorismus sowie der Gewalt- und Sexualstraftaten als besonders „gefährliche Straftäter“ zusammenfassen lassen.8 Im Vorfeld krimineller Handlungen hat der Gesetzgeber durch das TKG und Vorschriften der StPO eine vorsorgliche Speicherung der Telekommunikationsverkehrsdaten sowie deren Verwendung geregelt und durch das Gesetz zur Verfolgung terroristischer Vorbereitungshandlungen dem Terrorismus möglichst frühzeitig zu begegnen gesucht. Die vorsorgliche Vorratsdatenspeicherung ist freilich durch das Urteil des BVerfG im Wesentlichen für verfassungswidrig befunden worden.9 Auch das Gesetz zur Verfolgung der Vorbereitung von schweren staatsgefährdenden Straftaten ist auf Kritik unter rechtsstaatlichem Vorzeichen gestoßen.10 Überlagert wird diese nationalstaatliche Entwicklung seit einiger Zeit auch durch die Auseinandersetzung über Notwendigkeit, Möglichkeiten und Grenzen einer europäischen Kriminalpolitik. Der Umstand, dass in wachsendem Maße der Handlungs- und Entscheidungsspielraum nationaler Strafgesetzgeber durch normative Vorgaben der EU eingeschränkt wird, fordert demnach konzeptionelle Überlegungen zur Gestaltung der Kriminalpolitik auf europäischer Ebene heraus, die anerkannten rechtsstaatlichen Maßstäben gerecht wird (z.B. Prinzipien der Verhältnismäßigkeit, Schuld, Gesetzlichkeit, Subsidiarität etc.).11 Dieser gewiss notwendige Diskurs, der inzwischen zu einem entsprechenden „Manifest zur europäischen Kriminalpolitik“ geführt hat,12 kann an dieser Stelle freilich nur als bedeutsamer Merkposten erwähnt, aber nicht weiter vertieft werden.
3. Ansätze zur Neugestaltung des Sanktionensystems Indessen stellt sich die kriminalpolitische Landschaft jenseits einer zunehmenden Sicherheitsorientierung13 – und gleichsam parallel zu ihr – ungleich differenzierter dar. So sind die Bemühungen um Entwicklung und Verwirklichung eingriffsärmerer Sanktionen hinsichtlich leichterer bis mittelschwerer Straftaten in den vergangenen Dezennien weitergegangen. Sie waren namentlich durch zwei Tendenzen gekennzeichnet, die im Grunde bis 8 Egg (Hrsg), „Gefährliche Straftäter“, 2005; Kunz FS Eser, 2005, S. 1375; ders. in: Barton (Hrsg), „… weil er für die Allgemeinheit gefährlich ist!“ Prognosegutachten, Neurobiologie, Sicherungsverwahrung, 2006, S. 71; Baltzer Die Sicherung des gefährlichen Gewalttäters, 2005; Kinzig (Fn 6), S. 122 ff. Vgl. auch Rehn u. a. (Hrsg), Behandlung „gefährlicher Straftäter“, 2. A. 2001. 9 BVerfG NJW 2010, 833; dazu Roßnagel NJW 2010, 1238. 10 Deckers/Heusel ZRP 2008, 169; Sieber NJW 2009, 353. Vgl. aber Bader NJW 2009, 2853. 11 Satzger NK 3/2007, 93; ders. ZIS 2009, 691; Frisch GA 2009, 385. 12 European Criminal Policy Initiative ZIS 2009, 697. 13 Kinzig (Fn 6), S. 317; Heinz FS Strätz, 2009, S. 233.
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heute angehalten haben: Zum einen ist das Spektrum sog. ambulanter Reaktionsformen – wie sie ja im internationalen Bereich wachsenden Anklang gefunden haben – erweitert und ausdifferenziert worden. Beispiele für diese „neuen“, inzwischen aber auch schon seit geraumer Zeit teils auf rechtlicher Grundlage, teils im Rahmen von Modellprojekten praktizierten Sanktionsformen bilden bekanntlich vor allem der „elektronisch überwachte Hausarrest“,14 die gemeinnützige Arbeit,15 der Täter-Opfer-Ausgleich (TOA)16 und die Schadenswiedergutmachung.17 Mit ihnen werden unterschiedliche, teils täterbezogene, teils opferbezogene, teils institutionenorientierte Zwecke verfolgt. Der „elektronisch überwachte Hausarrest“ soll dem Täter – oder dem Beschuldigten (falls sonst in einem Strafverfahren Untersuchungshaft zur Diskussion steht) – ganz oder teilweise Freiheitsentzug ersparen und dadurch zugleich den Justizvollzug entlasten. Das gilt auch für die gemeinnützige Arbeit, durch die die Vollstreckung von Ersatzfreiheitsstrafen – die an die Stelle uneinbringlicher Geldstrafen treten – in möglichst weitgehendem Umfange vermieden werden soll. TOA und Schadenswiedergutmachung sollen als sozialkonstruktive Reaktionsformen Opferinteressen Rechnung tragen und dadurch die durch die Straftat ausgelöste Störung des Rechtsfriedens ganz oder wenigstens teilweise beheben. Ihnen liegen nicht zuletzt Ansätze einer international verschiedentlich favorisierten „restorative justice“ zugrunde.18 Zum anderen hat sich in materieller wie verfahrensmäßiger Hinsicht eine Art „Mischsystem“ zwischen den formellen Rechtsfolgen des materiellen Strafrechts – die den Strafprozess im „klassischen“ Sinne prägen – und informellen, außergerichtlichen Formen der Reaktion auf Delikte oder ihrer „Erledigung“ – namentlich in Gestalt von Diversion19 und Mediation20 – herausgebildet. 14 Haverkamp Elektronisch überwachter Hausarrestvollzug, 2002; K. Schneider Electronic Monitoring, 2003; M. Mayer Modellprojekt elektronische Fußfessel, 2004; Redlich Die elektronische Überwachung, 2005; Fünfsinn FS Eisenberg, 2009, S. 691. 15 Feuerhelm Stellung und Ausgestaltung der gemeinnützigen Arbeit im Strafrecht, 1997; Kawamura-Reindl in: Cornel u. a. (Hrsg), Resozialisierung, 3. A. 2009, S. 220; dies./ Reindl Gemeinnützige Arbeit statt Strafe, 2010. 16 Winter Täter-Opfer-Ausgleich als Teil der Vision von einer heilenden Gerechtigkeit, 2004; ders. in: Cornel u.a. (Fn 15), S. 477; Schädler NStZ 2005, 366; Bals MSchrKrim 2006, 131; Tränkle Im Schatten des Strafrechts, 2007, S. 44 ff, 319 ff; C. A. Jung Der Täter-OpferAusgleich als Weisung, 2008. 17 Kaspar GA 2003, 146; Steffen Der Täter-Opfer-Ausgleich und die Wiedergutmachung, 2005; J. Maier FS Eser, 2005, S. 1409; Bals/Hilgartner/Bannenberg Täter-Opfer-Ausgleich im Erwachsenenbereich, 2005; Trenczek ZJJ 2009, 361. 18 Braithwaite in: Internationales Handbuch (Fn 4), S. 497; Temme KrimJ 2008, 83. 19 Heinz ZJJ 2005, 166, 302; ders. Soziale Probleme 2006, 174; ders. in: BMJ (Hrsg), Das Jugendkriminalrecht vor neuen Herausforderungen? 2009, S. 29 (46 ff). 20 Hartmann in: Barton (Hrsg), Beziehungsgewalt und Verfahren, 2004, S. 77; Glässer Mediation und Beziehungsgewalt, 2008; Plewig ZJJ 2009, 376 f.
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Diese Entwicklung – die gewiss eine Fülle von Fragen rechtsstaatlicher wie rechtspraktischer Provenienz aufwirft – hat denn auch zugleich eben so legislatorische wie wissenschaftliche Aktivitäten auf dem Gebiet der Neugestaltung des Rechtsfolgensystems gezeitigt. Unter den einschlägigen Anläufen verdienen nach dem 2000 vorgelegten Abschlussbericht der „Kommission zur Reform des strafrechtlichen Sanktionensystems“ namentlich zwei solcher Schritte Erwähnung. Der eine ist im 2003 vorgelegten Referentenentwurf „eines Gesetzes zur Reform des Sanktionenrechts“,21 der andere in den 2009 veröffentlichten Thesen des Ziethener Kreises22 zu sehen, die gleichfalls Reformen auf dem Felde des strafrechtlichen Sanktionensystems – freilich unter besonderer Berücksichtigung des Strafvollzugs – einfordern. Der Referentenentwurf ist ja nur einer von verschiedenen gescheiterten Anläufen gewesen, das Sanktionenrecht wenigstens ein Stück weit zu modernisieren. Er hat in der Hauptsache drei Neuerungen angestrebt: die Einführung der gemeinnützigen Arbeit als Ersatzstrafe für zu vollstreckende Freiheitsstrafen unter sechs Monaten und als primäre Ersatzstrafe bei Uneinbringlichkeit der Geldstrafe, die Aufwertung des Fahrverbots zur Hauptstrafe und als Regelsanktion bei Verkehrsstraftaten sowie die Sicherung des Vorrangs von Wiedergutmachungsansprüchen des Opfers vor der Vollstreckung von Geldstrafen und kurzen Freiheitsstrafen. Ob die kriminalpolitisch grundsätzlicher formulierten und dementsprechend weitergehenden Forderungen des Ziethener Kreises größere Chancen auf Verwirklichung haben, muss man nach den bisherigen Erfahrungen wohl eher skeptisch beurteilen. Denn ihre Realisierung würde ja vor dem Hintergrund vorherrschender gesellschaftlicher Sichtweisen und Mentalität zum einen mehr kriminalpolitische Entschlossenheit und Bereitschaft, neue Wege einzuschlagen, zum anderen stärkeres finanzielles Engagement am Ausbau eines sozialkonstruktiven Rechtsfolgensystems erfordern. Das legen vor allem Postulate nahe wie die generelle Ersetzung von Ersatzfreiheitsstrafen durch gemeinnützige Arbeit – oder durch eine zivilrechtliche Beitreibungslösung –, die Ersetzung kurzer Freiheitsstrafen unter sechs Monaten vor allem durch gemeinnützige Arbeit und Schadenswiedergutmachung, der flächendeckende Ausbau von TOA-Angeboten und Wiedergutmachungsmöglichkeiten, sozialintegrative ambulante Sanktionen für Wiederholungstäter, weitergehender Ausbau der Bewährungs- und der Straffälligenhilfe sowie eines behandlungsorientierten, differenzierten und differenzierenden Strafvollzugs, Einschränkung der Sicherungsverwahrung und Abschaffung der nachträglichen Sicherungsverwahrung.
21 22
Dünkel NK 4/2003, 123; Streng ZRP 2004, 237 (238). Ziethener Kreis Forum Strafvollzug 2009, 336.
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4. Zum gegenwärtigen kriminalpolitischen Diskurs Die Vorstellungen des Ziethener Kreises verkörpern gewiss ein kriminalpolitisches Programm, das sich ungeachtet denkbarer Einwände oder Vorbehalte im Einzelnen sehen lassen kann, aber eben aus den angedeuteten Gründen gegenwärtig nur wenig Aussichten auf Realisierung verspricht. Charakteristisch für vorherrschende Tendenzen ist ja, dass sich die Kriminalpolitik im Ganzen, wie kürzlich mit Recht angemerkt worden ist, „in kleinen Schritten“ bewegt.23 Einer atemlos, hektisch gewordenen Zeit fehlt die Luft für den „großen Wurf“ – wie er etwa die 60er und 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts gekennzeichnet hat. Das lässt sich schon daran ablesen, dass selbst Vorschläge von begrenzter Reichweite – wie sie z.B. im Referentenentwurf zur Diskussion gestellt worden sind – sich nicht haben verwirklichen lassen – und dies beileibe nicht nur deshalb, weil sie in ihrer konkreten Ausgestaltung auf Kritik gestoßen sind. Ohnehin erscheinen manche weiterreichenden Ansätze, die wenigstens in Teilbereichen „klassische“ Sanktionen wie die Geld- und die Freiheitsstrafe ersetzen sollen, überaus problematisch. Das gilt etwa aus Gründen der Gerechtigkeit für eine Ausgestaltung des Fahrverbots zu einer über Verkehrsdelikte hinausgehenden Hauptstrafe,24 aber auch wegen der begrenzten Anwendungsmöglichkeiten für eine sanktionsrechtliche Aufwertung des elektronisch gesicherten Hausarrests.25 Normative, von Wertungen bestimmte Gesichtspunkte können ebenso wie faktische, der Eigenart der Sanktion immanente Schranken einer Ausdehnung des Anwendungsbereichs Grenzen ziehen. Was gegenwärtig einer rationalen, die heikle Balance von Freiheit und Sicherheit wahrenden Kriminalpolitik, die eben gleichermaßen auf Bürgerrechte wie auf elementare Sicherheitsbedürfnisse Bedacht nimmt,26 empfohlen wird, ist dem heutigen Diskussionsstand zufolge dreierlei: 27 das Beharren auf einem Präventions- und Reaktionskonzept, das sich nicht in sichernder Unterbringung gefährlich erscheinender Straftäter erschöpft, sondern – auch und gerade zum Schutz der Allgemeinheit – hinreichenden Integrationschancen Raum gibt; eine fortschreitende Erhöhung und Erneuerung des 23
B.-D. Meier StV 2008, 263 (271). Streng Strafrechtliche Sanktionen, 2. A. 2002, Rn 789 ff; ders. ZRP 2004, 237; Kilger ZRP 2009, 13; aM Franke ZRP 2002, 20. 25 Vgl. Fn 14; Streng Strafrechtliche Sanktionen (Fn 24 Rn 788) spricht mit Recht von einem „schmalen Anwendungsbereich“. 26 Zur Kritik an der mangelnden Austarierung der beiden Aspekte Singelnstein/Stolle Die Sicherheitsgesellschaft, 2. A. 2008; Simon Präzeptoraler Sicherheitsstaat und Risikovorsorge, 2009; besonders prononciert P.-A. Albrecht FS Hassemer, 2010, 3. Vgl. auch Fn 13. 27 B.-D. Meier FS Rüping, 2008, 73 (90). In gewisser Weise spiegelt die derzeitige Diskussion über eine Reform des Rechtsfolgensystems den eher begrenzten Ertrag der bisherigen Evaluationsforschung wider (vgl. B.-D. Meier JZ 2010, 112 [120]). 24
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Erkenntnisstandes durch empirische Forschung, die namentlich die Bewährung und Auswirkungen der Rechtsfolgen thematisiert; 28 sowie die Wahrung verfassungsrechtlicher Garantien, insbesondere der Grundrechte, bei der Ausgestaltung und praktischen Handhabung des Sanktionensystems. Das ist natürlich alles andere als ein Reformprogramm im eigentlichen Verständnis des Wortes. Doch könnte allein schon die Ausschöpfung bestehender Möglichkeiten zur Realisierung jener Postulate den Weg zum Ziel einer durchgängig humanen und effektiven Kriminalpolitik bereiten.
5. Von kriminalpolitischen Reformvorstellungen zu Utopien Für den kriminalpolitischen „Geist der Zeit“ bezeichnend ist denn auch, dass etwaige Reformvorstellungen in mehr oder minder ausgeprägte Modifizierungen bekannter und weitgehend realisierter Rechtsfolgen münden. Sie halten gewiss an den seit den strafrechtlichen Reformen der 70er Jahre formulierten Zielen fest, ambulante Alternativen auszubauen und – vor allem dadurch – Freiheitsentzug in jedweder (rechtlichen) Gestalt im Rahmen des kriminalpolitisch vertretbar Erscheinenden zurückzudrängen. Es ist also bestenfalls eine evolutionäre Kriminalpolitik, die derzeit im wissenschaftlichen und praktischen Reformdiskurs Chancen hat, Gehör zu finden – während ihre Aussichten auf Realisierung aus den angedeuteten politischen und gesellschaftlichen Gründen eher skeptisch beurteilt werden. Weitergehende Forderungen, die auf Abschaffung des Freiheitsentzugs oder gar auf Ersetzung des Strafrechts durch etwas, das im Radbruch’schen Sinne besser ist als Strafrecht,29 gerichtet sind, werden zwar immer wieder im Rahmen des Diskurses über Alternativen ventiliert, vermögen aber aus verschiedenen Gründen – die nicht zuletzt mit der Gretchenfrage nach der praktischen Realisierbarkeit zusammenhängen – kaum konkrete Gestalt anzunehmen. Sie gelten im Blickwinkel heutiger Erfahrungen und Erkenntnisse als Ansätze revolutionär anmutender Um- oder Neugestaltung der Kriminalpolitik, wenn nicht als utopische Postulate,30 deren Verwirklichung entweder 28 Was ja das BVerfG namentlich im Hinblick auf die gesetzliche Regelung und praktische Ausgestaltung des Jugendstrafvollzugs ausgeführt hat (NJW 2006, 2095 [2097]). Vgl. auch Pollähne StV 2007, 553; Müller-Dietz, Morgenstern in: Dünkel/Drenkhahn/Morgenstern (Hrsg), Humanisierung des Strafvollzugs – Konzepte und Praxismodelle, 2008, S. 11 (17), 35 (50). 29 Zu der vielzitierten „abolitionistischen Formel“ – die Radbruch in seinem bekannten Vortrag über den „Erziehungsgedanken im Strafwesen“ (1932) geprägt hat – Schüler-Springorum Kriminalpolitik für Menschen, 1991, S. 76; Müller-Dietz in: Radbruch Strafvollzug (Gustav Radbruch Gesamtausgabe Bd 10), 1994, S. 1 (13). 30 Vgl. aber das Plädoyer Cornels für die „Abschaffung der Freiheitsstrafe“ als „konkrete Utopie“ in: Kerner/Kury/Sessar (Hrsg), Deutsche Forschungen zur Kriminalitätsentstehung und Kriminalitätskontrolle Bd 3, 1983, S. 1461.
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einer fernen, unbekannten Zukunft oder gar der spekulativen Phantasie literarischer Fiktionen anheimgegeben ist. Seit den Arnoldshainer Thesen von 1989 zur Abschaffung der Freiheitsstrafe31 gewinnen entsprechende Postulate bis heute allenfalls insoweit Profil, als sie weitergehende und weiter zu entwickelnde Möglichkeiten fortschreitender Zurückdrängung freiheitsentziehender Sanktionen zur Diskussion stellen.32 Kaum anders verhält es sich hinsichtlich der Forderung, Strafen und Strafrecht durch andere, weniger einschneidende, nichtpönale Formen der Reaktion auf Rechtsgüterverletzungen zu ersetzen.33 Auch hier wird, ausgehend von der „Krise des öffentlichen Strafanspruchs“34 und der Legitimationsproblematik des Strafrechts,35 vor allem die Möglichkeit diskutiert, den Anwendungsbereich und Umfang des (letztlich über seine Ufer getretenen) Strafrechts allmählich und schrittweise zurückzudrängen. Was natürlich vorherrschenden Tendenzen der Kriminalpolitik, die auf möglichst perfekte Schließung sog. Strafbarkeitslücken und Vorverlegung des strafrechtlichen Schutzbereichs gerichtet sind, diametral zuwiderläuft. Freilich zeigt sich bei näherer Betrachtung, dass diese auf Anhebung der strafrechtlichen Sicherheitsschwelle zielenden Tendenzen vor allem die schwere und schwerste Kriminalität zum Gegenstand haben, während die Bestrebungen, den Ausbau sog. Alternativen für leichtere Delikte voranzutreiben, weiter anhalten. Insgesamt bestätigt dieser Befund den Eindruck, dass das Feld der Utopien keine Domäne strafrechtlicher oder allgemeinkriminalpolitischer Reformkonzepte ist.36 Überhaupt gehen Recht und Rechtswissenschaft zu Utopien vielfach auf deutliche Distanz – wenn man nicht sogar konstatieren kann, dass dieses Verhältnis eigentümlich gebrochen erscheint. Das hat natürlich seinen Grund namentlich in der Realitätsbezogenheit des Rechts, das beansprucht vernünftige und humane Regeln für gesellschaftliches Zusammenleben zu präsentieren. Da scheint – zunächst einmal oder gar überhaupt – für eine Verwirklichung normativer Vorstellungen, welche die konkrete geschichtliche und gesellschaftliche Wirklichkeit übersteigen – oder gar jenseits von ihr angesiedelt sind – kein Raum. Als spekulative Phantasien, die
31 Evangelische Akademie Arnoldshain (Hrsg), Arnoldshainer Thesen zur Abschaffung der Freiheitsstrafe, 1989. 32 Vgl. zB Lüderssen Abschaffen des Strafens?, 1995, S. 259; Cornel KrimJ 2008, 54. 33 Vgl. etwa M. Walter in: FS der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln, 1988, S. 557; Lüderssen (Fn 32), S. 17 ff.; ders. FS Hassemer, 2010, S. 467; Seelmann, Radtke in: Radtke u.a. (Hrsg), Muss Strafe sein?, 2004, S. 151, 161; Scheerer/Arfire in: De Giorgi (Ed), Il Diritto e la Differenca. Scritti in onore di Baratta Vol II, 2002, S. 543 (559 ff). 34 Lüderssen Die Krise des öffentlichen Strafanspruchs, 1989. 35 Scheerer in: Eser/Hassemer/Burkhardt (Hrsg), Die deutsche Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende, 2000, S. 345. 36 Vgl. auch Courakis FS Seebode, 2008, S. 3.
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mehr oder minder stark des Realitätsgehalts entbehren, mögen sie die Gefühle und Gedanken der Menschen ansprechen und bewegen. Doch für Hinweise oder gar Anweisungen, wie das Zusammenleben von Menschen in einem wirklichkeitsgerechten Sinne geordnet und gestaltet werden kann, scheinen sie nichts herzugeben oder selbst zu taugen. Ohnehin stehen Utopien jedweder Couleur im Verdacht, geltendes Recht und bestehende Justiz in Frage zu stellen, ja ihnen jegliche Legitimation entziehen zu wollen.37 Inzwischen sind sie in der politischen wie in der Zeitgeschichte nach den Erfahrungen mit menschenfeindlichen und -verachtenden Diktaturen des 20. Jahrhunderts (aber auch des beginnenden 21.), die ja in der Regel auf revolutionäre Ideen oder Ideologien zurückgegangen sind, weitgehend in Misskredit geraten. Ihnen selbst ist etwa ein „totalitärer Geist“ attestiert worden.38 Dieser Sicht korrespondiert diejenige Gasts, der aus rechtswissenschaftlicher Perspektive den absoluten, verabsolutierenden und wirklichkeitsfernen Charakter von Rechtsutopien kritisiert hat.39 Doch sind zu der durchaus begründbaren rechtswissenschaftlichen Reserve gegenüber Utopien auch Gegenpositionen bezogen worden. So hat etwa Peter Häberle Utopien von seinem rechtskulturellen Ansatz aus auch für das Recht legitimierende wie kritische Funktionen zuerkannt, denen als Topos der Hoffnung anthropologische Relevanz zukomme.40 In einer neueren Studie hat Courakis es sogar unternommen, Utopien für strafrechtliche und kriminalpolitische Reformüberlegungen fruchtbar zu machen. Er hat dies freilich in exemplarischer Weise an Eutopien, also an positiven literarischen Utopien, getan, die Wunschvorstellungen oder Idealbilder eines erstrebenswerten Gemeinwesens entworfen haben.41 Deutlich wird an den Beispielen, die der Autor bemüht, dass literarische Utopien in ihren Darstellungen eines idealen Staates nicht nur neue Regeln des Zusammenlebens, sondern damit natürlich auch einen neuen Umgang mit Rechtsverletzungen thematisieren. Courakis’ Studie mündet in die altbekannte Überlegung, dass der rechtliche Umgang mit Rechtsgüterverletzungen zumindest teilweise durch andere rechtliche Reaktionen als durch Strafen geregelt werden könne. Indessen wird sein Plädoyer für die Berücksichtigung des Utopiegedankens im Strafrecht durch zwei gewichtige Vorbehalte oder Einschränkungen relativiert. Zum einen schwebt ihm eine „relative Utopie“ vor, die realistisch erscheint, „in menschlichen Gesellschaften durchführbar ist“. Zum anderen fußt sein Fazit auf der Gewissheit, „dass das Strafrecht nicht abgeschafft werden wird“.42 Was einmal mehr zeigt, mit welchen Problemen kriminalpolitische 37 38 39 40 41 42
Gast Gesetz und Justiz in den Utopien, 1988. Schwan FS Hennis, 1988, S. 303. Vgl. Fn 37. Müller-Dietz GA 2009, 699 (716 f). Vgl. Fn 36. Courakis (Fn 36), S. 12.
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Konzepte konfrontiert sind, die auf schlechthin utopische Vorstellungen rekurrieren. Die Vision des Philosophen Ernst Bloch, wonach man durch einen grundlegenden Wandel der Gesellschaft im marxistischen Sinne das Verbrechen wie einen Sumpf austrocknen könne,43 mag vordergründig eine faszinierende Wirkung entfalten; doch hält sie schwerlich einer Realität stand, die ganz andere Erfahrungen mit den Strukturen und Prozessen menschlichen Zusammenlebens vermittelt.44 Indessen sind es beileibe nicht nur literarische oder philosophische Utopien, die Konzepte einer mehr oder minder neuen, wenn nicht gar gänzlich anders gearteten Kriminalpolitik entwerfen. Vielmehr weisen reale technologische Entwicklungen auf Möglichkeiten neuartiger Kontrolle und Überwachung hin, die in Zukunft ganz oder teilweise an die Stelle bisheriger Sanktionen, namentlich der Freiheitsstrafe, treten könnten. Es sind vor allem Fortschritte der Informationstechnologien, die es ermöglichen könnten, mit Hilfe implantierter kleiner Messgeräte oder Chips alle wichtigen Daten über Personen, insbesondere über Aufenthalt und Bewegung von Straftätern, festzuhalten und zu kontrollieren. Die Erfindung und Konstruktion solcher Produkte, die schon nach bisherigen Erkenntnissen bis zur „Größe eines Reiskorns“ oder „einer Zigarettenschachtel“ schrumpfen können,45 beflügelt nicht nur die kriminalpolitische Phantasie, sondern eröffnet auch und gerade der kriminalpolitischen Praxis neue Gestaltungsmöglichkeiten. Dies gilt auch dann, wenn man in Rechnung stellt, dass keineswegs jede neue Erfindung hält, was sie zu versprechen scheint. So hat ja das Beispiel des vielfach propagierten und praktisch erprobten „elektronisch gesicherten Hausarrests“ gezeigt, dass der Anwendungsbereich neuer Technologien innerhalb des strafrechtlichen Sanktionensystems nicht unbedingt jene Bedeutung erlangen muss, die man ihm ursprünglich zugeschrieben haben mag. Denn solche Technologien stehen – wie ja dem Beitrag von Gratz ganz allgemein und grundsätzlich zu entnehmen ist46 – im Grunde nur für eine Vielfalt von Entwicklungsmöglichkeiten, deren Spektrum und Spielraum sich gegenwärtig eher bruchstückhaft andeuten lassen, sich künftig aber dank eines fast schon rasanten Fortschritts immer mehr erweitern dürften.
43 Bloch Naturrecht und menschliche Würde, 1961, S. 297. Über sein Werk Ueding Philosophie in dürftiger Zeit, 2009. 44 Müller-Dietz Strafvollzug und Gesellschaft, 1970, S. 37. 45 Gratz in: Preusker/Maelicke/Flügge (Hrsg), Das Gefängnis als Risiko-Unternehmen, 2010, S. 275 (282). Auf diesen Beitrag hat mich dankenswerterweise Joachim Walter (ehemals JVA Adelsheim) aufmerksam gemacht. 46 Vgl. Fn 45.
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6. Der Roman „Corpus Delicti“ von Juli Zeh im Kontext der Staatsutopien Literarische Staatsutopien können auf eine lange Geschichte zurückblicken.47 Sie reicht letztlich bis zu Platons „Politeia“ („Staat“) zurück, der das Bild eines idealen Staates entworfen hat. Von dort führt der Weg, den dieses Genre genommen hat, über den „Gottesstaat“ des Augustin zum staatsphilosophischen Dialog des Thomas Morus von 1516. Dieser hat mit seinem Titel „Utopia“ der ganzen Gattung zu ihrem Namen verholfen. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts ist eine ganze Reihe weiterer Romane unterschiedlicher Qualität erschienen, die Idealvorstellungen von Recht, Staat und Gesellschaft konzipiert haben. Danach, vor allem seit Beginn des 20. Jahrhunderts, haben freilich zunehmend negative Utopien, sog. Dystopien, die Eutopien verdrängt.48 „Schwarze Utopien“, die mit abschreckenden Beispielen inhumaner Gemeinwesen aufwarten, sollten offensichtlich das Publikum vor gefährlichen staatlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen warnen. Ihr Siegeszug verdankt sich – jenseits des größeren Unterhaltungswerts, der sie gegenüber Eutopien auszeichnet – vor allem zwei Gefahren, die einem humanen Zusammenleben in modernen Gesellschaften drohen: Zum einen sind es negative Auswirkungen des ohnehin schon janusköpfigen technisch-(natur-) wissenschaftlichen Fortschritts, die gleichsam dessen Kehrseite offenbaren. Zum anderen sind es die erschreckenden Erfahrungen, die ideologisch gespeiste oder unterfütterte totalitäre Regimes im 20. Jahrhundert vermittelt haben.49 In Werken dieser Couleur spiegelt sich gleichsam die Entzauberung der modernen Welt. Repräsentative Beispiele in diesem Sinne verkörpern namentlich die Romane „Brave New World“ („Schöne neue Welt“) (1932) von Aldous Huxley und „1984“ (1949) von George Orwell. In diesen Kontext gehört auch das 2009 erschienene Werk „Corpus Delicti“ Juli Zehs, das eine Gesundheitsdiktatur in Gestalt eines fiktiven Zukunftsstaates aus der Mitte des 21. Jahrhunderts schildert.50 Der Roman ist aus einem gleichnamigen Theaterstück hervorgegangen, das die Autorin im Auftrag der Ruhrtriennale geschrieben hat und das 2007 in Essen uraufgeführt worden ist.51 Die epische Darstellung figuriert ihrem Untertitel zufolge nicht wie gewöhnlich als „Roman“, sondern vielmehr als „Ein Prozess“. 47 Siefken-Schulte die horen 27 (1982), Nr. 126, S. 5; Saage Politische Utopien der Neuzeit, 1991. 48 Saage (Fn 47), S. 264. Vgl. auch Klüger Gelesene Wirklichkeit, 2006, S. 195. 49 Overy Die Diktatoren. Hitlers Deutschland – Stalins Russland, 2005. 50 Juli Zeh Corpus Delicti. Ein Prozess, 2009. 51 Ch. Schmidt Sprache im technischen Zeitalter H. 187 (2008), S. 263.
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Diese Charakterisierung kann man in einem mehrfachen Sinne verstehen. Zum einen steht in der Tat ein Strafverfahren im Zentrum der Darstellung. Es wird freilich nicht im chronologischen Ablauf wiedergegeben. Vielmehr ist die Schilderung des Prozesses – modernen epischen Gestaltungsformen entsprechend – durch zahlreiche Rückblenden und Einschübe durchbrochen. Der Roman wird zwar durch das Vorwort aus einem fiktiven Werk eingeleitet, in dem der Chefideologe des totalitären Regimes, Heinrich Kramer, die Erhaltung und Wahrung der Gesundheit des Einzelnen als oberstes Ziel allen staatlichen und gesellschaftlichen Handelns sowie jeglicher Pflichten des Individuums zu rechtfertigen sucht. Doch schließt sich unmittelbar daran der Tenor des gegen die Protagonistin, die Biologin Mia Holl, ergangenen Strafurteils an, dessen Vollstreckung nur durch eine – am Ende des Romans geschilderte – sog. „Begnadigung“ abgewendet wird. Der schließlich als „Staatsfeindin“ abgestempelten Mia wird also in jedem Sinne des Wortes der Prozess gemacht. Zum anderen spielt die Kennzeichnung des Werkes als „Prozess“ auch auf die innere Entwicklung der Protagonistin an, die im Laufe eskalierender rechtlicher und gesellschaftlicher Auseinandersetzungen mit der Staatsmacht von der loyalen, gesetzeskonform handelnden oder wenigstens orientierten Staatsbürgerin zur überzeugten Gegnerin der Gesundheitsdiktatur reift. Wobei ihr in diesem Prozess der Selbstvergewisserung und Überzeugungsbildung sowohl die stetige Auseinandersetzung mit sich selbst und zu Lebzeiten ihres Bruders mit diesem sowie mit ihrem „Intimfeind“ Kramer – zu dem sie innerlich ein gespaltenes Verhältnis hat – zur Klarheit verhilft. In der Gesundheitsdiktatur dieser Prägung hat alles, was zu geschehen hat und wozu der Einzelne verpflichtet ist, sich am ideologisch verabsolutierten Zweck der Gesunderhaltung zu orientieren. Der Körper figuriert gleichsam als „Maschine“, als „ein Fortbewegungs-, Nahrungsaufnahme- und Kommunikationsapparat, dessen Aufgabe vor allem im reibungslosen Funktionieren besteht“. Alle Mess-, Melde- und sonstige Handlungs- und Unterlassungspflichten sind sanktionsrechtlich abgesichert. Über Blutwerte, Kalorienverbrauch, Stoffwechselabläufe muss akribisch Buch geführt werden. Liebesbeziehungen dürfen nur mit amtlich dafür vorgesehenen Partnern eingegangen werden, die bestimmten immunologischen Kategorien angehören. Sog. „Methodenschützer“ kontrollieren die Einhaltung einschlägiger Regeln. Ein System lückenloser Überwachung soll jegliche Risiken und Gefahren für das Regime, die in Kritik, Opposition oder gar Widerstand münden könnten, frühzeitig aufspüren helfen und für möglichst reibungslose Durchsetzung der Staatsmacht sorgen. Bezeichnenderweise charakterisiert der Begriff „METHODE“ das Herrschaftssystem. Damit gerät jeder, der sich ihm nicht bedingungslos unterwirft, Vorbehalte oder Einwände, wenn nicht gar Kritik – wie etwa Mia Holl – anmeldet, in den existenzgefährden-
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den Verdacht, „Methodenfeind“ zu sein oder sich wenigstens zu einem solchen zu entwickeln. Eine „Gesundheitsordnung“ regelt die Verbots- und Gebotstatbestände, deren schuldhafte Verwirklichung Strafsanktionen nach sich zieht. Alles, was der Gesundheit abträglich ist oder sein könnte, darf nicht konsumiert werden. Zu den strafbaren, weil gesundheitsschädlichen Verhaltensweisen zählt etwa das Rauchen; es fällt unter den Tatbestand des „Missbrauchs toxischer Substanzen“. Das verfahrensrechtliche Korrelat zur „Gesundheitsordnung“ bildet die „Gesundheitsprozessordnung“. Sie regelt das gerichtliche Verfahren, durch das Verstöße gegen das materielle Recht abgeurteilt werden. Gewisse Übereinstimmungen mit Tatbestandsfassungen, Rechtsfolgen und Verfahrensregeln eines rechtsstaatlichen Kriminalrechts könnten den Gedanken aufkommen lassen, dass selbst in dieser Gesundheitsdiktatur – freilich innerhalb mehr oder minder enger Grenzen – noch an überkommene Garantien und Maximen zugunsten des Individuums angeknüpft wird. Das gilt etwa für materiellrechtlich vorgesehene Kriminalsanktionen wie z.B. die Geldstrafe und die zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe oder für Prozessgrundsätze, die etwa dem Beschuldigten das Recht zu schweigen einräumen und eine Verurteilung vom verfahrensrechtlich erforderlichen Nachweis der Schuld abhängig machen. Doch täuschen solche – überdies vielfach formalen – Parallelen über den wahren Charakter dieser „Rechtsordnung“ hinweg. Tatsächlich hat die Gesundheitsdiktatur das Recht ebenso wie dessen verfahrensrechtliche Realisierung völlig in ihrem Sinne instrumentalisiert und damit die kriminalrechtlich relevanten Verfassungsgrundsätze und rechtsstaatlichen Garantien ausgehebelt, wie sie unter der Geltung des GG für Strafgerichte verbindlich sind. Mit der Gestaltung und dem Verständnis des modernen Strafrechts eng verbunden ist der Präventionsgedanke – der zugleich in Juli Zehs Roman eine zentrale Rolle spielt. Seine Bedeutung reicht freilich weit darüber hinaus, wie allein schon das Beispiel der Gesundheitsvorsorge zeigt. Indessen hat die Präventionsidee gerade auf kriminalrechtlichem Gebiet eine besonders nachhaltige Geschichte – man könnte aber auch sagen: Karriere – zu verzeichnen. Sie reicht von den Strafrechtstheoretikern der Aufklärung über die sog. moderne Schule eines Franz von Liszt bis hin zur unmittelbaren Gegenwart. Diese ist ja – keineswegs nur hierzulande – durch die herausragende Bedeutung der Vorbeugung – von der (kommunalen) Kriminalprävention bis hin zur Rückfallprophylaxe in Strafzumessung und Strafvollzug – geprägt. Das Gebot der Folgenorientierung, das ja in Form des § 46 Abs. 1 S. 2 StGB den Strafrichter bei der Strafzumessung in die Pflicht nimmt,52 findet gleichsam sein verfassungsrechtliches Pendant in der verfassungsrechtlichen Verpflich-
52
Müller-Dietz FS Spendel, 1992, S. 413.
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tung des Straf- und Maßregelvollzugs, auf soziale Integration des Strafgefangenen und des Untergebrachten hinzuwirken.53 Die einschlägigen straf- und vollzugsrechtlichen Regelungen stellen denn auch Ausprägungen jenes allgemeinen gesellschaftlichen Topos dar, der es nahe legt, wenn nicht gar gebietet, hinreichende Vorsorge für die Zukunft zu treffen. Welche zentrale Bedeutung dem Gedanken der Vorsorge im Roman „Corpus Delicti“ zukommt, haben auch Rezensenten wie etwa Christian Geyer explizit dargelegt.54 Dessen Besprechung legt dem Präventionsgedanken maßgebendes, weit über das Strafrecht hinausweisendes Gewicht bei: „Ein Wort, so unendlich menschenfreundlich und vernünftig: Prävention. Wer wollte sich schon dem Gedanken der Vorsorge widersetzen?“ Damit spielt Geyer letztlich auf die Plausibilität und Überzeugungskraft der Präventionsidee an. Wer möchte nicht etwa drohenden Risiken und Gefahren vorbeugen? Das muss einer Gesellschaft wie der unsrigen nicht noch eigens gesagt werden, die sich am liebsten gegen sämtliche Lebens- und Berufsrisiken versichern möchte, um nur nicht Opfer ökonomischer und anderer Fehlentwicklungen und -entscheidungen zu werden – mögen sie nun individuelle oder kollektive Gründe haben. Es kann daher keineswegs überraschen, dass Versicherungen, die ja gerade das Vorsorgeprinzip ins Zentrum der Lebensplanung rücken, einen derart hohen gesellschaftlichen Stellenwert genießen. Weil dem Gedanken der Vorsorge für die Zukunft so viel innere Legitimation und zwingende Überzeugungskraft innezuwohnen scheinen, weist er die Tendenz auf, sich aller nur erdenklicher Felder und Probleme des Lebens zu bemächtigen, sie gleichsam zu durchdringen. Er nimmt dementsprechend auch in jenen Bereichen rechtliche Gestalt an, die bisher insoweit nicht gesetzlich geregelt waren. Ihm eignet auch – eben um möglichst großer Effektivität willen – das Streben nach Perfektionierung, Vervollkommnung der Vorsorge. Schließlich löst er nicht zuletzt das Bemühen aus, etwaigen Risiken oder Gefahren möglichst frühzeitig vorzubeugen. Alle diese Tendenzen lassen sich auf dem Feld der Kriminalitätsprophylaxe im weitesten Sinne beobachten. Das ist z.B. am Luftsicherheitsgesetz, das gegebenenfalls den Abschuss eines von Selbstmordattentätern gekaperten Passagierflugzeugs zum Schutz der Bevölkerung gestatten sollte, und an der gesetzlichen Regelung der Vorratsdatenspeicherung deutlich geworden, die eine möglichst frühzeitige Wahrnehmung terroristischer Gefahrenlagen ermöglichen sollte. Beide Regelungen sind ja vom BVerfG wegen ihrer weitreichenden, tief in Grundrechte eingreifenden Ermächtigungen für verfassungswidrig erklärt worden.55 53 BVerfGE 35, 202 (235); Calliess/Müller-Dietz StVollzG 11. A. 2008, Einl Rn 31; Roxin FS Volk, 2009, S. 601 (608 ff). 54 Geyer FAZ Nr 26 v. 28.2.2009, Z 5. 55 BVerfGE 115, 118 (zum Luftsicherheitsgesetz); NJW 2010, 833 (zur Vorratsdatenspeicherung).
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Beispielhaft für solche Tendenzen der Vorverlagerung des Gesellschaftsschutzes ist im strafrechtlichen Sektor die Einbeziehung bloßer Vorbereitungshandlungen in den Bereich der Strafbarkeit – wie sie gleichfalls vor allem im Hinblick auf terroristische Gefährdungen stattgefunden hat.56 Insgesamt braucht es nicht viel Phantasie, um sich in der fragilen, von Zukunftsängsten verschiedenster Provenienz heimgesuchten Postmoderne Schreckensszenarien auszumalen, die präventionsrelevante Risiken bergen. Das gilt namentlich im Hinblick auf gefährlich erscheinende Straftäter, aus denen vor allem die Gruppen der Selbstmordattentäter sowie der Gewaltund Sexualstraftäter besonders herausragen. Die Plausibilität und Überzeugungskraft der Präventionsidee haben dazu geführt, dass die ihr selbst innewohnenden Risiken und Gefährdungen bürgerlicher Freiheiten und Rechte immer wieder verkannt, wenn nicht bewusst ignoriert worden sind. Demgegenüber hat sich die alte gesellschaftliche Erfahrung, dass völlige Sicherheit zu keiner Zeit existiert hat und nirgendwo – von wem und durch welche Mittel auch immer – hat gewährleistet werden können, keineswegs in jedem Fall zu behaupten und durchzusetzen vermocht. Beiträge eines 1983 unter dem bezeichnenden Titel „Der Mensch als Risiko“ erschienenen Sammelbandes etwa haben aus allgemeinmedizinischer, psychiatrischer und kriminalpolitischer Perspektive auf jene Problematik aufmerksam zu machen versucht. Sie haben nicht zuletzt den Risiken und Gefahren nachgespürt, die der „Logik von Prävention und Früherkennung“ innewohnen.57 Doch übt die möglichst weitgehende Vorverlagerung sichernder Maßnahmen – und damit von Eingriffen in den Freiheitsbereich des Bürgers – anscheinend eine derart suggestive Kraft aus, der sich viele Zeitgenossen nur schwer entziehen können. Charakteristisch für solche Tendenzen ist etwa die – dann allerdings nicht verwirklichte – Forderung in Großbritannien geworden, psychisch auffällige Menschen, die keine Straftaten begangen haben, zum Schutz der Gesellschaft auf unbestimmte Zeit einzusperren.58 Geyer hat denn auch in seiner Rezension von Zehs Roman die Notwendigkeit beschworen, „das totalitäre Potential der Präventionsidee sichtbar zu machen“. Dem Umstand, dass Vorsorge „prinzipiell unbegrenzt“ ist, hat er die Erfahrung konfrontiert, dass „die Kulturkritik dieser Herrschaftsfigur“ brachliege, „obwohl immer mehr Lebensbereiche von der Prävention durchherrscht werden“.59 Dem Roman „Corpus Delicti“ hingegen hat er das Verdienst
56
Vgl. Fn 10. Wambach (Hrsg), Der Mensch als Risiko, 1983. Vgl. auch zur sog. „Vorfeldermittlung“ Kölbel/Selter NK 2009, 146; zur Überwachung Kreissl/Steinert FS Hassemer, 2010, S. 961. Vgl. ferner Fn 26. 58 Paulus FAZ Nr 26 v. 21.6.2000, S. 34. 59 Vgl. Fn 54. 57
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attestiert, erstmals mit der bisherigen literarischen Ausblendung der Problematik gebrochen und „hinter dem Vorsorgeanspruch den permanenten Ausnahmezustand“ sichtbar gemacht zu haben. Er hat diese Feststellung natürlich auf die Gegenwartsliteratur bezogen, die sich ja in der Tat des Themas nach den nun schon länger zurückliegenden negativen Staatsutopien Huxleys, Orwells und Jens’ nicht mehr angenommen hat.60 „Corpus Delicti“ wartet keineswegs nur mit der Darstellung einer auf die Spitze getriebenen Präventionsidee auf. Vielmehr treten im Zuge der Handlung auch Züge des vieldiskutierten und -kritisierten „Feindstrafrechts“61 – in der ja die Protagonistin aus offizieller Sicht zur sog. „Methodenfeindin“ erklärt wird – gleichfalls hervor. Gegenüber einer solchen, ihrer eigenen Überzeugung folgenden entschiedenen Gegnerin der Diktatur fallen selbst die letzten in einem derartigen Regime noch existierenden mehr oder minder formalen Schranken. Sie ist dann dem absoluten staatlichen Zugriff sowohl in Gestalt einer totalen Überwachung ihrer persönlichen Kontakte als auch Verletzung ihrer körperlichen Integrität in Form der Folter 62 ausgeliefert. Der Rückgriff auf einen gerade in diesem „Zukunftsstaat“ eigentlich verpönten historischen „Umgang“ mit „Staatsfeinden“ wird natürlich mit deren – wirklicher oder vermeintlicher – Gefährlichkeit legitimiert. Dass in der Darstellung der Folter, wie sie Mia gegenüber praktiziert wird, dann auch noch an die Vorgänge in Abu Ghraib erinnert wird,63 vermittelt einen beklemmenden Eindruck von der Aktualität dieses Romangeschehens. Die geschichtliche und gesellschaftliche Erfahrung zeigt ja: Diktaturen neigen schon ihrer Struktur und Tendenz nach dazu, ihre besondere Situation als diejenige eines permanenten Ausnahmezustandes im Sinne Carl Schmitts zu begreifen.64 Ihre ganz spezifische Perspektive findet den fast schon „klassisch“ erscheinenden politischen Ausdruck im Gegensatz und in der Kon-
60 Neben den Romanen Huxleys und Orwells verdient hier auch die von Walter Jens im Roman „Nein. Die Welt der Angeklagten“ (1950) entworfene „Utopie des Schreckens“ erwähnt zu werden. Vgl. Peter Schneider „… ein einzig Volk von Brüdern“. Recht und Staat in der Literatur, 1987, S. 306. 61 Vgl. zB Vormbaum Kritik des Feindstrafrechts, 2009; Morguet Feindstrafrecht – eine kritische Analyse, 2009. 62 Zur aktuellen Problematik zB EGMR NStZ 2008, 699; Esser NStZ 2008, 657; Prittwitz, Jäger FS Herzberg, 2008, S. 515, 539; H. E. Müller FS Eisenberg, 2009, S. 83 (97 ff). Zur Geschichte der Folter Sabadell in: De Giorgi (Fn 33), Vol I, S. 534; Vormbaum Einführung in die moderne Strafrechtsgeschichte, 2009, S. 30 f, 89, 91. Vgl. auch Kramer Die Folter in der Literatur, 2003. 63 H. E. Müller (Fn 62), S. 106 f; Gourevitch/Morris Die Geschichte von Abu Ghraib, 2009. 64 „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“ (Schmitt Politische Theologie, 2. A. 1934, S. 11). Vgl. zB H. Hofmann Legitimität gegen Legalität, 2. A. 1992, S. 65 ff; Voigt in: Ders. (Hrsg), Mythos Staat. Carl Schmitts Staatsverständnis, 2001, S. 35 (48 f).
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frontation von „Freund“ und „Feind“. Dieser grundlegenden Dichotomie gegenüber existiert in solchen Herrschaftssystemen kein Drittes, finden sich keine Zwischentöne, die Abschichtungen und Differenzierungen Raum geben würden. Der mehrschichtig angelegte Roman – der eine Fülle aktueller gesellschaftlicher und rechtlicher Probleme thematisiert – wendet sich nicht nur ganz allgemein gegen die völlige Indienstnahme und Instrumentalisierung des Einzelnen für staatliche Zwecke, die dessen Freiheit dem alles beherrschenden Ziel der Gesunderhaltung aufopfert. Er muss auch als eine Art literarisches „Musterbeispiel“ für eine „postmoderne“, mit „futuristisch“ angereicherten medizinischen Erkenntnissen verdichtete Schilderung einer ideologisch grundierten und legitimierten Strafrechtsordnung verstanden werden. Man kann darin die Perversion einer Rechtsordnung erblicken, wie sie etwa Fritz von Hippel seinerzeit in der nationalsozialistischen gesehen hat.65 Mit ihrer oft mit wenigen Strichen eher angedeuteten als im Detail breit ausgemalten Darstellung strafrechtlicher Tatbestände des kriminalrechtlichen Sanktionensystems und der darauf zugeschnittenen Verfahrensordnung hat die Autorin einmal mehr die von Bernd Rüthers in einer Vielzahl von Schriften eindrucksvoll herausgearbeiteten Gefährdungen zur Sprache gebracht,66 die namentlich dem Kriminalrecht drohen, wenn das Recht im Ganzen, statt dem Menschen und einer humanen Gestaltung des Zusammenlebens zu dienen, völlig im Dienst an einer überwertigen, menschenfeindlichen Ideologie aufgeht. Dies alles gilt unabhängig von der Frage, welche Überzeugungskraft Zeh mit ihrer narrativen Darstellung der Gefahren zu entfalten vermocht hat, die dem Individuum und dem Recht durch eine Gesundheitsdiktatur drohen. Gilt es dabei doch im Auge zu behalten, dass literarische Utopien ebenso wenig wie sonstige Zukunftsprojektionen als realistische Prognosen zu erwartender oder zumindest möglicher Entwicklungen verstanden werden dürfen.
65
F. v. Hippel Die Perversion von Rechtsordnungen, 1955. Pars pro toto Rüthers Entartetes Recht. Rechtslehren und Karrieristen im Dritten Reich, 1988; ders. Ideologie und Recht im Systemwechsel, 1992. 66
Garantenstellung aufgrund der Beteiligung an vorausgegangenen Misshandlungen oder sonstigen Gewalttätigkeiten Harro Otto
Gemeinsam waren Klaus Geppert, der verehrte Jubilar, dem ich mich seit langem freundschaftlich verbunden fühle, und ich über 20 Jahre als Mitherausgeber der „Jura“ für den strafrechtlichen Teil der Ausbildungszeitschrift verantwortlich. Das waren Jahre erfolgreicher und harmonischer Zusammenarbeit, denn auch dann, wenn wir unterschiedlicher Auffassung waren, standen Vertretbarkeit und Akzeptanz der anderen Meinung nie in Frage. Verblüffenderweise stellten sich derartige Probleme aber auch nur selten. Weit häufiger stimmten wir überein oder erkannten in der Diskussion, wie unsere Ansichten sich einander annäherten. Die Erörterung der Möglichkeiten und Grenzen einer Garantenstellung aus der Beteiligung an vorausgegangenen Misshandlungen oder Gewalttätigkeiten ist hierfür beispielhaft. Den Überlegungen des BGH, eine derartige Garantenstellung aus Ingerenz zu begründen, standen wir beide skeptisch gegenüber, nicht aber der grundsätzlichen Annahme einer Garantenstellung. Allerdings zielten unsere Überlegungen mehr auf eine Beschützer- als eine Überwachergarantenposition. Der BGH hat diese Gedanken nicht aufgegriffen und begnügt sich in entsprechenden Fällen inzwischen mit einem bloßen Hinweis auf die Ingerenz. Er verdeckt damit aber, dass seine Argumentation im Laufe der Zeit keineswegs einheitlich war und auch kaum an Überzeugungskraft gewonnen hat. – Das lässt eine Weiterführung der gemeinsamen Ausgangsgedanken lohnend erscheinen.
I. Ingerenz als Grundlage der Garantenstellung aus der Beteiligung an vorausgegangenen Misshandlungen bzw. Gewalttätigkeiten 1. Übereinstimmende Voraussetzungen bei der Anerkennung der Ingerenz als Garantenstellung a) Ingerenz wird von der hM grundsätzlich als Garantenpflicht begründend anerkannt, von einer beachtlichen Mindermeinung jedoch abgelehnt. Allerdings ist unter denen, die die Ingerenz als Garantenstellung verteidigen,
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Harro Otto
strittig, ob jedes vorausgegangene gefährliche Tun eine Garantenpflicht konstituiert oder nur rechtspflichtwidriges vorausgegangenes gefährliches Tun, oder ob neben rechtspflichtwidrigen Vortaten auch erlaubte Risikohandlungen die Garantenpflicht begründen. – Beide Streitfragen sollen jedoch hier nicht noch einmal aufgegriffen werden, denn zum einen kann insoweit auf frühere Stellungnahmen und den Streitstand verwiesen werden1 und zum anderen erweist sich die Auseinandersetzung im Hinblick auf die hier relevante Problematik als wenig weiterführend, wie deren Entfaltung zeigen wird. Maßgeblich sind hier andere Gesichtspunkte. b) Weitgehende Übereinstimmung besteht unter denen, die eine Garantenstellung aus Ingerenz akzeptieren, darüber, dass der bloßen Verursachung einer Gefahr für ein strafrechtlich geschütztes Rechtsgut noch keine Garantenpflicht begründende Wirkung zukommen kann. Gefordert wird, dass das vorausgegangene Tun gerade im Hinblick auf den eingetretenen oder einzutreten drohenden Erfolg ein gefährliches sein muss, sodass es die nahe, adäquate, unmittelbare Gefahr des Erfolgseintritts begründet. Die Gefahr der Rechtsgutsbeeinträchtigung muss in dem Tun bereits objektiv erkennbar angelegt sein. 2. Unterschiedliche Konsequenzen aus den gemeinsamen Voraussetzungen Aus der übereinstimmenden Prämisse, dass die Vortat eine nahe, adäquate, unmittelbare Gefahr für das geschützte Rechtsgut begründet haben müsse, werden allerdings unterschiedliche Konsequenzen gezogen. Die einen gehen davon aus, dass das vorausgegangene Tun entweder einen zu einer Rechtsgutsbeeinträchtigung hinstrebenden Kausalverlauf auslösen oder die Gefahr einer Straftat oder Selbstverletzung hervorrufen kann,2 während die anderen die Entstehung einer Garantenposition in der zweiten Alternative ablehnen. Sie betonen, dass das Verantwortungsprinzip hier einer Garantenpflicht aus Ingerenz entgegenstehe, weil das eigenverantwortliche Verhalten desjenigen, der die Straftat oder die Selbstverletzung begehe, der denkbaren strafrechtlichen Haftung anderer insoweit eine Grenze setze.3 Denn derjenige, der 1 Eingehend dazu mwN Otto FS Gössel, 2002, zum einen S. 106f, zum anderen S. 101ff; Roxin Strafrecht, A.T. II, 2003, zum einen § 32 Rn 147f, zum anderen § 32 Rn 158f. 2 Eingehender dazu Gössel in: Maurach/Gössel/Zipf, Strafrecht, A.T. 2, 7. Aufl. 1989, § 46 Rn 106; Herzberg Die Unterlassung im Strafrecht und das Garantenprinzip, 1972, S. 306ff; Roxin FS Gallas, 1973, S. 257f; Rudolphi/Stein SK, Stand: Sept. 2009, § 13 Rn 41, 42. 3 Dazu OLG Karlsruhe MDR 1993, 266 mit Anm. Otto JK 1993, StGB § 13/23; Burgstaller Das Fahrlässigkeitsdelikt im Strafrecht, 1974, S. 107, 119f; Freund Erfolgsdelikt und Unterlassen, 1992, S. 237f; Frisch Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolges, 1988, S. 306f; Kühl Strafrecht, A.T. 6 Aufl. 2008, § 18 Rn 104; Otto (Fn 1), S. 107; ders. Grundkurs Strafrecht, A.T., 7. Aufl. 2004, § 9 Rn 78; Lenckner/Eisele in: Schönke/
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lediglich eine Rechtsgutsbeeinträchtigung durch eine andere Person veranlasst, ermöglicht oder fördert, ist gerade nicht derjenige, dem diese Rechtsgutsbeeinträchtigung als sein eigenes Werk zugerechnet werden kann. Wer daher einen anderen zu einer gefährlichen Vortat anstiftet oder diese Tat zB durch Lieferung der Tatwerkzeuge ermöglicht bzw durch hilfreiche Ratschläge fördert, begeht die Vortat gerade nicht selbst, sondern nimmt lediglich an der fremden Vortat teil. Diese Zurechnung lässt sich auch nicht dadurch umkehren, dass die Veranlassung, Ermöglichung oder Förderung der Vortat in ein vorausgegangenes gefährliches Tun umgedeutet wird, das eine Täterschaft durch Unterlassen begründet. Wer daher durch sein eigenes Tun die Gefahr einer Straftatbegehung durch einen anderen hervorruft, ermöglicht oder fördert, begeht die Straftat nicht selbst, noch hat sich in dieser Straftat die Gefahr eines vorangegangenen gefährlichen Tuns verwirklicht. Die Straftat ist Werk des vollverantwortlichen Täters, der sie verwirklicht, nicht aber der Personen, die sie dadurch ermöglicht, hervorgerufen oder gefördert haben, dass sie den Täter auf die Idee der Straftat gebracht oder in seiner Idee verfestigt haben, soweit nicht die Voraussetzungen der Teilnahme durch positives Tun vorliegen.4 – Gefährlich im Sinne der Ingerenz ist nach dieser Auffassung nur ein Tun, das die Chancen für den Eintritt einer Rechtsgutsbeeinträchtigung dergestalt begründet oder erhöht, dass sich aus der geschaffenen Situation als solche die – in ihr angelegte – Rechtsgutsbeeinträchtigung realisiert. Das ist zB der Fall, wenn jemand einen anderen ohne Tötungsvorsatz am Körper verletzt, sodann aber erkennt, dass die Verletzung zum Tode führen wird, wenn dem Verletzten nicht ärztliche Hilfe zu Teil wird, oder wenn jemand einen anderen ohne Tötungsvorsatz nachts auf einer dunklen, aber durchaus von Autos befahrenen Straße niederschlägt und auf der Fahrbahn liegen lässt.
II. Die Position des BGH 1. BGH 1 StR 729/81 = StV 1982, 218 Sachverhalt: K und V überfielen auf Vorschlag des K die 73 Jahre alte Frau Kr, um ihr Geld wegzunehmen. Sie misshandelten und würgten Kr ohne Tötungsvorsatz. Kr blieb schließlich bewusstlos am Boden liegen. K nahm aus einer Geldbörse der Kr einen 100-DM-Schein. Sodann machten K und V Schröder, StGB, 28. Aufl. 2010, Vor § 13ff Rn 101; Renzikowski Restriktiver Täterbegriff und fahrlässige Beteiligung, 1997, S. 264ff; Sowada Jura 2003, 245; Stratenwerth/ Kuhlen Strafrecht, A.T. I, 5. Aufl. 2004, § 13 Rn 36; Stree FS Klug, Bd. 2, 1983, S. 404; Welp Vorangegangenes Tun als Grundlage einer Handlungsäquivalenz der Unterlassung, 1968, S. 274ff; Wolter JuS 1981, 174. 4 Dazu bereits Otto (Fn 1), S. 113.
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eine ausgiebige Zechtour. Nach einigen Stunden kehrten sie zurück. Frau Kr lag nach wie vor am Boden, stöhnte und rief um Hilfe. Nunmehr entschloss sich V, die Kr zu töten, weil sie ihn gesehen hatte, und teilte dieses dem K mit. K versuchte den V von seinem Plan durch Zureden abzubringen. Dieser führte seinen Plan, wie K sah, jedoch aus. Er brachte Frau Kr durch Schläge, Würgen und Strangulieren zu Tode. Der BGH sieht in der eigenverantwortlichen Entscheidung des V, die Kr zu töten, kein Hindernis für eine Haftung des K für den Tod der Kr aufgrund vorausgegangenen gefährlichen Tuns: „Er hatte den Überfall auf das Tatopfer vorgeschlagen und er hat an der körperlichen Misshandlung, durch die Frau Kr in eine hilflose Lage gebracht worden ist, in der ‚ersten Tatphase‘ eigenhändig als Mittäter mitgewirkt; nach der gemeinsamen Zechtour schließlich ging K mit V zum Tatort zurück. Durch sein Verhalten hat der Angeklagte K unmittelbar dazu beigetragen, dass V zur Tötung des wehrlosen Opfers schritt, um die zuvor gemeinsam begangene Straftat zu verdecken. Den Angeklagten K traf damit die Pflicht, einzugreifen, um den Tod der Frau Kr zu verhindern.“5 Geilen hat in einer Anmerkung geltend gemacht, dass das allgemein anerkannte Erfordernis der Ingerenz, die Begründung einer nahen Gefahr für den tatbestandsmäßigen Erfolg hier zweifelhaft sei, da ein gemeinschaftlicher Raubüberfall noch keine mit dem nahen Risiko einer anschließenden Verdeckungstötung verbundene Gefährdung zu sein brauche.6 Stree hingegen bejaht das Vorliegen einer nahen Gefahr. Er geht davon aus, dass bei mittäterschaftlichem Handeln eine rechtspflichtbegründende generelle Eignung zur Herbeiführung eines späteren Schadens durch ein tatverdeckendes Delikt vorliege, wenn ohne diese Mitwirkung die verdeckte Tat unterblieben wäre, sodass für eine Tatverdeckung kein Anlass bestanden hätte. Hier hätte K die Gefahr eines tatverdeckenden Delikts mithervorgerufen, da dessen Begehung aufgrund der konkreten Umstände – der Raubüberfall ging auf den Vorschlag des K zurück; es bestand zudem eine zeitliche Nähe zwischen dem Überfall und der Tötung der Tatzeugin – nahe lag. Daher sei am Merkmal der Mitverursachung der nahen Gefahr für das Tatopfer, später getötet zu werden, kaum zu rütteln.7 Jedoch bestreitet Stree, dass die bloße Mitverursachung der Gefahr eines tatverdeckenden Delikts bereits eine hinreichende Grundlage für eine Garantenpflicht bildet und gibt zu bedenken, dass der Täter des tatverdeckenden Delikts eigenverantwortlich das getan habe, was ihn nachher dazu veranlasst habe, die weitere Straftat zu begehen, und zwar wiederum eigenverantwortlich.8 Neben das Merkmal 5 6 7 8
BGH StV 1982, 218. Geilen JK 1982, StGB 13/4. Stree (Fn 3), S. 396f. Stree (Fn 3), S. 397.
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der „nahen Gefahr“ müsse aber als weiteres Einschränkungskriterium für die Garantenstellung aus vorausgegangenem Tun das Merkmal der „Pflichtwidrigkeit des Verhaltens“ treten. Dieses Merkmal erfasse jedoch nicht jede Pflichtwidrigkeit. Die Verantwortlichkeit für ein weiteres Geschehen könne einen pflichtwidrig Handelnden nur treffen, „wenn das Vorverhalten gerade in seiner Pflichtwidrigkeit auf das zusteuert, was unterbunden werden soll, und es damit den Bereich der Norm berührt, die dem Schutz vor dem drohenden Erfolg dient“9. Dieser – notwendige – Pflichtwidrigkeitszusammenhang zwischen der rechtswidrigen Vorhandlung und dem späteren tatverdeckenden tatbestandsmäßigen Erfolg fehle aber, da tatverdeckende Delikte, soweit sie nicht vom gemeinschaftlichen Tatentschluss umfasst seien, ebenso Exzesshandlungen seien, wie die sonstigen vom gemeinschaftlichen Tatentschluss nicht getragenen Ausweitungen des Tatgeschehens durch einen Mittäter. Es lägen zwar Bezugspunkte zur gemeinschaftlichen Vortat vor, doch reichten diese nicht aus, anderen Mittätern die Rechtspflicht aufzuerlegen, sich gegen die Tatausweitung zu wenden und das tatverdeckende Delikt zu verhindern. „Sie stellen als solche noch nicht den erforderlichen Pflichtwidrigkeitszusammenhang zwischen dem vorausgegangenen Tun und der Ausweitung des Tatgeschehens her“.10 Festzustellen sei daher, „dass ein Mittäter nicht bereits auf Grund der Mitwirkung an der gemeinschaftlichen Tat rechtlich verpflichtet ist, einen eigenmächtig und eigenverantwortlich handelnden Komplizen an der Begehung eines tatverdeckenden Delikts zu hindern“11. Daher sei im vorliegenden Fall eine Garantenstellung aus vorangegangenem Tun, die damit begründet werde, dass der später untätig gebliebene Mittäter bei Begehung des gemeinschaftlichen Raubes das Tatopfer in eine hilflose Lage gebracht habe, die im Zeitpunkt der Tötung noch fortbestand, abzulehnen.12 Kritisch anzumerken ist zu dieser Überlegung Strees, dass der Begriff der nahen Gefahr inhaltsleer bleibt. Wenn es allein darauf ankommt, ob ohne Mitwirkung des später Untätigen die verdeckte Tat unterblieben wäre, sodass für eine Tatverdeckung kein Anlass bestanden hätte, so wird hier ein lediglich kausaler Beitrag für die Verdeckungstat erfasst, der durchaus als Gefahrbegründung bezeichnet werden kann. Eine nahe, unmittelbare oder adäquate Gefahr der späteren Tatbegehung wird damit aber gerade nicht beschrieben. Eine normative Präzisierung des Begriffs der nahen Gefahr unterbleibt. Doch auch empirisch kann von einer nahen Gefahr für die Begehung einer Verdeckungstat durch Mitwirkung an der zu verdeckenden Tat keine Rede sein. So erfasst die Polizeiliche Kriminalstatistik 2008 zB rund 50.000 Fälle 9 10 11 12
Stree (Fn 3), S. 399. Stree (Fn 3), S. 401. Stree (Fn 3), S. 402. Stree (Fn 3), S. 404.
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von Raub, räuberischer Erpressung und räuberischem Angriff, die in nur 35 % auf einen allein handelnden Tatverdächtigen hinweisen. Die bekannt gewordenen Verdeckungstaten, in denen nicht sämtliche Beteiligte den Plan der Verdeckungstat fassen und ausführen, dürften demgegenüber zahlenmäßig geradezu verschwindend sein. Empirisch jedenfalls ist eine nahe Gefahr der Verdeckungstat nicht begründbar. Gefahr durch Mitverursachung und nahe Gefahr werden letztlich identifiziert. Zutreffend ist hingegen der Hinweis von Stree, dass das Verbot von Raub, Körperverletzung und sonstigen Gewalttätigkeiten inhaltlich nicht dem Schutz davor dient, dass dritte Personen das Opfer der Gewalteinwirkung aus eigenem Entschluss angreifen und ihm weitere Verletzungen zufügen, sodass der Pflichtwidrigkeitszusammenhang zwischen der Beteiligung an der Vortat und der diese Vortat verdeckenden Tat unterbrochen ist.13 Die Ausführungen des BGH, auf die die Garantenstellung aus Ingerenz gegründet sind, haben daher in der Tat kaum Überzeugungskraft, wenn man mit dem Begriff der nahen Gefahr ernst macht oder mit Stree und der hM einen Pflichtwidrigkeitszusammenhang zwischen Vortat und Verdeckungstat fordert. 2. BGH 3 StR 245/84 = NStZ 1985, 24 Sachverhalt: A, K und Ka hatten den R ohne Tötungsabsicht zusammengeschlagen. Anschließend fasste K den Plan, den R zu töten und setzte seinen Entschluss in die Tat um. R überlebte gleichwohl. – Ob A in der Lage und es ihm zumutbar gewesen war, dem Angriff des K entgegenzutreten und den R zu schützen, hat das Landgericht – nach Auffassung des BGH – nicht hinreichend geklärt. Für den Fall, dass A in der Lage und es ihm zumutbar war, den R zu schützen, geht der BGH von einer Garantenstellung des A aus, gibt aber keine eigenständige Begründung für diese Garantenstellung. Unter Bezug auf BGH StV 1982, 218 legt er dar, dass sich die Garantenstellung des Gehilfen, die für ihn eine Erfolgsabwendungspflicht begründet, aus einer Beteiligung an einer von mehreren gemeinschaftlich verübten rechtswidrigen Körperverletzung ergeben könne, ohne – hier wird Bezug genommen auf BGH 4 StR 724/83 – dass es darauf ankomme, ob die Lebensgefahr für das Opfer gerade aus Art und Umfang der Mitwirkung des Gehilfen an der vorangegangenen Straftat erwachse. Die Annahme einer Garantenpflicht hänge auch nicht notwendig davon ab, ob sich die Lebensgefahr für das Opfer unmittelbar aus den ihm durch die Körperverletzung zugeführten Verletzungen ergebe. Es könne auch ausreichen, dass sie mittelbar aus den Verletzungen entstehe, weil die durch die Körperverletzung geschaffene Lage des Opfers zur Folge habe, 13
Dazu auch Küper JZ 1981, 573f.
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dass sich eine andere Ursachenreihe tödlich auswirken könne, der Verletzte zB, hilflos auf der Fahrbahn liegend, von einem Kraftfahrzeug überfahren zu werden drohe. Eine solche von außen hinzugetretene weitere mögliche Todesursache, deren Auswirkung der Gehilfe dann abwenden müsse, könne sogar in einem vorsätzlichen Angriff eines Dritten gegen das Opfer liegen, dies insbesondere dann, wenn der Angriff wie hier – von einem Mittäter der vorausgegangenen gemeinschaftlichen Körperverletzung – gleichsam in deren Fortsetzung zu erwarten ist.14 Abschließend verweist der BGH darauf, dass auch in anderen Fällen, in denen es um strafrechtliche Verantwortlichkeit für eigenes Verhalten eines Beschuldigten gehe, vorsätzliches Handeln eines Dritten nicht dazu führe, einen denselben Erfolg betreffenden Ursachenzusammenhang zu unterbrechen, dessen Ablauf der Beschuldigte ausgelöst habe.15 Als Auseinandersetzung mit der Bedeutung des Verantwortungsprinzips in der hier relevanten Fallkonstellation wird man die Bemerkungen des BGH zur Ablehnung einer Unterbrechung des Ursachenzusammenhangs kaum interpretieren können.16 Doch auch der Schluss von der Verpflichtung, den Verletzen aus der Gefahr, von einem Kraftfahrzeug überfahren zu werden, zu retten, auf die Situation vorsätzlicher Schädigung durch einen Dritten geht fehl. Wesentlich ist nicht, dass es sich in beiden Fällen um von außen kommende Ereignisse handelt, sondern dass beide Kausalketten – aufgrund der Eigenverantwortlichkeit des Dritten – grundverschieden sind. – Letztlich wird die Garantenstellung allein auf die Beteiligung an den vorangegangenen Misshandlungen gegründet, da diese für den späteren Tatentschluss kausal waren. Die Entscheidung führt über BGH StV 1982, 218 nicht hinaus. 3. BGH 3 StR 300/85 = StV 1986, 59 Sachverhalt: F und S misshandelten den R schwer, um ihn zu ärgern. Während F noch zutrat, wandte S sich ab und rief dem F zu, aufzuhören. F holte jedoch aus einer 13 Meter entfernten Straßensperre einen 9,3 kg schweren und 1,10 m hohen eisernen Poller, den er mit Tötungsvorsatz aus einer Entfernung von 80 cm mindestens einmal in das Gesicht des R fallen ließ. R verstarb. S hatte erkannt, dass F mit dem Poller den Kopf des R misshandeln wollte, griff aber nicht ein. Die Unterlassungstäterschaft des F berührt der BGH in den Urteilsgründen nur kurz, indem er darlegt, dass die Ausführungen, mit denen das Landgericht eine Garantenverpflichtung zur Erfolgsabwendung des S aufgrund der gemeinsamen vorausgegangenen Misshandlung, die Kausalität der Unter14 15 16
BGH NStZ 1985, 24. BGH NStZ 1985, 24 unter Bezug auf RGSt 61, 318, 320; 64, 316, 318; 64, 370, 372f. Dazu auch Otto JK 1985, StGB § 13/7.
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lassung für die Tötung und die Kenntnis des S vom Tötungsvorsatz des F festgestellt habe, aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden seien.17 – Offenbar wird die Garantenpflicht auf die gemeinsame vorausgegangene Misshandlung gegründet.18 Auch Klaus Geppert bemängelt in seiner Anmerkung zu der Entscheidung die lapidar begründete Garantenstellung und weist darauf hin, dass hier eine Auseinandersetzung mit der Frage, ob eine nahe, adäquate Gefahr, die zudem typische Folge der Pflichtwidrigkeit sein müsse, vorgelegen habe, angemessen gewesen wäre, da diese Gefahr im Schrifttum verneint werde, wenn ein Dritter die durch Pflichtwidrigkeit geschaffene Lage zu eigener Vorsatztat ausnutze.19 4. BGH 3 StR 95/91 = NStZ 1992, 31 Sachverhalt: S und M misshandelten den T schwer. M fügte dem T mit einer Rasierklinge aus einem Rasierapparat mehrere Schnittwunden im Brust- und Bauchbereich zu. Um dem M sein Einverständnis mit dessen Vorgehen zu zeigen und ihm zu imponieren, brachte S dem T weitere Schnittwunden bei. M versetzte dem T einen Kopfstoß und schlug ihm mit der Faust in den Unterleib. M trat den T mehrfach. S und M entfernten sich sodann zum Bier holen. Als sie zurückkamen, rief S die Mutter des T an und erfuhr von dieser, dass sie bereits die Polizei verständigt habe. Als S dem M dieses mitteilte, geriet dieser noch mehr in Wut und entschloss sich, den T zu töten. Er drosselte den T mit einem Elektrokabel bis dieser röchelnd wegsackte. Anschließend schlug er ihm mit einem Hammer auf den Kopf. – Als M begann, den T zu drosseln, erkannte S, dass M den T töten wollte. Die Hammerschläge kamen unter Umständen überraschend für S. – T starb in Folge der Gewalthandlungen. Der BGH lässt es ausdrücklich dahinstehen, ob allein aus der Beteiligung des S an den vorangegangenen Misshandlungen eine Garantenstellung des S erwachsen sei, obwohl die dabei zugefügten Verletzungen für sich gesehen keine Gefahr für das Leben des später Getöteten ergeben hatten. Nach seiner Auffassung begründeten aber die Wirkungen, die von der Beteiligung an den Misshandlungen auf den M ausgingen, die Verpflichtung des S, die Tötung des T zu verhindern: „Dadurch, dass er das Tatopfer selbst misshandelte, 17
BGH StV 1986, 59. Gleich knapp BGHSt 38, 356, 358: „Auf Grund der gemeinschaftlichen schweren Misshandlung des Opfers, das danach allein, bewusstlos und blutend am Boden lag, war der Angeklagte R unter dem Gesichtspunkt des vorangegangenen gefährdenden Tuns (Ingerenz) verpflichtet, den weiteren Angriff seines Mittäters auf das Leben des Opfers zu verhindern und die tödliche Wirkung eines solchen Angriffs zu vereiteln.“ 19 Geppert JK 1986, StGB § 13/8 unter Hinweis auf Otto/Brammsen Jura 1985, 651f; Stree in: Schönke/Schröder, StGB, 22. Aufl. 1985, § 13 Rn 35a; Stree (Fn 3), S. 395ff. 18
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brachte der Angeklagte sein Einverständnis mit dem brutalen Vorgehen des M zum Ausdruck und gab ihm so zu verstehen, dass dieser sich bei seinen Gewalttätigkeiten nicht etwa deswegen, weil sie in seiner, des Wohnungsinhabers, Anwesenheit geschahen, Hemmungen aufzuerlegen brauchte. Die daraus folgende Bestärkung erhöhte die Gefährlichkeit des M für das spätere Tatopfer. Bei seiner Alkoholisierung und seiner Wut auf T, die durch die Mitteilung des Angeklagten über den Inhalt des mit der Mutter des Tatopfers geführten Telefongesprächs – absehbar – gesteigert worden war, bestand angesichts der vorausgegangenen Misshandlungen die Gefahr, dass der Mitangeklagte M jede Hemmung verlieren und T lebensgefährlich verletzen würde. Diese Gefahr verwirklichte sich in seinen Tötungshandlungen.“20 Damit, so meint der BGH, erfüllte das gefährdende Vorverhalten des S auch das Erfordernis, dass es „die nahe Gefahr des Schadenseintritts“ in sich barg. a) Mit dem Wechsel in der Begründung der Ingerenz von der Beteiligung an der Vortat zur Bestärkung des Tatentschlusses des Täters durch Beteiligung an der Vortat präzisiert der BGH nicht nur die Anforderungen an das vorausgegangene gefährliche Tun, wie H. Schneider meint,21 sondern gibt der Garantenstellung eine andere Grundlage, doch auch diese ist erheblichen Einwänden ausgesetzt. b) Neumann, der sich eingehend mit der Entscheidung des BGH auseinandersetzt, kommt zu dem Ergebnis, dass die Argumentation des Senats nicht zu überzeugen vermag.22 aa) Schon die tatsächlichen Feststellungen tragen seiner Auffassung nach nicht die Annahme, der S habe durch sein Verhalten die von M für das Leben des Opfers ausgehende Gefahr in relevantem Maße erhöht. Er gibt zu Bedenken, dass zwischen den gemeinschaftlichen Misshandlungen des Opfers und den Tathandlungen des M nicht nur eine zeitliche Zäsur lag, sondern dass der Entschluss des M, das Opfer zu töten, erst durch den zum Zeitpunkt der Misshandlungen nicht vorhersehbaren Anruf der Mutter des Opfers hervorgerufen wurde. – Aber selbst dann, wenn man unterstellen würde, dass die Aggressionsbereitschaft des M durch die Beteiligung des S an den Misshandlungen in einer irgendwie fassbaren Weise bestärkt worden wäre und die Bestärkung bei den vorsätzlichen Tötungshandlungen des M in irgendeiner Weise „weitergewirkt“ hätte, so würde es an dem Erfordernis einer „nahen Gefahr“ für den Schadenseintritt fehlen, denn dass die gemeinsame Misshandlung eines Dritten generell geeignet sei, „die Gefahr zu begründen, dass 20 21 22
BGH NStZ 1992, 31. H. Schneider NStZ 2004, 92. Neumann JR 1993, 161.
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einer der Täter aufgrund einer neuen Sachlage (Telefonanruf) den Entschluss fassen wird, das Opfer zu töten, wird sich nicht behaupten lassen“23. bb) Den entscheidenden rechtlichen Mangel des Urteils erkennt Neumann aber darin, dass die Fälle in denen eine Handlung erst durch die Vermittlung einer verantwortlichen Tat einer anderen Person zum Erfolg führt, nicht mit denen einer unmittelbaren Erfolgsverursachung über einen Leisten geschlagen werden dürfen. Schon anhand der Teilnahmeregeln, §§ 26, 27 StGB, erweise sich, dass die allgemeinen Zurechnungsregeln auf diese Fallkonstellation nicht einfach übertragen werden können: „Der Anstifter, der pflichtwidrig das Risiko der Ausführung einer rechtsgutsverletzenden Handlung geschaffen, der Gehilfe, der das Risiko einer Rechtsgutsverletzung pflichtwidrig erhöht hat, werden für die resultierende Rechtsgutsverletzung nicht als Täter verantwortlich gemacht. Das Arrangieren einer gefährlichen Sachlage wird im Bereich vorsätzlich bewirkter Rechtsgutsverletzungen anders gewertet als die Veranlassung eines anderen zur Vornahme einer Rechtsgutsverletzung.“24 Das zeige sich eindeutig an den gesetzlich vorgesehenen Konsequenzen, denn nach der Regelung der §§ 26, 27 StGB ergebe sich, dass dann, wenn ein anderer den M in seinem Vorsatz zu töten, vorsätzlich bestärkt hätte, dieser lediglich wegen „psychischer“ Beihilfe zu einem Tötungsdelikt verurteilt worden wäre. Vor dieser gesetzlichen Entscheidung könne es aber nicht richtig sein, denjenigen, der den Täter in seinem zum Tode führenden Vorgehen unvorsätzlich bestärkt habe, auf dem Umweg über § 13 StGB wegen einer täterschaftlich begangenen Tötung zu bestrafen. Wolle man dieses – sachwidrige – Ergebnis vermeiden, so müsse man anerkennen, dass die Eigenverantwortlichkeit des verantwortlich handelnden Vorsatztäters die Zurechnung des Erfolges zu dem unvorsätzlich handelnden Hintermann blockiere, denn für seinen Motivationsprozess sei der Täter allein zuständig, soweit das Strafgesetz nicht unter dem Gesichtspunkt der „Solidarisierung mit fremden Unrecht“ für die vorsätzliche Förderung des Tatentschlusses Strafbarkeit wegen Teilnahme, §§ 26, 27 StGB, statuiere.25 c) Den Risiko- bzw. Pflichtwidrigkeitszusammenhang zwischen der gemeinsamen Vortat und der nachfolgenden Tötungshandlung stellt Seelmann in Frage.26 Er erwägt, unter welchen Voraussetzungen es Zweck der Sorgfaltsnormen zur Verhinderung von Lebensgefahren sein könne, das vorsätzliche Tötungsdelikt eines anderen abzuwehren. Kriterien könnten in die23
Neumann (Fn 22), 161. Neumann (Fn 22), 161f. 25 Neumann (Fn 22), 162; vgl. auch Kühl (Fn 3), § 18 Rn 104; Otto NJW 1974, 528ff; ders. JK 1992, StGB § 13/18. 26 Seelmann StV 1992, 416f. 24
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ser Hinsicht sein, ob eine erkennbare Tatgeneigtheit gefördert wurde, ob der mittelbar Verursachende seine Verhaltensweise selbst als Teil eines Deliktsplans definieren muss oder sein Verhalten „Plänen anderer anpasst, die nur deliktisch motiviert sein können“, oder ob die Handlung des Hintermannes so beschaffen ist, dass „der Deliktsbeitrag nicht nur als möglicher, sondern als ihr einzig denkbarer Zweck erscheint“27. Doch diese Kriterien müssten im vorliegenden Fall eher zu einer Verneinung der Zurechnung führen. 5. BGH 4 StR 116/97 = NStZ-RR 1997, 292 Sachverhalt: A, B und F begaben sich in die Wohnung der K, um dieser gewaltsam Geld wegzunehmen. In der Wohnung entschlossen sich B und F, bei dieser Gelegenheit auch den Geschlechtsverkehr mit der Frau auszuüben, und begannen trotz ihrer Gegenwehr, sie auszuziehen. Dem A behagte dieses nicht. Seine Aufforderung, dies sein zu lassen, blieb aber erfolglos. A verließ daraufhin den Raum. Als er zurückkam, wurde ihm klar, dass B und F nunmehr dazu übergingen, den Geschlechtsverkehr gegen den Willen der Frau auszuüben. Dies nahm A hin. Der BGH lehnt eine auf Verhinderung der Vergewaltigung gerichtete Garantenstellung des A ab. Er geht davon aus, dass eine Garantenstellung aus vorangegangenem Tun voraussetze, dass das Vorverhalten die nahe Gefahr des Eintritts gerade des tatbestandsmäßigen Erfolges herbeigeführt haben müsse, und gesteht zu, dass dies der Fall sein könne bei der Beteiligung an Misshandlungen und der anschließenden Tötung des Opfers durch einen anderen Mittäter, wenn das vorausgegangene Verhalten eine Gefahrerhöhung für das Opfer dadurch bewirke, dass der Täter in seinem zum Tod führenden Vorgehen bestärkt wurde,28 um sodann festzustellen: „Dass aber die gemeinschaftliche Planung eines Raubes die nahe Gefahr der Vergewaltigung des Opfers durch die Mittäter herbeigeführt habe, trifft nicht zu.“29 – Diesem Argument kann nur zugestimmt werden. 6. BGH 1 StR 430/97 = NStZ 1998, 83 Sachverhalt: A und M hatten sich über den J geärgert. A erklärte, dass er dem J „eine reindreschen wolle“. Dem schloss sich M an. Daraufhin packte M den J, schüttelte ihn und schlug ihm mit dem Griff eines mitgeführten Messers ins Gesicht und fügte aufgrund krankheitsbedingt gesteigerter Aggression dem J mit dem Messer zwei Schnitte in der zentralen Schläfenregion zu. A forderte den M auf, von J abzulassen. Das tat M. – J, der sodann 27
Seelmann (Fn 26), 417 m.N. BGH NStZ-RR 1997, 292f unter Hinweis auf BGH NStZ 1985, 24; BGH NStZ 1992, 31. 29 BGH NStZ-RR 1997, 292, 293f. 28
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versucht hatte, sich in einem Fluss das Blut aus dem Gesicht zu waschen, geriet dabei bis zu den Knien ins Wasser. Nachdem er aus dem Wasser herausgekommen war, schleppte er sich weiter, bis ihn die Kräfte verließen. Er setzte sich bei leichtem Bodenfrost an einen Gartenzaun. Am Morgen verstarb er dort an Unterkühlung im Zusammenwirken mit dem Blutverlust und seiner Alkoholisierung. a) Der BGH sieht das strafrechtlich relevante Verhalten des A in seiner Äußerung, er werde dem J „eine reindreschen“, da diese Äußerung den M in dem Entschluss bestärkte, eine Körperverletzung zu begehen. Gleichwohl lehnt der BGH eine Garantenstellung des A zur Abwendung des Todes des J ab, da die Lebensgefahr erst durch die nachfolgende gefährliche Körperverletzung unter Einsatz des Messers entstanden sei. Diese gefährliche Körperverletzung durch M sei dem A aber nicht zuzurechnen. Diese Handlung sei durch die gesteigerte Aggression des M hervorgerufen worden, die auf eine schwere dissozial geprägte Verhaltensstörung und eine hirnorganische Erkrankung zurückgingen. Dieses habe A nicht erkennen können. Bei der Verletzung des J durch den M mit dem Messer habe es sich daher um eine Exzesshandlung des M gehandelt, die dem A nicht zugerechnet werden könne.30 Das Argument, dass die Begründung einer nicht vorhersehbaren Gefahr keine nahe Gefahr begründe, zumindest aber dem Tatbeteiligten dem sie nicht vorhersehbar war, nicht zugerechnet werden kann, ist durchaus überzeugend. b) Auch in weiteren Entscheidungen hat der BGH betont, dass Handlungen eines an einer Straftat Beteiligten, die für einen Mitbeteiligten nicht vorhersehbar waren, diesem nicht zugerechnet werden können, weil sie für diesen eine Exzesshandlung des anderen Mitbeteiligten darstellen.31 7. Die Fortführung von BGH 3 StR 95/91 = NStZ 1992, 31 Im Anschluss an die Entscheidung BGH 3 StR 95/91 stellt der BGH bei der Begründung der Garantenstellung aus Ingerenz aufgrund der Beteiligung an vorausgegangenen Misshandlungen oder Gewalttätigkeiten grundsätzlich darauf ab, ob das vorausgegangene Verhalten eine Gefahrerhöhung für das Opfer dadurch bewirkte, dass der oder die Täter der Folgetat in der Verwirklichung dieser Folgetat bestärkt wurden.32 30
BGH NStZ 1998, 83, 84. Vgl. BGH NJW 1999, 69, 72 mit Anm. Geppert JK 1999, StGB § 212/4; BGH NStZ 2000, 583; BGH NStZ 2004, 89, 90; dazu H. Schneider (Fn 21), 93. 32 BGH NStZ 2000, 583; BGH NStZ 2004, 294, 295; BGH NStZ-RR 2009, 309, 310; BGH NStZ 2009, 381, 382 (nach dem mitgeteilten Sachverhalt liegt hier eine Beteiligung durch aktives Tun näher). 31
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Auch die Billigung einer Tat soll diesen Anforderungen genügen können: „Zwar reicht die bloße Anwesenheit am Tatort in Kenntnis einer Straftat selbst bei deren Billigung nicht aus, die Annahme von Beihilfe iS aktiven Tuns zu begründen […]. Die Hilfeleistung iSd § 27 I StGB kann jedoch auch in der Billigung der Tat bestehen, wenn sie gegenüber dem Täter zum Ausdruck gebracht und dieser dadurch in seinem Tatentschluss oder in seiner Bereitschaft, ihn weiter zu verfolgen, bestärkt wird und der Gehilfe sich dessen bewusst ist […]. Eine solche psychische Beihilfe begründet unter dem Gesichtspunkt des pflichtwidrigen, gefahrerhöhenden Vorverhaltens (Ingerenz) eine Garantenstellung, da durch sie die mit der Tatausführung verbundene Gefahr für das Leben des Tatopfers – … – zumindest erhöht wird.“33 Problematisch ist in dieser Argumentation, dass die Bestärkung des Tatentschlusses des oder der Täter der Folgetat durch Mitwirkung an der Vortat oder durch Billigung dieser Vortat letztlich eine Fiktion bleibt. Die Annahme einer Beihilfe durch Bestärkung des Tatentschlusses interpretiert die Beihilfe letztlich als abstraktes Gefährdungsdelikt, denn der Nachweis einer konkreten Gefahrerhöhung ist jedenfalls nicht durch den Hinweis zu führen, dass der endgültig zur Tat Entschlossene durch Beihilfs-, Zustimmungs- oder Solidaritätsbekundungen noch „entschlossener“ gemacht werden kann.34 Erforderlich für die Annahme der Beihilfe ist der konkrete Nachweis, dass das Verhalten des Gehilfen die Tat objektiv gefördert oder erleichtert hat. Dieses kann der Fall sein, wenn der Gehilfe vorhandene Bedenken des zur Tat entschlossenen Haupttäters hinsichtlich der Art und Weise der Tatbegehung zerstreut, ihm noch vorhandene Skrupel ausredet oder dem Täter verspricht, ihm ein Alibi zu geben.35 – Die bloße Billigung der Tat oder das Bewusstsein, der Mitbeteiligte an einer Vortat werde aufgrund dieser Mitbeteiligung eine Folgetat nicht verhindern, genügen dem nicht. Zutreffend hat Klaus Geppert in der Auseinandersetzung mit BGH NStZ 2002, 139 dargelegt, dass die Entscheidung besonders deutlich mache, was sich hinter der strafrechtsdogmatisch heiklen Rechtsfigur der „psychischen Beihilfe durch Bestärken des Tatentschlusses“ in Wirklichkeit verbirgt: Eine Hilfskonstruktion zur Überwindung von Beweisschwierigkeiten.36 8. BGH 4 StR 488/08 = NStZ 2009, 321 Sachverhalt: Der A verbüßte in der JVA eine Freiheitsstrafe, wo er unter anderem zusammen mit F, P und L in einem Haftraum untergebracht war. P wurde dort von F und dem A gemeinsam in einer „Atmosphäre der Gewalt“ wiederholt in übler Weise gequält und gedemütigt. Drei dieser Vor33 34 35 36
BGH NStZ 2002, 139. Dazu auch Otto (Fn 3), § 22 Rn 56. Dazu auch Geppert JK 2002, StGB § 27/17. Geppert (Fn 35), § 27/17.
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fälle wurden als Straftaten später abgeurteilt. In der Folgezeit wurde P von F gezwungen, auf einen Stuhl zu steigen und seinen Hals in eine zuvor von F an einem Heizungsrohr angebrachte Schlinge zu stecken. Als F den Stuhl zurück zog und bevor P in „Luftnot“ geriet, schritt A mit den Worten „No, no“ ein, woraufhin F von P abließ. An einem anderen Tag fesselte F dem P die Hände auf den Rücken und zog ihm in Gegenwart des A eine Plastiktüte über den Kopf. P gelang es in der von ihm als bedrohlich empfundenen Situation die Fesselung zu lösen und sich die Tüte vom Kopf zu ziehen. a) Der BGH geht davon aus, dass A eine Garantenstellung aus vorangegangnem Tun hatte, Straftaten des F zum Nachteil des P zu verhindern: „In einem Zeitraum von nur zwei Wochen hat der A gemeinsam mit F nicht nur die abgeurteilten Straftaten begangen, sondern P auch darüber hinaus in vielfältiger Weise gedemütigt und ihn auf seine Bitte, dies zu unterlassen, ebenso wie F, mit Fußtritten zu weiterem „Gehorsam“ gezwungen. Damit hat er F zu verstehen gegeben, dass dieser sich bei weiteren Demütigungen und Misshandlungen vergleichbarer Art keine Hemmungen aufzuerlegen brauchte, und die Gefahr weiterer Straftaten – zumal angesichts der Zellensituation – für das Opfer deutlich erhöht.“37 b) Bei genauerer Hinsicht zeigt es sich, dass die Gefahr weiterer Straftaten, die A dadurch mitgeschaffen haben soll, dass er dem F durch die gemeinsamen Taten zu verstehen gegeben habe, er brauche sich bei weiteren Demütigungen und Misshandlungen keine Hemmungen aufzuerlegen, aus der Beteiligung an den Vortaten begründet wird. Der Nachweis einer konkreten Gefahrerhöhung durch eine bestimmte Einflussnahme auf den F wird hier genauso wenig wie in den anderen Fällen der „Bestärkung des Tatentschlusses“ erbracht. Das überzeugt als Begründung einer Garantenstellung aus Ingerenz nicht. Auch Bosch, der sich mit der Entscheidung auseinandersetzt, sieht nach dem mitgeteilten Sachverhalt eher eine Beschützergarantenstellung des A begründet als eine Gefahrenüberwachungsposition. Er gibt zu bedenken, dass den A eine erhöhte Verantwortlichkeit getroffen haben könnte, weil er die Atmosphäre der Gewalt mitgeschaffen habe und der Begehungstäter seine Taten ersichtlich von der Zustimmung des A abhängig gemacht habe. Daher scheine die Position des A eher an eine Beschützergarantenstellung angenähert zu sein.38
37 38
BGH NStZ 2009, 321, 322 mit Anm. Geppert JK 2009, StGB § 27/21. Bosch JA 2009, 657.
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9. Ergebnis Der Überblick über die Rechtsprechung des BGH begründet erhebliche Zweifel an der Berechtigung einer Garantenstellung aus vorangegangenem gefährlichem Tun aufgrund der Beteiligung an vorausgegangenen Misshandlungen oder sonstigen Gewalttätigkeiten. Der Wechsel der Begründung in der Entwicklung der Rechtssprechung – Mitverursachung der Gefahr der späteren Rechtsgutsbeeinträchtigung durch Beteiligung an der Vortat; Bestärkung des Tatentschlusses des Täters der Folgetat durch Beteiligung an der Vortat; Beseitigung von Hemmungen beim Täter der Folgetat durch Beteiligung an der Vortat – kann diese Zweifel nicht ausräumen, sondern bestätigt sie letztlich. Die Problematik der Verantwortung für die kriminelle Motivation eines anderen wird damit nicht erfasst. Der Gedanke des vorangegangenen gefährlichen Tuns erweist sich als der Problematik unangemessen. Die Konstruktion ist sachwidrig. Damit aber ist die Garantenproblematik keineswegs erschöpft, denn es widerspricht offenbar evident dem Rechtsempfinden, dass denjenigen, der einen anderen durch Misshandlungen oder andere Gewalttätigkeiten in eine hilflose Lage versetzt hat, keine Verantwortung treffen soll, wenn das hilflose Opfer nunmehr weitere Schäden erleidet, die der Vortäter ohne weiteres abwenden könnte. Die Gleichstellung des „Vortäters“ mit einem beliebigen Dritten, der zufällig Zeuge des Geschehens wird, erscheint unangemessen. Diese Gleichsetzung scheint auf einen nicht akzeptablen Irrweg zu weisen.
III. Die Verantwortung für die Hilflosigkeit des Opfers als Anknüpfungspunkt für eine Garantenstellung Wiederholt ist in der Rechtssprechung und der Literatur darauf aufmerksam gemacht worden, dass die Garantenstellung aus vorangegangenem gefährlichem Tun und die Garantenstellung aus der Übernahme einer Schutzposition weitgehende Gemeinsamkeiten aufweisen. Durchaus zutreffend hat das OLG Celle die tatsächliche Übernahme eines Pflichtenkreises als von den so genannten Ingerenzfällen kaum wesensverschieden bezeichnet.39 Folgt man diesem Gedankengang und führt ihn über die Übernahme von Schutzpositionen weiter zur Situation der verantwortlich herbeigeführten Hilflosigkeit eines anderen, so wird wiederum die Identität des Garantenpflicht begründenden Kerns dieser Situationen offensichtlich.
39 OLG Celle NJW 1961, 1939, 1940; vgl auch Mitsch JuS 1994, 556; Stree FS H. Mayer, 1966, S. 155; Welzel Das Deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969, S. 215.
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1. Die Garantenstellung aus freiwilliger Übernahme von Schutzfunktionen Eine Garantenstellung aus der freiwilligen Übernahme von Schutzfunktionen wird heute in Rechtsprechung und Literatur weithin anerkannt. Übereinstimmend wird davon ausgegangen, dass sich allein daraus, dass jemand einem Verunglückten oder sonst Hilfsbedürftigem beisteht, noch kein Obhutsverhältnis, dh keine Garantenstellung zur Vollendung der begonnenen Hilfeleistung ergibt. Die Situation ändere sich aber grundlegend, wenn der Helfende durch seine Hilfe die Lage für den Hilfsbedürftigen wesentlich negativ verändert, indem er zB andere Rettungsmöglichkeiten ausschließt oder den Hilfsbedürftigen vorher nicht bestehenden oder jedenfalls nicht in diesem Maße bestehenden Gefahren aussetzt.40 Konstituierend ist danach das Element der „Risikosteigerung“41, der „Gefahrschaffung“42, dh das Element der Erhöhung des Risikos für die körperliche Unversehrtheit des Hilfsbedürftigen.43 Geht es bei der Garantenstellung aus vorangegangenem gefährlichem Tun um die Begründung der nahen, adäquaten, unmittelbaren Gefahr des Eintritts des tatbestandsmäßigen Erfolges, der bereits objektiv erkennbar in dieser Gefahr angelegt sein muss, so geht die Garantenstellung aus der freiwilligen Übernahme von Schutzfunktionen darüber hinaus. Sie erfasst Situationen, in der ein Hilfsbedürftiger durch die Hilfeleistung einer vorher nicht bestehenden oder jedenfalls nicht in diesem Maße bestehenden Gefahr ausgesetzt wird.44 Das ist auch der Fall, wenn der Hilfeleistende pflichtwidrig oder – soweit auch nicht pflichtwidrige Vorhandlungen als Garantenpflicht begründend anerkannt werden – im Zeitpunkt der Handlung nicht vorhersehbare Gefahren für die körperliche Unversehrtheit des Hilfsbedürftigen neu begründet. Hier überschneiden sich die Garantenpflichten aus vorangegangenem gefährlichem Tun und die aus der freiwilligen Übernahme von Schutzfunktionen. Der eigenständige die Garantenpflicht aus der freiwilligen Übernahme von Schutzfunktionen begründende Gefahrsteigerungsaspekt ist hingegen die Beseitigung bestehender oder die Verhinderung bevorstehender 40 Vgl. BGHSt 26, 35, 39; BGH NStZ 1994, 84, 85; OLG Stuttgart NStZ 2009, 102; Brammsen Die Entstehungsvoraussetzungen der Garantenpflichten, 1986, S. 205; Jakobs Strafrecht, A.T., 2. Aufl. 1991, 29/47; Jescheck/Weigend Strafrecht A.T., 5. Aufl. 1996, § 59 IV 3 e; Kindhäuser Strafrecht, A.T., 4. Aufl. 2009, § 36 Rn 79ff; Kühl (Fn 3), § 18 Rn 68ff; Gössel (Fn 2), § 46 Rn 91; Otto (Fn 3), § 9 Rn 64; Roxin (Fn 1), § 32 Rn 53ff; Rudolphi/Stein (Fn 2), § 13 Rn 64; Stree/Bosch in: Schönke/Schröder (Fn 19), § 13 Rn 28; Schünemann Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, 1971, S. 351; Stree (Fn 39), S. 155ff; Wessels/Beulke Strafrecht, A.T., 40. Aufl. 2010, Rn 720. 41 Hoyer NStZ 1994, 85. 42 Arzt JA 1980, 713. 43 OLG Stuttgart NStZ 2009, 102. 44 BGHSt 26, 35, 39.
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alternativer Schutz- oder Rettungspflichten.45 Diese Gefahren sind in der eigentlichen Rettungshandlung keineswegs spezifisch angelegt. 2. Die Garantenstellung aus der Verantwortung für die Begründung der Hilflosigkeit eines anderen a) Vergleicht man die Position desjenigen, der aufgrund einer freiwilligen Übernahme die Gefahr für den Hilfsbedürftigen erhöht oder ihn einer anderen Gefahr ausgesetzt hat, mit der Position desjenigen, der willkürlich, aber verantwortlich die Hilflosigkeit eines anderen durch Misshandlungen oder sonstige Gewalttätigkeiten herbeigeführt hat, so wird deutlich, dass es einen kaum rational erklärbaren Wertungswiderspruch geben würde, wenn man denjenigen, der die Hilflosigkeit eines anderen durch Misshandlungen oder sonstige Gewalttätigkeiten begründet hat, im Hinblick auf etwaige weitere Rechtsgutsbeeinträchtigungen des Hilflosen als beliebigen Dritten ansehen würde. Unter dem Aspekt der Verantwortung ist er gerade kein beliebiger Dritter, sondern derjenige, der für die gefährliche Situation des nunmehr Hilflosen verantwortlich ist und sich daher der weiteren Verantwortung nicht entziehen kann. Nicht die Verursachung irgendeiner Gefahr ist hier das Garantenpflicht begründende Element, sondern die Verantwortung für die Hilflosigkeit des Opfers. In der Literatur hat der Gedanke, dass derjenige, der einen anderen in eine hilflose Lage bringt, Verantwortung dafür trägt, dass andere diese Hilflosigkeit nicht zu weiteren Rechtsgutsbeeinträchtigungen des Hilflosen ausnutzen, durchaus Niederschlag gefunden.46 Zum Teil wird die Verantwortung mit dem zuvor geschaffenen Risikobereich in Verbindung gebracht,47 zum Teil aufgrund der Schaffung der Hilflosigkeit eine Schutzfunktion gegenüber jenen Gefahren konstituiert, die der Hilflose aufgrund seiner Situation selbst nicht abwehren kann.48 – Das erscheint angemessen, denn derjenige, der durch Misshandlungen oder sonstigen Gewalttaten oder durch Beteiligung an derartigen Taten einen anderen in eine hilflose Lage gebracht hat, ist nicht unbeteiligter Dritter an dem Geschehen, sondern als Verantwortlicher für die Hilflosigkeit des anderen Garant dafür, dass kein anderer die Hilflosigkeit zu weiteren Rechtsgutsbeeinträchtigungen ausnutzt.
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Vgl. auch Mitsch (Fn 39), 556. Vgl. Jakobs (Fn 40), § 29/45; ders. FG BGH, Bd. IV, 2000, S. 44ff; Gössel (Fn 2), § 46 Rn 100ff. 47 Arzt StV 1986, 338. 48 Vgl. Geppert (Fn 19), § 13/8; Neumann (Fn 22), 162; Otto (Fn 3), § 9 Rn 74f; ders. (Fn 1), S. 112f. 46
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Harro Otto
b) Der Gedanke der Garantenstellung aus zu verantwortender Hilflosigkeit eines anderen ist nicht auf die Herbeiführung der Situation des Hilflosen durch Misshandlungen oder anderen Gewalttätigkeiten zu beschränken. Nicht die Art der Handlung ist das haftungsbegründende Verantwortungselement, sondern die durch die Handlung herbeigeführte Folge der Hilflosigkeit des anderen. – Das soll im Einzelnen aber nicht weiter ausgeführt werden. Hervorzuheben ist hingegen der Umfang der Haftung, der sich von der auf das vorausgegangene gefährliche Tun gegründeten Haftung des BGH wesentlich unterscheidet. aa) Ist die Verantwortung für die Hilflosigkeit eines anderen das tragende Element für die Garantenstellung, so begründet die Garantenstellung nicht nur die Verpflichtung, weitere Rechtsgutsbeeinträchtigungen durch Beteiligte der Vortat zu verhindern, sondern erfasst auch die rechtsgutsbedrohenden Handlungen Dritter, die die hilflose Lage zu weiteren Rechtsgutsbeeinträchtigungen ausnutzen. bb) Ob die weiteren Rechtsgutsbeeinträchtigungen bereits bei der Begründung der hilflosen Lage vorhersehbar waren, ist irrelevant. Maßgeblich sind Möglichkeit und Zumutbarkeit der Gefahrenabwehr. Schutz hat der Garant auch gegen Exzesshandlungen seiner Mitbeteiligten bei der die hilflose Lage begründenden Tat zu bieten. cc) Einen Grenzfall im Hinblick auf eine Garantenstellung aus zu verantwortender Hilflosigkeit eines anderen hat die Entscheidung des BGH 4 StR 488/08 = NStZ 2009, 321 zum Gegenstand. Die Hilflosigkeit des Opfers beruhte hier nicht auf körperlichen Verletzungen, sondern auf dem Bewusstsein des Opfers, dass Gegenwehr aussichtslos sei und seine Lage nur verschlechtere. Dieses Bewusstsein hatte seine Grundlage in der „Atmosphäre der Gewalt“49, für die seine Peiniger verantwortlich waren. Diese „Atmosphäre der Gewalt“ führte daher durchaus zu einer Hilflosigkeit des Opfers, die in der Aussichtslosigkeit von Gegenwehr begründet war. Die Annahme einer erhöhten Verantwortlichkeit für das Wohl des Opfers aufgrund der Verantwortung für die „Atmosphäre der Gewalt“ erscheint daher angemessen.50
IV. Ergebnis Die Gründung einer Garantenstellung aus der Beteiligung an vorausgegangenen Misshandlungen oder sonstigen Gewalttätigkeiten auf den Gedanken 49 50
BGH NStZ 2009, 321, 322. Vgl. Bosch (Fn 38), 657.
Garantenstellung
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der Ingerenz führt dazu, die bloße Mitverursachung der Folgetaten als haftungsbegründendes Element zu erfassen. Das gilt nicht nur, soweit die bloße Beteiligung an der Vortat als haftungsbegründend angesehen wird, sondern auch dann, wenn auf die „Bestärkung des Tatentschlusses“ durch die Mitwirkung an der Vortat abgestellt wird. Denn diese „Bestärkung des Tatentschlusses“ beruht auf einer Unterstellung. Sie ist eine Hilfskonstruktion zur Überbrückung von Beweisschwierigkeiten. Insofern birgt die Konstruktion die Gefahr, die Garantenstellung der Ingerenz auf die bloße Verursachung bzw. Mitverursachung des Erfolges zu reduzieren. Das aber lehnen Rechtsprechung und Literatur mit Recht ab. Auf der anderen Seite ist die Garantenstellung aus Ingerenz zu eng, um der Problematik der Verantwortung für die Hilflosigkeit eines anderen, die zu weiteren Schädigungen des Hilflosen ausgenutzt wird, gerecht zu werden. Die Verantwortung für die Hilflosigkeit eines anderen muss auch den Schutz vor Rechtsgutsbeeinträchtigung durch Dritte, die die Hilflosigkeit ausnutzen, bieten und vor Exzesshandlungen anderer Mitbeteiligter an der Vortat. Dies erscheint gerade auch im Vergleich mit der weithin anerkannten Garantenstellung aus freiwilliger Übernahme von Schutzfunktion als sachgerecht.
Gefährlichkeit und Gefahr bei den Straßenverkehrsdelikten Henning Radtke I. Straßenverkehrsdelikte als konkrete Gefährdungsdelikte Ein Teil der im Strafgesetzbuch (StGB) statuierten Straßenverkehrsdelikte sind dem Deliktstypus nach konkrete Gefährdungsdelikte.1 Für den Straftatbestand der Straßenverkehrsgefährdung (§ 315c StGB) entspricht es allgemeiner Auffassung, dass dieser in allen seinen Tatvarianten eine durch die jeweilige Tathandlung verursachte konkrete Gefahr für Leib oder Leben eines anderen oder für fremde Sachen von bedeutendem Wert voraussetzt.2 Für § 315b StGB, dem gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr, gilt Gleiches.3 Konkrete Gefährdungsdelikte im Sinne der überkommenen Klassifizierung von Verletzungsdelikten einerseits sowie abstrakten und konkreten Gefährdungsdelikten andererseits verlangen als Tatbestandsmerkmal eine „wirkliche Gefahr“ für das durch den fraglichen Tatbestand geschützte Rechtsgutsobjekt.4 Die Verwendung des Deliktstypus „konkretes Gefährdungsdelikt“ mit dem Tatbestandsmerkmal der konkreten Gefahr wirft auf unterschiedlichen Ebenen gewichtige und nicht einfach zu lösende Rechtsfragen auf. So wird bekanntlich in Bezug auf § 315c StGB uneinheitlich beurteilt, ob der Mitfahrer eines betrunkenen Fahrzeugführers selbst dann ein 1 Zu der überkommenen (rechtsgutsbezogenen) Typisierung „abstraktes Gefährdungsdelikt, konkretes Gefährdungsdelikt, (Rechtsguts)Verletzungsdelikt“ siehe Roxin Strafrecht AT, Band 1, 4. Aufl., 2006, § 11 Rn. 147–163; Radtke Die Dogmatik der Brandstiftungsdelikte, 1998, S. 22 ff.; ders. in: Münchener Kommentar zum StGB, Band 4, 2006, Vor §§ 306 ff., Rn. 5–7; gegen diese Typisierung Hirsch FS für Arthur Kaufmann, 1993, S. 545 (548 f.); Zieschang Die Gefährdungsdelikte, 1998, S. 25 ff.; gegen diese wiederum Koriath GA 1991, 51 (60 f.). 2 Siehe nur BGH NJW 1995, 3131; König in: Leipziger Kommentar zum StGB, Band 11, 12. Aufl., 2008, § 315c Rn. 2; Groeschke in: Münchener Kommentar zum StGB, Band 4, 2006, § 315c Rn. 2. 3 König in: Leipziger Kommentar zum StGB, § 315b Rn. 2. 4 Berz Formelle Tatbestandsverwirklichung und materialer Rechtsgüterschutz, 1986, S. 55; Kindhäuser Gefährdung als Straftat, 1989, S. 189; Zieschang Gefährdungsdelikte, S. 15; Fischer GA 1989, 445 (446); Geppert Jura 1989, 417 (418); Horn/Hoyer JZ 1987, 965; Jescheck/Weigend Strafrecht AT, 5. Aufl., 1996, § 26 II.2. S. 264; Roxin Strafrecht AT 1, § 11 Rn. 147; Horn/Wolters in: Systematischer Kommentar zum StGB, Vor § 306 Rn. 4.
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taugliches Objekt der „konkreten Gefahr“ für Leib oder Leben eines anderen sein kann, wenn dieser Mitfahrer in einer strafbaren Weise an der strafbaren Trunkenheitsfahrt des Fahrers beteiligt ist.5 Setzt sich der Mitfahrer zu dem als betrunken und fahruntüchtig erkannten Fahrzeugführer in den Wagen, liegt darüber hinaus der Gedanke an eine Zustimmung zu dem damit für die eigene Gesundheit, gar für das eigene Leben verbundenen Risiko6 nahe. Ob und ggf. in welcher Weise eine solche Zustimmung zu dem durch den fahruntüchtigen Fahrer begründeten Risiko dessen Bestrafung aus § 315c StGB trotz eingetretener Individualgefahr ausschließt, ist wiederum streitig.7 Allerdings spricht gerade bei Letzterem alles dafür, darin nicht ein spezifisches, durch das Schutzgut des § 315c StGB geprägtes Problem der Rechtswidrigkeit (Einwilligung des Mitfahrers) zu sehen, sondern dieses als vom konkreten Tatbestand und vom Tatbestandstypus konkretes Gefährdungsdelikt unabhängigen Aspekt der Zurechnung von tatbestandlichen Erfolgen zum Verhalten des Täters zu verstehen.8 Unabhängig von der „richtigen“ Zuordnung und Lösung der zuvor angesprochenen Problemfelder der Straßenverkehrsdelikte (vor allem § 315c StGB) sind aus der Palette der Streitfragen um den Typus konkretes Gefährdungsdelikt im Allgemeinen zwei Rechtsfragen zentral:9 Die eine betrifft die nach der verfassungsrechtlichen Legitimität des Typus konkretes Gefährdungsdelikt. Begründet bei den (rechtgutsbezogen) Verletzungsdelikten der Zweck, Rechtsgüter zu schützen, die Legitimität oder anders ausgedrückt die materielle Richtigkeit von sanktionsbewehrten Verhaltensnormen,10 ergibt sich die Legitimität von konkreten Gefährdungsdelikten nicht zwanglos. Denn bei ausbleibender Rechtsgutsverletzung und dem Bewenden bei der bloßen konkreten Gefahr für das Rechtsgut würde
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Übersicht zum Streitstand bei Geppert Jura 2001, 559 (564 f.). Mehr als ein Eingehen des Risikos wird regelmäßig nicht konsentiert sein, weil der Mitfahrer ebenso wenig wie der Fahrer mit einer Realisierung des erkannten Risikos rechnet. Ob ohne einen „bedingten Vorsatz“ in Bezug auf die eigene Verletzung oder den eigenen Tod des Mitfahrers eine Zurechnung tatsächlich eingetretener Rechtsgutsverletzungen zum Verhalten des Fahrers ausgeschlossen ist und auch dessen Rechtfertigung nicht in Betracht kommt, ist eine weitere Frage, auf die hier allerdings nicht eingegangen werden kann; siehe dazu Radtke FS für Puppe, 2010 (demnächst erscheinend). 7 Vgl. Geppert Jura 1996,47 (48 ff.); ders. Jura 2001, 559 (565) jeweils zu § 315c StGB sowie ders. Jura 1996, 639 (646 f.) zu parallelen Rechtsfragen bei § 315b StGB; Nachw. zum Streitstand auch bei König in: Leipziger Kommentar zum StGB, § 315b Rn. 73. 8 Geppert Jura 1996, 48 ff.; ders. Jura 2001, 559 (565); für die eigenverantwortliche Selbstgefährdung bzw. einverständliche Fremdgefährdung bei Fahrlässigkeitsdelikten ebenso Radtke FS für Puppe, 2010 (demnächst erscheinend). 9 Zutreffend Koriath GA 2001, 51. 10 Radtke in: Münchener Kommentar zum StGB, Band 1, 2003, Vor §§ 38 ff. Rn. 2 mit zahlr. Nachw. 6
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das Verhalten des Täters den Zweck, Rechtsgutsverletzungen zu vermeiden, nicht – jedenfalls nicht ohne weiteres – verfehlen.11 Angesichts dessen steht in der Diskussion um die Legitimität konkreter Gefährdungsdelikte das Unterfangen im Vordergrund, das Vorliegen einer mit dem Rechtsgüterschutzzweck kompatible Rechtsgutsbeeinträchtigung bereits durch die bloße konkrete Gefährdung zu begründen.12 Ob diese Begründung darin gefunden werden kann, dass bei der konkreten Gefährdung die Daseinsgewissheit eines Rechtsgutes erschüttert und dadurch dessen Wert als Mittel zur freien Entfaltung des Einzelnen gemindert ist13 oder ob ohnehin bereits die den konkreten Gefährdungsdelikten zugrunde liegende objektiv gefährliche Handlung das Handlungs- bzw. Gefährdungsverbot trägt,14 soll im Rahmen des Beitrages nicht näher untersucht werden. An anderer Stelle ist dargelegt worden, dass abstrakte Gefährdungsdelikte (zumindest solche eines bestimmten Untertypus) verfassungsrechtlich legitim die strafrechtliche Sanktion allein an den Vollzug einer in der Bewertung des Gesetzgebers generell gefährlichen Handlung anknüpfen.15 Bei konkreten Gefährdungsdelikten mit ihren regelmäßig ebenfalls auf generell gefährlichen Verhaltensweisen beruhenden Tathandlungen, etwa dem Führen eines Kraftfahrzeugs in fahruntüchtigem Zustand gemäß § 315c Abs. 1 Nr. 1a StGB, bestehen vor dem Hintergrund der tatbestandlich zusätzlich verlangten situativen Zuspitzung der generellen Handlungsgefährlichkeit in der konkreten Gefahr erst recht keine Bedenken, die Legitimität der strafbewehrten Verhaltensnorm auf die generelle Handlungsgefährlichkeit zu stützen. Das Begründungsproblem braucht daher nicht weiter verfolgt zu werden. Die andere zentrale, in diesem Beitrag im Vordergrund stehende Frage betrifft die inhaltlichen Anforderungen an die konkrete Gefahr. Das hinter dieser Frage stehende Rechtsproblem hat Koriath treffend als „Subsumtionsproblem“ bezeichnet.16 Es handelt sich um ein Subsumtionsproblem im umfassenden Sinne. Seine Lösung erfordert auf der Definitionsebene die Festlegung von Inhalten der konkreten Gefahr, die auf der Anwendungsebene eine an diesen Inhalten geleitete Handhabung durch den Rechtsanwender gestatten, ohne dabei einerseits „überzogene Anforderungen“17 an die Feststellung konkreter Gefahr zu stellen, sich andererseits aber nicht aus-
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Kindhäuser Gefährdung als Straftat, S. 14. Zu Verlauf und Inhalt der Diskussion knapp zusammenfassend Koriath GA 2001, 51 (57–64); ausführlicher Kindhäuser Gefährdung als Straftat, S. 163 ff. 13 Kindhäuser Gefährdung als Straftat, S. 210. 14 Koriath GA 2001, 51 (64 und 74). 15 Radtke Dogmatik der Brandstiftungsdelikte, S. 140 ff., 240 ff. 16 GA 2001, 51 und 54 ff. 17 Vgl. BGH NJW 1995, 3131; OLG Frankfurt NZV 1994, 365 (366). 12
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schließlich in dem Verweis auf die Verhältnisse des Einzelfalles zu erschöpfen.18 Über die Lösung des Subsumtionsproblems wird seit langem gestritten.19 Selbst über die bisherigen Erträge des Streits im Hinblick auf das, was die Lösung des Subsumtionsproblems leisten muss, nämlich dem Rechtsanwender einheitliche, prozessual handhabbare Kriterien der konkreter Gefahr und einen Maßstab für ihre Feststellung anzubieten, lässt sich kaum Einigkeit erzielen. Die Einschätzung, dass die forensische Praxis mit den hier nachfolgend noch darzustellenden Kriterien des BGH „im Wesentlichen zurechtkommt“,20 hat einen berechtigten Kern ist aber ansonsten recht optimistisch. Zwei Umstände lassen mich an der vollen Berechtigung des Optimismus zweifeln. Zum einen hat die höchstrichterliche Rechtsprechung der Strafgerichte in den gewählten Formulierungen zur Beschreibung der Inhalte konkreter Gefahr und zum relevanten Maßstab zur Beurteilung ihres Vorliegens nicht unerheblich geschwankt.21 Die näher nachzuzeichnende Entwicklung der in der Revisionsrechtsprechung gestellten Anforderungen (unten II.) ist durch einen Anstieg der Elemente des Begriffs „konkrete Gefahr“ sowie eine Tendenz zu einer Verschärfung der an die Tatrichter gestellten Darstellungsanforderungen gekennzeichnet. Zum anderen ist die Rechtsprechung vor allem bei der Beurteilung konkreter Gefahr für den Mitfahrer eines alkoholbedingt fahruntüchtigen Kraftfahrzeugführers über einen längeren Zeitraum uneinheitlich gewesen.22 Erst unter dem Eindruck erheblicher, auch und gerade von dem Jubilar 23 vorgebrachten Kritik hat der Bundesgerichtshof 1995 seine zwischenzeitliche Position einer grundsätzlich allein durch die Mitfahrt begründeten konkreten Gefahr deutlich restringiert.24 Seitdem ist eine gewisse Konsolidierung der Rechtsprechung eingetreten.25 Diese Konsolidierung mit den noch näher zu referierenden Inhalten ändert im Hinblick auf die Lösung des Subsumtionsproblems jedoch nichts daran, dass der BGH seit rund fünf Jahrzehnten von der Vorstellung geleitet wird, wann eine konkrete Gefahr gegeben sei, entziehe sich „exakter wissenschaftlicher Um-
18 Wozu insbesondere die Rspr. des RG mit dem – im Ansatz berechtigten – Abstellen auf die Tatfrage neigte; siehe etwa RGSt 53, 212 (214); RGSt 61, 362 (363 f.); RGSt 66, 98 (100), vgl. auch Jähnke DRiZ 1990, 425 (426). 19 Zu einzelnen Standpunkten in der Diskussion etwa Kindhäuser Gefährdung als Straftat, S. 189 ff.; Jähnke DRiZ 1990, 425 (428 f.); siehe auch Geppert NStZ 1985, 264 (266). 20 König in: Leipziger Kommentar zum StGB, § 315 Rn. 55; siehe auch Geppert NStZ 1985, 264 „Praxis hat ein ganz gutes Gespür dafür, wo diese kritische Linie zur Gefährdung im Einzelfall überschritten ist“. 21 Überblick bei Jähnke DRiZ 1990, 425 (426 f.). 22 Vgl. BGH NJW 1995, 3131 f. (zu § 315c StGB) mit Anm. Berz NStZ 1996, 85; BGH NJW 1996, 329 (zu § 315b StGB) 23 Geppert NStZ 1985, 264 (265); ders. NStZ 1989, 320 (322). 24 BGH NJW 1995, 3131 (3132 unter Bezugnahme auf Geppert NStZ 1985, 264). 25 Ernemann in: Satzger/Schmitt/Widmaier, StGB, 2009, § 315c Rn. 22.
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schreibung“.26 Für den Rechtsanwender auf der tatrichterlichen Ebene ist das eine ernüchternde Erkenntnis. Sie kann ihn allenfalls deshalb etwas beruhigen, weil sie mit einer Reduktion der revisionsgerichtlichen Kontrolldichte einhergehen müsste. Auf größere Unterstützung bei der Lösung des Subsumtionsproblems des Tatbestandsmerkmals „konkrete Gefahr“ aus der Strafrechtswissenschaft kann der Rechtsanwender nicht hoffen. Ein Konsens über die inhaltlichen Anforderungen hat sich in semantischer Hinsicht hier, und erst recht nicht in der Rechtswissenschaft insgesamt 27 bisher nicht finden lassen. Sachlich liegen die konkurrierenden Lösungsansätze zwar weniger weit auseinander, als Sprachgebrauch und Heftigkeit der Diskussion gelegentlich vermuten lassen. Darauf ist noch näher einzugehen (unten III.). Letztlich gilt für den Stand der Diskussion in der Wissenschaft aber die vielfach aufgenommene Formulierung von Geppert: Für die Umschreibung der Inhalte der konkreten Gefahr gebe es keine „Zauberformel“.28 Auch das ist jedoch ein für den Rechtsanwender ernüchternder Befund, wenn nicht unterhalb der Zauberformel im Sinne der Lösung des Subsumtionsproblems wenigstens drei Fragen verlässlich beantwortet werden können: (1.) Welche begrifflichen Anforderungen sind an die konkrete Gefahr für ein Individualrechtsgut zu stellen? (2.) Welche tatsächlichen Umstände müssen und dürfen bei der Beurteilung, ob im Einzelfall den Anforderungen der konkreten Individualgefahr entsprochen ist, berücksichtigt werden und auf welchen Zeitpunkt ist das Vorliegen dieser Umstände zu beziehen? (3.) Welche tatsächlichen Umstände muss der Tatrichter feststellen, um das Tatbestandsmerkmal konkrete Gefahr auszufüllen? Nachfolgend soll versucht werden, auf der Grundlage der bisherigen Erkenntnisse zu den Inhalten des Merkmals „konkrete Gefahr für ein Individualrechtsgut“ Antworten auf die vorstehenden Fragen zu finden. Die Präsentation einer Zauberformel ist – leider – nicht zu erwarten. Es geht bescheidener in erster Linie um die Präzisierung der tatsächlichen berücksichtigungspflichtigen und -fähigen Umstände, auf denen das Gefahrurteil ruht.
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So bereits BGHSt 18, 271 (272); ebenso BGH NJW 1995, 3131. Über das Fehlen eines einheitlichen Begriff der „Gefahr“ in den verschiedenen Teilrechtsgebieten Zieschang, GA 2006, 1 ff. 28 NStZ 1985, 234; Übernahme dieser Wendung etwa bei Hauf NZV 1995, 469 (471); König in: Leipziger Kommentar zum StGB, § 315 Rn. 55. 27
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II. Zur Entwicklung der höchstrichterlichen Strafrechtsprechung zur konkreten Gefahr 1. Entwicklungslinien Bei den hier in den Blick genommenen Straßenverkehrsdelikten bzw. ihren Vorläufervorschriften ist zunächst eine konkrete Gemeingefahr und seit 196429 eine konkrete Individualgefahr objektives, vom Vorsatzbezug umfassten Tatbestandsmerkmal. Ungeachtet dessen ist in der höchstrichterlichen Rechtsprechung die Möglichkeit, die Inhalte des Tatbestandsmerkmals präzise zu definieren und dieses dadurch subsumierbar auszugestalten, skeptisch beurteilt worden. Die allgemeingültige Bestimmbarkeit wurde bezweifelt, der überwiegend tatsächliche Charakter des Merkmals wurde unter Leugnung seines rechtlichen Charakters herausgestellt.30 Die Bedeutung solcher recht vagen Aussagen über den „Charakter“ eines Tatbestandsmerkmals dürften im Wesentlichen darin bestanden haben, den Vorrang der Beurteilung des Einzelfalls („Tatfrage“) und die Schwierigkeiten der Benennung abstrakt genereller Kriterien konkreter Gefahr auszudrücken. Wegen der Eigenschaft, Tatbestandsmerkmal zu sein, ist eine Inhaltsbestimmung aber unverzichtbar. Diese hat sich in der Rechtsprechung in groben Zügen wie folgt gestaltet: Konkrete Gefahr als objektives, vom Vorsatzbezug umfasstes Tatbestandsmerkmal ist als Zustand, als zeitlich abgrenzbarer Geschehensabschnitt vielleicht sogar als Erfolg 31 verstanden worden. Das RG sowie die frühen einschlägigen Entscheidungen des BGH haben die konkrete Gefahr im Wesentlichen zunächst quantifizierend von der Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts (einer Rechtsgutsverletzung) her bestimmt. Konkrete Gefahr ist als Zustand verstanden worden, in dem auf der Grundlage der Verhältnisse ex ante ein Schadenseintritt als wahrscheinlich zu bewerten ist bzw. für den – sachlich übereinstimmend gemeint – die „begründete Besorgnis“ eines Schadens anzunehmen sei.32 Zwischenzeitlich wurde die Quantifizierung
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Aufgabe der konkreten Gemeingefahr (zu Begriff und Verständnis ausführlich Radtke Dogmatik der Brandstiftungsdelikte, S. 114 ff.) zu Gunsten der konkreten Individualgefahr durch das Zweite Gesetz zur Sicherung des Straßenverkehrs vom 21.11.1964 (BGBl. I S. 921). 30 RGSt 6, 98 (99); RGSt 30, 178 (179); BGHSt 8, 28 (31); BGHSt 18, 271 (272). 31 Soweit Koriath GA 2001, 51 (58) aus BGHSt 26, 177 (181 f.) ableiten will, dass der BGH konkrete Gefährdungsdelikte nicht als „Erfolgsdelikte“ versteht, scheint mir die Entscheidung den gezogenen Schluss nicht ohne weiteres zu tragen. Der BGH hat a.a.O. – zu Recht – lediglich ausgeschlossen, bloße heute meist sog. Gefahrerfolgsqualifikationen (vgl. Roxin Strafrecht AT 1, § 10 Rn. 120 mwN.) als erfolgsqualifizierte Delikte im Sinne von § 56 StGB a.F. (§ 18 StGB) zu verstehen und es damit bei einem Fahrlässigkeitsbezug hinsichtlich der schweren Folge bewenden zu lassen; erforderlich sei vielmehr ein auf die konkrete Gefahr bezogener Vorsatz. 32 Etwa RGSt 10, 173 (176); RGSt 53, 212 (214); RGSt 61, 362 (363 f.); RGSt 66, 98 (100).
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der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts konkretisiert. Der Schadenseintritt musste in der Prognose wahrscheinlicher (gewesen) sein als sein Ausbleiben.33 Diese Mathematisierung führte jedoch zu Verwirrung bei den Tatrichtern über die erforderliche Höhe der Wahrscheinlichkeit. Letztlich – ausgelöst durch eine Vorlage des BayObLG – sah der BGH von dieser Art der Quantifizierung der konkreten Gefahr ab.34 Um das Vorliegen einer „naheliegenden Gefahr“ festzustellen, wurde nunmehr darauf abgestellt, ob am Maßstab der „allgemeinen Lebenserfahrung“ gemessen die im relevanten Zeitraum vorliegenden bekannten Umstände auf einen „unmittelbar bevorstehenden Unfall“ hindeuten, wenn keine „plötzliche Wendung“ eintrete.35 Solche Wendung könne etwa auf selbstschützendem Verhalten des Bedrohten („gefühlmäßiges Erahnen“) beruhen.36 Das Abstellen auf einen unmittelbar bevorstehenden, lediglich durch eine plötzlich eintretende Wendung ausbleibenden „Unfall“ markiert den Beginn einer Entwicklung, bei Inhalten und Anforderungen konkreter Gefahr über die Wahrscheinlichkeit der Rechtsgutsverletzung hinaus die zu ihrem Ausbleiben führenden Umstände mit einzubeziehen. Die Relevanz dieser Umstände ist in nachfolgenden Entscheidungen des BGH deutlicher formuliert worden. Soweit ersichtlich erstmals in einem Urteil aus dem Jahr 197337 wird klar benannt, für das Vorliegen einer konkreten Gefahr komme es darauf an, ob das geschützte Rechtsgutsobjekt aufgrund des Verhaltens des Täters bereits so stark bedroht sei, dass Eintritt oder Ausbleiben der Rechtsgutsverletzung lediglich noch vom Zufall abhänge. Die Zufallsabhängigkeit der Rechtsgutsverletzung bestimmt seit dem genannten Urteil die Rechtsprechung des BGH zu den inhaltlichen Anforderungen der konkreten Individualgefahr.38 In der jüngsten, mir bekannten einschlägigen Entscheidung aus dem Dezember 2009 heißt es mit der bisherigen Rechtsprechung übereinstimmend: „über die ihr (der Tathandlung, H.R.) innewohnende latente Gefährlichkeit hinaus (müsse diese, H.R.) … in eine kritische Situation geführt haben; in dieser Situation muss … die Sicherheit einer bestimmten Person oder Sache so stark beeinträchtigt gewesen sein, dass es nur noch vom Zufall abhing, ob das Rechtsgut verletzt würde oder nicht“.39 Aus dem Kriterium der Zufallsabhängigkeit der Rechtsgutverletzung ergeben sich weitere Anforderungen der konkreten Gefahr. Diese sind teils 33 RGRspr. 8, 98 (100); damit übereinstimmend BGHSt 8, 28 (31); BGHSt 11, 162 (164); BGHSt 13, 66 (70). 34 Siehe BGHSt 18, 271 (272). 35 BGHSt 18, 271 (272 f.). 36 BGHSt 18, 271 (273). 37 BGH VRS 44 (1973), 422 (423). 38 Lediglich exemplarisch BGH NJW 1995, 3131; siehe auch BGH NStZ-RR 1998, 150; BGH NZV 2000, 213. 39 BGH NStZ-RR 2010, 120.
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Element der definitorischen Anforderungen und teils Aspekte des relevanten Maßstabes für die Prüfung der Zufallsabhängigkeit einerseits sowie der notwendig festzustellenden tatsächlichen Umstände, auf denen das Urteil der Zufallsabhängigkeit beruht, andererseits. Zur Konkretisierung der Zufallsabhängigkeit des Schadenseintritts und wohl vor allem um das Kriterium prozessual für die Feststellung im Strafprozess operationalisierbar zu machen,40 wird die konkrete Gefahr – jedenfalls für die hier allein betrachteten Straßenverkehrsdelikte – als Beinahe-Unfall, als Situation in der ein unbeteiligter Beobachter zu der Einschätzung gelange, es sei gerade noch einmal gut gegangen,41 verstanden. Ob bereits eine so hochgradige Bedrohung eines geschützten Rechtsgutsobjekts eingetreten ist, dass der Übergang zur Rechtsgutsverletzung lediglich noch vom Zufall abhängt, ist nach ständiger Rechtsprechung auf der Grundlage einer nachträglichen objektiven Prognose ex ante zu beurteilen.42 Aus den begrifflich-sachlichen Voraussetzungen konkreter Gefahr lassen sich Subkriterien für das Vorliegen konkreter Gefahr im Einzelfall gewinnen. Das nach meiner Einschätzung wichtigste Subkriterium ist das Hineingelangen eines tatbestandlich geschützten Rechtsgutsobjekts in den Wirkungsbereich der generell gefährlichen Tathandlung während der Dauer deren Vornahme. Die Bedeutung dieses Aspekts für die Annahme konkreter Gefahr ist im Grundsatz nicht bestritten,43 seine Relevanz im Einzelfall durchaus. Gerade der BGH hat sich mit dem Subkriterium in solchen Konstellationen schwer getan, in denen das – vielleicht das einzige in concreto in Frage kommende – Rechtsgutsobjekt sich während der gesamten Dauer der Tathandlung in deren Wirkbereich befunden hat, ohne dass es darüber hinaus zu einer (weiteren) feststellbaren Zuspitzung der Handlungsgefährlichkeit in einer zeitlich-räumlich abgrenzbaren Situation gekommen wäre. Solche Fall-
40 Vgl. die Ausführungen in BGH NJW 1995, 3131 f. zu – vom BGH verworfenen – Forderungen einiger OLGe an die Tatrichter zur Feststellung der konkreten Gefahr lediglich deskriptive Begriffs zu verwenden und präzise die gefahrene Geschwindigkeit, Abstände zwischen den beteiligten Fahrzeugen etc. festzustellen. 41 BGH NJW 1995, 3131 (3132); BGH NJW 1996, 329; BGH NStZ-RR 2010, 120 (121); siehe die weiteren Nachw. bei König in: Leipziger Kommentar zum StGB, § 315 Rn. 53; Ernemann in: Satzger/Schmitt/Widmaier, StGB, § 315c Rn. 22; vgl. auch Geppert Jura 1996, 47 (50). 42 Grundlegend BGH NJW 1995, 3131; in der Sache bereits zuvor ebenso BGHSt 18, 271 (272); BGH NJW 1985, 1036; zustimmend die ganz überwiegende Auffassung in der Strafrechtswissenschaft, exemplarisch Demuth Der normative Gefahrbegriff, 1980, S. 104 ff.; Puhm Strafbarkeit gemäß § 315c StGB bei Gefährdung des Mitfahrers, 1990, S. 93 ff.; Horn/Hoyer JZ 1987, 965 (966); Schünemann JA 1975, 787 (794), Wolter JuS 1978, 748 (750); vgl. auch Koriath GA 2001, 51 (52). 43 Siehe etwa BGH VRS 26 (1964), 347 (348); BGH NJW 1995, 3131; Geppert NStZ 1985, 264 (265); Jähnke DRiZ 1990, 425 (428); König in: Leipziger Kommentar zum StGB, § 315 Rn. 59; ausführlich dazu Zieschang Die Gefährdungsdelikte, S. 37–43.
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gestaltungen lagen dem BGH mehrfach sowohl bei der schädigenden Einwirkung auf die Bremsanlagen von Kraftfahrzeugen44 als auch in Bezug auf das Mitfahren bei fahruntüchtigen Kraftfahrzeugführern vor.45 Hinsichtlich letzterer Fallgestaltung ist die Rechtsprechung zunächst schwankend gewesen und hat dazu geneigt, bereits die Mitfahrt mit dem erheblich alkoholisierten Fahrer allein zur Begründung konkreter Gefahr genügen zu lassen.46 Daran hält der BGH seit 1995 im Grundsatz nicht mehr fest, sondern verlangt eine situative Zuspitzung der gefährlichen Situation in einem „Beinahe-Unfall“.47 Ob bei einer so hochgradigen Alkoholisierung des Fahrers, die kontrollierte Fahrmanöver ausschließe und deshalb (normativ) dem Fahren ohne die erforderlichen technischen Vorrichtungen entspreche, es keines „Beinahe-Unfalls“ bedürfe,48 sondern bereits der Grad der Fahruntüchtigkeit und deren Auswirkungen auf das Fahrverhalten allein eine konkrete Gefahr begründen, ist noch nicht vollständig geklärt.49 Mögliche verbleibende Unterschiede zwischen den konkurrierenden Auffassungen werden angesichts der bei höchstgradiger Alkoholisierung beinahe zwingend vorkommenden „Beinahe-Unfälle“ als von theoretischer Natur betrachtet.50 Wenn dem so ist, gäbe es allerdings wenig Grund, selbst für extreme Fahruntüchtigkeit auf den Nachweis konkreter Gefahr in Gestalt einer Situation des zufallsabhängigen Schadenseintritts zu verzichten. Der derzeitige Stand der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu den inhaltlichen Anforderungen der konkreten Gefahr – jedenfalls bei den Straßenverkehrsdelikt – ist durch drei sich einander teils überlappende Elemente geprägt: (1.) Konkrete Gefahr erfordert die nahe liegende Möglichkeit eines Schadenseintritts. (2.) Diese ist dann gegeben, wenn sich die einer einschlägi44 BGH NJW 1985, 1036; BGH NZV 1989, 119 mit Anm. Berz; BGH NJW 1996, 329 (330) dazu Renzikowski JR 1997, 115 ff.; vgl. auch OLG München NJW 2006, 3364, dazu König/Seitz DAR 2007, 361. 45 Etwa BGH NJW 1985, 1036 mit Anm. Geppert NStZ 1985, 264; Janiszewski NStZ 1985, 257; BGH NStZ 1989, 73 f. mit Anm. Werle JR 1990, 74; BGH NZV 1992, 370 f.; BGH NJW 1995, 3131 ff. mit Anm. Berz NStZ 1996, 85; ausführliche Darstellung der Rspr. bei Pühm Strafbarkeit gemäß § 315c StGB, S. 38 ff; siehe auch für die Rspr. bis 1990 Jähnke DRiZ 1990, 425 (427 f.). 46 BGH NJW 1985, 1036; BGH NStZ 1989, 73 f.; BGH NZV 1992, 370 f.; aA etwa BayObLGSt 1989, 125; BayObLG VRS 87 (1994), 125; OLG Köln NJW 1991, 3291. 47 BGH NJW 1995, 3131 (3132) mit Anm. Berz NStZ 1996, 85. 48 BGH NJW 1995, 3131 (3132); ebenso Geppert NStZ 1985, 264 (265). 49 BGH NJW 1996, 329 (330) hat bzgl. § 315b StGB bei dem Fahren ohne funktionsfähige Bremsanlage diesen Umstand allein zur Begründung konkreter Gefahr nicht für ausreichend gehalten, woraus von einigen geschlossen wird, der BGH halte in den „MitfahrerFällen“ ebenfalls nicht mehr an dem ausnahmsweise Genügen der (höchstgradigen) Alkoholisierung als solcher fest, so etwa König, in: Leipziger Kommentar zum StGB, § 315c Rn. 152; aA insoweit Fischer StGB, 57. Aufl., 2010, § 315c Rn. 15a; Lackner/Kühl, StGB, 26. Aufl., 2007, § 315c Rn. 23. 50 Tepperwien FS für Nehm, S. 427 (436).
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gen straftatbestandsmäßigen Handlung innewohnende generelle Gefährlichkeit zu einer solchen Beeinträchtigung eines geschützten Rechtsgutsobjekts verdichtet hat, dass Eintritt oder Ausbleiben der Rechtsgutsverletzung lediglich noch vom Zufall abhängen. (3.) Ob situativ eine solche Zufallsabhängigkeit konkret bestand, wird anhand der hypothetischen Beurteilung (nachträgliche objektive Prognose ex ante) eines unbeteiligten Beobachters bewertet, der den Eindruck gehabt habe müsse, es sei gerade noch einmal gut gegangen (Beinahe-Unfall). Das Bild des „Beinahe-Unfalls“ ist dabei, wie bereits angedeutet, nicht mehr als der Versuch, dem Tatrichter einen prozessual operationalisierbaren Maßstab für die Beurteilung des Vorliegens konkreter Gefahr an die Hand zu geben. 2. Einordnungen Es ist beinahe trivial daran zu erinnern, dass es der Feststellung eines „Beinahe-Unfalls“ als Grundlage für die Annahme konkreter Rechtsgutsgefahr lediglich bei ausgebliebener Rechtsgutsverletzung bedarf. Ist diese aufgrund einer straftatbestandsmäßigen Handlung wegen deren (tatbestands)spezifischer Gefährlichkeit eingetreten, gilt der Schluss von der Rechtsgutsverletzung auf die als zwingendes Durchgangsstadium verstandene konkrete Gefahr für das verletzte Rechtsgutsobjekt vielen als zwingend.51 Ob der offenbar als logische Folgerung gemeinte Schluss mit dem Kriterium der Zufallsabhängigkeit des Schadenseintritts vollständig kompatibel ist, mag für den hier interessierenden Zusammenhang offen bleiben. Jedenfalls für den Regelfall ist er zulässig und berechtigt. Die Diskussion um die inhaltlichen Anforderungen des Tatbestandsmerkmals konkrete Gefahr wirkt sich damit letztlich allein auf die notwendigen tatsächlichen Umstände, auf die eine konkrete Rechtsgutsgefahr gegründet werden kann, in den Konstellationen ausgebliebener Rechtsgutsverletzungen aus. Für diese wiederum kann von einer konkreten Rechtsgutsgefahr allenfalls dann gesprochen werden, wenn ein geschütztes Rechtsgutsobjekt in den Wirkungsbereich der generell gefährlichen tatbestandsmäßigen Handlung geraten ist oder sich während der gesamten Dauer ihrer Vornahme darin befindet (Mitfahrerfälle). Das Hineingelangen in den Wirkungsbereich ist jedoch stets lediglich notwendige Bedingung konkreter Gefahr nie deren hinreichende Bedingung.52 Bei aus51 Horn Konkrete Gefährdungsdelikte, 1973, S. 52; Puhm Strafbarkeit gemäß § 315c StGB, S. 94; Geppert NStZ 1985, 264; König in: Leipziger Kommentar zum StGB, § 315 Rn. 57; vorsichtiger Herzog in: Nomos Kommentar zum StGB, 3. Aufl., 2009, § 315 Rn. 24. 52 In der Sache wie hier Zieschang Gefährdungsdelikte, S. 47–49; vgl. auch Wolter Objektive und personale Zurechnung von Verhalten, Gefahr und Verletzung in einem funktionalen Straftatsystem, 1981, S. 199 f.; ders. JuS 1978, 748 (750); Geppert NStZ 1989, 320 (322); ders. Jura 1996, 47 (51); Horn/Hoyer JZ 1987, 965 (966); Renzikowski JR 1997, 115 (116); Werle JR 1990, 76.
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gebliebener Rechtsgutsgefahr trotz eines in den Wirkungsbereich der Tathandlung geratenen Rechtsgutsobjekts hängt damit die Annahme konkreter Gefahr maßgeblich davon ab, eine räumlich-zeitlich abgrenzbare Situation festzustellen, auf die bezogen im Rahmen der maßgeblichen nachträglichen objektiven Prognose ex ante gesagt werden kann, der Eintritt der Rechtsgutsverletzung oder deren Ausbleiben sei lediglich noch zufallsabhängig gewesen. Bei der Klärung des Vorliegens dieser Voraussetzungen sind zwei Aspekte zu berücksichtigen. Zum einen geht es bei der Anwendung des Merkmals „konkreter Gefahr“ in den Straßenverkehrsdelikten § 315c und § 315b StGB in der Praxis der Strafverfolgung darum, die tatsächliche Situation zu rekonstruieren, deren gedachte Wahrnehmung den als Maßstabsfigur herangezogenen „unbeteiligten Beobachter“ in die Lage versetzt, ein „gerade noch einmal gut gegangen“ zu konstatieren. Zum anderen geht es um die Gründe, aus denen heraus die drohende Rechtsgutsverletzung im Ergebnis ausgeblieben ist. Innerhalb ihrer ist wertend zu entscheiden,53 ob ihre Bedeutung für das Ausbleiben eines Schadenseintritts zum Ausschluss einer konkreten Gefahr führt oder nicht. Anders formuliert kommt es entscheidend darauf an, ob und in welchem Umfang entweder bei Täter und Opfer oder in naturkausalen Umständen liegende Gründe das Ausbleiben der Rechtsgutverletzung noch als zufällig oder als nicht mehr zufällig bewerten lassen.54 Ein als für die Beurteilung der Zufallsabhängigkeit von Eintreten oder Ausbleiben der Rechtsgutsverletzung wesentlicher Aspekt ist die Beherrschbarkeit des Geschehensablaufs.55 Gleichungen mit dem Inhalt „beherrschbar = nicht zufälliges Ausbleiben des Schadenseintritts“, „unbeherrschbar = zufälliges Ausbleiben des Schadenseintritts“ sind stark vergröbernd, beschreiben aber immerhin die Richtung. Entscheidend ist dann, welche Umstände aus wessen Sphäre der Beherrschbarkeit zuzuschlagen sind und welche der die Zufallsabhängigkeit begründenden Unbeherrschbarkeit zugehören. Gerade um die Beantwortung dieser Frage kreist ein beträchtlicher Teil der rechtswissen-
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AA Horn Konkrete Gefährdungsdelikte, S. 159, 191 ff. Für eine normative Betrachtung bereits Radtke Dogmatik der Brandstiftungsdelikte, S. 282–284 bei grundsätzlicher Zustimmung zur sog. normativen Gefahrerfolgstheorie von Schünemann JA 1975, 783 (797); Roxin Strafrecht AT 1, § 11 Rn. 117. 55 Vgl. BGH VRS 44 (1973), 422 (423); BGH NJW 1985, 1036; Demuth Normativer Schadensbegriff, S. 205 ff.; Joerden Strukturen strafrechtlicher Verantwortlichkeitsbegriffe, 1988, S. 150 ff.; Kindhäuser Gefährdung als Straftat, S. 202 (Gefahr, wenn kein gezielter Eingriff in das Geschehen möglich ist); Geppert NStZ 1985, 264 (266); Jähnke DRiZ 1990, 425 (428); Ostendorf JuS 1982, 426 (430); Renzikowski JR 1997, 115 (116); Heine in: Schönke/ Schröder, StGB, 28. Aufl., 2010, Vorbem §§ 306 ff., Rn. 5; König in: Leipziger Kommentar zum StGB, § 315 Rn. 61–64. 54
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schaftlichen Diskussion um die Anforderungen an die konkrete Gefahr.56 Darauf ist anschließend (unten III.) noch näher einzugehen. Die höchstrichterliche Rechtsprechung ist zu beiden Aspekten unterschiedlich ergiebig. In Bezug auf die erforderlichen Feststellungen für die Annahme einer Situation, in der das geschützte Rechtsgut bereits so stark beeinträchtigt ist, dass Eintreten oder Ausbleiben der Rechtsgutsverletzung lediglich noch vom Zufall abhängt, hat der BGH bereits in seiner grundlegenden Entscheidung vom 30.3.199557 zu strenge Anforderungen einiger Oberlandesgerichte58 an die Tatrichter kritisiert.59 Insbesondere hält es der BGH für überzogen, den Tatgerichten abzuverlangen auf wertende Beschreibungen („Vollbremsung“ etc.) zu verzichten und stattdessen ausschließlich deskriptive Begriffe zu verwenden und etwa die Geschwindigkeiten der beteiligten Fahrzeuge sowie die Entfernungen zwischen diesen exakt festzustellen.60 Einige Oberlandesgerichte folgen dem nicht, sondern halten strenge Feststellungsanforderungen aufrecht, die die Verwendung als „inhaltsleer“ empfundener Begriffe (erneut: „Vollbremsung“, „Notbremsung“) ausschließen und möglichst konkrete Angaben zum Fahrverhalten, zu Reaktionen des Fahrers, wahrnehmbaren Veränderungen des „verkehrstypischen Geschehensablaufs“ (quietschende Reifen, Ausbrechen des Fahrzeugs, Ansprechen des Sicherheitsgurtes usw.) verlangen.61 Derartige Vorgaben für Art und Umfang der tatrichterlichen Feststellungen zu dem Merkmal konkreter Individualgefahr bei den Straßenverkehrsdelikten sind weder im Hinblick auf die materiell-rechtlichen Vorgaben noch auf die revisionsrechtlichen Überprüfungsanforderungen geboten.62 Die Forderung detailreicher, ausschließlich auf deskriptive Begriffe zurückgreifender Feststellungen kann im Ergebnis zu einer erheblichen Einschränkung des Anwendungsbereichs insbesondere des § 315c StGB führen. Die von einigen Oberlandesgerichten verlangten Feststellungen betreffen die tatsächliche Grundlage für die über die konkrete Gefahr anzustellende objektiv nachträgliche Prognose ex ante.63 Kann den Anforderungen nicht entsprochen werden, weil die zur Verfügung stehenden Zeugen die abgeforderten Umstände nicht detailliert genug erinnern können, fehlt die Prognosebasis und damit die Annahme des Eintritts konkreter
56 Siehe insoweit nur die Darstellung und Bewertung der konkurrierenden Auffassungen durch Zieschang Gefährdungsdelikte, S. 43–51. 57 NJW 1995, 3131. 58 OLG Hamm NZV 1991, 158; OLG Düsseldorf NJW 1993, 3212; OLG Düsseldorf NZV 1994, 406. 59 BGH NJW 1995, 3131 (3132). 60 BGH NJW 1995, 3131 (3132). 61 Siehe etwa OLG Koblenz DAR 2000, 371 f.; OLG Koblenz v. 9.11.1997 – 2 Ss 286/97; OLG Koblenz v. 2.9.1998 – 2 Ss 232/98; siehe auch OLG Düsseldorf NZV 1994, 37 (38). 62 Vgl. näher OLG Frankfurt NZV 1994, 365 (366) mit Anm. Berz NStZ 1996, 85. 63 Ganz zutreffend Renzikowski JR 1997, 115 (118).
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Gefahr selbst. Dass mit einer Beschreibung, „ich musste bei einer Geschwindigkeit von 90 km/h eine Vollbremsung durchführen und bin zum Stillstand gekommen“, eine Zuspitzung der Beeinträchtigung des bedrohten Rechtsguts nicht ausreichend dargetan werden kann, ist nicht ohne weiteres ersichtlich. Zu dem zweiten bedeutsamen Aspekt, der Beherrschbarkeit des Geschehensablaufs als Ausschluss der Zufallsabhängigkeit des Eintretens oder Ausbleibens der Rechtsgutsverletzung, finden sich in der höchstrichterlichen Rechtsprechung einige wenige generelle Festlegungen jenseits der konkreten Verhältnisse des Einzelfalls. So kann zwar bei noch bestehender Möglichkeit des Täters, den Erfolgseintritt zu verhindern, trotz eines hohen Grades der Beeinträchtigung des Rechtsgutes eine konkrete Gefahr ausgeschlossen sein.64 Allerdings tendiert die Rechtsprechung eher dazu, fehlende Beherrschbarkeit und damit eine konkrete Gefahr mit der Erwägung anzunehmen, der Täter könnte selbst bei eigenen Gefahrabwendungsfähigkeiten den weiteren Geschehensablauf wegen der nicht kalkulierbaren und damit für ihn nicht beherrschbaren Verhaltensweise des Gefährdeten nicht abwenden.65 Auch die Möglichkeit, dass durch Schutzmaßnahmen des Gefährdeten selbst der Schadenseitritt verhindert werden kann, schließt das Vorliegen einer konkreten Rechtsgutsgefahr regelmäßig nicht aus.66 Aus dem Beschluss des BGH v. 4.9.199567 ergibt sich nichts anderes.68 In der zugrunde liegenden tatsächlichen Situation war das Gefährlichkeitspotential in der konkreten Situation für die Fahrerin des Fahrzeugs noch gering und andere Rechtsgutsinhaber waren noch gar nicht in den Gefahrenbereich geraten. Das auf dem Wirken naturkausaler Verläufe oder dem Eingriffen Dritter beruhende Ausbleiben der Rechtsgutsverletzung schließt das Vorliegen konkreter Gefahr mangels Beherrschbarkeit durch den Täter ebenfalls regelmäßig nicht aus.
64
Vgl. BGHSt 19, 263 (268 f.); BGHSt 22, 341 (345). Etwa BGHSt 26, 176 (178); BGHSt 28, 87 (89); BGH JZ 1983, 811 (812). 66 Vgl. etwa BGH NJW 1995, 3131; OLG Rostock v. 20.12.2002 – 1 Ss 206/01 („überobligationsmäßige Reaktion des Gefährdeten“). 67 BGH NJW 1996, 319 (320) mit Anm. Renzikowski JR 1997, 115. 68 AA möglicherweise Renzikowski JR 1997, 115 (116). 65
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III. Beherrschbarkeit des Geschehensablaufs und normativ berechtigtes Vertrauen auf das Ausbleiben der Rechtsverletzung 1. Grundlagen Klaus Geppert hat der höchstrichterlichen Rechtsprechung attestiert, trotz des Fehlens der bereits angesprochenen Zauberformel ein „ganz gutes Gespür dafür“ entwickelt zu haben, „wo die kritische Grenze zur Gefährdung im Einzelfall überschritten ist“.69 Betrachtet man die Entwicklung der Rechtsprechung seit 1985, ist die Aussage im Kern zutreffend. Dessen ungeachtet bleibt die Judikatur, der gerechten Entscheidung des Einzelfalls verpflichtet, außer der bildhaften Beschreibung des „Beinahe-Unfalls“ als maßgebliches Kriterium für das Vorliegen konkreter Gefahr abstrakt-generelle Regeln dafür schuldig, nach denen sich wertend bestimmend lässt, ob in einer konkreten Situation das Eintreten einer Rechtsgutsverletzung oder deren Ausbleiben lediglich noch vom Zufall abhängt. Nochmals: Das Bild vom Beinahe-Unfall ist ein durchaus gelungenes Vehikel, um dem Tatrichter einen Anhalt zu geben, unter welchen tatsächlichen Bedingungen eine konkrete Rechtsgutsgefahr angenommen werden kann. Für die Fälle der ausgebliebenen Rechtsgutsverletzung bleibt sie aber eine Antwort darauf schuldig, ob und ggf. welche Umstände, die zu dem Ausbleiben geführt haben (können), bei der Bewertung, ob dennoch eine konkrete Gefahr eingetreten war, berücksichtigt werden können. Gerade in Bezug auf diese entweder auf Verhalten des Täters, des Gefährdungsopfers oder auf naturkausalen Verläufen bzw. dem Eingreifen Dritter beruhenden Gründen für das Ausbleiben des Schadenseintritts, gilt für die Rechtsprechung, dass der Begriff der konkreten Gefahr sich exakter wissenschaftlicher Umschreibung entziehe70 und das Vorliegen einer solchen Gefahr im Wesentlichen Tatfrage sei. Daran ist richtig, dass durchgängig gültige Kriterien für die Berücksichtigung oder Nichtberücksichtigung schadensvermeidender Umstände nur schwer gefunden werden können, ohne „Gefahr“ zu laufen, der Vielzahl möglicher tatsächlicher Konstellationen, in denen sich straftatbestandlich die Frage nach dem Hervorrufen einer konkreten Rechtsgutsgefahr stellen kann, nicht erfassen zu können. Dennoch bedarf es zumindest der Herausbildung von Leitlinien, anhand derer grundsätzlich entschieden werden kann, welche zum Ausbleiben eines Schadens führende Gründe in die Wertung, ob im Rahmen der nachträglichen objektiven Prognose ex ante eine konkrete Gefahr für tatbestandlich geschützte Rechtsgüter bestanden hat oder nicht, einzubeziehen sind. An 69 70
NStZ 1985, 264. BGHSt 18, 271 (272); BGH NJW 1995, 3131.
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diesem Punkt setzen die zahlreichen Vorschläge der Strafrechtswissenschaft an, die Anforderungen konkreter Gefahr ihrerseits zu konkretisieren.71 Letztendlich zielen sämtliche der unterbreiteten Auffassungen darauf ab, generell die Bedingungen näher zu formulieren, unter denen in Bezug auf eine konkrete Situation wertend gesagt werden darf, der Eintritt der Verletzung eines geschützten Rechtsgutsobjekts sei lediglich noch durch den Zufall bedingt. Die Übereinstimmung im Kern nahezu aller Auffassungen sei lediglich an zwei der vorgeschlagenen Begriffe zur konkreten Gefahr exemplarisch aufgezeigt. Hoyer deutet „konkrete Gefahr“ als einen Zustand, bei dem ein zur Rechtsgutverletzung tauglicher Sachverhalt einem geschützten Rechtsgutsobjekt so unmittelbar gegenübersteht, dass dessen Verletzung nicht mehr hinreichend sicher durch den Verletzungseintritt hindernde „Negationsfaktoren“ unterbunden werden kann.72 Kindhäuser spricht von einer (konkreten) Gefahr, wenn zur Vermeidung eines Schadens nicht mehr gezielt in das Geschehen eingegriffen werden kann.73 Maßgeblich ist für beide Autoren die Möglichkeit eines steuerbaren, eines beherrschbaren Eingriffs in den ansonsten zur Rechtsgutverletzung führenden Geschehensablauf. Was hinreichend sicher hindernde Negationsfaktoren sind oder was ein gezielter Eingriff in das Geschehen ist, bleibt wiederum ausfüllungsbedürftig. Diese Ausfüllung lässt sich, wie bereits an anderer Stelle dargelegt,74 über das das Kriterium des normativ berechtigten Vertrauens in das Ausbleiben des Rechtsgutsverletzungserfolges erzielen.75 Das Ausbleiben der Rechtsgutverletzung trotz Hineingelangens eines Rechtsgutsobjekts in den Wirkungsbereich der Tathandlung ist dann als zufällig anzusehen, wenn dieses Ausbleiben auf Umständen beruht, auf deren Eintreten der Täter nicht normativ berechtigt vertrauen durfte. Das ist jedenfalls immer bei einem Ausbleiben des Rechtsgutsverletzungserfolges der Fall, das auf Sonderfähigkeiten oder Sonderwissen des Gefährdungsopfers oder sonst von dem Täter nicht beherrschbaren Umständen beruht.76 Ergibt sich im Rahmen der gebotenen nachträglichen objektiven Prognose ex ante, dass das Ausbleiben der in einer zeitlich-räumlich abgrenzbaren Situation wahrscheinlichen Verletzung des stark gefährdeten Rechtsgutsobjekts auf solchen tatsächlichen Verhältnissen beruht, auf deren Eingreifen der Täter bei wertender Betrachtung nicht berechtigt vertrauen durfte, lag eine konkrete Gefahr für dieses Rechtsgut vor. 71
Zusammenfassender Überblick bei Zieschang Gefährdungsdelikte, S. 43–49. Hoyer Die Eignungsdelikte, 1987, S. 78 ff., 82 ff. und passim. 73 Kindhäuser Gefährdung als Straftat, S. 202. 74 Radtke Dogmatik der Brandstiftungsdelikte, S. 282–284. 75 Siehe Schünemann JA 1975, 783, 797; Roxin Strafrecht AT 1, § 11 Rn. 117; vgl. auch Frisch Vorsatz und Risiko, 1983, S. 296. 76 Schünemann JA 1975, 783, 797; Roxin Strafrecht AT 1, § 11 Rn. 117; Radtke Dogmatik der Brandstiftungsdelikte, S. 282. 72
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2. Ableitungen Auch der vorstehend nochmals unterbreitete Vorschlag zur Konkretisierung des Zufallsmoments belässt immer noch erhebliche Unsicherheiten und Beurteilungsspielräume in der Übertragung auf den konkreten Fall durch den Rechtsanwender. Insoweit mag er eher eine Bestätigung der These sein, der Begriff „konkrete Gefahr“ entziehe sich einer exakten wissenschaftlichen Umschreibung, denn eine Widerlegung. Allerdings bietet der von Schünemann entwickelte Ansatz eine solide Grundlage, um dem Kriterium der Zufallsabhängigkeit des Schadenseintritts und dem mit ihm verbundenen Aspekt der Beherrschbarkeit des weiteren Geschehensablaufs mit dem Ziel der Abwendung der Rechtsgutverletzung klarere Konturen, als bisher erreicht, zu verleihen. Insbesondere ist das Kriterium des normativ berechtigten Vertrauens geeignet zu verdeutlichen, ob und in welchem Umfang unterschiedlichen Sphären zuzuordnenden Schadensabwendungsumstände bei der Bewertung der Zufallsabhängigkeit berücksichtigt werden können oder nicht. Zunächst gilt es zu verdeutlichen, dass die Frage nach der Zufallsabhängigkeit auf den Eintritt der Rechtsgutverletzung bezogen ist und nicht auf die des Eintritts der konkreten Gefahr.77 Auf die Gründe für das Ausbleiben der Rechtsgutverletzung kommt es also ohnehin erst dann an, wenn feststeht, dass ein tatbestandlich geschütztes Rechtsgutobjekt dergestalt in den Wirkungsbereich der Tathandlung geraten ist, dass in einer abgrenzbaren tatsächlichen Situation seine Verletzung bei unbeeinflusstem Geschehensablauf ernsthaft zu erwarten ist. Die bloße Kombination aus Vornahme der Tathandlung und Vorhandensein eines Rechtsgutsobjekts allein genügt nicht, um die Frage nach der Zufallsabhängigkeit des Schadenseintritts überhaupt zu stellen. Das gilt natürlich erst recht, wenn ein Rechtsgutobjekt nicht einmal in den Wirkungsbereich geraten ist. Dementsprechend führt ein eine Kraftfahrstraße in die Gegenrichtung befahrender Autofahrer (§ 315c Abs. 1 Nr. 2f StGB) evident keine konkrete Gefahr herbei, falls Gegenverkehr in der konkreten Situation nicht vorhanden war.78 Dass es vom Zufall abhängen mag, ob Gegenverkehr erscheint oder nicht, begründet gerade keine konkrete Gefahr.79 Warum kein Gegenverkehr vorhanden war, ist ebenfalls ohne Bedeutung. Weil es nicht zu der erforderlichen Zuspitzung der generellen Gefährlichkeit des Fahrens entgegen der Fahrtrichtung gekommen ist, fehlt es an der konkreten Gefahr, selbst wenn deshalb kein Gegenverkehr vorhanden war, weil die Polizei die von dem „Geisterfahrer“ befahrene Kraftfahr-
77 78 79
Vgl. Geppert NStZ 1989, 322; Renzikowski JR 1997, 115 (116) mwN. BGH NStZ-RR 2010, 120 (121). BGH NStZ-RR 2010, 120 (121).
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straße für den Gegenverkehr gesperrt hat. Zwar beruht in diesen Fällen das Ausbleiben einer Rechtsgutverletzung auf einem von dritter Seite erfolgten Eingriff in den Geschehensablauf. Auf das Eingreifen der Polizei mag der „Geisterfahrer“ auch nicht berechtigt vertrauen dürfen, weil es gänzlich ungesichert ist, ob seine Fahrt entgegen der Fahrtrichtung rechtzeitig bekannt wird oder nicht. Für Frage nach dem Vorliegen konkreter Gefahr ist das ohne Bedeutung. Es mangelt bereits an der notwendigen Bedingung des Eintritts eines Rechtsgutsobjekts in den Gefahrenbereich der Tathandlung in einer Weise, in der bereits eine starke Beeinträchtigung vorliegt und nunmehr der Schadenseintritt lediglich noch zufallsabhängig ist. Entsprechendes gilt im Übrigen auch im Hinblick auf die Bedeutung schadensvermeidender Verhaltensweisen des möglichen Gefährdungsopfers selbst. Verhält dieses sich so umsichtig, dass es noch nicht einmal zu der erforderlichen situativen Zuspitzung der generellen Gefährlichkeit der Tathandlung kommt, fehlt es von vornherein an einer konkreten Gefahr.80 Ob im Rahmen der Abwendung des Schadenseintritts Opferverhalten berücksichtigt werden kann, ist deshalb insoweit nicht relevant.81 Nach dem vorstehend Ausgeführten stellt sich die Frage, auf den Eintritt welcher schadensvermeidender Umstände der Täter normativ berechtigt vertrauen darf, lediglich in einer Situation, in der ein geschütztes Rechtsgut bereits dergestalt stark beeinträchtigt ist, dass es bei weiterem unbeeinflussten Geschehensablauf zu dessen Verletzung zu kommen droht. In dieser Situation kann der Täter dann lediglich auf solche den Eintritt eines Schadens vermeidende Umstände vertrauen, deren Eingreifen er selbst gezielt 82 einsetzen kann oder mit denen allgemein gerechnet werden darf. Das ist immer noch keine sehr präzise Beschreibung, gibt aber handhabbare Ansatzpunkte. In Bezug auf eigene Fähigkeiten, den ernsthaft drohenden Schaden abzuwenden, kann der Täter lediglich auf solche berechtigt vertrauen, die ihm sicher in der konkreten Situation zur Verfügung standen. Im Übrigen trägt er ohnehin das strafrechtliche Risiko mangelnder Erfolgsabwendung. Gelingt die Abwendung der Schadensabwendung nicht, greift in Bezug auf das konkrete Gefährdungsdelikt der Rückschluss von der Rechtsgutsverletzung auf die notwendig vorausgegangene konkrete Gefahr. Die Strafbarkeit aus einem fahrlässig verursachten Rechtsgutsverletzungsdelikt tritt hinzu. Auf die Fähigkeiten des (möglichen) Gefährdungsopfers, die drohende Verletzung des eigenen Rechtsgutes zu vermeiden, darf er lediglich auf die durchschnittlichen Fähigkeiten präsumtiver Opfer vertrauen.83 Überdurchschnittliche Erfolgsabwendungsfähigkeiten sind nicht erwartbar, weil der Täter regel80 81 82 83
So verhielt es sich in der BGH NJW 1996, 319 zugrundeliegende Fallgestaltung. Anders insoweit Renzikowski JR 1997, 115 (116). Ganz zutreffend Kindhäuser Gefährdung als Straftat, S. 202. Näher Radtke Dogmatik der Brandstiftungsdelikte, S. 283 f.
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mäßig die Person des Gefährdeten und deren Fähigkeiten nicht beeinflussen kann. Das gilt erst recht für das Eingreifen Dritter und das Wirken von Naturkräften. Die Konstellationen, in denen Sonderwissen des Täters über die Person des Opfers (mit überdurchschnittlichen Erfolgsabwendungsfähigkeiten), das sichere Eingreifen Dritter oder naturkausale Erfolgsabwendung hat, dürften eher theoretischer Natur denn Praxis der Strafverfolgung jedenfalls im Kontext der Straßenverkehrsdelikte sein. Vor dem Hintergrund der normativen Gefahrerfolgstheorie führte sicheres Wissen ohnehin nicht zu normativ berechtigtem Vertrauen, denn es mangelt ungeachtet des angenommenen Wissens um die tatsächliche Beeinflussbarkeit durch den Täter nach Vornahme der Tathandlung.
IV. Fazit Die vorstehenden Ausführungen haben nicht zu der Entwicklung einer Zauberformel über die Anforderungen der konkreten Gefahr geführt. Das war angesichts der Erträge des bisherigen intensiven Nachdenkens in der Strafrechtswissenschaft und dem Bemühen des BGH um die Konsolidierung seiner Rechtsprechung auch nicht zu erwarten. Die sorgfältige Beachtung der Vorgabe, die Frage nach der Zufallsabhängigkeit des Schadenseintritts erst dann zu stellen, wenn die Beeinträchtigung des Rechtsgutsobjekts derart stark ist, dass bei unbeeinflusstem Geschehensablauf dessen Verletzung ernsthaft droht, relativiert die Bedeutung derjenigen Umstände, die zum Ausbleiben des Schadens geführt haben, beträchtlich. Steht die Existenzkrise des Rechtsgutsobjekts in dem vorgenannten Sinne fest, können lediglich solche zum Ausbleiben des Schadens führenden Umstände berücksichtigt werden, auf deren Eingreifen der Täter normativ berechtigt vertrauen durfte. Das sind im Kern lediglich die eigenen ihm selbst sicher zur Verfügung stehenden Fähigkeiten und die durchschnittlichen Erfolgsabwendungsmöglichkeiten des Opfers in der konkreten Situation.
Kein Ende der Erfolgshaftung bei den erfolgsqualifizierten Delikten Rudolf Rengier I. Einführung Der im Jahre 1953 eingefügte § 56 StGB a.F., der im wesentlichen dem heutigen § 18 StGB entspricht, räumte endlich mit dem Standpunkt auf, dass die qualifizierenden Erfolge der erfolgsqualifizierten Delikte nur Straferhöhungsgründe seien, auf die sich das Verschulden des Täters nicht erstrecken müsse. Das Schuldprinzip hatte sich durchgesetzt und die Aufgabe dieser Art Erfolgshaftung erzwungen. Zugleich verschwanden damit, so scheint es, die letzten Überbleibsel einer strafrechtlichen versari in re illicita-Haftung, die einen Straftäter unabhängig von einem diesbezüglichen Verschulden für alle Folgen einstehen lässt, die aus einem rechtswidrigen Verhalten hervorgehen.1 Doch der Schein trügt. In der Rechtsprechung zu bestimmten Bereichen der objektiven und subjektiven Voraussehbarkeit lebt der Gedanke schon seit langem verhältnismäßig unauffällig fort. Neuere Entscheidungen des BGH zu § 227 StGB, die im Folgenden aufgegriffen werden, haben die angedeuteten Fragen etwas stärker ins Blickfeld gerückt und auch Kritik hervorgerufen. Kurz zusammengefasst geht es um die vom BGH immer wieder formulierte These, für die Voraussehbarkeit des Erfolges komme es grundsätzlich nur auf die Voraussehbarkeit des Endergebnisses und nicht auf die Einzelheiten des zum Endergebnis führenden Kausalverlaufs an, es sei denn, der tatsächliche Geschehensablauf liege „außerhalb jeder Lebenswahrscheinlichkeit“2 oder „so weit außerhalb der Lebenswahrscheinlichkeit, dass die qualifizierende Folge dem Täter deshalb nicht zuzurechnen ist“3. Diese – hier etwas verkürzt so genannte – „Endergebnis-These“ hat ihre praktische Be-
1 Zum Vorstehenden vgl. Rengier Erfolgsqualifizierte Delikte und verwandte Erscheinungsformen, 1986, S. 60; Lorenzen Zur Rechtsnatur und verfassungsrechtlichen Problematik der erfolgsqualifizierten Delikte, 1981, S. 35 ff.; Küpper Der „unmittelbare“ Zusammenhang zwischen Grunddelikt und schwerer Folge beim erfolgsqualifizierten Delikt, 1982, S. 14 ff. 2 BGH NStZ 2008, 686. 3 BGHSt 51, 18, 21.
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deutung zum einen in der Fahrlässigkeitsdogmatik.4 Zum anderen spielt sie beim erfolgsqualifizierten Delikt des § 227 StGB eine Rolle und hat dort bisher ihre Wirkung hauptsächlich im Zusammenhang mit medizinischen Raritäten5 und abnormen Konstitutionen6 als Todesursachen entfaltet. Darüber hinausgehend fällt neuerdings auf, dass der BGH die Endergebnis-These auf Beteiligungsfälle überträgt7 und dadurch eine ohnehin schon problematische Art von Erfolgshaftung noch weiter ausdehnt.
II. Medizinische Raritäten als Todesursachen In den zuerst zu besprechenden drei Entscheidungen beschied der BGH Revisionen Erfolg, die sich gegen die unterbliebene Verurteilung gemäß § 227 StGB wandten. In allen Fällen hatten die Täter ihre Opfer zwar in einer Weise angegriffen und verletzt, die ohne weiteres tödliche Verletzungsfolgen hätte nach sich ziehen können; die gefährlichen Tathandlungen waren aber im Ergebnis nur deshalb tödlich, weil als Todesursache eine medizinische Rarität mitwirkte. 1. BGH NStZ 2008, 686 8 A trat seinem am Boden liegenden Opfer O mit der Spitze des beschuhten Fußes kräftig gegen den Oberkörper, wobei er darauf achtete, O nicht am Kopf zu treffen, weil er um die Gefährlichkeit derartiger Tritte wusste. Der Fußtritt traf O unmittelbar unterhalb des Rippenwinkels und löste über das sog. Sonnengeflecht eine Reaktion des Nervus vagus (10. Hirnnerv) des parasympatischen Nervensystems aus, die zum Herzstillstand führte. Der Reflextod in Folge der Reizung des Solarplexus wurde möglicherweise durch eine mit der starken Alkoholisierung des Tatopfers verbundene Beeinträchtigung des Atemzentrums und durch organische Veränderungen am Herzmuskel des Tatopfers nach einer Herzmuskelentzündung begünstigt. In der Hauptverhandlung hatte der Sachverständige ausgeführt, dass zwar jeder Tritt gegen den Rumpf eines am Boden liegenden Menschen eine lebensgefährliche Begehungsweise darstelle, da stets das
4 Vgl. LK-StGB/Vogel 12. Aufl. 2007, § 15 Rn. 252 f.; Rengier Strafrecht AT, 2. Aufl. 2010, § 13 Rn. 69 ff., § 52 Rn. 25. 5 Unten II. 6 Unten III. 7 Unten IV. 8 Dazu auch Rengier Strafrecht BT II, 11. Aufl. 2010, § 16 Rn. 8 f.; Hardtung StV 2008, 407 ff.; Dehne-Niemann StraFo 2008, 126 ff.; Jahn JuS 2008, 273 f.; Steinberg NStZ 2010, 72, 73 ff.; Satzger JK 3/09, StGB § 227 I/4; NK-StGB/Paeffgen 3. Aufl. 2010, § 227 Rn. 10a.
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Risiko erheblicher Verletzungen bestehe, sei es durch Leber- oder Milzriss oder aber durch Rippenbrüche und Einspießungsverletzungen; bei dem hier vorliegenden Reflextod handele es sich aber um eine medizinische Rarität, die nicht zum Allgemeinwissen gehöre. Gestützt darauf, dass die konkrete Todesursache in der Auslösung des seltenen Reflexes lag, hat das Landgericht den Todeseintritt als außerhalb der Lebenswahrscheinlichkeit liegend eingestuft und nicht gemäß § 227 StGB verurteilt. Der BGH wendet sich zuerst dem objektiven Tatbestand zu und bemüht insoweit die übliche Formel für den besonderen Gefahrverwirklichungszusammenhang, der beim erfolgsqualifizierten Delikt zwischen dem Grunddelikt und dem qualifizierenden Erfolg bestehen muss.9 Der spezifische Gefahrzusammenhang fehle zwar, wenn der tatsächliche Geschehensablauf, der Körperverletzung und Todesfolge miteinander verknüpfe, außerhalb jeder Lebenswahrscheinlichkeit liege, wie dies etwa bei einer Verkettung außergewöhnlicher unglücklicher Zufälle der Fall sei. So liege es hier aber nicht. „Dass ein kräftiger Tritt mit der Schuhspitze gegen den Rumpf eines am Boden Liegenden zum Tod des Verletzten führt, liegt nicht außerhalb jeder Lebenswahrscheinlichkeit …, denn ein solcher Geschehensablauf ist, auch wenn es sich – wie hier – bei der konkreten Todesursache um eine ‚medizinische Rarität‘ handelt, nicht so außergewöhnlich, dass der eingetretene Erfolg deshalb nicht zuzurechnen ist“.10 Man rätselt zunächst, ob die Formulierung außerhalb „jeder“ Lebenswahrscheinlichkeit enger sein soll als die vom Landgericht verwendete Formel außerhalb „der“ Lebenswahrscheinlichkeit. Die weiteren Ausführungen des BGH klingen dann so, als ob nur darauf abgestellt wird, dass ein kräftiger Tritt gegen den Rumpf generell geeignet ist, zum Tod des Verletzten zu führen. Indes kann bei „außergewöhnlichen“ Todesursachen doch etwas anderes gelten. Weshalb die „medizinische Rarität“ keinen außergewöhnlichen Charakter haben soll, wird nicht begründet, sondern nur behauptet. Vogel interpretiert die diesbezügliche Fahrlässigkeitsrechtsprechung so, dass sie nur bei „äußerst“ ungewöhnlichen, aber nicht bei bloß „sehr“ ungewöhnlichen Verläufen die Fahrlässigkeit ausschließe.11 Paeffgen findet es „sprachlich besonders pikant“, dass eine „medizinische Rarität“ gleichwohl nicht so außergewöhnlich sein soll, dass der Erfolg deshalb nicht zurechenbar sei.12 In einer Analyse der bisherigen Rechtsprechung zur Vorhersehbarkeit bei den §§ 222, 227 StGB kommt Hardtung zu dem Ergebnis, dass der BGH
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Zusammenfassend Rengier BT II (Fn. 8), § 16 Rn. 5 f. BGH NStZ 2008, 686. LK-StGB/Vogel (Fn. 4), § 15 Rn. 253. NK-StGB/Paeffgen (Fn. 8), § 227 Rn. 10a.
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seine Endergebnis-Formel mit denkbaren Ausnahmen bei bestimmten mitwirkenden außergewöhnlichen Kausalfaktoren so unterschiedlich handhabt, „mal eng und mal weit, dass der Senat im besprochenen Fall sich sowohl für eine Bejahung wie auch für eine Verneinung der Vorhersehbarkeit darauf hätte berufen können“.13 Der Autor malt denkbare Konsequenzen der Rechtsprechung an die Wand und bildet das Beispiel, dass A den B auf einer Treppe vor dem Berliner Hauptbahnhof mit Körperverletzungsvorsatz rückwärts Treppenstufen hinunterstürzt, B dabei zu Fall kommt und sich nur leicht verletzt, anschließend jedoch, gerade weil er dort liegt, von einem Stahlträger erschlagen wird, den der Sturm Kyrill aus der Fassade des Bahnhofsgebäudes gelöst hat. Hardtung führt aus, dass man auf dem Boden der Endergebnis-Formel zur Verurteilung gemäß § 227 StGB kommen könne; er vermöge nicht zu sagen, ob der BGH in einem solchen Fall die Konsequenz aus seinen Worten14 ziehen würde.15 Greift man diesen Gedanken auf, so ließe sich § 227 StGB auch dann bejahen, wenn B beim Sturz so schwere Verletzungen erlitten hätte, dass er in ein Krankenhaus eingeliefert worden und dort bei einem Krankenhausbrand umgekommen wäre. Bekanntlich gehört diese Konstellation zu den Klassikern, in denen man eine Zurechnung ausschließt.16 Ich glaube nicht, dass der BGH im Sturm- oder Krankenhausbrand-Fall den § 227 StGB anwenden würde. Aber allein die Tatsache, dass man darüber nachdenkt, zeigt, auf welch fragwürdigem Boden sich die Rechtsprechung bewegt. In dogmatischer Hinsicht fällt auf, dass die BGH-Entscheidung auf der Ebene des Gefahrverwirklichungszusammenhangs argumentiert. Genau betrachtet geht es aber überhaupt nicht um Fragen dieses speziellen Zusammenhangs, sondern um die allgemeine objektive Voraussehbarkeit, die für jedes Fahrlässigkeitsdelikt gilt.17 Diesbezüglich bestünde etwas mehr Klarheit, wenn nicht Fragen der allgemeinen Voraussehbarkeit und des Gefahrverwirklichungszusammenhangs miteinander vermischt würden. Es ruft schon Erstaunen hervor, wie der BGH mit dem Kriterium des spezifischen Gefahrzusammenhangs, dessen eigentliche Funktion in einer restriktiven Interpretation des Zurechnungszusammenhangs gesehen wird, zu einem extensiven Verständnis von objektiven Voraussehbarkeitsfragen gelangt. Nach den allgemeinen Kriterien für die objektive Voraussehbarkeit des Kausalverlaufs und Erfolgeintritts ist der Erfolgseintritt dann nicht objektiv 13
Hardtung StV 2008, 407, 411. Bezogen auf die von Hardtung besprochene Entscheidung BGH NStZ 2008, 686. 15 Hardtung StV 2008, 407, 410. 16 Vgl. Roxin Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 11 Rn. 45, 78; Kühl Strafrecht AT, 6. Aufl. 2008, § 4 Rn. 61; Rengier AT (Fn. 4), § 13 Rn. 64; MünchKomm-StGB/Hardtung 2003, § 222 Rn. 13. 17 Hardtung StV 2008, 407, 408; Steinberg NStZ 2010, 73; Rengier BT II (Fn. 8), § 16 Rn. 8a. 14
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zurechenbar, wenn der Kausalverlauf so sehr außerhalb der Lebenserfahrung liegt, dass mit ihm vernünftigerweise nicht gerechnet zu werden braucht.18 Wenn von einer „medizinischen Rarität“ die Rede ist, so soll damit offenbar die besondere oder gar extreme Seltenheit des Ereignisses ausgedrückt werden. Die Frage, weshalb darin kein die Zurechnung unterbrechender „außergewöhnlicher“ Faktor liegen soll, diskutiert der BGH noch nicht einmal näher. Die mitgeteilten Fakten sprechen dafür, eine unvoraussehbare Seltenheit zu bejahen. Demgegenüber stimmt Steinberg dem BGH mit der Begründung zu, dass allein die Unwahrscheinlichkeit des Kausalverlaufs in seinen Details diesen noch nicht atypisch im Sinne eines Zurechnungsausschlusses mache, sondern dass eine solche Atypizität dann vorliege, wenn der Erfolg sich als Realisierung eines anderen, insbesondere des allgemeinen Lebensrisikos darstelle; eine durch einen Fußtritt ausgelöste todbringende Reaktion des Nervus vagus sei keine Realisierung des allgemeinen Lebens- oder sonstigen Risikos, sondern der typischen, wenn auch unwahrscheinlichen Gefahr des Trittes.19 Diese Differenzierung zwischen einer unwahrscheinlichen und einer atypischen Gefahr überzeugt nicht, da nicht nachvollziehbar begründet wird, weshalb in dem Eintritt einer medizinischen Rarität die Realisierung einer „typischen“ Gefahr liegen soll. Wenn Steinberg als Beispiel für eine typische Gefahrrealisierung den Fall der tödlichen Kollision des zwecks Ertränkens von der Brücke geworfenen Opfers mit dem Brückenpfeiler nennt,20 so ist das richtig. Aber seinem nächsten Schritt, zwischen dem Raritäten-Fall und der Brückenkonstellation eine Parallele zu ziehen, kann nicht zugestimmt werden. Bei der Prüfung der individuellen Voraussehbarkeit betont der BGH, dass alleiniges Merkmal der Fahrlässigkeit hinsichtlich der qualifizierenden Tatfolge die Voraussehbarkeit des Todes sei. Insoweit hält der BGH dem Landgericht vor, von einem falschen rechtlichen Ansatz ausgegangen zu sein, da es darauf abgestellt habe, ob A die konkrete Todesursache habe voraussehen können. Die Voraussehbarkeit brauche sich gerade nicht auf alle Einzelheiten des zum Tode führenden Geschehensablaufs zu erstrecken, insbesondere nicht auf die durch die Körperverletzung ausgelösten, im Einzelnen ohnehin nicht einschätzbaren somatischen Vorgänge, die den Tod schließlich ausgelöst hätten; vielmehr genüge die Voraussehbarkeit des Erfolges im Allgemeinen. Auf dieser Basis fällt es nicht schwer, die subjektive Fahrlässigkeit des A zu bejahen. Denn natürlich hätte er voraussehen können, dass bei Tritten gegen den Rumpf eines am Boden Liegenden stets das Risiko von tödlichen Verletzungen besteht. 18 19 20
Rengier AT (Fn. 4), § 13 Rn. 62. Steinberg NStZ 2010, 72, 73. Steinberg NStZ 2010, 72, 73.
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Im subjektiven Bereich begnügt sich die Entscheidung demnach eindeutig mit der Voraussehbarkeit des Endergebnisses. Deshalb erübrigt sich für den BGH eine Stellungnahme zu der Frage, ob sich die individuelle Voraussehbarkeit auf die konkrete Todesursache, die medizinische Rarität, erstrecken muss. Dies überzeugt nicht. Der Kausalverlauf ist als Bindeglied zwischen Handlung und Erfolg ein objektives Tatbestandsmerkmal und kann weder beim Vorsatz- noch beim Fahrlässigkeitsdelikt aus der subjektiven Tatseite ausgeblendet werden. Die wesentlichen Einzelheiten müssen daher auch von der subjektiven Voraussehbarkeit erfasst sein. Die todesursächliche medizinische Rarität (Reflextod) ist eine solche wesentliche – wegen ihrer Seltenheit subjektiv unvoraussehbare – Einzelheit. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Die Entscheidung verdient keinen Beifall.21 Ihre gesamte Argumentation läuft darauf hinaus, dem Täter von ihm ausgelöste, zum Tode führende somatische Vorgänge unabhängig davon in objektiver und subjektiver Hinsicht zur Last zu legen, ob dabei ganz ungewöhnliche Faktoren eine Rolle gespielt haben. Faktisch kommt es insoweit objektiv wie subjektiv im Ergebnis nur auf die Voraussehbarkeit des Endergebnisses an. Da insoweit der konkrete Kausalverlauf ausgeblendet wird, hat man es mit einer Erfolgshaftung zu tun, die den Täter dafür bestraft, dass sein gefährliches Handeln auch auf „normalem“ Wege zum Tode hätte führen können. 2. BGH NStZ 1995, 287 Zwei Mittäter schlugen mit Fäusten auf den Kopf ihres Opfers O ein. Ein wuchtig angesetzter Faustschlag traf das linke Auge des O. Dieser Schlag führte infolge der wegen der Alkoholisierung des O ausgebliebenen reflexmäßigen Versteifung der Nackenmuskeln zu einer abrupten starken Beschleunigung des Kopfes, die innerlich eine Subarachnoidalblutung im Basisbereich des Gehirns verursachte, die zum sofortigen Bewusstseinsverlust und späteren Hirntod führte. Das Landgericht sprach vom Vorwurf der Körperverletzung mit Todesfolge unter Bezugnahme auf die Ausführungen des Sachverständigen frei, der betont hatte, dass es sich bei der zum Tode führenden konkreten Konstellation um eine „medizinische Rarität“ gehandelt habe. Der BGH beanstandet, dass sich das Landgericht dadurch den Blick auf die tatbestandlichen Voraussetzungen der Körperverletzung mit Todesfolge verstellt habe. Die Voraussicht des Täters brauche sich nicht auf die physi-
21 Ablehnend auch Rengier, Hardtung, Dehne-Niemann, Jahn und Paeffgen (alle wie Fn. 8); ferner MünchKomm-StGB/Hardtung 2003, § 227 Rn. 6; zustimmend Steinberg und Satzger (wie Fn. 8).
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schen Vorgänge zu erstrecken, die als Folge der Körperverletzung im konkreten Fall den Tod schließlich herbeiführten. Es reiche aus, dass der Körperverletzungshandlung das Risiko eines tödlichen Ausgangs anhafte und sich dann dieses, dem Handeln des Täters eigentümliche Risiko im Eintritt des Todes verwirkliche. „Beide Angeklagte haben ausweislich der Feststellungen ihre beiden Opfer vorwiegend mit Faustschlägen gegen den Kopf traktiert. Es steht außer Frage, dass eine derartige Vorgehensweise ohne weiteres zum Tode der Opfer führen kann und in zahlreichen Fällen auch schon zum Tode geführt hat.“ Deutlicher kann man, egal ob die objektive oder subjektive Tatseite gemeint ist, nicht ausdrücken, dass hier die Täter für einen denkbaren hypothetischen wahrscheinlichen Geschehensablauf und nicht für das unwahrscheinliche tatsächliche Geschehen bestraft werden. Richtigerweise haftet ein Straftäter für ein von ihm geschaffenes unerlaubtes Risiko nur, wenn es tatsächlich zum Erfolg führt, aber nicht dafür, dass es Ersatzursachen auslösen und auf andere Weise zum Erfolg führen kann.22 3. BGHR StGB § 226 Todesfolge 1 T fühlte sich von O belästigt und wehrte ihn mit seinen Fäusten ab. Einer der Hiebe traf die linke vordere Halsseite, der andere kräftigere Schlag die rechte Halsseite im Bereich der Halsschlagadergabelung. Dieser Schlag bewirkte einen „extrem seltenen“ reflektorischen Herzstillstand („Sekundenherztod“). Das Landgericht verneinte wegen der extremen Seltenheit des tatsächlichen Kausalverlaufs die Anwendbarkeit des Tatbestandes der Körperverletzung mit Todesfolge. Der BGH hält dem Landgericht vor, es habe nicht erwogen, ob die beiden kräftigen gegen den Oberkörper gezielten Schläge geeignet gewesen seien, das Opfer so umzuwerfen, dass es sich auf andere Weise habe tödlich verletzen können. Der Zurechnungszusammenhang zwischen Körperverletzung und Tod des Verletzten liege regelmäßig vor, wenn die Körperverletzung nach Art, Ausmaß und Schwere den Tod des Opfers besorgen lasse. Entscheidend sei, ob den beiden Schlägen das Risiko eines tödlichen Ausganges, z.B. durch Aufschlagen mit dem Kopf auf der Bordsteinkante aufgrund der Schläge, anhafte. Auch in dieser Entscheidung aus dem Jahre 1988 findet man die gleichen, das Etikett Erfolgshaftung verdienenden, Überlegungen zur Haftung für einen etwaigen hypothetischen Kausalverlauf wie in der Entscheidung BGH NStZ 1995, 287. Die aktuelle Entscheidung BGH NStZ 2008, 686 ist zwar in
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MünchKomm-StGB/Hardtung 2003, § 227 Rn. 6.
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ihren Formulierungen zurückhaltender, doch lassen sich in inhaltlicher Hinsicht keine nennenswerten Unterschiede feststellen. 4. Exkurs: BGH NStZ 2009, 92 Nach den drei Entscheidungen zur Bedeutungslosigkeit von medizinischen Raritäten ist man zumindest auf den ersten Blick überrascht, mit welcher Selbstverständlichkeit der BGH in einer weiteren Entscheidung zu § 227 StGB den Zurechnungszusammenhang zwischen Körperverletzung und Todesfolge in Frage stellt.23 In dem Fall hatte sich der 128 kg schwere Täter T mit Schwung auf den Brustkorb seiner mit dem Rücken am Boden liegenden Frau gesetzt und ihr die Rippen 18-mal gebrochen. Sie starb einen Monat später an den Verletzungsfolgen. Auf dem Boden der Endergebnis-These wäre es leicht gewesen, T gemäß § 227 StGB zu bestrafen. Aber dieser Ansatz wird überhaupt nicht bemüht. Vielmehr weist der BGH schlicht darauf hin, dass der Zurechnungszusammenhang sowohl wegen möglicher Behandlungsfehler der Krankenhausärzte als auch wegen des Opferverhaltens (unzureichende Inanspruchnahme ärztlicher Hilfe) unterbrochen sein könnte.24 Diese Gedanken verdienen gewiss Beifall, soweit es, präzisierend, um grob fahrlässiges Anschluss-Fehlverhalten geht.25 Nur erführe man gerne mehr über ihre dogmatische Verortung und dazu, weshalb die Formel mit der Endergebnis-These offenbar nicht einschlägig sein soll. Mit Blick auf die den tatsächlichen Geschehensablauf bestimmenden Kausalfaktoren wird man doch wohl sagen können, dass (grobe) Behandlungsfehler und (grobe) Verhaltensfehler des Opfers häufiger als medizinische Raritäten vorkommen.
III. Abnorme Konstitutionen als Todesursachen 1. BGH bei Dallinger MDR 1976, 16 A stieß den Körper des B mindestens zweimal so heftig gegen die Sitzbank, dass der Kopf wuchtig auf der hölzernen Rücklehne oder der ebenfalls hölzernen Sitzfläche aufschlug. Infolge der Gewalteinwirkung auf den Kopf des B zerriss bei diesem ein kleiner Ast der mittleren linken Hirnschlagader und es kam zu einer Blutung zwischen den Hirnhäuten, an deren Folgen B am dritten Tage verstarb. Zu Gunsten des A ist anzunehmen, dass die Blutung nicht ihr tödliches Ausmaß erreicht hätte, wenn bei
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BGH NStZ 2009, 92. BGH NStZ 2009, 92, 93. 25 Vgl. Schönke/Schröder/Lencker/Eisele StGB, 28. Aufl. 2010, vor § 13 Rn. 102; Rengier AT (Fn. 4), § 13 Rn. 84 ff., 95; ders. (Fn. 1), S. 161 ff., 168 ff. 24
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B nicht eine hochgradige Verhärtung und Verfettung der Leber vorgelegen hätte und dadurch die Blutgerinnungsfähigkeit beeinträchtigt gewesen wäre. Der BGH bestätigte die Verurteilung aus dem Tatbestand der Körperverletzung mit Todesfolge. Der Eintritt des Todes sei Ausdruck der dem Grundtatbestand innewohnenden Gefahr. „Wuchtiges Aufschlagen des Kopfes kann Gehirnblutungen und den Tod zur Folge haben. Daran ändert nichts, dass beim Opfer die Blutgerinnungsfähigkeit infolge eines Leberleidens schlechter als bei Gesunden war“. Hinsichtlich der subjektiven Seite der Voraussehbarkeit betont der BGH, dass die Voraussehbarkeit des Verlaufs im Allgemeinen genüge. Es sei nicht erforderlich, dass für A die schlechtere Blutgerinnungsfähigkeit des Opfers vorhersehbar gewesen sei. Vielmehr genüge für die Erkennbarkeit die Erfahrung des täglichen Lebens, dass jemand nach wuchtigem Aufschlagen des Kopfes an Hirnverletzungen sterben könne. 2. BGH NStZ 1997, 34126 A und B hatten ihr 63-jähriges Opfer O mit den Fäusten geschlagen sowie den Füßen getreten und ihm erhebliche Verletzungen zugefügt. Die verursachten Gewalteinwirkungen führten zu einer besonderen psychischen Belastung und zur Überängstlichkeit des Geschädigten, zu einer Beschleunigung des Pulses und Überbelastung des Herzens, das bereits wegen einer Lichtungseinengung der Herzkranzschlagader durch Arteriosklerose und Muskelmassezunahme vorgeschädigt war. Durch all dies bedingt erlitt O zwei Herzinfarkte und starb. Der zweite Herzinfarkt wurde wesentlich durch die Gewalthandlungen der Täter verursacht. Das Landgericht hat die Annahme einer Körperverletzung mit Todesfolge mit der Begründung abgelehnt, der Tod habe sich nicht aus der Schwere der Verletzungen ergeben, vielmehr sei er als „psychogener“ Tod auf Grund der durch die Verletzungen verursachten Aufregungen und Angstzustände eingetreten. Dem widerspricht der BGH. „Die Angeklagten haben Gewalthandlungen begangen, die für das Opfer das Risiko eines tödlichen Ausgangs in sich bargen. Es steht außer Frage, dass solche Körperverletzungshandlungen, wie sie die Angeklagten vorgenommen haben, ohne weiteres zum Tod des Opfers führen konnten, und in zahlreichen Fällen auch schon zum Tode geführt haben. In dem Tod hat sich deshalb die dem Grundtatbestand des § 223 StGB anhaftende eigentümliche Gefahr dann auch niedergeschlagen …; er ist den Angeklagten auch zuzurechnen.“ Der Geschehensablauf liege nicht außer-
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Dazu auch Geppert JK 98, StGB § 227 n.F./1.
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halb der Lebenswahrscheinlichkeit. Seine Voraussehbarkeit brauche sich nicht auf alle Einzelheiten des zum Tode führenden Verlaufs zu erstrecken, insbesondere nicht auf die durch die Gewalthandlungen ausgelösten, im Einzelnen ohnehin nicht einschätzbaren somatischen und psychischen Vorgänge, die den Tod schließlich herbeigeführt hätten. 3. Bewertung Die geschilderten beiden Entscheidungen dürften deutlich gemacht haben, dass der BGH konstitutionelle Schwächen des Opfers als Todesursachen in gleicher Weise für unbeachtlich hält wie die eingangs erörterten medizinischen Raritäten. Diese Auffassung muss hier wie dort aus den gleichen Gründen abgelehnt werden. Diskutabel ist allein, inwieweit das Vorhandensein von bestimmten konstitutionellen Besonderheiten im Rahmen der Lebenserfahrung liegt. Ferner muss in das Voraussehbarkeitsurteil ein etwaiges Sonderwissen auch über seltene konstitutionelle Anlagen einfließen.27 Auf jeden Fall muss die Wertung, ob im Rahmen des konkreten Geschehensablaufs die Sonderkonstitution eine nicht zurechenbare wesentliche oder eine zurechenbare unwesentliche Einzelheit darstellt, getroffen werden. Man kann derartige Faktoren weder in objektiver noch in subjektiver Hinsicht mehr oder weniger pauschal für irrelevant erklären. Ansonsten sieht man sich wie der BGH erneut mit dem Vorwurf einer Erfolgshaftung konfrontiert. 4. Die Bluterkonstellation T will O mit einem Steinwurf verletzen. Der Stein trifft den Unterschenkel und ruft eine an sich harmlose Wunde hervor. O verblutet aber, weil er an Hämophilie leidet und deshalb die Wunde nicht zum Stillstand gebracht werden kann. Dieser Fall ist im Zusammenhang mit § 227 StGB soweit ersichtlich noch nicht Gegenstand der Rechtsprechung gewesen. Immerhin hat das Reichsgericht in einem vergleichbaren, indes nur auf der Ebene des § 222 angesiedelten Fall darauf abgestellt, dass ein Steinwurf lebensgefährlich sei und es insoweit nur auf die allgemeine Voraussehbarkeit des Erfolges ankomme.28 Wie die heutige Rechtsprechung den Fall entscheiden würde, bleibt etwas spekulativ. Sie könnte an die Endergebnis-These und insoweit daran anknüpfen, dass ein auf einen Menschen geworfener Stein das Risiko eines tödlichen Ausgangs in sich berge, die Todesursache auch ausgelöst worden sei und es
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Vgl. nur Rengier AT (Fn. 4), § 13 Rn. 54 f., 74. RGSt 54, 349 ff.
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im Übrigen nur auf die Voraussehbarkeit im Allgemeinen bzw. im Endergebnis ankomme. Auf der anderen Seite ist nicht ausgeschlossen, dass in einem solchen Fall mit einer vielleicht besonders seltenen abnormen Konstitution der Kausalverlauf als außerhalb „jeder“ Lebenswahrscheinlichkeit eingestuft wird. Führt man indes die vom Reichsgericht vorgezeichnete Linie fort und betrachtet man die Rechtsprechung zu den medizinischen Raritäten und den Fällen mit einer Sonderkonstitution, so ist zu vermuten, dass der BGH eher zur Bejahung des § 227 StGB kommen dürfte. Dass dies, wenn man die Blutereigenschaft zutreffend als nicht voraussehbaren seltenen Kausalfaktor einstuft, keine Zustimmung verdient,29 braucht nicht weiter hervorgehoben zu werden.
IV. Exzesse von Beteiligten als Todesursachen 1. Grundlagen Sucht man nach Gründen für die namentlich von der Rechtsprechung befürwortete Art der Erfolgshaftung im Zusammenhang mit medizinischen Raritäten und abnormen Konstitutionen als Todesursachen, so sind als Hauptfaktoren die generelle (Lebens-)Gefährlichkeit, die gravierenden körperlichen Attacken innewohnt, und die Unberechenbarkeit somatischer Verläufe und Zustände zu nennen. Außerdem erspart man sich die Diskussion, welche körperlich bedingten Todesursachen außerhalb der Lebenserfahrung liegen und den Zurechnungszusammenhang unterbrechen. Wer vor diesem Hintergrund der Position der Rechtsprechung zustimmt oder für sie zumindest ein gewisses Verständnis aufbringt, wird dies vielleicht in der Vorstellung tun, dass der sensible körperliche Bereich betroffen und daher die geschilderte Erfolgshaftung vertretbar sei. Eine derartige Vorstellung würde indes nicht mehr stimmen. Denn es mehren sich die Anzeichen dafür, dass jedenfalls Teile der Rechtsprechung eine neue Art der Erfolgshaftung im Bereich der Beteiligung an einer Körperverletzung mit Todesfolge etablieren. Nach den vom 4. Strafsenat jüngst bestätigten zutreffenden Leitlinien kann wegen gemeinschaftlicher Körperverletzung „für deren Todesfolge, die ein anderer unmittelbar herbeigeführt hat, auch derjenige bestraft werden, der
29 Auf dieser Linie auch SK-StGB/Hoyer 39. Lfg. 2004, Anh. zu § 16 Rn. 85; Puppe Die Erfolgszurechnung im Strafrecht, 2000, S. 227; Ferschl Das Problem des unmittelbaren Zusammenhangs beim erfolgsqualifizierten Delikt, 1999, S. 144, 180 f.; Seher Jura 2001, 814, 817; Duttge NStZ 2006, 266, 273; Rengier AT (Fn. 4), § 13 Rn. 69 ff.; Baumann/Weber/ Mitsch Strafrecht AT, 11. Aufl. 2003, § 14 Rn. 25; a.A. B. Heinrich Strafrecht AT I, 2. Aufl. 2010, Rn. 249; zögernd Kühl AT (Fn. 16), § 4 Rn. 65.
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die Verletzung nicht mit eigener Hand ausführt, jedoch aufgrund eines gemeinschaftlichen Tatentschlusses mit dem Willen zur Tatherrschaft zum Verletzungserfolg beiträgt, sofern die Handlung des anderen im Rahmen des beiderseitigen ausdrücklichen oder stillschweigenden Einverständnisses lag und den Täter hinsichtlich des Erfolges Fahrlässigkeit zur Last fällt“.30 Dabei ist für die Anwendung des § 227 StGB nicht unbedingt erforderlich, dass sich der Körperverletzungsvorsatz auf die konkret todesursächliche Handlung bezieht. Nach den allgemeinen Regeln zur Unbeachtlichkeit unwesentlicher Abweichungen im Kausalverlauf reicht es aus, wenn der Beteiligte ein vergleichbar gefährliches Vorgehen für möglich gehalten und gebilligt hat.31 Der Vorsatz des Täters/Beteiligten muss sich also, so habe ich das formuliert, „auf die für den konkreten tödlichen Verlauf in tatbestandsspezifischer Weise ursächliche Körperverletzungshandlung erstrecken. Soweit das tatsächliche Geschehen von einem vereinbarten Tatplan abweicht, erfasst der Vorsatz entsprechend den allgemeinen Regeln auch unwesentliche Abweichungen im Kausalverlauf, d.h. solche, mit denen nach den Umständen des Falles etwa deshalb gerechnet werden muss, weil die verabredete Tatausführung durch eine in ihrer Schwere und Gefährlichkeit gleichwertige ersetzt wird“.32 Auf der Ebene des § 251 StGB sind diese Leitlinien auch innerhalb der Rechtsprechung noch unangefochten und in jüngster Zeit vom 1. und 2. Strafsenat bestätigt worden.33 Danach haftet ein Beteiligter „gemäß § 251 StGB als Mittäter nur für die Folgen derjenigen Handlungen des den Tod des Opfers unmittelbar herbeiführenden Täters, die er in seine Vorstellungen von dem Tatgeschehen einbezogen hatte. Die dem Opfer mit Tötungsvorsatz zugefügten Körperverletzungen dürfen also nicht von wesentlich anderer Art und Beschaffenheit sein, als der Mittäter es wollte und sich vorstellte. Jedoch begründet nicht jede Abweichung des tatsächlichen Geschehens von dem vereinbarten Tatplan bzw. den Vorstellungen des Mittäters die Annahme eines Exzesses. Differenzen, mit denen nach den Umständen des Falles gerechnet werden muss, und solche, bei denen die verabredete Tatausführung durch eine in ihrer Schwere und Gefährlichkeit gleichwertige ersetzt wird, werden in der Regel vom Willen des Beteiligten umfasst, auch wenn er sie sich so nicht vorgestellt hat.“34
30 31 32 33 34
BGH NStZ 2009, 631, 632. BGH NStZ 1994, 339. Rengier BT II (Fn. 8), § 16 Rn. 34. BGH NStZ 2008, 280 (1. Strafsenat); NStZ 2010, 33 (2. Strafsenat). BGH NStZ 2010, 33 f.
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2. Zurechnung von Exzessen eines Beteiligten bei § 227 StGB Mit den eingangs geschilderten Leitlinien sind zwei aktuelle Entscheidungen des 2. Strafsenats zu § 227 StGB35 und zwei ebenfalls § 227 StGB betreffende Entscheidungen des 5. Strafsenats 36 nicht vereinbar. a) BGH NStZ-RR 2009, 309 A, B und C fassten den Entschluss, ihr Opfer O gemeinsam durch Schläge und Tritte zu attackieren. Am Tatort angekommen konnte B das Fahrzeug zunächst nicht verlassen, während A und C mit Fäusten auf O einschlugen, bis dieser die Flucht ergriff. Nach nur wenigen Metern wurde O von A gestellt. Nach weiteren Schlägen stieß A mit bedingtem Tötungsvorsatz die Klinge eines einschneidigen Messers zweimal mit großer Wucht in den Oberkörper des O. Einer der Messerstiche war tödlich. Dass A ein Messer bei sich trug, war B und C nicht bekannt. Der 2. Strafsenat wirft dem Landgericht, das § 227 StGB nicht angewendet hat, vor, es hätte erörtern müssen, ob in den Gewalthandlungen, die den Messerstichen vorangegangen seien, die spezifische Gefahr einer Eskalation mit tödlichem Ausgang angelegt gewesen sei, und ob B und C dies hätten vorhersehen können. Diese Annahme, so der 2. Senat, liege nahe; denn Schlagwerkzeuge (Baseballschläger) hätten im Fahrzeug griffbereit gelegen und seien auch im Rahmen der Vorgeschichte verwendet worden. „Der hinsichtlich der qualifizierenden Tatfolge erforderlichen Vorhersehbarkeit steht dabei nicht entgegen, dass die Angeklagten nichts von dem Mitführen eines Messers gewusst hatten. Denn es reicht für die Erfüllung der subjektiven Fahrlässigkeitskomponente aus, wenn der Täter die Möglichkeit des Todeserfolgs im Ergebnis hätte voraussehen können. Einer Voraussehbarkeit aller Einzelheiten des zum Tode führenden Geschehensablaufs bedarf es nicht“.37 Zudem liege es nach den Gesamtumständen auch nicht fern, dass B und C die Möglichkeit hätten voraussehen können, dass einer ihrer Mittäter ein Messer im Rahmen der gezielt herbeigeführten Auseinandersetzung mitführen und einsetzen würde. Nach der Ansicht des 2. Strafsenats macht sich also als Mittäter einer Körperverletzung mit Todesfolge strafbar, wer mit einem anderen eine vorsätzliche Körperverletzung verabredet, die tödlich enden kann, wenn der Tatgenosse in voraussehbarer Weise an das vorangegangene Tatgeschehen anknüpft und einen Körperverletzungsexzess mit Todesfolge begeht. Aus der
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BGH NStZ-RR 2009, 309; NStZ-RR 2007, 76 (i.V.m. S. 43 ff.). BGH NStZ 2004, 684; NStZ 2005, 93. 37 An dieser Stelle wird ausdrücklich auf die Entscheidung BGH NStZ 2008, 686 verwiesen, in der es um eine medizinische Rarität ging (oben II.1). 36
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Perspektive von B und C: Sie haben gefährliche Schläge und Tritte verabredet, und es bestehen keine Zweifel, dass derartige Tathandlungen tödlich sein können. Natürlich hätten B und C die §§ 227, 25 Abs. 2 StGB erfüllt, wenn etwa die Faustschläge tödlich gewesen wären. Aber tatsächlich ist der Tod des O durch ein völlig anderes Geschehen, nämlich durch von A vorsätzlich zugefügte Messerstiche eingetreten. Nach dem Tatplan liegt darin ein Täterexzess. Es ist verfehlt, die Endergebnis-These auch noch auf derartige Mittäterschafts-Fälle zu übertragen und auf diese Weise den Täterexzess genauso wie eine medizinische Rarität für unbeachtlich zu erklären. B und C haften nicht für Todesfolgen, die aus von ihnen nicht vorsätzlich gebilligten Körperverletzungshandlungen hervorgegangen sind. b) BGH NStZ-RR 2007, 76 (i.V.m. S. 43 ff.) A und andere Mitangeklagte fassten spontan den Entschluss, den Taxifahrer T, der sie angesichts ihrer Trunkenheit nicht transportieren wollte, einen Denkzettel in Form von Schlägen und Tritten zu erteilen. Alle schlugen und traten auf T ein. Dann stieß A, der seine ursprüngliche Angriffsabsicht aufgegeben hatte, das Tatopfer in das Taxi hinein, um es vor weiteren Einwirkungen zu schützen. Im weiteren Verlauf stachen andere Angeklagte, von A unbemerkt, mit Messern auf T ein. Ein Messerstich war tödlich. Der BGH bestätigte die Verurteilung des A gemäß § 227 StGB. Zur Begründung wird lediglich ausgeführt, dass schon den Gewalthandlungen des A die tatbestandsspezifische Gefahr eines tödlichen Ausgangs angehaftet habe. T sei bereits durch die Körperverletzungshandlungen des A in eine Lage geraten, in der er weiteren Angriffen keine wirksame Gegenwehr mehr entgegenzubringen vermocht habe. Die Strafbarkeit des A gemäß § 227 StGB wird demnach damit begründet, dass A eine Lage des Opfers mitgeschaffen hat, in der es in einer für A voraussehbaren Weise weiteren Attacken der anderen Angeklagten mit einem möglichen tödlichen Ausgang ausgeliefert war. Das reicht zwar für § 222 StGB, aber nicht für § 227 StGB aus.38 Insoweit hätte festgestellt werden müssen, dass die Verwendung der Messer vom gemeinsamen Tatplan mitgetragen gewesen ist. Dazu fehlen aber Feststellungen. Die gewissen Schritte hin zu einer Erfolgshaftung, die der 2. Strafsenat in den beiden vorstehenden Entscheidungen getan hat, überraschen, weil sie eine Deliktsgruppe betreffen, bei der man immer wieder die Notwendigkeit einer besonderen restriktiven Interpretation betont. Dem soll bekanntlich das Kriterium des spezifischen Gefahrzusammenhangs dienen. Auch der 2. Senat greift dieses Kriterium auf, verwendet aber die Formel von der „tat38
Ablehnend auch Geppert JK 7/07, StGB § 227/3.
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bestandsspezifischen Gefahr eines tödlichen Ausgangs“ gerade in der entgegengesetzten Richtung, um Exzesshandlungen von anderen Beteiligten für unbeachtlich zu erklären. c) BGH NStZ 2004, 68439 In erheblicher Wut zog Vater K los, um seinen Schwager S zur Rede zu stellen. Um K erforderlichenfalls zu unterstützen, begleitete ihn sein Sohn M, der, wie auch K wusste, mit einem Butterflymesser bewaffnet war. Als S sich gegen die mit einem Hackmesser geführten sofortigen Angriffe des K zur Wehr setzte, griff M mit dem Butterflymesser S an und versetzte ihm – insoweit aus Erregung weit über den ursprünglichen Plan hinausgeschossen – tödliche Messerstiche. Der BGH beanstandet, dass K nicht gemäß § 227 StGB bestraft worden sei. Zwar räumt der BGH ein, dass das Schwurgericht den Messerangriff des M rechtsfehlerfrei als Exzess bewertet habe. Doch habe K das in diesem Messerangriff liegende Weniger der gefährlichen Körperverletzung mittäterschaftlich gewollt. Durch die Intensivierung dieses als Körperverletzung gewollten Verhaltens hin zu vorsätzlichen tödlichen Messerstichen sei der Tod des S verursacht worden. Dies sei für K namentlich angesichts der emotional massiv aufgeheizten Tatsituation vorhersehbar gewesen. Die Bejahung des § 227 StGB wäre richtig, wenn man annehmen könnte, dass sich der Messerangriff des M noch im Rahmen der vom gemeinsamen Tatplan gedeckten Gewalttätigkeiten bewegt hat. Eine solche Annahme liegt nicht ganz fern, da K selbst ein Messer verwendet und von der Bewaffnung des M gewusst hat. Doch liegt nach den Feststellungen in den gezielten tödlichen Messerstichen ein Exzess. Wenn dem so ist, dann kann man nicht die eine Körperverletzung des M (tödlicher Messerstich) aus der Perspektive des K in eine gewollte weniger gefährliche Körperverletzung und in eine ungewollte tödlich endende Köperverletzung aufteilen und auf eine fiktive „Intensivierung“ der weniger gefährlichen Körperverletzung die Verurteilung des M gemäß § 227 StGB stützen.40 d) BGH NStZ 2005, 9341 A, B und C hatten ihr 16-jähriges Opfer O erheblich misshandelt. In der Endphase zwangen sie O, in die Steinkante eines Schweinetrogs zu beißen. Als O zum zweiten Mal in den Schweintrog biss, entschloss sich A spon39 Dazu auch Sowada FS für Schroeder, 2006, S. 621, 624 ff.; Stuckenberg FS für Jakobs, 2007, S. 693 ff., 704 ff. 40 Stuckenberg (Fn. 39), S. 693, 707. 41 Dazu auch M. Heinrich NStZ 2005, 95 ff.; Kudlich JuS 2005, 568 ff.; ferner Sowada und Stuckenberg (beide wie Fn. 39).
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tan, eine Filmszene vollends in die Realität umzusetzen und sprang mit direktem Tötungsvorsatz mit beiden Füßen, an denen er Springerstiefel mit Stahlkappen trug, auf den Kopf des O. Damit hatten B und C (möglicherweise) nicht gerechnet. Der Sprung war tödlich. Mit ähnlicher Begründung wie im vorangegangenen Messerstich-Fall rügte der 5. Strafsenat die Nichtanwendung des § 227 StGB bei B und C. Die Bewertung des tödlichen Sprunges von A als Exzess sei zwar richtig. Dies ändere aber nichts am generellen Einverständnis von B und C mit der Gewaltfortsetzung. So massiv die Intensivierung der Gewalt durch A auch gewesen sei, so sei sie doch als weitere fortgesetzte Gewalthandlung gewollt und in ihrer tödlichen Wirkung vorhersehbar gewesen. Auch dieses Urteil fordert zum Widerspruch heraus. Diesbezüglich führt M. Heinrich zunächst in Übereinstimmung mit der hier vertretenen Position zu Recht aus, dass das als Anknüpfungspunkt dienende Grunddelikt auf jeden Fall vorsätzlich verwirklicht sein muss und von daher die in der Exzesshandlung inbegriffene Körperverletzung nicht herangezogen werden kann. Ebenfalls sieht er richtig, dass man eine Körperverletzung, die als Exzess bewertet wird, nicht als gewollte weitere fortgesetzte Gewalthandlung bezeichnen kann.42 M.Heinrich will für die Zurechnung aber genügen lassen – und so versteht er letztlich auch die Ausführungen des BGH –, dass die Gefahr des konkreten tödlichen Ausgangs bereits in den vor der Exzesshandlung des A vorgenommenen gravierenden Körperverletzungen angelegt gewesen sei, sich der Todeserfolg mithin als Niederschlag gerade eben dieses bereits in der Verwirklichung des Grunddelikts liegenden Todesrisikos darstelle.43 Diese Argumentation verdient keinen Beifall. Denn mit ihr wird behauptet, dass die maßgebliche Todesursache, die von der Exzesshandlung herrührt, nicht zum mittäterschaftlichen Zurechnungszusammenhang gehört. Von einem solchen Blickwinkel aus fehlt das mittäterschaftliche Band, welches das Grunddelikt und den qualifizierenden Teil zu einer Mittätereinheit verbindet.44 Ohne dieses Band hat man es in den hier kritisierten Entscheidungen nur mit einer gemeinschaftlichen (gefährlichen) Körperverletzung zu tun, an die in voraussehbarer Weise ein Mittäter weitere Handlungen mit tödlichem Ende anknüpft. Dies reicht für die §§ 227, 25 Abs. 2 StGB so wenig wie für die §§ 251, 25 Abs. 2 StGB aus. Im Übrigen hatte der 5. Strafsenat im Jahre 2002 in BGHSt 48, 34, 39 mit Blick auf die §§ 227, 25 Abs. 2 StGB noch betont, Voraussetzung für die mittäterschaftliche Zurechnung sei,
42 43 44
M. Heinrich NStZ 2005, 95, 96. M. Heinrich NStZ 2005, 95, 96 f. Vgl. Rengier (Fn. 1), S. 253 f.; Sowada (Fn. 39), S. 621, 628 f.
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dass „die Handlung der anderen im Rahmen des allseitigen ausdrücklichen oder stillschweigenden Einverständnisses lag“. Wieso das wenig später45 nicht mehr gelten soll, sagt der 5. Strafsenat nicht. 3. Fazit Die vier erörterten Exzess-Entscheidungen des 2. und 5. Strafsenats übertragen zumindest im Ergebnis die Endergebnis-These der Rechtsprechung auf Beteiligungsfälle des § 227 StGB. Dies überzeugt noch weniger als die Anwendung der Endergebnis-These im Zusammenhang mit medizinischen Raritäten und abnormen Konstitutionen. Damit gibt es ein Stück mehr Erfolgshaftung bei den erfolgsqualifizierten Delikten, für deren Ableitung die beiden Strafsenate auch noch den eigentlich restriktiven Gedanken des tatspezifischen Gefahrverwirklichungszusammenhangs bemühen.46 Unerörtert bleibt, wie sich diese Rechtsprechung zu den davon abweichenden, im Rahmen der §§ 251, 25 Abs. 2 StGB angewandten Grundsätzen verhält. Ferner scheint der 4. Strafsenat bezüglich der §§ 227, 25 Abs. 2 StGB eine andere Linie zu vertreten. Von daher darf man hoffen, dass die Diskussion auch innerhalb des BGH weitergehen und wieder mehr Restriktion bringen wird.
V. Schluss Da sich der Jubilar mit den erfolgsqualifizierten Delikten als Autor47 wie auch als jahrzehntelanger Herausgeber der Zeitschrift Jura48 schon intensiv befasst hat, braucht um seine Aufmerksamkeit für die vorstehenden Zeilen nicht besonders geworben zu werden. Meine herzlichen Glück- und Wohlergehenswünsche zum 70. Geburtstag seien verbunden mit einem besonderen Dank für die vielen Anregungen, die mir der Jubilar nicht nur durch sein wissenschaftliches Werk, sondern auch persönlich als Dozent und älterer Assistentenkollege am Freiburger Lehrstuhl gegeben hat.
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Siehe BGH NStZ 2004, 684; 2005, 93. Vgl. ergänzend Steinberg NStZ 2010, 72 ff. 47 Siehe Geppert (Fn. 26, 38). 48 Vgl. etwa Rengier Jura 1986, 143 ff.; Sowada Jura 1994, 643 ff.; ders. Jura 1995, 644 ff.; ders. Jura 2003, 549 ff.; Mitsch Jura 1993, 18 ff.; Kühl Jura 2002, 810 ff.; ders. Jura 2003, 19 ff.; B. Heinrich/Reinbacher Jura 2005, 743 ff. 46
Der bedingte Tötungsvorsatz und die Hemmschwellentheorie des Bundesgerichtshofs* Ruth Rissing-van Saan I. Zum Thema In revisionsrechtlichen Entscheidungen des Bundesgerichtshofs (BGH), die sich mit Gewalttätigkeiten der Angeklagten gegen andere oder Gefährdungen von Leib und Leben Dritter befassen, werden Ausführungen der erstinstanzlichen Urteile zu einem vom Tatrichter angenommenen oder abgelehnten Tötungsvorsatz bemerkenswert häufig beanstandet, wenn es um den Schuldspruch wegen eines vorsätzlichen Tötungsdelikts geht. Ansatz für die revisionsrichterliche Kritik ist oft der Umstand, dass schon allein aus einem objektiv lebensgefährlichen Tatgeschehen der Schluss gezogen wurde, der Angeklagte sei sich auch der Möglichkeit des Eintritts eines tödlichen Erfolges bewusst gewesen und habe diesen billigend in Kauf genommen. Die Strafsenate des BGH halten dem nicht selten entgegen, die Billigung eines Todeserfolges bzw. die Feststellung eines Tötungsvorsatzes bedürfe einer sorgfältigen Prüfung, weil gegenüber der Tötung eines anderen Menschen eine hohe Hemmschwelle bestehe. 1. Der BGH bemühte diese Hemmschwellenargumentation in seinen Entscheidungen meist ohne nähere Erläuterung, und zwar im Zusammenhang mit der Abgrenzung von bedingtem Tötungsvorsatz und (bewusster) Fahrlässigkeit, sowie von Gefährdungs- und Verletzungsvorsatz bei Gewaltdelikten, deren Tathergang die Annahme eines (versuchten) Tötungsdelikts nahelegen. Erstmals geschah dies in einer Entscheidung aus dem Jahr 1982. Sie wird von der Wissenschaft seither und auch in jüngerer Zeit nicht nur in den gängigen Lehrbüchern und Kommentaren, sondern auch u.a. von dem ver-
* Der Beitrag baut auf der von Verf. am 29.1.2010 aus Anlass der Verleihung der Honorarprofessur der Ruhr-Universität Bochum gehaltenen Antrittsvorlesung auf; er wurde durch Kürzungen im Text und Erweiterungen an anderer Stelle nicht unwesentlich geändert und im Übrigen um Fußnoten ergänzt.
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ehrten Jubilar1 in Aufsätzen oder Entscheidungsbesprechungen stets kritisch thematisiert und analysiert.2 In der Literatur gilt diese sog. Hemmschwellentheorie zu Recht als Erfindung der Rechtsprechung, über deren konkrete Bedeutung für die im Einzelfall zu treffende Entscheidung, ob der Angeklagte mit bedingtem Vorsatz oder nur bewusst fahrlässig gehandelt hat, allenthalben Unklarheiten bestehen. Dies auch deshalb, weil schon im Allgemeinen die Abgrenzung von Vorsatz und Fahrlässigkeit, von Verletzungs- und Gefährdungsvorsatz, insbesondere die Abgrenzung des bedingten Vorsatzes von der bewussten Fahrlässigkeit, mit vielen Zweifeln behaftet ist und als eine der umstrittensten und schwierigsten Fragen des Strafrechts gilt.3 2. Der genannten Abgrenzung kommt jedoch für die Strafverfolgungsbehörden erhebliche praktische Bedeutung zu, da die vorsätzliche Begehung einer Straftat in der Regel eine höhere Strafe nach sich zieht als eine Fahrlässigkeitstat. Bei den Tötungsdelikten wird dies besonders augenfällig: Die vorsätzliche Tötung wird in § 212 StGB mit einer Mindeststrafe von fünf Jahren bedroht, erfüllt sie eines der Mordmerkmale des § 211 StGB, droht dem Täter lebenslange Freiheitsstrafe, während § 222 StGB für die fahrlässige Tötung Geldstrafe oder höchstens fünf Jahre Freiheitsstrafe als Strafrahmen vorsieht. Außerdem tritt, jedenfalls in Fällen ausbleibenden Erfolgs, der Tatbestand der gefährlichen Körperverletzung mittels einer das Leben gefährdenden Handlung (§ 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB), der zwar die Kenntnis der (abstrakt) das Leben gefährdenden tatsächlichen Umstände, nicht aber die Möglichkeit des Erfolgseintritts voraussetzt, in Idealkonkurrenz zu einem versuchten Tötungsdelikt, was eine nachvollziehbare Unterscheidung von Gefährdungs- und Verletzungsvorsatz, wie sie die umstrittene HIV-Entscheidung des Bundesgerichtshofs in BGHSt. 36, 1, versucht hat, nicht einfacher macht. Geppert hat denn auch schon vor einigen Jahren mit Blick auf die von der Rechtsprechung schon seit den Zeiten des Reichsgerichts für die Abgrenzung des bedingten Vorsatzes von der (bewussten) Fahrlässigkeit bevorzugte „Einwilligungs- oder Billigungstheorie“ gemeint, es sei die Gefahr nicht von der Hand zu weisen, dass bedingter Vorsatz von Gerichts wegen autoritativ zugeschrieben und nicht nachgewiesen werde.4 Zutreffend ist auch von ande-
1 Geppert Jura 2001, 55; ferner Puppe NStZ 1992, 576; dieselbe AT 2. Aufl. § 9 Rdn. 31 ff.; Roxin, Festschrift für Rudolphi (2004), S. 243; Verrel NStZ 2004, 309; Schroth, Festschrift für Widmaier (2008), S. 779; ebenfalls, allerdings in einem etwas anderen Zusammenhang, Herzberg, Festschrift für Schwind (2006), S. 317. 2 Vgl. hierzu auch kritisch Schneider MüKo § 212 Rdn. 10 ff. und 48 f. 3 Roxin AT/I 4. Aufl. § 12 Rdn. 21. 4 Jura 1987, 668, 670; ähnliche Befürchtungen hegt Horn in SK-StGB § 212 Rdn. 23c.
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rer Seite darauf hingewiesen worden, dass die von der Rechtsprechung im Zusammenhang mit der Feststellung bedingten Vorsatzes bevorzugt verwendeten Maßstäbe des „Für-möglich-Haltens“ und des „In-Kauf-Nehmens“, da vom Gesetz nicht definiert, vom jeweiligen Vorverständnis der urteilenden Richter mitgeprägt würden.5
II. Strafrechtsdogmatische Grundlagen und Gerichtsalltag 1. Die im Zusammenhang mit den Schuldformen Vorsatz und Fahrlässigkeit interessierenden gesetzlichen Regelungen der §15–§ 18 StGB unterscheiden zwar zwischen diesen Erscheinungsformen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit, definieren sie aber nicht inhaltlich. Aus § 16 Abs. 1 und 2 StGB lässt sich aber immerhin ableiten, dass Vorsatz (zumindest) die Kenntnis aller Umstände voraussetzt, die zum Tatbestand gehören. Ob beim Vorsatz auch eine voluntative, eine Willenskomponente, eine Rolle spielt, ist dem Gesetz nicht zu entnehmen und ist deshalb umstritten.6 Gerade dieses voluntative Vorsatzelement wird in der Wissenschaft seit einigen Jahren hinsichtlich seiner Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit in Zweifel gezogen oder als überflüssig, wenn nicht sogar schädlich angesehen.7 Darauf kann hier im Zusammenhang mit der thematisch im Mittelpunkt stehenden „Hemmschwellentheorie“ nicht näher eingegangen werden, sondern als Ausgangspunkt der Betrachtungen soll die h.M. dienen, zu der auch die Auffassung der Rechtsprechung zählt. Nach dieser Ansicht ist Vorsatz Willen zur Tatbestandsverwirklichung in Kenntnis aller zum objektiven Tatbestand gehörenden Umstände. Die in der Rechtsprechung gebräuchliche Kurzformel beschreibt Vorsatz als „Wissen und Wollen der Tatbestandsverwirklichung“. 2. Der Vorsatz beinhaltet danach zwei Elemente, nämlich ein kognitives Element, das das Wissen um die Erfüllung der Tatbestandsmerkmale einschließlich eines möglichen Erfolgseintritts verlangt und ein voluntatives Element, das eine bestimmte psychische Einstellung des Täters zur Tatbestandsverwirklichung einschließlich des tatbestandlichen Erfolges voraussetzt. Dieses Element besagt, dass der Täter die Tatbestandserfüllung und den Erfolg wollen, zumindest aber „billigend“ in Kauf nehmen muss.8 Letztere Formulierung beschreibt den bedingten Vorsatz, der neben der Absicht und dem direkten Vorsatz dritten Erscheinungsform des Vorsatzes. Der Begriff „bedingter Vorsatz“ oder dolus eventualis ist allerdings insofern missver5
Lüderssen, StV 1990, 83, 85. Nähere Nachweise bei Wessels/Beulke AT 38. Aufl., Rdn. 203 ff., und dort Fn. 3. 7 Vgl. u.a. Herzberg Fn. 1; Puppe Fn. 1; dieselbe GA 2006, 65 und NK-StGB 3. Aufl. § 15 Rdn. 31 ff. 8 BGHSt. 7, 363, 368 f.; BGHSt. 36, 1, 9. 6
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ständlich, als auch der bedingte Vorsatz unbedingten Handlungswillen voraussetzt, der Täter sich demnach schon entschieden haben muss, auch „um den Preis der möglichen Tatbestandsverwirklichung“ zu handeln.9 a) Die Rechtsprechung definiert den bedingten Vorsatz unter Beibehaltung des zweigliedrigen Vorsatzbegriffs dahin, dass der Täter vorsätzlich handelt, wenn er den Eintritt des tatbestandlichen Erfolges für möglich hält oder als nicht ganz fernliegend erkennt und damit in der Weise einverstanden ist, dass er die Tatbestandsverwirklichung billigend in Kauf nimmt oder sich um des erstrebten Zieles willen wenigstens mit ihr abfindet, mag auch der Erfolgseintritt an sich unerwünscht sein. Bewusste Fahrlässigkeit nimmt sie dann an, wenn der Täter mit der als möglich erkannten Tatbestandsverwirklichung nicht einverstanden ist und ernsthaft und nicht nur vage darauf vertraut, der tatbestandliche Erfolg werde nicht eintreten.10 Beide Schuldformen decken sich also im Für-möglich-Halten des Erfolgseintritts, im Erkennen der Gefahr einer Tatbestandserfüllung. Mithin unterscheidet diese beiden Schuldformen nicht (allein) das Wissen, sondern in den hier interessierenden Fallkonstellationen mit möglichem bedingtem Vorsatz oder aber bewusster Fahrlässigkeit ist das voluntative Element das wesentliche Unterscheidungskriterium. Hierbei darf – es wurde schon angedeutet – das Erfordernis der Billigung aber nicht im alltagssprachlichen Sinne dahin missverstanden werden, der Täter müsse den als möglich erkannten Erfolg gut heißen. Seit der grundlegenden Lederriemen-Entscheidung des BGH (BGHSt. 7, 363), ist jedenfalls für die Rechtsprechung und in großen Teilen der Literatur unbestritten, dass dieses Billigen normativ auszulegen ist und nur bedeutet, dass der Täter sich mit dem Eintritt des Erfolges abfinden muss, was er dadurch belegen kann, dass er trotz erkannter Gefahr der Erfolgsrealisierung um seines Zieles willen weiter handelt und so dokumentiert, dass er den möglichen Erfolgseintritt in seinen Willen aufgenommen hat, selbst wenn er ihm an sich unerwünscht ist.11 Selbst Gleichgültigkeit gegenüber dem als möglich erkannten Erfolgseintritt genügt für das voluntative Element des Vorsatzes,12 denn wem
9
Roxin, Fn. 3, Rdn. 24; Vogel LK 12. Aufl., § 15 Rdn. 100. BGHSt. 36, 1, 9 f. 11 Vgl. Geppert Jura 2001, 55, 58; Köhler JZ 1981, 35; Roxin in Festschrift für Rudolphi (2004) S. 243, 244 f. und Fn. 3 Rdn. 39. 12 BGH NStZ-RR 2007, 43; seit der Entscheidung BGHSt. 40, 304, ist es in der Rspr. anerkannt, dass auch der Täter bedingt vorsätzlich handelt, dem der Erfolge seines Tuns gleichgültig ist, jene Entscheidung befasste sich zwar mit der Abgrenzung des unbeendeten vom beendeten Versuch; hier wie dort kann aber hinsichtlich der rechtlichen Voraussetzungen des (bedingten) Vorsatzes nichts anderes gelten. 10
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das Ergebnis seines Handelns gleichgültig ist, der ist zugleich mit jeder eintretenden Erfolgsmöglichkeit einverstanden.13 b) Die Rechtsprechung unterscheidet außerdem seit jeher zwischen den begrifflichen oder rechtlichen Voraussetzungen von (bedingtem) Vorsatz und (bewusster) Fahrlässigkeit auf der einen Seite und auf der anderen Seite den Anforderungen, die an den Nachweis des bedingten Vorsatzes und seiner beiden Elemente insbesondere dann zu stellen sind, wenn der Beschuldigte einen solchen bestreitet.14 Für die Praxis stellt sich deshalb hauptsächlich die Frage, ob und vor allem auf Grund welcher Tatsachen, etwa aus der Tatbegehung selbst, aus deren Begleitumständen und nicht zuletzt aus der Vita des Täters sowie seiner persönlichen, geistigen und körperlichen Befindlichkeit zum Tatzeitpunkt, ein (bedingter) Vorsatz, vor allem dessen voluntative Seite, das die innerpsychischen Vorgänge des Täters widerspiegelnde Wollenselement, abgeleitet und festgestellt werden kann. 2. Auch in der Revisionsrechtsprechung des BGH zu Tötungs- und Körperverletzungsdelikten, sowie bei sonstigen mit Lebensgefährdung von Menschen verbundenen Straftaten, nimmt das Problem der rechtsfehlerfreien Feststellung und Begründung eines Tötungsvorsatzes in den tatrichterlichen Urteilen breiten Raum ein. Im Gerichtsalltag ist die Feststellung des Vorsatzes deshalb auch mehr eine Tat- denn eine Rechtsfrage.15 a) Dies belegt etwa ein 1980 vom BGH entschiedener Fall eines Angeklagten, der einer Vorladung zu seiner richterlichen Vernehmung keine Folge geleistet hatte und nun von der Polizei vorgeführt werden sollte. Als die Beamten versuchten, die Wohnungstür, die ihnen nicht freiwillig geöffnet worden war, gewaltsam zu öffnen, schleuderte der Angeklagte, obwohl er durch die im oberen Bereich der Tür eingelassene Glasscheibe umrisshaft erkannte, dass sich einer der Beamten unmittelbar vor der Tür aufhielt, mit Wucht ein Beil aus 4 bis 5 Metern in diese Richtung. Das Beil traf in Kopfbzw. Halshöhe des davor stehenden Beamten auf die Scheibe und eine dort befindliche Leiste, durchbrach sie und fiel durch die zersplitternde Scheibe
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Dieser in der Literatur der sog. Billigungs- bzw. Einwilligungstheorie zugeschlagenen Auffassung ist das von einigen Vertretern der Wissenschaft bevorzugte Abgrenzungskriterium der „Entscheidung des Täters für die mögliche Rechtsgüterverletzung“ nahe verwandt, denn bei der Billigung im Rechtssinne handelt es sich der Sache nach um eine Entscheidung des Täters für die möglicherweise tödliche Folge seines Handelns, vgl. Roxin, Fn. 3, Rdn. 21 ff. und 75 ff. sowie Schroth, Fn. 1, S. 785 f. 14 BGH StV 2009, 473 f.; BGHR StGB § 15 Vorsatz, bedingter 2 und 4; vgl. auch Schönke/Schröder/Cramer/Sternberg-Lieben StGB 28. Aufl. § 15 Rdn. 87. 15 So zutreffend Vogel, Fn. 9, Rdn. 63 ff., 102 und 198 f.
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nach vorn direkt neben dem Beamten zu Boden. Der Beamte wurde durch Splitter der Scheibe an einer Hand leicht verletzt. Das LG hatte den A. u.a. wegen versuchten Totschlags zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Der BGH bestätigte den Schuldspruch mit der Begründung, dass in Fällen, in denen der Täter sein Vorhaben trotz äußerster Gefährlichkeit durchführe und es einem glücklichen Zufall überlasse, ob sich die von ihm erkannte Gefahr verwirkliche oder nicht, die Annahme der Billigung des tödlichen Erfolges nahe liege und die Tatumstände im konkreten Fall für den A. – dies führt der Senat anhand der festgestellten Umstände näher aus – keinen Anhalt boten, auf einen glücklichen Ausgang seines Handelns zu vertrauen.16 In dieser Entscheidung ist von einer höheren Hemmschwelle vor Tötungsdelikten keine Rede. Auch sonst hat und hatte die Rechtsprechung jedenfalls bei Sachverhalten, die wegen der konkreten Gefährlichkeit der Täterhandlungen dazu Anlass gaben, eigentlich schon immer verlangt, dass die Tatgerichte, wenn sie in solchen Fällen mit der formelhaften Begründungen, der Angeklagte habe trotz evident gefährlichen Handelns auf einen guten Ausgang vertraut und nicht nur vage darauf gehofft, einen Tötungsvorsatz verneinen, dieses Ergebnis mit tatsächlichen Umständen belegen, auf die sie sich für ihre Überzeugungsbildung gestützt haben und diese Tatsachen auch geeignet sind, die Annahme eines solchen ernsthaften Vertrauens zu tragen. b) Es obliegt also den Tatgerichten, in der Beweisaufnahme nicht nur die objektiven Tatumstände, sondern auch die subjektiven Voraussetzungen eines dem Angeklagten angelasteten Tötungsdelikts zu klären und festzustellen. Beweisprobleme ergeben sich in diesem Zusammenhang schon deshalb, weil die Angeklagten – jedenfalls vor der mit § 257c StPO in Gesetzesform gekleideten Anerkennung des gerichtlichen Verständigungsverfahrens – häufiger die ihnen angelastete Tat in Abrede stellten oder beschönigten, als ein Geständnis ablegten oder – das gilt heute umso mehr – sich in der Hauptverhandlung, selbst wenn sie im Ermittlungsverfahren weitgehend nachvollziehbar geständig waren, durch inhaltlich abenteuerlich anmutende „Verteidigererklärungen“ zur Sache einlassen. Einen Tötungsvorsatz stellen Beschuldigte oder Angeklagte, soweit sie sich selbst äußern, schon aus psychologisch nachvollziehbaren Gründen meistens in Abrede, selbst wenn sie den äußeren Geschehensablauf einräumen. Nun ist es bekanntlich schwierig, einen so subtilen und von irrationalen und nicht immer bewussten Bestrebungen gesteuerten Befund, wie die Übernahme eines Erfolges oder einer Rechtsgutsverletzung in den Willen des Handelnden und dessen Inkaufnahme bzw. 16 BGH, Urt. vom 16.7.1980 – 2 StR 127/80, abgedruckt in JZ 1981, 35 mit kritischer Anm. Köhler.
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Billigung prozessordnungsgemäß nachzuweisen und festzustellen.17 Bei vollendeten oder versuchten Tötungsdelikten stellen aber gerade das äußere Tatbild und das Maß der objektiven Gefährlichkeit der Tathandlung wesentliche Beweisanzeichen dar, aus denen auf die innere Einstellung des Täters zu dem Geschehen, auf sein Wissen und Wollen hinsichtlich der Folgen seines Tuns geschlossen werden kann. Das objektive Tatgeschehen ist deshalb ein wichtiges Indiz. Der BGH hält es deshalb auch nicht grundsätzlich für ausgeschlossen, bei evidenter, auf der Hand liegender Lebensgefahr, wie etwa bei einem unerwarteten horizontal geführten, kräftigen Stich in den Herzbereich des Tatopfers oder bei jeweils zu offenen Schädelfrakturen führenden Schlägen mit einem schweren Handfäustel gegen den Kopf des Opfers, schon aus der Kenntnis des tatsächlichen Geschehens, aus dem Wissen um die hochgradige Lebensgefährlichkeit, auf das Wollen des trotzdem handelnden Täters zu schließen.18 Denn für den Nachweis eines Tötungsvorsatzes ist die Qualität und Intensität, die objektive Größe und Nähe der vom Täter erkannten Gefahr der wesentliche Anknüpfungspunkt. c) Dennoch reicht zur rechtsfehlerfreien Begründung des Tötungsvorsatzes selbst bei typischerweise lebensgefährlichen Tathandlungen alleine der Hinweis auf die besonders gefährliche Tathandlung in der Regel nicht aus, um das voluntative Element des bedingten Vorsatzes tragfähig zu begründen und die Revisionsinstanz beanstandungsfrei zu überstehen. Denn es kann im Einzelfall für den Täter nach den Umständen der Tat durchaus ein realistischer Grund bestanden haben, anzunehmen oder darauf zu vertrauen, dass sich die auch von ihm erkannte abstrakte Gefährlichkeit seines Handelns nicht in einem von ihm nicht gewollten Erfolg niederschlägt. Ferner können eine hohe affektive Aufladung oder eine erhebliche Alkoholisierung des Täters dessen Einschätzung der Gefährlichkeit seines Tuns beeinträchtigen und für ihn schon die Erkenntnis, dass sein Handeln eine konkrete Lebensgefahr für das Opfer heraufbeschwört, erheblich behindern oder gar unmöglich machen. Deshalb komplizieren nicht selten besondere äußere Tatumstände und/oder Besonderheiten in der Person des Täters die rechtliche Bewertung seiner inneren Einstellung zu dem äußerlich wahrnehmbaren Tatgeschehen und erlauben einen Schluss vom äußeren Tatbild auf die innere Einstellung des Täters nicht ohne weiteres.19 Dies gilt erst recht bei objektiv mehrdeutigem
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Roxin, Fn. 3, Rdn. 24. BGH NStZ 2002, 541 f. und NStZ 2007, 150. 19 Das machen z.B. zwei etwa zeitgleich ergangene BGH Entscheidung des 4. und des 5. Strafsenats, abgedruckt in NStZ 2004, S. 329 f. und ebenda S. 330 ff., deutlich, die sich mit ähnlich gefährlichen Täterhandlungen – Würgen des Tatopfers auch noch nach Eintritt der Bewusstlosigkeit in dem einen, längeres Strangulieren des Opfers in dem anderen Fall – zu befassen hatten und dabei zu unterschiedlichen Ergebnissen gekommen sind. 18
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Verletzungsgeschehen.20 Da es neben der Wissensseite um die Feststellung der inneren Einstellung des Täters zu seiner Tat und deren möglichen Folgen geht, müssen – je nach Gestaltung des Einzelfalls – auch die übrigen für die Überzeugungsbildung bedeutsamen Aspekte, wie die Vorgeschichte der Tat, die Persönlichkeit des Täters, sein physischer und/oder psychischer Zustand bei der Tatausführung, vorhandene oder fehlende Motive, seine eventuellen Äußerungen vor, während oder nach der Tat, sein Tatvor- und Tatnachverhalten, wie etwa eine gedankliche Vorgestaltung der Tat oder nach der Tat auftretende seelische Erschütterung, Rettungsbemühungen und ähnliches mehr bedacht und berücksichtigt werden,21 mit anderen Worten: alle Umstände, die für die Überzeugungsbildung im konkreten Fall von Bedeutung sein können. Das war in der Rechtsprechung des BGH eigentlich nie zweifelhaft oder umstritten. Dass eine wesentlich auf eine Gesamtbetrachtung und -bewertung gestützte Prüfung der subjektiven Tatseite auch in scheinbar vergleichbaren Fallgestaltungen nicht immer zu den gleichen, sondern sogar zu gegensätzlichen Ergebnissen führen kann, stößt in der Wissenschaft auf wenig Verständnis,22 ist jedoch dem Umstand geschuldet, dass es trotz vergleichbarer Sachverhalte im Einzelfall auf unterschiedliche Nuancen in der Person des Angeklagten oder bei der Tatausführung ankommen kann, die vielleicht nicht immer mit der gebotenen Deutlichkeit in den Entscheidungsgründen des BGH herausgestellt werden, in der Sache aber den entscheidenden Unterschied ausmachen.
III. Die „Hemmschwellentheorie“ – Zweck und Sinn? 1. Die These von einer besonderen Hemmschwelle, die bei Tötungsdelikten eine geheimnisvolle Wirkung haben soll, hat in der Rechtsprechung bis vor etwa 30 Jahren keine Rolle gespielt. Man kam ohne sie auch ganz gut aus. Eine besondere Hemmungsschranke oder -schwelle wurde erstmals in einer Entscheidung des 4. Strafsenats vom 18.6.1982 23 argumentativ eingesetzt, und zwar in einem sog. Polizeisperrenfall. Der Sachverhalt ist überschaubar: Der Angeklagte erkannte auf eine Entfernung von 100 Metern, dass er im Rahmen einer Polizeisperre angehalten
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Vgl. etwa BGH StV 2009, 473 f. BGH NStZ 2009, 91; NStZ-RR 2001, 369 f. und 2009, 372 f.; vgl. ferner Altvater NStZ 2001, 19 f., NStZ 2003, 21 f., 2005, 22 f. und 2006, 86 f., jeweils mit weiteren Rechtsprechungsnachweisen. 22 So etwa bei Puppe, NK-StGB § 15 Rdn. 90; Verrel NStZ 2004, 309, 310. 23 Abgedruckt in StV 1982, 509. 21
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werden sollte, nahm erst kurz den Fuß vom Gaspedal und fuhr dann mit unverminderter Geschwindigkeit (70 km/h) auf den auf der Fahrbahn stehenden Polizeibeamten zu, dem es noch gelang, sich rechtzeitig durch einen Sprung zur Seite vor dem unverändert seine Richtung beibehaltenden Auto in Sicherheit zu bringen. Das Landgericht hatte aus dem Umstand, dass der A seinen Pkw offensichtlich nicht anhalten und auf den Polizeibeamten zufahren wollte, um sich so die Durchfahrt zu erzwingen, auf den bedingten Tötungsvorsatz geschlossen. Das hat der 4. Senat wegen unzureichender Beweiswürdigung mit dem Hinweis beanstandet, in den Fällen der Durchbrechung von Polizeisperren gelinge es den bedrohten Beamten meist, sich aus dem Gefahrenbereich zu bringen und im allgemeinen rechneten auch die Täter mit einer derartigen Reaktion der Beamten. Diese nähmen deshalb um ihres Ziels willen, ihre Festnahme zu vereiteln, zwar eine Gefährdung des Beamten in Kauf, im Allgemeinen aber nicht seine Tötung, denn – und nun folgt der hier interessierende Passus – vor dem Tötungsvorsatz stehe eine viel höhere Hemmungsschranke als vor einem Gefährdungsvorsatz. Sodann weist der Senat auf die eng beieinander liegenden Grenzen des bedingten Tötungsvorsatzes und der bewussten Fahrlässigkeit hin, die besondere Anforderungen an die Feststellung der inneren Tatseite stelle. a) Im Anschluss an diese Entscheidung wurde das Argument der höheren Hemmschwelle zunehmend in die revisionsrechtliche Prüfung des BGH integriert, zunächst bei solchen Urteilen, die über die Polizeisperrenfälle hinaus den Einsatz eines KFZ als gefährliches Werkzeug gegen Menschen zum Gegenstand hatten und später allgemein immer dann, wenn es um die Abgrenzung des bedingten Tötungsvorsatzes von einem bloßen Körperverletzungs- oder einem Gefährdungsvorsatz ging.24 Der BGH nahm im Folgenden, und zwar alle Senate – wenn auch mit deutlich unterschiedlichen Neigungen zur Verwendung des Hemmschwellenarguments – in mehr oder weniger ständiger Rechtsprechung an, dass gegenüber der Tötung eines Menschen eine erhöhte Hemmschwelle bestehe, so dass auch bei massiver Gewaltausübung die Billigung eines tödlichen Ausgangs in der Regel die Überschreitung einer besonderen psychologischen Grenze erfordere, die es zu begründen gelte. Die „Hemmschwelle“ dient als Gegenargument gegen die von gefährlichen Geschehensablaufen suggerierte Schlussfolgerung, dass ein Täter, der so gefahrenträchtig und rücksichtslos handelt, den als möglich erkannten Erfolg auch gewollt haben muss. Dem Vorhalt, mit der These von
24 U.a. BGH NStZ 1983, 407; 1984, 19; StV 1986, 421; BGHR StGB § 212 Abs. 1 Vorsatz, bedingter 8, 9, 12.
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einer bei einem Tötungsdelikt notwendig zu überwindenden höheren Hemmschwelle, die selbst bei gefährlichen Gewalthandlungen der Annahme eines Tötungsvorsatzes zunächst entgegenstehe, habe der BGH seine ansonsten zur Abgrenzung des bedingten Vorsatzes von der (bewussten) Fahrlässigkeit verwendeten Maßstäbe missachtet, für die gerade keine „Billigung“, also keine positive Einstellung zu dem als möglich erkannten Erfolg erforderlich sei,25 ist nicht viel entgegen zu halten. b) Der argumentative Einsatz der „höheren Hemmungsschranke“ oder „Hemmschwelle“ vor dem Tötungsvorsatz bzw. der Tötung leidet vor allem an dem Mangel, von der Rechtsprechung nie erläutert oder gar hinterfragt worden zu sein. Was es mit der Hemmungsschranke oder Hemmschwelle auf sich haben soll, was sich darin inhaltlich verbirgt, wird nicht näher ausgeführt, auch in späteren Entscheidungen nicht. Diese greifen das geschilderte Argumentationsmuster vielmehr nur auf und verwenden es als Teil hergebrachter, nicht immer gleichlautender Abgrenzungsformeln, ohne diese irgendwann einmal einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Im Zusammenhang mit dem Hemmschwellenargument von einer „Theorie“ zu sprechen, scheint deshalb etwas hoch gegriffen, weil eine Theorie der systematischen und inhaltlichen Begründung bedarf, die in diesem Zusammenhang nicht erfolgt ist. Diese fehlende theoretische bzw. inhaltliche Erläuterung wird in der Wissenschaft zu Recht bemängelt und beanstandet, die Rechtsprechung lasse jegliche psychologische Untermauerung vermissen, ziehe vielmehr Schlussfolgerungen aus einem allgemeinen Erfahrungssatz, den es so nicht gebe.26 Auch wird die Vermutung geäußert, es handele sich (nur) um ein Konstrukt, das zu dem Zweck erfunden wurde, das jeweilige richterliche Rechtsgefühl zu verbalisieren.27 2. Der Begriff der Tötungshemmung oder auch Hemmschwelle vor der Tötung ist scheinbar prägnant, in Wahrheit aber nur plakativ und ohne greifbare inhaltliche Aussage. Mit den genannten Begriffen verbindet jedermann zwar eine gewisse Vorstellung, aber niemand weiß so recht, was sie genau beinhalten oder gar beweisen. Nun glaubt man den Begriff der Tötungshemmung aus den u.a. durch die Arbeiten von Konrad Lorenz einer breiteren Öffentlichkeit bekannt gewordenen Verhaltensforschungen aus dem Tierreich zu kennen. Aber auch deren Erkenntnisse helfen nicht wirklich weiter, weil die Hemmung vor der Tötung von Artgenossen auch im Tierreich je
25 26 27
Neumann in NK-StGB 3. Aufl. § 212 Rdn. 10. Trück NStZ 2005, 233, 234.; vgl. auch Schneider, Fn. 2, Rdn. 48 f. Horn in SK-StGB § 212 Rdn. 23c.
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nach Gattung sehr unterschiedlich ausgestaltet ist oder, wenn die auf andere Weise gesicherte Arterhaltung eine solche „Hemmung“ entbehrlich macht, sogar ganz fehlt und – sofern vorhanden – außerdem nur unter bestimmten Rahmenbedingungen funktioniert oder erst durch ritualisierte Verhaltensweisen ausgelöst wird.28 Abgesehen davon, dass sich deshalb allgemeingültige Gesetzmäßigkeiten nicht finden lassen, bestünde zu Recht eine gewisse Zurückhaltung bei deren Übertragung auf die Gattung homo sapiens. a) Zwar kann bei allen Zweifeln an einer biologisch begründbaren, angeborenen Tötungshemmung des Menschen zumindest davon ausgegangen werden, dass es eine psychologisch-ethische, durch soziale Lernprozesse und Orientierung an religiösen und/oder gesellschaftlichen Normsystemen erworbene Hemmschwelle vor der Tötung eines anderen Menschen gibt.29 Genauso sicher ist es aber, dass sie immer wieder überwunden wird,30 und zwar durch den einen Täter schneller und leichter, auch spontan infolge affektiver Erregung oder aufgrund alkoholischer Beeinflussung oder unter der Einwirkung anderer enthemmender Stoffe, durch den anderen erst nach einem längeren Prozess äußerer Einflüsse oder konfliktbesetzter Beziehungen, die auf seine Willensbildung einwirken. Welche rechtliche Bedeutung einer vor dem Tötungsvorsatz bestehenden „höheren“ Hemmschwelle, nämlich höher als vor einem Gefährdungs- oder jedem anderen Verletzungsvorsatz, beigemessen werden kann oder soll, wird nicht deutlich bzw. bleibt offen. b) In der Literatur wird die „Hemmschwellentheorie“ der Rechtsprechung deshalb eher als Fiktion, denn als empirisch nachprüfbarer Befund verstanden31 oder als ein als Tatsache behandeltes Postulat charakterisiert.32 Andere interpretieren sie als argumentativ verwendeten, allgemeinen Erfahrungssatz,33 wieder andere Meinungen sehen darin eine von der Rechtsprechung
28 Vgl. u.a. Konrad Lorenz, „Das sogenannte Böse“ (1964), VII Kapitel S. 192 ff., sowie „Und er redete mit den Vögeln und den Fischen“, 2. Aufl., Kapitel „Moral und Waffen“ S. 184, 193 ff. und „Über das Töten von Artgenossen“, Vortrag gehalten 1955 auf der Jahresversammlung Deutscher Friedensverbände, gedruckt 1959 Westdeutscher Verlag, Dortmund. 29 Fischer StGB 57. Aufl. § 212 Rdn. 13; zweifelnd Trück, Fn. 26, S. 235 und Schroth, Fn. 1, S. 789 f. 30 Vgl. zum sog. Milgram-Experiment: Mühlbauer, Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Tötungshemmschwelle, Juristische Schriftenreihe (1999) LIT Verlag Münster, S. 43 ff. 31 Geppert Jura 2001, 55, 59. 32 Fischer, Fn. 29, Rdn. 15. 33 So Schroth, Fn. 1, S. 789 f.
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zusätzliche postulierte Vorsatzschranke.34 Ob das zutrifft, ist aber gerade die Frage. Zu fragen ist nämlich, wo diese Hemmschwelle eigentlich einzuordnen ist, vor dem lebensgefährdenden Handlungsimpuls, also vor der Tötungshandlung oder bei der gedanklichen und emotionalen Erfassung des Handlungsablaufs und seiner Folgen, also dem Vorsatz oder sogar bei beidem? Wie Mühlbauer 35 in einer aufschlussreichen Dissertation aus dem Jahre 1998 nachgewiesen hat, verwendet die Rechtsprechung die These von der höheren Tötungshemmschwelle argumentativ in zwei Varianten, nämlich einmal (vor allem in neueren Entscheidungen) als Hemmung vor der Tötung, also schon vor der Tötungshandlung und in anderen Fällen als Hemmung vor dem Tötungsvorsatz, dem Für-Möglich-Halten und der Billigung des Todeserfolges, ohne dass eine Systematik erkennbar wäre, warum im Einzelfall eine Zuordnung zu der einen oder der anderen Kategorie erfolgt ist, es sei denn, man verstünde das Argument der Hemmschwelle vor der Tötung als die allgemeinere Formulierung, die jedenfalls in den Fällen erfolgreicher Handlungen, die gerade die Überwindung einer Hemmschwelle vor der Aggressionshandlung belegen, erst in zweiter Linie durch die Hemmschwelle vor dem Tötungsvorsatz ersetzt bzw. ausgetauscht und gegen diesen ins Feld geführt wird. c) Der richtige Einsatzort des Hemmschwellenarguments scheint danach, wenn es überhaupt einen geben sollte, auf der voluntativen Ebene zu liegen. Denn, wenn sich bedingter Vorsatz und bewusste Fahrlässigkeit, jedenfalls nach Auffassung der Rechtsprechung, durch das Wollen des Täters unterscheiden, kann der höheren Hemmschelle vor der Tötung auch nur in diesem Zusammenhang argumentatives Gewicht zukommen. Rechtlich konsequent wäre es für die Rechtsprechung und ihrem Vorsatzverständnis deshalb, wenn überhaupt, dann von einer höheren Hemmschwelle vor der Fassung eines Tötungsvorsatzes auszugehen, wie dies auch die ersten Entscheidungen des BGH zu diesem Themenkreis getan haben. 3. Die Meinung, die das Hemmschwellenargument als eine vom BGH angenommene zusätzliche Vorsatzschranke interpretiert, hätte demnach Recht und kann sich zur Untermauerung ihrer Auffassung neben den ersten Entscheidungen zur „Hemmschwelle“ auch auf zwei weitere exponierte, vielfach kritisch besprochen Entscheidungen des BGH stützen. a) Die erste Entscheidung betrifft die grundsätzliche Frage der Strafbarkeit von ungeschützten Sexualkontakten HIV-positiver Personen, bei denen 34 So Geppert, Fn. 31, S. 59; Herzberg in BGH – Festgabe der Wissenschaft (2000) Bd. IV S. 51, 78; Puppe, AT § 9 Rdn. 31; dieselbe NStZ 1992, 576 und wohl auch in diesem Sinne Momsen in Satzger/Schmitt/Widmaier StGB § 212 Rdn. 12. 35 Siehe Fn. 30.
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der nicht aufgeklärte Partner mit dem HI-Virus infiziert wird. Dies wurde erstmals durch BGHSt. 36, 1 Ende 1988 dahin entschieden, dass nicht erst mit dem klinisch gesicherten Ausbruch der Immunschwächekrankheit eine vollendete Körperverletzung anzunehmen sei, sondern schon bei einer medizinisch feststellbaren Infektion, selbst wenn der Zeitpunkt des Ausbruchs der Krankheit noch ungewiss bleibt. Das hat zur Folge, dass schon ein möglicherweise mit der Übertragung des Virus verbundener Sexualkontakt eine versuchte gefährliche Körperverletzung mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung darstellt, wenn dem Täter ein entsprechender Vorsatz nachgewiesen werden kann.36 Dieser Problemkomplex war nicht nur hinsichtlich seiner rechtspolitischen Dimension hoch umstritten,37 sondern bietet wegen seiner in Nuancen vielfältigen Sachverhaltskonstellationen genügend Streitstoff für eine Diskussion über die in diesem Zusammenhang und auch grundsätzlich bestehenden Vorsatzprobleme.38 Dies hatte auch die Entscheidung BGHSt. 36, 1, 8 ff. zum Anlass genommen, die hergebrachten Grundsätze der Rechtsprechung zur Abgrenzung des bedingten Vorsatzes von einer bewussten Fahrlässigkeit noch einmal aufzugreifen und zusammenfassend darzustellen. Die Feststellung, der Angeklagte habe aufgrund der vorausgegangenen umfassenden ärztlichen Aufklärung um die Gefahr einer HIV-Infektion gewusst, und die daran anschließende Wertung des Landgerichts, der Angeklagte habe, weil er die Gefahr „unabgeschirmt“39 gesetzt und ihr dann freien Lauf gelassen habe, ohne sie noch beherrschen zu können, die mögliche Infektion als Verletzungserfolg auch billigend in Kauf genommen, hat der 1. Strafsenat rechtlich nicht beanstandet. Bestätigt hat er zudem die tatrichterliche Wertung des ungeschützten Sexualkontakts als „gefährliche Körperverletzung“, da der Angeklagte hierdurch die objektiven und subjektiven Voraussetzungen der Qualifikation einer lebensgefährdenden Behandlung i.S.d. § 223a Var. 4 StGB a.F. (§ 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB) erfüllt habe. Diese rechtliche Bewertung ist dogmatisch zwar nicht unproblematisch,40 überrascht jedoch nicht, wohl aber die gleichzeitige Ablehnung eines bedingten Tötungsvorsatzes unter Berufung auf eine vor einem Tötungsvorsatz 36 Für den Fall einer vollendeten Tat durch festgestellte Infektion ferner BGH NJW 1990, 129 mit Besprechung Prittwitz/Scholderer NStZ 1990, 385, sowie zu Fragen der Tatbeendigung und der Verjährung BGH NStZ 2009, 34. 37 So etwa einerseits Bruns MDR 1989, 199 und andererseits Helgerth NStZ 1989, 117; ferner Bottke AIFO 1989, 468; Herzberg JZ 1989, 470; Prittwitz StV 1989, 123; Sonnen JA 1989, 321. 38 Vgl. Hassemer JuS 1989, 761, 762; Schünemann JR 1989, 89, 93; Puppe AT § 9 Rdn. 14 ff. 39 Ersichtlich aus der Unterscheidungsformel „abgeschirmten – unabgeschirmten“ Gefahr von Herzberg übernommener Begriff, wie schon Geppert , Fn. 31, S. 58, dort Fn. 26 zutreffend bemerkt hat. 40 Vgl. etwa Prittwitz/Scholderer, Fn. 36, S. 386 f.
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stehende viel höhere Hemmschwelle als vor einem Körperverletzungs- oder Gefährdungsvorsatz (BGHSt. aaO S. 15 f.). Da im Fall einer tatsächlich erfolgten Infektion mit dem HI –Virus die Wahrscheinlichkeit eines tödlichen Ausgangs – jedenfalls noch vor zwanzig Jahren – hoch war, wäre es eigentlich konsequent gewesen, erst recht einen bedingten Tötungsvorsatz zu bejahen, da man schon bei einem im Vergleich hierzu geringeren tatsächlichen Risikos einer Infektion mit dem Krankheitserreger für den Sexualpartner einen bedingten Verletzungsvorsatz angenommen hatte, wenn der Täter über die medizinischen Risken informiert wurde.41 Die Gründe, die der BGH für seine Akzeptanz der einen bedingten Tötungsvorsatzes ablehnenden rechtlichen Bewertung des Landgerichts anführt, überzeugen schon deshalb nicht, weil der Hinweis auf die unter Umständen sehr lange Inkubationszeit und die beim Angeklagten vorhandene Hoffnung, dass in dieser Zeit ein Heilmittel gegen AIDS gefunden würde, damals nicht über die Qualität eines „vagen Hoffens“ hinausging. Eine derartige Argumentation wird vom BGH in anderen Zusammenhängen nicht als ausreichende Begründung akzeptiert, wenn es darum geht, die Indizwirkung gefährlicher Verhaltensweisen zu beseitigen. Man mag spekulieren, ob hinter der Verwendung des Hemmschwellenarguments in diesem Zusammenhang auch rechtspolitische Erwägungen eine Rolle gespielt haben, wonach einerseits eine strafrechtliche Verfolgbarkeit als Mittel zum Schutz der Allgemeinheit vor allzu sorglosem Umgang mit der Infektionsgefahr in derartigen Fällen als notwendig empfunden,42 andererseits aber die Anwendung der Tötungstatbestände mit ihren hohen Strafdrohungen nicht mehr für angemessen gehalten wurde. Jedenfalls erweist sich in solchen Situationen das Hemmschwellenargument zwar als geeignetes Instrument, um gewünschte Ergebnisse ohne größeren Aufwand und dogmatische Brüche begründen zu können,43 es vermag jedoch auch in diesem Zusammenhang nicht zu überzeugen. Ein überzeugenderer Ansatz könnte vielleicht gelingen, wenn man sich in diesem Zusammenhang darauf besinnen würde, dass vom Vorsatz als Schuldform nur solche Handlungsfolgen erfasst werden können, mit deren Eintreten mit einiger Wahrscheinlichkeit in näherer Zukunft gerechnet werden muss oder kann. So gesehen sind schon dem kognitiven Vorsatzelement Grenzen gesetzt, wenn es zukünftige Entwicklungen, die sich nicht irgendwann im Ungewissen verlieren dürfen, noch erfassen soll. Auch der Vorsatz ist in gewisser Weise endlich, wenn er noch sachliche Unterschiede zur Fahrlässigkeit als Form des schuldhaften Nichterkennens eines Kausalverlaufs 41 So m.E. zutreffend Schünemann, Fn. 38; ähnlich Maier GA 1989, 207, 227; Puppe, Fn. 7, Rdn. 36. 42 So ausdrücklich Helgerth, Fn. 37, S. 118. 43 Vgl. zu den in der Literatur erhobenen Vorwürfen eines reinen Zweckdenkens bei derartigen Vorsatzprüfungen Prittwitz, Fn. 37; Sonnen, Fn. 37, S. 322.
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oder Nichtvorhersehens einer konkreten zukünftigen Handlungs- oder Unterlassungsfolge aufweisen soll. Das voluntative Vorsatzelement ist in diesen Zusammenhängen gar nicht mehr gefragt. Eine andere Frage ist, ob man den sich hier eröffnenden Problemen mit objektiven, den Verantwortungsbereich des Gefahr setzenden Täters begrenzenden Zurechnungslösungen besser gerecht werden kann oder ob sich nicht sogar eine Einschränkung auf der tatbestandlichen Ebene durch Herausnahme der Spätfolgeschäden aus den vorsätzlichen Tötungsdelikten als überzeugendere Alternative empfiehlt,44 wenn der spätere Todeserfolg eher als Ergebnis unberechenbarer Zufälle erscheint. Diese Überlegungen liegen gegenwärtig deshalb nahe, weil die Immunschwäche AIDS zwar auch heute noch nicht heilbar ist, die betroffenen Personen jedoch bei entsprechender Medikation über viele Jahre ein fast normales Leben führen können. Diese dogmatischen Überlegungen haben durchaus auch eine praktische Seite, wie bereits Geppert nach den ersten bekannt gewordenen Gerichtsentscheidungen zur Problematik eines strafbaren Verhaltens durch Übertragung des HI-Virus angemerkt hat: Je später der tödliche/körperverletzende Erfolg eintritt, desto schwieriger wird es sein, gegenüber einem bestimmten Täter in justizförmiger Weise den sicheren Nachweis für ein vollendetes Delikt zu führen.45 b) Die zweite im Schrifttum kritisierte Entscheidung zur Hemmschwelle als Vorsatzschranke betrifft den umgekehrten Fall, nämlich die These von der fehlenden Hemmschwelle bei Unterlassungsdelikten (BGH NStZ 1992 125).46 In dem dieser Entscheidung zugrunde liegenden Fall war der A nachts mit seinem PKW unterwegs und stieß mit einer ihm entgegen kommenden Mofafahrerin zusammen, die schwerverletzt in ein an die Fahrstraße angrenzendes Feld geschleudert wurde und dort liegen blieb. Nachdem der A kurz angehalten hatte, verließ er den Ort des Geschehens und stellte sich erst am nächsten Morgen bei der Polizei. Das Landgericht verurteilte den Angeklagten wegen fahrlässiger Körperverletzung und wegen Unfallflucht zu einer Bewährungsstrafe, eine Verurteilung wegen versuchten Totschlags durch Unterlassen hatte es abgelehnt, weil ein Rückschluss vom Liegenlassen der verletzten Person auf die Billigung eines möglichen Todeserfolges nicht „zwingend“ sei und vor einem Tötungsvorsatz eine viel höhere Hemmschwelle stehe als vor einem Gefährdungsvorsatz. Das Landgericht hatte also versucht, die in StV 1982, 509 abgedruckte Entscheidung des 4. Strafsenats des BGH auf sei-
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Vgl. den Vorschlag von Schünemann JR 1989, 89, 91. Geppert Jura 1987, 668, 669. Mit Anm. Schwarz JR 1993, 31 und Besprechung Puppe NStZ 1992, 576.
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nen Fall umzusetzen. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft beanstandete derselbe Strafsenat neben anderen nicht ausreichend belegten Erwägungen des Landgerichts das Urteil auch deshalb, weil in Fällen des Unterlassens generell keine wie beim positiven Tun vergleichbare psychologische Hemmschwelle bestehe. Vor allem bei unterlassener Hilfeleistung nach schuldhaftem Vorverhalten greife dieses psychologische Argument wegen der typischen Selbstschutzmotive nicht. Diese Entscheidung ist m.E. zu Recht kritisiert worden:47 Soweit dort die Auffassung vertreten wird, dass eine im subjektiven Bereich anzusiedelnde Tötungshemmung nur bei aktivem Tun wirksam werden könne, steht dies zu dem bis dahin gültigen Grundsatz der Rechtsprechung in Widerspruch, wonach der bedingte Vorsatz beim Unterlassungsdelikt nicht anders als beim aktiven Tun zu behandeln sein soll.48 Außerdem hätte es einer unterschiedlichen Behandlung des Hemmschwellenarguments bei dem Begriffspaar „aktives Tun – Unterlassen“ durch die kaum nachvollziehbare generelle Negierung einer Hemmschwelle beim Unterlassen, wenn man sie denn überhaupt als Voratzhindernis akzeptiert, in dem damals zu entscheidenden Fall nicht bedurft. Denn in jenem Fall waren die konkreten gegenläufig wirkenden Selbstschutzmotive offensichtlich geeignet, selbst eine vorhandene Hemmschwelle außer Kraft zu setzen, so dass das Landgericht schon deshalb in seiner Argumentation zu kurz gegriffen hatte. Weder vom Landgericht noch vom BGH thematisiert wurde zudem der Aspekt einer Panikreaktion des Angeklagten, die ihn möglicherweise gedanklich so besetzt hatte, dass er in der Tatsituation keinen klaren Gedanken fassen konnte und auch das Unfallgeschehen in seiner vollen Dimension nicht überblickte, sondern erst am nächsten Morgen und sodann die Polizei aufsuchte. In neueren Entscheidungen hat die Rechtsprechung inzwischen ihre grundsätzliche Ablehnung einer vorsatzhindernden Tötungshemmung im Zusammenhang mit Unterlassungstaten zumindest bei zeitlich gestreckten Unterlassungsdelikten revidiert.49 5. Seit einigen Jahren ist zudem in der Rechtsprechung, wie auch von einigen anderen Autoren bemerkt wurde,50 hinsichtlich Art und Häufigkeit der Verwendung des Hemmschwellenarguments ein gewisser Tendenzwandel festzustellen.
47
Mühlbauer, Fn. 30, S. 143 ff.; Puppe, Fn. 46, S. 577; Roxin, Fn. 3, Rdn. 79; Schneider, Fn. 2, Rdn. 17; Schwarz , Fn. 46. 48 Vgl. u.a. BGH NStZ 1982, 506. 49 BGH NStZ 2007, 402, 403; NStZ-RR 2007, 304; vgl. auch BGH, Urt. v. 3.9.2008 – 2 StR 305/08. 50 Puppe , AT § 9 Rdn. 32 ff. und NK-StGB, § 15 Rdn. 93 a.E.; Schroth, Fn. 1, S. 791 ff.; Verrel NStZ, Fn. 22, S. 309.
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a) Noch in der 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts fanden sich kaum Urteile oder Beschlüsse, die bei vollendeten, insbesondere aber versuchten Tötungsdelikten nicht darauf hinwiesen, dass „vor allem wegen der höheren Hemmschwelle gegenüber der Tötung eines Menschen die offen zu Tage tretende Lebensgefährlichkeit bestimmter Handlungen zwar ein gewichtiges Indiz sei, nicht aber ein zwingender Beweisgrund für die Billigung eines Todeserfolges durch den Täter“. Jüngere Entscheidungen sind deutlich zurückhaltender. Sie betonen die Beweiskraft von offensichtlich lebensgefährlichen Gewalthandlungen für die Kenntnis des Täters vom möglichen Todeserfolg und akzeptieren dies – selbst bei „höchsten Hemmschwellen“51 – zugleich als Anzeichen dafür, dass er sich mit diesem Erfolg auch abgefunden hat. Die Entscheidungen verzichten in diesem Zusammenhang, wie auch schon frühere Judikate,52 zunehmend – wenn auch nicht generell – auf das Hemmschwellenargument oder setzen sich mit ihm auseinander, weil das Landgericht sich bei der Verneinung des Tötungsvorsatzes auf diese Argument berufen hatte.53 Sie verlangen aber nach wie vor, dass sich das tatrichterliche Urteil mit allen für die Vorsatzfrage erheblichen Umständen und Fakten auseinandersetzt und verwenden das Hemmschwellenargument in diesem Zusammenhang allenfalls als Teil einer Formel, mit der die Anforderungen an die Gesamtbewertung aller Beweisanzeichen für die subjektive Einstellung des Täters zur Tat hervorgehoben werden sollen.54 Die Prüfung, ob der Täter den Eintritt des als möglich erkannten Erfolges gebilligt hat, macht nämlich schon wegen der bereits dargelegten Schwierigkeit, einen innerpsychischen Vorgang feststellen zu müssen, eine umfassende und sorgfältige Auseinandersetzung mit dessen Persönlichkeit und allen sonstigen für das Tatgeschehen bedeutsamen Umständen notwendig.55 Bei den Tatrichtern beliebte Formulierungen „Wer … wie der A dem Tatopfer einen wuchtigen Stich in den Oberkörper versetzt, der will töten“ ersetzen im Allgemeinen eine umfas-
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BGH NStZ-RR 2007, 304, 305. U.a. auch schon BGH StV 1987, 92, ein Affektfall, der wegen der offensichtlichen lebensgefährlichen und erfolgreichen Tathandlung (23 Hammerschläge gegen das Opfer) auf Kritik gestoßen ist und deswegen gerne der „Hemmschwellentheorie“ zugerechnet wird, obwohl die Entscheidung die Hemmschwelle mit keinem Wort erwähnt! 53 Siehe etwa BGH NStZ-RR 2009, 372; BGH, Urt. v. 16.4.2008 – 2 StR 95/08 Rdn. 3 und 9, und unter anderem auch im Fall Karolina (BGH NJW 2006, 386 f.), in dem der 1. Strafsenat das Hemmschwellenargument jedenfalls in Fällen wiederholter und systematischer Misshandlung als untaugliches Kriterium bezeichnet, das nicht wirklich geeignet sei, die Indizwirkung einer offen zu Tage tretenden Lebensgefährlichkeit zu entkräften: „Bei der sich über mehrere Tage erstreckenden brutalen und wiederholt lebensgefährlichen Behandlung liegt das voluntative des – zumindest bedingten – Tötungsvorsatzes auf der Hand“. Ferner BGH NStZ 2004, 330 und NStZ 2005, 92. 54 Vgl. etwa BGH StraFO 2008, 387; NStZ 2009, 503 und 2010, 511. 55 Vgl. etwa BGH NStZ 1999, 507; 2001, 475, 476; 2002, 314; NStZ-RR 2010, 214. 52
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sende Beweiswürdigung nicht.56 Ausnahmen bestätigen aber auch hier die Regel. b) Das Hemmschwellenargument ist so durch die jüngere Rechtsprechung auf diejenige Bedeutung zurückgeführt worden, die ihm allenfalls zugebilligt werden kann, nämlich die eines aus Erfahrungswerten gewonnenen Indizes, das durch andere Indizien widerlegt werden kann. Diese Sicht der Dinge ist nicht gänzlich neu, beinhaltet aber eine im Vergleich zu den ersten, die Hemmschwellentheorie ins Feld führenden Entscheidungen eine Umkehr des Regel-Ausnahme-Verhältnisses. Der Tötungshemmschwelle wurde früher indiziell ein deutlich größeres Gewicht als heute beigemessen, dieses Indiz musste widerlegt werden. Es galt also Argumente gegen die Hemmschwelle zu finden.57 Das hat sich geändert. Heute müssen bei evident lebensgefährlichen Handlungen Umstände vorliegen und geltend gemacht werden, die gegen die prima facie durch den objektiven Tatablauf indizierte Kenntnis und Billigung des möglichen Todeserfolges durch den Täter sprechen.58 In neueren Entscheidungen wird deshalb argumentiert, äußerst gefährliche Gewalthandlungen legten trotz der Hemmschwelle vor der Tötung eines Menschen die Annahme von zumindest bedingtem Tötungsvorsatz nahe.59 c) Nach alledem steht m.E. fest, dass dem Hemmschwellenargument bei der schwierigen Abgrenzung des bedingten Tötungsvorsatzes von der bewussten Fahrlässigkeit oder einem bloßen Gefährdungsvorsatz – bis auf wenige Ausnahmen – eigentlich nie mehr als eine, wenn auch unterschiedlich gewichtete Indizfunktion zugekommen ist, die von der Rechtsprechung zunehmend nur noch als notwendiger Teil einer sorgfältigen und umfassenden Würdigung aller für und gegen einen Tötungsvorsatz sprechenden objektiven und subjektiven Umstände verwendet wurde. Ein derartiges Gesamtbetrachtungsmodell 60 lässt sich unschwer auch in eine heutzutage als ausgewiesen wissenschaftlich geltende Methode der Hypothesenbildung (vorsatzbegründende Hypothesenbildung durch Ausschluss gegenläufiger Alternativhypothesen) umfunktioniere61 da auch diese der Sache nach nichts anderes als eine umfassende und sorgfältige Beweiswürdigung bedeutet, die sich eigentlich als Grundlage für die richterliche Entscheidung über Schuld und
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So z.B. BGH NStZ 2003, 369. Vgl. BGH StV 1997, 7; BGHR StGB § 212 Vorsatz, bedingter 40, 41, 50. BGH NStZ 2005, 92; 2006, 98; NStZ-RR 2005, 372. BGH NStZ 2007, 639, 640; BGH NStZ-RR 2009, 372 und 2010, 214. Verrel, Fn. 22, S. 310. Vgl. Schneider, Fn. 2, Rdn. 46.
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Unschuld eines Angeklagten von selbst verstehen sollte. Deshalb ist das Hemmschwellenargument ohne weiteres verzichtbar; es verspricht keinen anderen oder darüber hinausgehenden Erkenntnisgewinn, sondern ist nur geeignet, Verwirrung oder Missverständnisse auszulösen.
IV. Auswirkungen von Alkohol, Drogen und affektiver Aufladung auf eine „Hemmschwelle vor dem Tötungsvorsatz“ Zum Abschluss noch einige Bemerkungen zu möglichen Auswirkungen alkoholischer oder drogenbedingter Beeinträchtigungen oder einer affektiven Erregung des Täters auf die subjektive Tatseite bei Gewaltdelikten. 1. Die Rechtsprechung hat diese Fragen gelegentlich auch unter der Überschrift der Hemmschwelle vor dem Tötungsvorsatz oder vor der Tötung abgehandelt, hierbei aber nicht immer hinreichend deutlich danach unterschieden, ob es sich bei der der Hemmschwelle zugeschriebenen Eigenschaft, einem Tötungsvorsatz entgegenzuwirken, im konkreten Fall um Beeinträchtigungen der kognitiven Fähigkeiten des Täters oder seiner voluntativen Kräfte handelte. Dies ist gelegentlich zu Recht kritisch vermerkt worden.62 Bei Tatausführungen in emotional aufgeladener Atmosphäre, unter hoher affektiver Erregung oder durch alkoholisierte oder infolge Drogenkonsums beeinträchtigte Täter geht es in der Mehrzahl der Fälle tatsächlich eher um Defizite, die sich – wenn überhaupt – auf das kognitive Element des Vorsatzes ausgewirkt haben können, obwohl sie in der Rechtsprechung gelegentlich mit dem voluntativen Element des Vorsatzes in Zusammenhang gebracht werden. Sowohl Rauschmittel als auch affektive Erregungen bauen typischerweise Hemmschwellen ab und nicht auf, selbst vorhandene höhere Hemmschwellen vor der Tötung werden gerade beseitigt („jetzt ist mir alles egal“) und nicht verstärkt.63 Mit einer höheren und deshalb schwieriger zu überwindenden „Hemmschelle“ habe diese Konstellationen wenig bis nichts zu tun. Affektive Erregung oder ein hoher Alkoholisierungsgrad können es aber zweifelhaft erscheinen lassen, ob der Täter infolge beeinträchtigter Wahrnehmungsfähigkeit überhaupt erkannt hat, dass seine Gewalthandlungen zum Tode seines Gegenübers führen können.64 Dann muss näher begründet werden, warum dennoch aus der objektiven Gefährlichkeit einer Gewalthandlung auf das Wissen des Täters, das Erkennen der Lebensgefähr-
62 Siehe die diesbezüglich zutreffende Kritik bei Fahl NStZ 1997, 392; Roxin, Fn. 3, Rdn. 75; Verrel, Fn. 22, S. 311. 63 Fischer, Fn. 29, Rdn. 10a; Trück, Fn. 26, S. 238 f.; Verrel, Fn. 22, S. 311. 64 So zutreffend BGH NStZ 2004, 51, 52; 2009, 503 und NStZ-RR 2010, 214.
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Ruth Rissing-van Saan
lichkeit geschlossen werden kann; diese Schlussfolgerungen muss außerdem mit Tatsachen belegt werden. Allerdings sind auch Fallgestaltungen nicht gänzlich ausgeschlossen, in denen rauschmittel- oder medikamentenabhängige Beeinträchtigungen des Täters und/oder eine hohe affektive Erregung sich sowohl auf das kognitive als auch das voluntative Element des Vorsatzes auswirken können.65 2. Erhebliche Beeinträchtigungen des Täters durch Rauschmittel oder eine affektive Erregung sind in der forensischen Praxis eigentlich weniger ein Problem der Vorsatzfeststellung und -begründung, als vielmehr eine Frage der Schuldfähigkeit, d. h. bei der Prüfung, ob eine rechtlich relevante Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit des Täters vorgelegen hat oder nicht. In diesem Zusammenhang hatte die „Hemmschwellentheorie“ in der Rechtsprechung der letzten zwanzig Jahre vorübergehend noch eine gewisse Bedeutung erlangt, weil sie für die Installierung unterschiedlicher „Schwellenwerte“ bei nach der Tatausführung gemessenen oder berechneten Blutalkoholwerten herangezogen wurde, die bei Überschreitung Indizwirkung für die Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit, insbesondere die Steuerungsfähigkeit im Sinne der §§ 20, 21 StGB, entfalten sollte. Nach den damals aufgestellten Grundsätzen sollte bei einem BAK-Wert von 2 ‰ aufwärts eine erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit des Täters und ab 3 ‰ eine Steuerungsunfähigkeit, also Schuldunfähigkeit, nahe liegen, für Tötungs- aber auch Körperverletzungsdelikte wurde ein um 10 % höherer Sonderwert eingeführt. Mit dem Hinweis auf die höhere Hemmschwelle bei Angriffen auf das Leben sollte dieser Schwellenwert bei 2,2 ‰ für eine erhebliche Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit i.S.d. § 21 StGB und bei 3,3‰ für die Prüfung der Schuldunfähigkeit nach § 20 StGB liegen.66 Mit Hilfe derartiger „Schwellenwerte“ wurde eine Erleichterung der Schuldfähigkeitsbeurteilung im Zusammenhang mit alkoholischer Beeinflussung von Straftätern angestrebt. Allerdings war schon damals die Annahme einer regelhaften Beziehung zwischen bestimmten Blutalkoholwerten und Beeinträchtigungen der Schuldfähigkeit alles andere als unstreitig, hauptsächlich weil bei einer solchen Schematisierung die Gefahr besteht, dass Besonderheiten des Einzelfalls vernachlässigt werden und das vorgegebene Schema mit dem wahren psychischen Zustand des Täters nichts mehr zu tun hat.67 Heute haben diese „Schwellenwerte“ allenfalls noch die Bedeutung von Orientierungshilfen für die Schuldfähigkeitsbeurteilung, hierfür entscheidend sind aber andere Kriterien, die aus dem Handlungsablauf der Tat und der Realitätseinbindung des 65 66
Vgl. etwa BGH NStZ 2006, 36 und NStZ 2009, 629. Vgl. z.B. BGHSt. 37, 231, 235 f.; BGHR StGB § 21 Blutalkoholkonzentration 4 und
16. 67
BGHSt. 43, 66.
Der bedingte Tötungsvorsatz und die Hemmschwellentheorie
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Täters während der Tatausführung sowie seine sonstige in Äußerungen und Handlungen offenbar werdende Situationswahrnehmung abzuleiten sind. 3. Wenn die Ausführungen dieses Beitrags zusammengefasst werden sollen, so geschieht das am besten mit einem kurzen Satz: Verallgemeinernde Schwellentheorien und Schwellenwerte taugen nur bedingt als rechtliche Maßstäbe.
Grund und Grenzen der „qualifizierten“ Belehrung im Strafprozess Klaus Rogall I. Klaus Geppert, der verehrte Jubilar, dem dieser Beitrag mit herzlichen Glückwünschen gewidmet ist, hat sich in seinem wissenschaftlichen Werk auch mit der Problematik der sog. „qualifizierten Belehrung“ auseinandergesetzt. Ich hoffe, nichts Wesentliches übersehen zu haben, wenn ich feststelle, dass seine Ausführungen in der Gedächtnisschrift für Karlheinz Meyer 1 die von ihm für richtig gehaltene Auffassung zu diesem Thema am besten wiedergeben.2 Im Zeitpunkt des Erscheinens seines Beitrages betrat Klaus Geppert noch weitgehend Neuland. Er stellte zu Recht fest, dass der Begriff der „qualifizierten“ Belehrung zur damaligen Zeit (noch) in keinem einschlägigen Stichwort- oder Sachverzeichnis der gängigen StPO-Kommentar- und Lehrbuchliteratur zu finden war.3 Um so engagierter trat er aber für die Erforderlichkeit einer qualifizierten Belehrung ein: 4 „Wer a sagt (und Zeugnisverweigerungs- bzw. Schweigerechte einführt, die Belehrung darüber allen Vernehmungspersonen zur gesetzlichen Pflicht macht und die Nichterfüllung dieser Belehrungspflichten durch ein Beweisverwertungsverbot absichert), muß auch b sagen … und die Forderung nach einer qualifizierten Belehrung mitunterschreiben!“ Mittlerweile sind mehr als 20 Jahre vergangen. In Rechtsprechung 5 und Lehre6 ist die qualifizierte Belehrung weitgehend anerkannt. Klaus Geppert 1
Geppert, Die „qualifizierte“ Belehrung, GS Meyer 1990, S. 90 ff. Vgl. aber auch Geppert, FS Otto 2007, S. 913 (925 ff., 929). 3 Geppert, GS Meyer 1990, S. 90. 4 Geppert, GS Meyer 1990, S. 119. 5 Zur qualifizierten Belehrung nach Belehrungsmängeln OLG München StraFo 2009, 206 f.; LG Bamberg NStZ-RR 2006, 311; AG München StV 2001, 501; AG Münden StraFo 1997, 273 f.; s. aber auch schon BGH StV 1988, 45; zur qualifizierten Belehrung nach Verstößen gegen § 136a StPO vgl. LG Frankfurt/M. StV 2003, 325 m. Anm. Weigend StV 2003, 436; LG Dortmund NStZ 1997, 356; LG Bad Kreuznach StV 1994, 293; zur qualifizierten Belehrung nach fehlerhafter Belehrung über das Verteidigerkonsultationsrecht s. AG Neumünster StV 2001, 498 m. Anm. Gübner; zur – sachlich allerdings nicht angebrachten und damit verfehlten (Fn. 18) – qualifizierten Belehrung nach Durchführung einer rechtswidri2
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Klaus Rogall
hat, wie wir heute wissen, richtig vorausgesehen, dass die qualifizierte Belehrung einst aus ihrem Dornröschenschlaf erwachen und zu einem wichtigen Gegenstand der wissenschaftlichen Diskussion avancieren werde. Und es wird ihn sicher freuen, dass sich inzwischen auch der BGH – unter Inanspruchnahme der Gedanken des Jubilars7 – zur Notwendigkeit einer qualifizierten Belehrung bekennt.8 Insoweit mag es nur einen kleinen Schönheitsfehler darstellen, dass die Frage, ob es auch bei Verstößen gegen § 136a StPO einer qualifizierten Belehrung bedarf, vom BGH noch nicht abschließend entschieden ist.9 Wie sehr dem BGH die qualifizierte Belehrung ans Herz gewachsen ist, lässt sich einer neueren Entscheidung10 entnehmen, in der er – im Ergebnis wohl etwas übertrieben11 – die Staatsanwaltschaft in die Pflicht genommen und ihr ins Stammbuch geschrieben hat, sie habe im Rahmen ihrer Leitungs- und Kontrollbefugnis die korrekte Zuweisung von Verfahrensrollen sicherzustellen, für eine ordnungsgemäße und rechtzeitige Beschuldigtenbelehrung zu sorgen und bei Belehrungsverstößen darauf zu achten, dass der Beschuldigte bei Beginn einer nachfolgenden Vernehmung auf die Nichtverwertbarkeit der früheren Angaben hingewiesen wird („qualifizierte Belehrung“).12 Diese nachdrückliche Betonung der Pflicht zur qualifizierten Belehrung und zu ihrer Beachtung in der forensischen Praxis kontrastiert nun allerdings in merkwürdiger Weise mit der Rechtsprechung des BGH zu den Folgen, die eine Verabsäumung der (erforderlichen) qualifizierten Belehrung haben soll: Unterbleibt nämlich die „qualifizierte“ Belehrung des Beschuldigten, so sol-
gen Durchsuchung LG Heilbronn StV 2005, 380; zur ebenfalls nicht angebrachten qualifizierten Belehrung nach informatorischer Anhörung oder Befragung s. AG Tiergarten StV 1983, 277 m. Anm. ter Veen StV 1983, 296; AG München StV 1990, 104; Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 7. Aufl. 2011, Rn. 509a; dagegen zutreffend Geppert, FS Oehler 1985, S. 323 (339 ff.). 6 Vgl. etwa Beulke, Strafprozessrecht, 11. Aufl. 2010, Rn. 119; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 26. Aufl. 2009, Rn. 24/33; Ranft, Strafprozeßrecht, 3. Aufl. 2005, Rn. 342; LR/Gless, 26. Aufl. 2007, § 136 Rn. 106 u. § 136a Rn. 74; Jahn, HbStrVf (2008), Rn. II/114, II/315; Roxin JR 2008, 16 (18 ff.); Rogall JZ 2008, 818 (826); Trüg JA 2004, 394 ff.; Neuhaus NStZ 1997, 312 ff.; ders., NStZ 2010, 45 ff. 7 Vgl. etwa BGH NStZ 1996, 290 (291). 8 Grundlegend BGHSt 53, 112 ff.; dazu näher Roxin HRRS 2009, 186 ff.; Deiters ZJS 2009, 198 ff.; Kasiske ZIS 2009, 319 ff.; Gless/Wennekers JR 2009, 383 ff.; vgl. ferner BGH StV 2007, 450 (452) – insoweit in BGHSt 51, 367 (376) nicht abgedruckt; BGH NJW 2009, 2612 (2613); BGH NJW 2009, 3589 m. Anm. Meyer-Mews; Peglau jurisPR-StrafR 22/2009 Anm. 2; BGH, Urt. v. 19.9.2000 – 1 StR 205/00 – juris. 9 Vgl. dazu BGHSt 53, 116. 10 BGH NJW 2009, 2612 m. Anm. Grasnick NStZ 2010, 158; Hüls jurisPR-StrafR 19/2009 Anm. 5. 11 Etwas übertrieben sind aber auch die Ausführungen von Grasnick (NStZ 2010, 158 f.) in seiner ablehnenden Anmerkung zu der vorbezeichneten Entscheidung. 12 BGH NJW 2009, 2613.
Grund und Grenzen der „qualifizierten“ Belehrung im Strafprozess
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len seine nach einer einfachen Belehrung gemachten Angaben trotz rechtzeitigen Widerspruchs nach Maßgabe einer Abwägung im Einzelfall verwertbar sein.13 Es versteht sich, dass das Wasser, das der BGH damit in den wohlschmeckenden Wein der qualifizierten Belehrung gegossen hat, im Schrifttum auf Ablehnung gestoßen ist.14 Klaus Geppert hat seinerzeit – wenn ich ihn richtig verstanden habe – die Unverwertbarkeit einer unter (nur) „einfacher“ Belehrung herbeigeführten Aussage als selbstverständlich vorausgesetzt. Ihm war dabei klar, dass die Skepsis der Praxis vor einer qualifizierten Belehrung von der Sorge gespeist war, dass die Möglichkeiten der Sachverhaltsaufklärung über Gebühr beschränkt und damit die Wahrheitsfindung empfindlich beeinträchtigt werden könnte.15 In der Tat wird man die geschilderte Zurückhaltung des BGH bei den Verwertungsverbotsfolgen mit genau diesen Befürchtungen erklären können. Für den Jubilar stand aber immer fest, dass keine Abstriche von der Notwendigkeit einer umfassenden Instruierung des Beschuldigten über seine Aussagefreiheit gemacht werden dürfen.16 Bedeckt hat er sich allerdings bei der Frage gehalten, unter welchen Voraussetzungen eine Revisionsrüge, mit der eine Verletzung der Pflicht zur qualifizierten Belehrung gerügt wird, Erfolg (oder aber Misserfolg) haben könnte.17 Den Anlass für das erneute Aufgreifen des Themas bildet freilich weniger das Problem der Folgen, die Fehler bei der qualifizierten Belehrung haben sollten. Ihnen werden nur wenige Bemerkungen gewidmet. Hier geht es vielmehr um das Prinzipielle der qualifizierten Belehrung, um ihren Grund und vor allem um ihre Grenzen, die nach der Entwicklung, die sie genommen hat, immer mehr zu schwinden scheinen. Es besteht die Gefahr, dass aus der nur für bestimmte Fallkonstellationen geforderten qualifizierten Belehrung eine allgemeine „Verwertungsverbotsbelehrung“ wird, die in eine Pflicht zu umfassender Rechtsbelehrung von Verfahrensbeteiligten ausufern könnte.18 Dem ist bereits deshalb mit Nachdruck entgegenzutreten, weil sich die Rechtsprechung, wenn sie so verführe, unzulässigerweise Kompetenzen des Gesetzgebers anmaßen würde. Nur der Gesetzgeber hat nämlich zu entscheiden, in welchen Fällen und in welchem Umfang allgemeine Rechtsbelehrun-
13
BGHSt 53, 116 ff.; anders aber OLG München StraFo 2009, 207. Vgl. dazu Roxin HRRS 2009, 186 ff.; Deiters ZJS 2009, 198 ff.; Gless/Wennekers JR 2009, 380 ff.; Kasiske ZIS 2009, 319 ff. 15 Geppert, GS Meyer 1990, S. 119. 16 Geppert, GS Meyer 1990, S. 119. 17 Geppert, GS Meyer 1990, S. 119 f. 18 Verfehlt LG Heilbronn StV 2005, 380, das eine qualifizierte Belehrung des Beschuldigten nach Durchführung einer rechtswidrigen Durchsuchung fordert. Wäre das richtig, könnte das nur bedeuten, dass ein Beschuldigter vor seiner Vernehmung ausnahmslos über die (Un-)Verwertbarkeit bisher gewonnenen Beweismaterials zu unterrichten ist. Aus seiner unbezweifelbar bestehenden Aussagefreiheit lässt sich das nicht herleiten. 14
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gen zu erfolgen haben.19 Dass für eine das Grundsätzliche in den Blick nehmende Erörterung ein dringendes Bedürfnis besteht, lässt sich im Übrigen auch an zwei kürzlich namhaft gemachten Problemen veranschaulichen. So hat Deiters20 darauf hingewiesen, dass die qualifizierte Belehrung mit der sog. Widerspruchslösung des BGH21 in Übereinstimmung gebracht werden muss. Tatsächlich wäre eine im Vorverfahren erteilte qualifizierte Belehrung, deren Gegenstand im Hinweis auf die Unverwertbarkeit der Inhalte einer früheren Vernehmung besteht, in den Widerspruchsfällen22 nicht ganz korrekt. Denn diese Inhalte sind einer Verwertung zu Zwecken der Urteilsfindung in der Hauptverhandlung durchaus zugänglich, wenn seitens des über die Widerspruchsmöglichkeit unterrichteten Angeklagten oder seines Verteidigers kein Widerspruch gegen die Verwertung erhoben wird.23 Nimmt man außerdem an, dass ein Beweisverwertungsverbot in diesen Fällen erst durch den Widerspruch „aktiviert“24 wird, vorher also nicht „gilt“,25 so bestünde im Vorverfahren noch gar kein Beweisverwertungsverbot und die qualifizierte Belehrung wäre ersichtlich falsch. Was also soll dem Beschuldigten in dieser Situation zu seiner rechtlichen Instruktion gesagt werden? Darüber hinaus hat das OLG Hamm,26 das dem BGH im Grundsatz folgt, auf Inkonsistenzen im Urteil des 4. Strafsenats (BGHSt 53, 112) hingewiesen: Die Frage, ob der Betroffene nach erfolgter Beschuldigtenbelehrung davon ausgegangen ist, von seinen früheren Angaben nicht mehr abrücken zu können, könne – anders als der BGH das annimmt – kein verwertungsseitiger Abwägungsfaktor sein. Vielmehr handele es sich um eine „Vorfrage“, die das Vorliegen einer „Fortwirkung“ des ursprünglichen Belehrungsfehlers betreffe 19
Damit soll allerdings nicht gesagt sein, dass die qualifizierte Belehrung dem Gesetzesvorbehalt widerspricht. Es wird später dargetan, dass das nicht der Fall ist. 20 ZJS 2009, 198 (201). 21 Vgl. BGHSt 38, 214 (225 ff.); 42, 15 (22); 50, 272 (274); 52, 38 (41) – st. Rspr.; näher dazu SK-StPO/Rogall, Bd. II, 4. Aufl. 2010, § 136 Rn. 77 ff.; Beulke (Fn. 6), Rn. 460a; Roxin/Schünemann (Fn. 6), Rn. 24/34; Maiberg, Zur Widerspruchsabhängigkeit von strafprozessualen Verwertungsverboten, 2003; Dudel, Das Widerspruchserfordernis bei Beweisverwertungsverboten, 1999; Ufer, Der Verwertungswiderspruch in Theorie und Praxis, 2002. 22 Zu diesen näher Jahn, Beweiserhebungs- und Beweisverwertungsverbote im Spannungsfeld zwischen den Garantien des Rechtsstaates und der effektiven Bekämpfung von Kriminalität und Terrorismus, Gutachten C für den 67. DJT (2008), S. C 109 ff.; Dudel (Fn. 21), S. 49 ff.; Beulke (Fn. 6), Rn. 460a; LR/Gössel, StPO, 26. Aufl. 2007, Einl. L Rn. 29; jeweils m.w.N. 23 BGHSt 38, 225 f.; BGH NStZ 1997, 502. 24 So Dudel (Fn. 21), S. 67. Wie der Widerspruch prozessdogmatisch einzustufen ist, wird nicht einheitlich beurteilt, vgl. dazu etwa Maiberg (Fn. 21), S. 50 ff., 178 ff.; vgl. ferner die Nachweise in Fn. 92 ff. 25 In diesem Sinne etwa Schlothauer, FS Lüderssen 2002, S. 761 (767 ff., 768); ders., StV 2006, 397; Ufer (Fn. 21), S. 153 f. 26 OLG Hamm NStZ-RR 2009, 283 (285).
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und damit auf der „Tatbestandsseite“ der qualifizierten Belehrung angesiedelt sei. Zudem hat das OLG Hamm27 auf den richterrechtlichen Charakter der qualifizierten Belehrung und ihre mangelnde Verankerung im Gesetz aufmerksam gemacht, ohne daraus jedoch – mangels Entscheidungserheblichkeit – weitergehende Folgerungen (Unzulässigkeit der qualifizierten Belehrung?) ziehen zu müssen. Bedenkt man dies alles, drängt sich die Vermutung auf, dass die überschwängliche Begeisterung für die qualifizierte Belehrung Probleme verdeckt, die in der weiteren Diskussion offen angegangen werden müssen. Versuchen wir also, uns aus dem Wechselbad der Gefühle, das uns die qualifizierte Belehrung derzeit beschert, zu befreien und den Dingen auf den Grund zu gehen.
II. Der Begriff der „qualifizierten Belehrung“ kommt in der StPO nicht vor. Allerdings verpflichtet der neue § 35a S. 3 StPO28 im Zusammenhang mit Verständigungen im Strafverfahren zu einer Belehrung, die vom BGH29 schon vor der gesetzlichen Regelung 30 entwickelt und insoweit ausdrücklich als „qualifizierte Belehrung“ bezeichnet worden ist.31 Sie geht dahin, dass der Beschuldigte im Falle einer Verständigung (§ 257c StPO) auch darüber zu belehren ist, dass er in jedem Fall frei in seiner Entscheidung ist, ein Rechtsmittel einzulegen. Diese Belehrung ist natürlich nicht Gegenstand der hier anzustellenden Überlegungen. Sie zeigt aber, dass man es mit einer Doppelung der Begriffe zu tun hat, die besser zu vermeiden wäre.32 27
OLG Hamm NStZ-RR 2009, 286. „Ist dem Urteil eine Verständigung (§ 257c) vorausgegangen, ist der Betroffene auch darüber zu belehren, dass er in jedem Fall frei in seiner Entscheidung ist, ein Rechtsmittel einzulegen.“ 29 BGHSt (GS) 50, 40 ff. 30 Durch das Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren vom 29.7.2009, BGBl. I S. 2353. 31 BGHSt 50, 61: „Qualifizierte Belehrung bedeutet, daß der Betroffene vom Gericht ausdrücklich dahin zu belehren ist, daß er ungeachtet der Urteilsabsprache und ungeachtet der Empfehlung der übrigen Verfahrensbeteiligten, auch seines Verteidigers, in seiner Entscheidung frei ist, Rechtsmittel einzulegen. Er ist darauf hinzuweisen, daß ihn eine – etwa im Rahmen einer Urteilsabsprache abgegebene – Ankündigung, kein Rechtsmittel einzulegen, weder rechtlich noch auch sonst bindet, daß er also nach wie vor frei ist, gleichwohl Rechtsmittel einzulegen.“ Nach der heutigen Rechtslage (§ 302 Abs. 1 S. 2 StPO) ist ein Verzicht ausgeschlossen, wenn dem Urteil eine Verständigung vorausgegangen ist. 32 Man sieht das auch daran, dass in den Stichwortverzeichnissen der Lehrbuch- und Kommentarliteratur unter dem Stichwort „Qualifizierte Belehrung“ oder „Belehrung, qualifizierte“ in der Regel beide als „qualifizierte Belehrung“ bezeichneten Belehrungen aufgeführt werden, so z.B. bei Eisenberg, Beweisrecht (Fn. 5), Sachverzeichnis. 28
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Auch die in diesem Beitrag anzusprechende „qualifizierte Belehrung“ besteht in der Information über eine verfahrensbezogene Rechtstatsache. Bei dieser Rechtstatsache handelt es sich um das Vorliegen eines Verwertungsverbotes, das sich aus der Verletzung von Beweiserhebungsvorschriften ergibt, die – so jedenfalls die gängige Lesart – für Vernehmungen von Beschuldigten und Zeugen gelten.33 Es handelt sich also um einen Unverwertbarkeitshinweis,34 der bei einer erneuten Beweiserhebung desselben Typs der dafür vorgeschriebenen „Standardbelehrung“ hinzugefügt wird. Das bedarf näherer Erläuterung.35 Die Forderung nach einem solchen Hinweis stammt von Grünwald.36 Er hatte sich kritisch mit einem Beschluss des 1. Strafsenats des BGH (1 StR 625/67 v. 30.04.1968) 37 auseinandergesetzt, in dem dieser ein vom Angeklagten nach ordnungsgemäßer Belehrung abgelegtes Geständnis für verwertbar gehalten hatte, obwohl er – der Angeklagte – in früheren Vernehmungen inhaltsgleiche Angaben ohne Belehrung gemacht hatte. Der BGH rechtfertigte seine Haltung seinerzeit im Wesentlichen mit zwei Argumenten:38 Erstens werde sich der Angeklagte nach Belehrung seiner freien Entscheidungsmöglichkeit bewusst; wie er diese nutze, müsse ihm überlassen bleiben. Wenn er aussage, trage er nicht mehr unfreiwillig zu seiner Überführung bei. Zweitens könne es nicht angehen, die Verwertbarkeit einer letzten Aussage in Abhängigkeit zur Verwertbarkeit früherer Aussagen zu bringen. Das hätte nämlich die merkwürdige Folge, dass selbst ein Geständnis in der Hauptverhandlung trotz vorschriftsmäßiger Belehrung unverwertbar sei, weil es an einer solchen im Vorverfahren gefehlt habe. § 243 Abs. 4 StPO beweise, dass Rechtsverstöße heilbar seien. Inwieweit diese Entscheidung, die zu einem Zeitpunkt ergangen ist, als die Verwertungsverbotsfolge bei Verletzung des § 136 Abs. 1 S. 2 StPO noch nicht anerkannt war, noch heute als Beleg für die Entbehrlichkeit einer qualifizierten Belehrung ins Feld geführt werden kann, 33 Zu den einzelnen Fällen, in denen eine qualifizierte Belehrung in Betracht kommen kann, vgl. näher Geppert, GS Meyer 1990, S. 106 ff., 113 ff. 34 Vgl. dazu AG Münden StraFo 1997, 273: „Qualifizierte Belehrung bedeutet, daß der Angeklagte darüber zu belehren ist, daß er nicht nur das Recht hat zu schweigen, sondern, daß im Falle des Schweigens, das, was er bisher ausgesagt hat, nicht verwertet werden darf.“ Vgl. dagegen Ranft (Fn. 6), Rn. 342: „ ,Qualifizierte‘ Belehrung bedeutet, daß der Beschuldigte zusätzlich darüber belehrt wird, daß eine Verwertung der bisherigen Angaben nicht zulässig sei, wenn er seine Angaben nicht aufrecht erhalten wolle und der Verwertung nicht ausdrücklich zustimme (gleiches gilt auch für Fehler im Hauptverfahren).“ 35 Ich beschränke mich hier im Sinne einer Konzentration auf das Wesentliche auf die Fälle von nachträglich erkannten Belehrungsmängeln, welche die Vernehmung von Beschuldigten betreffen und zu der Frage führen, ob ihre erneute Vernehmung anzustreben ist und welche Belehrung dabei erteilt werden muss. 36 JZ 1968, 752 (753 f.). 37 BGHSt 22, 129 ff. 38 BGHSt 22, 135.
Grund und Grenzen der „qualifizierten“ Belehrung im Strafprozess
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wird unterschiedlich beurteilt.39 Der BGH40 geht jedenfalls davon aus, dass der 1. Strafsenat im Urteil vom 19.09.2000 (1 StR 205/00) seine frühere Entscheidung BGHSt 22, 129 aufgegeben habe.41 Grünwald 42 pflichtete dem BGH (BGHSt 22, 129) darin bei, dass ein Belehrungsfehler keineswegs jede weitere Aussage unverwertbar mache. Es genüge aber nicht, dass der Beschuldigte lediglich in der allgemeinen Form des § 136 Abs. 1 S. 2 StPO belehrt werde. Wenn der Beschuldigte zur (erneuten) Aussage bereit sei,43 könne die Freiwilligkeit dieser Aussage nur dadurch sichergestellt werden, dass er nicht nur über sein Wahlrecht, sondern auch darüber belehrt werde, dass seine vorherige Aussage in keinem Fall mehr gegen ihn verwertet werden kann.44 Diese Belehrung, die von Grünwald 45 später – womöglich treffender – als „erweiterte Belehrung“ bezeichnet worden ist, sei von einem Richter vorzunehmen, da dem Beschuldigten nur dann seine Situation klar vor Augen geführt werde.46 In einem wenig später erschienenen Beitrag47 vertrat Schünemann 48 die Ansicht, dass im Falle einer erneuten Vernehmung nach einem Belehrungsfehler eine einfache Belehrung nicht genüge, um den Verfahrensverstoß zu heilen und eine spätere Gründung des Urteils auf dem Gesetzesverstoß auszuschließen.49 Aus § 337 StPO ergebe sich die Notwendigkeit einer (von ihm sog.) qualifizierten Belehrung. Ihr Inhalt gehe dahin, den Beschuldigten darauf hinzuweisen, dass seiner bisherigen Aussage keinerlei Gewicht zukomme und er noch immer die freie Entscheidung darüber besitze, ob er an der Aufklärung positiv mitwirken wolle oder nicht. Unterbleibe diese Beleh-
39
Vgl. etwa Neuhaus NStZ 1997, 314 einerseits, Kasiske ZIS 2009, 321 andererseits. 4. Strafsenat, BGHSt 53, 112 (115 – Rn. 12). 41 Anders OLG Hamm NStZ-RR 2009, 285 im Anschluss an Trüg/Habetha NStZ 2008, 481 (486). 42 JZ 1968, 753. 43 Grünwald meinte, dass ein Gericht sich unter keinen Umständen weigern dürfe, die Erklärung eines aussagebereiten Beschuldigten entgegenzunehmen, vgl. JZ 1968, 754. 44 Grünwald JZ 1968, 754; ders., Das Beweisrecht der Strafprozeßordnung (1993), S. 160. 45 Beweisrecht (Fn. 44), S. 160. 46 Grünwald JZ 1968, 754; ders., JZ 1983, 717 (719); ders., Beweisrecht (Fn. 44), S. 160. 47 Schünemann teilt mit, dass die Anmerkung von Grünwald erst nach Abschluss seines eigenen Beitrages erschienen sei, vgl. Schünemann MDR 1969, 101 (103 Fn. 18). 48 MDR 1969, 102. 49 Vgl. dazu Schünemann MDR 1969, 103: „Wer am Vormittag bereits ein Geständnis abgelegt hat und nicht weiß, daß dieses Geständnis mangels vorheriger Belehrung unbeachtlich ist, dem wird die einfache Belehrung bei der schriftlichen Fixierung am Nachmittag wie eine leere Floskel erscheinen, denn durch bloßes Schweigen könnte er ja – nach seinen Kenntnissen und Vorstellungen – die Vormittagsaussage nicht aus der Welt schaffen!“ 40
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rung, so sei auch die neue Aussage unverwertbar, weil nicht ausgeschlossen werden könne, dass sie auf der früheren Aussage beruht.50 Schünemann hat dem zunächst von Grünwald postulierten Belehrungserfordernis einen Namen gegeben, der uns seitdem in der wissenschaftlichen Diskussion als problembezogener Orientierungspunkt dient. Die Einheitlichkeit der Beschreibung darf aber nicht die Tatsache verdecken, dass die Ansätze der beiden Autoren grundverschieden sind. Für Grünwald folgt die qualifizierte Belehrung aus der Notwendigkeit, die Freiwilligkeit der Aussage, d.h. also letztlich die Aussagefreiheit zu sichern.51 Für Schünemann handelt es sich dagegen um das revisionsrechtliche Problem des Beruhens des Urteils auf einer Gesetzesverletzung (§ 337 StPO).52 Die Verschiedenheit der jeweiligen Ansätze hängt damit zusammen, dass Schünemann53 die qualifizierte Belehrung als Frage nach den Fernwirkungen eines Verfahrensverstoßes versteht, während Grünwald 54 die zweite Aussage zwar zur Kategorie der mittelbar durch eine Rechtsverletzung erlangten Beweismittel zählt, aber betont, dass die Lösung des Problems nicht unmittelbar aus der Stellungnahme zur Frage der Fernwirkung abzuleiten sei. Bei Schünemann taucht überraschenderweise noch ein zusätzlicher, an sich strafrechtlicher Begründungsansatz auf: Er nimmt nämlich an, dass dem Staat nach einem Belehrungsverstoß aus Ingerenz die Pflicht zur vollständigen Aufklärung über die Rechtslage (sog. qualifizierte Belehrung) erwachse.55 Der von Schünemann nur beiläufig und wohl nur der Anschaulichkeit halber erwähnte Gedanke der Ingerenz56 ist aber als Grundlage der qualifizierten Belehrung – das sei hier gleich gesagt – denkbar ungeeignet. Bei der Ingerenz handelt es sich um ein strafrechtliches Institut, dessen Anwendung im Strafprozessrecht nicht angeordnet ist und sich im Übrigen auch keineswegs von selbst versteht. Die qualifizierte Belehrung ist eine Prozesshandlung und die Pflicht zu ihrer Vornahme kann nur im Prozessrecht begründet sein. Für einen Rückgriff auf Ingerenzerwägungen besteht letztlich auch kein Bedürfnis, weil sich eine Pflicht zur qualifizierten Belehrung, wie zu zeigen sein wird, durchaus auf prozessrechtliche Grundsätze stützen lässt.57 50 Schünemann MDR 1969, 102. Schünemann differenziert übrigens nicht zwischen Belehrungsverstößen im Vorverfahren und in der Hauptverhandlung, sondern behandelt anscheinend beides gleich, ohne zu erwägen, ob das für die Revision nicht doch einen Unterschied ausmachen könnte. 51 Grünwald JZ 1968, 754; ders., JZ 1983, 719; ders., Beweisrecht (Fn. 44), S. 159 f. 52 Schünemann MDR 1969, 102. 53 MDR 1969, 102. 54 JZ 1968, 753. 55 Schünemann MDR 1969, 103. 56 Vgl. dazu auch Geppert, GS Meyer 1990, S. 105; Seebode, FS Otto 2007, S. 999 (1002); Günther StV 1988, 421 (423); Trüg JA 2004, 398. 57 Gegen den Ingerenztopos schon Rogall, Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst (1977), S. 191.
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III. Der von Schünemann ins Spiel gebrachte Ingerenzgedanke hat aber auf jeden Fall einen strukturellen Erkenntniswert und ist schon aus diesem Grunde sehr verdienstlich. Mit Ingerenz wird im Strafrecht bekanntlich ein Verhalten bezeichnet, das zu einer Abwendungsverantwortung führt. Was aber soll bei der qualifizierten Belehrung abgewendet werden? Es besteht ja – das ist freilich die noch zu prüfende Prämisse – für die zunächst getätigte Aussage ein Verwertungsverbot. Schaut man genauer hin, so ergibt sich, dass mit der qualifizierten Belehrung der Gefahr begegnet werden soll, der Beschuldigte könne bei einer weiteren Vernehmung mehr Selbstbelastendes bekunden als er bekunden würde, wenn er die Nichtverwertbarkeit seiner früheren Aussagen gekannt hätte. Daher geht es der Sache nach um die Abwendung einer unfreiwilligen Selbstbelastung, die im Extremfall in einem vollen Geständnis bestehen könnte. Es soll also die Aussagefreiheit des Beschuldigten bei einer Folgevernehmung geschützt werden. Das erfolgt durch Zusatzanforderungen an die gesetzlich vorgeschriebene Belehrung, weil man der Ansicht ist, dass diese Belehrung zur Abwendung der Gefahr nicht ausreicht. Dem entspricht es, dass die h.M.58 die Pflicht zur Erteilung einer qualifizierten Belehrung aus dem Recht herleitet, sich nicht selbst belasten zu müssen. In diesem Sinne hat auch schon der verehrte Jubilar darauf hingewiesen, dass diese Pflicht der Gewährleistung der Aussagefreiheit dient, insoweit notwendiger Bestandteil eines fairen Verfahrens (Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 6 Abs. 1 EMRK) ist59 und damit – über fürsorgliche Gesichtspunkte60 hinausgehend61 – verfassungsrechtliches Gewicht hat.62 Auch der BGH ist in seiner Grundsatzentscheidung BGHSt 53, 112 dieser Linie gefolgt und hat ausgeführt, dass die rechtsstaatliche Ordnung Vorkehrungen in Form der „qualifizierten“ Belehrung treffen müsse, weil es gelte, die Selbstbelastungsfreiheit („Nemo tenetur se ipsum accusare“), die zum „Kernstück des von Art. 6 Abs. 1 EMRK garantierten fairen Verfahrens gehört,63 zu schützen.64 Das alles klingt gut. Die qualifizierte Belehrung steht gewiss im Dienst des Zwecks, den Betroffenen zu einer voll informierten Entscheidung über sein 58 BGHSt 53, 115 ff.; Grünwald JZ 1968, 754; Rogall, Der Beschuldigte (Fn. 57), S. 191; Geppert GS Meyer 1990, S. 105; Roxin JR 2008, 18; ders., HRRS 2009, 186; Deiters ZJS 2009, 200 ff.; Gless/Wennekers JR 2009, 383; Kasiske ZIS 2009, 322. 59 Dafür auch Saliger ZStW 116 (2004), 35 (53). 60 Dazu Trüg JA 2004, 398. 61 Geppert, GS Meyer 1990, S. 105. 62 Geppert, GS Meyer 1990, S. 105; Neuhaus NStZ 1997, 314; Trüg JA 2004, 398. 63 Unter Berufung auf EGMR NJW 2002, 499 (501) m. Aufsatz Schohe NJW 2002, 492; EGMR JR 2005, 423 m. Anm. Gaede. 64 BGHSt 53, 115 f. (Rn. 13).
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Prozessverhalten zu befähigen. Aber ist damit schon das Wesentliche erfasst? Ist die qualifizierte Belehrung tatsächlich ein allein im Interesse der Aussagefreiheit geschaffenes Rechtsinstitut? Wie verträgt sich diese Sichtweise mit der (ganz offenbar konsentierten) Erkenntnis, dass die qualifizierte Belehrung ein Instrument zur Heilung vorangegangener, fortwirkender Verfahrensverstöße ist? 65 Muss man nicht zwischen dem „Ob“ einer qualifizierten Belehrung und dem auf ihren Zweck bezogenen „Wie“ unterscheiden? Um etwas Licht in das Dunkel zu bringen, bedarf es einer Rückbesinnung auf die prozessuale Behandlung von Verfahrensfehlern. Verfahrensfehler, die zu Verwertungsverboten führen können,66 sind unerwünschte prozessrechtliche Phänomene. Fehlerprophylaxe ist deshalb das Gebot der Stunde. Sie führt jedoch nicht immer zum Erfolg. Fehler lassen sich eben nicht flächendeckend vermeiden. Es bedarf daher zur Sicherung der Funktionsfähigkeit des Prozessrechtssystems einer Fehlerbegrenzung. Geschehen kann das durch „Neutralisierung“ des Fehlers.67 Dafür gibt es mehrere Möglichkeiten. Eine dieser Möglichkeiten ist – das mag überraschend klingen – die strikte Beachtung des Verwertungsverbots, und zwar in dem Sinne, dass die durch die fehlerhafte Beweiserhebung erzeugten Beweisergebnisse schlichtweg ignoriert und nicht zur Begründung von Entscheidungen68 herangezogen werden. Aus der Entscheidung muss aber hervorgehen, dass das Beweisergebnis (wie z.B. die Aussage im Falle der Nichtbeachtung des § 136 Abs. 1 S. 2 StPO) tatsächlich nicht verwertet worden ist.69 Schon aus der bloßen Existenz einer solchen Lösung, die wohlfeil ist, wenn die kontaminierten Beweisergebnisse zur Aufklärung des Sachverhalts oder zur Urteilsfindung nicht benötigt werden, folgt, dass eine Pflicht zur qualifizierten Belehrung sicher nicht allgemeine Geltung beanspruchen kann. Es kann also nicht um eine in sich selbst ruhende und sich selbst tragende restitutio in integrum gehen. Eine weitere Möglichkeit der Neutralisierung des Fehlers besteht darin, die Zustimmung des Betroffenen zur Verwertung eines verfahrensfehlerhaft
65 Vgl. OLG Hamm NStZ-RR 2009, 286 unter Berufung auf BGH StV 2007, 452 (in BGHSt 51, 367 nicht abgedruckt). 66 Bei der fehlerhaften Belehrung von Beschuldigten und Zeugen ist das bekanntlich der Fall, s. dazu stellvertretend Meyer-Goßner, StPO, 53. Aufl. 2010, § 136 Rn. 20; § 52 Rn. 32 m.w.N. 67 Zum Ganzen näher Rogall, Grundsatzfragen der Beweisverbote, in: Höpfel/Huber (Hrsg.), Beweisverbote in Ländern der EU und vergleichbaren Rechtsordnungen (1999), S. 119 ff. 68 Vgl. dazu nur LR/Gössel (Fn. 22), Einl. L Rn. 7; Rogall, Beweisverbote im System des deutschen und amerikanischen Strafverfahrensrechts, in: Wolter (Hrsg.), Zur Theorie und Systematik des Strafprozeßrechts (1995), S. 113 (144 f.); ders., JZ 2008, 818 (822). 69 Eb. Schmidt NJW 1968, 1209 (1217 f.).
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gewonnenen Beweisergebnisses herbeizuführen.70 Das setzt natürlich voraus, dass der Betroffene insoweit dispositionsbefugt ist, das Verwertungsverbot also gerade in seinem Interesse besteht. Diese Zustimmungs- oder Einwilligungslösung erfreut sich heute allgemeiner Anerkennung, zumal die StPO eine Reihe von Vorschriften enthält, in denen ein derartiger Einwilligungsvorbehalt für allerdings unterschiedliche Fallgestaltungen (auch im Bereich der Verwendungsverbote) 71 aufgestellt ist.72 Willigt der über seine Dispositionsbefugnis umfassend orientierte („informed consent“)73 Betroffene ein, so gerät das (unselbständige oder selbständige) Verwertungsverbot in Fortfall. Die Verwertung wird zulässig, obwohl sich an der prozessrechtlichen Tatsache einer (u.U. fehlerhaft) erfolgten Beweiserhebung nichts geändert hat. Es handelt sich damit um eine ausschließlich rechtsfolgenseitige Korrektur. Soweit die Beachtung eines Verwertungsverbotes nach der Rechtsprechung von der Erhebung eines Widerspruchs in der Hauptverhandlung abhängig ist,74 könnte auch daran gedacht werden, den Angeklagten zur Nichteinlegung eines Widerspruchs zu veranlassen. Verhielte er sich entsprechend, käme es – aus welchen Gründen auch immer 75 – zu einer „Entsperrung“ des Beweisstoffes. Im Ergebnis führen sowohl die Zustimmung zur Verwertung als auch der Verzicht auf die Erhebung eines Widerspruchs zur möglichen Verwertung an sich kontaminierter Beweisergebnisse.76 Eine Fehlerneutralisierung kann schließlich auch eintreten, wenn sich erweist, dass der Fehler ohne Einfluss auf den jeweiligen Zweck der Beweiserhebungsnorm geblieben ist. Soll z.B. die Belehrungspflicht nach § 136 Abs. 1 S. 2 StPO sicherstellen, dass der Beschuldigte vor der irrtümlichen Annahme einer Aussagepflicht bewahrt wird,77 ist der Belehrungsfehler 70
Für Belehrungsverstöße bei der Vernehmung des Beschuldigten vgl. schon BGHSt 38,
225. 71
Vgl. nur §§ 100d Abs. 5 Nrn. 1, 3, 161 Abs. 2, 477 Abs. 2 S. 2, 3 StPO. S. dazu Schlothauer, FS Lüderssen 2002, S. 763. 73 So ist z.B. ein verwandter (§ 52 StPO) Zeuge, der die Verwertung seiner bei einer nichtrichterlichen Vernehmung getätigten Aussage gestattet (§ 252 StPO; BGHSt, 2, 99 ff.), über die Folgen des Verzichts „qualifiziert“ zu belehren, vgl. BGH NStZ 2007, 352 (353); BGH NStZ 2007, 713. Die Belehrung über die Auswirkungen des Verzichts auf das Beweisverbot des § 252 StPO ist von der in diesem Beitrag angesprochenen qualifizierten Belehrung zu unterscheiden. Bei dieser geht es nicht darum, den Betroffenen auf die Folgen von Verwertungszustimmungen aufmerksam zu machen. Es ist deshalb misslich, dass der BGH auch beim Verzicht auf ein (hier: selbständiges) Beweisverwertungsverbot von „qualifizierter“ Belehrung spricht. 74 Zur „Widerspruchslösung“ vgl. nochmals die Nachweise in Fn. 21. 75 Vgl. dazu die Ausführungen und Nachweise in und zu Fn. 92 ff. 76 Dazu, dass Zustimmung zur Verwertung und Widerspruch gegen die Verwertung nicht dasselbe sind, s. nur Tolksdorf, FG Graßhof 1998, S. 255 (264). 77 So z.B. BGHSt (GS) 42, 139 (147); BGH NJW 2009, 3589; BGH, Beschluss v. 18.05. 2010 – 5 StR 51/10 (Rn. 16) – juris; SK-StPO/Rogall (Fn. 21), § 136 Rn. 41 m.w.N. 72
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rechtlich irrelevant, wenn der Beschuldigte erklärt, er habe seine Aussagefreiheit gekannt oder er habe in jedem Falle aussagen wollen.78 In diesen Fällen konnte die Belehrung ihren Zweck nicht erfüllen, was zur „Heilung“ des Prozessrechtsverstoßes führt.79 „Heilung“ weist in diesem Falle auf die Erkenntnis hin, dass der Verstoß insgesamt zwar die Merkmale prozessualen „Handlungsunrechts“ trägt, aber ohne prozessrechtlichen „Erfolgsunwert“ geblieben ist. Bloßes prozessuales „Versuchsunrecht“ trägt die Rechtsfolge „Verwertungsverbot“ aber noch nicht; es fehlt insoweit an den tatbestandlichen Voraussetzungen der Verwertungsverbotsfolge. Die am häufigsten erörterte Möglichkeit der Neutralisierung von Beweiserhebungsfehlern besteht in der (jetzt ordnungsgemäßen) Wiederholung der Verfahrenshandlung.80 Findet eine solche Wiederholung statt, so beseitigt das allerdings nicht die Unverwertbarkeit des ursprünglichen Beweisergebnisses. Deshalb trifft der Begriff der „Heilung“ auf diesen Vorgang, wenn überhaupt, nur in einem weiteren Sinn zu.81 Die fehlerfreie Wiederholung der Beweiserhebung führt aber zur Gewinnung eines jetzt verwertbaren – neuen – Beweisergebnisses, mag in dieses auch, etwa durch ggf. pauschale Inbezugnahme, das ursprünglich unverwertbare Beweisergebnis integriert sein. Das Prinzip der Wiederholung als Königsweg zur Heilung von Verfahrensverstößen besagt als solches nichts darüber, wann von ihm Gebrauch zu machen ist (das ist die Frage des „Ob“ der Wiederholung) und vor allem auch nichts darüber, wann eine Wiederholung „fehlerfrei“ ist (das betrifft die Frage des „Wie“ einer Wiederholung). Das erste ist grundsätzlich eine Frage der Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO), während das zweite ersichtlich davon abhängt, welche Anforderungen an die jeweilige Beweiserhebung zu stellen sind. Das lässt sich am Beispiel der Beschuldigtenvernehmung veranschaulichen. Für das Vorverfahren folgt aus § 163a Abs. 1 S. 1 StPO, dass an sich nur eine Vernehmung des Beschuldigten vor dem Abschluss der Ermittlungen erforderlich ist, und das auch nur, wenn das Verfahren nicht zur Einstellung führt. Soweit es in der Vorschrift heißt, der Beschuldigte sei „spätestens“ vor Abschluss der Ermittlungen zu vernehmen, geht daraus allerdings hervor, dass eine späte Vernehmung nicht den Regelfall bilden sollte.82 Richtig ist auch, dass nach dem Gesetz eine mehrfache Vernehmung als Möglichkeit vorausgesetzt wird. Denn es brauchte im Text des Gesetzes (§ 136 Abs. 1 S. 1,
78
Eb. Schmidt NJW 1968, 1217. Eb. Schmidt NJW 1968, 1217. 80 Vgl. dazu Dencker, Verwertungsverbote im Strafprozeß (1977), S. 80 ff.; Rogall JZ 2008, 826. 81 Zutreffend Schlothauer, FS Lüderssen 2002, S. 766 Fn. 21. 82 Zu den Einzelheiten SK-StPO/Wohlers, Bd. III, 4. Aufl. 2010, § 163a Rn. 10. 79
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§§ 163a Abs. 3 S. 2, 136 Abs. 1 S. 1, 163a Abs. 4 S. 1 StPO) nicht von „erster“ Vernehmung die Rede zu sein, wenn ihr nie weitere Vernehmungen zu folgen hätten. Aus den genannten Vorschriften ergibt sich aber nicht, wann die Strafverfolgungsorgane es bei einer einzigen Vernehmung belassen dürfen und wann sie eine mehrfache Vernehmung anzustreben haben.83 Einen Zwang zur Vernehmung begründet die StPO nur in besonderen Fällen, und zwar dann, wenn dem Beschuldigten die Freiheit entzogen worden ist.84 Das gilt zuerst bei der vorläufigen Festnahme (§ 128 Abs. 1 S. 2 StPO i.V.m. § 115 Abs. 3 StPO), des Weiteren aber auch bei der Vorführung eines Verhafteten vor das zuständige Gericht (§ 115 Abs. 2 StPO) oder das nächste Amtsgericht (§ 115a Abs. 2 S. 1 StPO). Ansonsten kann sich eine Pflicht zu einer (erneuten) Vernehmung nur – wie bereits gesagt – aus den Erfordernissen der Sachverhaltserforschung und/oder – was nunmehr hinzukommt – aus Gründen ergeben, die mit dem Anspruch des Beschuldigten auf rechtliches Gehör und seinem Recht auf Verteidigung zusammenhängen. Denn es muss ja dem Beschuldigten Gelegenheit gegeben werden, die gegen ihn vorliegenden Verdachts- oder Haftgründe zu beseitigen und die zu seinen Gunsten sprechenden Tatsachen gelten zu machen (§§ 115 Abs. 3 S. 2, 136 Abs. 2 StPO). Diese durch Verteidigungsinteressen motivierte Regelung liegt natürlich zugleich im Interesse der Sachverhaltserforschung, die ja nicht nur der Schuldfeststellung, sondern auch der Feststellung einer möglichen Unschuld des Beschuldigten dient. Wenn Grünwald 85 also erklärt, dass sich ein Gericht unter keinen Umständen weigern dürfe, die Erklärung eines zur Aussage bereiten Beschuldigten entgegenzunehmen, so ist das, wenn man einmal von § 243 Abs. 5 S. 2 StPO absieht, nur richtig, soweit die Aufklärungspflicht und/oder der Gehörsanspruch bzw. die Verteidigungsinteressen des Beschuldigten das gebieten. Die Tatsache allein, dass die Aussagefreiheit des Beschuldigten infolge eines Belehrungsmangels verletzt worden ist, verpflichtet als solche noch nicht zu einer Wiederholung der Vernehmung. Es geht also nicht um die „Reparatur“ eines verletzten Rechts an sich, sondern allein um die Gewinnung von verwertbaren Beweisergebnissen. Das bedarf hier einer besonderen Hervorhebung, weil in der Literatur nicht selten der Eindruck erweckt wird, als müsse die Aussagefreiheit à tout prix wiederhergestellt werden. Dass das nicht richtig ist, erkennt man auch daran, dass Tatsachen, die dem Beschuldigten günstig sind, selbst dann in seinem Interesse verwertet werden dürfen, wenn sie aus gesperrtem Beweisstoff stammen.86 Dann ist ein „Heilungsversuch“ entbehrlich. 83
S. aber auch dazu SK-StPO/Wohlers (Fn. 82), § 163a Rn. 10. Vgl. dazu neuestens Bittmann JuS 2010, 510 ff. 85 JZ 1968, 754. 86 Jedenfalls entspricht dies einem Verständnis, das die Verwertungsverbote ausschließlich als Belastungsverbote begreift, vgl. Dencker, Verwertungsverbote (Fn. 80), S. 73 ff.; Rogall ZStW 91 (1979), 1 (38); ders., JZ 2008, 830. 84
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Damit ergibt sich als Zwischenergebnis: Die erneute Vernehmung einer Beweisperson unter qualifizierter Belehrung ist eine Strategie des Umgangs mit Beweiserhebungsfehlern und ihren dysfunktionalen Folgen für die Generierung verwertbaren Beweisstoffes. Welcher Weg einer Korrektur einzuschlagen ist, richtet sich nach den verfügbaren Optionen,87 der Zweckmäßigkeit des Vorgehens88 und nicht zuletzt nach den Erfordernissen der Amtsaufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO). Es besteht grundsätzlich keine, gewissermaßen „abstrakte“ Verpflichtung zur „Reparatur“ von Verletzungen der Selbstbelastungsfreiheit oder anderer Verfahrensrechte, soweit die Störung ohne jeden Einfluss auf die Wahrheitserforschung im Verfahren bleibt.
IV. Selbstverständliche Voraussetzung für eine qualifizierte Belehrung ist die Unverwertbarkeit der Ursprungsäußerung. Diese Voraussetzung ist bisher weder in der Rechtsprechung noch in der Literatur problematisiert worden. Ihr Vorhandensein wird in der Regel einfach unterstellt. Das ist jedoch bedenklich. Für eine Überprüfung dieser Annahme sprechen schon die bereits erwähnten Inkonsistenzen, die sich aus der Widerspruchslösung des BGH89 für die qualifizierte Belehrung ergeben. Danach bedarf es zur gerichtlichen Berücksichtigung eines Verwertungsverbotes in den einschlägigen Fällen der Erhebung eines beweismittelbezogenen Widerspruchs seitens des Angeklagten oder seines Verteidigers in der Hauptverhandlung, und zwar bis zu dem in § 257 StPO bezeichneten Zeitpunkt.90 Bedeutung und Tragweite dieses forensisch allgemein akzeptierten und praktizierten Widerspruchserfordernisses91 sind gegenwärtig von einer Klärung immer noch weit entfernt. Diese Unklarheit beruht darauf, dass kein Einvernehmen über die dogmatische Konstruktion besteht, welche der Widerspruchslösung zugrunde liegt.92 Ein Teil der Lehre und die Rechtspre87 Eine erneute Vernehmung der Beweisperson scheidet z.B. aus, wenn diese eine weitere Aussage ablehnt. 88 Wenn von der Beweisperson weitere Angaben benötigt werden, muss eine erneute Vernehmung versucht werden. Die Einholung einer Zustimmung zur Verwertung der bisherigen Aussage könnte hier nicht genügen. 89 Vgl. dazu die Nachweise in Fn. 21. 90 BGHSt 38, 225 f. 91 Die Widerspruchslösung soll hier in ihrer Berechtigung aus rein pragmatischen Gründen nicht kritisiert und weiter in Frage gestellt werden. Vielmehr wird ihre Existenz und Beachtlichkeit vorausgesetzt. Zur eigenen Position vgl. SK-StPO/Rogall (Fn. 21), § 136 Rn. 77, 78. BVerfG NJW 2007, 499 ff. = StV 2008, 1 ff. hält die Widerspruchslösung offenbar für verfassungskonform. 92 Vgl. dazu Tolksdorf, FG Graßhof 1998, S. 262.
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chung betrachten den Widerspruch als tatbestandliche Voraussetzung des Verwertungsverbotes.93 Solange der Widerspruch nicht erhoben ist, ist und bleibt das fehlerhaft erlangte Beweismaterial verwertbar. Beweiserhebungen, die sich aufgrund dessen noch als erforderlich erweisen, sind durchzuführen.94 Die Erforderlichkeit eines Widerspruchs beschränkt somit den Anwendungsbereich des Verwertungsverbots, oder, anders gewendet, das Beweisverwertungsverbot ist entweder „schwebend unwirksam“ oder bis zur Einlegung des Widerspruchs „aufschiebend bedingt“.95 Betrachtet man das Widerspruchserfordernis – in welcher Form auch immer96 – als Tatbestandsrequisit eines Verwertungsverbots, so bedarf es zwingend der „Aktivierung“ durch den Widerspruchsberechtigten. Solange die Aktivierung durch Widerspruch ausbleibt, existiert oder „besteht“97 ein Beweisverwertungsverbot nicht. Nun hat der Betroffene sicher ein Interesse daran, nachteiligen Beweisstoff nach Möglichkeit aus dem Verfahren herauszuhalten. Dieses Interesse besteht nicht erst im Hauptverfahren.98 Denn mit einem Widerspruch könnte z.B. erreicht werden, dass die im Vorverfahren ohne Belehrung zustande gekommene Aussage des Beschuldigten nicht dazu verwendet werden darf, den Erlass eines Haftbefehls zu beantragen oder zu begründen, Anklage zu erheben oder das Verfahren zu eröffnen.99 Ein Grund dafür, den Widerspruch nicht bereits im Ermittlungsverfahren zuzulassen und ihm bis zu seiner Rücknahme volle Wirksamkeit beizumessen, ist bei dieser Betrachtungsweise nicht erkennbar; der Widerspruch müsste jedenfalls auch in die Hauptverhandlung hineinwirken und solange wirksam bleiben, bis er ggf. zurückgenommen wird.100 93 S. dazu etwa – teils m.w.N. auch zur Rechtsprechung – Ufer (Fn. 21), S. 96; Maiberg (Fn. 21), S. 51; Schlothauer, FS Lüderssen 2002, S. 767 f.; ders., StV 2006, 397; Maul/Eschelbach StraFo 1996, 66 (67); Meyer-Goßner/Appl StraFo 1998, 258 (260 f.); Widmaier NStZ 1992, 519 (521). 94 Tolksdorf, FG Graßhof 1998, S. 267. 95 Schlothauer, FS Lüderssen 2002, S. 767; Ignor, FS Rieß 2002, S. 185 (193 Fn. 37); Widmaier NStZ 1992, 521; HbStrVf/Jahn (Fn. 6), Rn. II/116; krit. dazu Dudel (Fn. 21), S. 87 ff., 119. 96 Zu den konstruktiven Möglichkeiten Maiberg (Fn. 21), S. 234. 97 BGHSt 38, 225. 98 So auch BGH NJW 2009, 2613: „Es ist nicht erst Sache der Hauptverhandlung und des Revisionsverfahrens, der immer größer werdenden praktischen Bedeutung der Beweisverwertungsverbote gerecht zu werden. Diese Aufgabe beginnt vielmehr bereits bei Einleitung des staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens“ (unter Berufung auf Schlothauer, FS Lüderssen 2002, S. 772); in diesem Sinne auch Maiberg (Fn. 21), S. 236 f. 99 Zutreffend Burhoff StraFo 2003, 267 (269 f.); Meyer-Goßner/Appl StraFo 1998, 263; s. auch Tolksdorf, FG Graßhof 1998, S. 268, der das Problem zwar kenntlich macht, aber von einer Antwort absieht. 100 So Maul/Eschelbach StraFo 1996, 69; Basdorf StV 1997, 488 (491); Meyer-Goßner/ Appl StraFo 1998, 263; Mosbacher, FS Widmaier 2008, S. 339 (343); Schlothauer, FS Lüderssen 2002, S. 768 ff., 769 f.; ders., StV 2006, 397.
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Die Konsequenzen dieser auf den ersten Blick sehr einleuchtenden Auffassung für die qualifizierte Belehrung wären erheblich. Die mit ihr zu assoziierende Unverwertbarkeitsbelehrung wäre bereits für das Ermittlungsverfahren und nicht erst im Hinblick auf die Hauptverhandlung objektiv falsch, solange kein Widerspruch erhoben ist. Sie könnte in der Form, in der sie propagiert wird, nicht aufrecht erhalten werden. An ihre Stelle müsste eine Widerspruchsbelehrung bereits im Ermittlungsverfahren treten.101 Die Frage ist aber, ob diese Auffassung richtig ist. Der BGH102 hat sich bisher dahingehend geäußert, dass ein im Ermittlungsverfahren gegenüber der Staatsanwaltschaft (!) erhobener Widerspruch den Anforderungen an einen zulässigen Widerspruch nicht genügt und erst dann Wirkung entfalten kann, wenn er in der Hauptverhandlung erster Instanz wiederholt wird.103 Zutreffen kann das nur, wenn man den Widerspruch nicht mit den Entstehungsvoraussetzungen eines Verwertungsverbotes in Zusammenhang bringt. Geschieht dies – wie in der Rechtsprechung des BGH – doch, so ist die vom ihm postulierte Beschränkung der Widerspruchsmöglichkeit auf die Hauptverhandlung widersprüchlich und daher falsch.104 Tatsächlich spricht im Ergebnis mehr dafür, dass ein im Vorverfahren erhobener Widerspruch nicht ins Hauptverfahren hineinwirken und den Widerspruch in der Hauptverhandlung gerade nicht ersetzen kann.105 Das liegt allerdings nicht daran, dass der Widerspruch eine protokollpflichtige Prozesshandlung darstellt,106 die in der Hauptverhandlung erfolgen muss.107 Trotz skrupulöser Führung des Vorverfahrens ist keinesfalls auszuschließen, dass unverwertbare Beweisergebnisse in die Hauptverhandlung transferiert und dort vom Gericht unbemerkt zum Gegenstand der Beweisaufnahme und der Beweisverwertung gemacht werden.108 Eine solche Gefahr besteht um so mehr, wenn sich die Meinung durchsetzt, dass der Tatrichter die Verwertbarkeit von Beweisergebnissen nicht von Amts wegen zu überprüfen hat, sondern darauf vertrauen darf, dass das Ermittlungsverfahren nach den gesetz-
101
Richtig gesehen von Maiberg (Fn. 21), S. 235. BGH NStZ 1997, 502; ebenso Meyer-Goßner (Fn. 66), § 136 Rn. 25; HK-StPO/ Lemke, 4. Aufl. 2009, § 136 Rn. 35. 103 BGHSt 50, 272 ff.; OLG Hamm NStZ-RR 2010, 148 (149) u. StRR 2010, 66 f.; Burhoff StraFo 2003, 270; Leipold StraFo 2001, 300 (302). 104 Zutreffend Maiberg (Fn. 21), S. 238. 105 Ebenso Burhoff StraFo 2003, 270; Leipold StraFo 2001, 302. 106 So BayObLG NJW 1997, 404; OLG Celle StV 1997, 68 f.; Maiberg (Fn. 21), S. 213 ff.; Dahs StraFo 1998, 253 (257); Meyer-Goßner/Appl StraFo 1998, 263; Leipold StraFo 2001, 302; a.A. Schlothauer, FS Lüderssen 2002, S. 771; offen gelassen von BGH NJW 1997, 2893. 107 Zutreffend Schlothauer, FS Lüderssen 2002, S. 771 Fn. 46. 108 OLG Hamm NStZ-RR 2010, 149. 102
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lichen Vorgaben geführt wurde.109 Ferner steht im Vorverfahren noch gar nicht fest, welcher Tatsachenstoff demnächst Gegenstand der Hauptverhandlung werden wird.110 Das erkennende Gericht muss wissen, ob es auf die Verwertbarkeit des in der Verhandlung erörterten Beweismaterials vertrauen darf oder ob der Angeklagte einer Verwertung etwa zustimmen oder der Verwertung widersprechen will. Das liegt schließlich auch in seinem Interesse, weil es durchaus denkbar ist, dass der Beschuldigte aus persönlichen oder taktischen Gründen111 anderen Sinnes geworden ist. Es ist im Übrigen auch nur zu verständlich, dass die Urteilsfindung auf einer Beweisgrundlage erfolgen soll, die in der Revision Bestand hat. Gerade die revisionsrechtliche Einbettung des Widerspruchserfordernisses112 verlangt nach einer Erklärung des Beschuldigten in der Hauptverhandlung. Das alles stimmt auch mit den Grundgedanken der Widerspruchslösung überein, sofern man sie – was vorzugswürdig erscheint113 –, im Sinne einer Rügeobliegenheit interpretiert, der allein Bedeutung für die Revision zukommt, insofern sie bei Ausbleiben des Widerspruchs einer Verfahrensrüge den Boden entzieht.114 Der Widerspruch ist daher als eine auf die Hauptverhandlung beschränkte Beweiseinrede zu interpretieren. Ein Widerspruch im Vorverfahren kann aber andererseits – ungeachtet der soeben vorgenommenen Zuordnung zur Hauptverhandlung – nicht als unstatthaft betrachtet werden.115 Er bleibt ja eine Beweiseinrede. Der Widerspruch wird im Allgemeinen sogar sinnvoll sein. Der Widerspruch ist aber keine zwingende Voraussetzung dafür, Verwertungsverbotsfolgen auszulö-
109 So BGHSt 51, 1 (3) – 1. Strafsenat; anders BGHSt 47, 362 (366 f.) – 3. Strafsenat; krit. Tepperwien, FS Widmaier 2008, S. 583 (592). Wie der 1. Strafsenat des BGH HansOLG Hamburg NJW 2008, 2601. 110 OLG Hamm NStZ 2010, 149. 111 Insoweit ist daran zu erinnern, dass von der Rechtsprechung erwogen wird, einen „spezifizierten Widerspruch“ zu verlangen, der dessen „Angriffsrichtung“ erkennen lässt, s. dazu BGHSt 52, 38 (41 ff.); 52, 48 (53); 52, 110 (113 f.); OLG Hamm NStZ-RR 2009, 386 u. NStZ-RR 2010, 149. Im Verlauf des Verfahrens kann sich die Notwendigkeit einer Änderung der Widerspruchsspezifikation ergeben. 112 Vgl. BGHSt 38, 226. Fehlender Widerspruch führt zur Unzulässigkeit der Verfahrensrüge. 113 Zu den dogmatischen Hintergründen Bohnert NStZ 1983, 344 (347, 349 f.); Kindhäuser NStZ 1987, 529 (533); dagegen aber Dudel (Fn. 21), S. 211 ff. Das Fehlen einer Vorschrift nach dem Vorbild des § 295 ZPO lässt sich der Widerspruchslösung m.E. nicht entgegenhalten. Maiberg (Fn. 21), S. 236 ff. (238) gibt immerhin zu, dass die mit einer Rügepräklusion operierenden Meinungen ein schlüssiges Erklärungsmodell präsentieren können. 114 S. dazu jetzt auch BGHSt 50, 275: „prozessuales Gestaltungsrecht“; ferner HansOLG Hamburg NJW 2008, 2597 (2601): „Zwischenrechtsbehelf eigener Art“, der das Gericht zur Überprüfung der Voraussetzungen eines Beweisverwertungsverbotes in der Tatsacheninstanz nötigt; vgl. auch Hartwig JR 1998, 359. 115 So aber Ufer (Fn. 21), S. 153 f.; dagegen zutreffend Maiberg (Fn. 21), S. 234 ff., 236 f.
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sen. Eine Unterscheidung zwischen aktivierungs- und nicht aktivierungspflichtigen Verwertungsverboten nach Maßgabe ihrer Disponibilität ist der Beweisverbotslehre fremd; sie ist auch nicht in der Rechtsprechung des BGH zur Widerspruchslösung angelegt. Rechtsverstöße, die im Ermittlungsverfahren unterlaufen, dürfen gerade nicht bis zu einem Widerspruch gegen die Verwertung ignoriert werden. Richtig ist vielmehr, dass die Verwertungsverbotsfolge sofort nach Vornahme der fehlerhaften Prozesshandlung oder nach Auftreten des Mangels „greift“ und im Vorverfahren auch ohne Widerspruch sofort von Amts wegen zu berücksichtigen ist.116 Anders kann die eingangs erwähnte Entscheidung des BGH zur Leitungs- und Kontrollbefugnis der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren117 kaum verstanden werden. Das Verwertungsverbot ist also nur dann durch Widerspruch aktivierungsbedürftig, wenn ein Transport von kontaminierten Beweisergebnissen in die Hauptverhandlung stattgefunden hat. Schlothauer118 hält das für eine Lösung, welche die „völlig widersinnige Konsequenz“ habe, dass Anklageerhebung und Eröffnungsbeschluss auch ohne Widerspruch an einem von Amts wegen zu berücksichtigenden Verwertungsverbot scheitern könnten, während danach ein Widerspruch in der Hauptverhandlung erforderlich sei, zu der es nur habe kommen können, weil das Verwertungsverbot zuvor übersehen worden sei. Dem ist jedoch aus den bereits erwähnten Gründen nicht zu folgen. Die Abhängigkeit bestimmter Beweisverwertungsverbote von einem Widerspruch hat Gründe, die sich auf die Hauptverhandlung beziehen und nur von daher rechtfertigen lassen. Im Ermittlungsverfahren bestehen sie nicht. Verlangte man auch dort einen Widerspruch, so würde das die Aufstellung entsprechender Belehrungspflichten voraussetzen. Ob eine derart weitgehende Lösung auf richterrechtlichem Wege möglich wäre, erscheint zweifelhaft. Damit steht fest, dass ein Hinweis auf die Rechtstatsache der Unverwertbarkeit eines Beweisergebnisses im Ermittlungsverfahren auch in den Fällen, in denen die Widerspruchslösung Anwendung findet, zutreffend ist. Die Richtigkeit dieses Hinweises kann in diesem Verfahrensabschnitt nicht an der nur im Hauptverfahren anzuwendenden Widerspruchslösung scheitern. Ob die qualifizierte Belehrung gleichwohl mit einem Hinweis auf die Notwendigkeit eines Widerspruchs in der Hauptverhandlung zu verbinden ist, bleibt zu prüfen.
116 Fezer JR 1992, 385 (386) u. StV 1997, 57 (58); Eisenberg, Beweisrecht (Fn. 5), Rn. 429; Dudel (Fn. 21), S. 119; Lesch JA 1995, 157 (162); Dahs StraFo 1998, 258; Leipold StraFo 2001, 302; Tepperwien, FS Widmaier 2008, S. 591, 592; OLG Frankfurt JR 1987, 81. 117 BGH NJW 2009, 2612 f. 118 FS Lüderssen 2002, S. 768 Fn. 28.
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V. An sich liegt im Prinzip der Wiederholung nur der Gedanke der Fehlerfreiheit beschlossen. Eigentlich müsste es somit genügen, wenn das zuständige Strafverfolgungsorgan die Prozesshandlung ordnungsgemäß wiederholt, also das tut, was ihm das Gesetz vorschreibt. Bei einer Belehrung des Beschuldigten müsste also grundsätzlich diejenige Belehrung genügen, die in § 136 Abs. 1 S. 2 StPO verlangt wird. Eine qualifizierte Belehrung ist aber weder dort noch an anderer Stelle vorgeschrieben, was die Frage nach dem Gesetzesvorbehalt aufwirft. Man wird insoweit allerdings bedenken müssen, dass die Belehrungsformel des § 136 Abs. 1 S. 2 StPO nicht wortgetreu verwendet werden muss. Entscheidend ist allein, dass dem Beschuldigten unmissverständlich erläutert wird, dass er jede Äußerung zum Tatvorwurf ablehnen kann.119 Ihm muss seine Aussagefreiheit vor Augen geführt werden. Ist danach also eine Abweichung von der „Belehrungsformel“ des § 136 Abs. 1 S. 2 StPO zulässig und kommt es ausschließlich darauf an, dem Beschuldigten seine Rechtsstellung klarzumachen, kann das Gesetz (genauer: der Gesetzesvorbehalt) einer qualifizierten (erweiterten) Belehrung nicht entgegenstehen. Indessen bleibt festzustellen, dass sich die „normale“ Belehrung über das Schweigerecht des Beschuldigten oder über ein dem Zeugen zustehendes Zeugnisverweigerungsrecht von einer qualifizierten – eben erweiterten – Belehrung deutlich unterscheidet. Bei den zuerst genannten Belehrungen erfolgt kein Hinweis auf die Verwertbarkeit anderweitiger Beweiserhebungen. So muss dem Beschuldigten nicht gesagt werden, dass die Angaben von Belastungszeugen (etwa infolge von Verfahrensfehlern welcher Art auch immer) unverwertbar sind, so dass er, wenn er schweigt, u.U. nicht überführt werden kann. Und ein Zeuge, der mit dem Beschuldigten verwandt (§ 52 StPO) ist, muss bei seiner richterlichen Vernehmung im Ermittlungsverfahren nicht darüber aufgeklärt werden, dass seine Angaben durch Vernehmung des Richters in die Hauptverhandlung eingeführt werden können, wenn er dort später das Zeugnis verweigert.120 Der Hinweis auf das Bestehen eines (Wahl-)Rechts und die Belehrung über Rechtstatsachen, die im Kontext der Rechtsausübung einige Bedeutung erlangen können, ist eben nicht dasselbe. Aus der Tatsache, dass die Aufklärung über ein Recht geboten ist, folgt nicht, dass auch auf (Begleit-)Umstände hingewiesen werden muss, die für eine zweckmäßige Ausübung des Rechts von Belang sind. 119 Vgl. dazu Rogall, Der Beschuldigte (Fn. 57), S. 190; SK-StPO/Rogall (Fn. 21), § 136 Rn. 43. 120 Vgl. BGHSt 32, 25 (31 f.); LG Hamburg, Beschl. vom 18.09.2009 – 619 Qs 71/09 Rn. 5 – juris; Meyer-Goßner (Fn. 66), § 252 Rn. 14; KK/Diemer, StPO, 6. Aufl. 2008, § 252 Rn. 28; BeckOK-StPO/Ganter, Stand: 01.03.2010, § 252 Rn. 27.
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Soweit nun dessen ungeachtet eine qualifizierte Belehrung für zulässig und geboten erachtet wird, entnimmt man das im Allgemeinen dem Gedanken der sog. Fortwirkung. Dieser vom Formenkomplex der Fernwirkung121 deutlich zu unterscheidende Gesichtspunkt122 ist uns von § 136a StPO her bekannt. Hier erstreckt die Rechtsprechung123 das Verwertungsverbot des § 136a Abs. 3 S. 2 StPO ausnahmsweise124 auf weitere Aussagen, die der Beschuldigte in dem Verfahren später gemacht hat, sofern diese Aussagen in den Folgevernehmungen noch von der verbotenen Vernehmungsmethode beeinflusst waren. Denn es kann nicht darauf ankommen, ob in der Vernehmung selbst unzulässiger Druck ausgeübt wurde oder ob ein vorangegangener Druck weiter wirkt. In beiden Fällen ist die Entschließungsfreiheit des Beschuldigten, die das Strafverfahrensrecht sicherstellen will, in gleicher Weise beeinträchtigt.125 Ob dieses grundsätzlich einleuchtende Räsonnement auch für den Bereich der qualifizierten Belehrung außerhalb des § 136a StPO Geltung beanspruchen kann, bedarf der Überprüfung. Zunächst ist festzustellen, dass auch ein Belehrungsmangel fortwirken kann. Er tut dies sicher dann, wenn bei Folgevernehmungen gar keine Belehrung erteilt wird oder wenn die Ursprungsbelehrung bei der Beweisperson den Eindruck erweckt, dass der Verzicht auf ein Schweigerecht für nachfolgende Vernehmungen bindend sei, oder wenn der Vernehmende die Aussage sogar als „gerichtsverwertbar“ bezeichnet.126 Dem Beschuldigten wird hier die Kenntnis seines Wahlrechts vorenthalten, das Recht selbst verkürzt.
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Die Fernwirkung eines Verwertungsverbotes betrifft die Frage, ob und inwieweit sekundäre Beweisergebnisse (solche, die aus einem unverwertbaren primären Beweisergebnis folgen), ebenfalls einem Beweisverwertungsverbot unterliegen. Die höchstrichterliche Rechtsprechung lehnt eine Fernwirkung grundsätzlich ab, vgl. dazu nur BGHSt 51, 1 (8); zur Fernwirkung allgemein Eisenberg, Beweisrecht (Fn. 5), Rn. 403 ff.; Roxin/Schünemann (Fn. 6), Rn. 24/59 ff.; Beulke (Fn. 6), Rn. 482 ff. 122 Bei der qualifizierten Belehrung geht es nicht um die Verwertbarkeit der ursprünglichen Aussage oder daraus abgeleiteter weiterer Beweisergebnisse, sondern um die fehlerfreie Wiederholung der ursprünglichen Beweiserhebung. Die Beweisperson bleibt dieselbe und das angestrebte Beweisergebnis ist nach wie vor das primäre, zutreffend dazu Neuhaus NStZ 1997, 313 f.; zum Ganzen auch Roxin/Schünemann (Fn. 6), Rn. 24/61; Löffelmann, Die normativen Grenzen der Wahrheitserforschung im Strafverfahren (2008), S. 219 ff. 123 Vgl. dazu etwa BGH bei Dallinger MDR 1951, 658 u. MDR 1972, 199; BGH bei Pfeiffer NStZ 1981, 94; BGHSt 17, 364 (367 ff.); 22, 133 ff.; 35, 332; 37, 53 ff.; BGH NStZ 1995, 462; BGH NStZ 1996, 291. 124 Die Judikatur stellt an die Annahme einer Fortwirkung strenge Anforderungen und verlangt dafür das Hinzutreten „besonderer Umstände“, vgl. BGHSt 22, 134; BGH NStZ 1996, 291; krit. dazu etwa Saliger ZStW 116 (2004), 50 ff. sowie die in Fn. 134 genannten Autoren. 125 Vgl. BGHSt 17, 368. 126 Vgl. den Fall BGHSt 52, 11 (23 f.).
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Anders als zuvor erwähnt wird dem zu Vernehmenden in den Fällen der qualifizierten Belehrung jedenfalls die erforderliche (einfache) Belehrung ordnungsgemäß erteilt. Es kann also gar keine Rede davon sein, dass der Beweisperson die Kenntnis ihres (Schweige-)Rechts vorenthalten würde. Was ihr allenfalls fehlen mag, ist die Kenntnis der rechtlichen Begleitumstände, die Einfluss auf ihr Aussageverhalten gewinnen können. So wird eine geständige Einlassung in der Ursprungsvernehmung u.U. eine weitere Geständnisfreudigkeit erzeugen oder von einem Widerruf des Geständnisses abhalten, wenn der Eindruck entsteht, dass alle Fakten in verwertbarer Form auf dem Tisch liegen. Es ist aber auch denkbar, dass der Betroffene ganz anders reagiert und jede Kooperation ablehnt oder seine zuvor getätigte Einlassung pauschal bestreitet. Das wird insbesondere dann gelten, wenn er zwischenzeitlich durch eigenes Nachdenken oder von dritter Seite Kenntnis von der Rechtslage erhalten hat und sich wegen der Unverwertbarkeit bisheriger Äußerungen sicher fühlt. Aber mit der Rechtslage ist das so eine Sache. Wenn man dem Betroffenen einen verständigen Umgang mit seinen Rechten ermöglichen will, gehören dazu ganze Wahrheiten. Zur ganzen Wahrheit gehört auch das in der Hauptverhandlung geltende Widerspruchserfordernis. Wahrscheinlich müsste man in eine Belehrung auch die Tatsache einschließen, dass weder eine Fernwirkung von Verwertungsverboten noch ein Verbot existiert, kontaminierte Beweisergebnisse als Ermittlungsansatz zu nutzen (sog. Frühwirkung von Verwertungsverboten).127 Von den schwierigen Problemen, die sich aus Überkreuzverwertungen128 und der sog. Mühlenteichtheorie129 ergeben, sei gar nicht erst die Rede. Die rechtlich relevanten Begleitumstände einer Aussage sind also vielfältig. Dass die Lehre von der qualifizierten Belehrung verkürzend nur einen einzigen dieser motivationsfähigen Umstände, nämlich die (zudem von unterschiedlichen Faktoren und Umständen abhängige) Unverwertbarkeit der Ursprungsäußerung herausgreift, ist legitimierungsbedürftig. Bestand haben kann die Lehre von der qualifizierten Belehrung nur, wenn überzeugend darzulegen ist, dass der ursprüngliche Belehrungsfehler die Rechtswahrnehmung „verkümmert“130, so dass der Betroffene nur mit Hilfe der qualifizierten Belehrung „eine genügende Vorstellung von der Bedeutung des jeweiligen Weigerungsrechtes“131 gewinnen kann – und das alles, obwohl die jetzt erfolgte korrekte (einfache) Belehrung ihm dieses Wissen ersichtlich vermittelt und ihn vor der irrtümlichen Annahme einer Aussagepflicht bewahrt. Von selbst versteht sich das keineswegs. Die erweiterte Belehrung 127 128 129 130 131
Näher dazu Hengstenberg, Die Frühwirkung der Verwertungsverbote, 2007. Vgl. Weßlau StV 2010, 41 ff. Vgl. dazu Roxin/Schäfer/Widmaier StV 2006, 655 ff. So Roxin/Schünemann (Fn. 6), Rn. 24/61. Vgl. BGHSt 32, 32.
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macht anscheinend ihrem Namen alle Ehre: Sie zielt nicht auf eine Wiederherstellung der Aussagefreiheit, sondern auf die Gewinnung von Entschließungsfreiheit. Um die mag es vielleicht bei § 136a StPO, nicht aber bei § 136 StPO gehen. Trotzdem ist nicht auszuschließen, dass aus einer Beeinträchtigung der Entschließungsfreiheit eine solche der Aussagefreiheit wird. Die Frage ist nur, wann das der Fall ist. Nach der Lebenserfahrung erscheint es im Prinzip denkbar,132 dass der anfängliche Belehrungsfehler im Betroffenen die Vorstellung von der Sinnlosigkeit des ihm jetzt bekannt gegebenen Wahlrechts erzeugt und damit zu einer „Verkümmerung“ dieses Rechts selbst geführt hat, weil es nicht mehr als Wahlrecht wahrgenommen wird. Aber ob das wirklich der Fall ist, bedarf des Nachweises im Einzelfall.133 Anders als bei der Belehrung über das Wahlrecht selbst, dessen Unkenntnis aus normativen Gründen vermutet wird, geht es nicht an, dieses Vorstellungsbild einfach zu unterstellen.134 Die erweiterte Belehrung soll einem Bedarf abhelfen, der auch tatsächlich bestehen muss. Ihn festzustellen, mag schwierig sein, denn eine Aussage ist eine menschliche Darstellungsleistung, der ein letztlich kaum zuverlässig rekonstuierbarer psychischer Entscheidungsprozess vorausgeht. Es entspricht aber sicher der praktischen Vernunft, sich entweder mit Deutungserklärungen des betroffenen psychischen Systems zufrieden zu geben oder Beweisanzeichen zu verwenden, denen unter Benutzung allgemein üblicher Deutungsschemata Relevanz zuerkannt wird. Die Frage, ob die Beweisperson bei einer weiteren Vernehmung davon ausgeht, von ihren Angaben nicht mehr abrücken zu können, dürfte von mehreren Faktoren abhängig sein. Zunächst ist sicher von Belang, ob, und wenn ja, welche Belehrung der Beweisperson erteilt wurde. So wird eine (ggf. unrichtige) Zeugenbelehrung dem Betroffenen die einem Zeugen obliegende Pflicht zur Angabe der Wahrheit vermittelt haben, was bei zeitnah sich anschließenden Beschuldigtenvernehmungen nachwirken kann.135 Generell wird man in Vernehmungen, die sich als bloße Wiederholung oder Fortsetzung der Ursprungsvernehmung darstellen, ein Indiz für die Fortwirkung des Verfahrensverstoßes erblicken können.136 In die Beurteilung wird auch 132 Die für die Lebenserfahrung in BGHSt 17, 364 (368) postulierte Indizwirkung kann nicht verallgemeinert werden, weil sich die Bemerkung ersichtlich auf einen Sonderfall bezieht. Richtig dagegen BGH NStZ 1996, 291; BGH bei Pfeiffer NStZ 1981, 94. 133 Rogall JZ 2008, 826 m.w.N. 134 Es ist entgegen verbreiteter Ansicht (Eb. Schmidt, Lehrkommentar zur StPO, Bd. II 1957, § 136a Rn. 23; Neuhaus NStZ 1997, 315; Weigend StV 2003, 436, 438 f.; s. auch LG Frankfurt/M. StV 2003, 326) also nicht möglich, die Fortwirkung eines Belehrungsverstoßes mehr oder weniger zu vermuten (eher ablehnend auch Schlüchter, Das Strafverfahren, 2. Aufl. 1983, Rn. 99). Was für die Belehrung über ein Recht gilt, gilt nicht ohne Weiteres für Hinweise auf die rechtlichen Begleitumstände der Rechtsausübung. 135 BGHSt 53, 116 (Rn. 15). 136 BGHSt 53, 116 (Rn. 15).
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das Aussageverhalten des Beschuldigten einzubeziehen sein: Die erstmalige Bekundung von Tatsachen, die den Strafverfolgungsorganen bisher noch nicht bekannt sind und ohne erneute Einlassung auch nicht bekannt werden können, wird entscheidend gegen eine Fortwirkung des ursprünglichen Belehrungsfehlers sprechen. Dasselbe gilt, wenn der Beschuldigte erklärt, auf jeden Fall – d.h. unabhängig vom früheren Verfahrensgeschehen – ein Geständnis ablegen zu wollen.137 Es fragt sich, ob außer den drei geschilderten Indiztatsachen (Art und Bedeutung des ursprünglichen Verfahrensfehlers; zeitlicher Abstand der Beweiserhebungen; Aussageverhalten der Beweisperson) noch weitere Indizien in Erwägung gezogen werden sollten. Das ist m.E. zu bejahen. Berücksichtigungsfähig und -bedürftig ist z.B. der Umstand, ob der Beschuldigte durch einen Verteidiger vertreten ist. Denn in diesem Falle ist anzunehmen, dass der Beschuldigte über die Rechtslage voll aufgeklärt worden ist.138 Der BGH hat im Zusammenhang mit der von ihm für richtig gehaltenen Widerspruchslösung auf die besondere Verantwortung des Verteidigers hingewiesen und seine Fähigkeit betont, „Belehrungsmängel aufzudecken und zu erkennen, ob die Berufung auf das Verwertungsverbot einer sinnvollen Verteidigung dient.“139 Das muss aber nicht nur bei der Widerspruchslösung, sondern auch bei der Frage nach der Notwendigkeit einer qualifizierten Belehrung gelten. Noch weitergehend wird man die Fortwirkung eines Belehrungsmangels in die Hauptverhandlung ablehnen müssen. Was hier verwertbar ist oder nicht, hängt von Umständen ab, die zunächst noch nicht feststehen. Bei erstmaligen Belehrungsfehlern in der Hauptverhandlung, welche die Unverwertbarkeit der Bekundungen nur im Fall eines Widerspruchs zur Folge haben, muss erst der Widerspruch abgefragt werden. Wird kein Widerspruch eingelegt, ist und bleibt die Ursprungsaussage verwertbar. Wenn aber Widerspruch eingelegt wird, bedarf es mangels Fortwirkung – die Unverwertbarkeit ist dem Widersprechenden ja bekannt – keiner qualifizierten Belehrung. Für eine qualifizierte Belehrung des Beschuldigten in der Hauptverhandlung dürfte daher kein Raum bleiben. Nach alledem steht fest: Eine Pflicht zur qualifizierten Belehrung kann, wenn überhaupt, nur entstehen, wenn der ursprüngliche Belehrungsmangel rechtsfolgenseitig ein Verwertungsverbot zur Folge hat, das dem Betroffenen nicht bekannt ist, so dass aufgrund dessen die Äußerungsfreiheit der Beweisperson fortwirkend beeinträchtigt ist. Ob die Beweisperson tatsächlich unter dem (unrichtigen) Eindruck der Verwertbarkeit der getätigten Bekundungen 137 So z.B., wenn der Beschuldigte sich die Sache „von der Seele reden“ will, s. BGHSt 35, 32 (35). 138 Vgl. BGHSt 38, 225; Kiehl NJW 1993, 501 (502); Maatz NStZ 1992, 513 (518); Meyer-Goßner/Appl StraFo 1998, 262. 139 BGHSt 38, 226; s. auch BGHSt 47, 172 (174).
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steht, bedarf der (freibeweislichen) Feststellung in foro, die sich bestimmter Beweisanzeichen bedient. Die „Fortwirkung“ ist Voraussetzung für das Entstehen einer Pflicht zu erweiterter oder qualifizierter Belehrung. Sie und die für sie sprechenden Beweisanzeichen sind, wie das OLG Hamm140 zutreffend erkannt hat, auf der „Tatbestandsseite“ der qualifizierten Belehrung angesiedelt und nicht etwa, wie offenbar der BGH meint,141 verwertungsseitig zu prüfen.
VI. Erweist sich im Falle der Fortwirkung eines Verfahrensfehlers eine „qualifizierte“ oder „erweiterte“ Belehrung als erforderlich, so stellt sich die Frage, wie diese vorzunehmen ist. Da eine gesetzliche Regelung nicht existiert, steht der zu benutzende Wortlaut der Belehrung (die Belehrungsformel) nicht fest. Anerkannt ist, dass insoweit auf den Verständnishorizont des Belehrungsempfängers abzustellen ist.142 Wenn das aber so ist, erscheint es nicht möglich, den Betroffenen (wörtlich) auf die „Unverwertbarkeit“ bisheriger Aussagen hinzuweisen. Denn der komplexe und schwierige Rechtsbegriff der (Un-)Verwertbarkeit erschließt sich einem Laien sicher nicht von selbst und erfordert daher eine Erläuterung. An einer derartigen Erläuterung ist wiederum problematisch, dass differenzierte und detaillierte Belehrungen in der Praxis regelmäßig ihr Ziel verfehlen.143 Deshalb könnte man es jedenfalls nicht gut heißen, Hinweise zur Fern- oder Frühwirkung von Verwertungsverboten zu geben, die nur Verwirrung auslösen können. Anders könnte sich das in Fällen verhalten, bei denen die Widerspruchslösung anzuwenden ist. Tatsächlich könnte man – wie eingangs bereits erwähnt – eine auf einen Unverwertbarkeitshinweis beschränkte qualifizierte Belehrung mindestens insoweit für irreführend halten, als verborgen bleibt, dass die Unverwertbarkeit später von der Erhebung eines Widerspruchs in der Hauptverhandlung abhängig sein wird. Zur Lösung des Problems schlägt Deiters144 vor, die Aussageverweigerung des Beschuldigten nach qualifizierter Belehrung bis auf Weiteres (mangels anderer Disposition) für das gesamte Verfahren als beachtlichen Verwertungswiderspruch gelten zu lassen. Dem vom BGH aufgestellten Erfordernis eines Widerspruchs in der Hauptverhandlung sei in Fällen der qualifizierten Belehrung nicht zu folgen.145 Das geht aber schon deshalb fehl, weil das Ver140 141 142 143 144 145
OLG Hamm NStZ-RR 2009, 285. BGHSt 53, 116 (Rn. 15). Geppert, GS Meyer 1990, S. 100. Deiters ZJS 2009, 201. ZJS 2009, 201; ähnlich schon LG München I StV 1999, 143. Deiters ZJS 2009, 201.
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wertungsverbot erst durch den Widerspruch bzw. die Aussageverweigerung ausgelöst würde. Solange dies nicht geschehen ist, fehlt es an der Unverwertbarkeit und damit auch an einer Voraussetzung für die qualifizierte Belehrung. Kasiske146 befürwortet es stattdessen, die qualifizierte Belehrung – also den Hinweis auf die Unverwertbarkeit der bisher getätigten Aussagen – mit dem Hinweis zu verbinden, dass in einer möglichen späteren Hauptverhandlung ein Widerspruchserfordernis bestehe. Dabei scheint ihm allerdings nicht ganz wohl zu sein, denn er erklärt es sogleich für konsequenter, die Widerspruchslösung aufzugeben und durch eine Zustimmungslösung zu ersetzen.147 Aus den hier angestellten Überlegungen zum Widerspruchserfordernis folgt, dass der als qualifizierte Belehrung bezeichnete Unverwertbarkeitshinweis sachlich richtig ist, soweit er sich auf das Ermittlungsverfahren bezieht. In der Hauptverhandlung besteht dagegen ein Widerspruchserfordernis. Ein Hinweis darauf schon im Ermittlungsverfahren erscheint aber entbehrlich, weil der unverteidigte Angeklagte in der Hauptverhandlung auf das Widerspruchserfordernis hingewiesen wird und bei einem verteidigten Beschuldigten mit einer entsprechenden Unterrichtung durch den Verteidiger gerechnet werden kann. Da im Übrigen noch gar nicht feststeht, ob es jemals zu einer Hauptverhandlung kommen wird – das Verwertungsverbot kann ja gerade zur Einstellung des Verfahrens nach § 170 Abs. 2 S. 1 StPO oder zur Ablehnung der Eröffnung des Hauptverfahrens führen148 –, käme ein solcher Hinweis auch zu früh. Im Ergebnis lassen sich also aus der sog. Widerspruchslösung keine Bedenken gegen eine qualifizierte Belehrung herleiten. Ihre Verbindung mit einem Hinweis auf die Notwendigkeit eines späteren, in der Hauptverhandlung zu erhebenden Verwertungswiderspruchs ist nicht erforderlich. Eine andere Frage ist es, ob der Unverwertbarkeitshinweis selbst dann, wenn er in der Form erteilt wird, die Ranft149 vorgeschlagen hat, rein faktisch überhaupt geeignet ist, eine etwaige Fortwirkung von Belehrungsfehlern zu beseitigen. Dass man das bezweifeln und damit die Axt an das gesamte Konzept der qualifizierten Belehrung legen kann, hat Seebode150 eindringlich vor Augen geführt. Er weist am Beispiel der Folter darauf hin, dass eine qualifizierte Belehrung einem Irrtum über die Rechtslage nur bedingt151 abhelfen, 146
ZIS 2009, 323. Kasiske ZIS 2009, 323. 148 Ein Beispiel dafür bietet der Beschluss des OLG München vom 23.05.2000 – 1 Ws 310/00, StV 2000, 352 f. 149 Strafprozeßrecht (Fn. 6), Rn. 342. 150 FS Otto 2007, S. 999 ff. 151 Seebode weist darauf hin, dass eine Belehrung dahingehend, dass der erpressten Aussage im Verfahren „keinerlei Gewicht“ zukommt (Schünemann MDR 1969, 102), bei in praxi verneinter „Fernwirkung“ irreführend wäre. 147
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aber nicht zweifelsfrei die tatsächliche Freiheit der Willensentschließung in dem Maße wiederherstellen kann, das vor der unzulässig erwirkten Aussage bestanden hat.152 Daher tritt er dafür ein, für den Tatnachweis auf jedes der Folter folgende Geständnis zu verzichten.153 Tatsächlich muss man es als ungewiss betrachten, dass mit einer qualifizierten Belehrung die hehren Ziele erreicht werden können, die man gemeinhin mit ihnen verbindet. Die Belehrung muss im Allgemeinen verharren; sie kann nicht die Details der Beweisverbotslehre abbilden, weil das aller Voraussicht nach zur Verwirrung bei rechtsungewohnten Klienten führen würde. Aber auch dann, wenn man sich mit einem „schlanken“ Unverwertbarkeitshinweis begnügt, erscheint es fraglich, ob tatsächlich eine Wiederherstellung der Entschließungsfreiheit möglich ist. Über diese Bedenken muss man sich aber wohl hinwegsetzen, wenn man nicht zu einer weitgehenden Irreparabilität von Verfahrensfehlern kommen will. Das Gesetz muss der Beweisperson auch nicht jedes Bedenken abnehmen und allfällige Restzweifel zerstreuen. Man mag die Fortwirkungsfrage in Folterfällen normativ „überhöhen“ und eine Fortwirkung unwiderleglich vermuten. Ein allgemeingültiger Grundsatz darf daraus aber nicht gemacht werden. Es bleibt die Frage zu klären, ob die qualifizierte Belehrung – wie Grünwald 154 es vorgeschlagen hat – nur durch einen Richter erteilt werden kann oder soll. Vorab ist in dieser Beziehung zu bemerken, dass der BGH155, der ja die Staatsanwaltschaft insoweit mit Rücksicht auf ihre Leitungsverantwortung in Anspruch genommen hat, diese Forderung offenbar nicht teilt. Ihm ist zuzustimmen. Zwar ist das Anliegen, das Grünwald und andere mit ihrer Forderung verbinden, durchaus nachvollziehbar. Indessen steht dem das Gesetz entgegen. Belehrungen, auch soweit es sich wie hier um erweiterte Belehrungen handelt, sind von denjenigen Organen der Strafverfolgung zu erteilen, die dafür im jeweiligen Verfahrensabschnitt zuständig sind. Eine Ablehnung wegen Befangenheit ist bei Polizei und Staatsanwaltschaft nicht vorgesehen. Sie könnte im Übrigen auch nicht mit dem alleinigen Hinweis darauf Erfolg haben, dass ein Verfahrensfehler unterlaufen ist. Polizei und Staatsanwaltschaft bleibt es natürlich unbenommen, eine richterliche Vernehmung des Beschuldigten zu veranlassen und auf eine qualifizierte Belehrung hinzuwirken, soweit das im Einzelfall praktikabel ist.
152 153 154 155
FS Otto 2007, S. 1004. FS Otto 2007, S. 1004. JZ 1968, 754; ders., Beweisrecht (Fn. 44), S. 160. NJW 2009, 2612 ff.
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VII. Die bisherigen Ausführungen erlauben noch einige kurze Bemerkungen zu den Rechtsfolgen einer Verletzung der Pflicht zu qualifizierter Belehrung und zu den Anforderungen, die an eine Revisionsrüge zu stellen sind. Dass die „Abwägungslösung“ des BGH156 auf der Rechtsfolgenseite von qualifizierten Belehrungsverstößen in der Literatur einmütige Kritik ausgelöst hat, ist bereits vermerkt worden.157 Dieser Kritik ist im Grundsatz zuzustimmen.158 Man muss allerdings sehen, dass die Befürwortung eines ausnahmslos eingreifenden Verwertungsverbotes sehr weitgehend ist. Bei der Bewertung dieser Frage sind nämlich zwei Gesichtspunkte besonders zu berücksichtigen: Erstens betrifft die qualifizierte Belehrung als erweiterte Belehrung nur die motivationslastigen Begleitumstände einer im Übrigen freien Aussage, und zweitens ist die für die Belehrungspflicht vorgreifliche Fortwirkungslage forensisch nur schwer rekonstruierbar. Das wiederum führt zur Vorprogrammierung von Fehlern, die man den Strafverfolgungsorganen redlicherweise nicht immer anlasten kann. Alles das macht verständlich, warum der BGH der Pflicht zur qualifizierten Belehrung nicht dasselbe Gewicht wie der Belehrung nach § 136 Abs. 1 S. 2 StPO zumisst und warum er in „Abwägungsüberlegungen“ eingetreten ist, mögen diese auch noch so wenig überzeugend erscheinen. Indessen ist der Kampf, soviel dürfte deutlich geworden sein, nicht auf der Rechtsfolgenseite auszutragen, sondern schon bei der Frage, ob überhaupt eine Fortwirkungslage vorhanden ist. Insofern bestehen allerdings keine Bedenken, strenge Anforderungen an eine entsprechende Verfahrensrüge bei der Revision zu stellen.159 Es ist zunächst einmal naheliegend, auch bei Versäumung einer qualifizierten Belehrung einen Verwertungswiderspruch in der Hauptverhandlung zu verlangen und diesen zur Voraussetzung einer zulässigen Verfahrensrüge zu machen.160 Von dem Beschwerdeführer sind im Übrigen Ausführungen über den Inhalt der einzelnen Vernehmungen und über die dabei erteilten Belehrungen zu erwarten.161 Er hat anzugeben, inwieweit sich die fehlerhafte Erstvernehmung auf die nachfolgende Vernehmung ausgewirkt hat; dabei muss er auf seine Vorstellungen über die Verwertbarkeit seiner früheren Aussagen eingehen und angeben, inwieweit rechtliche Fehlvorstellungen sein weiteres Aus-
156
BGHSt 53, 116 ff.; BGH StV 2007, 450 (452). Vgl. die Nachweise in Fn. 14. 158 SK-StPO/Rogall (Fn. 21), § 136 Rn. 86 f. 159 Vgl. dazu auch BGH NStZ 1988, 419 (420); ferner SK-StPO/Rogall (Fn. 21), § 136 Rn. 100. 160 Für die Fälle der Geltendmachung einer Fortwirkung von Verstößen gegen § 136a StPO erwogen von BGH NStZ 1996, 291; dagegen zutreffend Fezer StV 1997, 57 ff. 161 BGH NStZ 1996, 291. 157
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sageverhalten noch beeinflussten.162 Der Beschwerdeführer braucht jedoch nicht darzutun, dass er bei ordnungsgemäßer Belehrung nicht ausgesagt hätte.163
VIII. Es bleibt am Ende die Frage nach der Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit einer gesetzlichen Regelung des Problems der qualifizierten Belehrung. Die Notwendigkeit einer solchen Regelung drängt sich m.E. nicht auf. Auch der 67. Deutsche Juristentag hat im Jahre 2008 keine Gesetzesänderung gefordert. Jahn164 hat als Gutachter der strafrechtlichen Abteilung lediglich angeregt, die Praxis solle dazu übergehen, die Tatsache und den Inhalt der qualifizierten Belehrung stets analog Nr. 45 Abs. 1 RiStBV zu protokollieren.165 Auch wenn sich die unbedingte Notwendigkeit eines Eingreifens des Gesetzgebers nicht aufdrängt, könnte man eine gesetzliche Regelung immerhin erwägen. Dafür ließe sich anführen, dass man auf diese Weise die Bedeutung der qualifizierten Belehrung besonders hervorheben und den zuständigen Organen nachhaltig vor Augen führen könnte. Das würde allerdings bedeuten, dass man eine Belehrungspflicht unabhängig davon einführen müsste, ob sie infolge Fortwirkung wirklich erforderlich ist. Denn eine gesetzgeberische Umschreibung des Phänomens der Fortwirkung dürfte kaum zu leisten und jedenfalls äußerst fehleranfällig sein. Mitsch166 hat für eine gesetzliche Verankerung der qualifizierten Belehrung167 Vorschläge168 unterbreitet, die freilich bisher keine weiteren Reaktionen hervorgerufen haben. Mitsch will den Hinweis auf die Unverwertbarkeit einer fehlerhaft herbeigeführten früheren Aussage ohne jede Einschränkung allgemein vorschreiben,169 verbindet diese Lösung aber mit dem Hinweis auf 162 Vgl. dazu BGH NStZ 2001, 551; OLG Hamm NStZ-RR 2009, 284; s. auch BVerfG NStZ 2002, 488. 163 BGHSt 38, 226. 164 Gutachten C für den 67. DJT (Fn. 6), S. C 91. 165 Unter Hinweis auf BGH NStZ 2007, 80 (81) = JR 2007, 125 m. Anm. Wohlers, wo dies allerdings nicht Entscheidungsgegenstand war. 166 NJW 2008, 2295 (2300 f.). 167 Gesetzestechnisch sollte besser davon abgesehen werden, den Begriff der qualifizierten Belehrung in den Normtext aufzunehmen. 168 Eine qualifizierte Belehrung ist auch bei Verstößen gegen § 136a StPO vorgesehen (vgl. § 136a Abs. 2 S. 3 – neu – StPO): „Vor jeder weiteren Vernehmung ist der Beschuldigte darauf hinzuweisen, dass seine unter Verstoß gegen das Verbot der Absätze 1 und 2 zu Stande gekommene Aussage nicht verwertbar ist.“ 169 NJW 2008, 2300 (§ 136 Abs. 4 S. 2 – neu – StPO): „Vor jeder weiteren Vernehmung ist der Beschuldigte darauf hinzuweisen, dass seine unter Verstoß gegen die Belehrungspflicht nach Absatz 1 Satz 2 zu Stande gekommene Aussage ohne seine ausdrückliche Zustimmung nicht verwertbar ist (qualifizierte Belehrung).“
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die Möglichkeit der Zustimmung zur Verwertung.170 Das ist aber nicht richtig. Einer Zustimmung zur Verwertung bedarf es nur, wenn ein unverwertbares Beweisergebnis verwertet werden soll und der Beschuldigte dispositionsbefugt ist. Eine Zustimmung kommt daher in Betracht, wenn die Ergebnisse der Ursprungsvernehmung verwertet werden sollen oder wenn eine erforderliche qualifizierte Belehrung unterblieben ist und deshalb ein Verwertungsverbot besteht, das der Beschuldigte durch seine Zustimmung gegenstandslos machen kann. Für die Verwertbarkeit von Folgevernehmungen reicht es hin, wenn die Beweisperson nach qualifizierter Belehrung Bekundungen macht. Von einem – wie von Mitsch konzipierten – „gespaltenen“ Begriff der qualifizierten Belehrung sollte daher Abstand genommen werden. Nicht zu folgen ist Mitsch171 auch darin, für die Hauptverhandlung Unverwertbarkeitshinweise vorzusehen. Solcher Hinweise bedarf es richtigerweise nicht, worauf hier schon hingewiesen wurde. Denkbar wäre es dagegen, bei Verletzung des Gebots zu qualifizierter Belehrung ein Verwertungsverbot gesetzlich einzuführen172 und damit über die hier referierte Rechtsprechung des BGH hinauszugehen. Das wäre aber nur möglich, wenn man zugleich auch bei der „einfachen“ Belehrung ein gesetzliches Beweisverwertungsverbot einführen würde. Ob das freilich weise wäre, ist eine andere Frage. Ich halte es gegenwärtig für besser, die weitere Entwicklung der Rechtsprechung abzuwarten, bevor man sich ernsthaft Gedanken über Gesetzesänderungen macht. Klaus Geppert hat sich zur Notwendigkeit einer qualifizierten Belehrung wesentlich engagierter und positiver geäußert, als ich dies in diesem von einer gewissen Skepsis gespeisten Beitrag getan habe. Gleichwohl stelle ich Übereinstimmung in den Grundpositionen fest. Eine qualifizierte Belehrung kann erforderlich werden; sie ist es aber nicht immer und überall. Vor allem ist eine „Überhöhung“ der qualifizierten Belehrung zu vermeiden, die ihre Zweckbestimmung und ihre Leistungsgrenzen übersteigt. Das Problem der qualifizierten Belehrung ist jedenfalls noch lange nicht ausdiskutiert und wird Wissenschaft und Praxis noch geraume Zeit beschäftigen.
170 Das fehlt allerdings bei seinem Vorschlag zu einem neuen § 244 Abs. 3 S. 4 – neu – StPO. Hier heißt es: „Im Falle einer Vernehmung ist die zu vernehmende Person auf die Unverwertbarkeit ihrer früheren Aussage hinzuweisen (qualifizierte Belehrung).“ 171 NJW 2008, 2300 (zu §§ 243 Abs. 4 S. 2–4 – neu – StPO). 172 So Mitsch NJW 2008, 2300 (§ 136 Abs. 4 S. 3 – neu – StPO): „Eine Aussage, die unter Verstoß gegen das Gebot einer qualifizierten Belehrung zu Stande gekommen ist, ist unverwertbar.“
Aushorchungen in der Untersuchungshaft als Überführungsmittel Claus Roxin I. Maßgebliche Entscheidungen Auffallend häufig muss sich der Bundesgerichtshof mit Fällen beschäftigen, in denen Polizei oder Justizbehörden Häftlinge in der Untersuchungshaft aushorchen oder aushorchen lassen und dadurch zu ungewollten Selbstbelastungen bewegen.1 Die Sachverhalte sind im Einzelnen ebenso verschieden wie die zu ihrer Behandlung in Rechtsprechung und Literatur verwendeten Begründungsansätze. Ich will deshalb zur Erleichterung der Übersicht zunächst zehn repräsentative Fälle vorstellen, bevor ich eine eigene und einheitliche Lösung zu entwickeln versuche. Ein näheres Hinsehen zeigt, dass man die einschlägigen Sachverhaltsgestaltungen in zwei große Gruppen einteilen kann. In der einen werden selbstbelastende Gespräche des Beschuldigten heimlich abgehört (Abhörfälle). In der anderen werden private Mitteilungen des Beschuldigten über seine Straftat an die Behörden weitergegeben (Mitteilungsfälle). 1. Abhörfälle a) BGHSt 34, 39 (3. Senat, 9.4.1986) Der Beschuldigte war wegen Beteiligung an der Entführung und Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Schleyer durch die RAF angeklagt. Das mit der Sache beschäftigte Oberlandesgericht ließ ein zwischen ihm und dem Leiter der Justizvollzugsanstalt geführtes Gespräch ohne sein Wissen und gegen seinen Willen auf Tonbänder speichern und die so hergestellte Aufnahme in der Hauptverhandlung abspielen. Das Tonband diente der Stimmidentifizierung, durch die festgestellt werden sollte, ob der Angeklagte mit einem „Sprecher“ der Entführer, dessen Stimme auf Tonband aufgenommen worden war, identisch sei. Das Urteil stützte sich u.a. auf diese Identitätsfeststellung. 1 Jahn JuS 2009, 861 spricht von einer „imposante(n) Kette der ‚Haft-Aushorchungsfälle‘“.
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Der BGH hat die Unzulässigkeit der heimlichen Tonbandaufnahme darauf zurückgeführt, dass es sich um einen Eingriff in das verfassungsrechtlich „verbürgte Persönlichkeitsrecht am eigenen Wort“ handele,2 für den es an einer Ermächtigungsgrundlage fehle. §§ 81, 81a, 81b StPO, eine Analogie zu §§ 100a ff. StPO oder die Heranziehung von Notstandsregeln (§ 34 StGB) werden verworfen. Das Verwertungsverbot wird „auf den hohen Rang des … Persönlichkeitsrechts am nichtöffentlich gesprochenen Wort“3 gestützt.4 Zwar wird beiläufig auch von einer Erlangung der Aufnahme „durch ausdrückliche oder konkludente Täuschung“5 gesprochen, aber dieser Umstand wird nicht zur Urteilsgrundlage gemacht. Die vom BGH gewählte Begründung – fehlende Ermächtigungsgrundlage – würde heute nicht mehr tragen, weil unter den Voraussetzungen des § 100f StPO das außerhalb von Wohnungen nichtöffentlich gesprochene Wort „mit technischen Mitteln abgehört und aufgezeichnet“ werden darf (§ 100f Abs. 1 S. 1 StPO). b) BGHSt 40, 66 (4. Senat, 24.2.1994) Auch dieses Urteil beschäftigt sich mit einer der Identifizierung dienenden Stimmabhörung ohne Wissen des Beschuldigten. Dem Opfer einer Vergewaltigung wurde gestattet, „durch eine geöffnete Tür ein Gespräch anzuhören, das … der Angeklagte und ein Kriminalbeamter in einem Nachbarzimmer führten“6. Das Opfer hatte den Täter nicht erkennen können, weil er zunächst maskiert war und später der vergewaltigten Frau eine Wollmütze über das Gesicht gezogen hatte. Das Opfer erkannte aber den Angeklagten an der Stimme, und darauf stützte sich die Verurteilung. Der BGH sieht die Verwertung der abgehörten Stimmprobe als unzulässig an, „wenn diese Maßnahme unter Täuschung des Angeklagten erfolgt wäre“7. Eine Rechtsgrundlage für die Unverwertbarkeit einer durch Täuschung erlangten Stimmprobe wird nicht angegeben. Es wird nur auf den Parallelfall des „den Anwendungsbereich des § 136a StPO betreffenden Problem(s) der ‚Hörfalle‘“ hingewiesen. Diese sei „unter der Voraussetzung einer Täuschung“ verboten. Dass der Große Senat für Strafsachen8 bald darauf die auf einer Täuschung beruhende Hörfalle im Prinzip zulassen würde, konnte der entscheidende Senat noch nicht wissen. Bei Beurteilung des konkreten Sachverhaltes wurde eine zur Unverwertbarkeit führende Täuschung nur angenommen, wenn der Angeklagte ent2 3 4 5 6 7 8
BGHSt 34, 43. BGHSt 34, 53. BGHSt 34, 53. BGHSt 34, 46. BGHSt 40, 67. Hier und im Folgenden: BGHSt 40, 72. BGHSt 42, 139 ff.
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weder eine freiwillige Stimmprobe „ausdrücklich abgelehnt“ hätte oder das Gespräch nur in der Absicht durchgeführt worden wäre, ein Abhören durch das Tatopfer zu ermöglichen. Ein „zufälliges“ Mithören durch das Opfer sollte also für ein Verwertungsverbot nicht ausreichen. c) BGHSt 44, 138 (3. Senat, 24.7.1998) Der Angeklagte war beschuldigt, ein Asylbewerberheim in Brand gesetzt zu haben. Gespräche, die er im Besuchsraum der Untersuchungshaftvollzugsanstalt mit Angehörigen geführt hatte, wurden ohne sein Wissen auf Tonband aufgenommen. Sie ergaben Hinweise auf seine Täterschaft. Die Besuche wurden – für den Angeklagten und seine Gesprächsteilnehmer sichtbar – von einem Vollzugsbeamten, teilweise in Gegenwart eines Dolmetschers, überwacht. Der Senat hat die Verwertung der Gesprächsaufzeichnungen zugelassen. Der Besuchsraum einer U-Haftanstalt sei keine „Wohnung“ i.S.d. Art. 13 GG, so dass eine Aufzeichnung der Gespräche nach dem damaligen § 100c Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 StPO gestattet gewesen sei. Der Kernbereich privater Lebensgestaltung sei wegen der Anwesenheit anderer Personen nicht betroffen.9 Dass die Gesprächspartner Angehörige i.S.d. § 52 StPO gewesen seien, die in der Hauptverhandlung von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht hätten, lasse die Verwertbarkeit unberührt.10 Auch im Falle der zulässigen Telefonüberwachung nach § 100a StPO würden die Gesprächspartner in die Überwachung einbezogen. d) BGHSt 53, 294 (1. Senat, 29.4.2009) Auch hier ging es um die Tonbandaufnahme eines Besuchsgesprächs in der Untersuchungshaft. Gesprächspartner war die Ehefrau des Angeklagten. Auf Anordnung des Ermittlungsrichters wurde für den Besuch ein separater Raum zur Verfügung gestellt und auf die sonst übliche Anwesenheit einer Aufsichtsperson verzichtet, so dass der Eindruck einer unüberwachten Gesprächssituation vermittelt wurde. Selbstbelastende Äußerungen im Gespräch wurden gegen den Angeklagten verwendet. In diesem Fall wurde die Verwertung der Tonbandaufzeichnung für unzulässig erklärt. „Die Gesamtschau der Umstände der akustischen Gesprächsüberwachung belegt eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren (Art. 20 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG)“11. Zwar sei nach § 100f StPO
9
BGHSt 44, 143. BGHSt 44, 142. 11 BGHSt 53, 299. Im Kopf des Urteilsabdrucks wird Art. 6 Abs. 1 S. 1 MRK als Rechtsgrundlage genannt. 10
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eine Abhörung an sich zulässig gewesen.12 Auch sei der Kernbereich privater Lebensgestaltung nicht verletzt.13 Wenn ein Kernbereichsschutz, der in § 100f StPO nicht erwähnt sei, bei Abhörungen außerhalb der Wohnung überhaupt in Betracht komme, scheitere er hier jedenfalls an der negativen Kernbereichsprognose und an dem die Straftat des Angeklagten betreffenden Gesprächsinhalt. Jedoch liege in der Zuweisung eines scheinbar unüberwachten Besuchsraums eine „bewusste Irreführung“14. Diese erreiche zwar „nicht die Qualität einer Täuschung oder eines unzulässigen Zwanges im Sinne von § 136a StPO“, sei aber „in der Gesamtschau“ eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren, die zu einem Beweisverwertungsverbot führe. 2. Mitteilungsfälle a) BGHSt 34, 362 (5. Senat, 28.4.1987) Der Angeklagte saß unter dem Verdacht, sich an einem Überfall beteiligt zu haben, in Untersuchungshaft. Ein Kriminalbeamter fragte einen anderen Häftling (Y), „ob er bereit sei, Hilfsdienste für die Polizei zu machen, um herauszufinden, ob der Angeklagte sich an dem Überall beteiligt habe“. Dieser erklärte sich einverstanden, weil er sich davon Vorteile für sein eigenes Strafverfahren versprach. Es gelang ihm, sich in das Vertrauen des Angeklagten einzuschleichen, der ihm Einzelheiten der Tat erzählte. Er gab diese Informationen an den Kriminalbeamten weiter und sagte darüber in der Hauptverhandlung als Zeuge aus. Hier wurde ein Verbot der Verwertung der dem Angeklagten entlockten Informationen angenommen.15 Die Untersuchungshaft dürfe nicht dazu missbraucht werden, den Angeklagten zu veranlassen, „von seinem Schweigerecht (§ 136 Abs. 1 S. 2 … StPO) keinen Gebrauch zu machen“16. Der Angeklagte sei durch den Spitzel „gezielt Einwirkungen auf die Freiheit seiner Willensentschließung ausgesetzt“ worden. „Das ist eine Zwangseinwirkung auf den Gefangenen, die vom Strafverfahrensrecht nicht mehr gedeckt … ist.“ b) BGH NStZ 1989, 32 f. = BGHR § 136a Zwang 2 (1. Senat, 27.9.1988 Der Angeklagte hatte sich mit dem Zeugen M als Untersuchungshäftling in derselben Anstalt befunden. Sie lernten einander beim Hofgang und beim
12
BGHSt 53, 299. BGHSt 53, 301 ff. 14 Hier und im Folgenden: BGHSt 53, 309 f. 15 Allerdings ohne „Fernwirkung“, so dass das Verwertungsverbot dadurch praktisch wieder aufgehoben wurde. 16 Hier und im Folgenden BGHSt 34, 363 f. 13
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Umschluss kennen. Der Angeklagte fasste Vertrauen zu M und schilderte ihm nach und nach seine Tat (ein Tötungsdelikt). M, der vor seiner Inhaftierung als V-Mann gearbeitet hatte, gab dieses Wissen in mehreren Vernehmungen an die Polizei weiter und sagte auch in der Hauptverhandlung gegen den Angeklagten aus. In diesem Kontrastfall zur vorhergehenden Entscheidung wurde ein Verwertungsverbot abgelehnt.17 Der Angeklagte habe einem Mithäftling Vertrauen geschenkt, der sich aus eigenem Antrieb für die dem Angeklagten vorgeworfene Tat interessierte, und sei in diesem Vertrauen enttäuscht worden. „Ihm ist widerfahren, was jedermann im täglichen Leben widerfahren kann.“ c) BGHR § 136a Zwang 3 (2. Senat vom 21.8.1995) Der Angeklagte hatte unter dem Eindruck der mit der Untersuchungshaft verbundenen Freiheitsentziehung und in der Hoffnung, dadurch eine Freilassung zu erreichen, Aussagen gemacht, zu denen er sich nicht bereitgefunden hätte, wenn er auf freiem Fuß gewesen wäre. Auch hier wurde ein Verwertungsverbot abgelehnt. Dieses setze voraus, „dass der Zwang, gegebenenfalls die Freiheitsentziehung, gezielt als Mittel zur Herbeiführung einer Aussage angewandt worden ist“. Selbst wenn die Untersuchungshaft rechtswidrig sei, genüge dies noch nicht, um die in der Haft gemachten Angaben unverwertbar zu machen. d) BGHSt 44, 129 (5. Senat, 21. Juli 1998) Die Angeklagten hatten in der Untersuchungshaft der Zeugin S, die seit längerem mit der Polizei zusammenarbeitete, ihre Taten gestanden, weil die S sich als Wahrsagerin ausgegeben und ihnen bei Vorlage eines schriftlichen Geständnisses versprochen hatte, die Justizorgane durch übersinnliche Kräfte so zu beeinflussen, dass die Betroffenen ein milderes Urteil erhalten oder freigesprochen würden. Das Instanzgericht hatte die Aussagen der „Wahrsagerin“ zu Lasten der Angeklagten verwertet. Dagegen hat der BGH – vorbehaltlich weiterer Sachverhaltsaufklärung – ein Verwertungsverbot als naheliegend angesehen. Es liege eine „unzulässige Beeinträchtigung der Freiheit der Willensentschließung“ und damit ein Verstoß „gegen die §§ 163a, 136a Abs. 1 StPO in entsprechender Anwendung“ vor.18 Der BGH stützt das nicht allein auf den Spitzeleinsatz als solchen, sondern auch auf die „Ausnutzung abergläubischer Vorstellungen“, auf ihre Drohung mit der Rache „höherer Mächte“ für den Fall der Nichtoffenbarung und auf die Beeinflussung der ausgehorchten Gefangenen durch Drogen.19 17 18 19
BGH NStZ 1989, 32 f. (33). BGHSt 44, 134. BGHSt 44, 136.
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3. Parallelfälle Es seien noch zwei weitere Fälle angeführt, die zwar nicht in der Untersuchungshaft spielen, den geschilderten Sachverhalten aber ähnlich sind und leicht auf die Untersuchungshaft übertragen werden können. Es handelt sich um einen Abhör- und einen Mitteilungsfall. a) BGHSt 50, 206 (1. Senat, 10.8.2005) Der Angeklagte hielt sich wegen eines Unfalls im Einzelzimmer einer Rehabilitationsklinik auf. Wegen eines gegen ihn bestehenden Mordverdachtes wurde dieses Zimmer aufgrund richterlicher Anordnung akustisch überwacht. In einem Selbstgespräch rief er aus: „In Kopf hätt i eam schießen sollen“ (auf hochdeutsch: „In den Kopf hätte ich ihn schießen sollen“). Das Landgericht wertete diese Äußerung als belastendes Indiz, weil der Angeklagte sich mit einer alternativen Tötungsart befasst habe (er war der Tötung mit einem Schlagwerkzeug verdächtig). Hier hat der BGH ein Verwertungsverbot angenommen und auf eine Verletzung des Kernbereichs privater Lebensgestaltung gestützt (Art. 13 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG). „Das Selbstgespräch hat ausschließlich höchstpersönlichen Charakter und berührt aus sich heraus nicht die Sphäre anderer oder der Gemeinschaft.“20 „Weil es in keiner Form verdinglicht und der Gefahr eines Zugriffs preisgegeben war“, sei es „dem unantastbaren Kernbereich zuzurechnen.“ b) BGHSt 52, 11 (3. Senat, 26.7.2007) Das Amtsgericht hatte gegen den Angeklagten, der sich in einer anderen Sache in Strafhaft befand, den Einsatz eines Verdeckten Ermittlers angeordnet (wegen des Verdachts einer Körperverletzung mit Todesfolge). Der Verdeckte Ermittler besuchte ihn wiederholt in der Vollzugsanstalt und bedrängte ihn schließlich während eines Hafturlaubs unter Hinweis auf das zwischen ihnen bestehende Vertrauensverhältnis, wahrheitsgemäße Angaben zu machen. Der Angeklagte tat das, obwohl er vorher gegenüber der Polizei erklärt hatte, er wolle auf Anraten seines Verteidigers von seinem Schweigerecht Gebrauch machen. Ein Grund für sein nunmehriges Reden lag darin, dass er sich das Vertrauen des Verdeckten Ermittlers erhalten wollte, der ihm für die Zeit nach der Haft gemeinsame Geschäfte in Aussicht gestellt hatte. Auch hier wurde das Geständnis des Angeklagten für unverwertbar erklärt. Dabei beruft sich der BGH ausdrücklich nicht auf einen Verstoß gegen §§ 163a, 136 Abs. 1 StPO oder § 163a, 136a Abs. 1 StPO oder auf den Grund-
20
Hier und im Folgenden BGHSt 50, 213.
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satz der alleinigen Zulässigkeit einer offenen Vernehmung.21 Vielmehr liege ein Verstoß gegen den Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit („nemo tenetur se ipsum accusare“) vor.22 Dieser Grundsatz wird auf Art. 1, 2 Abs. 1 GG, Art. 6 MRK (faires Verfahren“) und Art. 14 Abs. 3 Buchst. G) des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte gestützt. Im konkreten Fall wird die Verletzung des Grundsatzes der Selbstbelastungsfreiheit damit begründet, dass der Angeklagte sich gegenüber der Polizei auf sein Schweigerecht berufen und dass der Verdeckte Ermittler ihm dann „durch beharrliche Fragen und unter Hinweis auf das vorgetäuschte Vertrauensverhältnis selbstbelastende Äußerungen entlockt“ hatte.23
II. Lösungsvorschlag 1. Die verworrene Diskussionslage Die vorstehend geschilderten Entscheidungen haben im Ergebnis durchweg Beifall gefunden. Ihre Begründungen lassen aber keine klare und einheitliche Konzeption erkennen. Die Unzulässigkeit der Beweiserlangung und -verwertung wird teils auf eine fehlende Ermächtigungsgrundlage, teils auf eine direkte oder analoge Anwendung von § 136 oder § 136a StPO, teils auf rechtsstaatliche Überlegungen, teils auf den Nemo-tenetur-Grundsatz oder das Gebot eines fairen Verfahrens zurückgeführt, dessen Verletzung entweder aus bestimmten Einzelumständen oder aus einer nicht näher konkretisierten „Gesamtschau“ hergeleitet wird. Es ist in diesem Rahmen nicht möglich und beabsichtigt, die Entscheidungen im Einzelnen zu interpretieren oder die umfangreiche Literatur, die sie hervorgerufen haben, umfassend auszuwerten; zum Teil habe ich dies an anderer Stelle getan.24 Nur die jüngste Entscheidung des 1. Senats zur Abhörung eines Besuchsgesprächs in der Untersuchungshaft soll etwas näher unter die Lupe genommen werden, weil sie die bisherige Entwicklung der Rechtsprechung reflektiert und bündelt.25 21
BGHSt 52, 16. BGHSt 52, 17. 23 BGHSt 52, 22. 24 Vgl. etwa zum Problem der Hörfalle, das in verschiedene der angeführten Entscheidungen hineinspielt, NStZ 1995, 465; NStZ 1997, 18; zur verdeckten Befragung des Beschuldigten (BGHSt 52, 11) NStZ-Sonderheft Miebach, 2009, 41; zum Fall der Wahrsagerin (BGHSt 44, 129) NStZ 1999, 149; zur Brandstiftung im Asylbewerberheim (BGHSt 44, 138) NStZ 1999, 150; zum Selbstgesprächsurteil (BGHSt 50, 206) Böttcher-FS, 2007, 159 ff. (wo der „Kernbereich privater Lebensgestaltung“ vor allem im Zusammenhang mit dem „Großen Lauschangriff“ behandelt wird). 25 Vgl. zu diesem Urteil Engländer JZ 2009, 1179; Hauck NStZ 2010, 17; Jahn JuS 2009, 861; Zuck JR 2010, 17. 22
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Die vielfältigen Versuche, eine einheitliche Begründung und gesetzliche Grundlage für die Beurteilung der Verwertbarkeit von Aushorchungen in der Untersuchungshaft zu finden, sind nicht sehr erfolgreich gewesen. Sie kreisen zunächst um die Begriffe von Zwang und Irrtum. Aber ein Äußerungszwang liegt bei Abhörungen und Mitteilungen im persönlichen Gespräch nicht vor. Ein Irrtum über die Abhörsituation oder den Ausforschungswillen des Gesprächspartners ist zwar vorhanden, aber es ist nicht leicht zu begründen, dass es sich dabei um einen Irrtum im Sinne der §§ 136a, 136 StPO handelt. Denn § 136a StPO behandelt Täuschungen, die die Entschließungsfreiheit des Beschuldigten beeinträchtigen und bei denen als Befragender ein offen auftretender Vernehmungsbeamter vorausgesetzt wird. An beidem fehlt es in den Fällen der Aushorchung. Bei so unterschiedlichen Sachgestaltungen erscheint auch eine analoge Anwendung des § 136a StPO auf Aushorchungen kaum möglich. Näher liegt es, in der Belehrungspflicht des § 136 Abs. 1 S. 2 StPO eine Ausprägung des Nemo-tenetur-Grundsatzes zu erblicken und diesen so zu verstehen, dass er nicht nur die Äußerungsfreiheit des Beschuldigten sichern, sondern ihn auch vor staatlich manipulierter irrtumsbedingter Selbstbelastung schützen soll. Mit dieser von mir schon vor 15 Jahren vorgetragenen Überlegung 26 ließen sich alle Fälle, in denen der BGH ein Verwertungsverbot angenommen hat, unter einem einheitlichen Gesichtspunkt erfassen. Jedoch hat der Große Senat für Strafsachen in einem Fall staatlich veranlasster verdeckter Befragung diese Auffassung verworfen:27 „Gegenstand des Schutzes des Nemo-tenetur-Grundsatzes ist die Freiheit von Zwang zur Aussage oder zur Mitwirkung am Strafverfahren. Die Freiheit von Irrtum fällt nicht in den Anwendungsbereich dieses Grundsatzes.“ Er hat aber gleichwohl betont, dass heimliche Ausforschungen „einem Verstoß gegen den Nemo-tenetur-Grundsatz nahe kommen“28 können und dass aus dieser Nähe „sowie aus dem Rechtsstaatsprinzip und dem aus ihm hervorgehenden Grundsatz des fairen Verfahrens“ Bedenken gegen eine Verwertung der erlangten Informationen erwachsen könnten.29 Ob diese Bedenken durchgreifen, hänge aber von einer Abwägung mit der „Pflicht des Rechtsstaates zur effektiven Strafverfolgung“ ab. Damit ist für die Behandlung heimlicher Aushorchungen eine erhebliche Unsicherheit geschaffen worden, weil es an klaren Maßstäben für die Abwägung fehlt. Diese Unsicherheit spiegelt sich noch in der jüngsten Entscheidung des 1. Senats wider,30 der bei einer heimlichen Abhörung eines Besuchs26 27 28 29 30
Roxin NStZ 1995, 466 ff. BGHSt 42, 153. BGHSt 42, 156. BGHSt 42, 157. BGHSt 53, 294.
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gesprächs in der Untersuchungshaft ebenfalls auf den Grundsatz des fairen Verfahrens zurückgreift.31 Die verwertungshindernde Verletzung dieses Grundsatzes soll aber nach diesem Urteil nicht durch eine Abwägung, sondern durch eine „Gesamtschau“32 ermittelt werden. Im konkreten Fall seien „gleich mehrere unverzichtbare rechtsstaatliche Grundsätze tangiert worden, und das nicht nur am Rande“33. Zwar sei jeder einzelne Grundsatz „noch nicht in einem Ausmaß verletzt“, das allein schon ein Verwertungsverbot rechtfertigen würde. Dies gebiete erst eine Gesamtschau. Welche rechtsstaatlichen Grundsätze hier aber tangiert sein und nach welchen Maßstäben ihre Verletzung gewichtet werden soll, bleibt ungesagt.34 Zwar hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Jahre 200235 den von mir vertretenen Standpunkt geteilt und ausdrücklich ausgesprochen: „Der Anwendungsbereich des Schweigerechts und des Schutzes vor Selbstbelastung ist nicht auf Fälle beschränkt, in denen der Beschuldigte Zwang widerstehen musste …“ Es gehörte vielmehr zum „Kernbereich des fairen Verfahrens“, die „Freiheit einer verdächtigen Person zu entscheiden, ob sie … aussagen oder schweigen will. Eine solche freie Entscheidung wird effektiv unterlaufen, wenn die Behörden … eine Täuschung anwenden, um dem Beschuldigten belastende Eingeständnisse zu entlocken, die sie in der Vernehmung nicht erlangen konnten und die so erlangten Eingeständnisse in den Prozess als Beweise einzuführen.“ Man könnte sich damit begnügen, der deutschen Rechtsprechung ein Einschwenken auf den Kurs des EGMR zu empfehlen, wenn nicht dieser in einer Entscheidung vom März 200936 teilweise anders geurteilt hätte. Die Grundsätze der Allan-Entscheidung seien „nicht gleichermaßen anwendbar, wenn der Beschuldigte noch nicht inhaftiert ist, auf ihn nicht in Vernehmungen Druck hin zu einer Aussage ausgeübt worden ist, und er seinen Willen noch nicht geäußert hat, schweigen zu wollen …“37. Ob demnach wenigstens bei der verdeckten Aushorchung von Untersuchungshäftlingen grundsätzlich ein Verwertungsverbot entstehen soll, wird nicht ganz deutlich. Jedenfalls zeigt sich an dieser Entscheidung, dass auch der Europäische Gerichtshof keine einheitliche Linie verfolgt, an der sich die Praxis orientieren könnte.
31 32 33 34 35 36 37
BGHSt 53, 299, 304, 306, 310. BGHSt 53, 306, 310. BGHSt 53, 306. Das bemängelt auch Engländer JZ 2009, 1179. StV 2003, 257: Allan versus Großbritannien. EGMR Nr. 4378/02, Beschluss vom 21.1.2009, HRRS 2009 Nr. 360. Leitsatz 3 in der Formulierung des Bearbeiters Gaede.
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2. Der staatlich veranlasste Vertrauensmissbrauch als Kriterium zur Abgrenzung unzulässiger und unverwertbarer von zulässigen Aushorchungen Ich stelle deshalb zur Diskussion, ob nicht der Vertrauensmissbrauch ein Kriterium zur einheitlichen Erfassung der Fälle unzulässiger, mit einem Verwertungsverbot auszustattender Aushorchungen abgeben könnte.38 Gehen wir die Entscheidungen noch einmal durch! a) In BGHSt 34, 39 war ein Gespräch des Angeklagten mit dem Anstaltsleiter zum Zwecke der Stimmidentifizierung heimlich auf Tonband aufgenommen, in der Hauptverhandlung gegen seinen Widerspruch abgespielt und im Urteil gegen ihn verwertet worden. Der BGH sagt dazu:39 Das Verbot der Erzwingung einer Stimmprobe „wäre wirkungslos, wenn es dadurch umgangen werden könnte, dass der Beschuldigte durch ausdrückliche oder konkludente Täuschung darüber, dass sein nichtöffentlich gesprochenes Wort auf Tonträger fixiert wird und einer Stimmvergleichung dienen soll, zum Sprechen veranlasst werden dürfte“. Zwar wurde die Unverwertbarkeit auf das – damalige – Fehlen einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage gestützt. Aber es wird doch deutlich, dass dahinter der Gedanke stand, das Vertrauen auf die Nichterzwingbarkeit einer fixierten Stimmprobe sei missbraucht worden. b) In BGHSt 40, 66, wo ein Gespräch des Beschuldigten mit einem Kriminalbeamten durch eine geöffnete Tür zum Zwecke der Stimmerkennung mitgehört worden war, stützt der BGH das Beweisverwertungsverbot zwar auf das Vorliegen einer Täuschung. Er konkretisiert diesen Begriff aber im Sinne eines Vertrauensmissbrauchs, wenn er eine Täuschung nur für den Fall annehmen will, dass der Angeklagte eine Beteiligung an einer freiwilligen Stimmprobe ausdrücklich abgelehnt hatte oder dass das Gespräch nur durchgeführt wurde, um der Zeugin eine Gelegenheit zum Mithören zu verschaffen.40 Er weist auf eine Zeugenbekundung hin, wonach das Gespräch zum Zwecke der Stimmerkennung „arrangiert“ worden sei.
38 Engländer JZ 2009, 1180 wendet auf den Fall BGHSt 53, 294 das Verbot des venire contra factum proprium an, das ebenfalls auf die Verletzung eines geschaffenen Vertrauenstatbestandes hinausläuft. 39 BGHSt 34, 46. 40 BGHSt 40, 72. Freilich läge – anders, als der BGH anscheinend meint – ein Vertrauensmissbrauch auch schon vor, wenn die Frau nicht zum Abhören „bestellt“, sondern aus anderem Grunde erschienen und dann von Polizisten oder Vollzugsbeamten zum Abhören an der Tür verleitet worden wäre. Ein Vertrauensmissbrauch würde nur fehlen, wenn die Frau ohne staatliches Zutun von sich aus als Horcherin aufgetreten wäre, was recht unwahrscheinlich ist.
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In beiden Fällen wurde also die zum Verwertungsverbot führende Unfairness darin gesehen, dass das Vertrauen des Beschuldigten auf die Führung eines unbelauschten Gesprächs missbraucht worden ist. Der Missbrauch wird, wie nicht selten in solchen Fällen, durch ein „Situationsarrangement“ begründet, d.h. durch Vorkehrungen, mit denen der Angeklagte nicht rechnen konnte (hier: das Lauschen an der Tür). c) Ganz anders lagen die Dinge bei der Abhörung von Gesprächen, die ein U-Häftling mit Angehörigen im überwachten Besuchsraum der Untersuchungshaftanstalt geführt hatte (BGHSt 44, 138). Da ein solcher Raum keine Wohnung i.S.d. Art. 13 GG ist,41 eine akustische Überwachung nach dem damals einschlägigen § 100c Abs. 1 Nr. 2 StPO zulässig war und die Gespräche von einem Beamten und teilweise einem Dolmetscher mitgehört wurden, konnte der Angeklagte nicht darauf vertrauen, dass die Gespräche nicht abgehört wurden. Er musste, wie der BGH sagt,42 „auch im Vollzug mit solchen Überwachungsmaßnahmen rechnen, die gegen ihn auch in Freiheit zulässig gewesen wären“. Es ist also letztlich der fehlende Vertrauensmissbrauch, der die Verwertung der Tonbandaufzeichnungen ermöglicht. d) Ein drastischer Vertrauensmissbrauch war aber wieder der ausschlaggebende Grund für die Bejahung eines Verwertungsverbots bei „einer heimlichen Überwachung von Ehegattengesprächen in einem eigens dafür zugewiesenen separaten Besucherraum in der Untersuchungshaft ohne die übliche erkennbare Überwachung“ (BGHSt 53, 294, Leitsatz). Zwar stützt sich das vom BGH angenommene Verwertungsverbot, wie dargelegt (I., 1., d), verbal auf eine aus der „Tangierung“ mehrerer rechtsstaatlicher Grundsätze abgeleitete „Gesamtschau“. In der Sache aber war für die Entscheidung des Senats allein die „bewusste Irreführung“43 ausschlaggebend, die mit Hilfe der im Leitsatz angegebenen Umstände den Angeklagten darauf vertrauen ließ, dass er mit seiner Frau ein unüberwachtes Gespräch führen könne. e) Noch deutlicher tritt der Vertrauensmissbrauch als das in Wahrheit tragende Entscheidungskriterium zutage, wo Mitteilungen gegenüber unerkannten staatlichen Beauftragten (seien es Augenblickshelfer, V-Männer oder Verdeckte Ermittler) zur Selbstbelastung geführt haben. Der klassische Fall ist der auf die Zelle des Angeklagten verlegte Polizeispitzel (BGHSt 34, 362). Der BGH hat die Unverwertbarkeit der vom Spitzel hervorgelockten Informationen zwar auf eine Zwangseinwirkung gestützt, die von der Untersuchungshaft ausgegangen sei (§ 136a StPO analog). Aber 41 42 43
Umfangreiche Nachweise in BGHSt 44, 140 f. BGHSt 44, 143. BGHSt 53, 309 f.
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das ist unplausibel, weil die Haft und auch der Spitzel in der Zelle den Angeklagten nicht zwingen konnten, seine Tat zu offenbaren. Der wahre Grund ergibt sich denn auch aus der Sachschilderung des Gerichts. Danach hatte der Angeklagte sich zunächst nicht zu Äußerungen bewegen lassen. „Später konnte er (scil. der Spitzel) sich u.a. dadurch, dass er auf Fluchtpläne einging, einen weiteren Raubüberfall vorschlug und anbot, anstelle des Angeklagten die Mitwirkung an dem Überfall … auf sich zu nehmen, in dessen Vertrauen einschleichen. Der Angeklagte erzählte ihm Einzelheiten über das Tatgeschehen.“ Es war also allein die hier direkt angesprochene Vertrauenserschleichung, die zur Selbstbelastung geführt hat und die Mitteilungen unverwertbar macht. f) Das zeigt e contrario auch der Fall, in dem der BGH die Verwertbarkeit von Mitteilungen bejaht hat, die der Angeklagte einem Mitgefangenen über seine Tat gemacht hatte (BGH NStZ 1989, 32 f.) Zwar hatte auch hier der Angeklagte einem Mithäftling seine Tat geschildert, weil er zu ihm Vertrauen gefasst hatte. Darin lag aber, weil der Mithäftling nicht von der Polizei beauftragt war, keine staatliche Vertrauenserschleichung. Ein privater Vertrauensbruch aber kann, wie der BGH mit Recht sagt „jedermann im täglichen Leben widerfahren“. Er löst kein Verwertungsverbot aus, weil er dem Staat nicht zuzurechnen ist. g) Dasselbe gilt für den Fall, dass der Angeklagte seine Aussagen aufgrund der Belastung durch die Untersuchungshaft gemacht hat (BGHR, StPO § 136a Abs. 1 Zwang 3). Der BGH erklärt es mit Recht für unerheblich, ob die Verwerfung seiner Haftbeschwerde den Verteidigungswillen des Angeklagten gebrochen und ihn dazu bestimmt hat, „sich nunmehr vernehmen zu lassen, ob er seine Angaben während der Untersuchungshaft unter dem Eindruck der damit verbundenen Freiheitsentziehung oder in der Hoffnung gemacht hat, dadurch seine Freilassung zu erreichen“. Denn das alles hat mit einem Vertrauensmissbrauch nichts zu tun. Der BGH will freilich auch hier, wie schon beim Polizeispitzel auf der Zelle, auf den Einsatz der Untersuchungshaft als Zwangsmittel abstellen, was neben der Sache liegt, auch wenn hier ein solcher Zwang verneint wurde. h) Im Falle der „Wahrsagerin“ (BGHSt 44, 129) hat der BGH ein mögliches Verwertungsverbot zwar wiederum vornehmlich auf eine noch weiter zu prüfende „von der Untersuchungshaft ausgehende Zwangswirkung“ (§ 136a StPO)44 gestützt. Aber auch wenn die Wahrsagerin sich verschiede-
44 BGHSt 44, 137; an anderen Stellen wird nicht auf eine direkte, sondern entsprechende Anwendung des § 136a StPO Bezug genommen.
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ner dubioser Mittel bedient hatte, liegt der entscheidende Grund für die von ihr erlangten Geständnisse ersichtlich darin, dass sie den gefangenen Frauen versprochen hatte, ihnen als Gegenleistung für eine schriftliche Niederlegung des Tatherganges ein mildes Urteil oder einen Freispruch zu erwirken. Darauf haben die törichten Frauen vertraut, als sie ihr Geständnis ablegten. Ein deutlicherer Fall eines staatlich veranlassten Vertrauensmissbrauchs ist kaum vorstellbar, so dass es zur Begründung eines Verwertungsverbots nicht mehr darauf ankommt, ob die Wahrsagerin auch noch Drohungen ausgesprochen oder Mittel verabreicht hat, die zu einer analogen Anwendung des § 136a StPO Anlass geben könnten. i) Allein der Selbstgesprächs-Fall (BGHSt 40, 206 ff.) lässt sich mit dem Gedanken des Vertrauensmissbrauchs nicht erfassen. Das Krankenzimmer, in dem sich der Angeklagte befand, wird zwar als Wohnraum angesehen, durfte aber nach § 100c StPO unter den dort genannten Voraussetzungen („großer Lauschangriff“) abgehört werden, so dass kein Vertrauenstatbestand geschaffen wurde. Überträgt man den Fall auf die Zelle eines Untersuchungshäftlings, die nicht als Wohnraum betrachtet wird, so wäre eine Abhörung ggf. nach dem heutigen § 100f StPO zulässig. Hier liegt das Problem in der auch vom BGH in den Mittelpunkt seiner Erörterungen gerückten Frage, ob die Abhörung eines Selbstgesprächs in den durch die Menschenwürde geschützten „Kernbereich privater Lebensgestaltung“ eingreift. Daraus kann ein Verwertungsverbot erwachsen, das selbständig neben dem Verwertungsverbot steht, das durch staatlichen Vertrauensmissbrauch erzeugt wird. Der Kernbereichsschutz könnte auch in den Fällen diskutabel sein, in denen Ehegatten und Angehörigengespräche abgehört wurden. Diesem Problem soll daher eine eigene Erörterung gewidmet werden (nachfolgend III.). j) Die letzte von mir angeführte Entscheidung schließlich, in der ein Verdeckter Ermittler den in Strafhaft sitzenden Angeklagten nach diversen Besuchen und Ausgängen endlich zum Reden gebracht hatte (BGHSt 52, 11 ff.), beruft sich direkt auf die Verletzung des Nemo-tenetur-Grundsatzes und ist inhaltlich ein krasser Fall des Vertrauensmissbrauchs. Das spricht schon der erste Leitsatz des Urteils mit großer Klarheit aus: „Ein Verdeckter Ermittler darf einen Beschuldigten, der sich auf sein Schweigerecht berufen hat, nicht unter Ausnutzung eines geschaffenen Vertrauensverhältnisses beharrlich zu einer Aussage drängen und ihm in einer vernehmungsähnlichen Befragung Äußerungen zum Tatgeschehen entlocken.“ Zwar versucht der BGH an die Entscheidung des Großen Senats anzuknüpfen, der die Rechtsstaatswidrigkeit einer verdeckten Befragung für den Fall erwogen hatte, dass der Ausgehorchte „zuvor in einer Vernehmung aus-
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drücklich erklärt hatte, keine Angaben zur Sache machen zu wollen“45. Auch der EGMR hatte in der Entscheidung Allan vs. Großbritannien diesen Gesichtspunkt immerhin erwähnt.46 Der Senat macht aber deutlich, dass die frühere Berufung auf das Schweigerecht unerheblich wäre, wenn der Angeklagte „von sich aus“47 Äußerungen zum Tatgeschehen gemacht hätte. „Gegen eine Verwertung solcher Erkenntnisse werden in der Regel auch dann keine Bedenken bestehen, wenn der Beschuldigte sich vorher ausdrücklich für das Schweigen entschieden und dies erklärt hat.“ Entscheidend war also allein die Ausnutzung des vorgetäuschten Vertrauens. Entsprechendes gilt für das Bemühen des Senats, sich auch noch an den Fall des Spitzels in der Zelle anzuschließen (BGHSt 34, 362) und das Handeln des Verdeckten Ermittlers als Zwang zu deuten.48 „Auch wenn die zur Aufdeckung seiner Täterschaft führende Befragung letztlich außerhalb der Justizvollzugsanstalt während eines Hafturlaubs stattfand, war die Entscheidungsfreiheit des Angeklagten so stark eingeschränkt, dass seine Situation der besonderen Zwangssituation eines Untersuchungshäftlings nahekam, dem ein Polizeispitzel in die Zelle gelegt wird …“ Abgesehen davon, dass schon der Spitzel auf der Zelle keinen Zwang ausgeübt hatte, fehlt es bei einem Hafturlaub ebenso an Zwangsmomenten wie an einer Ähnlichkeit mit dem Spitzelfall. Der BGH stützt seine Zwangshypothese allein auf den Umstand, dass der Ermittler den Beschuldigten mit der Ankündigung zu Angaben drängte, „sonst die für den Angeklagten einzige Beziehung in der Welt außerhalb der Vollzugsanstalt abzubrechen“ 49. Da jeder verkehren kann, mit wem er will, ist aber der Rückzug aus einer Beziehung kein Zwang. Es war vielmehr so, dass die aufgebaute Vertrauensbeziehung durch ihre Benutzung als Druckmittel missbraucht wurde. Auch der vermeintliche Zwang führt also auf den Gedanken des Vertrauensmissbrauchs zurück. Dass der BGH, statt sich auf diesen Umstand zu berufen, den Fall nun doch wieder an § 136a StPO heranrückt, ist umso verwunderlicher, als er wenige Seiten zuvor gerade die Unvergleichbarkeit mit den dort behandelten Situationen hervorhebt:50 „Mit der Beeinträchtigung der Willensentschließungsfreiheit“ durch die in § 136a StPO genannten Mittel lasse „sich eine verdeckte Befragung des Beschuldigten nicht vergleichen.“
45 46 47 48 49 50
BGHSt 42, 155. StV 2003, 260. Hier und im Folgenden BGHSt 52, 22. BGHSt 52, 23. BGHSt 52, 23. BGHSt 52, 16.
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3. Zur Rechtsgrundlage des Verwertungsverbots Es zeigt sich also, dass alle von der Rechtsprechung bei heimlichen Aushorchungen in der Untersuchungshaft angenommenen Verwertungsverbote sich – vorbehaltlich der Kernbereichsfälle – auf den Gesichtspunkt des staatlich veranlassten Vertrauensmissbrauchs zurückführen lassen. Das gilt für Abhörungen ebenso wie für die Hervorlockung persönlicher Mitteilungen im Wege der Ausfragung. Dieses Lösungsmodell greift sogar, wie der zuletzt behandelte Fall des Verdeckten Ermittlers zeigt, über die Untersuchungshaft hinaus und empfiehlt sich als Entscheidungskriterium für alle auf staatliche Veranlassung im Dienste strafrechtlicher Ermittlungen vorgenommenen Aushorchungen, wo immer sie stattgefunden haben und wer immer sie durchgeführt hat (sei es ein Verdeckter Ermittler, ein V-Mann, ein Polizist, ein Vollzugsbediensteter oder ziviler Augenblickshelfer). Mit Hilfe dieses Kriteriums ließen sich die Aushorchungsfälle trotz der sehr unterschiedlichen Sachgestaltungen nach einem einheitlichen Maßstab lösen, der die verwirrend vielfältigen Begründungen der Rechtsprechung ersetzen könnte und doch deren Ergebnisse im Wesentlichen bestätigen würde. Als oberste Rechtsgrundlage bietet sich in Übereinstimmung mit der jüngsten Abhörentscheidung der Grundsatz des fairen Verfahrens an, der sich einerseits aus der Verfassung begründen lässt (Art. 1, 20 Abs. 3 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG), andererseits durch Art. 6 Abs. 1 EMRK aber auch im europäischen Recht verankert ist. Denn unbestreitbar ist die Erlangung von Informationen durch staatlich veranlassten Vertrauensmissbrauch ein Prototyp unfairen Verhaltens im Strafverfahren. Der Grundsatz des fairen Verfahrens hat verschiedene Ausprägungen, unter denen bei der Sachverhaltsermittlung der Nemo-tenetur-Satz eine herausragende Rolle spielt: Er trägt – neben dem Gesichtspunkt der Menschenwürde – § 136a StPO i.V.m. § 163a Abs. 4 S. 2 StPO, aber auch das Schweigerecht von Beschuldigten und Zeugen (§§ 136 Abs. 1 S. 2–4, 163a Abs. 3 und 4 StPO) und last not least das Verbot der Informationsbeschaffung durch vertrauensmissbräuchliche, staatlich veranlasste Aushorchungen. Die Berufung auf das Gebot eines fairen Verfahrens und auf den Nemotenetur-Grundsatz weist aus dieser Sicht also nicht auf zwei alternative Begründungsmöglichkeiten hin, wie noch in BGHSt 52, 21 angedeutet wird,51 sondern der Nemo-tenetur-Grundsatz ist eine Folgerung aus dem Gebot des fairen Verfahrens. 51 Hier ist die Rede von Beschränkungen für die Ermittlungsbehörden, „sei es unmittelbar aus dem Nemo-tenetur-Grundsatz, sei es aus den mit Blick auf ihn zu stellenden Anforderungen an ein faires, rechtsstaatliches Verfahren“.
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So sieht das auch BGHSt 53, 305 und bringt damit einen beachtlichen Klarheitsgewinn. Nur folgt der Verstoß gegen die Grundsätze des fairen Verfahrens und das daraus abgeleitete Nemo-tentur-Prinzip nicht aus einer nirgends konkretisierten „Gesamtschau“, sondern aus dem Missbrauch einer durch bewusste staatliche Irreführung geschaffenen Vertrauenssituation. Engländer52 nimmt in seiner Stellungnahme zu BGHSt 53, 294 zwar ebenfalls einen Verstoß gegen das Prinzip des fairen Verfahrens an, sieht darin aber keine Verletzung des Nemo-tenetur-Grundsatzes, sondern ein venire contra factum proprium, dessen Unzulässigkeit er als eine weitere Ausprägung des Fairnessprinzips beurteilt. „Der Angeklagte hat … aus freien Stücken mit seiner Ehefrau über die Tat geredet … Seine täuschungsbedingte Fehlvorstellung bezieht sich allein auf die Vertraulichkeit dieses Gesprächs; diese fällt aber nicht in den Schutzbereich des Nemo-tenetur-Prinzips. Allerdings verstößt das Vorgehen der Ermittlungsbehörden gegen eine andere Ausprägung des Grundsatzes des fairen Verfahrens, nämlich das Verbot des venire contra factum proprium. Schaffen die staatlichen Organe für den Beschuldigten einen Vertrauenstatbestand, dürfen sie sich nicht zu seinen Lasten durch ihr späteres Handeln dazu in Widerspruch setzen.“ Ich denke jedoch, die Mühe, noch einen weiteren – aus dem Zivilrecht importierten – Grundsatz in das Fairnessprinzip zu integrieren, braucht man sich nicht zu machen. Denn das Entscheidende ist doch, dass der Angeklagte sich durch die Äußerungen gegenüber seiner Ehefrau unwillentlich vor den Ermittlungsbehörden selbst belastet hat. Dass der Anlass dazu in dem geschaffenen Vertrauenstatbestand lag, ist der Grund für die Unfairness der erschlichenen Selbstbelastung. Doch handelt es sich bei dieser Divergenz mehr um Begründungsnuancen, die am Ergebnis – Unverwertbarkeit wegen Vertrauensmissbrauchs – nichts ändern.
III. Die Unantastbarkeit des Kernbereichs privater Lebensgestaltung Dieser aus der Menschenwürde entwickelte Begrenzungsgrund für heimliche Aushorchungen ist bekanntlich für das BVerfG der Anlass gewesen, die ursprüngliche gesetzliche Regelung des „Großen Lauschangriffs“ für teilweise nichtig zu erklären.53 Er steht selbständig neben dem Verbot des Vertrauensmissbrauchs und gilt natürlich auch für Abhörungen in der Untersuchungshaft. Der BGH hat deshalb beim Fall der heimlichen Tonaufzeichnungen von Gesprächen in einem separaten Besucherraum (BGHSt 53, 294) neben der im Vertrauensmissbrauch liegenden Fairnessverletzung auch
52 53
Engländer JZ 2009, 1179. BVerfGE 109, 249 ff.; näher Roxin Böttcher-FS, 2007, S. 159 ff.
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die Kernbereichsproblematik untersucht.54 Auch der Selbstgesprächsfall (BGHSt 40, 206 ff.) würde, wenn er sich in der Zelle einer Untersuchungshaftanstalt abgespielt hätte, unter diesem Gesichtspunkt zu beurteilen sein (so, wie dies in concreto mit der Abhörung im Krankenhauszimmer geschehen ist). 1. Selbstgespräche Um mit dem letztgenannten Sachverhalt zu beginnen: Unter den Voraussetzungen des § 100f StPO darf grundsätzlich auch in einer Zelle oder im Besuchsraum einer U-Haftanstalt abgehört werden.55 Denn da beide Räumlichkeiten keine Wohnungen i.S.v. Art. 13 GG sind, geht es um die Aufzeichnung des außerhalb von Wohnungen nichtöffentlich gesprochenen Wortes. Soweit also solche Abhörungen zulässig sind und der Betroffene mit ihnen rechnen muss, liegt in der Aufzeichnung kein Missbrauch staatlich veranlassten Vertrauens. Die Aufzeichnung und Verwertung selbstbelastender Äußerungen ist aber trotzdem unzulässig, wenn sie in den Kernbereich privater Lebensgestaltung eindringt. Das muss auch für die Zelle oder den Besuchsraum einer Untersuchungshaftanstalt gelten, obwohl § 100f StPO den Kernbereichsschutz nicht erwähnt und auch nicht auf die für das Abhören in Wohnungen geltende Regelung des § 100c Abs. 4 StPO verweist. Denn da das BVerfG56 die Unantastbarkeit des Kernbereichs unmittelbar aus der Menschenwürde ableitet, muss sie unabhängig von jeder einfach gesetzlichen Positivierung respektiert werden. Es geht deshalb auch nicht, wie der BGH bei der Abhörung im separaten Besucherraum erwägt,57 um eine entsprechende Heranziehung der §§ 100c Abs. 4, 100a Abs. 4 StPO, sondern um eine direkte Anwendung des Grundgesetzes. Wenn der Gesetzgeber den Kernbereichsschutz in § 100f StPO nicht ausdrücklich erwähnt hat, so mag das darauf beruhen, dass ihm bei einer Abhörung außerhalb von Wohnungen eine Beeinträchtigung des Kernbereichs privater Lebensgestaltung nicht naheliegend zu sein schien. Das bedenkt immerhin auch der BGH, wenn er sagt,58 „dass der Gesetzgeber den – eher ungewöhnlichen – Fall der heimlichen Gesprächsüberwachung von Unersuchungsgefangenen … nicht im Blick hatte“. In der Sache war es richtig, das belastende Selbstgespräch unverwertet zu lassen. Denn zwar sind nach § 100c Abs. 4 S. 3 und 2 Gespräche über began54 55 56 57 58
BGHSt 53, 301 ff. Zum letztgenannten Fall BGHSt 53, 299. BVerfGE 109, 313 f. BGHSt 53, 301. BGHSt 53, 302.
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gene Straftaten „in der Regel nicht dem Kernbereich privater Lebensgestaltung zuzurechnen“. Aber diese „Regel“ kann gerade für Selbstgespräche nicht gelten, weil es sich dabei nicht um eine Kommunikation mit der Außenwelt, sondern um eine Selbstauseinandersetzung handelt, von der nach der Vorstellung des Betroffenen kein äußeres Zeugnis Kunde geben sollte. Insofern ist ein unwillkürliches Selbstgespräch noch enger zum Kernbereich gehörig als eine Tagebuchaufzeichnung, die das BVerfG59 in einer sehr umstrittenen und abzulehnenden Entscheidung dem Kernbereich nicht mehr zurechnen wollte. Es ist also dem 1. Senat in jeder Hinsicht zuzustimmen, wenn er mit den anfangs (I., 3., a) zitierten Sätzen60 den „höchstpersönlichen Charakter des Selbstgesprächs“ begründet und es dem Kernbereichsschutz unterstellt. 2. Gespräche mit Besuchern Nach dem Dargelegten müssen auch Gespräche mit Besuchern in der Untersuchungshaft, obwohl sie unter den Voraussetzungen des § 100f StPO grundsätzlich abgehört werden dürfen, dem Kernbereichsschutz unterliegen. Denn dieser ergibt sich, auch wenn er nicht bei allen einzelnen Eingriffsrechten in der StPO erwähnt wird, unmittelbar aus der Verfassung (Art. 1 GG). Beide vom BGH entschiedenen Fälle abgehörter Besuchsgespräche61 betrafen Gespräche mit Angehörigen, denen ein Zeugnisverweigerungsrecht nach § 52 StPO zustand; im letzten Fall handelte es sich sogar um Gespräche mit der Ehefrau. Es ließe sich daran denken, auch solche Gespräche dem Kernbereichsschutz zu unterstellen, weil die Angehörigen durch die Gesprächsaufzeichnung an der Belastung des Beschuldigten mitwirken und ihr Zeugnisverweigerungsrecht dadurch unterlaufen wird.62 Wenn man so weit nicht gehen will, könnte man wenigstens intime Geständnisse gegenüber nahen Angehörigen (Ehefrau, Eltern) dem Kernbereich zurechnen. Aber dem steht die Gesetzeslage entgegen. In beiden Fällen waren die begangenen Straftaten Gegenstand der abgehörten Gespräche. Das BVerfG hat Gespräche, die sich auf begangene Straftaten beziehen, vom Kernbereichsschutz ausgeschlossen,63 und der Gesetzgeber ist dem bei der Neuregelung des Großen Lauschangriffs gefolgt (§ 100 c Abs. 4 S. 2, 2 StPO). In beiden Fällen ließ sich auch eine „negative Kernbereichsprognose“ stellen, weil zu erwarten war, dass der Angeklagte mit seinen Angehörigen über die
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BVerfGE 80, 367, 376. BGHSt 50, 211. 61 BGHSt 44, 138 ff.; 53, 294 ff. 62 Vgl. nur die bedenkenswerten Überlegungen bei Duttge JZ 1999, 261 ff. (263); Zuck JR 2010, 17 ff. (18, Fn. 9; 21). 63 BVerfGE 109, 319. 60
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Straftat sprechen würde.64 Auch § 100 f Abs. 3 StPO spricht für die Zulassung einer Abhörung von Angehörigengesprächen, wenn er sagt: „Die Maßnahme darf auch angeordnet werden, wenn Dritte unvermeidbar betroffen werden.“ Hätten Angehörigen- oder auch nur Ehegattengespräche ausgenommen werden sollen, so hätte das gesagt werden müssen. Man wird also Angehörigengespräche nur dann von einer Überwachung in der Untersuchungshaft ausschließen können, wenn straftatrelevante Äußerungen nicht zu erwarten sind. Das wird immerhin nicht selten der Fall sein. Wenn der Angeklagte schon ein Geständnis abgelegt hat oder seine Täterschaft aus anderen Gründen feststeht und auch eine Fluchthilfe nicht in Betracht kommt, sollten Angehörigengespräche also unter dem Gesichtspunkt des Kernbereichsschutzes unüberwacht bleiben.
IV. Fazit Mein Ergebnis ist also, dass staatlich veranlasste Aushorchungen des Beschuldigten (sei es durch Tonbandaufnahmen, durch persönliches Horchen oder durch direkte Befragungen) unzulässig sind und einem Verwertungsverbot unterliegen, wenn sie sich als staatlich veranlasster Vertrauensmissbrauch darstellen oder den Kernbereich privater Lebensgestaltung antasten. Ich habe das am Beispiel der in der Praxis besonders häufigen Aushorchungen in der Untersuchungshaft dargestellt. Es gilt aber, wie ich an „Parallelfällen“ zu zeigen versucht habe, auch darüber hinaus. Damit schließe ich meinen Beitrag, den ich Klaus Geppert, dem verehrten Kollegen, mit den herzlichsten Glückwünschen zum 70. Geburtstag darbringe. Wir beide haben stets in besonders netten, ich möchte sagen, freundschaftlichen Beziehungen zueinander gestanden. Ich wünsche mir, dass diese kollegiale Verbundenheit immer erhalten bleibt und dass Klaus Geppert bei unverminderter Gesundheit und Schaffenskraft unsere Wissenschaft noch viele Jahre lang durch wertvolle Abhandlungen bereichern kann!
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So im Fall BGHSt 53, 294 ff. auch der 1. Senat (302, 303).
Klaus Geppert im Spiegel der „JURA“* Helmut Satzger A. Einleitung Will man das Wirken Klaus Gepperts im Rahmen einer Festschrift angemessen würdigen, so darf – neben seinen zahlreichen Verdiensten als innovativer Wissenschaftler, engagierter Hochschullehrer und Prüfer sowie als erfahrener Richter – ein Aspekt seines Schaffens nicht unberücksichtigt bleiben, durch den er für Generationen von Jurastudierenden zu einem der bekanntesten deutschen Strafrechtslehrer geworden ist und durch den letztlich auch mir während der vergangenen fünf Jahre eine enge, harmonische und fruchtbare Zusammenarbeit mit dem Jubilar vergönnt war: Gemeint ist Gepperts Wirken als langjähriger Mitherausgeber und ständiger Autor der Ausbildungszeitschrift Juristische Ausbildung, kurz JURA, die jedem angehenden und auch gestandenen Juristen ein Begriff ist. Nicht nur bei meinem herausgeberischen „Einstieg“ bei der JURA, sondern auch bei unseren regelmäßigen Telefonaten und Treffen rund um die kontinuierlich anfallenden redaktionellen und konzeptionellen Aufgaben beeindruckte mich der Jubilar durch sein enormes Engagement, sein Fingerspitzengefühl für „gute Themen“ und seinen souveränen Blick für Qualität. Eingereichte Manuskripte werden von ihm daher umgehend bearbeitet, Uneinigkeiten über die Annahme von Publikationen gab es kaum und wenn doch, ließen sie sich schnell ausräumen. Seine Urteilsbesprechungen auf den bekannten „blauen Karteikarten“, von denen der Jubilar – nebenbei bemerkt – weit über 750 verfasst hat, liefert er stets zu den fest vorgeschriebenen Terminen, eine Leistung, die ich angesichts eigener Erfahrungen nur bewundern kann. Seine Karteikärtchen fasst Geppert stets in einem unnachahmlichen Stil ab, mit leichter, geradezu lockerer Sprache, die deren Lektüre – abgesehen von ihrem nicht zu unterschätzenden wissenschaftlichen Anspruch und dem definitiv nicht zu leugnenden didaktischen Nutzen – zum Genuss werden lässt. Mir gegenüber betonte er stets den hohen Stellenwert, den die Ausbildung junger Juristen und sein Engagement im Rahmen einer Ausbildungszeitschrift für ihn haben. * Für die vielfältigen Recherche- und unterstützenden Arbeiten bin ich meinem wissenschaftlichen Mitarbeiter Herrn Rechtsreferendar Felix Walther zu großem Dank verpflichtet.
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Er hob hervor, dass seine Aktivität für die JURA für ihn nicht nur in zeitlicher Hinsicht einen wesentlichen Teil seines Professorenlebens darstellt, auf den er mit berechtigtem Stolz zurückblicken darf.
B. Überblick über das literarische Schaffen Gepperts für die JURA Als der zweite Strafrechtler im Team der Herausgeber der JURA ist es mir ein Anliegen, das breite, vielfältige Engagement für die Ausbildung(sliteratur) und seine weit über rein didaktische Zwecke hinausreichende Bedeutung an dieser Stelle einmal hervorzuheben und eine „tour d’horizon“ der Publikationen Gepperts in der JURA zu unternehmen. Natürlich sind die Beiträge derart vielfältig und umfangreich, dass eine erschöpfende Darstellung kaum möglich erscheint. Allein über 80 JURA-Aufsätze – von A wie „Die Amtsdelikte (§§ 331 ff. StGB)“ in JURA 1981, 42 ff., 78 ff. bis zu V wie „Die Volltrunkenheit (§ 323a StGB)“ in JURA 2009, 40 ff., daneben die bereits erwähnten ca. 750 Urteilsbesprechungen auf Karteikarten seit 1980 – dies alles spricht für sich. Der folgende Beitrag beschränkt sich deshalb notgedrungen auf ausgewählte Veröffentlichungen zu Themenbereiche, zu denen sich Geppert besonders häufig und profund geäußert hat.
I. Konkurrenzen Im Bereich des Allgemeinen Teils bildet die Konkurrenzlehre einen Schwerpunkt des wissenschaftlichen Interesses Klaus Gepperts. Diesem Themengebiet widmete er in JURA 1982, 358 ff. und 418 ff. einen zweiteiligen Aufsatz. Anders als die Einordnung in die Rubrik „Repetitorium“ vermuten lässt, handelt es sich hierbei nicht etwa um eine bloße Kurzzusammenfassung der Lehrbuchliteratur zu diesem Themenfeld. Vielmehr verbindet der Autor didaktischen Anspruch und wissenschaftlichen Tiefgang zu nicht weniger als einem echtem Kompendium der strafrechtlichen Konkurrenzlehre – auf insgesamt über 25 Textseiten! Wenn der Jubilar selbst zu Beginn der Aufsatzreihe anmerkt, das Recht der Konkurrenzen werde von den Studenten „als besonders ‚spröde‘ und ‚trocken‘ empfunden“1, so ist dies sicher richtig. Allerdings dürfte er mit seinen Beiträgen sicherlich erheblich zum Abbau dieser (Vor-)Urteile beitragen. Die beiden Aufsatzteile bestechen – auch und besonders im Rückblick – nicht nur durch ihre sprachliche Klarheit. Es gelingt dem Autor zudem, anhand von 47 (!) Beispielsfällen die komplexe Materie anschaulich darzustel-
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Geppert JURA 1982, 358; ebenso ders. JURA 2000, 598.
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len. So verfällt Geppert auch nie der Verlockung, die Zielgruppe mit der überbreiten Darstellung literarischer Minderpositionen zu verschrecken, gibt aber doch einer kritischen Auseinandersetzung mit der „herrschenden Meinung“ ausreichend Raum. Besondere Hervorhebung verdienen in diesem Zusammenhang Gepperts kritische Anmerkungen zur Rechtsfigur der sog. „fortgesetzten Tat“2 – bemerkenswerterweise gegen eine zu jener Zeit ständige höchstrichterliche Rechtsprechung.3 So weist Geppert nicht nur darauf hin, dass für jenes Stück richterlicher Rechtsfortbildung „im Gesetz an sich jeglicher Anhalt fehlt“. Ebenso macht der Jubilar auf die mit der Annahme von Tateinheit qua fortgesetzter Handlung einhergehenden Wertungswidersprüchlichkeiten aufmerksam, führte sie doch dazu, dass der Täter, der mehrere strafbare Einzelhandlungen (im natürlichen Sinne) mit einem umfassenden „Gesamtvorsatz“ beging, besser stand als ein Gelegenheitskrimineller, der einzelne Handlungen jeweils aus einem spontanen Willensentschluss heraus beging.4 Gepperts Skepsis gegenüber dieser Rechtsfigur wird umso deutlicher in seinem weiteren in der JURA erschienenen Überblicksaufsatz5 über „Die ‚fortgesetzte Tat‘ im Spiegel jüngerer Rechtsprechung und neuerer Literatur“. Der Verfasser zeichnet nicht nur in der ihm eigenen didaktischen Klarheit anschaulich nach, wie sich mit Hilfe der „fortgesetzten Tat“ die Verjährung eines Delikts beinahe beliebig nach hinten verschieben lässt. Mit verständlicher Sorge konstatiert er eine „zunehmende Unsicherheit in der Rechtsanwendung durch die Untergerichte“6, die „insoweit ersichtlich die Orientierung verloren haben“7. Der Zufall mochte es, dass nach Abschluss des Manuskripts zwei Vorlagebeschlüsse an den Großen Strafsenat ergingen. Geppert ließ es sich hier natürlich nicht nehmen, die beiden Beschlüsse in einem „Anhang“ einer ersten Würdigung zu unterwerfen und nochmals mit einer gewissen Vehemenz auf die Dringlichkeit einer Klärung der offenen Fragen um die fortgesetzte Tat hinzuweisen („Die Zeit dafür ist überreif!“8). Die Aufgabe dieser Rechtsfigur durch die folgende „Jahrhundertentscheidung“9 des Großen Strafsenats im Jahre 1994 – BGHSt 40, 13810 – dürfte denn auch ganz im Sinne Gepperts gewesen sein. Jedenfalls konnte der Jubilar in einem „Update“ seines konkurrenzrechtlichen Kompendiums, als zweibändiger Aufsatz erschienen in der Rubrik „Wiederholung/Vertiefung“ in 2
Geppert JURA 1982, 358 (363 ff.) Neben den Grundsatzentscheidungen RGSt 40, 223; 70, 243 vgl. nur BGHSt 2, 163 (167); 17, 157 (158); 35, 318 (323). 4 Geppert JURA 1982, 358 (367). 5 Geppert JURA 1993, 649 ff. 6 Geppert JURA 1993, 649. 7 Geppert JURA 1993, 649 (650). 8 Geppert JURA 1993, 649 (654). 9 Hamm NJW 1994, 1636. 10 Hierzu Geppert NStZ 1996, 57 ff., 118 ff. 3
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JURA 2000, 598 ff. und 651 ff., wohl nicht gerade unzufrieden feststellen, die Rechtsfigur sei „dogmatisch tot“11, was „die Strafrichter zum radikalen Bruch mit einer nachgerade liebgewordenen alten Betrachtungsweise“12 nötige. Auch in den Jurakarteikarten äußerte sich der Jubilar mehrmals zu konkurrenzrechtlichen Fragestellungen.13 Sein besonderes Interesse scheinen hierbei Möglichkeit und Grenzen der Klammerwirkung eines Dauerdelikts, welches zwei selbstständige Taten zu einer tateinheitlichen Tat verbindet, herausgefordert zu haben. So finden wir eine Besprechung14 zur Entscheidung BGHSt 31, 29, in der der BGH eine Verklammerung auch dann zuließ, wenn eines der verklammerten Delikte schwerer wiegt als die verklammernde Straftat. Besonders deutliche Skepsis ist Geppert verständlicherweise anzumerken in seiner Karteikarte15 zu BGH 4 StR 435/82 = VRS 65 (1983), 133. Hier ließ der 4. Strafsenat nach dem in dubio-Satz sogar einem nicht erwiesenen Dauerdelikt verklammernde Wirkung zukommen. Die Folge, dass der Senat beim Schuldspruch und der Strafzumessung aber wiederum das verklammernde Delikt nach dem Zweifelssatz außen vor lassen musste, verleitete Geppert dabei zu der süffisanten Aussage, man komme doch „hinsichtlich der Zweckhaftigkeit dieser Rechtsfigur zumindest ins Grübeln“. Eine weitere Auseinandersetzung mit der Verklammerung findet sich in JK 99, StGB § 52/11, wo Geppert eindrücklich auf die häufig unterschätzten prozessualen Konsequenzen dieser Rechtsfigur hinweist. Denn die Rechtsprechung verbindet bei Annahme materiellrechtlicher Tateinheit infolge Verklammerung alle idealiter konkurrierenden Taten zu einer „Tat“ im prozessualen Sinn. Wie Geppert ganz zutreffend anmerkt, kann ein Straftäter demzufolge Straffreiheit für alle (auch vorerst unbekannt gebliebenen) Taten gewinnen, die er im Verlauf des verklammernden Dauerdelikts begangen hat. Einen naheliegenden Schritt vollzog der Autor schließlich, als er in JURA 1997, 214 ff. in der Rubrik „Examinatorium“ einen Beitrag „Zur Rechtsfigur der ‚Tateinheit durch Verklammerung‘“ publizierte. Denn – wie zur Einführung angemerkt wird – es „scheinen die Strafgerichte mit diesem Rechtssatz offenbar ähnlich große Schwierigkeiten zu haben wie nach aller meiner Erfahrung Übungsteilnehmer und Examenskandidaten bei Lösung ihrer Fälle“16. Geppert verweist in diesem Zusammenhang nochmals auf seine,
11
Geppert JURA 2000, 598 (603). JURA 2000, 598 (599). 13 S. nur Geppert JK 83, StGB § 52/2; JK 96, StGB § 52/8; JK 96, StGB § 52/9; JK 98, StGB § 52/10; JK 11/09, StGB § 52/14; JK 5/10, StGB § 240/24. 14 Geppert JK 83, StGB § 52/1. 15 Geppert JK 84, StGB § 52/3. 16 Geppert JURA 1997, 214. 12
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nach eigener Aussage17 im Laufe der Jahre deutlich gewachsene Skepsis gegenüber dieser „heiklen“ und „wohl insgesamt doch bedenklichen“ Rechtsfigur und ihrer „eigenartigen Entwicklung“ in der Rechtsprechung.
II. Straßenverkehrsdelikte Weithin bekannt ist Gepperts praktischer Erfahrungsschatz und sein wissenschaftliches Interesse im Hinblick auf das Verkehrsstrafrecht. Erfreulicherweise hat der Jubilar seine Expertise immer wieder auch den Studierenden und Lesern der JURA im Rahmen didaktischer Fachbeiträge zur Verfügung gestellt. Mit dem – in den Worten des Jubilars – „fürwahr nicht geglückten Straftatbestand“ des räuberischen Angriffs auf Kraftfahrer (§ 316a StGB) befasste sich ein ausführlicher (sechs Seiten umfassender) Aufsatz aus dem Jahre 1995.18 In rechtspolitisch ambitionierter, aber immer anschaulicher Art und Weise erläutert Geppert nicht nur die zweifelhafte Entstehungsgeschichte dieser auf das nationalsozialistisch geprägte „Autofallengesetz“19 zurückgehenden Vorschrift. Aufgezeigt werden auch diverse Ansatzpunkte für eine, nicht nur nach Ansicht des Jubilars, dringend gebotene restriktive Auslegung der Vorschrift. Mit besonderer Freude dürfte Geppert daher die Rechtsprechungswende des BGH in BGHSt 49, 8 zur Kenntnis genommen haben, findet sich darin doch auch ein ausdrücklicher Hinweis auf „Geppert JURA 1995, 310 f.“20. Er ließ sich die Gelegenheit nicht nehmen, diese Entscheidung „zu verkarten“ und brachte – kaum verwunderlich – seine „nachdrückliche Zustimmung“ zum Ausdruck.21 Eine Entscheidung des 4. Strafsenats 22 aus dem Jahr 1995 war Anlass für einen Examinatoriumsaufsatz Gepperts „Zu examensrelevanten Fragen im Rahmen alkoholbedingter Straßenverkehrsgefährdung (§ 315c Abs. 1 Nr. 1a StGB) durch Gefährdung von Mitfahrern“23. Hier hatte der Senat – wiederum einer stetigen Forderung Gepperts entsprechend24 – von seiner früheren Rechtsprechung Abstand genommen, wonach die konkrete Gefährdung des Mitfahrers allein durch die alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit des Fahrers eintrete.25 Der Verfasser beschränkt sich nicht nur auf ein Lob. Weiterfüh17 18 19 20 21 22 23 24 25
Geppert JURA 1997, 214 (215 Fn 22). Geppert JURA 1995, 310 ff. Gesetz gegen Straßenraub mittels Autofallen (RGBl. I 1938, S. 651). BGHSt 49, 8 (10). Geppert JK 5/04, StGB § 316a/6. BGH NStZ 1996, 83. So der Titel des in JURA 1996, 47 ff. erschienenen Beitrages. Geppert NStZ 1985, 264 (265); 1989, 320 (322); ders. JK 89, StGB § 315c/1. So noch BGH NStZ 1985, 263; NStZ 1989, 73 f.
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rend sind vielmehr seine Aussagen zur Frage des Schutzes tatbeteiligter Mitfahrer. Gegen die hM,26 aber mit guten Gründen, sieht Geppert hierin einen Anwendungsfall der einverständlichen Fremdgefährdung, der nach den Regeln der objektiven Zurechnung zu lösen sei.27 Legion sind die verkehrsstrafrechtlichen Entscheidungsbesprechungen des Jubilars in den JURA-Karteikarten. Von den zwischen 1980 und 2010 erschienenen einschlägigen Rezensionen28 verdient die Auseinandersetzung Gepperts mit zwei hoch aktuellen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu den verfassungsrechtlichen Grenzen einer extensiven Auslegung im Verkehrsstrafrecht Beachtung: Die erste Entscheidung betraf mit § 142 StGB eine Vorschrift, zu der Geppert nicht nur die maßgebliche Kommentierung im Leipziger Kommentar vorgelegt hat, sondern die er auch bereits im Jahre 1990 in einem achtseitigen JURA-Beitrag 29 umfassend dargestellt hatte. Nun hatte die 1.Kammer des Zweiten Senats in einem Beschluss vom 19.3.200730 mit einem Hinweis auf das Analogieverbot des Art. 103 II GG handstreichartig die jahrzehntelange Praxis der Rechtsprechung 31 beendet, wonach unter ein „berechtigtes oder entschuldigtes“ Entfernen vom Unfallort iSv § 142 II Nr. 2 StGB auch ein unvorsätzliches Entfernen fallen könne. Geppert stellt in seinen dem BVerfG zustimmenden Ausführungen in JK 8/07, StGB § 142/2332 nicht nur die Geltung des Analogieverbots für das Verkehrsstrafrecht heraus, sondern macht darüber hinaus deutlich, dass eben kein vermeintlich noch so dringliches kriminalpolitisches Bedürfnis die verfassungsrechtlichen Schranken des Einsatzes des Strafrechts überwinden könne. Freilich hatten die Verfassungsrichter ein Hintertürchen offengelassen, wonach durch eine extensive Auslegung des Begriffs des Unfallorts auch bei 26
BGHSt 6, 100 (102); 23, 261; BGH NStZ 1992, 233; NJW 2009, 1155 (1157). Geppert JURA 1996, 47 (49 f.). 28 Zu § 315b StGB: JK 85, StGB § 315b/3; JK 82, StGB § 315b/2; JK 91, StGB § 315b/4; JK 95, StGB § 315b/5; JK 96, StGB § 315b/5; JK 98, StGB § 315b/7; JK 98, StGB § 315b/8; JK 11/03, StGB §315b/9; JK 11/04, StGB § 315b/10; JK 7/06, StGB § 315b/11; zu § 315c StGB: JK 89, StGB § 315c/1; JK 89, StGB § 315c/2; zu § 316 StGB: JK 80, StGB § 316/1; JK 87, StGB § 316/3; JK 89, StGB § 316/4; JK 91, StGB § 316/5; JK 99, StGB § 316/6; JK 10/04, § 316/7; zu § 316a StGB: JK 80, StGB § 316a/1; JK 86, StGB § 316a/2; JK 91, StGB § 316a/3; JK 92, StGB § 316a/4; JK 01, StGB § 316a/5; JK 5/04, StGB §316a/6; JK 1/06, StGB § 316a/7; JK 7/08, StGB § 316a/8; zu § 142 StGB: JK 80, StGB § 142/4; JK 82, StGB § 142/5; JK 83, StGB § 142/6; JK 84, StGB § 142/8; JK 85, StGB § 142/10; JK 87, StGB § 142/12; JK 89, StGB § 142/13; JK 90, StGB § 142/14; JK 90, StGB § 142/15; JK 90, StGB § 142/16; JK 91, StGB § 142/17; JK 92, StGB § 142/18; JK 01, StGB § 142/19; JK 7/02, StGB § 142/20; JK 11/02, StGB § 142/21; JK 02/04, StGB § 142/22; JK 8/07, StGB § 142/23; JK 8/08, StGB § 142/24. 29 Geppert JURA 1990, 78 ff. 30 BVerfG NJW 2007, 1666. 31 Seit BGHSt 28, 129. 32 Vgl. daneben auch Geppert DAR 2007, 380. 27
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späterer Kenntniserlangung in gewissen Grenzen noch die Bejahung eines vorsätzlichen Entfernens und daher eine Strafbarkeit nach § 142 I StGB möglich sein sollte. Dass die obergerichtliche Rechtsprechung diesen – in der Sache wenig überzeugenden – Weg nicht zu gehen bereit war, konnte Geppert alsbald in seiner zustimmenden JURA-Karteikarte33 zu einer Entscheidung des OLG Düsseldorf 34 anmerken. Eine ganz ähnliche strafrechtsdogmatische Ausgangsposition liegt Gepperts Entscheidungsbesprechung in JK 4/09, StGB § 113/7 zu Grunde, wo es zwar um einen anderen Tatbestand – nämlich § 113 StGB – ging, jedoch auch das Kfz eine besondere Bedeutung erlangte: Das BVerfG hatte sich in einem Kammerbeschluss35 mit der gerichtlichen Auslegungspraxis36 zu befassen, wonach der Begriff der „Waffe“ in der Strafzumessungsvorschrift des § 113 II 2 Nr. 1 StGB in einem „nichttechnischen“ gefährliche Werkzeuge und insbesondere (bei entsprechender Verwendungsabsicht) auch Kraftfahrzeuge umfassenden Sinne zu verstehen sei. Das BVerfG betonte – unter Beifall Gepperts – die grundsätzliche Geltung des Analogieverbots auch für strafschärfende bloße Strafzumessungsregeln und erklärte folglich die bis dahin gefestigte Handhabung des Regelbeispiels in § 113 II 2 Nr. 1 StGB für unvereinbar mit Art. 103 II GG. Es ist sicher richtig, dass das Analogieverbot für die Strafzumessungsebene eine andere Bedeutung und ein geringeres Gewicht als auf Tatbestandsebene zeitigen muss. Ganz zutreffend weist Geppert aber darauf hin, dass gerade durch diese Entscheidung deutlich werde, dass „die Erstreckung des Analogieverbotes auf Strafzumessungsregeln nicht viel wert“ sei, wenn das Verfassungsgericht einen einfachen Weg für Erweiterungen über den Wortlaut der Regelbeispiele hinaus aufzeigt, nämlich diese als unbenannten schweren Fall einzustufen. Damit wird das BVerfG – wie Geppert richtig kritisiert – dem Charakter der Regelbeispiele nicht hinreichend gerecht. Sind die Voraussetzungen der Regelbeispiele nicht gegeben, so kann zwar gleichwohl ein besonders schwerer Fall angenommen werden; jedoch muss dazu ein deutlich erhöhter Begründungsaufwand des Tatrichters geleistet werden. So hat er doch die (umgekehrte) Indizwirkung zu überwinden, nach der immer dann, wenn kein Regelbeispiel erfüllt ist, grundsätzlich auch kein besonders schwerer Fall vorliegt.
33 34 35 36
Geppert JK 8/08, StGB § 142/24. OLG Düsseldorf NStZ-RR 2008, 88. BVerfG NStZ 2009, 83. BGH VRS 44, 422; BGHSt 26, 176; OLG Düsseldorf NJW 1982, 1111.
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III. Strafprozessuales Beweisrecht Der Jubilar ist nicht nur in seiner Eigenschaft als Wissenschaftler, sondern auch wegen seiner langjährigen Funktion als Praktiker ein anerkannter Kenner des Prozessrechts. Mit seiner bis heute grundlegenden Freiburger Habilitationsschrift zum Thema „Der Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren“ hat er dies ebenso unter Beweis gestellt wie durch seine Tätigkeit als Richter im zweiten Hauptamt am Kammergericht. Strafprozessuale Ausbildungsbeiträge waren dem Jubilar daher ebenso ein zentrales Anliegen wie die regelmäßige Berücksichtigung prozessualer Entscheidungen bei den Urteilsbesprechungen im Rahmen der JURA-Karteikarten. In den vielen Jahren ist dabei ein bunter und üppiger Strauß an StPO-Beiträgen aus allen irgendwie prüfungsrelevanten Bereichen entstanden. Neben Aufsätzen zur freien Beweiswürdigung gemäß § 261 StPO37, den verschiedenen in der StPO vorgesehenen Festnahmerechten38, der „Amtsaufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) und Aufklärungsrüge im Strafprozess“39 sowie dem Opportunitäts-40 und dem Legalitätsprinzip41 ragen vor allem die Beiträge zu Fragen des Beweisrechts hervor. Weit über eine reine „Wiederholung/Vertiefung“ (so der Titel der Rubrik, in der die Beiträge veröffentlicht wurden) gehen dabei insbesondere die Aufsätze über die einzelnen (Streng-)Beweismittel der StPO hinaus. Neben Beiträgen zum Sachverständigenbeweis (JURA 1993, 249 ff.) und dem Augenscheinsbeweis (JURA 1996, 307 ff.) beschäftigt sich Geppert ausführlichst mit dem Zeugenbeweis. Mit dem Beitrag „Der Zeugenbeweis“ (JURA 1991, 80 ff., 132 ff.) legte Geppert wiederum ein echtes Kompendium (insgesamt neunzehn Heftseiten!) zu diesem – in seinen Worten – „eher problematischen Beweismittel“42 vor. Seinem umfassenden Ansatz entsprechend geht der Jubilar nicht nur auf den Begriff und die formale Stellung des Zeugen ein – besonders lesenswert ist dabei übrigens die „Abgrenzung zu den anderen Beweismitteln“ –, sondern beschäftigt sich ebenso anschaulich mit den Pflichten, aber auch den (Zeugnis- und Aussageverweigerungs-)Rechten des Zeugen. Im Hinblick auf den zuletzt genannten Aspekt konnte Geppert an Überlegungen zur Reichweite des § 252 StPO anknüpfen, die er bereits 1988 in der JURA (305 ff., 363 ff.) in einem zweiteiligen Aufsatz auf neunzehn (!) Seiten dargelegt hatte. Mahnend erhebt er einleitend den „didaktischen Zeigefinger“ und weist den Leser mit Recht darauf hin, dass den Prüfern mit § 252 StPO
37 38 39 40 41 42
Geppert JURA 2004, 105 ff. Geppert JURA 1991, 269 ff. Geppert JURA 2003, 255 ff. Geppert JURA 1986, 309 ff. Geppert JURA 1982, 139 ff. Geppert JURA 1991, 80.
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„eine schier nie versiegende Quelle für strafprozessualen Prüfungsstoff“43 zur Verfügung steht. Umso erbaulicher und studentenfreundlicher ist es dann aber, dass Geppert in seinem Beitrag die „Examensprobleme“ identifiziert, sich hierauf konzentriert und diese mit Hilfe von siebzehn Fallbeispielen aus der Rechtsprechung auch überaus anschaulich darstellt. Inhaltlich ist nicht nur die fundierte Begründung, mit der Geppert die von der Rechtsprechung44 propagierte Einschränkung des aus § 252 StPO folgenden Beweisverwertungsverbots bei richterlichen Vernehmungspersonen ablehnt,45 hervorzuheben. Daneben beeindruckt auch und vor allem wieder der umfassende, aber doch didaktisch klare Ansatz, mit dem sich der Jubilar den im Rahmen des § 252 StPO relevanten Fragen (zB Verwertbarkeit von Äußerungen in amtlichen und privaten „Verhören“ sowie von Verlesungen und Vorhalten von bzw aus Schriftstücken). In vielen Karteikarten in der Folgezeit hat Geppert die Chance genutzt, die Studierenden immer wieder über die fortschreitende wissenschaftliche Diskussion und die Rechtsprechungsentwicklung zu informieren. Er hat sich dieses Thema im Rahmen der JURA wirklich „zu eigen“ gemacht, sämtliche in den Karteikarten zu § 252 StPO veröffentlichten Besprechungen stammen konsequenterweise aus seiner Feder. Eindeutig positioniert sich Geppert im Hinblick auf den Vernehmungsbegriff des § 252 StPO. Seine Prämisse ist dabei restriktiv und klar: § 252 StPO soll dem angehörigen Zeugen nicht jede seelische Belastung ersparen, die daraus folgt, dass er durch eine eigene Äußerung zur Bestrafung eines Angehörigen mitbeitragen könnte. Lediglich die Konflikte, die in seiner prozessualen Zeugenrolle (Aussagepflicht, Wahrheitspflicht) begründet sind, nimmt die Vorschrift in den Blick.46 Aus dieser Perspektive konsequent plädiert Geppert für Vorsicht bei einer Ausdehnung des Anwendungsbereichs der Vorschrift über „echte“ Vernehmungen hinaus. Dementsprechend begrüßt47 er die Ablehnung einer „Aussage“ durch die Rechtsprechung48 bei Strafanzeigen und diese erläuternde Bekundungen gegenüber Polizeibeamten und äußert sich auch zustimmend zur Bejahung einer „Aussage“ vor Amtspersonen der Jugendgerichtshilfe49. Er kritisiert aber doch, dass die Rechtsprechung 50 § 252 StPO auch bei freiwilligen Angaben gegenüber einem Verteidiger anwenden will.51 43
Geppert JURA 1988, 305 (306). S. insoweit nur BGHSt 2, 99 ff.; 21, 218 f. 45 Geppert JURA 1988, 305 (306 ff.); ebenso etwa Beulke StPO, 11. Aufl. Rn 420. 46 Geppert JURA 1988, 363 (366). 47 Besprechung Geppert JK 87, StPO § 252/4. 48 BGH NStZ 1986, 232. 49 BGH NJW 2005, 765. 50 BGHSt 46, 1; dem BGH zustimmend etwa Beulke 11. Aufl. StPO Rn 420a; Volk JuS 2001, 130. 51 Zu den beiden letztgenannten Konstellationen s. Geppert JK 9/05, StPO § 252/11; s. auch Geppert JURA 1988, 363 (365 f.). 44
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In prozessualem Kontext ist noch auf einen weiteren wichtigen Examinatoriumsbeitrag des Jubilars zu verweisen, der sich mit der „Vernehmung kindlicher Zeugen mittels Videotechnologie“ (JURA 1996, 550 ff.) befasst. Es ist selbstverständlich, dass Geppert – als Spezialist für das Unmittelbarkeitsprinzip – dem damals vom LG Mainz52 praktizierten Verfahren große Beachtung schenkt. Dieses sog. „Mainzer Modell“, welches versuchte, kindlichen Opferzeugen in Verfahren wegen sexuellen Missbrauchs dadurch die belastende Vernehmung im Sitzungssaal zu ersparen, dass die Vernehmung durch den Vorsitzenden in einem anderen Raum erfolgte und per Videoprojektion zeitgleich in den Sitzungssaal übertragen wurde, bezeichnete Geppert als „mutig“, ja sogar „Rechtsgeschichte machend“ und „bahnbrechend“. Er zeigte Verständnis für das Vorgehen des Landgerichts, aus juristischer Sicht sah er aber kaum Möglichkeiten, dieses Modell mit dem (damals) geltenden Prozessrecht in Einklang zu bringen. Namentlich die Prozessmaximen der Unmittelbarkeit und der Mündlichkeit des Verfahrens sowie die Vorschriften der §§ 226, 238 I StPO (aF) seien verletzt. Dabei bleibt Geppert aber nicht stehen – obwohl didaktisch ausgerichtet, schließt der Jubilar seinen Beitrag mit einer klaren rechtspolitischen Forderung nach Schaffung weiterer Regelungen zum Schutz kindlicher Zeugen. Dabei spricht er sich für Vernehmungen in der Hauptverhandlung eher für das „Englische Modell“ aus, nach welchem die Vernehmenden im Sitzungssaal anwesend bleiben und ihre Fragen audiovisuell simultan an den in einem anderen Raum befindlichen Zeugen übertragen werden. Dass der deutsche Gesetzgeber mit dem Zeugenschutzgesetz von 1998 und der Einführung von § 247a StPO genau diesen von Geppert vorgezeichneten Weg gegangen ist, dürfte den Jubilar rückblickend wohl mit Freude erfüllen. Mit Beiträgen wie diesen hat der Jubilar auch immer wieder unter Beweis gestellt, dass es ihm bei seinen Themen für Beiträge für die JURA und bei der Auswahl von Manuskripten anderer für die Ausbildungszeitschrift nicht allein auf die Anforderungen der Prüfungsordnungen ankommt. Ihm ist und war vielmehr immer daran gelegen, auch den Grundlagen der Rechtswissenschaft und deren vermeintlichen Randbereichen einen hohen Stellenwert beizumessen.
IV. Teilnahmeprobleme Von den zahlreichen Veröffentlichungen Gepperts zum Allgemeinen Teil des StGB bilden die Arbeiten rund um die §§ 26 ff. StGB sicherlich einen Höhepunkt. In den JURA-Rubriken „Examinatorium“ bzw „Wiederho-
52 LG Mainz StV 1995, 354 (ursprünglicher Beschluss) sowie später NJW 1996, 208 (Beschluss nach Gegenvorstellung).
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lung/Vertiefung“ sind mehrere bemerkenswerte Beiträge erschienen, und zwar „Die Anstiftung (§ 26 StGB)“ (JURA 1997, 299 ff., 358 ff.), „Die Beihilfe (§ 27 StGB)“ (JURA 1999, 266 ff.), sowie „Die versuchte Anstiftung (§ 30 Abs. 1 StGB)“ (JURA 1997, 546 ff.). Für die studentische Leserschaft dürfte die Lektüre dieser klar verfassten Aufsätze ein deutliches „Mehr“ gegenüber dem Studium der gängigen Lehrbücher bedeuten. Dies liegt nicht nur an der klaren Sprache, den prägnanten und einprägsamen Beispielen, sondern vor allem an dem nicht hintangestellten wissenschaftlichen Tiefgang der Darstellung. Wissenschaftliche Qualität und didaktischer Anspruch versteht der Jubilar auch hier scheinbar mühelos miteinander zu verbinden. Ein „Schmankerl“ sind dabei die kurzen historischen Exkurse Gepperts, nach deren Lektüre man beispielsweise die Frage des Verfassers „Kennen Sie den Duchesne-Paragraphen?“53 mühelos beantworten kann.54 Hiervon abgesehen werden sämtliche Grundlagen und Streitfragen rund um die strafrechtlichen Teilnahmebestimmungen umfassend abgehandelt: angefangen beim umstrittenen Strafgrund der Teilnahme, über die Probleme der Anstiftung oder Beihilfe durch Unterlassen, der Anforderungen an das „Bestimmen“ oder „Hilfeleisten“ bzw der Anforderungen an den Vorsatz des Teilnehmers, der Beihilfe durch Alltagshandlungen, der Konstruktion einer sukzessiven Beihilfe55 bis hin zu der umstrittenen Frage nach der für den Verbrechenscharakter der Tat iSd § 30 I StGB relevanten Perspektive.56 Eine reine Darstellung liefert Geppert dabei nicht – er geht darüber hinaus, vertritt eigenständige Lösungsvorschläge und begnügt sich nicht mit bloßen Verweisen auf eine „hM“. Einige Punkte verdienen hierbei ganz besondere Hervorhebung. So beschäftigt den Autor vor allem die Frage nach den Auswirkungen eines Erlaubnistatbestandsirrtums des Haupttäters auf den Hintermann.57 Zwar kann ich hier seinen Standpunkt im Ergebnis letztlich nicht teilen. Vielmehr bevorzuge ich den vom Jubilar scheinbar als „Zaubertrick“ entlarvten Weg über den Wegfall des Vorsatzschuldvorwurfs,58 weil mir eine vollständige Gleichstellung desjenigen Täters, der sich die rechtfertigende Situation nur vorstellt, mit demjenigen, der sich wirklich in einer solchen Situation befindet und in Kenntnis derselben handelt, nicht einleuchtet (da dann konsequenterweise nur noch das subjektive Vorliegen der Rechtfertigungsvoraussetzungen zu 53
Geppert JURA 1997, 546. Zur Antwort s. Geppert JURA 1997, 546 (547). 55 Hierzu auch Geppert JK 6/09, StGB § 250 II Nr. 1/7. 56 In diesem Zusammenhang erwähnt sei die kritische Anmerkung Gepperts (JK 9/09, StGB § 30/7) zur Rechtsprechung des BGH (NStZ 2009, 322), wonach es im Rahmen des § 30 II StGB auf die Person des Anzustiftenden ankomme. 57 Geppert JURA 1997, 299 (302 f.). 58 Dies mit der sog. rechtsfolgenverweisenden eingeschränkten Schuldtheorie, dazu zB Wessels/Beulke AT, 39. Aufl. Rn 479. 54
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prüfen wäre). Gleichwohl schätze und bewundere ich Gepperts instruktive Darstellungen der Problematik, seine klare Argumentation und die aus seiner Sicht folgerichtige Lösung, wonach er in analoger Anwendung des § 16 StGB zu einer Straflosigkeit des Anstifters mangels vorsätzlicher Haupttat kommt. Auch die – wie es Geppert selbst nennt59 – „strafrechtsdogmatisch nachgerade heikle Frage“ nach der Teilnahmestrafbarkeit des „agent provocateur“ hat Geppert nicht unbeantwortet gelassen. Er nutzt nicht nur seinen Überblicksaufsatz zur Anstiftung,60 sondern auch zwei JURA-Karteikarten61 dazu, sich in dieser Frage für die auch sonst wohl überwiegend vertretene, für die Praxis des Einsatzes dieser Personen besonders wichtige „Lehre von der materiellen Vollendungsgrenze“62 auszusprechen. Danach bleibt der Anstifter straflos, dessen Vorsatz sich – wie regelmäßig bei „agents provocateurs“ – zwar auf die formelle Vollendung der Haupttat, nicht aber auf deren materielle Beendigung richtet. Denn: „Will der Anstifter dem Rechtsgutsinhaber letztlich gerade keinen Schaden zufügen, fehlt es für ihn an dem die Anstifterstrafe begründenden selbstständigen ‚materiellen Rechtsgutsangriff‘.“63 Besonderes Augenmerk schenkt Geppert schließlich auch der Frage, welche minimalen Anforderungen an eine psychische Beihilfe zu stellen sind. Erfreulich restriktiv äußert sich der Jubilar skeptisch gegenüber früheren Entscheidungen, die selbst die bloße Anwesenheit einer Person am Tatort für beihilferelevant erachteten. Dass er selbst strengere Anforderungen aufstellt und eine gewisse „Verstärkerkausalität“64 verlangt, ist konsequent. Die Rechtsprechung bewegt sich zusehends in diese Richtung, eine Entwicklung, die Geppert – wiederum im Rahmen seiner Rezensionen in Karteikartenform – wenig überraschend äußerst wohlwollend kommentiert.65
C. Schlussbemerkungen Mit seinen zahllosen Veröffentlichungen in der JURA hat Geppert das Straf- und Strafprozessrecht und die wichtigen hierzu ergangenen Entscheidungen fast flächendeckend erläutert, kommentiert und exemplifiziert. Er hat dabei in vielen Bereichen die entsprechenden Lehrbuchdarstellungen nicht nur an Ausführlichkeit und wissenschaftlichem Tiefgang, sondern auch 59
Geppert JK 00, StGB § 26/6. Geppert JURA 1997, 358 (360 ff.). 61 Geppert JK 00, StGB § 26/6; JK 6/08, StGB § 26/8. 62 Zur Benennung der einzelnen Meinungen und zu deren Vertretern s. näher Hillenkamp 32 Probleme aus dem Strafrecht AT, 12. Aufl., 24. Problem. 63 Geppert JURA 1997, 358 (362). 64 Geppert JURA 1999, 266 (270). 65 Geppert JK 99, StGB § 27/12; JK 4/06, StGB § 27/19; JK 12/09, StGB § 27/21; vgl. aber auch Geppert JK 12/02, StGB § 27/17. 60
Klaus Geppert im Spiegel der „JURA“
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an didaktischem Geschick bei der Darstellung bei Weitem übertrumpft. Fasste man seine JURA-Beiträge geordnet zusammen – Geppert könnte dicke Lehrbücher sein eigen nennen, die sicherlich zu den Standardwerken deutscher Nachwuchsjuristen gehören würden. Dass er sich dafür entschieden hat, sein Wissen nicht über eigene Lehrbücher, sondern „in kleinen Dosen“ und kontinuierlich über eine Ausbildungszeitschrift weiterzugeben, mindert den wissenschaftlichen und didaktischen Wert keineswegs; dieses Vorgehen ist aber Ausdruck einer sympathischen Bescheidenheit, die den Jubilar wie kaum einen anderen auszeichnet.
Maßregeln der Abschreckung? Ein Diskurs Uwe Scheffler / Dela-Madeleine Halecker In der Idee leben, heißt das Unmögliche behandeln, als wenn es möglich wäre. Johann Wolfgang Goethe
An einem kalten, sehr kalten Nachmittag im Winter 2009/2010 am Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Kriminologie an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder). Weder Professor noch Assistentin haben die geringste Lust, sich während eines eisigen Schneesturms auf den Nachhauseweg zu begeben … USch: Frau Halecker, in Ihrer Dissertation bin ich über Folgendes gestolpert: „Obwohl sich der Strafcharakter des kurzzeitigen Fahrverbotes vor dem geschichtlichen Hintergrund nahezu aufdrängen musste, wurde die Ausgestaltung des Verbotes als Maßregel […] alternativ in Erwägung gezogen. Man gab jedoch zu bedenken, dass die neue Maßregel wegen der Kürze der Verbotsdauer eine Sicherungsfunktion kaum habe. Die Besserungsfunktion stehe im Vordergrund […] Das Fahrverbot […] habe spezialpräventiven Charakter.“1 Das bringt mich auf einen vielleicht etwas schrägen Gedanken: Warum gibt es eigentlich nur Maßregeln der Besserung und Sicherung, aber keine Maßregeln der Abschreckung? DMH: Ich meine deshalb, Herr Scheffler, weil ursprünglich nur ein Bedürfnis für die Einführung von Maßregeln der Besserung und Sicherung neben den Strafen bestand 2. So wird beispielsweise im Entwurf eines Allge1 Halecker, Der „Denkzettel“ Fahrverbot, 2009, S. 49; siehe auch LK12-Geppert, 2006, § 44 Rn 1; Lackner, JZ 1965, 94 f. 2 Im Vorentwurf eines Strafgesetzbuches aus dem Jahre 1909 findet sich erstmalig – allerdings ohne einen eigenen Unterabschnitt zu bilden – neben den Strafen der Begriff „Sichernde Maßnahmen“, im Kommissionsentwurf von 1913 und dem Entwurf eines Strafgesetzbuches aus dem Jahre 1919 sodann in einem eigenen 10. Abschnitt die Bezeichnung „Maßregeln der Besserung und Sicherung“; ausführlich zur Entwicklung der Maßregeln als zweite Spur im Strafrecht Eser in FS Müller-Dietz, 2001, S. 213 ff.
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meinen Deutschen Strafgesetzbuches aus dem Jahre 1927, dem E 1927, die Notwendigkeit der Einführung von Maßregeln wie folgt begründet: „Mag […] die herkömmliche Beschränkung der Strafrechtspflege auf schuldhafte Handlungen und auf die Verhängung von Strafen den Bedürfnissen der Generalprävention und den Forderungen der Gerechtigkeit genügen, den Forderungen der Rechtssicherheit entspricht sie nicht. Diese wird durch geisteskranke Verbrecher nicht minder gefährdet als durch geistig gesunde. Es ist ihr nicht genügt, wenn ein vermindert zurechnungsfähiger gefährlicher Verbrecher nach Verbüßung der verhältnismäßig kurzen, seinem Verschulden entsprechenden Strafe in Freiheit gesetzt, wenn ein Trunksüchtiger bloß bestraft und nicht auch geheilt wird, wenn ein unverbesserlicher Gewohnheitsverbrecher nach einer noch so langen zeitigen Freiheitsstrafe sein verbrecherisches Gewerbe wieder aufnehmen kann. So wie beim jugendlichen Rechtsbrecher die Strafe unter Umständen durch Erziehungsmaßregeln ergänzt oder ersetzt werden muß, so bedürfen auch bestimmte Gruppen der erwachsenen Verbrecher neben oder statt der Strafe einer besonderen Behandlung, die auf Beseitigung ihres für die Gesellschaft gefährlichen Zustandes abzielt und die erst abgeschlossen werden darf, wenn das Ziel erreicht ist. Gegen Personen aber, bei denen eine Besserung nicht mehr zu erwarten ist, muß die Gesellschaft wenigstens durch dauernde Absonderung gesichert werden.“3 Aber unabhängig davon: Vielleicht drängte sich dieser Gedanke bisher auch deshalb nicht auf, weil den Maßregeln eine Abschreckungswirkung in gewisser Weise immanent ist? So findet sich doch insbesondere bei der Entziehung der Fahrerlaubnis gemäß § 69 StGB oftmals die Aussage, dass der Zweck der Maßregel bereits durch die Anordnung der vorläufigen Entziehung gemäß § 111a StPO als erreicht angesehen werden kann – weil der Täter durch diese Maßnahme bereits so beeindruckt ist, dass der in der Tat zum Ausdruck gekommene Eignungsmangel zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht mehr besteht 4. USch: Schon, vor allem sichernde, aber durchaus auch bessernde Maßregeln dürften abschrecken. Aber ich möchte da anders herangehen: Seit von Liszt unterteilen wir die Spezialprävention bekanntlich in die Trias Abschreckung – Besserung – Sicherung. Diese Trias hat aber eine Stufenreihung: Abschreckung der nicht Besserungsbedürftigen, Besserung der Besserungsbedürftigen und -fähigen, Sicherung der nicht Besserungsfähigen. DMH: Nun, wer abgeschreckt wird, ist doch auch gebessert? Und wer abgeschreckt bzw gebessert wird, vor dem ist doch auch gesichert? USch: Klar, darum würde ich, um die Aspekte präziser herauszustellen, auch lieber – mit von Liszt 5 – den Begriff Sicherung durch „Unschädlich3
Begründung E 1927, RT-Drs 3390 v. 19.5.1927, S. 43. Näher in LK12-Geppert, 2008, § 69 Rn 95 ff. 5 Von Liszt, Der Zweckgedanke im Strafrecht, 1882, in: Strafrechtliche Vorträge und Aufsätze Bd. 1, 1905, S. 163 f. 4
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machung“ ersetzen wollen, wenn der nicht so vorbelastet wäre. Und der „Besserung“ sollte eine im Gegensatz zur Abschreckung zeitlich andauernde Bedeutung beigelegt werden, etwa wie den verwandten Begriffen (Re-)Sozialisierung, Erziehung, Behandlung, Therapie. DMH: Also haben Ihrer Ansicht nach die Begriffe Besserung und Sicherung letztlich jeweils zwei unterschiedliche Bedeutungen. USch: Ja. Niemand würde nämlich sagen, jemand sei durch Abschreckung (re-)sozialisiert oder „unschädlich“ gemacht worden. Auch durch (Re-)Sozialisierung wird niemand „unschädlich“ gemacht. DMH: In der Folge käme als alleiniger Zweck der Anordnung einer Maßregel also neben der Sicherung auch die Besserung in Betracht mit der Folge, dass es Maßregeln der Besserung oder Sicherung gibt? Ich habe nämlich bisher die Bezeichnung „Maßregeln der Besserung und Sicherung“ dahingehend verstanden, dass der eigentliche Anordnungszweck einer Maßregel stets im Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit vor dem Täter besteht und die Besserung ein – allerdings nur bei besserungsbedürftigen und -fähigen Tätern – hinzutretender Anordnungszweck sein kann, aber nicht sein muss. Mit der Besserung als alleinigem Anordnungszweck tue ich mich auch deshalb schwer, weil das BVerfG in einer Entscheidung aus dem Jahre 1967 zur Verfassungswidrigkeit der damals in § 73 Abs. 2, 3 Bundessozialhilfegesetz6 vorgesehenen Möglichkeit, einem sozial gefährdeten Erwachsenen Hilfe durch zwangsweise Unterbringung in einer Anstalt oder einem Heim zu gewähren, ausgeführt hat: „Die Anweisung an den Gefährdeten, sich in einer geeigneten Anstalt aufzuhalten, ist ein Eingriff in das Grundrecht der Freiheit der Person nach Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG. Dabei ist es unerheblich, wo die Unterbringung erfolgt […] Die Freiheit der Person ist ein so hohes Rechtsgut, daß sie nur aus besonders gewichtigen Gründen eingeschränkt werden darf. Zu diesen gewichtigen Gründen gehören in erster Linie die des materiellen Strafrechts und des Strafverfahrensrechts. Diese Eingriffe in die persönliche Freiheit des Einzelnen dienen dem Schutz der Allgemeinheit. Dazu gehört auch die Anstaltsunterbringung von gemeingefährlichen Geisteskranken. Weiterhin sind Eingriffe fürsorgerischen Charakters zulässig, die dem Schutz des Betroffenen dienen, wie z. B. die Unterbringung eines wegen
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Nach § 73 Abs. 2 BSHG konnte das Gericht den Gefährdeten, der den Rat, sich in die Obhut einer Anstalt oder eines Heimes zu begeben, nicht befolgt hat, „anweisen, sich in einer geeigneten Anstalt aufzuhalten, wenn er 1. besonders willensschwach oder in seinem Triebleben besonders hemmungslos ist und 2. verwahrlost oder der Gefahr der Verwahrlosung ausgesetzt ist und 3. die Hilfe nur in einer Anstalt wirksam gewährt werden kann“. § 73 Abs. 3 BSHG enthielt verfahrensrechtliche Bestimmungen sowie die Ermächtigung an den Leiter der Anstalt, den Gefährdeten vorübergehend in einer geeigneten Familie unterzubringen. Eine Höchstdauer der Unterbringung war nicht bestimmt.
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Geistesschwäche Entmündigten in einer geschlossenen Anstalt zu dem Zweck, ihn daran zu hindern, daß er sich selbst größeren persönlichen oder wirtschaftlichen Schaden zufügt (vgl. BVerfGE 10, 302). Bei der Unterbringung nach § 73 Abs. 2 und 3 BSHG geht es aber weder um den Schutz der Allgemeinheit noch um den Schutz des Betroffenen. Es geht allein um die ‚Besserung‘ des Betroffenen: Er soll mit Hilfe der Freiheitsentziehung zu einem geordneten Leben hingeführt, an regelmäßige Arbeit gewöhnt, auf Dauer seßhaft gemacht werden. Der Staat hat aber nicht die Aufgabe, seine Bürger zu ‚bessern‘ und deshalb auch nicht das Recht, ihnen die Freiheit zu entziehen, nur um sie zu ‚bessern‘, ohne daß sie sich selbst oder andere gefährdeten, wenn sie in Freiheit blieben. Da der Zweck der Besserung eines Erwachsenen als gewichtiger Grund für die Entziehung der persönlichen Freiheit nicht ausreichen kann, tastet § 73 Abs. 2 und 3 BSHG das Grundrecht der persönlichen Freiheit in seinem Wesensgehalt an.“7 USch: Aus einer anderen, neueren Entscheidung des BVerfG zur Verfassungsgemäßheit von § 64 StGB8, die auch mit Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG argumentiert, kann man meines Erachtens durchaus auch anderes herauslesen: „[Den Schutz der Allgemeinheit vor weiteren erheblichen rechtswidrigen Taten] bezwecken die in §§ 63 ff. StGB geregelten freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung, zu denen auch die zeitlich begrenzte Unterbringung alkohol- oder drogenabhängiger Täter in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) gehört. Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt soll nach der Konzeption des Gesetzgebers den Schutz der Allgemeinheit durch eine Behandlung des Untergebrachten erreichen, die darauf abzielt, ihn von seinem Hang zu heilen und die zugrundeliegende Fehlhaltung zu beheben […] Im Vollzug der Maßregel ist die Freiheitsentziehung auf eine Therapie hin ausgerichtet, die ihrerseits mit Mitteln rechtlichen Zwangs durchgesetzt werden kann. Der Zweck einer Sicherung der Allgemeinheit wird hier auf dem Wege einer Behandlung der Rauschmittelabhängigkeit des Untergebrachten verfolgt. Wegen dieses durch § 64 StGB bestimmten Zweck-Mittel-Verhältnisses darf diese Unterbringung nur zur Suchtbehandlung angeordnet werden; diese ihrerseits muß auf den Schutz der Allgemeinheit durch Besserung (hier bezogen auf die Rauschmittelsucht) ausgerichtet sein. Ebenso wie es sich im Rahmen der Konzeption des § 64
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BVerfGE 22, 180 (219 f.). § 64 Abs. 2 StGB lautete damals: „Die Anordnung unterbleibt, wenn eine Entziehungskur von vornherein aussichtslos erscheint.“ In § 64 S. 2 StGB in der Fassung des UnterbrSichG vom 16.7.2007 (BGBl. I, 1327) heißt es nunmehr: „Die Anordnung ergeht nur, wenn eine hinreichend konkrete Aussicht besteht, die Person durch die Behandlung in einer Entziehungsanstalt zu heilen oder über eine erhebliche Zeit vor dem Rückfall in den Hang zu bewahren und von der Begehung erheblicher rechtswidriger Taten abzuhalten, die auf ihren Hang zurückgehen.“ 8
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StGB verbietet, die Maßregel zur Heilbehandlung eines für die Allgemeinheit ungefährlichen Täters anzuordnen, ist es vor dem Freiheitsgrundrecht des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG auch nicht erlaubt, die Unterbringung eines – aus welchen Gründen auch immer – nicht behandlungsfähigen Täters in einer Entziehungsanstalt anzuordnen, nur um durch dessen Verwahrung die Allgemeinheit zu schützen. Eine Auslegung des § 64 StGB, die den Sicherungsgedanken von der therapeutischen Funktion der Maßregel ablöste, […] wäre nicht geeignet, eine Freiheitsentziehung zu rechtfertigen, die nach dem Willen des Gesetzgebers zum Zwecke einer Suchttherapie angeordnet werden soll.“9 Aber über die Interpretation der Tragweite solcher Ausführungen kann man trefflich streiten. Für mich ist ein anderes Argument entscheidender: Es heißt doch „Maßregeln der Besserung und Sicherung“! Das kann doch nicht als bloßer Etikettenschwindel interpretiert werden. DMH: Nun, für Ihr Verständnis einer jeweils eigenständigen Bedeutung der Begrifflichkeiten „Besserung“ und „Sicherung“ sprechen sicherlich folgende Ausführungen im Gegenentwurf zum E 1909, dem GE 1911, zur damals vorgesehenen und später auch in § 42d StGB enthaltenen Maßregel der „Unterbringung in einem Arbeitshaus“: Bei den Arbeitshäusern handele es sich „um Anstalten, von denen ‚bei richtiger Handhabung eine wirksame Bekämpfung des in der Entwicklung begriffenen gewohnheitsmäßigen Verbrechertums zu erwarten‘ ist, indem sie gestatten, ‚beizeiten auf die Änderung der seinen Nährboden bildenden Zustände hinzuarbeiten‘ […] Also nicht zu einer Sicherungsanstalt gegenüber Unverbesserlichen, sondern zu einer Besserungsanstalt gegenüber Besserungsfähigen ist das Arbeitshaus auszugestalten […] Gewiß brauchen wir auch außerdem eine Sicherungsanstalt gegenüber Unverbesserlichen […] Aber wir brauchen beides. Und auch der theoretische Zweifel, ob man von ‚Unverbesserlichen‘ überhaupt reden dürfe, kann nicht dazu führen, die ‚sogenannten Unverbesserlichen‘ und die wirklich Besserungsfähigen praktisch gleich zu behandeln […] es lohnt doch, den Versuch mit einer Maßregel zu machen, die in Bemessung und Vollzug den Besserungszweck auch bei Erwachsenen einmal in den Vordergrund stellt.“10 Und auch die bereits erwähnte Gesetzesbegründung im E 1927 zur Einführung der Maßregeln der Besserung und Sicherung dürfte Ihrer Interpretation nicht entgegenstehen. Allerdings heißt es dann in der Begründung des „Gesetzes gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung“11, mit dem die Maßregeln letztendlich auch in das Strafgesetzbuch eingeführt worden sind, wie folgt: „Die Maßregeln der Sicherung und Besserung dienen dem Schutz der Allgemeinheit 9
BVerfGE 91, 1 (25 f.). Gegenentwurf zum Vorentwurf eines deutschen Strafgesetzbuches, 1911, S. 92 f., 95 – Hervorhebung von dort. 11 Vom 24.11.1933, RGBl. I S. 995. 10
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gegen den Rechtsbrecher.“12 Ebenso findet sich in einer Kommentierung zu diesem Gesetz: „Während die früheren Strafgesetzentwürfe von Maßregeln der Besserung und Sicherung sprechen, stellt das jetzige Gesetz in der Bezeichnung der Maßregeln die Sicherung vor die Besserung. Damit wird […] zum Ausdruck gebracht, daß der Sicherung der Volksgesamtheit der Vorrang vor den Belangen des einzelnen und vor allem vor den Belangen des Rechtsbrechers zukommt. […] Die Sicherung stellt bei einzelnen Maßnahmen (Entmannung gefährlicher Sittlichkeitsverbrecher, Untersagung der Berufsausübung, Reichsverweisung) den ausschließlichen, bei den meisten übrigen [Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt, Unterbringung in einem Arbeitshaus, Sicherungsverwahrung] den weitaus überwiegenden Zweck dar […]“13 USch: Also zunächst einmal bewegen mich für die heutige Auslegung Begründungen des nationalsozialistischen Gesetzgebers wenig; schon die Bezeichnung „Gesetz“ ist fragwürdig, beruht doch das Gewohnheitsverbrechergesetz – auch schon ein Unwort! – auf dem Ermächtigungsgesetz vom 23.3.193314, kommt also einer Rechtsverordnung nach heutigem Rechtsverständnis nahe15. Jedenfalls hat aber der bundesdeutsche Gesetzgeber im 2. Strafrechtsreformgesetz 196916 die Vertauschung der Begriffe Besserung und Sicherung wieder rückgängig gemacht. Das kann man doch nicht als bloße Kosmetik abtun17. Insofern meine ich nach wie vor, bei einigen unserer Maßregeln ist die Sicherung ein bloßer Reflex. Für die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) wird das ohnehin kaum einmal bestritten18. 12
Deutscher Reichsanzeiger und Preußischer Staatsanzeiger Nr. 277 v. 27.11.1933, S. 3. Schäfer/Wagner/Schafheutle, Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung, 1934, S. 111. 14 Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Staat, RGBl. I S. 141. 15 Art. 1 S. 1: „Reichsgesetze können außer in dem in der Reichsverfassung vorgesehenen Verfahren auch durch die Reichsregierung beschlossen werden.“ Siehe dazu Naucke in FS Hamm, 2008, S. 504: Das Gewohnheitsverbrechergesetz ist von „geringer juristischer Dignität“. 16 BGBl. I S. 717, in Kraft getreten am 1.1.1975 (BGBl. I, 1973, S. 909). 17 Siehe LK12-Schöch, 2008, vor § 61 Rn 31: „Der Gesetzgeber […] hat, in Abkehr vom früheren Recht, [die] Vorrangstellung der Besserung bei der Strafrechtsreform auch äußerlich durch die Titelüberschrift zum Ausdruck gebracht: ‚Maßregeln der Besserung und Sicherung‘, statt, wie früher, der ‚Sicherung und Besserung‘ […]“; siehe aber auch („fragwürdige Akzentuierung“ – S/S28-Stree/Kinzig, 2010, vor § 61 Rn 2) MK-StGB-van Gemmeren, 2005, § 61 Rn 1: „Trotz der seit 1975 geltenden neuen Überschrift (‚Maßregeln der Besserung und Sicherung‘ statt zuvor ‚Maßregeln der Sicherung und Besserung‘) steht die Sicherung im Vordergrund“; völlig entgegengesetzte, wohl ebenfalls fragwürdige Akzentuierung bei NK3-Böllinger/Pollähne, 2010, § 61 Rn 56: „Besserung ist das einzige Mittel zum Zweck der Sicherung“. 18 Siehe etwa S/S28-Stree/Kinzig § 64 Rn 1: „Zweck der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt ist, zur Sicherung der Allgemeinheit […] den gefährlichen Süchtigen durch Behandlungsmaßnahmen zu bessern […] Ein von der Besserung losgelöster Sicherungszweck wird mit § 64 nicht verfolgt […]“; siehe auch BVerfGE 91, 1 (28). 13
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DMH: Für Letzteres spricht zumindest, dass sich bereits im Vorentwurf eines Strafgesetzbuches aus dem Jahre 1909, dem VE 1909, der Satz findet: „Da Zweck der Unterbringung die Heilung des Trunksüchtigen ist, kann sie nicht auf eine fest bestimmte Zeit angeordnet werden, […] sie muß vielmehr bis zur erfolgten Heilung währen.“ 19 Und auch in der Kommentierung zum Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher ist zu lesen: „[…] die Unterbringung in einer Trinkerheilanstalt oder einer Entziehungsanstalt dient in erster Linie der Besserung (Heilung) des Untergebrachten“20. USch: Gleiches gilt meiner Ansicht nach neben § 64 StGB aber auch für die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB: Dies dürfte schon § 67 Abs. 2 StGB zu entnehmen ein, der besagt, dass eine Freiheitsstrafe dann zeitlich vor der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus anzuordnen ist, „wenn der Zweck der Maßregel dadurch leichter erreicht wird“ – das kann nur den Besserungszweck meinen21. Und auch der BGH hat formuliert, es sei „Zweck der Maßregel nach § 63 StGB […], durch heilende oder bessernde Einwirkung auf den Täter sowie durch seine Verwahrung die von ihm ausgehende Gefahr weiterer erheblicher rechtswidriger Taten abzuwenden oder zu verringern“22. DMH: Hier habe ich so meine Zweifel, denn im Gegensatz zu § 64 StGB dürfte die Begründung für die Einführung des Vorgängers von § 63 StGB – der Maßregel „Unterbringung in einer Heil- und Pflegeanstalt“ – im E 1927 wohl eher für einen Sicherungszweck sprechen: „Wird jemand […] als nicht zurechnungsfähig freigesprochen oder wird wegen dieser Zurechnungsunfähigkeit die Eröffnung des Hauptverfahrens abgelehnt oder das Verfahren eingestellt oder wird jemand als vermindert zurechnungsfähig zu einer Strafe verurteilt, so soll das Gericht in jedem Falle prüfen, ob nicht besondere Vorkehrungen angebracht sind, um die Öffentlichkeit vor ihm zu schützen […] das Gericht [darf] die Unterbringung nur für zulässig erklären, wenn die öffentliche Sicherheit diese Maßregel erfordert. Das ist dann der Fall, wenn von dem Zurechnungsunfähigen oder vermindert Zurechnungsfähigen wei-
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Vorentwurf zu einem Deutschen Strafgesetzbuch, 1909, S. 161. Schäfer/Wagner/Schafheutle, Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung, 1934, S. 111. 21 Siehe MK-StGB-Maier § 67 Rn 51: „Die Vorschrift verfolgt […] rein spezialpräventive Zwecke. Zu prüfen ist, wie sich das Ziel der Maßregeln nach §§ 63, 64 – heilende oder bessernde Einwirkung auf den Täter und Abwendung oder Verringerung von ihm ausgehender Gefahren […] am besten erreichen lässt“; siehe auch LK12-Schöch § 67 Rn 61: „Es geht, wie schon [der Wortlaut der Vorschrift] deutlich macht, allein um die Frage, ob die Resozialisierung des Täters ‚durch‘ einen vorweggenommenen Strafvollzug leichter erreicht wird […]“. 22 BGHSt 33, 285; BGH NStZ-RR 1999, 44; siehe aber auch BGH NStZ 2002, 533 (534): „[…] mit der Unterbringung nach § 63 wird […] ergänzend über die Behandlung hinaus ein bloßer Sicherungszweck verfolgt.“ 20
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tere Angriffe auf strafrechtlich geschützte Güter irgendwelcher Art zu besorgen sind und diese Gefahr auf andere Weise nicht gebannt werden kann […] Ob die Geisteskrankheit oder der die verminderte Zurechnungsfähigkeit begründende Zustand heilbar ist oder nicht, macht keinen Unterschied. Die Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt ist ebenso Maßregel der Besserung wie Maßregel der Sicherung. Nicht ihre Anwendbarkeit überhaupt, sondern bloß ihre Dauer hängt von der Heilbarkeit des die Gefährlichkeit begründenden Zustandes ab. Die Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt soll, wie schon aus der Benennung zu ersehen ist, nicht nur dem Interesse der Gesamtheit dienen, sondern auch dem Interesse des Verwahrten. Doch steht das öffentliche Interesse an der Verwahrung des gefährlichen Kranken im Vordergrund.“23 USch: Den Aspekt, dass für die Unterbringung nach § 63 StGB keine Heilbarkeit vorausgesetzt wird, hat der BGH allerdings etwas zurückhaltender formuliert: „Von der Anordnung der Maßregel […] sind solche Täter nicht ausgenommen, bei denen […] nur wenig Aussicht auf Besserung besteht.“24 Und die Begründung des E 1927 ist doch schon über ein dreiviertel Jahrhundert alt! DMH: Mag sein, ich habe jedoch den Eindruck, dass der Maßregelzweck des § 63 StGB nach wie vor in diesem Sinne verstanden wird. So findet sich auch heute noch die Aussage: „Vorrangiger Zweck der Unterbringung nach § 63 ist der Schutz der Allgemeinheit. Dieser soll durch die Besserung des Maßregelinsassen erreicht werden […] Die Maßregel des § 63 dient aber auch der Sicherung. Daher setzt sie nicht voraus, dass Heilungsaussichten bestehen.“25 USch: Ja, Schutz der Allgemeinheit primär durch Besserung! Dieser Schutz kann doch nicht nur durch Sicherung geschehen. Ich bleibe deshalb dabei: Man kann die Maßregeln durchaus weitgehend randscharf trennen. Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus bzw in einer Entziehungsanstalt sind Maßregeln der Besserung ungeachtet ihres Sicherungseffektes. Die Sicherungsverwahrung und ihre „kleine Schwester“, die Führungsaufsicht, sind dagegen Maßregeln der Sicherung. DMH: Letzteres dürfte dann wohl Ihrer Ansicht nach auch auf das Berufsverbot zutreffen, ist doch zu lesen: Das Verbot ist „reine Sicherungsmaßre23
Begründung E 1927, RT-Drs 3390 v. 19.5.1927, S. 45 f. BGH NStZ-RR 1999, 44 – Hervorhebung von hier; siehe auch BGH NStZ 1990, 122 (123). 25 S/S28-Stree/Kinzig § 63 Rn 1; siehe auch MK-StGB-van Gemmeren § 63 Rn 1; BeckOK-StGB-Ziegler, 11. Edition März 2010, § 63 Rn 1: „Die Vorschrift […] dient dazu, erkrankte oder krankhaft veranlagte Menschen von einem länger andauernden seelischen Leiden, das die öffentliche Sicherheit gefährdet, zu heilen oder – falls das nicht möglich ist – sie in einem psychiatrischen Krankenhaus in ihrem Zustand zu pflegen, weil anders die von ihnen für die Rechtsordnung ausgehende Gefahr nicht gebannt werden kann.“ 24
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gel“26. Interessant wird die Differenzierung zwischen Sicherung und Besserung in Bezug auf die Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 69 StGB, denn der BGH führt hierzu aus: „Die strafgerichtliche Entziehung der Fahrerlaubnis stellt eine Maßregel der Besserung und Sicherung dar (§ 61 Nr. 5 StGB), die ihre Rechtfertigung aus dem Sicherungsbedürfnis der Verkehrsgemeinschaft bezieht.“27 USch: Auch die Entziehung der Fahrerlaubnis gehört zu den Maßregeln der reinen Sicherung. Im Leipziger Kommentar wird dies deutlich ausgesprochen: „Zweck der Maßregel ist die Sicherung der Allgemeinheit […] durch zumindest sechsmonatigen Ausschluß solcher Fahrer […], die sich zum Führen von Kraftfahrzeugen […] als ungeeignet erwiesen haben […]“28 Weiter kann man dort lesen, dass die Besserung „nicht Endziel, sondern Mittel zur Erreichung der erstrebten Sicherung“ ist 29. DMH: Mit der Konsequenz, dass eine Aufrechterhaltung der Entziehung der Fahrerlaubnis über den Zeitpunkt der Sicherung hinaus, also allein zum Zwecke weiterer Besserung, unzulässig ist 30. USch: Genau. Wobei mir übrigens unerklärlich ist, weshalb der Gesetzgeber nicht die Entziehung der Fahrerlaubnis zumindest auch als Maßregel der Besserung ausgestaltet hat. Bei Tätern mit vorhandenem, gefestigtem Trinkmuster wird allein der Ausschluss vom Kraftfahrzeugverkehr eine positive Änderung kaum bewirken. Das Gegenteil ist zu vermuten, ist doch mit dem Entzug der Fahrerlaubnis auch der letzte Hemmschuh in Bezug auf den Alkoholkonsum entfallen. Und dass viele, denen man die Fahrerlaubnis entzieht, nicht nur besserungsbedürftig, sondern durchaus auch noch besserungsfähig sind, steht für mich außer Frage. So bleibt aber – neben der Sicherung – bei der heutigen Ausgestaltung der Entziehung der Fahrerlaubnis höchstens die „Spezialprävention in der Spielart der Individualabschreckung“, weil sie den Betroffenen „durch ihre für diesen spürbare Übelwirkung positiv zu beeinflussen imstande ist“31 – jedoch nicht die Besserung. DMH: Für besserungsfähige Kraftfahrzeugführer dürfte aber § 69a Abs. 7 S. 1 StGB zumindest einen Weg eröffnen: „Ergibt sich Grund zu der Annahme, dass der Täter zum Führen von Kraftfahrzeugen nicht mehr ungeeignet ist, so kann das Gericht die Sperre vorzeitig aufheben.“ Denn Berücksichtigung kann hierbei insbesondere finden, dass der Verurteilte durch eine Nachschulung eine risikobewusstere Einstellung im Straßenverkehr entwickelt hat, wobei insbesondere Aufbauseminare für alkoholauffällige Täter
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LK12-Hanack, 2008, § 70 Rn 1; MK-StGB-Bockemühl § 70 Rn 2. BGHSt 50, 93 (98 f.) – Hervorhebung von hier. LK12-Geppert § 44 Rn 2 mit § 69 Rn 2. LK12-Geppert § 69 Rn 2. LK12-Geppert § 69 Rn 2 Fn 13. LK12-Geppert § 69 Rn 2.
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oder Verkehrstherapien Bedeutung haben32 – ein Aspekt, der dem Bereich der Besserung zuzuordnen ist. USch: Ja, ein bescheidener Anfang. Die Vorschrift spielte in der Praxis zunächst keine große Rolle; inzwischen ist die Bedeutung der Vorschrift allerdings deutlich gestiegen33. Aber warum wird der „Grund für die Annahme“ und der Zeitpunkt der Aufhebung nicht irgendwie konkretisiert oder die Norm gar als Mussvorschrift ausgestaltet? § 4 Abs. 4 StVG könnte hierfür vielleicht als Anregung dienen34. DMH: Vielleicht; doch kommen wir zu Ihrem Gedanken zurück, warum es eigentlich keine Maßregeln der Abschreckung gibt. Ich muss in diesem Zusammenhang an die Definition sichernder Maßnahmen durch von Liszt als „staatliche Maßregeln“ denken, „durch die entweder die Anpassung des Einzelnen an die Gesellschaft oder die Ausscheidung der Anpassungsunfähigen aus der Gesellschaft bezweckt wird“35. Wenn wir im Bereich der fahrerlaubnisbezogenen Sanktionen des Strafgesetzbuches bleiben, dann findet sich neben der Entziehung der Fahrerlaubnis das Fahrverbot, das ebenfalls bewirken soll, dass jemand zukünftig besser Auto fährt. Allerdings erfolgt diese Art der „Anpassung an die Gesellschaft“ nicht durch Besserung, sondern durch das Verpassen eines Denkzettels, also in Form der Abschreckung 36. USch: Konsequenterweise wird deshalb ja auch die Teilnahme an einem Nachschulungskurs, die sich auf die Maßregel der Entziehung der Fahrerlaubnis sperrfristverkürzend gemäß § 69a Abs. 7 StGB auswirken kann, nur sehr eingeschränkt als Grund anerkannt, vom Fahrverbot abzusehen37.
32
Näher LK12-Geppert § 69 Rn 97 ff.; § 69a Rn 88. LK12-Geppert § 69a Rn 78a. 34 § 4 Abs. 4 StVG: „Nehmen Fahrerlaubnisinhaber vor Erreichen von 14 Punkten an einem Aufbauseminar teil und legen sie hierüber der Fahrerlaubnisbehörde innerhalb von drei Monaten nach Beendigung des Seminars eine Bescheinigung vor, so werden ihnen bei einem Stand von nicht mehr als acht Punkten vier Punkte, bei einem Stand von neun bis 13 Punkten zwei Punkte abgezogen. Hat der Betroffene nach der Teilnahme an einem Aufbauseminar und nach Erreichen von 14 Punkten, aber vor Erreichen von 18 Punkten an einer verkehrspsychologischen Beratung teilgenommen und legt er hierüber der Fahrerlaubnisbehörde innerhalb von drei Monaten nach Beendigung eine Bescheinigung vor, so werden zwei Punkte abgezogen; dies gilt auch, wenn er nach § 2a Abs. 2 S. 1 Nr. 2 an einer solchen Beratung teilnimmt. Der Besuch eines Seminars und die Teilnahme an einer Beratung führen jeweils nur einmal innerhalb von fünf Jahren zu einem Punkteabzug. Für den Punktestand und die Berechnung der Fünfjahresfrist ist jeweils das Ausstellungsdatum der Teilnahmebescheinigung maßgeblich. Ein Punkteabzug ist nur bis zum Erreichen von null Punkten zulässig.“ 35 Von Liszt, Lehrbuch des deutschen Strafrechts, 18. Aufl. 1911, S. 252. 36 Halecker, Der „Denkzettel“ Fahrverbot, 2009, S. 54 ff.; siehe auch LK12-Geppert § 44 Rn 2. 37 LK12-Geppert § 44 Rn 39. 33
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DMH: Wie Sie aber wissen, hat der Gesetzgeber das Fahrverbot als Nebenstrafe ausgestaltet und als solche ist es auch unbestrittenermaßen anerkannt38! USch: Aber warum eigentlich? Wir kennen doch sonst keine Nebenstrafen! Und die wortlautidentische Anwendungsvoraussetzung „bei oder im Zusammenhang mit dem Führen eines Kraftfahrzeugs oder unter Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers“ in § 44 Abs. 1 S. 1 und § 69 Abs. 1 S. 1 StGB löst doch wohl Erklärungsbedarf dafür aus, weshalb die eine Rechtsfolge eine Strafe, die andere aber eine Maßregel sein soll. DMH: Nun, maßgebend für die Ausgestaltung als Nebenstrafe war die mangelnde Sicherungsfunktion des Fahrverbotes – im Vordergrund stehe die Einwirkung auf den Täter, nicht die Abwehr einer Gefahr für die Allgemeinheit39. Auch würden nach Ansicht des Gesetzgebers bei dieser Rechtsform „am ehesten sachgemäße Grundsätze für seine Verhängung und die Bemessung der Verbotsfrist herausgearbeitet werden können“40. Viel entscheidender finde ich jedoch den Aspekt, dass Anknüpfungspunkt der Verhängung des Fahrverbotes die Tat bzw der darin liegende Pflichtverstoß des Kraftfahrers bildet. Als Sanktion richtet sich das Fahrverbot also gegen eine vergangene Tat. Anders die Maßregeln – ihr Anknüpfungspunkt ist eine gegenwärtige Gefahr, die Tat hingegen nur ein Mittel zur Erkennung dieser Gefahr. Aus diesem Grund ist über die Maßregeln ja auch gemäß § 2 Abs. 6 StGB nach dem zur Zeit der Entscheidung geltenden Gesetz zu urteilen und über Strafen gemäß § 2 Abs. 1 StGB nach dem zur Zeit der Tat geltenden Gesetz. Viel irritierender finde ich deshalb § 44 Abs. 1 S. 2 StGB: „Ein Fahrverbot ist in der Regel anzuordnen, wenn in den Fällen einer Verurteilung nach § 315c Abs. 1 Nr. 1 Buchstabe a, Abs. 3 oder § 316 die Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 69 unterbleibt“. Eine völlige Vermengung von Maßregel und Nebenstrafe. USch: Nun, der Satz hat nach meiner Interpretation eine gewisse Logik: Wo Sicherung (und Besserung) nicht erforderlich ist, muss aber in der Regel wenigstens noch abgeschreckt werden! DMH: Aber Sie haben es doch selbst einmal als „fragwürdig“ bezeichnet, dass ein Regelfahrverbot vorgesehen wird, wenn bei dem Täter einer Verkehrsstraftat „die Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 69 unterbleibt“: „Der, der sich nicht als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erwie-
38 Begründung des Entwurfs eines 2. Gesetzes zur Sicherung des Straßenverkehrs, BT-Drs IV/651, S. 13; BGHSt 29, 58 (60 f.); LK12-Geppert § 44 Rn 1; MK-StGB-Athing, 2003, § 44 Rn 1; Lackner/Kühl 26, 2007, § 44 Rn 1; Fischer 57, 2010, § 44 Rn 2. 39 Siehe hierzu ausführlich Halecker, Der „Denkzettel“ Fahrverbot, 2009, S. 43 ff. 40 Begründung des Entwurfs eines 2. Gesetzes zur Sicherung des Straßenverkehrs, BT-Drs IV/651, S. 13.
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sen hat, wird also zum Ausgleich bestraft? […] Strafe als Surrogat für die Maßregel der Entziehung der Fahrerlaubnis?“41 USch: Ja, na klar, wenn man das Fahrverbot als Nebenstrafe und nicht als Maßregel begreift. So füllt aber heute das Fahrverbot dogmatisch fragwürdig eine Lücke, die das Maßregelrecht eröffnet, weil es eben nur Maßregeln der Besserung und Sicherung, nicht aber der Abschreckung, also der dritten Komponente der Spezialprävention, kennt! So wie die Maßregeln fakultativ neben der Strafe angeordnet werden können, sofern ein besonderes Besserungs- bzw Sicherungsbedürfnis zutage tritt, kann das Fahrverbot bei besonderem Abschreckungsbedürfnis zusätzlich verhängt werden – aber als Strafe? DMH: Das BVerfG sagt: Beim Fahrverbot stehe „seinem Wesen und seiner Wirkung nach nicht die Vergeltung für begangenes Unrecht im Sinne einer Kriminalstrafe, sondern die an ein strafbares Verhalten neben der eigentlichen Strafe geknüpfte Pflichtenmahnung zur künftigen Beachtung der Verkehrsregeln im Vordergrund“42. USch: Ja, aber spricht das so unbedingt gegen meine Interpretation? „Eigentliche“ Strafe! So eine „richtige“ Strafe ist es nach dieser Formulierung mithin nun eher nicht unbedingt. Und man sollte auch den nächsten Halbsatz des BVerfG noch dazu lesen: „[…] so war der Gesetzgeber nicht gehindert, dem Fahrverbot im Rahmen der Verkehrsordnungswidrigkeiten den Strafcharakter zu nehmen und es als erzieherische Nebenfolge auszugestalten.“ Der Strafcharakter ist also für das Fahrverbot nicht unabdingbar. DMH: Gleichwohl bleibt es auch nach der Argumentation des Bundesverfassungsgerichts dabei, dass für das Fahrverbot wie für alle anderen Strafen die Tat Anknüpfungspunkt für seine Verhängung bleibt. Die unterschiedliche Auskleidung der Rechtsfolgen durch den Gesetzgeber hat zudem verschiedene Konsequenzen. Die wichtigste besteht wohl darin, dass die Verhängung eines Fahrverbotes als Nebenstrafe es erforderlich macht, die Hauptstrafe entsprechend zu mindern, um eine Schuldüberschreitung zu verhindern. USch: Richtig, wobei die Unterschiede in der Praxis nicht so bedeutsam sind, weil der Maßregelvollzug nach § 67 Abs. 4 StGB weitgehend auf die Strafe angerechnet wird und überhaupt gemäß § 46 Abs. 1 S. 2 StGB die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind, Berücksichtigung finden müssen. Das Gesetz meint damit die Auswirkungen der Bestrafung im weiten Sinn, wozu auch die Anordnung von Maßregeln zählt 43. DMH: Und was wollen Sie daraus folgern? USch: Jedenfalls nicht, dass sich hier ein dramatischer Unterschied erkennen lässt. Und es befriedigt mich vor allem zunächst einmal einfach systema41 42 43
Scheffler, Blutalkohol 2001, 115. BVerfGE 27, 36 (42). Fischer 57 § 46 Rn 7; BeckOK-StGB-Stoll, 11. Edition März 2010, § 70 Rn 9.
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tisch nicht, auf der einen Seite so eine obskure Nebenstrafe der Abschreckung zu haben und auf der anderen Seite ein im Bereich der Abschreckung unvollständiges Maßregelkonstrukt. DMH: Ein sehr formales Argument! USch: Und noch etwas fällt mir auf: Die strukturelle Verwandtschaft. Die Freiheitsstrafe soll bessern und sichern. Sie wird durch die Maßregeln punktuell ergänzt: Die Besserung gemäß § 2 S. 1 StVollzG („Im Vollzug der Freiheitsstrafe soll der Gefangene fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen“) soll bei psychisch Kranken bzw Süchtigen durch (zusätzliche) Unterbringung nach §§ 63, 64 StGB erreicht werden. Der Sicherung gemäß § 2 S. 2 StVollzG („Der Vollzug der Freiheitsstrafe dient auch dem Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten“) kann zusätzlich bei Hangtätern die Sicherungsverwahrung, bei Verkehrsdelinquenten die Entziehung der Fahrerlaubnis und bei berufsbezogener Kriminalität das Berufsverbot dienen. DMH: Und die Führungsaufsicht? USch: Bei der Polizeiaufsicht des früheren Rechts (§§ 38, 39 StGB bis zum 2. StrRG) war klar, dass sie reinen Sicherungscharakter trug. Heute soll sie nach ihrer gesetzlichen Konzeption die Verhütung künftiger Straftaten gleichrangig durch Hilfe für den Verurteilten und durch Sicherung der Allgemeinheit vor dem gefährlichen Täter zu erreichen suchen; im Einzelfall soll je nach den konkreten Bedürfnissen der eine oder der andere Gesichtspunkt mehr im Vordergrund stehen44. Ich würde das mal so formulieren: Als nur temporäre Sicherungsmaßnahme muss sie sich auch um die Besserung kümmern – das, was ich soeben für die Entziehung der Fahrerlaubnis, die ja mit Ausnahme von § 69a Abs. 1 S. 2 StGB ebenfalls zeitlich begrenzt ist, kritisiert habe. Für diese Lesart spricht auch § 68c Abs. 2 StGB, wonach das Gericht die unbefristete Führungsaufsicht anordnen kann, wenn der Verurteilte sich einer Heilbehandlung oder einer Entziehungskur verweigert. Und umgekehrt hat sie den Sinn, noch eine gewisse Sicherungsfunktion auszuüben, wenn Besserungsmaßnahmen ausgelaufen sind (vgl. § 67d Abs. 2, 4, 5, 6 StGB). Bei der Entlassung aus der Sicherungsverwahrung liegt das besonders deutlich auf der Hand (§ 67d Abs. 3 StGB).
44 Lackner/Kühl 26 § 68 Rn 1; siehe auch vor § 68 Rn 1: „In einem wechselvollen Gesetzgebungsverfahren […] ist für [die Führungsaufsicht] eine Konzeption entwickelt worden, die der Verwirklichung des Resozialisierungs- und des Sicherungszwecks gleich breiten Raum lässt und daher eine Anpassung an die Bedürfnisse des Einzelfalls ermöglicht […] Sie soll namentlich den Übergang kriminell besonders schwer Gefährdeter aus dem Vollzug in die Freiheit nicht nur im Interesse der Verurteilten durch soziale Hilfen erleichtern, sondern ihn zugleich auch zum Schutz der Allgemeinheit sichern […] Die Verbindung dieser komplexen und von vornherein nicht spannungsfreien Aufgaben in einer Maßregel hat zum Teil harte Kritik erfahren […]“.
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DMH: Okay, ich hatte Sie unterbrochen. Sie waren bei der strukturellen Verwandtschaft … USch: Ja. Durch die Maßregeln blitzt der alte Gedanke der spiegelnden Strafe. In die Entziehungsanstalt kommen nur Alkoholiker und nicht Abstinenzler, Berufsverbot erhalten keine Freizeittäter, ausschließlich Verkehrsstraftätern wird die Fahrerlaubnis entzogen. DMH: Oder sie erhalten ein Fahrverbot … USch: Ja, eben! Bei Maßregeln – wegen ihres spezialpräventiven Charakters – akzeptieren wir keine andere Art der Verhängung. DMH: Nun gibt es aber viele Bestrebungen, das Fahrverbot auch bei allgemeiner Kriminalität zu ermöglichen45. USch: Aber dies wird doch von der Bevölkerung nicht akzeptiert! Ob ich meine Studenten frage, meine Bekannten unterschiedlichster Couleur – alle lehnen das Fahrverbot bei allgemeiner Kriminalität letztlich mit der Begründung mangelnder Konnexität ab. Wenn ich dann nachhake und darauf hinweise, dass wir doch auch die Geldstrafe nicht nur bei Vermögensdelikten verhängen und die Freiheitsstrafe nicht nur bei Freiheitsberaubung, kommt ein sprachloses Schulterzucken. Und das auch bei Leuten, denen sonst Strafen nicht hart genug sein können. DMH: Auf den ersten Blick mag dies für eine strukturelle Verwandtschaft des Fahrverbotes mit den Maßregeln sprechen, aber der spiegelnde Effekt besteht bei Letzteren nicht zwischen Tat und Maßregel, sondern erwiesener Gefahr und speziell dagegen ausgerichteter Maßregel. Anders beim Fahrverbot, mit ihm wird auf die Tat als solche reagiert, weshalb wir es auch nicht beim Ladendiebstahl akzeptieren. Wenn sich allerdings aus einem Diebstahl oder einer Körperverletzung die Ungeeignetheit zum Führen von Kraftfahrzeugen ergibt – beispielsweise durch erkennbar hohes Aggressionspotential –, so dürfte es in diesen Fällen wohl keine Akzeptanzprobleme mit der Entziehung der Fahrerlaubnis geben. Dafür spricht übrigens auch der Umstand, dass nach § 46 Abs. 1 S. 2 Fahrerlaubnis-Verordnung (FeV) 46 die Fahrerlaubnis auch dann entzogen werden kann, wenn der Betroffene wiederholt oder erheblich gegen Strafgesetze verstoßen hat. Aber lassen wir das einmal dahingestellt. Was schließen Sie denn nun aus Ihren Überlegungen? USch: Dass das Fahrverbot letztlich als eine Maßregel akzeptiert wird, nicht als Strafe.
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Näher LK12-Geppert § 44 Rn 117 ff. § 46 Abs. 1 FeV: „Erweist sich der Inhaber einer Fahrerlaubnis als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen, hat ihm die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen. Dies gilt insbesondere, wenn Erkrankungen oder Mängel nach den Anlagen 4, 5 oder 6 vorliegen oder erheblich oder wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder Strafgesetze verstoßen wurde und dadurch die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen ausgeschlossen ist.“ 46
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DMH: Nach Ihren Gedanken wäre also das Fahrverbot eine Maßregel der Abschreckung. Das hätte doch aber wohl nicht unerhebliche Konsequenzen für die eigentliche Strafe, vor allem für die Wahl der Strafart, oder? Ich weiß aus den Entwürfen Ihrer Kommentierung für den Anwaltkommentar zum StGB, dass Ihrer Ansicht nach die Geldstrafe kein Minus, sondern ein Aliud der Freiheitsstrafe darstellt 47. USch: Ja. Die Strafart ist, anders als die schuldbezogene Strafhöhe, zuvörderst von Präventionsgesichtspunkten, primär von der Spezialprävention zu bestimmen. Die Geldstrafe ist die Strafe für den – in Lisztscher Terminologie – (noch) nicht besserungsbedürftigen Täter, also den Täter, der künftige Straffreiheit auch ohne längerfristige Besserung erwarten lässt – den (zumindest früher) so genannten Gelegenheitstäter: „Hier soll die Strafe […] die Autorität des übertretenen Gesetzes herstellen, sie soll Abschreckung sein, eine gewissermaßen handgreifliche Warnung, ein ‚Denkzettel‘ für den egoistischen Trieb des Verbrechers“48. Geldstrafe hat folglich ihrem Zweck und der Art ihrer erwarteten Wirkung nach gegen der Resozialisierung bedürftige Täter nicht verhängt zu werden! DMH: Wie ist das dann aber für Sie damit vereinbar, dass nach § 44 StGB das Fahrverbot als „Maßregel der Abschreckung“ sowohl neben die Geld- als auch neben die Freiheitsstrafe treten könnte? USch: Nun, zur Geldstrafe passt das Fahrverbot durchaus. Hier ist es in der Lage, die Abschreckungswirkung der Geldstrafe zu ergänzen bzw zu ersetzen. § 44 StGB ist bekanntlich als Kann-Vorschrift ausgestaltet – übrigens meines Erachtens auch ein Aspekt, der mehr für Maßregel- denn für (Neben-)Strafcharakter spricht. Der Richter kann also hier den Verkehrstäter dann mit einem Fahrverbot belegen, wenn die Abschreckungswirkung der Geldstrafe ihm nicht so effektiv erscheint wie die Abschreckung am „Führerschein“ – dort, wo es Verkehrstätern oftmals am meisten weh tun mag. DMH: Straftätern der allgemeinen Kriminalität täte es doch aber im Allgemeinen nicht weniger weh! USch: Ja, aber erfolgreiche (Spezial-)Prävention, also auch Abschreckung, setzt eine gewisse innere Akzeptanz voraus; die fehlt dem Fahrverbot bei allgemeiner Kriminalität. Beim Strafzweck der Besserung ist inzwischen wohl geklärt, dass weniger die Intensität der bessernden Bemühungen als deren Akzeptanz beim zu Bessernden („Leidensdruck“) ausschlaggebend für den Erfolg sein dürfte. Ohne Mitwirkungsbereitschaft des zu bessernden Täters bleibt höchstens Dressur, pures Abrichten (wie bei einem Tier) möglich – also bloße Unterdrückung des ungewünschten Verhaltens.
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AnwK-StGB-Scheffler/D. Matthies vor § 40 Rn 1, 18 (im Erscheinen). Von Liszt, Der Zweckgedanke im Strafrecht, 1882, in: Strafrechtliche Vorträge und Aufsätze Bd. 1, 1905, S. 172. 48
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DMH: Und den Gedanken wollen Sie auf die Abschreckung übertragen? USch: Ist das denn so abwegig? Denken Sie doch mal an die Reaktion von Rasern, die ein (ordnungswidrigkeitenrechtliches) Fahrverbot wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung nachts in eine Tempo-30-Zone vor einem Kindergarten bekommen haben. Da ist die Reaktion Empörung, aber keine „Denk“-Zettel-Wirkung. Man ärgert sich über die – vermeintliche – „Abzocke“, hinterfragt aber nicht das eigene Verhalten. Wenn zukünftig langsamer gefahren wird, dann nur, wenn und soweit Kontrollen befürchtet werden – nicht aus irgendwelcher Einsicht. DMH: Also eine gewisse Parallele dazu, dass man der negativen Generalprävention, der Abschreckung längst die positive Generalprävention zur Seite gestellt hat … USch: Guter Gedanke! – Weiter: Die Verbindung von bessernder Freiheitsstrafe mit abschreckendem Fahrverbot ist dagegen äußerst fragwürdig – genauso wie die Verbindung von (zur Bewährung ausgesetzter) Jugendstrafe mit Jugendarrest; der von der Bundesregierung im Koalitionsvertrag angekündigte Einstiegsarrest wird denn auch von der Wissenschaft beinahe einhellig abgelehnt49. DMH: Aber das hätte ja zur Konsequenz, dass nicht mehr abschreckbare, besserungsbedürftige Kleintäter gleich beim ersten Mal zwecks Besserung zu einer Freiheitsstrafe verurteilt werden müssten? USch: Theoretisch ja. Die Freiheitsstrafe kann dann aber durchaus zur Bewährung, idealiter verbunden mit Weisungen gem. § 56c StGB, ausgesetzt werden – „ambulante“ Besserung. Wie bei einer Krankheit: Nicht stationärer Aufenthalt im Krankenhaus, sondern nur Arztbesuche. – In der Praxis freilich wird man jedoch bei Ersttätern kleinerer Delikte kaum einmal ausschließen können, dass sie noch abzuschrecken sein könnten. Das ist ja wohl auch der Rechtsgedanke von § 47 Abs. 1 Alt. 1 StGB, wonach eine Freiheitsstrafe unter sechs Monaten nur dann ausnahmsweise verhängt werden darf, „wenn besondere Umstände, die in der Tat oder der Persönlichkeit des Täters liegen, die Verhängung einer Freiheitsstrafe zur Einwirkung auf den Täter […] unerlässlich machen“. DMH: Und umgekehrt würden Sie dann sagen, dass die Höchstzahl der Tagessätze der Geldstrafe, 360 gemäß § 40 Abs. 1 StGB, so zu interpretieren ist, dass Verbrecher im Sinne von § 12 Abs. 1 StGB, die deshalb weitgehend nicht in den Genuss einer Geldstrafe kommen können, immer besserungsoder gar sicherungsbedürftig sind? USch: In gewisser Weise ja. Der Gesetzgeber verknüpft offenbar ohnehin die Besserungsbedürftigkeit mit der Schuldschwere, die die Strafhöhe primär
49 Siehe zuletzt Eisenberg, NJW 2010, 1509: „Systematisch sieht das Gesetz Jugendarrest und Jugendstrafe für unterschiedliche Verurteiltengruppen vor […]“.
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bestimmt: Die Vollstreckung von Freiheitsstrafen bis zu einem Jahr kann gemäß § 56 Abs. 1 StGB relativ leicht „ambulant“ zur Bewährung ausgesetzt werden, von Strafen bis zu zwei Jahren nur unter engeren Voraussetzungen (§ 56 Abs. 2 StGB), und bei noch längeren Freiheitsstrafen kann höchstens ein Strafrest ausgesetzt werden (§ 57 StGB). DMH: Je schwerer die Straftat, desto naheliegender intensive Besserungsbedürftigkeit. USch: Das kann man so formulieren. Es kommt aber noch ein Aspekt dazu: Eine Geldstrafe von 500, 1000 oder gar noch mehr Tagessätzen tendiert nicht mehr zur Abschreckung, sondern zur Erdrosselung. Der Gesetzgeber hat sich 1969 im letzten Augenblick für das sog. Nettoeinkommensprinzip und gegen das Einbußeprinzip entschieden 50. Das impliziert nun aber – jedenfalls im Grundsatz –, das gesamte Einkommen des Verurteilten abzuschöpfen, ohne Berücksichtigung des Existenzminimums oder gar des Pfändungsfreibetrages. Selbst in Anbetracht dessen, dass hier insbesondere durch die Ratenzahlungsmöglichkeit (§ 42 StGB) gewisse Abfederungen möglich sind, dürfte nicht nur bei dem, der über keinerlei Rücklagen verfügt, dann regelmäßig nicht mehr von einer bloßen Denkzettelwirkung ausgegangen werden können. Anderes hätte vielleicht gegolten, wenn der Gesetzgeber bei dem zunächst von ihm präferierten Einbußeprinzip geblieben wäre, gar in Form der vom Alternativentwurf vorgeschlagenen Laufzeitgeldstrafe51. DMH: Aber Konflikttäter, sicher auch so manche Wirtschaftskriminelle, die eine höhere Strafe verwirkt haben, mögen doch grundsätzlich durchaus noch abzuschrecken sein? USch: Ja, durchaus. Bei Konflikttätern, die schwere Taten begehen, scheitert die Verhängung einer Geldstrafe aber nicht nur formal daran, dass die nach der Schuldschwere zu bemessende Strafe wegen der Obergrenze von 360 Tagesätzen in § 40 Abs. 1 StGB eben keine Geldstrafe mehr sein kann. Materiell schlägt darüber hinaus zum einen der gleiche Rechtsgedanke durch, der in § 47 Abs. 1 Alt. 2 StGB ausnahmsweise eine Freiheitsstrafe gebietet („Eine Freiheitsstrafe unter sechs Monaten verhängt das Gericht nur, wenn besondere Umstände, die in der Tat oder der Persönlichkeit des Täters liegen, die Verhängung einer Freiheitsstrafe […] zur Verteidigung der Rechtsordnung unerlässlich machen.“): Bei Freiheitsstrafen über einem Jahr müsste der Austausch gegen eine Geldstrafe – übrigens erst Recht bei einer Orientierung am erwähnten Einbußeprinzip – „für das allgemeine Rechtsempfinden schlechthin unverständlich erscheinen“, so dass „das Vertrauen in die Unverbrüchlichkeit des Rechts und an den Schutz der Rechtsordnung vor krimi-
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MK-StGB-Radtke § 40 Rn 4; Lackner/Kühl 26 vor § 40 Rn 2. §§ 49 ff. AE StGB-AT.
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nellen Angriffen dadurch erschüttert werden könnte“52. Zum anderen, nicht zuletzt bei Affekt-„Mördern“, könnte man aber auch interpretieren – Sie haben das eben schon in diese Richtung angedacht –, dass jemand, der die Hemmschwelle zur schweren Verletzung, gar Tötung eines anderen überschreitet, regelmäßig bessernder Intervention bedarf. In diesem Zusammenhang findet sich in der neueren Rechtsprechung des BGH durchaus die Tendenz, auch beim Affekttäter auf eine Grunddisposition das Augenmerk zu legen, aufgrund derer „von ihm infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist“, so dass seine Unterbringung gemäß § 63 StGB in Betracht kommt53. DMH: Und bei Wirtschafts- oder Steuerstraftätern? USch: Hier bietet, wie ich finde, § 41 StGB eine spannende Interpretation an: Nach der Norm kann neben einer Freiheitsstrafe eine Geldstrafe verhängt werden, sofern der Täter sich durch die Tat bereichert oder zu bereichern versucht hat. Die gesetzliche Konzeption des § 41 StGB gilt oftmals als fehlgeschlagen54: Die Kumulation von Freiheitsstrafe und Geldstrafe wirke sich für die Resozialisierung des Täters meist ungünstig aus und stehe deshalb in einem „latenten Spannungsverhältnis“ zu § 46 Abs. 1 S. 2 StGB55. Und sie habe auch wenig Nutzen: Ist es zu einer objektiven Bereicherung des Täters gekommen, greifen die Vorschriften des Verfalls ein und schöpfen die Vermögensvorteile des Täters ab. Auch dann, wenn eine Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt wird, ist § 41 StGB nicht erforderlich, um den Täter auch mit einer sofort vollstreckbaren Sanktion treffen zu können56, weil eine Auflage nach § 56b Abs. 2 Nr. 2 oder 4 StGB möglich ist, der durch § 56f Abs. 1 Nr. 3 StGB genügend Nachdruck verliehen werden kann57. DMH: Ja, über die Verfallvorschriften und die bewährungsflankierende Geldauflage können Sanktions- und Entreicherungsgesichtspunkte in ausreichendem Maße berücksichtigt werden58. USch: Richtig verstanden sollte § 41 StGB jedoch mit Blick auf § 44 StGB, das Fahrverbot, interpretiert werden59. DMH: Sie meinen also, wie das Fahrverbot eine Nebenstrafe ist, die – nach Ihrer Ansicht – einer Maßregel der Abschreckung vergleichbar ein Zusatz52
BGHSt 24, 40 (46). Siehe BGH NStZ 1993, 181; BGH NStZ-RR 2008, 140; siehe aber auch BGH NStZRR 2009, 136. 54 MK-StGB-Radtke § 41 Rn 15; NK3-H.-J. Albrecht, 2010, § 41 Rn 9. 55 BGHSt 26, 325; BGH NJW 1984, 2170; Lackner/Kühl 26 § 41 Rn 1; siehe aber SSWStGB-Mosbacher, 2009, § 41 Rn 5. 56 So LK12-Häger, 2006, § 41 Rn 12. 57 S/S28-Stree/Kinzig § 41 Rn 6; MK-StGB-Radtke § 41 Rn 10; SSW-StGB-Mosbacher § 41 Rn 13. 58 Siehe MK-StGB-Radtke § 41 Rn 11; NK3-H.-J. Albrecht § 41 Rn 9. 59 Vgl. Halecker, Der „Denkzettel“ Fahrverbot, 2009, S. 100. 53
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instrument für Straftaten mit Verkehrbezug darstellt, so kann § 41 StGB in Bezug auf Bereicherungskriminalität verstanden werden60? USch: Ja. (Nur) bei solchen Delikten entspricht die Geldstrafe dem alten Rechtsgedanken der „spiegelnden Strafe“61, die gerade deshalb besonders wirksam ist oder jedenfalls sein soll, weil sie den Täter der Art der Strafe nach mit dem Abzug dessen sanktioniert, was er durch die Tat erlangen wollte. Täter, die Vermögensvorteile anstreben, sollen durch die kumulative Strafe also deshalb auch wirtschaftlich getroffen werden, weil sie im Hinblick auf eine solche Sanktionierung gerade als besonders empfindlich eingeschätzt werden62. § 41 StGB beinhaltet also eine Übelzufügung mit dem Ziel der Spezialprävention63. DMH: Und was folgt Ihrer Ansicht nach daraus nun für die Bestrafung von Wirtschafts- oder Steuerstraftätern? USch: Nun, § 41 StGB scheint einen merkwürdigen Mix darzustellen: Ein Täter wird mit Freiheitsstrafe (mit oder ohne Aussetzung der Vollstreckung zur Bewährung) zwecks Besserung belegt, soll aber gleichzeitig – wie ein nicht Besserungsbedürftiger? – mit Geldstrafe abgeschreckt werden! Dem könnte man allerdings folgenden Sinn geben: Weil Geld- und Bewährungsstrafen nun einmal nicht mehr bei schwerwiegenderen Delikten statthaft sind, müssten an sich namentlich im Bereich der Wirtschaftskriminalität (Stichwort: white collar crime!) wegen der Tatschwere häufiger Freiheitsstrafen gegen noch Abschreckungsempfängliche, also noch nicht Besserungsbedürftige verhängt und vollstreckt werden – aus spezialpräventivem Blickwinkel wenig sinnvoll. DMH: Also wäre die Anwendung von § 41 StGB „angebracht“, um beim noch abschreckbaren, auf Geldstrafe strafempfindlich reagierenden Täter möglichst eine Freiheitsstrafe zu vermeiden? USch: Ja, jedenfalls eine, deren Vollstreckung nicht zur Bewährung ausgesetzt werden kann. Dem entspricht es, dass nach hM die kumulativ angedrohte Geldstrafe keine Strafrahmenerweiterung bewirkt 64. Vielmehr sollen vom Höchstmaß der angedrohten Strafe die Tagessätze der Geldstrafe abgezogen werden, damit das im Strafrahmen zum Ausdruck kommende
60 Auch BGH NJW 1985, 1719 mit Anm. Bruns, JR 1986, 71 ff. betont Parallelen zwischen Nebenstrafen und § 41 StGB. 61 LK12-Häger § 41 Rn 3; MK-StGB-Radtke § 41 Rn 7. 62 MK-StGB-Radtke § 41 Rn 7; NK3-H.-J. Albrecht § 41 Rn 9 („Alltagsüberzeugung“); so schon Frank, StGB, 18. Aufl. 1931, § 27a Anm. 63 GS-Hartmann, 2008, § 41 Rn 1; ähnlich Fischer 57 § 41 Rn 3. 64 MK-StGB-Radtke § 41 Rn 34; S/S28-Stree/Kinzig § 41 Rn 8; SK-Wolters, 120. Lfg. Nov. 2009, § 41 Rn 2; Fischer 57 § 41 Rn 7; Lackner/Kühl 26 § 41 Rn 4; Meier, Strafrechtliche Sanktionen, 3. Aufl. 2009, S. 61 f.; so wohl auch BGH NStZ 2008, 198; aA LK12-Häger § 41 Rn 19.
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Schuldhöchstmaß nicht überschritten wird65. Der BGH hat es demzufolge auch zugelassen, dass in Konstellationen, in denen der Täter eine nicht aussetzungsfähige Freiheitsstrafe verwirkt hat, es die zusätzliche Geldstrafe ermöglichen kann, die Freiheitsstrafe auf ein aussetzungsfähiges Maß zu „drücken“. Erforderlich ist, dass die Kumulierung als eine dem Täter und der Tat insgesamt besser gerecht werdende Sanktion erscheint66. DMH: Also wird sozusagen auf kaltem Wege der Bereich der aussetzbaren Strafen von zwei Jahren auf drei Jahre erhöht: Zwei Jahre aussetzbare Freiheitsstrafe plus ein Jahr Geldstrafe 67. USch: Ja, nach dieser Interpretation würde es § 41 StGB ermöglichen, bei nicht besserungsbedürftigen Vermögensstraftätern, die wegen des Schuldprinzips nicht mehr durch schlichte Geldstrafenverhängung abgeschreckt werden dürfen, zum einen doch noch mit einer abschreckenden Geldstrafe versehen zu können und zum anderen den unter spezialpräventiven Gesichtspunkten bei ihnen zumindest sinnlosen, wenn nicht gar kontraindizierten Strafvollzug zu vermeiden. Der BGH hat dementsprechend selbst die Verhängung einer Gesamtgeldstrafe von 700 Tagessätzen neben einer zweijährigen, zur Bewährung ausgesetzten Gesamtfreiheitsstrafe gebilligt 68. DMH: Und strukturell könnte dann also die Bewährungsstrafe noch mit finanziell spürbaren Auflagen gemäß § 56b StGB versehen werden, etwa Zahlungen zugunsten der Staatskasse gemäß Abs. 2 Nr. 4. USch: Ja, solche Auflagen sollen der Genugtuung für das begangene Unrecht dienen: „Das Gesetz geht, ganz realistisch, davon aus, dass es oftmals unbefriedigend erscheinen würde, wenn ein Straftäter außer einer bloß verbal und damit eher ‚virtuell‘ empfundenen Verurteilung zu einer Bewährungsstrafe keinerlei direkt spürbare Folgen aus seiner Straftat verspüren müsste; dem soll mit dem Institut der Auflagen entgegengewirkt werden. Auflagen sind also grundsätzlich als Beeinträchtigung des Verurteilten, als Übelzufügung, konzipiert […] Der aus der Sicht des Verletzten ebenso wie aus der der Gesellschaft durch die Straftat verletzte Rechtsfrieden wird durch die Erbringung der Auflage (= Buße) wiederhergestellt […]“69. Vielleicht sollte man
65 S/S28-Stree/Kinzig § 41 Rn 8; SK-Wolters § 41 Rn 3; NK3-H.-J. Albrecht § 41 Rn 5; Fischer 57 § 41 Rn 7; Lackner/Kühl 26 § 41 Rn 5; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 4. Aufl. 2008, Rn 214; offengelassen von BGH NStZ 1993, 408 (409); Maurach/Zipf, Strafrecht Allgemeiner Teil, Teilbd. 2, 7. Aufl. 1989, § 59 III Rn 33. 66 BGHSt 32, 60 (65) mit Anm. Horn JR 1984, 211; BGH NJW 1984, 2170 (2171); BGH NJW 1985, 1719 mit Anm. Bruns JR 1986, 71; BGH StV 1999, 424 (426); Fischer 57 § 41 Rn 5; BeckOK-StGB-von Heintschel-Heinegg, 11. Edition März 2010, § 41 vor Rn 1. 67 AG Saarbrücken NStZ 1984, 76 mit Anm. Horn NStZ 1984, 77; siehe auch SK-Wolters § 41 Rn 4; Mitsch, JA 1993, 307. 68 BGH StV 1999, 424 (425) – insoweit in NStZ 1999, 571 nicht abgedruckt; siehe auch BGH NJW 2001, 1436. 69 MK-StGB-Groß, 2003, § 56b Rn 2.
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sich, jedenfalls vom Grundsatz her – auch um die Akzeptanz der Bewährungsstrafe zu steigern –, dem Gedanken nähern, dass die ansonsten verwirkte Geldstrafe als Auflage zu verhängen ist; dann ergäbe sich ein Stufenverhältnis von Geld- über Bewährungs- zu (vollstreckter) Freiheitsstrafe. DMH: Ich komme noch einmal zurück: Wenn Sie die kumulative Geldstrafe des § 41 StGB mit Blick auf § 44 StGB, das Fahrverbot, interpretieren, sehen Sie sie letztlich also auch nicht als Nebenstrafe, sondern als Maßregel der Abschreckung an? USch: Ja, dieser Gedanke geht mir durch den Kopf. In gewisser Weise schon. DMH: Und das Fahrverbot „passt“ nur zur Geldstrafe? USch: Grundsätzlich ganz klar ja. Ob allerdings doch einmal untypische spezialpräventive Konstellationen denkbar sind, in denen eine Mixtur von (zur Bewährung ausgesetzter) Freiheitsstrafe und Fahrverbot Sinn machen kann, sei mal vernachlässigt. Immerhin eröffnet § 44 StGB diese Möglichkeit durchaus. DMH: Gut, lassen wir das dahingestellt. – Bei der Verhängung einer Freiheitsstrafe kommt also insoweit kein Fahrverbot, sondern nur die Entziehung der Fahrerlaubnis in Betracht? USch: Ja, das dürfte auch heute schon der allgemeinen Praxis entsprechen. DMH: Das heißt aber umgekehrt, dass im Falle der Verhängung einer Geldstrafe die Fahrerlaubnis nicht entzogen werden darf? USch: Ja. DMH: Dann muss der Richter also Freiheitsstrafe verhängen, um die Fahrerlaubnis entziehen zu können? Welchen Sinn hat denn die Entziehung der Fahrerlaubnis, wenn der Täter eh im Strafvollzug sitzt und ohnehin nicht fahren kann? USch: Das sind zwei Fragen. Zunächst zum Sinn: In den meisten in Betracht kommenden Fällen wird die Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Dann kann die Entziehung der Fahrerlaubnis sogar mit bestimmten Weisungen gemäß § 56c StGB verbunden werden; der Katalog des Abs. 2 ist nicht abschließend („namentlich“). So kommt durchaus das Gebot, an einem Verkehrsunterricht oder einer gruppenpädagogischen Nachschulung für Alkoholtäter (einem „Aufbauseminar für Kraftfahrer“) teilzunehmen, in Frage70. Und bei nicht zur Bewährung ausgesetzter Freiheitsstrafe liegt ja wohl ein massives Verkehrsdelikt zugrunde. Hier kann gemäß § 69a Abs. 1 S. 1 StGB eine Sperre von bis zu fünf Jahren angeordnet werden. So lange dürfte nun sicher auch in solchen Fällen ein Strafvollzug kaum einmal dauern. Ein längerer Entzug der Fahrerlaubnis kann also durchaus einen Sinn haben. Übrigens
70 Lackner/Kühl26 § 56c Rn 6; näher Schädler, Blutalkohol 1984, 322; Kunkel, Blutalkohol 1984, 332 ff.
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kann nach dem StGB die Sperre „für immer“ angeordnet werden. Da selbst eine für immer angeordnete Sperre nach § 69a Abs. 7 StGB aufgehoben werden kann71, hätte eine Sperre also in jedem Fall den Sinn, einen Anreiz für die Teilnahme an einem Aufbauseminar für Kraftfahrer zu setzen. DMH: Und wie verhält es sich mit meiner anderen Frage: Der Richter ist also regelrecht gezwungen, Freiheitsstrafe zu verhängen, um die Fahrerlaubnis entziehen zu können? USch: Ja, das hängt doch von der Vorentscheidung der Frage der Besserungsbedürftigkeit ab! Meint der Richter, eine Geldstrafe sei adäquat, kommt dann in der Tat zusätzlich nur ein Fahrverbot in Betracht – auch hier das Nachdenken über untypische Konstellationen außer Acht gelassen. DMH: Das ist nun aber heute sicher nicht allgemeine Praxis! USch: Weiß ich. Aber haben nicht auch Sie in Ihrer Dissertation dafür plädiert, die Entziehung der Fahrerlaubnis zugunsten des Fahrverbotes zurückzudrängen72? Sie haben doch vorhin die Aussage zitiert, dass des Öfteren der Zweck der Maßregel bereits durch die Anordnung der vorläufigen Entziehung gemäß § 111a StPO als erreicht angesehen werden könne, weil der Täter durch diese Maßnahme bereits beeindruckt sei. Das sind doch genau Fälle, in denen eigentlich nicht eine Maßregel der Besserung, sondern ein Fahrverbot zu verhängen wäre! DMH: Dann sehen Sie es also durchaus als stringent an, wenn der BGH es billigt, in dieser Konstellation, obwohl wegen der Anrechnung nach § 51 Abs. 5 StGB ohne Konsequenzen (von der Eintragung ins Bundeszentralregister einmal abgesehen), dennoch die Verhängung eines symbolischen Fahrverbotes (jedenfalls in den Fällen des § 44 Abs. 1 S. 2 StGB) für geboten zu achten73? USch: Ja, durchaus. Wenn man das erkennt, zeigt sich auch nochmals, dass die Maßregel der Entziehung der Fahrerlaubnis zu modifizieren ist: Sie muss zwingend mit Besserungsmaßnahmen einhergehen. Erscheinen Besserungsmaßnahmen nämlich nicht erforderlich, ist lediglich an die Verhängung eines Fahrverbotes zu denken! DMH: Aber zwischen beiden Rechtsfolgen klafft doch eine Lücke, weil das Fahrverbot maximal nur drei Monate lang sein darf. USch: Diese Lücke kann ja geschlossen werden. Heute gibt es doch Bestrebungen, das Fahrverbot auf sechs Monate, gar ein Jahr auszudehnen. Früher wurden sogar Fahrverbotsspannen von bis zu fünf Jahren diskutiert74.
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LK12-Geppert § 69a Rn 78. Siehe Halecker, Der „Denkzettel“ Fahrverbot, 2009, S. 51 ff. BGHSt 29, 58; näher dazu LK12-Geppert § 44 Rn 35 f. Siehe die Nachweise bei LK12-Geppert § 69 Rn 12 Fn 52.
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DMH: Dagegen besteht doch aber insbesondere der Einwand, dass es dann häufig nicht mehr möglich sein würde, die Fahrerlaubnis nach § 111a StPO vorläufig zu entziehen, weil infolge des fließenden Überganges zum Fahrverbot nicht mehr so ohne weiteres dringende Gründe für die Annahme vorliegen würden, dass die Fahrerlaubnis nach § 69 StGB entzogen werden wird75. USch: Richtig, weil das Fahrverbot, verstanden als Nebenstrafe, sich einer strafrechtlichen Eilmaßnahme wie der des § 111a StPO entzieht, „die aus rechtsstaatlichen Gründen nur bei einer ‚Maßregel‘-Lösung möglich ist“76. DMH: Das dürfte auch ein Grund sein, warum das Fahrverbot neben der Entziehung der Fahrerlaubnis im Strafrecht so ein Schattendasein führt: Nur bei Sachverhalten, die die Entziehung der Fahrerlaubnis relativ sicher erwarten lassen, kann man den Fahrer gleich aus dem Verkehr ziehen. USch: Ja, es wird oft bedauert, dass sich ein vorläufiges Fahrverbot verbietet, weil es eben eine Strafe ist 77. Bei Annahme einer Maßregel ginge dies prinzipiell … DMH: Also, Herr Scheffler, bei aller Argumentation bleibe ich aus dogmatischer Warte sehr skeptisch. Und die rechtlichen Konsequenzen einer Uminterpretation des Fahrverbotes zu einer Maßregel sind schwer zu überblicken. Ich dachte eigentlich, zumindest tendenziell wären Sie eher für die Zurückdrängung der Maßregeln, die schnell in den Ruch des Etikettenschwindels kommen und bei denen verschiedene rechtsstaatliche Garantien – etwa das gerade angesprochene Verbot der Verhängung strafrechtlicher Rechtsfolgen vor der Verurteilung! – weniger ausgeprägt sind. USch: Ja, Frau Halecker, das alles ist mir bei meinen Gedankenspielen bewusst. Ich würde allerdings die Stoßrichtung umdrehen und sagen, man sollte – wie für den guten alten von Liszt im Grundsatz noch selbstverständlich – mit allen Konsequenzen anerkennen, dass auch Maßregeln „richtiges“ Strafrecht sind. Dass nach § 2 Abs. 6 StGB Maßregeln vom Rückwirkungsverbot ausgenommen sind, für einige Maßregeln das Verbot der reformatio in peius nicht gilt (§§ 331 Abs. 2, 358 Abs. 2, 373 Abs. 2 StPO) – das in Frage zu stellen wäre der Ansatz. Ich versuche mit meinen Gedankenspielen ja auch eigentlich nur, für mich etwas mehr Klarheit in einige meiner Ansicht nach nicht sehr schlüssige Interpretationen des Rechtsfolgenrechts zu bringen. Ob das nicht vielleicht ein Irrweg ist, das weiß ich auch nicht. Ich finde aber, man könnte darüber mal näher nachdenken. DMH: Soweit gehe ich mit.
75
Entwurf der Bundesregierung für ein Gesetz zur Reform des Sanktionsrechts, BT-Drs 15/2725, S. 22 f.; LK12-Geppert § 69 Rn 12. 76 LK12-Geppert § 69 Rn 12. 77 Näher F. Albrecht, NZV 1998, 397 ff.
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USch: Mein Vorschlag: Wir präsentieren unsere Gedanken Klaus Geppert in seiner Festschrift zum 70. Geburtstag. Der Jubilar hat so viel über die Nebenstrafe Fahrverbot und die Maßregel der Entziehung der Fahrerlaubnis namentlich im Leipziger Kommentar geschrieben, da wäre es doch möglich, dass er unsere Diskussion ein klein wenig spannend findet, oder?
Zur Strafbarkeit des Verteidigers wegen Strafvereitelung durch Stellen von Beweisanträgen zum Zwecke der Prozessverschleppung Hartmut Schneider I. Einleitung Die Möglichkeit zu aktiver Beweisteilhabe prägt die strafprozessuale Stellung des Angeklagten. Das Recht, Gang und Ergebnis der Hauptverhandlung durch Beweisanträge zu beeinflussen, bewirkt die Emanzipation des Angeklagten vom bloßen Objekt der forensischen Untersuchung zum Prozesssubjekt. Es ist ein unverzichtbarer Kernbestandteil des Strafverfahrens.1 Im strafprozessualen Alltag tritt der Angeklagte selbst kaum als Antragsteller in Erscheinung. Da er als Laie mit den Feinheiten der Materie gemeinhin nicht oder bestenfalls rudimentär vertraut ist, bedarf er zur sachgerechten Ausübung des Beweisantragsrechts in aller Regel der Unterstützung eines Verteidigers. Dieser stellt als Beistand des Angeklagten Beweisanträge in Wahrnehmung eigener Rechte und ist dabei weder in inhaltlicher noch in zeitlicher Hinsicht an Vorgaben seines Mandanten gebunden.2 Mit dem Beweisantragsrecht verfügt der Verteidiger über ein wirkungsvolles Instrument zur Mitgestaltung der für das Urteil nach § 261 StPO ausschlaggebenden Tatsachengrundlage. Da Beweisanträge nur nach Maßgabe der in §§ 244 Abs. 3–5 und 245 Abs. 2 StPO normierten Ablehnungsgründe zurückgewiesen werden dürfen, kann er das Gericht zu Beweiserhebungen zwingen, zu denen dieses aus eigenem Zutun im Lichte des Amtsaufklä-
1 Zur Unverzichtbarkeit des Beweisantragsrechts siehe die vorzüglichen Darlegungen in Hamm/Hassemer/Pauly Beweisantragsrecht, 2. Aufl. 2007, Rn. 18–28. Ähnlich Deckers Der strafprozessuale Beweisantrag, 2. Aufl. 2007, S. 6–13 sowie Beulke FS Amelung, S. 543, 556 f. 2 Vgl. bereits RGSt 17, 315 sowie BGH NJW 1953, 1314; aus jüngster Zeit BGH NStZ 2009, 581, 582. Für das Schrifttum sei auf Fischer in: Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 6. Aufl. 2008, § 244 Rn. 97; Becker in: Löwe/Rosenberg, Strafprozessordnung, Band 6/Teil 1, 26. Aufl. 2010, § 244 Rn. 118; Meyer-Goßner Strafprozessordnung, 53. Aufl. 2010, § 244 Rn. 30 und Alsberg/Nüse/Meyer Der Beweisantrag im Strafprozeß, 5. Aufl. 1983, S. 377 verwiesen. Abweichend hingegen Wolf Das System des Rechts der Strafverteidigung, 2000, S. 177 f.
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rungsgrundsatzes keine Veranlassung sieht. Dadurch ist er in der Lage, nicht nur auf den Inhalt, sondern auch auf die Dauer der Hauptverhandlung Einfluss zu nehmen; denn selbst wenn das Gericht die beantragten Beweiserhebungen zu Recht ablehnt, muss es seine Erwägungen hierfür gemäß § 244 Abs. 6 StPO in einem Beschluss dokumentieren und diesen nach § 35 Abs. 1 StPO in der Hauptverhandlung bekannt geben. Dieses Prozedere ist zeitaufwändig; es kann insbesondere in Fällen sukzessiver Antragstellung am Ende der Hauptverhandlung zu einer erheblichen Verlängerung des Verfahrens führen.3 Gegen „späte“ Beweisanträge ist angesichts der Regelung in § 246 Abs. 1 StPO rechtlich nichts zu erinnern, solange der Verteidiger damit das Ziel verfolgt, dem Gericht einen Zugewinn an entscheidungsrelevanten Erkenntnissen zu vermitteln. Dass der Abschluss der Hauptverhandlung dadurch verzögert werden kann, muss im Interesse der Wahrheitsfindung grundsätzlich hingenommen werden.4 Bedient sich der Verteidiger des Beweisantragsrechts hingegen in dysfunktionaler Weise zur Verfolgung prozesswidriger Zwecke,5 kann sich die Situation nachgerade am Ende der Hauptverhandlung geradezu dramatisch zuspitzen. Zur Veranschaulichung mag das folgende fiktive Beispiel dienen: In einem umfangreichen Strafverfahren aus dem Bereich des Rotlichtmilieus sind die zu Beginn der Hauptverhandlung geführten Verständigungsgespräche zwischen dem Verteidiger des Angeklagten und dem Gericht aufgrund weit auseinander liegender Vorstellungen der Verfahrensbeteiligten über die Höhe der zu verhängenden Freiheitsstrafe gescheitert. Gegen Ende der konfliktbehafteten Beweisaufnahme gelangt der Verteidiger zu der Einschätzung, dass die Aussichten auf einen für seinen Mandanten glimpflichen Prozessausgang ungünstig sind. In dieser Situation entschließt er sich dazu, das Gericht durch eine Vielzahl von Beweisanträgen für einen Deal zu seinen – des Verteidigers – Konditionen „weich zu klopfen“. Dabei ist ihm bewusst, dass die von ihm zwischenzeitlich vorbereiteten Beweisbegehren sachlich allesamt unergiebig sind, seinem Mandanten nichts nützen und allein darauf hinauslaufen, den Abschluss der Hauptverhandlung erheblich zu verzögern.
3 Siehe dazu Basdorf StV 1995, 310, 311; Fischer NStZ 1997, 212, 216; Senge NStZ 2002, 225; Bünger NStZ 2006, 305. 4 Eingehend hierzu Alsberg/Nüse/Meyer Beweisantrag, S. 635. 5 Zur terminologischen Unterscheidung zwischen prozessfremden und -widrigen Zwecken siehe Niemöller StV 1996, 501, 503 f. Danach beziehen sich prozesswidrige Zwecke – im Unterschied zu prozessfremden – auf Ablauf und Schicksal des Strafverfahrens; sie sind aber mit seiner Funktion insgesamt oder einzelnen Grundsätzen seiner rechtlichen Ordnung nicht vereinbar. Hierzu gehören vor allem Prozessverschleppung und Verfahrenssabotage.
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In Verfolgung seines Planes geht der Verteidiger nunmehr dazu über, an jedem der wöchentlich abgehaltenen Sitzungstage sukzessive jeweils zwei Beweisanträge zu stellen, um nach deren rechtsfehlerfreier Ablehnung gemäß § 244 Abs. 3 S. 2 Var. 6 StPO im folgenden Termin in gleicher Weise vorzugehen. Nach drei Monaten derartigen Verhandelns ohne Gewinn sachdienlicher Erkenntnisse zugunsten des Angeklagten kommt es auf Anregung des Verteidigers zu erneuten „Deal-Gesprächen“. In Erwartung weiterer Beweisanträge einigen sich die Verfahrensbeteiligten auf die dem Verteidiger genehme Sanktion. In beweisrechtlicher Hinsicht weist der Sachverhalt keine nennenswerten Schwierigkeiten auf. Die schlagwortartig skizzierten Beweisanträge stellen Paradefälle des Ablehnungsgrundes der Prozessverschleppungsabsicht dar. Sie dürfen nach § 244 Abs. 3 S. 2 Var. 6 StPO zurückgewiesen werden, weil die Anwendungsvoraussetzungen dieser Vorschrift erfüllt sind:6 Zum einen sind die begehrten Beweiserhebungen geeignet, den Abschluss der Hauptverhandlung wesentlich hinauszuzögern; 7 zum anderen können sie nach Überzeugung des Gerichts nichts Sachdienliches zugunsten des Angeklagten erbringen;8 und schließlich bezweckt der sich dessen bewusste Verteidiger mit seinen Beweisanträgen nicht Sachaufklärung, sondern allein die Verzögerung des Verfahrensabschlusses.9 6 Siehe hierzu BGHSt 21, 118; BGHSt 29, 149, 151; BGHSt 51, 333, 336; BGH NStZ 1982, 291, 292; BGH NStZ 1982, 391, 392; BGH NStZ 1990, 350; BGH NStZ 1992, 551 f; BGH NStZ 1998, 207; LR-Becker § 244 Rn. 268–275; KK/StPO-Fischer § 244 Rn. 176–179; Meyer-Goßner § 244 Rn. 67 f; Alsberg/Nüse/Meyer Beweisantrag, S. 639; Hamm/Hassemer/Pauly Beweisantragsrecht, Rn. 245; Fahl Rechtsmißbrauch im Strafprozeß, 2004, S. 468 f; Beulke Strafprozessrecht, 11. Aufl. 2010, Rn. 446. 7 Zum lange Zeit unstreitigen Erfordernis der wesentlichen Verfahrensverzögerung siehe BGH NStZ 1982, 291, 292; BGH NStZ 1990, 350; BGH NStZ 1992, 551, 552 sowie Meyer-Goßner § 244 Rn. 67; Alsberg/Nüse/Meyer Beweisantrag, S. 639. Demgegenüber will der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs nunmehr das Verzögerungserfordernis deutlich restriktiver fassen, wenn nicht sogar gänzlich preisgeben. Siehe hierzu BGHSt 51, 333, 342–344 mit ablehnender Anmerkung Beulke/Ruhmannseder NStZ 2008, 300. Es ist rechtsdogmatisch konsequent, das Erfordernis der Verzögerung ersatzlos zu streichen. Eingehend Niemöller NStZ 2008, 181, 182–185; Tepperwien FS Widmaier, S. 583, 588; Fahl Rechtsmißbrauch, S. 469; LR-Becker § 244 Rn. 275; KK/StPO-Fischer § 244 Rn. 178; Frister in: Systematischer Kommentar zur Strafprozessordnung, § 244 Rn. 170 f. Mittlerweile teilt auch der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs diese Rechtsauffassung; siehe hierzu BGH StV 2008, 8, 9. 8 Siehe dazu BGHSt 21, 118, 121 f; BGHSt 29, 149, 151; BGH NStZ 1982, 291, 292; BGH NStZ-RR 2009, 21; LR-Becker § 244 Rn. 269; Alsberg/Nüse/Meyer Beweisantrag, S. 641 f; Hamm/Hassemer/Pauly Beweisantragsrecht, Rn. 248; Fahl Rechtsmißbrauch, S. 469 f. 9 Vgl. BGHSt 51, 333, 336, 339-342; BGHSt 52, 355, 358 f; BGH NStZ 1989, 36, 37; BGH NStZ 1992, 551, 552; BGH NStZ 1998, 207; LR-Becker § 244 Rn. 270-273; MeyerGoßner § 244 Rn. 69; SK/StPO-Frister § 244 Rn. 173–177; Alsberg/Nüse/Meyer Beweisantrag, S. 642–649; Hamm/Hassemer/Pauly Beweisantragsrecht, Rn. 249–253; Fahl Rechts-
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Letzteres mag im Beispielsfall auf den ersten Blick zweifelhaft erscheinen, weil die Verfahrensverzögerung für den Verteidiger kein Selbstzweck, sondern ein funktionales Mittel zur Erreichung einer Dealvereinbarung ist. Der Umstand, dass er bei Beweisantragstellung aus einem Motivbündel heraus handelt, begründet jedoch nach zutreffender Ansicht des Bundesgerichtshofs kein unüberwindbares Hindernis, dysfunktionale Erzwingungsanträge dem Ablehnungsgrund des § 244 Abs. 3 S. 2 Var. 6 StPO zu unterstellen.10 Denn bei Lichte betrachtet soll mit dem Postulat, der in Verschleppungsabsicht agierende Verteidiger müsse „allein“ auf Verfahrensverzögerung abzielen, lediglich zum Ausdruck gebracht werden, dass der Antragsteller neben diesem bewusstseinsdominanten Motiv Sachaufklärung nicht bezweckt.11 Diese Klarstellung des merkmalstypischen subjektiven Definitionselements des Ablehnungsgrundes ist nicht nur unerlässlich, will man ihm überhaupt einen eigenständigen Anwendungsbereich erhalten.12 Sie ist auch rechtlich unproblematisch, weil das im Gesetz selbst nicht ausgewiesene Absichtsmerkmal dieser realitätsorientierten Auslegung ohne Weiteres zugänglich ist. Nach alledem bleibt festzuhalten, dass sachlich gänzlich gehaltlose Beweisanträge, die nur deswegen zum Einsatz gelangen, um das Gericht im Wege des „Deals“ zur Verhängung (unangemessen) niedriger Sanktionen zu zwingen, wegen Prozessverschleppung zurückgewiesen werden dürfen. In Kenntnis der Grundsätze zum Ablehnungsgrund der Verschleppungsabsicht bei rechtsmissbräuchlichen Erzwingungsanträgen mutet der Beispielsfall allerdings forciert an. Es liegt nicht sonderlich nahe, dass ein „dealorientierter“ Verteidiger sein an sich legitimes Ziel allein mithilfe von Beweisbegehren, die ausschließlich auf Prozessverschleppung ausgerichtet sind, zu erreichen sucht. Realistisch ist eher eine Mischung ernsthafter Beweisanträge mit solchen prozesswidriger Zielrichtung im Sinne von § 244 Abs. 3 S. 2 Var. 6 StPO. Darüber hinaus ist es schwer vorstellbar, dass sich ein Gericht bei der Bescheidung von Beweisanträgen am Ende der Hauptvermißbrauch, S. 470–481. Die gegenwärtig heftig umstrittene Frage, ob der Nachweis der Verschleppungsabsicht erleichtert werden darf, indem das Gericht dem Verteidiger eine Frist zur Stellung von Beweisanträgen mit der Folge setzt, dass deren erklärungslose Versäumung als ein Indiz zur Rechtfertigung des Vorliegens der „bösen“ Absicht des Antragstellers herangezogen werden kann, spielt im thematischen Zusammenhang dieses Beitrags keine Rolle. Zur Diskussion hierüber siehe BVerfG NStZ 2010, 155 f; BGHSt 51, 333, 342–345; BGHSt 52, 355, 361–364; BGH NStZ 2007, 716; BGH StV 2009, 581, 582. Weiterführend LR-Becker § 244 Rn. 273; Meyer-Goßner § 244 Rn. 69b; SK/StPO-Frister § 244 Rn. 178; Beulke FS Amelung, S. 543, 554–556; Wittig FS Volk, S. 885, 891–895; Fezer HRRS 2009, 17 ff; Gaede NJW 2009, 608, Eidam JZ 2009, 318–320; Fahl DRiZ 2009, 291–294, König StV 2009, 171–173. 10 Siehe dazu BGH NStZ 2005, 45 f sowie LR-Becker § 244 Rn. 270. 11 Eingehend hierzu LR-Becker § 244 Rn 170 und 184. 12 Siehe dazu Hamm/Hassemer/Pauly Beweisantragsrecht, Rn. 249 sowie Fahl Rechtsmißbrauch, S. 472.
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handlung sogleich dieses überaus fehlerträchtigen Ablehnungsgrundes bedient und ausgerechnet hierauf gestützt die Beweisbegehren der Verteidigung erledigt. Sieht man von dieser didaktisch motivierten Zuspitzung des Beispielsfalles ab, so erweist sich das dort geschilderte Prozessgeschehen mit Blick auf sachlich prädestinierte Fälle (leider) keineswegs als eine völlig praxisfremde Fiktion. Mehr noch: In Ansehung der rechtlich fragwürdigen Regelung des § 257c Abs. 2 S. 1 StPO, wonach prozessuales Wohlverhalten von Verfahrensbeteiligten zulässiger Gegenstand einer Verständigung sein kann,13 steht zu befürchten, dass zukünftig der Prozessverschleppung dienende Beweisanträge verstärkt zum Einsatz gelangen können, um auf diesem Wege inkonnexen Druck auszuüben und „dealunwillige“ Gerichte doch noch zu einer Verständigung zu bewegen.
II. Problemstellung Es ist evident, dass das Szenarium des Beispielsfalles die gesetzlich vorgezeichnete Verfahrenshoheit des Gerichts unterminiert. Das Gericht kann unter diesen Umständen nicht mehr – dem klassischen Bild der Strafprozessordnung entsprechend – das Verfahren selbstbestimmt aktiv führen; es wird vielmehr als „Getriebener“ der Verteidigung auf die Übernahme der rein reaktiven Rolle reduziert, Beweisanträge entgegen zu nehmen und zu bescheiden.14 Derartige Abläufe sind geeignet, das Gleichgewicht der Kräfte der Verfahrensbeteiligten in der Hauptverhandlung nachhaltig zu verschieben. Denkt man das im Beispielsfall skizzierte Prozessgeschehen konsequent zu Ende, so scheint der Abschluss der Hauptverhandlung letztlich im Belieben eines geschickt mit dem Beweisantragsrecht jonglierenden Verteidigers zu liegen. 1. Zur Unbehelflichkeit rein beweisantragsrechtlicher Formen der Missbrauchsbekämpfung Es leuchtet ein, dass ein solcher Prozess der Rechtsidee des Strafverfahrens widerstreitet. Eine Hauptverhandlung, die nicht nur theoretisch, sondern auch rechtspraktisch unschwer zum Spielball eines Verfahrensbeteiligten 13 Siehe dazu im vorliegenden Kontext Niemöller in: Niemöller/Schlothauer/Weider, Gesetz zur Verständigung im Strafverfahren, 2010, § 257c Rn. 37. Der Gesetzgeber selbst hat – ausweislich BT-Drs. 16/12310, S. 13 – den Verzicht auf (weitere) Beweisanträge (wirklich?) nicht als tauglichen Deal-Gegenstand angesehen, weil er insoweit von einer unsachgemäßen Verknüpfung von Verhalten und Erfolg ausgegangen ist. Freilich findet sich hierzu nichts im Gesetz, so dass das Lippenbekenntnis nicht nur rechtspraktisch, sondern auch rechtsdogmatisch Schall und Rauch bleibt. Ebenso Weigend FS Maiwald, S. 829, 836 Fn 32. 14 Anschaulich die einschlägige Sachverhaltsschilderung in BGHSt 29, 149 f.
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degenerieren kann, ist nicht hinnehmbar.15 Zumindest bei massiv prozesswidrigem Verteidigerverhalten im Sinne des Beispielsfalles sollte es konsensfähig sein, dass eine auf die Verfahrenshoheit des Gerichts Bedacht nehmende Handhabung der Strafprozessordnung Mittel bieten muss, modernen Erscheinungsformen der Prozesssabotage unter Einsatz des Beweisantragsrechts konsequent und kompromisslos entgegen zu treten. Hierfür reicht die gesetzlich vorgesehene Zurückweisung der in Verschleppungsabsicht gestellten Beweisersuchen indessen nicht aus, weil sie – als bloße „Verwaltung des Missbrauchs“ – nur punktuell wirkt und der Sequenz solcher Anträge in Ansehung der Bescheidungspflicht nach § 244 Abs. 6 StPO nichts Wirkungsvolles entgegen setzt.16 Gleichermaßen unzulänglich wäre ein Vorgehen gemäß § 257a StPO. Zwar ist es danach statthaft, dem rechtsmissbräuchlich agierenden Verteidiger aufzugeben, seine Beweisanträge schriftlich zu stellen. Da sie jedoch weiterhin in der Hauptverhandlung beschieden werden müssen,17 ließe sich Prozessverschleppungen auf diesem Wege nicht effektiv begegnen. Abhilfe könnten hingegen das Beweisantragsrecht radikal rechtsfortbildende Lösungsansätze schaffen. a: Zum Totalentzug des Beweisantragsrechts Ein auf der Idee der Verwirkung prozessualer Rechte basierender Ansatz zur Problembewältigung könnte darin bestehen, dem Verfahrensbeteiligten, der gegen Ende einer Hauptverhandlung sukzessive Beweisanträge zum Zwecke der Prozessverschleppung anbringt, das Beweisantragsrecht fortan gänzlich zu entziehen, um so den nach Lage der Sache an sich gebotenen zügigen Abschluss des Verfahrens herbeizuführen. Als rechtlicher Anknüpfungspunkt einer solchen Intervention käme das in der höchstrichterlichen Rechtsprechung anerkannte, im strafprozessualen Schrifttum hingegen teilweise heftig kritisierte Institut eines im Gesetz nicht ausdrücklich verankerten allgemeinen Missbrauchsverbots in Betracht. Danach soll es zur Bekämpfung nachhaltiger Angriffe auf den rechtsstaatlichen Ablauf des Strafverfahrens in Gestalt zweckwidriger Nutzung von Verfahrensrechten statthaft sein, dieses rechtsmissbräuchliche Verhalten auch ohne spezielle Rechtsgrundlage dergestalt zu unterbinden, dass dadurch die ordnungsgemäße Abwicklung des Verfahrens möglich wird, zugleich jedoch das Recht des Angeklagten auf umfassende Verteidigung unangetastet bleibt.18 15 Siehe hierzu statt aller Hamm/Hassemer/Pauly Beweisantragsrecht, Rn. 243 f; Deckers Beweisantrag, S. 46 sowie Beulke FS Amelung, S. 543, 560 f und Kudlich Strafprozeß und allgemeines Mißbrauchsverbot, 1998, S. 289 f. 16 Zutreffend herausgearbeitet von Fahl Rechtsmißbrauch, S. 495 f. 17 Statt aller hierzu Meyer-Goßner § 257a Rn. 11 sowie KK/StPO-Diemer § 257a Rn. 1. 18 So BGHSt 38, 111, 114. Weiterführend dazu mit zahlreichen Nachweisen MeyerGoßner Einl. Rn. 111 sowie Hassemer FS Meyer-Goßner, S. 127 ff.
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Ungeachtet des Streits über die Denkfigur eines allgemeinen strafprozessualen Missbrauchsverbots ist der Totalentzug des Beweisantragsrechts jedenfalls de lege lata kein adäquates Mittel zur Bewältigung des im Beispielsfall geschilderten Phänomens. Einerseits stellt diese Maßnahme einen Eingriff in das Beweisantragsrecht des Verteidigers dar, ohne dass dafür die verfassungsrechtlich unerlässliche gesetzliche Grundlage in Sicht wäre. Andererseits würde der Totalentzug des Beweisantragsrechts den Kernbereich effektiver Verteidigung des Angeklagten derart tiefgreifend beeinträchtigen, dass der Eingriff ohnehin nicht mehr im Wege „freihändiger“ Rechtsfortbildung praeter legem mithilfe eines in Grund und Grenzen umstrittenen allgemeinen Rechtsinstituts gerechtfertigt werden könnte.19 Vielmehr müsste dieser Zugriff allein schon deswegen dem Gesetzgeber vorbehalten bleiben, weil gar nicht ersichtlich ist, ob ein missbrauchsinduzierter Totalentzug überhaupt in den Regelungsplan des insoweit seit langem problembewussten Gesetzgebers integrierbar ist.20
b: Zur Beschränkung der Bescheidungspflicht nach § 244 Abs. 6 StPO Es deutet sich zudem an, dass die radikale Beschneidung des Beweisantragsrechts selbst in Fällen seines massiven Missbrauchs über das mit dem Totalentzug verfolgte Ziel hinausschießen dürfte und deshalb unverhältnismäßig wäre. Der Entzug des Beweisantragsrechts wäre zwar für sich betrachtet nach dem Motto: „Klappe zu, Affe tot“ ein hochgradig geeignetes Mittel der Missbrauchsbekämpfung. Stellt man jedoch im Rahmen der Prüfungsstufe der Erforderlichkeit dieser Maßnahme den Umstand in Rechnung, dass
19 Siehe dazu statt vieler KK/StPO-Fischer § 244 Rn. 113. Abweichend hingegen Fahl Rechtsmissbrauch, S. 501 f. 20 Ungeachtet der vorstehend skizzierten methodologischen Einwände muss der Totalentzug des Beweisantragsrechts des Verteidigers im Übrigen nicht ohne Weiteres zu einer zügigen Beendigung der Hauptverhandlung führen. Zum einen könnte der in seiner Rechtsausübung beschränkte Verteidiger den Angeklagten veranlassen, die von ihm – dem Verteidiger – ersonnenen rechtsmissbräuchlichen Beweisbegehren nunmehr im eigenen Namen selbst zu stellen. Zum anderen bliebe es dem Verteidiger unbenommen, das Gericht mit Beweisersuchen unterhalb der Schwelle förmlicher Beweisanträge zu konfrontieren. Zwar müsste darauf allein der Vorsitzende im Zuge der Ausübung der Verhandlungsleitung durch knapp begründete Zurückweisung eingehen; jedoch könnte der Verteidiger mit Beanstandungen nach § 238 Abs. 2 StPO reagieren, so dass letztendlich doch wieder zumindest für eine gewisse Zeit lang das aufwändige Beschlussverfahren durchgeführt werden müsste. Daneben stellt sich jedenfalls in den Fällen notwendiger Verteidigung nach § 140 StPO ohnehin die Frage, ob die den Verteidiger treffende Entziehung des Beweisantragsrechts im Einzelfall die Bestellung eines (weiteren) Pflichtverteidigers erforderlich macht. Sollte sich dies – in umfangreichen Verfahren durchaus nicht fernliegend – als angezeigt erweisen, könnte eine valide, vom Gericht inhaltlich nur eingeschränkt nachprüfbare Erklärung nach § 145 Abs. 3 StPO sogar zur Aussetzung der Verhandlung führen.
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Verfahrensverzögerungen vor allem von der in § 244 Abs. 6 StPO normierten Bescheidungspflicht ausgehen,21 so zeichnet sich als „mildere Lösung“ des Problems ein rechtsstaatlich verträglicher Interessenausgleich anderer Art ab. Danach wäre in Betracht zu ziehen, dass das Gericht die allein zum Zwecke der Prozessverschleppung gestellten Beweisanträge zwar entgegen nimmt und nach Maßgabe der Amtsaufklärungspflicht gemäß § 244 Abs. 2 StPO überprüft, sie jedoch nicht – wie nach § 244 Abs. 6 StPO an sich vorgegeben – in der Hauptverhandlung durch Beschluss, sondern erst in den Urteilsgründen bescheidet. Der Vorteil dieser Vorgehensweise gegenüber dem Totalentzug des Beweisantragsrechts bestünde darin, dass auf diesem Wege die Gefahr, neben missbräuchlichen Beweisbegehren auch valide Beweisersuchen zu unterdrücken, wirkungsvoll gebannt werden kann. Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in dem Fall einer außergewöhnlich langwierigen Hauptverhandlung den vorstehend skizzierten Weg einer unkonventionellen Verfahrensvereinfachung in Erwägung gezogen. Hierzu hat er Folgendes ausgeführt:22 „Bei dieser Sachlage hält der Senat in extrem gelagerten Fällen bei Abwägung der widerstreitenden Interessen und Rechtsgüter namentlich des Informationsinteresses des Angeklagten an der Bescheidung von Beweisanträgen in der Hauptverhandlung einerseits, des Beschleunigungsgebots in Haftsachen und des Gebots einer funktionsfähigen Strafrechtspflege andererseits im Wege verfassungs- und konventionskonformer Einschränkung von § 244 Abs. 6 StPO folgende Verfahrensweise für erwägenswert: Es wird den Verfahrensbeteiligten eine Frist zur Entgegennahme von Beweisanträgen gesetzt und mit einhergehender Begründung die pauschale Ablehnung nach Fristablauf gestellter Anträge wegen Verschleppungsabsicht vorab beschlossen; hernach überprüft das Gericht die Anträge, ohne sie allerdings jeweils durch Gerichtsbeschluss nochmals gesondert individuell zu bescheiden, und zwar vornehmlich unter Aufklärungsgesichtspunkten, zudem bescheidet es sie wie Hilfsbeweisanträge in den Urteilsgründen; hierbei ist dann freilich der Ablehnungsgrund der Verschleppungsabsicht nicht ausgeschlossen. Diese besondere Verfahrensweise wird allerdings regelmäßig erst dann in Betracht kommen können, wenn zuvor gestellte Beweisanträge wiederholt wegen Verschleppungsabsicht (§§ 244 Abs. 3 S. 2, 245 Abs. 2 S. 3 StPO) abgelehnt werden mussten.“ Bemerkenswert ist diese auf bestmöglichen Interessenausgleich Bedacht nehmende Lösung insbesondere deswegen, weil sie das Beweisantragsrecht als solches nicht beschneidet, sondern lediglich das in § 244 Abs. 6 StPO ver-
21 22
Prägnant Fahl Rechtsmißbrauch, S. 495 f. BGH NStZ 2005, 648, 649.
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ankerte Recht des Antragstellers auf hauptverhandlungsinterne Unterrichtung über die ausschlaggebenden tatrichterlichen Erwägungen für die Zurückweisung seines Beweisbegehrens verkürzt.23 Gewiss liegt auch darin eine gewichtige Beeinträchtigung der Belange des Angeklagten und seines Verteidigers; denn durch die Verschiebung der Bekanntgabe der Ablehnungsgründe von der Hauptverhandlung in das schriftliche Urteil verlieren sie die Möglichkeit, ihr weiteres Prozessverhalten in Kenntnis der Einzelheiten der richterlichen Beurteilung des Beweisbegehrens auf die neue Verfahrenslage einzurichten. Allerdings werden sie dadurch nicht rechtlos gestellt: Zum einen erhält der Antragsteller bereits in der Hauptverhandlung eine gleichsam vor die Klammer gezogene Vorabinformation über das mögliche Schicksal seines Beweisersuchens; zum anderen gewährleistet die Pflicht, substanzlose Beweisanträge im Urteil nach Maßgabe der gesetzlichen Ablehnungsgründe zu bescheiden, eine rechtliche Überprüfung des Umgangs mit den zurückgewiesenen Beweisanträgen in der Revisionsinstanz. Gleichwohl kann nicht bestritten werden, dass der vom 5. Strafsenat entwickelte Ansatz als Hinwendung zu einer dem Beweisantragsrecht bislang fremden Präklusionsregelung begriffen werden muss. Angesichts dessen hat der von Teilen des Schrifttums dagegen vorgebrachte Einwand, demzufolge das höchstrichterlich favorisierte Konstrukt zur Missbrauchsbekämpfung ebenso wie der Totalentzug des Beweisantragsrechts einen unter dem Vorbehalt des Gesetzes stehenden und daher allein vom Gesetzgeber zu regelnden Eingriff in Mitwirkungsrechte von Verfahrensbeteiligten darstellt,24 durchaus Einiges für sich. Hinzu kommt, dass die auf den ersten Blick überaus elegant und wirkungsvoll erscheinende zeitliche Verschiebung der in § 244 Abs. 6 StPO normierten Begründungspflicht von der Hauptverhandlung in die schriftlichen Urteilsgründe bei näherem Zusehen den Bedürfnissen der Praxis nicht ausreichend Rechnung tragen dürfte. Der 5. Strafsenat hat dieses Mittel gegen dysfunktionalen Einsatz des Beweisantragsrechts allein für Extremfälle einer sich über Jahre sinnlos hinziehenden Hauptverhandlung vorgesehen; darüber hinaus soll sie grundsätzlich nur dann zum Einsatz gelangen, wenn das Gericht Beweisanträge bereits zuvor mehrfach wegen Verschleppungsabsicht zurückgewiesen hat. Diese den Anwendungsbereich des Lösungsansatzes
23 Bei genauerem Zusehen zeigt sich, dass die vom 5. Strafsenat verfolgte Lösung auf „klassische“ Missbrauchsfälle im Sinne von § 244 Abs. 3 S. 2 Var. 6 StPO nicht beschränkt ist, sondern auch dann zum Einsatz gelangen kann, wenn die schlichte Vielzahl sukzessive gestellter Beweisanträge den Abschluss der Hauptverhandlung zu verhindern droht. Ebenso Bünger NStZ 2006, 305 f, 311 f. 24 Siehe dazu Dahs StV 2006, 116, 117; Gössel JR 2006, 128 f; KK/StPO-Fischer § 244 Rn. 113. Kritisch auch Meyer-Goßner § 244 Rn. 69b. Dem 5. Strafsenat zustimmend Bünger NStZ 2006, 305, 311 f.
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erheblich einengenden Vorgaben sind vor dem Hintergrund des eingeschränkten Handlungsspielraums eines rechtsfortbildend tätigen Gerichts verständlich. Sie verhindern jedoch die Übertragbarkeit des Interventionsmodells auf Strafverfahren, in denen der Abschluss der Hauptverhandlung mithilfe substanzloser Beweisanträge zwar erheblich, aber eben nicht um Jahre verzögert wird. Damit zeichnet sich ab, dass die vom Bundesgerichtshof erwogene Reduktion von § 244 Abs. 6 StPO vielfach kein durchgängig praxistaugliches Mittel zu Bewältigung einer Vielzahl prozesswidriger Beweisanträge darstellt. 2. Strafrechtlich ausgerichtete Formen strafprozessualer Missbrauchsbekämpfung Eine bislang kaum in den Blick genommene dritte strafprozessuale Reaktionsmöglichkeit auf Beweisanträge, die ein Verteidiger gegen Ende der Hauptverhandlung zum Zwecke der Prozessverschleppung sukzessive stellt, könnte sich aus § 138a Abs. 1 Nr. 3 StPO in Verbindung mit § 258 Abs. 1 StGB ergeben. Danach könnten solchermaßen prozesswidrig agierende Verteidiger von der weiteren Mitwirkung in dem Verfahren ausgeschlossen werden, sofern die durch sie bewirkte Verfahrensverzögerung strafrechtlich als absichtliche oder wissentliche (versuchte) Vereitelung der Bestrafung des Angeklagten im Sinne der vorgenannten Strafbestimmung zu bewerten ist. Diese Maßnahme erweist sich gegenüber den beiden zuvor erörterten Ansätzen zur Zurückdrängung einer dysfunktionalen Handhabung des Beweisantragsrechts durch Verteidiger als vorzugswürdig, weil sie auf festem Gesetzesgrund ruht und daher auf rechtsfortbildende (Ver-)Formung von Vorschriften verzichten kann. Hinzu kommt, dass das Instrumentarium des § 138a Abs. 1 Nr. 3 StPO in Verbindung mit § 258 StGB nicht etwa zur freien Disposition der Rechtsanwender steht. Sollte die prozesswidrige Ausübung des Beweisantragsrechts den Anfangsverdacht einer (versuchten) Strafvereitelung begründen, wären die Strafverfolgungsbehörden nach dem Legalitätsprinzip zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens und in dessen Folge auch zur Prüfung des Vorliegens der Voraussetzungen für einen Verteidigerausschluss rechtlich gezwungen. Allerdings wird hierin – wie allein schon ein Blick auf die Regelungen der §§ 138c Abs. 4, 145 Abs. 3 und 265 Abs. 4 StPO verdeutlicht- vielfach kein zielführender Beitrag zur schleunigen Beendigung der Hauptverhandlung liegen. Darüber hinaus wirkt diese strafrechtlich fundierte Form strafprozessualer Missbrauchsbekämpfung geradezu martialisch. Die damit im Raume stehende Kriminalisierung von Verteidigerhandeln tangiert einen neuralgischen Punkt. Sie wird auf Seiten der Strafverteidiger und ihnen eng verbundener Hochschullehrer ganz gewiss zu heftigen Gegenreaktionen führen. Aber auch weite Teile der Strafjustiz dürften der Einstufung von Beweisanträgen in Verschleppungsabsicht
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als potentielle Kandidaten einer Strafvereitelung eher reserviert gegenüberstehen, droht doch dadurch – unbeschadet aller Rechtsfragen – eine allseits als unzuträglich empfundene Veränderung des Verhandlungsklimas auf breiter Front. Freilich können solche unschwer prognostizierbaren Auswirkungen allein schon eingedenk des in § 152 Abs. 2 StPO normierten Legalitätsprinzips nicht davon abhalten, der Problematik näher zu treten.
III. Zur Strafbarkeit des Stellens von Beweisanträgen in Prozessverschleppungsabsicht Die Beantwortung der Frage, ob das im Beispielsfall beschriebene Vorgehen des Verteidigers Anlass zu dessen Ausschluss von der weiteren Mitwirkung im Verfahren bieten kann, hängt im strafrechtlichen Ausgangspunkt davon ab, ob das Stellen von Beweisanträgen zum Zwecke der Prozessverschleppung und das durch die Beschlussfassung hierüber bewirkte Hinauszögern der Verurteilung des Angeklagten als Vereiteln der Bestrafung im Sinne von § 258 Abs. 1 StGB zu bewerten ist. Erörterungsbedürftig ist zunächst der Taterfolg der Strafverfolgungsvereitelung.25 Darüber hinaus gilt es zu prüfen, ob strafprozessuale Vorschriften oder sonstige Rechtsgrundsätze zur Ausgestaltung der Strafverteidigung einer strafrechtlich an sich möglichen Ahndung verfahrensverzögernder Prozesshandlungen des Verteidigers entgegenstehen. Bezugspunkt dieser Überlegungen ist die Präzisierung rechtlich missbilligter Gefahrschaffungen für das durch § 258 Abs. 1 StGB geschützte Rechtsgut.26 1. Zum Erfolg der Strafverfolgungsvereitelung Die Strafbestimmung des § 258 Abs. 1 StGB erfasst Handlungen, durch deren Vornahme die Bestrafung des Täters einer anderen Straftat ganz oder zum Teil vereitelt wird. In § 258 Abs. 4 StGB ist der Versuch der Strafverfolgungsvereitelung unter Strafe gestellt. Der gesetzlich nicht näher konturierte Begriff des „Vereitelns“ bezeichnet den tatbestandlichen Erfolg der Tat, dessen Eintritt der Täter durch sein Verhalten absichtlich oder zumindest wissentlich bewirkt haben muss. In der Ausgestaltung der Strafvereitelung zum Erfolgsdelikt liegt der wesentliche Unterschied dieser Strafvorschrift zu der bis 1974 geltenden einschlägigen Vorgängerregelung. Während früher gemäß § 257 StGB a.F. wegen persön25
Eingehend hierzu Wappler Der Erfolg der Strafvereitelung, 1998, S. 66 ff (zur Position der Rechtsprechung), S. 103 ff (zu den Positionen im Schrifttum). 26 Siehe dazu Jahn in: Satzger/Schmitt/Widmaier, StGB, 2009, § 258 Rn. 21; Altenhain in: NomosKommentar StGB, 3. Aufl. 2010, § 258 Rn. 27, 31 f.
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licher Begünstigung ungeachtet der konkreten Auswirkungen der Tat auf das strafprozessuale Verfolgungsgeschehen bestraft werden konnte, wer nach Begehung einer Straftat dem Vortäter Beistand leistete, um ihn der Bestrafung zu entziehen, vermag heute eine allein zur Besserstellung des Vortäters objektiv geeignete Unterstützungshandlung die Strafbarkeit nach § 258 Abs. 1 StGB nicht mehr zu begründen. Vielmehr ist es erforderlich, dass der Täter für den Eintritt des Taterfolges in zurechenbarer Weise ursächlich geworden ist. Ausgehend hiervon bleibt zu klären, ob die von der Bescheidung rechtsmissbräuchlicher Beweisanträge nach § 244 Abs. 3 S. 2 Var. 6 StPO ausgehende Verzögerung des Abschlusses der Hauptverhandlung als vollendete Vereitelung der staatlichen Strafberechtigung im Sinne von § 258 Abs. 1 StGB angesehen werden kann. a: Strafrechtliche Ausgangslage Die Bestimmung des Vereitelungserfolges im Sinne von § 258 Abs. 1 StGB bereitet auf verschiedenen Ebenen der Rechtsanwendung Schwierigkeiten. Strafrechtsdogmatisch ist die zeitliche Ausrichtung des Tatbestandsmerkmals umstritten, weil nach dem Gesetzeswortlaut unklar ist, ob tatbestandliches Vereiteln die endgültige Verhinderung der Durchsetzung der staatlichen Sanktionsberechtigung zwingend voraussetzt oder aber ob für die Erfolgsherbeiführung auch eine bloße Verzögerung ausreicht.27 Darüber hinaus führt das in § 258 Abs. 1 StGB normierte Erfolgskriterium rechtspraktisch zu Problemen, weil angesichts der Vielschichtigkeit von Strafverfahren der Nachweis der Ursächlichkeit der Tathandlung für den Eintritt des Vereitelungserfolges häufig nicht geführt werden kann.28 Allerdings dürfte dieser Komplex für die hier abgehandelten Fallkonstellationen keine entscheidende Rolle spielen; denn gegen Ende der Hauptverhandlung lässt sich – insbesondere nach Erschöpfung des gerichtlich vorgesehenen Beweisprogramms – die Verzögerungswirkung der in Verschleppungsabsicht gestellten Beweisanträge zeitlich relativ genau ausmachen. Nach alledem kommt der Bestimmung des Vereitelungserfolgs für die strafrechtliche Ahndung des im Beispielsfall exemplarisch umschriebenen Verteidigerverhaltens ausschlaggebende Bedeutung zu. Sollte sich herausstel-
27 Siehe hierzu einstweilen Fischer StGB, 57. Aufl. 2010, § 258 Rn. 8 sowie Stree in: Schönke/Schröder, StGB, 27. Aufl. 2006, § 258 Rn. 16; jeweils mit weiteren Nachweisen zum Streitstand. 28 Grundlegend BGH NJW 1984, 135; BGH wistra 1995, 143; KG JR 1985, 24, 25 f; SSW/StGB-Jahn § 258 Rn. 20; Schönke/Schröder/Stree § 258 Rn. 19a; Cramer in: Münchener Kommentar StGB, 2003, § 258 Rn. 24, 26 f; Rengier Strafrecht Besonderer Teil I, 11. Aufl. 2009, § 21 Rn. 8; Beulke/Ruhmannseder Strafbarkeit, Rn. 7; Lenckner GS Schröder, S. 339, 347 f; Samson JA 1982, 181, 182 f.
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len, dass das gänzliche Vereiteln im Sinne von § 258 Abs. 1 StGB die endgültige Verhinderung der Durchsetzung der staatlichen Strafberechtigung verlangt, so könnten Strafverteidiger das Beweisantragsrecht für die Verfolgung prozesswidriger Zwecke weitestgehend risikolos einsetzen. Die Gefahr, dass dadurch die Bestrafung – etwa infolge des Eintritts der Strafverfolgungsverjährung, aufgrund rechtskräftigen Freispruchs oder durch Tod des Angeklagten – definitiv ausgeschlossen wird, ist forensisch zu vernachlässigen.29 Ungeachtet der weichenstellenden Funktion der Erfolgsbestimmung kann dieser Problemkreis im Folgenden allerdings knapp abgehandelt werden. Der Streitstand ist mittlerweile ausdiskutiert.30 Die für die Entscheidung der Rechtsfrage angeführten Argumente sind seit langem ausgetauscht, so dass es vertretbar erscheint, den eigenen Standpunkt eher bekenntnishaft zu skizzieren: aa: Die Rechtsprechung macht die Vollendung der Tat nicht davon abhängig, dass der Täter des § 258 Abs. 1 StGB die Bestrafung des von ihm Begünstigten endgültig verhindert. Sie erachtet den Eintritt des tatbestandlichen Erfolges der Strafverfolgungsvereitelung – in Übereinstimmung mit der herrschenden Meinung im Schrifttum – bereits dann für gegeben, wenn der Täter durch seine Intervention bewirkt, dass der staatliche Strafverfolgungsanspruch für „geraume Zeit“ nicht durchgesetzt werden kann. Danach ist als vollendete Strafvereitelung auch eine normativ belangvolle „Vereitelung auf Zeit“ einzustufen.31 Unklarheit herrscht hingegen bei Beantwortung der Frage, wie dieser Zeitraum bemessen sein muss, damit die zeitliche Verzögerung der Durchsetzung der staatlichen Strafberechtigung als Strafverfolgungsvereitelung eingeordnet
29 Der in diesem Zusammenhang möglicherweise aufkommende Gedanke, die mithilfe rechtsmissbräuchlicher Beweisanträge erreichte Absenkung der ausgeurteilten Strafe gegenüber der vom Gericht ursprünglich intendierten Sanktion zumindest als ein teilweises Vereiteln im Sinne des § 258 Abs. 1 StGB einzustufen, muss verworfen werden. Entscheidend ist, dass diese Tatbestandsalternative nach allgemeiner Meinung nur dann zum Tragen kommt, wenn von der Tathandlung ein rechtlich begrenzter und in diesem Sinne allgemein fassbarer Teil der Strafe betroffen ist. Maßgeblich sind etwa gesetzlich ausgewiesene Erschwerungs- oder Milderungsgründe. Siehe dazu statt aller BayObLG JR 1974, 71, 72; MünchKommStGB-Cramer § 258 Rn. 23; SSW/StGB-Jahn § 258 Rn. 16; Schönke/Schröder/Stree § 258 Rn. 16; Beulke/Ruhmannseder Strafbarkeit, Rn. 130. 30 Ausführlich Wappler Strafvereitelung, S. 66 ff mit umfangreichen Nachweisen. Instruktiv auch Vormbaum Der strafrechtliche Schutz des Strafurteils, 1987, S. 394 ff. 31 Vgl. BGHSt 45, 97, 100; BGH DRiZ 1976, 87, 88; BGH b Holtz MDR 1981, 631; BGH NJW 1984, 135; OLG Köln NJW 1981, 1794; KG JR 1985, 24, 25 f; KG NStZ 1988, 178 f; OLG Karlsruhe NStZ 1988, 503 f; OLG Koblenz NStZ 1992, 146 f; Walter in: Leipziger Kommentar, 12. Aufl., § 258 Rn. 35; Fischer § 258 Rn. 8; SSW/StGB-Jahn § 258 Rn. 14; Schönke/Schröder/Stree § 258 Rn. 16; MünchKommStGB-Cramer § 258 Rn. 23 f; Rengier Strafrecht BT I, § 21 Rn. 6, 8; Beulke/Ruhmannseder Strafbarkeit, Rn. 131–133; Schnarr NJW-Sonderheft Schäfer, 64, 67; Satzger Jura 2007, 754, 758.
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werden kann. Während die Rechtsprechung Verzögerungen von nur einer Woche gemeinhin nicht ausreichen lässt und im Übrigen schwankt, werden im Schrifttum als Untergrenzen insoweit zwei oder drei Wochen favorisiert.32 bb: Diese Unschärfe der Erfolgsbestimmung nimmt eine literarische Mindermeinung unter Hinweis auf das (verfassungsrechtliche) Erfordernis der verhaltensleitenden Bestimmtheit strafrechtlicher Normbefehle zum Anlass, bloße Verzögerungen auf Zeit als Erfolg der Strafverfolgungsvereitelung nicht ausreichen zu lassen. Mehr noch: Einzelne Autoren behaupten, dass der Wortlaut des Begriffs „Vereiteln“ eine endgültige Verhinderung der Durchsetzung der staatlichen Strafberechtigung denknotwendig impliziere und damit der Berücksichtigung zeitlicher Verzögerungen entgegenstünde.33 cc: Die Einwände der Kritiker der herrschenden Auffassung zur Bestimmung des Vereitelungserfolges im Sinne von § 258 Abs. 1 StGB sind bedenkenswert; sie geben zu einer Präzisierung der Erfolgsbestimmung Anlass. Letztendlich vermögen sie jedoch nicht durchzudringen, weil der Normwortlaut nicht zu der befürworteten Verengung der Strafverfolgungsvereitelung auf eine endgültige Hemmung der Bestrafung zwingt. Bei unbefangener Betrachtung ist es semantisch möglich, den Wortsinn von „Vereiteln“ nach kontextgebundenem Begriffsverständnis so zu verstehen, dass davon neben der endgültigen auch die zeitliche Verhinderung der Durchsetzung der staatlichen Strafberechtigung sprachlich erfasst ist.34 Dieser Einschätzung steht die Gesetzgebungsgeschichte zur Neufassung von § 258 Abs. 1 StGB im Übrigen nicht entgegen, weil der Reformgesetzgeber die Verhinderung der Strafdurchsetzung um „geraume Zeit“ ersichtlich als vollendete Strafverfolgungsvereitelung eingestuft wissen wollte.35 Hinzu kommt Folgendes: Wollte man den tatbestandlichen Erfolg des § 258 Abs. 1 StGB allein auf die endgültige Vereitelung der staatlichen Strafberechtigung verengen, würde der Tatversuch nahezu durchgängig zum Regelfall des Normbruchs avancieren; denn normalerweise wird es dem Täter selten gelingen, die drohende 32 Siehe hierzu die Überblicke bei MünchKommStGB-Cramer § 258 Rn. 24; Beulke/ Ruhmannseder Strafbarkeit, Rn. 132 f. 33 So insbesondere Wappler Strafvereitelung, S. 169 ff. Im Wesentlichen ebenso NKStGB-Altenhain § 258 Rn. 49; SK/StGB-Hoyer § 258 Rn. 17; Samson JA 1982, 181, 182–184; Seebode JR 1998, 338, 341 f; Schittenhelm FS Lenckner, S. 519, 531–534; Vormbaum FS Küper, S. 663, 665 ff; Kargl FS Hamm, S. 235, 250. 34 Eingehend Jahn Konfliktverteidigung, S. 289 f; LK-Walter § 258 Rn. 35; MünchKommStGB-Cramer § 258 Rn. 24; Rengier BT I § 21 Rn. 6. Offen für diese Sichtweise, wenngleich ein abweichendes Ergebnis bevorzugend, Vormbaum Strafurteil, S. 403. 35 Vgl. BT-Drucks. 7/550, S. 249. Siehe dazu Vormbaum Strafurteil, S. 403 f. Dezidiert abweichend hingegen Wappler Strafvereitelung S. 64 f; Schittenhelm FS Lenckner, S. 519, 531 f; NK-StGB-Altenhain § 258 Rn. 49. Gegen sie wiederum Jerouschek/Schröder GA 2000, 51, 58.
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Bestrafung des von ihm begünstigten Dritten dauerhaft zu verhindern. Die Annahme, dass der bloße Versuch des Delikts den normativen Regelfall der Tatbestandsverwirklichung abbilden könnte, ist freilich nicht nur ungewöhnlich, sondern fernliegend.36 Dies gilt umso mehr, wenn man bedenkt, dass die von Teilen des Schrifttums postulierte Endgültigkeit der Verfolgungsvereitelung in zahlreichen Fällen sogar zur gänzlichen Straflosigkeit nach § 258 StGB führen müsste. Denn könnte der Täter plausibel dartun, dass er mit seinem Eingriff in die Strafverfolgung zwar eine Verzögerung, jedoch keine definitive Verhinderung der Durchsetzung der staatlichen Strafberechtigung erstrebt habe, schiede auch eine Versuchsstrafbarkeit nach § 258 Abs. 4 StGB aus, weil dem solchermaßen Motivierten der hierfür konstitutive Vollendungsvorsatz nicht nachgewiesen werden könnte.37 Es liegt auf der Hand, dass derartige Interpretationen des Tatbestandes das Regelungsprogramm des § 258 StGB massiv unterminieren und damit die verhaltenssteuernde Wirkkraft des Straftatbestandes allzu stark abschwächen würden. Nachgerade deswegen ist es vorzugswürdig, den Erfolg der Tat nach § 258 Abs. 1 StGB in der zeitweisen Vereitelung der staatlichen Strafberechtigung zu erblicken. dd: Allerdings besteht – dies ist den Kritikern der vorgenannten Rechtsauffassung einzuräumen – die Notwendigkeit, das für die Tatvollendung maßgebliche Zeitkriterium im Interesse der Klarheit des Normbefehls über die von der Rechtsprechung verwendete Floskel der „Vereitelung um geraume Zeit“ hinausgehend zu präzisieren. Es bietet sich an, auf die in § 229 Abs. 1 StPO normierte Frist zu rekurrieren.38 Danach wäre eine zeitliche Verzögerung der im Raume stehenden Bestrafung um mehr als drei Wochen für die Annahme einer vollendeten Strafvereitelung gemäß § 258 Abs. 1 StGB notwendig, aber auch ausreichend. Die Sachgerechtigkeit der Gedankenparallele zu § 229 Abs. 1 StPO ergibt sich daraus, dass die dort geregelte Höchstfrist für reguläre Unterbrechungen der Hauptverhandlung im Interesse der zügigen Durchführung des Verfahrens eine markante Zäsur darstellt, die auch 36 Ebenso MünchKommStGB-Cramer § 258 Rn. 24. Siehe dazu auch Lenckner GS Schröder, S. 339, 342 f. Hiergegen Vormbaum, Strafurteil, S. 406–408 sowie – mit instruktiven Ansätzen – Wappler Strafvereitelung, S. 130–136. 37 Beulke/Ruhmannseder Strafbarkeit, Rn. 131. Abweichend Vormbaum Strafurteil, S. 408, der in den einschlägigen Fällen von einem absichtlichen Handeln ausgeht und so zur Versuchsstrafbarkeit gelangt. Ähnlich Wappler Strafvereitelung, S. 131 f. Aber das ist nicht zwingend; Einlassungen, die sich an der Verfolgungsrealität ausrichten, können nicht ohne Weiteres vom Tisch gewischt werden. 38 Eingehend dazu Jahn ZRP 1998, 103, 105; ders. 2006, 760, 761; Beulke/Ruhmannseder Strafbarkeit, Rn. 133; Burhoff/Stephan Strafvereitelung durch Strafverteidiger, 2008, Rn. 114; Scheffler in: Handbuch zum Strafverfahren, 2008, VII Rn. 56; Lackner/Kühl StGB, 26. Aufl. 2007, § 258 Rn. 4. Ablehnend NK-StGB-Altenhain § 258 Rn. 48 mit dem Hinweis darauf, dass der Rückgriff auf § 229 StPO sachwidrig sei, weil diese Vorschrift der Überzeugungsbildung des Gerichts nach § 261 StPO diene.
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auf weitergehende Beeinträchtigungen der Wahrheitsfindung ausstrahlt und deswegen für die Auslegung von § 258 Abs. 1 StGB fruchtbar gemacht werden kann.39 Selbst wenn die Heranziehung dieser Zeitspanne zur Erfolgsbestimmung nicht zwingend ist, so erweist sie sich doch zumindest als plausible und zudem praktikable normative Verschränkung von Strafrecht und Strafverfahrensrecht; den abweichenden extremen Lösungsvorschlägen ist sie jedenfalls vorzuziehen.40 ee: Als Zwischenergebnis der zu § 258 Abs. 1 StGB geführten Erfolgsdiskussion bleibt mit Blick auf das Thema dieser Untersuchung festzuhalten, dass ein Verteidiger durch das Anbringen eines Beweisantrags in Verschleppungsabsicht den tatbestandlichen Erfolg der Strafvereitelung verwirklichen kann, sofern die ordnungsgemäße Bescheidung des Antrags mehr als drei Wochen beansprucht. Rechtspraktisch sind solche Zeitverläufe freilich fernliegend; vor allem gegen Ende der Hauptverhandlung, insbesondere nach Erschöpfung des gerichtlichen Beweisprogramms, ist die Beweislage vielfach so strukturiert, dass die Bescheidung von Beweisanträgen normalerweise innerhalb deutlich kürzerer Zeit erfolgen kann. Die im eingangs geschilderten Beispielsfall angenommene „Taktfrequenz“ ist bei rechtlich gebotenem zügigem Prozedieren durchaus realistisch. Daher dürfte das Stellen eines einzigen nach § 244 Abs. 3 S. 2 Var. 6 StPO zurückgewiesenen Beweisantrags gemeinhin weder eine vollendete noch eine versuchte Strafvereitelung darstellen. b: Erfolgsverursachung durch sukzessives Vorgehen Fraglich ist allerdings, ob zumindest eine Sequenz derartiger Beweisbegehren einen Vereitelungserfolg im Sinne von § 258 Abs. 1 StGB bewirken kann. Bei rein handlungsorientierter Betrachtung besteht vordergründig die Neigung, das Stellen jedes einzelnen Beweisantrags isoliert zu beurteilen, um auf 39 Die Frist des § 229 Abs. 1 StPO bezweckt – entgegen herrschender Ansicht – allein Verfahrensbeschleunigung (Anklänge hierzu in BGH NStZ 2009, 225, 226); sie verfolgt nicht das Ziel der Gewährleistung zuverlässiger und lebendiger Erinnerung der Richter an den Verhandlungsstoff (so jedoch BGHSt 23, 224, 226; BGHSt 33, 217, 218; Meyer-Goßner § 229 Rn. 1; ablehnend hierzu mit überzeugenden Argumenten Mandla NStZ 2011, 1 ff). Ausgehend von einem solchermaßen präzisierten Regelungszweck bestehen allerdings keine prinzipiellen Bedenken, die Drei-Wochen-Frist jedenfalls als normativ bedeutsamen Einschnitt in den Ablauf der Hauptverhandlung einzustufen, um darauf fußend dort bewirkte prozesswidrige Verfahrensverzögerungen unterhalb dieser Schwelle für das durch § 258 Abs. 1 StGB geschützte Rechtsgut als rechtlich belanglos zu erachten. 40 Zu jenen extremen Vorschlägen der Normauslegung sind nicht nur die unter III. 1. a: bb: geschilderten Positionen zu zählen, sondern auch jene, denen zufolge jede nennenswerte Verzögerung tatbestandlich als vollendete Strafvereitelung erfasst werden soll. Siehe hierzu Lenckner GS Schröder, S. 339, 345 f sowie Rudolphi JuS 1979, 859, 861. Gegen beide Wappler Strafvereitelung, S. 136 ff.
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diesem Wege zu dem Ergebnis zu gelangen, dass jeweils keine Strafvereitelung vorliegt. Gegen diese Zergliederung des Sachverhalts sträubt sich nicht nur das Rechtsgefühl; auch die Strafrechtsdogmatik steht dem entgegen. Hierzu in aller Kürze immerhin soviel: In Fällen planvoll iterativen Vorgehens – erinnert sei beispielsweise an die zeitlich gestreckte Tötung eines Menschen durch heimliches Beibringen von Gift in mehreren Dosen – ist die Annahme eines vollendeten Erfolgsdelikts anerkanntermaßen unproblematisch.41 Zwar fehlt es in solchen Konstellationen an einem einheitlichen Handlungsvollzug, so dass streitig sein kann, wann der Täter auf der Grundlage seines Tatplanes das Vorbereitungsstadium verlässt und die Schwelle zum Versuchsbeginn der Tötung überschreitet;42 jedoch steht die Erfolgszurechnung als solche außer Streit, weil der Täter bei Vornahme des letzten Rechtsgutangriffs den Zustand des von ihm „vorgeschädigten“ Rechtsguts kennt und so gesehen den tatbestandlich relevanten Umschlag seiner Attacken von Quantität in Qualität in zurechenbarer Weise vorsätzlich herbeiführt. Dass der letzte Akt unter Ausblendung der vorhergehenden Handlungen für sich betrachtet zur Erfolgsherbeiführung nicht ausreichen würde, ist demgegenüber strafrechtsdogmatisch irrelevant. Ausgehend hiervon kommt es im Übrigen nicht einmal darauf an, dass dem das tatbestandlich geschützte Rechtsgut mehrfach dosiert angreifenden Täter ein Vorgehen nach einheitlichem Tatplan nachgewiesen werden kann. Da im Rahmen der Erfolgszurechnung allein der Zustand des Opfers im Zeitpunkt der Tathandlung maßgeblich ist,43 gehen die dem Täter geläufigen Vorschädigungen prinzipiell zu dessen Lasten, zumal wenn er diese selbst verursacht hat. Überträgt man diese Erkenntnisse auf die im Rahmen der Untersuchung interessierenden Prozesskonstellationen, so ist zu konstatieren, dass ein in Verschleppungsabsicht geführter Rechtsgutangriff mithilfe gestaffelt gestellter Beweisanträge zur Vollendung der Strafverfolgungsvereitelung führen kann. Zwar ist der einzelne Antrag im Lichte des erfolgsrelevanten zeitlichen Bezugspunktes der Strafvorschrift vielfach nicht erfolgsträchtig; jedoch muss sich der Antragsteller die durch sein planvoll gestaltetes Vorverhalten geschaffene quantitative „Vorschädigung“ des Rechtsguts in Addition der Angriffshandlungen als vorsätzlich verwirklichte vollendete Strafvereitelung zurechnen lassen.44 41
Siehe dazu Wessels/Beulke Strafrecht Allgemeiner Teil, 38. Aufl. 2008, Rn. 162 f. Siehe dazu Jakobs Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1991, 25. Abschn. Rn. 67. 43 Wessels/Beulke Strafrecht AT, Rn. 163. 44 Intrikate Zurechnungsfragen treten auf, wenn ein Angeklagter von mehreren Rechtsanwälten verteidigt wird sowie wenn sich das Strafverfahren gegen mehrere Angeklagte richtet. In diesen Konstellationen erscheint es mit Blick auf die rechtliche Autonomie und originäre Verantwortlichkeit des Verteidigers für die Ausgestaltung der Verteidigung des Angeklagten sachgerecht, die allgemeine strafrechtliche Zurechnungsdogmatik strafprozes42
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2. Zur Zurechenbarkeit der Erfolgsverursachung Der Umstand, dass das Stellen mehrerer Beweisanträge in Verschleppungsabsicht zu einer belangvollen Verzögerung der Durchsetzung der staatlichen Strafberechtigung im Sinne des § 258 Abs. 1 StGB führt, vermag die Strafbarkeit eines solchermaßen agierenden Verteidigers wegen Strafvereitelung noch nicht abschließend zu rechtfertigen. Vielmehr bleibt ergänzend zu prüfen, ob ihm der verursachte Erfolg objektiv zugerechnet werden kann. Dies ist nur dann anzunehmen, wenn sich in ihm ein vom Verteidiger geschaffenes, rechtlich missbilligtes Risiko niederschlägt.45 In den Normalfällen der Strafvereitelung bereitet die zumeist inzident bewältigte Prüfungsstufe der objektiven Zurechenbarkeit des Taterfolgs keine nennenswerten Schwierigkeiten, weil typische Tathandlungen – etwa das Vernichten von Spuren und Beweismitteln oder das Ermöglichen der Flucht – ohne Weiteres eine rechtlich missbilligte, sich im Erfolg niederschlagende und damit dem Täter zurechenbare Gefahr für das tatbestandlich geschützte Rechtsgut schaffen.46 Diese für Erfolgsdelikte charakteristischen Zusammenhänge lassen andererseits erkennen, dass Handlungen, die der Täter in Wahrnehmung ihm eingeräumter Rechte vornimmt, unbeschadet möglicher Erfolgskausalität prinzipiell nicht nach § 258 Abs. 1 StGB geahndet werden können. Entscheidend ist, dass solche Gefahren in Ansehung der vom Täter legitimerweise ausgeübten Befugnisse nicht als rechtlich missbilligt bezeichnet und also auch nicht dem objektiven Tatbestand der Strafnorm subsumiert werden können. Dieser zuweilen mit dem Schlagwort „Einheit der Rechtsordnung“ umschriebene Befund hat für die Beurteilung der Strafbarkeit von Verteidigerhandeln zentrale Bedeutung.47 Danach gilt: Prozessrechtsgemäßes Verhalten des Strafverteidigers ist mangels Begründung eines rechtlich missbilligten Risikos für das geschützte Rechtsgut von vornherein ungeeignet, den objektiven Tatbestand der Strafvereitelung zu begründen.48 Zwar mag das Vorgesual zu überformen und die Erfolgsanalyse für jeden einzelnen beschränkt allein auf das eigene Verteidigungsverhalten gesondert durchzuführen. Eine vertiefende Erläuterung dieser Sichtweise ist hier freilich aus Raumgründen nicht möglich. 45 Ebenso im Ansatz SSW-StGB/Jahn § 258 Rn. 21; NK-StGB-Altenhain § 258 Rn. 19 sowie – für strukturell vergleichbare Fälle der Benennung eines „Lügen-Zeugen“ durch den Angeklagten – Prittwitz StV 1995, 270, 273 f. 46 Vgl. SSW-StGB/Jahn § 258 Rn. 23 sowie MünchKommStGB-Cramer § 258 Rn. 9. 47 Zur Tatbestandslosigkeit prozessual zulässigen Verteidigerhandelns siehe BVerfG StV 2006, 522; BGHSt 38, 345, 347 f; BGHSt 46, 36, 44; BGHSt 46, 53, 54 f; KG NStZ 1988, 178; OLG Düsseldorf StV 1998, 65, 66. Für das Schrifttum sei auf Fischer § 258 Rn. 17; NKStGB-Altenhain § 258 Rn. 31 f und MünchKommStGB-Cramer § 258 Rn. 10, jeweils mit zahlreichen Nachweisen, verwiesen. 48 Siehe dazu NK-StGB-Altenhain § 258 Rn. 32; Prittwitz StV 1995, 270, 274. Erstaunlicherweise abweichend SSW-StGB/Jahn § 258 Rn. 23, der konstruktiv von einer teleologi-
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hen des Verteidigers das Strafverfahren vielfach in die Länge ziehen; dieser systemimmanente, gleichsam vorprogrammierte Effekt ist jedoch eingedenk der herausragenden Funktion des Rechtsinstituts der Strafverteidigung für ein rechtsstaatliches Strafverfahren sanktionslos hinzunehmen. Anders gewendet: Der Strafverteidiger darf ungestraft Sand ins Getriebe des Rechtsfindungsprozesses streuen, sofern er als Beistand des Angeklagten in Übereinstimmung mit den Vorschriften der Strafprozessordnung agiert. Handelt er hingegen prozesswidrig, müssen die davon ausgehenden Gefahren für das Rechtsgut des § 258 Abs. 1 StGB auf Zurechnungsebene keine tatbestandliche Privilegierung erfahren, weil solche Verteidigungsaktivitäten illegitim sind und in aller Regel rechtliche Missbilligung erfahren.49 Allerdings ist selbst in diesen Fällen ein Bestrafungsautomatismus noch nicht abschließend vorgezeichnet. a: Der Begriff der Prozesshandlung als zurechnungsspezifischer Privilegierungsansatz aa: Teile des Schrifttums sind der Auffassung, dass sich ein Verteidiger, der Beweisanträge zum Zwecke der Prozessverschleppung stellt, deswegen nicht nach § 258 Abs. 1 StGB strafbar machen könne, weil das Anbringen der Beweisersuchen eine formell wirksame, von der Rechtsordnung nicht missbilligte Prozesshandlung darstelle.50 Der Umstand, dass solche Beweisanträge sachlich dysfunktional wirken, soll nach dieser Ansicht als unvermeidbare Nebenfolge der Prozesshandlung hingenommen werden.51 bb: Das Postulat der Straffreistellung von Prozesshandlungen wird von seinen Verfechtern ersichtlich allein auf das Rechtsgut des § 258 Abs. 1 StGB bezogen.52 Es basiert konzeptionell auf einem rein formellen Problemzugang. Hierin liegt indessen seine entscheidende Schwäche;53 denn strafrechtliche Erfolgszurechnung verlangt die Berücksichtigung sämtlicher aussageschen Reduktion des Rechtsguts von § 258 Abs. 1 StGB gegenüber Strafverteidigern ausgeht und damit die sachlich einschlägige Zurechnungsebene verlässt. 49 Vgl. BGHSt 38, 345, 347 f; BGHSt 46, 53, 55; BGH NStZ 1999, 188, 189; Fischer § 258 Rn. 19; MünchKommStGB/Cramer § 258 Rn. 11; NK-StGB-Altenhain § 258 Rn. 32. 50 Siehe dazu Paulus NStZ 1992, 305, 310 und Fahl Rechtsmißbrauch, S, 75. Ähnlich auch Müller in: Münchener Anwaltshandbuch Strafverteidigung (zukünftig zitiert: MAH), 2006, § 55 Rn. 68. Hingegen dürfte der Beitrag von Ignor FG Schlüchter, S. 39, 46 f, dieser Ansicht nicht zuzurechnen sein, weil danach Prozesshandlungen nur dann straflos bleiben sollen, wenn sie einem (legitimen) Verteidigungszweck dienen. Hiervon kann freilich in Fällen des Missbrauchs des Beweisantragsrechts nach § 244 Abs. 3 S. 2 Var. 6 StPO nicht die Rede sein. 51 So insbesondere – auch unter Hinweis auf Verhältnismäßigkeitserwägungen – Paulus NStZ 1992, 305, 310 und Fahl Rechtsmißbrauch, S. 75 f. 52 Dazu, dass dieser Begründungsansatz von vornherein nur für Angriffe gegen Rechtspflegedelikte gelten kann, siehe Prittwitz StV 1995, 270, 273 sowie Haas NStZ 1993, 173. 53 Ebenso Haas NStZ 1993, 173.
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kräftiger Fallumstände. Daher können Fragen nach der inhaltlichen Missbilligung handlungstypischer Risiken der Beweisantragstellung für das Rechtsgut des § 258 Abs. 1 StGB im Zurechnungskontext nicht ausgeklammert werden,54 zumal Rechte durchaus zweckwidrig eingesetzt werden und deswegen Missbilligung erfahren können. Ausgehend von der rechtlich gebotenen inhaltlichen Analyse der in Verschleppungsabsicht gestellten Beweisanträge wird die Unhaltbarkeit der allein auf formelle Gesichtspunkte abstellenden Begründung zur strafrechtlichen Rechtfertigung solcher Beweisbegehren augenfällig. Nach der Konzeption der Hauptverhandlung obliegt dem Gericht gemäß § 244 Abs. 2 StPO die Pflicht zur Sachaufklärung von Amts wegen. Es ist gehalten, von sich aus die Beweisaufnahme zur Erforschung der Wahrheit auf alle Tatsachen zu erstrecken, die für die Entscheidung von Bedeutung sind. Dazu muss es die Beweise erheben, von denen nach Lage des Falles eine (weitere) Aufklärung der Sache zu erwarten ist.55 In Ergänzung zur gerichtlichen Sachaufklärung und zugleich als Gegengewicht zur richterlichen Auswahl und Prüfung bestimmter einzelner Beweismittel räumt die Strafprozessordnung dem Angeklagten und seinem Verteidiger die Möglichkeit ein, auf den Vorgang der Gewinnung entscheidungserheblicher Tatsachen mithilfe von Beweisanträgen Einfluss zu nehmen. Zentrale Bedeutung kommt insoweit dem Verbot der Beweisantizipation zu.56 Vor diesem Hintergrund zielen Beweisanträge in erster Linie darauf ab, bestimmte Beweiserhebungen zu erwirken, um so die Erkenntnisgrundlage für die Urteilsfindung auch gegen hiervon abweichende Einschätzungen und Erwartungen des Gerichts zu erweitern.57 Daneben können Beweisanträge funktional zu rein verfahrensbezogenen Zwecken dergestalt eingesetzt werden, dass der Antragsteller mit ihnen überhaupt nicht die Erhebung der bezeichneten Beweise erstrebt, sondern allein danach trachtet, durch die Begründung der einkalkulierten Zurückweisung Informationen über die gerichtliche Zwischenbewertung der Beweislage zu gewinnen.58 54
Ähnlich Ignor FG Schlüchter, S. 39, 46–48. BGHSt 1, 94, 96; BGHSt 32, 115, 122; BGHSt 31, 148, 152; BGHSt 46, 73, 79; MeyerGoßner § 244 Rn. 11 f; KK/StPO-Fischer § 244 Rn. 28, 32 f; Alsberg/Nüse/Meyer Beweisantrag, S. 21. 56 Grundlegend RGSt 1, 189, 190. Siehe weiterhin BGH NStZ 1983, 468; BGH NStZ 1984, 42 f; BGH NStZ 1994, 169; BGH NStZ 1997, 503, 504; BGH StV 2002, 350, 352. Eingehend Alsberg/Nüse/Meyer Beweisantrag, S. 411–422; Hamm/Hassemer/Pauly Beweisantragsrecht, Rn. 149–156; Deckers Beweisantrag, S. 37–40; LR-Becker § 244 Rn. 183 f; KK/ StPO-Fischer § 244 Rn. 127 f. 57 Statt aller Alsberg/Nüse/Meyer Beweisantrag, S. 31 f, 371, 635; Hamm/Hassemer/ Pauly Beweisantragsrecht, Rn. 135; Deckers Beweisantrag, S. 9; Herdegen NStZ 2000, 1, 6 f; Bünger NStZ 2006, 305, 307. 58 Siehe dazu Hamm/Hassemer/Pauly Beweisantragsrecht, Rn. 135 f; Deckers Beweisantrag, S. 8. 55
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Vergegenwärtigt man sich diese Funktionen von Beweisanträgen, so erschließt sich die besondere Stellung der Prozessverschleppung innerhalb des Gesamtgefüges der Ablehnungsgründe. Charakteristisch für § 244 Abs. 3 S. 2 Var. 6 StPO ist nicht so sehr der Aspekt der Überflüssigkeit der begehrten Beweiserhebung, sondern vielmehr das hinzukommende subjektive Moment der Absicht zur Prozessverschleppung. Dieses intentionale Merkmal eines in jeder Hinsicht bewusst sinnwidrigen Prozedierens hebt § 244 Abs. 3 S. 2 Var. 6 StPO von den übrigen Ablehnungsgründen signifikant ab. Es markiert eine Besonderheit; denn dadurch wird im Gegensatz zu den übrigen Fällen überflüssiger Beweiserhebungen klargestellt, dass der Ablehnungsgrund der Prozessverschleppung einen gesetzlich geregelten Fall des Missbrauchs des Beweisantragsrechts vertypt.59 Vor diesem Hintergrund muss die Frage nach der strafprozessualen Missbilligung von Verfahrensverzögerungen durch Beweisanträge in Prozessverschleppungsabsicht ohne viel Federlesens bejaht werden: Dass Rechtsmissbrauch nach allgemeinem Rechtsdenken genuin missbilligt ist, bedarf ganz gewiss keiner Vertiefung. Und deswegen gilt: Nur der Gebrauch, nicht jedoch der Missbrauch von Verfahrensrechten kann den Strafverteidiger von vornherein vor dem Vorwurf der Strafvereitelung schützen. Der Begriff der „Prozesshandlung“ ist im Zurechnungskontext des § 258 Abs. 1 StGB nicht aussagekräftig und daher rechtlich belanglos. b: Weitere Rechtsgründe für den Ausschluss der Erfolgszurechnung Mit der vorstehenden Aussage ist allerdings noch nicht endgültig entschieden, ob die im Ausgangsfall dieses Beitrags exemplarisch beschriebene Vorgehensweise des Verteidigers tatsächlich strafbar ist. Rechtsmissbräuchliches Verhalten kann, muss aber nicht zwingend als Strafvereitelung sanktioniert werden. Es ist vorstellbar, dass wichtige Rechtsgründe einer derart massiven Reaktion auf prozessuales Fehlverhalten entgegenstehen. Im Schrifttum werden in diesem Zusammenhang drei Gegenerwägungen präsentiert. Zunächst wird behauptet, dass die missbräuchliche Handhabung des Beweisantragsrechts rein prozessual – ohne Rückgriff auf § 258 StGB – bewältigt werden müsse.60 Fahl garniert diese Sichtweise mit dem Bonmot, dass dem Missbrauch dort zu begegnen sei, wo er entstehe, nämlich im
59 Dazu BGHSt 29, 149, 151; BGH NStZ 2005, 45; LR-Becker § 244 Rn. 265; SK/StPOFrister § 244 Rn. 167; Alsberg/Nüse/Meyer Beweisantrag, S. 635 f; Hamm/Hassemer/Pauly Beweisantragsrecht, Rn. 255; Deckers Beweisantrag S. 46; Beulke/Ruhmannseder Strafbarkeit, Rn. 100; Kudlich Mißbrauchsverbot, S. 32; Fahl Rechtsmißbrauch, S. 467; Abdallah Die Problematik des Rechtsmißbrauchs im Strafverfahren, 2002, S. 161. 60 Ausführlich hierzu Jahn Konfliktverteidigung, S. 349–351. Ebenso Beulke/Ruhmannseder Strafbarkeit, Rn. 102; Fahl, Rechtsmißbrauch, S. 75; MAH-Müller § 55 Rn. 70.
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Prozessrecht.61 Sodann wird propagiert, dass die Auswirkungen der in Verschleppungsabsicht gestellten Beweisanträge dem Verteidiger nicht zugerechnet werden könnten, weil für die Zurückweisung solcher Beweisbegehren allein das Gericht zuständig sei. Dabei zutage tretende Unzulänglichkeiten dürften nicht zulasten des Verteidigers gehen, selbst wenn er das Beweisantragsrecht dysfunktional einsetze.62 Eng verknüpft mit diesem originellen Zurechnungsmodell ist der dritte Einwand, demzufolge die Bestrafung des Verteidigers in den Fällen missbräuchlichen Vorgehens im Sinne von § 244 Abs. 3 S. 2 Var. 6 StPO überzogen und unverhältnismäßig sei.63 Diese Erwägungen gegen die Strafbarkeit des prozesswidrigen Einsatzes des Beweisantragsrechts sind bedenkenswert. Natürlich kann die Bestrafung anwaltlichen Vorgehens nach § 258 Abs. 1 StGB eingedenk des herausragenden Stellenwerts des Rechtsinstituts der Strafverteidigung für die Rechtsstaatlichkeit des Strafverfahrens stets nur ultima ratio sein. Freilich verdient der in § 244 Abs. 3 S. 2 Var. 6 StPO thematisierte Missbrauch des Beweisantragsrechts nicht zuletzt mit Blick auf den bösen Willen des Antragstellers und das Fehlen anderweitiger effektiver Erledigungsmöglichkeiten diese kompromisslose Sanktion. Die drei hiergegen ins Feld geführten Einwände vermögen hieran nichts zu ändern: aa: Die Behauptung, der Missbrauch des Beweisantragsrecht nach § 244 Abs. 3 S. 2 Var. 6 StPO müsse ohne Rückgriff auf das materielle Strafrecht rein prozessual – also durch schlichte Zurückweisung des Beweisbegehrensbewältigt werden, ist in Ansehung der in § 138a Abs. 1 Nr. 3 StPO getroffenen Regelung verfehlt. Da diese Vorschrift zu erkennen gibt, dass Verteidigungsaktivitäten im Einzelfall gemäß § 258 Abs. 1 StGB strafbar sein können, kann keine Rede davon sein, dass der Missbrauch von Verfahrensrechten allein wegen der verfahrensrechtlichen Dimension des Phänomens dem Anwendungsbereich des Straftatbestandes der Strafvereitelung entzogen sein müsse. Im Gegenteil: Die in § 138a Abs. 1 Nr. 3 StPO dokumentierte Verschränkung von Verfahrensrecht und Strafrecht zeigt auf, dass prozessuale 61
Fahl Rechtsmißbrauch, S. 73. Eingehend dazu Jahn Konfliktverteidigung, S. 345–349. Erste Anklänge finden sich insoweit bei Mehle FG Koch, S. 179, 187. 63 So insbesondere Pellkofer Sockelverteidigung und Strafvereitelung, 1999, S. 135 f sowie auch Jahn, Konfliktverteidigung, S. 349 f. In eine ähnliche Richtung zielen die Überlegungen von Schnarr NJW-Sonderheft Schäfer, S. 64, 67–69. Schnarr befürwortet eine teleologische Reduktion des Straftatbestandes auf schwerwiegende Pflichtverletzungen des Strafverteidigers und orientiert sich dabei am ultima-ratio-Gedanken als Gradmesser der normativen Wesentlichkeitsschwelle. Ausgehend hiervon geht er davon aus, dass ein einzelner mit der Absicht der Prozessverschleppung gestellter Beweisantrag noch nicht einen elementaren Verstoß gegen die Prozesspflichten des Verteidigers darstellen müsse. In Fällen massiv rechtsmissbräuchlicher Inanspruchnahme des Beweisantragsrechts soll hingegen § 258 Abs. 1 StGB einschlägig sein. 62
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Missbrauchsdiskussionen auch materiellrechtliche Bezüge aufweisen können. Im Übrigen bleibt festzuhalten, dass eine wie auch immer geartete spezielle – gleichsam bereichsspezifische – Sperrwirkung des Ablehnungsgrundes aus § 244 Abs. 3 S. 2 Var. 6 StPO gegenüber der Strafvorschrift des § 258 Abs. 1 StGB nicht existiert. Zwar wird solches zuweilen unter Hinweis darauf behauptet, dass bereits die Ablehnung des in Verschleppungsabsicht gestellten Beweisantrags die gesetzlich vorgesehene und in der Sache durchaus ausreichende Sanktion des darin zutage tretenden rechtsmissbräuchlichen Verhaltens sei. Diese rechtlich außergewöhnliche und damit gesondert begründungsbedürftige Sicht der Dinge trifft jedoch nicht zu. Die Vorschrift des § 244 Abs. 3 S. 2 Var. 6 StPO thematisiert lediglich die inhaltlichen Voraussetzungen der Zurückweisung einschlägiger Beweisanträge. Darin kann freilich keine prozessuale Sanktion eines Fehlverhaltens, sondern nurmehr die Regelung von Form und Inhalt der Kommunikation über ein in prozesswidriger Absicht gestelltes sinnloses Beweisbegehren erblickt werden. Der für Sanktionen somit verbleibende Freiraum kann durchaus auch jenseits des Strafverfahrensrechts durch § 258 Abs. 1 StGB ausgefüllt werden. Dies gilt umso mehr, weil die bloße Zurückweisung eines in Verschleppungsabsicht gestellten Beweisantrages die im Beispielsfall eindringlich geschilderte Verzögerungsproblematik nicht einmal ansatzweise zu lösen vermag. Da bereits die Beschlussfassung über solche – gegebenenfalls massenhaft und sukzessive angebrachten – Beweisbegehren zu tatbestandlich relevanten Verzögerungen der Durchsetzung der staatlichen Strafberechtigung im Sinne des § 258 Abs. 1 StGB führen kann, bleibt die These von der rechtlich vorgegebenen innerprozessualen Problemlösung unbehelflich; denn das Prozessrecht hat hiergegen – wie eingangs gezeigt – rein gar nichts zu bieten.64 Es kann lediglich verhindern, dass die Hauptverhandlung durch sinnlose Beweiserhebungen noch mehr in die Länge gezogen wird. Aber um diese Verzögerungseffekte geht es beim zutreffend angewandten Ablehnungsgrund der Prozessverschleppung nicht. Wer anderes propagiert, billigt Strafverteidigern bei Lichte betrachtet einen unkontrollierbaren Freiraum für rechtsmissbräuchliches Verhalten nach situativem Gutdünken zu. bb: Die Klarstellung des bestrafungsrelevanten Taterfolgs in Gestalt zeitlicher Verzögerungen durch Beschlussfassung und nicht durch überflüssige Beweiserhebungen demonstriert zugleich die Unergiebigkeit eines an der Zuweisung von Fehlerfolgen ausgerichteten Zurechnungsmodells nach Maßgabe systemspezifischer Verantwortlichkeitsbereiche. Diesem vornehmlich von Jahn entwickelten Ansatz liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde:65 64 65
Siehe dazu auch Kudlich Mißbrauchsverbot, 1998, S. 289. Jahn Konfliktverteidigung, S. 345–349; ders. ZRP 1998, 103, 107 f.
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Ausgangspunkt des auf die Abgrenzung von strafloser Strafverteidigung und Strafvereitelung ausgerichteten Zurechnungsmodells ist die Erkenntnis, dass der Verteidiger als Beistand des Angeklagten in Wahrnehmung dieser Rolle keine Mitverantwortung für die ordnungsgemäße Durchführung des Verfahrens und dessen Ziele trägt. Zuständig hierfür ist vielmehr allein das Gericht. Daher ist es ausschließlich Sache des Gerichts, rechtsmissbräuchliche Verteidigungsaktivitäten als solche zu erkennen und mithilfe der ihm eingeräumten Eingriffsrechte abzuwehren. Unterlaufen dem Gericht dabei Fehler, etwa weil es seine strafprozessualen Gestaltungsmöglichkeiten nicht ausnutzt oder sonst unzulänglich handhabt, können die dadurch verursachten Fehlerfolgen dem Verteidiger nicht zugerechnet werden; denn in ihnen realisiert sich ein ausschließlich vom Gericht, nicht jedoch vom Verteidiger zu verantwortendes Risiko für das durch § 258 StGB geschützte Rechtsgut. Selbst wenn die von den Befürwortern eines solchen Modells verfochtene Zentralthese zutreffen sollte,66 wonach der dysfunktionale Einsatz von Verfahrensrechten jedenfalls dann nicht nach § 258 StGB geahndet werden könne, wenn das Gericht in Ausübung seiner Überwachungs- und Kontrollbefugnisse die Möglichkeit habe, den Missbrauch mithilfe strafprozessualer Maßnahmen abzuwehren, besagt diese Erkenntnis im vorliegenden Kontext nichts. Denn da es bei der ordnungsgemäßen Zurückweisung von Beweisanträgen nach § 244 Abs. 3 S. 2 Var. 6 StPO und dem davon ausgehenden Zeitverzug gar nicht um Fehler bei Anwendung missbrauchsbekämpfender Rechtsvorschriften und die Zuweisung ihrer Folgen an einzelne Verfahrensbeteiligte geht, kann das von Jahn konzipierte Zurechnungsmodell die Straflosigkeit des Antragsverhaltens des Verteidigers von vornherein nicht rechtfertigen. Es könnte erst in Fällen nachgelagerter Verfahrensverzögerungen – resultierend aus der Erhebung der rechtsmissbräuchlich beantragten Beweise – zur Anwendung gelangen. Derartige Verfahrenskonstellationen stehen jedoch nicht im Fokus dieses Beitrags. cc: Schlussendlich bleibt zu konstatieren, dass allgemeine Verhältnismäßigkeitserwägungen der Bestrafung des Stellens von Beweisanträgen in Verschleppungsabsicht nach § 258 Abs. 1 StGB nicht entgegenstehen. An der Erforderlichkeit derartiger Interventionen können im Lichte der eingangs geschilderten Rechtslage keine ernsthaften Zweifel bestehen, weil die Straf66 Die Sachgerechtigkeit dieses Modells zur Zurechnung strafprozessualer Fehlerfolgen ist keineswegs ausgemacht. Bedenkt man, dass der missbräuchlich vorgehende Verfahrensbeteiligte die Prozesswidrigkeit seiner Prozesshandlungen kennt und gegenüber dem Gericht einen Informationsvorsprung hat, wäre es durchaus vorstellbar, die Zurechnungsfrage abweichend zu beantworten. Danach bliebe zu erwägen, ob der unredlich agierende, auf die Provokation von Fehlern des Gerichts abzielende Verfahrensbeteiligte mit den Folgen seines Vorgehens belastet werden kann, weil er im Zeitpunkt des Handelns mehr weiß als das Gericht, ohne dies preiszugeben. Siehe hierzu – in ähnlichem Kontext – Fischer § 258 Rn. 28.
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prozessordnung keine alternativen Reaktionsmöglichkeiten unterhalb der Schwelle des Strafrechts anbietet, sondern in § 138a Abs. 1 Nr. 3 StPO vielmehr selbst auf § 258 StGB verweist. Und davon, dass die Bestrafung des im Beispielsfall umschriebenen nachhaltig missbräuchlichen Vorgehens des Verteidigers überzogen und daher im engeren Sinne unverhältnismäßig sei, kann bei unvoreingenommener Betrachtung wohl auch keine Rede sein. Im Übrigen: Bei sachgerechter Auslegung der Strafvorschrift des § 258 Abs. 1 StGB ist die Verhältnismäßigkeit des strafrechtlichen Zugriffs auf rechtsmissbräuchliche Beweisantragstellung deswegen gewährleistet, weil ein einzelner Antrag zur Verursachung des tatbestandlichen Erfolges der Strafvereitelung in aller Regel nicht ausreicht.67 Dass der Vielzahl solcher Beweisersuchen hingegen kompromisslos mit Strafe begegnet werden muss, erscheint hart, aber gerecht. Denn Toleranz für eine bewusst nachhaltige Überschreitung gesetzlich ausdrücklich und unmissverständlich fixierter Grenzen legitimer gegenüber missbräuchlicher Rechtsausübung muss es im Rechtsstaat des Grundgesetzes nicht geben, selbst wenn es sich dabei um singuläre Ereignisse handelt.68
IV. Fazit Das sukzessive Anbringen von Beweisanträgen in Prozessverschleppungsabsicht am Ende der Hauptverhandlung ist rechtsmissbräuchlich. Es kann zur Strafbarkeit der Antragsteller wegen (versuchter) Strafvereitelung gemäß § 258 Abs. 1 StGB führen, sofern dadurch der Abschluss der Hauptverhandlung um mehr als drei Wochen hinausgezögert wird. Strafverteidiger laufen darüber hinaus Gefahr, von der weiteren Mitwirkung am Verfahren nach § 138a Abs. 1 Nr. 3 StPO ausgeschlossen zu werden. Dieser Befund wird namentlich Strafverteidiger in Rage versetzen; denn die Kriminalisierung rechtsmissbräuchlicher Handhabung des Beweisantragsrechts wiegt schwer. Aber auch die Strafjustiz wird sich nicht ohne Weiteres mit dieser Sicht der Dinge anfreunden. Der vom Legalitätsprinzip ausgehende Verfolgungszwang muss Staatsanwaltschaften und Gerichte veranlassen, bei der Missbrauchsbekämpfung gleichsam auf ganzer Linie „blank
67 Rechtspraktisch dürfte sich daher die hier entwickelte Sichtweise mit der von Schnarr NJW-Sonderheft Schäfer, S. 64, 68 f, befürworteten Lösung decken. 68 Watteweich insoweit allerdings Beulke FS Amelung, S. 543, 557 und 562, der einerseits die Bekämpfung von Prozesssabotage als legitim erachtet, andererseits aber für die Hinnahme dessen eintritt, „was wir zu tolerieren haben“, und dabei das Irgendmögliche einfordert. Nachgerade Letzteres ist – auch mit Blick auf den herausgehobenen Stellenwert der Verteidigung für ein rechtsstaatliches Strafverfahren – in dieser verallgemeinernden Form ganz gewiss nicht einsichtig.
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zu ziehen“. Ob die Justiz hierfür genügend Energie und Durchsetzungskraft aufbringen kann, mag im Zeitalter des institutionalisierten Deals zunehmend zweifelhaft erscheinen. Rechtspraktisch dürfte das Ergebnis dieser kleinen Studie vorerst freilich kaum Auswirkungen zeitigen. Die Anforderungen an die rechtsfehlerfreie Annahme des Vorliegens von Verschleppungsabsicht sind nach wie vor hoch, so dass die Gerichte weiterhin eher selten auf § 244 Abs. 3 S. 2 Var. 6 StPO zurückgreifen werden. Allerdings könnte eine Wirkung dieses Beitrags darin liegen, dass Verteidiger in Kenntnis des spezifischen Strafbarkeitsrisikos der zuweilen möglicherweise aufkommenden Verführung zum missbräuchlichen Einsatz des Beweisantragsrechts nunmehr erst recht widerstehen. Andererseits sollte die Justiz den Ablehnungsgrund der Prozessverschleppung unter Berücksichtigung der mit seiner Anwendung einhergehenden strafrechtlichen Folgen überaus sorgfältig prüfen und zurückhaltend einsetzen. Beides zusammen wäre ein durchaus erfreuliches Resultat der generalpräventiven Wirkung von Strafrecht.
Die berufstypische Beihilfe im Strafprozess: Methodisches zur Feststellung erkennbarer Tatgeneigtheit Christian Schröder A. Einleitung Der mit dieser Festschrift gefeierte Jubilar war nicht nur Strafrechtslehrer an der Freien Universität Berlin, sondern im Nebenamt auch Richter am Kammergericht. Viele der Schriften Gepperts reflektieren die Verzahnung des materiellen Rechts mit dem Prozessrecht. Volk schreibt zu dieser Verzahnung in seinem Lehrbuch zum Strafprozessrecht, dass materielles Recht und Prozessrecht funktional miteinander verbunden sind und formuliert durchaus provokativ: „Ein Straf-Recht ohne Prozess gibt es nicht“.1 Das ist schon deshalb richtig, weil es in der Rechtswirklichkeit keinen Sachverhalt ohne Prozessrecht gibt. Der festgestellte Sachverhalt, den ein Gericht würdigt, ist immer das Ergebnis einer Anwendung prozessualer Regeln. In diesem Sinne formt das Prozessrecht jede Anwendung des Strafrechts. Dieses Wechselspiel ist sehr reizvoll. Denn nicht nur die verfahrensrechtliche Ermittlung des Sachverhalts präjudiziert die Anwendung des materiellen Rechts, sondern auch die Anforderungen des materiellen Rechts wirken auf das Prozessrecht zurück. Für die Tatbestandsmerkmale eines Gesetzes versteht sich das von selbst, weil sich jedes Merkmal eines Tatbestandes im festgestellten Sachverhalt wieder finden muss.2 Es gibt zudem aber auch Rechtsprechung, die materielles Recht auslegt und im Zuge dessen Anforderungen formuliert, denen das Tatgericht genügen muss. Darum soll es nachfolgend anhand der Rechtsprechung des BGH zur berufstypischen Beihilfe gehen.
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Volk Grundkurs Strafprozessrecht, 6. Auflage 2008, § 2 Rn. 1. Weshalb der Gesetzgeber bisweilen dazu neigt, mit Blick auf die „Beweisbarkeit“ Anforderungen des materiellen Rechts abzuschwächen Geppert in: Gedächtnisschrift für Schlüchter, 2002, S. 43 (52 ff.). 2
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B. Zur Beihilfe durch berufstypische Tätigkeiten Die Problematik der berufstypischen Beihilfe wird seit Jahrzehnten immer wieder diskutiert.3 In der Sache geht es um die Frage, ob und wann jemand strafrechtlich haften soll, wenn eine bei isolierter Betrachtung alltägliche oder berufstypische Handlung in einen kriminellen Zusammenhang gestellt und so eine Straftat gefördert wird. Problematisch ist die grundsätzliche Weite der strafrechtlichen Haftung des Gehilfen gemäß § 27 StGB, da nach Rechtsprechung und herrschender Lehre grundsätzlich jede Förderung der Tat eines anderen als strafbare Beihilfe in Betracht kommt.4 Nach ständiger Rechtsprechung muss der Tatbeitrag für den Erfolg der Tat nicht kausal gewesen sein.5 Wenn ein Grundstück unter Wert verschleudert wird und auch im Übrigen die Voraussetzungen der Untreue nach § 266 Abs. 1 StGB vorliegen, dann fördert bei rein objektiver Betrachtung der Notar, der den Grundstückskaufvertrag beurkundet, diese Untreue durch eine für ihn und seinen Berufsstand berufstypische Handlung. Gleiches gilt etwa für Steuerberater, die an der unrichtigen Steuererklärung ihres Mandanten mitwirken. Deshalb wurde die Frage aufgeworfen, ob den Angehörigen der beratenden Berufe bei der Ausführung ihrer berufstypischen Tätigkeiten ein strafrechtliches Haftungsprivileg zuzubilligen sei.6 Einige Autoren suchen die Lösung schon bei der objektiven Zurechnung,7 wenn etwa den Berufsregeln genügendes Handeln ausgegrenzt werden soll.8 Auf der Ebene des objektiven Tatbestandes kann man das Problem indes kaum lösen,9 da es für die Frage berufsadäquaten Verhaltens auch darauf ankommt, was der helfende Berater über das Handeln seines Mandanten weiß. Der Notar, der einen äußerlich durchaus üblichen Vertrag beurkundet, nimmt eine berufsadäquate Handlung vor. Rein objektiv bleibt sein Tun gleich, wenn einer der Vertragspartner damit einen Betrug begeht. Nur das, was der Notar „überschießend weiß“, kann dem Handeln die Berufsadäquanz nehmen. 3 Ausführlich Kudlich Die Unterstützung fremder Straftaten durch berufsbedingtes Verhalten, 2004, S. 75 ff.; Überblick bei Beckemper Jura 2001, 163 ff.; Geppert Jura 1999, 266 (269 f.); zur Entwicklung der Rspr. Joecks in: Münchener Kommentar zum StGB, 2003, § 27 Rn. 43 ff. 4 BGHSt 46, 107 (109); Grenzfall bei BGH, wistra 2004, 180, hier weitere Nachweise aus der Literatur. 5 Vgl. BGHSt 46, 107 (109) mwN.; von Geppert Jura 1999, 266 (268), unter Hinweis auf BGH, StV 1981, 72 f., passend als „Förderungskausalität“ umschrieben. 6 Vgl. Baumgarte wistra 1992, 41 (44 f.); Krekeler AnwBl. 1993, 69 ff.; Volk BB 1987, 139 ff.; Wessing NJW 2003, 2265 ff.; Cramer/Heine in: Schönke/Schröder, Kommentar zum StGB, 27. Auflage 2006, § 27 Rn. 10a. 7 Vgl. zusf. Kühl Strafrecht AT, 6. Aufl. 2008, § 20 Rn. 222a mwN; Ransiek, wistra 1997, 41 ff.; Wohlers NStZ 2000, 169 (173 f.). 8 Hassemer wistra 1995, 41 ff.; 81 (83). 9 So auch Joecks (Fn. 3), § 27 Rn. 68; Schünemann in: Leipziger Kommentar zum StGB, 12. Aufl. 2007, § 27 Rn. 17.
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Das Berufsrecht bestätigt diesen Befund. Soweit es zu diesen Fragen Regelungen enthält, stellt es auf das Wissen des Beraters ab.10 Man kommt also ohne subjektive Gesichtspunkte nicht aus. Denn wer bei der Frage nach der Berufsadäquanz das Wissen des Beraters hinsichtlich der Handlungen des Mandanten berücksichtigt, befindet sich an einer Stelle, die andere im subjektiven Tatbestand prüfen, wenn sie das Wissen des Gehilfen hinsichtlich der Haupttat ansprechen. Andererseits kommt auch derjenige, der das Problem jenseits der objektiven Zurechnung lösen will, nicht darum herum, die im Einzelfall limitierende Wirkung des Berufsrechts anzuerkennen. Dann wird die Prüfung des Vorsatzes um objektive Gesichtspunkte angereichert. Alles andere überzeugt nicht, weil man eine infolge der Berufsausübung zu prüfende Beihilfe nicht strafrechtsautonom deuten kann, also jenseits der Berufsregeln, die für den Täter gelten.11
I. Die Vorgaben des BGH Die vom Tatrichter zu beachtende Rechtsprechung des BGH zur berufstypischen Beihilfe hat der 5. Strafsenat des BGH entscheidend geprägt.12 Bei formaler Betrachtung sucht der 5. Strafsenat die Lösung auf der Vorsatzebene. Das liegt einfach daran, dass die Rechtsprechung die von Teilen der Lehre entwickelte objektive Zurechnung als Element des Unrechtstatbestandes jedenfalls nicht grundsätzlich übernommen hat.13 Das heißt aber wiederum nicht, dass sich die Rechtsprechung weiterführenden Erkenntnissen dieser Lehre verschließt. Das zeigt sich in der Rechtsprechung des BGH zur berufstypischen Beihilfe besonders deutlich. Der 5. Strafsenat lässt jenseits der klassischen Vorsatzlehre normative Kriterien aus der Lehre von der objektiven Zurechnung einfließen und formuliert das wie folgt:14 „Zielt das Handeln des Haupttäters ausschließlich darauf ab, eine strafbare Handlung zu begehen und weiß dies der Hilfeleistende, so ist sein Tatbeitrag als Beihilfehandlung zu werten (…). In diesem Fall verliert sein Tun stets den ‚Alltagscharakter‘; es ist als Solidarisierung mit dem Täter zu deuten (…) und dann auch nicht mehr als ‚sozialadäquat‘ anzusehen (…). Weiß der Hilfeleistende dagegen 10 Auf die Grenzen zulässiger Berufsausübung geht z.B. § 14 Abs. 2 BNotO ein, wonach der Notar seine Amtstätigkeit zu verweigern hat, wenn seine Mitwirkung bei einer Handlung verlangt wird, mit der erkennbar unerlaubte oder unredliche Zwecke verfolgt werden, näher dazu Schröder DNotZ 2005, 596 ff. 11 Vgl. Kudlich (Fn. 3), S. 467 ff., mit einer Würdigung verschiedener Berufe unter Beachtung berufsregelnder Vorschriften. 12 Beginnend mit BGH, wistra 1999, 103 (108). 13 So lässt beispielsweise BGHSt 38, 32 (34), die Zuordnung des Zurechungsproblems zum objektiven oder zum subjektiven Tatbestand offen. 14 BGH, NStZ 2000, 34.
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nicht, wie der von ihm geleistete Beitrag vom Haupttäter verwendet wird, hält er es lediglich für möglich, dass sein Tun zur Begehung einer Straftat genutzt wird, so ist sein Handeln regelmäßig noch nicht als strafbare Beihilfehandlung zu beurteilen, es sei denn, das von ihm erkannte Risiko strafbaren Verhaltens des von ihm Unterstützten war derart hoch, dass er sich mit seiner Hilfeleistung ,die Förderung eines erkennbar tatgeneigten Täters angelegen sein‘ ließ (…).“ Dieser Maßstab zur Prüfung der berufstypischen Beihilfe tauchte fortan in der Rechtsprechung15 immer wieder auf.16 In der Sache macht sich der BGH in diesen Entscheidungen Gedanken Roxins zu Eigen, wonach jeder Helfende darauf vertrauen kann, dass ein anderer keine vorsätzliche Straftat begeht, solange nicht eine erkennbare Tatgeneigtheit des anderen diese Annahme entkräftet.17 Im Sinne Roxins handelt es sich um einen Wertungsmaßstab zur objektiven Zurechnung,18 der als Vertrauensgrundsatz vor allem in der Fahrlässigkeitsdogmatik auf breite Akzeptanz gestoßen ist.19 Danach darf man grundsätzlich auf das normgerechte Verhalten anderer vertrauen. Anderes gilt erst dann, wenn konkrete Umstände dieses Vertrauen nicht mehr rechtfertigen.20 Roxin umschreibt die vertrauenserschütternden Umstände für die hier interessierenden Fälle als erkennbare Tatgeneigtheit21 und genau dieses Vokabular finden wir in den Entscheidungen des BGH. Der 5. Strafsenat versucht auf diesem Weg die Weite der Gehilfenhaftung einzufangen. Das ist in der Sache auch richtig, weil insbesondere beratende Berufe von Vertrauensverhältnissen unterlegt sind.22 Für das dem Berater entgegengebrachte Vertrauen versteht sich das von selbst. Unsere Rechtsordnung verlautbart das an verschiedenen Stellen und schottet einzelne Vertrauensverhältnisse sogar ab, wie z. B. anhand des Zeugnisverweigerungsrechts in § 53 StPO deutlich wird. Indes muss auch der Berater „im ersten Takt“ ver-
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BGH, wistra 2000, 459 (460) – Notar. BGHSt 46, 107 (112) – Bankangestellte beim Transfer von Schwarzgeld zwecks Steuerhinterziehung. 17 Roxin Strafrecht Allgemeiner Teil, Band II, 2003, § 26 Rn. 218 ff., 241; kritisch Beckemper Jura 2001, 163 (168); Weigend in: Festschrift für Nishihara, 1998, S. 197 (199 f.). 18 Roxin Strafrecht Allgemeiner Teil, Band I, 4. Aufl. 2006, § 24 Rn. 21 ff.; ders. in: Festschrift für Miyazawa, 1995, S. 512 (516); ders. in: Festschrift für Tröndle, 1989, S. 177 (190 f.). 19 Zum Vertrauensgrundsatz im Straßenverkehr BGHSt 4, 47 ff. Zur generellen Akzeptanz des Vertrauensgrundsatzes Cramer/Sternberg-Lieben in: Schönke/Schröder, § 15 Rn. 148 ff. mwN. 20 Roxin (Fn. 18), § 24 Rn. 23; ders. (Fn. 18), S. 177 (197). 21 Roxin in: Leipziger Kommentar zum StGB, 11. Aufl. 2003, § 27 Rn. 19 i.V.m. Rn. 21; in der Sache ähnlich Schünemann (Fn. 9), § 27 Rn. 17. 22 Gehre/von Borstel Kommentar zum Steuerberatungsgesetz, 5. Aufl. 2005, § 57 Rn. 57, für den Steuerberater; Feuerich in: Feuerich/Weyland, Kommentar zur BRAO, 7. Aufl. 2008, § 43a Rn. 12, für den Rechtsanwalt. 16
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trauen dürfen.23 Es wäre einem Vertrauensverhältnis abträglich, wenn der Berater angesichts der Möglichkeit eigener Haftung gleichsam „von Berufs wegen“ Argwohn hegen müsste. In einer Entscheidung zur verfassungskonformen Auslegung des § 261 StGB hat das Bundesverfassungsgericht nicht nur ausgeführt, dass das Vertrauensverhältnis von Berater und Mandant die Basis einer effektiven Beratung sei.24 Vielmehr kann danach die Entstehung eines Vertrauensverhältnisses gestört oder gänzlich verhindert werden, wenn über dem Berater stets ein Strafbarkeitsrisiko schwebt.25 Die Entscheidung darf freilich nicht verallgemeinert werden, denn sie betrifft den Sonderfall des Strafverteidigers, der mit möglicherweise inkriminierten Geldern bezahlt wird. Man kann aber doch sagen, dass Vertrauensverhältnisse nicht entstehen können, wenn der Berater stets eigene Strafbarkeitsrisiken im Auge behalten muss. Aus dieser Erwägung folgt dann aber auch die Notwendigkeit, für die Feststellung eines Gehilfenvorsatzes mehr zu verlangen als das schlichte Für-Möglich-Halten einer strafbaren Handlung des Mandanten. Deswegen darf ein Steuerberater grundsätzlich davon ausgehen, dass sein Mandant keine Steuern hinterzieht, obwohl wir alle wissen, dass es um die Steuerehrlichkeit nicht immer gut bestellt ist.26 Auch der einzelne Anhaltspunkt dafür, dass der Mandant eine Straftat begehen könnte, genügt im Sinne des 5. Strafsenats richtigerweise nicht. Es müssen vielmehr erkannte Umstände hinzutreten, anhand derer sich das allgemeine Risiko der Begehung einer Straftat des anderen über den einzelnen Anhaltspunkt hinaus derart zuspitzt, dass der Berater kein Vertrauen mehr bilden kann, das als schützenswert zu betrachten ist. Diese Zuspitzung ist es, die für Roxin sowohl im Rahmen der objektiven Zurechung beim Fahrlässigkeitsdelikt27 als auch in Anlehnung daran beim Gehilfenvorsatz28 den Vertrauensgrundsatz erschüttert, während der BGH bei der Prüfung des Vorsatzes ein Erkennen der Umstände verlangt, aus denen die Zuspitzung folgt, um den Gehilfenvorsatz bejahen zu können.
23 Vgl. für den Notar Kanzleiter in: Schippel/Bracker, Kommentar zur BNotO, 8. Aufl. 2006, § 14 Rn. 20. 24 BVerfGE 110, 226 (252). 25 BVerfGE 110, 226 (254). 26 Vgl. Schwedhelm DStR 2006, 1017 (1022). 27 Roxin (Fn. 18), § 24 Rn. 28 ff. 28 Roxin (Fn. 17), § 26 Rn. 241.
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II. Konsequenzen für den Tatrichter Der 5. Strafsenat hat auf diesem Weg die Anforderungen an den subjektiven Tatbestand gesteigert. Dem muss der Tatrichter genügen, was sich am besten aus dem Blickwinkel des Revisionsrechts zeigt. Der Tatrichter ist gehalten, diejenigen Tatumstände festzustellen, aus denen er die geschilderte Zuspitzung im Sinne einer erkennbaren Tatgeneigtheit ableitet. Lässt sich der Angeklagte nicht ein oder bestreitet er die Tat, muss sich die Beweisaufnahme auf die Umstände beziehen, die zur Erkennbarkeit der Tatgeneigtheit geführt haben. Selbstverständlich bleibt die tatrichterliche Überzeugungsbildung frei, aber das Urteil muss uns nicht nur sagen, dass der Gehilfe die konkrete Möglichkeit der Deliktsverwirklichung durch den Haupttäter erkannt und sich damit abgefunden hat, was an sich für den einfachen dolus eventualis genügen würde. Der Tatrichter muss bewiesene und dem Helfenden positiv bekannte Umstände präsentieren, die belegen, auf Grund welcher Tatsachen dem Gehilfen die Tatgeneigtheit des Haupttäters gleichsam vor Augen gestanden haben muss.
III. Prozessuale Umsetzung Die prozessuale Umsetzung dessen ist schwieriger als es scheint. Der Tatrichter taucht in die Berufswelt desjenigen ein, dessen berufstypisches Verhalten als Beihilfehandlung in Rede steht. Unsere Berufswelt wird aber immer komplexer und unser (Fach-)Wissen expandiert ständig. Wir streben sogar eine Wissensgesellschaft an. Wenn aber einzelne Berufe und Berufszweige immer komplizierter werden, wird es zugleich für den Tatrichter immer schwieriger, berufliches Verhalten als korrekt oder unkorrekt einzustufen. Da wir von der Berufswelt des anderen immer weniger verstehen, müssen wir für die hier interessierende Frage einen Maßstab suchen, der uns in die Lage versetzt, die erkennbare Tatgeneigtheit zu überprüfen. Es geht um eine prozessuale Methodik zur Prüfung der erkennbaren Tatgeneigtheit durch den Tatrichter. Nach meiner Ansicht bietet sich dafür ein zweistufiges Verfahren an. 1. Ermittlung der Tatsachengrundlage In einem ersten Schritt sind alle konkret be- und entlastenden Tatumstände zu ermitteln, anhand derer die Frage der erkennbaren Tatgeneigtheit beantwortet werden soll.29 Mithin müssen alle diesbezüglichen Fakten zum 29 Insofern gilt der aus § 244 Abs. 2 StPO hergeleitete Grundsatz, dass alle Tatsachen ermittelt werden müssen, die für die richterliche Entscheidung von Bedeutung sind, vgl. BGHSt 1, 94 (96); Meyer-Goßner Kommentar zur StPO, 52. Aufl. 2009, § 244 Rn. 11.
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Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht werden.30 Damit sind diese Umstände auch Gegenstand des Beweisantragsrechts, das den Prozessbeteiligten Gelegenheit gibt, nach ihrer Auffassung erhebliche Umstände in den Prozess einzuführen und der richterlichen Würdigung zu unterwerfen. Tatsächlich findet hier eine für die Sachverhaltsfeststellung erforderliche Stoffsammlung hinsichtlich des Inhalts von Gesprächen, Urkunden etc. statt. 2. Würdigung der Tatumstände Auf der zweiten Stufe geht es um die Würdigung dieser Tatumstände. Dieser Schritt ist zwar mit dem ersten verwoben, aber doch gesondert hervorzuheben. Es geht jetzt um die Antwort auf die Frage, ob und ggf. welche der auf der ersten Stufe festgestellten Tatumstände die Tatgeneigtheit des Haupttäters zum Ausdruck gebracht haben. Dieser Punkt ist für den Tatrichter besonders schwierig, weil er die Prüfung berufsbezogen vornehmen muss. Er muss sich gewissermaßen in den Verkehrskreis desjenigen begeben, dessen Beihilfestrafbarkeit zu prüfen ist. Daraus folgt auch schon der Maßstab der Prüfung, der in Anlehnung an den von Roxin bemühten Gedanken des Vertrauensgrundsatzes gewisse Parallelen zum Fahrlässigkeitsdelikt aufweist. Die Würdigung muss objektiv ex ante erfolgen und aus der Sicht und mit dem Tatsachenwissen desjenigen vorgenommen werden, dem der Vorwurf strafbarer Beihilfe gemacht wird. Basis dieser Würdigung sind die auf der ersten Stufe ermittelten Fakten. Als Maßstab dient der besonnene Dritte aus dem jeweiligen Verkehrskreis (Steuerberater, Rechtsanwalt oder Wirtschaftsprüfer etc.) des der Beihilfe verdächtigen Gehilfen.31 Ex post erlangtes Wissen ist in zweifacher Hinsicht auszublenden. Dem Täter nicht bekannt gewordene Umstände können nicht zum Gegenstand der Würdigung gemacht werden. Ebenso sind für den jeweiligen Verkehrskreis später hinzugetretene Erkenntnisgewinne oder Regeln auszublenden, weil es nur um den Tatzeithorizont geht. Auf diese Weise gelingt es, das als Beihilfe in Rede stehende Verhalten anhand eines berufsspezifischen Maßstabs zu prüfen. Der eigentliche Gewinn dieses Vorgehens liegt darin, dass der Tatrichter mit der Wissensexplosion unserer Berufswelt Schritt halten kann. Dort, wo der Tatrichter vor der Komplexität eines Berufs und seiner Regeln und Bräuche kapitulieren müsste, kann er sich „helfen lassen“, um die Rolle des besonnenen Dritten auszufüllen. So kann sich der Tatrichter z.B. durch die Anhörung eines Sach30
Ähnlich Jäger wistra 2000, 344 (345), der den „Gesamthintergrund“ mit einbeziehen
will. 31 So auch Rabe von Kühlewein JZ 2002, 1139 (1143 ff.), der diese Überlegung aber auf der Ebene des objektiven Tatbestandes heranzieht, um eine Haftung des Helfers aus dem Fahrlässigkeitsdelikt auszuschließen.
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verständigen der auch für die jeweilige Berufsaufsicht zuständigen Wirtschaftsprüfer-, Rechtsanwalts- oder Steuerberaterkammer nähere Gewissheit darüber verschaffen, was die festgestellten Tatumstände für den jeweiligen Verkehrskreis bedeuteten.32 So gelingt es, die Spreu vom Weizen zu trennen. Man kann ermitteln, was in der konkreten Tatsituation ex ante als noch alltäglich bzw. berufstypisch anzusehen war. Man kann feststellen, welches Vorgehen oder welche Tatumstände – eventuell auch kumulativ – als ungewöhnlich oder verdächtig einzuordnen waren.33 Und schließlich kann man auch ermitteln, ob Tatumstände vorlagen, die ex ante eindeutig als Alarmsignal für ein deliktisches Handeln des Mandanten aufzufassen waren. Der Tatrichter importiert auf diese Weise ihm fehlendes Wissen. Er kann den allgemeinen Maßstab des besonnenen Dritten fallspezifisch und kompetent zuschneiden. Die berufsständischen Vertretungen und ihre Sachverständigen können zwar die Überzeugungsbildung des Tatrichters nicht ersetzen, da die Beweiswürdigung eine ureigene Aufgabe des Tatrichters ist.34 Sie können den Tatrichter aber in die Lage versetzen, sich ein Urteil zu bilden. Dieses Vorgehen ist zugleich für alle Verfahrensbeteiligten transparent und berechenbar, denn es bleibt ihnen freilich unbenommen, die sachverständige Äußerung zu erschüttern. Schließlich ist bei dieser Würdigung auch das jeweils einschlägige Berufsrecht des Täters einzubeziehen.35 Es gibt heute zahlreiche berufs- und tätigkeitsbezogene Regeln, deren Ermittlung, Kenntnisnahme und Anwendung in der Praxis auch einen Berufsrichter bisweilen überfordern kann. Auch hier kann die Anhörung eines berufsständischen Vertreters den Wissenstand eines Gerichts bereichern. Freilich gibt es jenseits dessen immer Fälle, die so eindeutig liegen, dass es der beschriebenen Methodik zur Prüfung der Tatgeneigtheit nicht bedarf. Solche Sachverhalte bergen aber auch nicht das Problem, dass die rasant fortschreitende Spezialisierung in zahlreichen Berufen dazu führt, dass der Tatrichter berufsbezogene Tatumstände unter dem Gesichtspunkt der berufstypischen Adäquanz nicht mehr sicher beurteilen kann. Daher stiftet der hier vorgeschlagene Weg der richterlichen Überzeugungsbildung den betroffenen 32 Vgl. die Beispiele bei Geppert Jura 1993, 249 (250); zur Vermittlung von Erfahrungssätzen durch Sachverständige z.B. über die Gepflogenheiten einer Branche siehe ferner Krause in: Löwe/Rosenberg, Kommentar zur StPO, Band 2, 26. Aufl. 2008, Vor § 72 Rn. 8. 33 Beispielhafte Aufzählung von Umständen, anhand derer der Notar sich die Förderung einer Straftat „angelegen sein lässt“ bei Schröder DNotZ 2005, 596 (610). Vgl. auch die Aufzählung bei Schwedhelm DStR 2006, 1017 (1022), für den Fall der Steuerberatung. 34 Meyer-Goßner (Fn. 29), § 261 Rn. 3. 35 Für Notare Schröder DNotZ 2005, 596, (602 ff.); dem folgend Kanzleiter (Fn. 23), § 14 Rn. 20; Reul/Heckschen/Wienberg Insolvenzrecht in der Kautelarpraxis, 2006, Kap. H (Strafrechtliche Würdigung, Beihilfe des Beraters zur Insolvenzstraftat).
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Verkehrskreisen ein nicht zu unterschätzendes Maß an Rechtssicherheit, weil er sie jedenfalls grundsätzlich vor einer überraschenden, ihre Berufspraxis nicht treffenden Würdigung durch den Tatrichter schützt.
IV. Relativierung durch den Fall Mannesmann? Die oben skizzierte Rechtsprechung des 5. Strafsenats wurde zwischenzeitlich durch die Entscheidung des 3. Strafsenats im Fall Mannesmann hinterfragt. In einem obiter dictum lässt der 3. Strafsenat offen, ob „diese zur Eingrenzung der Beihilfestrafbarkeit bei ‚berufstypischen neutralen Handlungen‘ entwickelten Kriterien der Sache nach weiter führen oder ob nicht vielmehr die Strafbarkeitsbeschränkung bei sachgerechter Auslegung ausreichend nach den herkömmlichen und allgemein anerkannten Regeln etwa über die objektive Zurechnung oder den Gehilfenvorsatz erfolgen kann“.36 Indes wird dadurch die Rechtsprechung des 5. Strafsenats nur in Frage gestellt, ohne in der Sache weiterzukommen. Das ist bereits im Lichte der Funktion höchstrichterlicher Rechtsprechung zweifelhaft und hinterlässt nur Rechtsunsicherheit.37 Inhaltlich bleibt die Entscheidung blass, weil die vom 3. Strafsenat aufgeworfene Frage, „ob nicht vielmehr die Strafbarkeitsbeschränkung bei sachgerechter Auslegung ausreichend nach den herkömmlichen und allgemein anerkannten Regeln etwa über die objektive Zurechnung oder den Gehilfenvorsatz erfolgen kann“, vom 5. Strafsenat reflektiert und in eine gut vertretbare Lösung implementiert wurde. Jedenfalls für beratende Berufe verkörpert der vom 5. Strafsenat beschrittene Weg die bisher beste Lösung, weil so das charakteristische Vertrauensverhältnis zwischen Mandant und Berater angemessen berücksichtigt werden kann. Denn gerade dort, wo Berufstätigkeit auf einem Vertrauensverhältnis aufbaut, darf die Möglichkeit der Teilnahmehaftung des Beraters nicht zu früh entstehen. Ansonsten könnte gerade der gewissenhafte Berater geneigt sein, seine Tätigkeit zur Unzeit einzustellen, um straf- und berufsrechtlichen Sanktionen vorzubeugen. Das wäre aber nicht sinnvoll, weil dann, wenn in einem Mandatsverhältnis heikle Punkte zu Tage treten, eine gute und gewissenhafte Beratung geeignet ist, das Risiko einer (weiteren) Tatbegehung durch den Haupttäter einzufangen.38 Freilich darf sich der Berater nicht in den Dienst eines Straftäters stellen, aber das ist eine Selbstverständlichkeit, um die es hier nicht geht. Den neuralgischen Punkt bilden in der Praxis die vom einfachen dolus eventualis mög36 BGH, NJW 2006, 522 (528). Diese Passage des Urteils wurde nicht in der amtlichen Sammlung abgedruckt. 37 Lilie Obiter dictum und Divergenzausgleich in Strafsachen, 1993, S. 195, passim. 38 In diesem Sinne auch Joecks (Fn. 3), § 27 Rn. 66.
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licherweise erfassten Grenzfälle. Exakt an dieser Stelle sollte man die potentiell präventive Wirkung guter Beratung nicht unterschätzen und keinesfalls dadurch abwürgen, dass diffuse Strafbarkeitsrisiken im Raum stehen.
C. Zusammenfassung Die Rechtsprechung des 5. Strafsenats zur berufstypischen Beihilfe verkörpert die bisher beste Lösung des Problems. Sie nimmt nicht nur wichtige Erkenntnisse aus der Lehre von der objektiven Zurechnung auf, sondern kann prozessual so umgesetzt werden, dass der Tatrichter die Prüfung anhand eines rechtssicheren und den Verkehrskreis des Täters reflektierenden Maßstabs vornimmt.
Strafverfolgung bei Nichtauslieferung Friedrich-Christian Schroeder
An der zunehmenden grenzüberschreitenden Mobilität nehmen auch und sogar in besonderem Maße Täter und Täterinnen von Straftaten teil. Damit stellt sich immer häufiger die Frage einer Auslieferung an den Heimatstaat. Ihr stehen aber häufig rechtliche Bedenken wie die Möglichkeit der Verhängung der Todesstrafe (§ 8 IRG) oder der Widerspruch der Justiz im Heimatstaat gegen wesentliche Grundsätze der deutschen Rechtsordnung (§ 73 IRG) entgegen. Dies gilt zum Beispiel für Auslieferungsersuchen aus Russland1 oder Kasachstan. Damit stellt sich die Frage, ob die betroffenen Personen, oft – insbesondere bei Androhung der Todesstrafe – Täter und Täterinnen schwerster Verbrechen, in Deutschland unbehelligt bleiben sollen. Die Befürchtung, dass die Bundesrepublik Deutschland zur Zufluchtstätte für Personen wird, die nach den hier geltenden Rechtsanschauungen Verbrechen begangen haben,2 ist nicht hinfällig, weil sie empirisch nicht belegt worden ist,3 sondern nicht ausreichend, weil die Anwesenheit von Personen, die Verbrechen begangen haben, für sich allein kein Grund für den Erlass von Strafvorschriften bzw. Geltungsvorschriften ist. Entscheidend sind aber die Generalprävention (ohne dass es hier einer näheren Rechtfertigung über die sog. positive Generalprävention bedarf 4) und – wie allgemein übersehen wird – die Spezialprävention gegenüber den gefährlichen Tätern und Täterinnen. Diese Berücksichtigung eigener Strafverfolgungsinteressen steht zwar im Widerspruch zu der herrschenden Einordnung des § 7 Abs. 2 Nr. 2 StGB in die stellvertretende Strafrechtspflege5. Diese ist jedoch doktrinär und sachlich so unhaltbar, dass einige ihrer Vertreter keinen anderen Ausweg wissen, als die Vorschrift des § 7 Abs. 2 Nr. 2 StGB für verfehlt zu erklären,6 und andere die genannten Zwecke anerkennen.7 Der seinerzeit zuständige Sach-
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OLG Köln, StV 05, 399 m. Anm. Schroeder. So Rietzsch in: Grau/Krug/Rietzsch, Deutsches Strafrecht, Bd. I, 2. Aufl. 1943, S. 269; Scholten NStZ 94, 266, 268; BayObLG JR 98, 472, 475. 3 So Schmitz FS Grünwald, 1999, 619, 639. 4 So aber Scholten (Fn. 2); BayObLG (Fn. 2). Dagegen überhaupt Schmitz (Fn. 3). 5 Ambos MK 2003, § 7 Rn 27; Werle/Jeßnitzer LK, 12. Aufl. 2007, § 7 Rn 5, 91; Pawlik FS Schroeder, 2006, S. 357 ff., 378 f. 6 Schmitz (Fn. 3); Pawlik (Fn. 5). 7 Ambos (Fn. 5), Rn 31; Werle/Jeßnitzer (Fn. 5), Rn 115. 2
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bearbeiter im Reichsjustizministerium Rietzsch und H. Schröder sahen die Vorschrift daher mit Recht als Ausfluss des Schutzprinzips.8 Das StGB knüpft die Möglichkeit der Bestrafung von nicht ausgelieferten Ausländern an eine Reihe von Bedingungen. Hiervon sollen die Strafbarkeit am Tatort (oder die fehlende Staatsgewalt am Tatort) und die Betroffenheit im Inland hier nicht näher behandelt werden.
1. Zulässigkeit der Auslieferung nach der Art der Tat Näherer Erörterung bedarf jedoch das Erfordernis der Zulässigkeit der Auslieferung „nach dem Auslieferungsgesetz nach der Art der Tat“. Die erste Schwierigkeit, dass nämlich „das Auslieferungsgesetz“ seit 1994 nicht mehr existiert, lässt sich noch dadurch lösen, dass an seiner Stelle das umfassende „Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen“, in das es eingegangen ist, zu Grunde gelegt wird.9 Die h.L. berücksichtigt bei der Zulässigkeit sämtliche Auslieferungshindernisse nach dem IRG, also die Geringfügigkeit (§ 3 Abs. 2), die Eigenschaft als politische oder militärische Straftat (§§ 6 Abs. 1, 7), die Gefahr der Verfolgung oder Bestrafung wegen der Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Anschauung (§ 6 Abs. 2), die Androhung der Todesstrafe (§ 8) und den Widerspruch gegen wesentliche Grundsätze der deutschen Rechtsordnung (§ 73).10 Diese Auslegung raubt den Worten des Gesetzes „nach der Art der Tat“ jede Bedeutung. Die Gefahr der Verfolgung wegen Rasse, Religion usw., die Androhung der Todesstrafe und der Widerspruch gegen wesentliche Grundsätze der deutschen Rechtsordnung betreffen die Gründe und die Art der Verfolgung und das Strafmaß, aber nicht die „Art der Tat“. Außerdem reißt die genannte Auffassung bedenkliche Lücken in die Strafverfolgung. Nicht nur macht sie gerade schwerste Straftaten in Deutschland unverfolgbar; sie schließt darüberhinaus die Bestrafung in Deutschland wegen der von der Tat völlig unabhängigen Faktoren der gleichheitswidrigen Verfolgung und der rechtsstaatswidrigen Verfolgung aus. Die erwähnte Auffassung beklagt denn auch selbst die Lücken, die sie in die Strafverfolgung reißt.11 Sie schiebt diese Folgen aber ungerechtfertigt dem Gesetzgeber in die Schuhe. Die genannte Auffassung ist aber auch völlig sinnwidrig. Sie verwechselt die auf den Schutz des Auszuliefernden gerichteten Auslieferungserforder8
Fn. 1 und JZ 1968, 241. Eine entsprechende Korrektur des § 7 Abs. 2 Nr. 2 StGB ist seit dem Erlass des IRG überfällig. 10 Ambos MK, 2003, § 7 Rn. 28; Werle/Jeßberger LK, 12. Aufl., 2007, § 7 Rn. 96 ff. 11 Ambos (Fn. 5); Werle/Jeßnitzer (Fn. 5), Rn. 103. 9
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nisse des IRG mit dem Schutz vor ungerechtfertigter Strafverfolgung schlechthin. Auf die „Art der Tat“ beziehen sich nur die Verbote der Auslieferung wegen politischer und militärischer Straftaten (§§ 6 Abs. 1, 7 IRG). Diese finden ihren überzeugenden Sinn darin, dass die Bundesrepublik Deutschland sich nicht in fremde politische Angelegenheiten einmischen und dass sie nicht eine fremde Wehrkraft schützen will.
2. Die Nichtstellung eines Auslieferungsersuchens innerhalb angemessener Frist oder seine Ablehnung a) Abhängigkeit der „Geltung“ des Rechts Hier ergibt sich zunächst die überraschende Tatsache, dass die „Geltung“ des deutschen Rechts nicht von festen Größen wie dem Tatort oder der Staatsangehörigkeit abhängt, sondern von einem Zeitablauf und darüberhinaus von dem Verhalten eines fremden Staates. Es wäre sicher sinnvoller gewesen, an diese Faktoren nicht die „Geltung des deutschen Strafrechts“, sondern die Verfolgbarkeit anzuknüpfen. b) Die „angemessene Frist“ Das Erfordernis der Nichtstellung eines Auslieferungsersuchens „innerhalb angemessener Frist“ wurde erst 2004 durch das 1. JuMoG eingefügt. Schon vorher hatte sich allerdings die Praxis herausgebildet, die Unsicherheit über die Stellung eines ausländischen Auslieferungsersuchens dadurch zu beheben, dass an den fremden Staat eine entsprechende Anfrage mit Fristsetzung gerichtet wurde.12 Üblich ist eine Frist von drei Wochen; jedoch wurde eine Frist in das Gesetz nicht aufgenommen, um eine Anpassung an den Einzelfall, insbesondere an die Gepflogenheiten im Verkehr mit dem jeweiligen Staat, zu ermöglichen.13 c) Befugnisse und Pflichten der Strafverfolgungsorgane vor Ablauf der „angemessenen Frist“ oder Ablehnung des Auslieferungsersuchens Es stellt sich die Frage, ob die Strafverfolgungsorgane schon vor der Entscheidung über die Nichtstellung des Auslieferungsersuchens oder seiner Ablehnung zu Strafverfolgungsmaßnahmen berechtigt oder sogar verpflichtet sind. Diese Frage ist von erheblicher Bedeutung, denn in dieser Zeit – drei Wochen oder im Einzelfall noch länger bei Nichtstellung, meist erheblich längere Zeit wegen erforderlicher Recherchen bei Ablehnung des Ausliefe12 13
BGH NJW 95, 1844, 1845; Werle/Jeßnitzer (Fn. 5), Rn. 111. AaO.
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Friedrich-Christian Schroeder
rungsantrages – können wichtige Beweismittel verloren gehen und können der oder die Verdächtige flüchten. Zur Lösung dieser Frage ist es erforderlich, die Rechtsnatur der Nichtstellung des Auslieferungsersuchens zu bestimmen. aa) Rechtsnatur der „Geltung“ des deutschen Strafrechts Wie dargelegt, begründen erst die Nichtstellung oder die Ablehnung des Auslieferungsersuchens die „Geltung“ des deutschen Strafrechts. Die Rechtsnatur des grundlegenden Erfordernisses der Bestrafung, nämlich der Geltung des Strafrechts, ist viel diskutiert und bedeutsam für die Beurteilung von Irrtümern, das Erfordernis der Tatbestandsbestimmtheit und die zeitliche Geltung. Nach weithin übereinstimmender Auffassung ist es sowohl ein Element des materiellen Rechts (dabei umstritten, ob Tatbestandsmerkmal14 oder objektive Bedingung der Strafbarkeit15) als auch eine Prozessvoraussetzung. Werle/Jeßnitzer begründen dies mit der Mehrfunktionalität der Vorschriften über den Geltungsbereich16, nach Ambos „entspricht es“ dem Völkerrecht und der Rechtsvergleichung.17 Wegen des Vorrangs bei der Prüfung kommt in der Praxis nur die Prozessvoraussetzung zur Anwendung und führt bei ihrem Fehlen zur Einstellung des Verfahrens nach § 260 Abs. 3 StPO, nicht zum Freispruch.18 Die Doppelstellung von Merkmalen als Strafbarkeits- und Prozessvoraussetzung findet sich auch sonst, zum Beispiel bei der Minderjährigkeit.19 bb) Folgen für die Befugnisse und Pflichten der Strafverfolgungsorgane Für die Einleitung des Verfahrens ist diese Frage ohne Belang: sowohl beim Fehlen materiellrechtlicher als auch von Prozessvoraussetzungen greift die Verfolgungspflicht nach § 152 StPO nicht ein. Es droht sogar eine Strafbarkeit wegen Verfolgung Unschuldiger, denn § 344 StGB erfasst auch die Verfolgung von Personen, die „sonst nach dem Gesetz nicht strafrechtlich verfolgt werden dürfen“, worunter das Fehlen von Prozessvoraussetzungen fällt.20 Indessen drohen dadurch – wie dargelegt – der Verlust wichtiger Beweismittel und die Flucht des oder der Verdächtigen. Seit längerem hat sich im Strafprozessrecht das Institut der Vorsorge für künftige Strafverfolgung herausgebildet. Ausdruck dieses Instituts sind die Möglichkeit der Her-
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So vor allem Pawlik FS Schroeder, 2006, 357 ff., 361, 373. Nachw. bei Ambos MK Vor §§ 3–7, Rn. 3. Fn. 5, Vor § 3 Rn. 10. Fn. 15 Rn. 4. BGHSt 34, 1, 4 und allg. Meinung. RGSt 57, 206. Zieschang LK, 12. Aufl. 2009, § 344 Rn. 14.
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stellung von Lichtbildern für den polizeilichen Erkennungsdienst (§ 81b StPO), die DNA-Analyse von Körperzellen (§ 81g StPO) und die Speicherung von Daten aus Strafverfahren (§§ 484 ff., 492 ff. StPO).21 Analog diesen Vorschriften dürfte die Sicherung von Beweisen und der Anwesenheit des Verdächtigen zulässig sein. Eine gesetzliche Klarstellung wäre allerdings wünschenswert. Dabei steigert sich die Zulässigkeit mit der zunehmenden Wahrscheinlichkeit der Nichtstellung oder der Ablehnung des Auslieferungsersuchens. Wird das Auslieferungsersuchen wider Erwarten gestellt oder nicht abgelehnt, können die bis dahin erzielten Ermittlungsergebnisse dem fremden Staat im Wege der Rechtshilfe zur Verfügung gestellt werden.
21
Schroeder Strafprozessrecht, 4. Aufl. 2007, Rn 87.
Gedanken zur zweiten Instanz in Strafsachen Bernd Schünemann I. Die Notwendigkeit einer zweiten Instanz 1. Keine Gesellschaft kann ohne Strafrecht überleben. Strafrecht ist die ultima ratio zum Rechtsgüterschutz, also zum Schutz der Mindestbedingungen dafür, dass Menschen in Frieden zusammenleben können. Strafrecht ist aber nicht nur die ultima ratio, sondern zugleich auch derjenige Teil der Rechtsordnung, der die brutalsten und schrecklichsten Sanktionen vorsieht. In China, in den USA und in vielen anderen Ländern zählt heute noch die Todesstrafe zu den im Strafrecht vorgesehenen Sanktionen. Und auch in den zahlreichen Ländern, in denen die Todesstrafe abgeschafft ist, sind langjährige oder gar lebenslange Freiheitsstrafen zulässig. Die Sanktionen des Strafrechts können also die physische oder zumindest die soziale Existenz eines Menschen vollständig vernichten: Das Strafrecht trennt den Bürger vom Verbrecher, den freien Menschen von der wie in einem Käfig gehaltenen Kreatur. Es ist evident, dass derartige Sanktionen nur verhängt werden dürfen, wenn eine maximale Garantie dafür besteht, dass die vom Gesetz dafür vorgesehenen Voraussetzungen auch wirklich gegeben sind. Kein anderer Gerichtshof trägt deshalb eine so ernste Verantwortlichkeit wie ein Strafgerichtshof. Und kein anderes Gerichtsverfahren muss deshalb so wirksame Garantien für die korrekte Aufklärung des Sachverhalts und für die Richtigkeit des richterlichen Urteils enthalten wie das Strafverfahren und seine gesetzliche Ordnung. 2. Diese Aufgabe scheint auf den ersten Blick unlösbar zu sein. Denn „Irren ist menschlich“, sagt ein über 2 000 Jahre altes Sprichwort. Allerdings kann die abstrakte Möglichkeit, dass Menschen sich irren können, nicht dazu führen, dass überhaupt nicht mehr gehandelt wird. Denn das würde in einen Selbstwiderspruch hineinführen, weil ja das Strafrecht, wie ich gerade festgestellt habe, notwendig ist, wenn die Gesellschaft überhaupt überleben soll. Um aus diesem Dilemma herauszukommen, gibt es nur die Lösung, dass man für das Strafverfahren die maximalen Richtigkeitsgarantien verlangt, die in einer menschlichen Gesellschaft in einer bestimmten Epoche realistischer Weise überhaupt geschaffen werden können. Das über Jahrhunderte auf dem Kontinent herrschende Prozessmodell des Inquisitionsverfahrens versuchte dieses Ziel durch die Ausschaltung richterlicher Willkür mit Hilfe von
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Beweisregeln und durch die Etablierung des (ggf. erfolterten) Geständnisses als „Königin der Beweismittel“ zu erreichen. Vor 200 Jahren war man sich über die fundamentalen Irrtümer und irreparablen Gebrechen dieses Modells einig und entwickelte den (strukturell völlig neuartigen und deshalb in seiner Bezeichnung unvollkommen ausgedrückten) reformierten Strafprozess, der bis vor kurzem den Kontinent und vor allem die deutsche Strafrechtspflege beherrscht hat. Durch die Einführung der freien Beweiswürdigung wurde die Erlangung des Geständnisses verzichtbar und das damit verbundene Institut der Folter, die wohl grauenhafteste Verirrung staatlicher Rechtspflege, entbehrlich. Eine bestmögliche Garantie für die Wahrheit und Richtigkeit einer Verurteilung zu Kriminalstrafe wurde durch die den Inquisitions- mit dem Parteiprozess verschmelzende Hauptverhandlung gesucht und weitgehend auch gefunden, weil die darin stattfindende sowohl inquisitorische als auch kontradiktorische, unmittelbar-mündliche Beweisaufnahme zwar nicht sämtliche, aber einen erheblichen Teil der außerhalb naturwissenschaftlich exakter Methoden an die Wahrheitsfindung zu stellenden Anforderungen erfüllt 1. Über die Dogmatik des hierfür schlechthin zentralen Strukturprinzips, nämlich den „Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren“, hat Klaus Geppert vor über 30 Jahren die auch heute noch maßgebliche Analyse vorgelegt 2. Dass die Rechtsprechung den in § 264 StPO zur alleinigen Urteilsgrundlage erklärten „Inbegriff der Hauptverhandlung“ rein formal versteht und dadurch die materiellen Garantien des Unmittelbarkeitsprinzips auf die Aufklärungspflicht reduziert hat 3, die ihrerseits in der aktuellen Revisionsrechtsprechung des Bundesgerichtshofes kaum noch eine Rolle spielt 4, während der Gesetzgeber seinerseits die Möglichkeiten einer mittelbaren Beweisführung immer weiter ausgedehnt hat, zuletzt kulminierend in der vom 1. JuMoG zugelassenen Verlesbarkeit schriftlicher Erklärungen der Strafverfolgungsbehörden über Ermittlungshandlungen gemäß § 356 Abs. 1 Nr. 5 StPO 5, lässt die Monographie unseres Jubilars wie einen Flug der Eule der Minerva bei beginnender Dämmerung des reformierten Strafverfahrens erscheinen. 3. Denn 130 Jahre nach dem das Modell des reformierten Strafverfahrens vollendenden Inkrafttreten der Reichsstrafprozessordnung 6 hat die Grund1
Dazu näher Schünemann StraFo 2010, 90, 91 f. Geppert Der Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, 1979. 3 S. Roxin/Schünemann Strafverfahrensrecht, 26. Aufl. 2009, § 46 Rn 33. 4 Dazu im einzelnen Barton FS Fezer, 2008, S. 333 ff. 5 Zur Kritik Roxin/Schünemann Strafverfahrensrecht, § 46 Rn 24 mzwN. 6 Zu diesem Jubiläum als Schwanengesang die ZIS-Sonderausgabe von Oktober 2009, S. 466–548 mit Beiträgen von Rieß, Schünemann, Löffelmann, Tsambikakis, Meyer-Goßner, Murmann, Gössel und Koch. In der Verfahrenswirklichkeit wurde das schon 30 Jahre früher eingeleitet, näher Schünemann FS Heldrich, 2005, S. 1177 ff. 2
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struktur des Inquisitionsverfahrens im sog. Verständigungsgesetz 7 wieder fröhliche Urständ gefeiert, wobei es die Sache nicht besser, sondern nur noch übler macht, dass das erkennende Gericht nach Willkür zwischen dem Verständigungs- und dem durch die RStPO geschaffenen Verfahren wählen (und sogar nach Belieben hin- und hermanövrieren) kann: Die Ersetzung der unmittelbaren Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung durch ein Geständnis, das § 257c Abs. 2 S. 2 StPO nunmehr als „Bestandteil jeder Verständigung“ vorschreibt, unterscheidet sich vom alten Inquisitionsverfahren im wesentlichen nur dadurch, dass das Geständnis nicht mehr durch physische Folter, sondern mit der „Sanktionsschere“ in Gestalt der für die Geständnisablegung versprochenen Strafmilderung beschafft 8 wird. Weil das Gericht die Vertretbarkeit der Absprache und die Ersetzung einer vollständigen Beweisaufnahme durch das Geständnis nur aufgrund der Verfahrensakten beurteilen kann (die den Schöffen aber nicht zur Verfügung stehen9, was der ganzen Konstruktion allein schon das Genick bricht!), wird in Wahrheit die unmittelbare Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung durch eine Rückkehr zu einer Entscheidung auf Basis der Akten wie im Inquisitionsprozess ersetzt 10. Dass das den reformierten Strafprozess nach der Willkür des erken-
7
V. 4.8.2009, BGBl. I 2009, 2353. Weniger euphemistisch formuliert: abgenötigt. Weil die hier zu Ehren des Jubilars Klaus Geppert in herzlicher kollegialer Verbundenheit zu publizierenden Gedanken vornehmlich der 2. Instanz und nicht den Absprachen gelten, verzichte ich auf eine Beschreibung des den ganzen § 257c StPO kennzeichnenden euphemistischen Nebels, so wenn die Absprache als „Verständigung“ bezeichnet wird, der Inhalt durch „eine Ober- und Untergrenze der Strafe“ verblendet wird, wenn die gemäß § 243 Abs. 4 StPO vorgeschriebene Mitteilung über „Erörterungen über die Möglichkeit einer Verständigung“ anschließend gemäß § 257c Abs. 3 StPO zu einer rituellen Wiederholung führt, die gemäß S. 4 der Staatsanwaltschaft eine Blockademacht verleiht, für die es keine Legitimation gäbe, wenn die richterliche Aufklärungspflicht entsprechend Abs. 1 S. 2 tatsächlich unberührt geblieben wäre. 9 Denn nach der zutreffenden Rechtsprechung des BGH ist ihnen ein Einblick in die Akten verwehrt (BGHSt 5, 261; 13, 73) und das mit Recht, so dass die hieran neuerdings geübte Kritik (etwa KK6-Hannich § 30 GVG Rn 2; LR25-Siolek § 30 GVG Rn 4 ff. mwN) in die Irre führt (Roxin/Schünemann Strafverfahrensrecht, § 6 Rn 17). 10 Dass die ganze Konstruktion wegen der in § 257c Abs. 1 S. 2 StPO proklamierten Aufrechterhaltung der richterlichen Aufklärungspflicht nicht aufgeht und dass deshalb die äußerlichen Kautelen, die das Verständigungsgesetz gebracht hat, nach zahlreichen Berichten aus der Praxis weithin ignoriert werden, beruht darauf, dass der mit den Absprachen bezweckte Abkürzungseffekt bei der ja nur in der Hauptverhandlung möglichen Erfüllung der Aufklärungspflicht gar nicht erreicht werden könnte, weshalb diese durch die Verwertung der Ermittlungsakten ersetzt werden muss: Denn in zahlreichen Tatbeständen könnte nicht einmal ein detailliertes Geständnis (an Stelle des längst üblichen „schlanken“) der Aufklärungspflicht genügen, wenn und weil der Täter überhaupt nur einen Teil des objektiven Straftatbestandes zu gestehen vermag, beispielsweise bei § 263 StGB die Täuschungshandlung, gerade in Wirtschaftsstrafsachen aber weder den Irrtum noch den Vermögensschaden des Geschädigten; bei einer misslungenen chirurgischen Operation den Hergang, 8
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nenden Gerichts substituierende „Verständigungsverfahren“ keine seriösen Garantien für die Auffindung der materiellen Wahrheit als nach wie vor alleiniger Legitimationsgrundlage des Strafverfahrens11 aufweist und in Ermangelung einer hinreichenden Verstärkung der Beschuldigtenrechte im Ermittlungsverfahren auch nicht etwa auf das im apologetischen Lager evozierte Konsensprinzip gestützt werden kann, ist zur Genüge anderweitig dargelegt worden 12 und soll an dieser Stelle nicht erneut aufgegriffen werden. Weil eine Festschrift, stricto sensu genommen, nicht ausschließlich mit Kassandrarufen und Schilderung von Misslungenem erfüllt werden sollte, möchte ich statt dessen einige Überlegungen zur Optimierung des ja immer noch neben den Urteilsabsprachen fortexistierenden reformierten Strafverfahrens beisteuern. 4. Selbst eine noch so perfekt konstruierte Hauptverhandlung schließt die Möglichkeit eines dem Gericht bei seiner Beweiswürdigung im Einzelfall unterlaufenden Irrtums nicht aus. Wenn man nach den allgemeinen Ursachen menschlicher Irrtümer und falscher Entscheidungen fragt, so ist eine ebenso häufig wie unbestreitbar: Wenn ein Mensch in seinen Entscheidungen nicht mehr kontrolliert wird, wenn er also nach seiner eigenen Willkür handeln kann, so gibt es keine Garantie dafür, dass diese Entscheidung allgemein akzeptiert werden kann, weil sie objektiven Richtigkeitskriterien genügt. Wer keiner Kontrolle unterliegt, entwickelt sich zum rücksichtslosen Tyrann – das zeigt die ganze Geschichte der Menschheit. Daraus folgt, dass das richterliche Urteil im Strafverfahren auf seine Richtigkeit hin überprüfbar sein und es also im Strafverfahren eine zweite Instanz geben muss. Das hat inzwischen auch Art. 14 Abs. 5 des Internationalen
aber weder die Kunstfehlerhaftigkeit noch die Kausalität (Gutachterfrage), u.v.a.m. Das Geständnis als bloßes Beweismittel kann also aus dogmatisch zwingenden Gründen nicht dieselben Rechtswirkungen wie das angloamerikanische guilty plea als Verfügungserklärung haben – an diesem inneren Widerspruch muss das deutsche Dealmodell in theoretischer Hinsicht notwendig scheitern. Und weil das Urteil im Falle eines Rechtsmittels also notwendig aufzuheben wäre, gemäß § 302 Abs. 1 S. 2 StPO ein Rechtsmittelverzicht nach Verständigung aber ausgeschlossen ist und hieraus die Gefahr erwächst, dass der Angeklagte nach Verlassen des Gerichtssaals von dem einen so einfachen Erfolg versprechenden Rechtsmittel Gebrauch machen wird, führt sich die gesetzliche Regelung auch in pragmatischer Hinsicht ad absurdum und wird offensichtlich deshalb von den Tatrichtern vielfach umgangen. 11 Dazu Schünemann FS Fezer, 2008, S. 555 ff. 12 Vgl. Schünemann Absprachen im Strafverfahren?, Gutachten C zum Deutschen Juristentag 1990, S. 50 ff., 57 ff.; ders. Wetterzeichen vom Untergang der deutschen Rechtskultur, 2005, S. 24 ff.; ders. ZIS 2009, 484, 490 ff.; Roxin/Schünemann Strafverfahrensrecht, § 17 Rn 27; Duttge ZStW 115 (2003), 539; Salditt ZStW 115 (2003), 570; Fischer StraFo 2009, 177; Lien GA 2006, 129, 143 ff.; Weßlau Das Konsensprinzip im Strafverfahren – Leitidee für eine Gesamtreform, 2002; Hauer Geständnis und Absprache, 2007, S. 204 ff.
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Pakts über bürgerliche und politische Rechte vom 16.12.196613 festgesetzt, und zwar mit folgenden Worten: „Jeder, der wegen einer strafbaren Handlung verurteilt worden ist, hat das Recht, das Urteil entsprechend dem Gesetz durch ein höheres Gericht nachprüfen zu lassen.“ In Deutschland hat man diese Notwendigkeit dagegen lange Zeit verkannt. Nach Art. 19 Abs. 4 GG müssen zwar alle staatlichen Entscheidungen vor Gericht überprüfbar sein. Aber gerade weil hier die Gerichte als Kontrollinstanz über die Exekutive eingesetzt wurden, hat das Bundesverfassungsgericht dekretiert, gegenüber Gerichten selbst sei eine gerichtliche Kontrolle nicht vorgeschrieben und deshalb sei auch eine 2. Instanz in Strafsachen nicht von der Verfassung garantiert 14. Aber das war ein doppelter Irrtum. Erstens, weil die Notwendigkeit einer Kontrolle aus dem Charakter des Strafurteils als der brutalsten und schwersten staatlichen Maßnahme überhaupt folgt. Und zweitens, weil das Strafverfahren gerade nach der deutschen Tradition als ein Eingriffsverfahren ausgestaltet ist, bei dem das Gericht zugleich die eingreifende Exekutive darstellt. Auch wenn das Strafurteil von einem Gericht ausgesprochen wird, ist es also im Kern ein Akt der Exekutive, der in einem Rechtsstaat der rechtlichen Überprüfung offenstehen muss. Das BVerfG hat dagegen nur für den Fall, dass der Gesetzgeber gewissermaßen aus freien Stücken ein Rechtsmittel zur Verfügung stellt, für dessen Ausgestaltung rechtsstaatliche Anforderungen formuliert und vor allem seine Effektivität verlangt 15. Das ist an sich widersprüchlich, denn wenn der Gesetzgeber auf ein Rechtsmittel vollständig verzichten könnte, müsste es ihm a maiore ad minus offenstehen, etwa aus Gründen der Praktikabilität oder der Verfahrensbeschleunigung nur ein eingeschränkt effektives Rechtsmittel zu konzedieren. Weil sich dieselbe Maxime aber auch in der Rechtsprechung des EGMR findet 16, scheinen sich beide Gerichte darauf zu verlassen, dass der Gesetzgeber von sich aus eine 2. Instanz vorsieht und sich dadurch quasi in die „Rechtsstaatsfalle“ begibt. Ausgerechnet auf dem besonders heiklen Feld der Staatsschutzdelikte hatte sich der Gesetzgeber aber bis 1969 mit einer einzigen Instanz begnügt, bis es letztlich der politische Skandal der auf Gewissensnot beruhenden und unter Pseudonym publizierten Verfahrensschelte des früheren Vorsitzenden des
13 Für Deutschland verbindlich durch Hinterlegung der Beitrittsurkunde am 25.8.1993, s. Meyer-Goßner 53 Anh 4 Rn 7 vor Art. 1 MRK. 14 Vgl. nur BVerfGE 15, 275, 280; 49, 329, 340; zur jüngeren Entwicklung der Diskussion und der Etablierung der Anhörungsrüge durch das BVerfG s. Maunz/Dürig-SchmidtAßmann Art. 19 Abs. 4 Rn 96 ff. 15 St. Rspr., s. nur BVerfGE 40, 272, 274 f.; 90, 27, 393. 16 St. Rspr., s. nur die Urteile Delcourt v. Belgium, 17.1.1970, Serie A Nr. 11, § 25; Khalfaoui v. France, 14.12.1999, Rep. 1999-IX, §§ 35, 37. Weitere Nachweise bei Gaede Fairness als Teilhabe – Das Recht auf konkrete und wirksame Teilhabe durch Verteidigung gemäß Art. 6 EMRK, 2007, S. 188 f.
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Staatsschutzsenats Heinrich Jagusch 17 gewesen ist, der der längst überfälligen Einführung eines Instanzenzuges in Staatsschutzstrafsachen durch das Gesetz zur allgemeinen Einführung eines zweiten Rechtszuges in StaatschutzStrafsachen v. 8.9.1969 18 den Weg geebnet hat.
II. Die Grundregeln 1. Wie soll nun aber diese 2. Instanz in Strafsachen ausgestaltet werden? Diese Frage führt in das nächste Dilemma hinein. Auf den ersten Blick scheint die Antwort nahe zu liegen: Es muss natürlich alles überprüft werden können, was der Richter in der 1. Instanz entscheidet. Aber in diesem Fall wäre die 2. Instanz ja nichts anderes als eine neue 1. Instanz, die dieselben Fehlermöglichkeiten wie die 1. Instanz aufweisen würde, was dann wieder eine erneute Überprüfungsinstanz notwendig machen würde. Damit käme man in einen unendlichen Regress hinein, was die Idee der Überprüfung überhaupt ad absurdum führen würde. Und schlimmer noch als diese logische Absurdität ist die praktische Unbrauchbarkeit und Fehlerhaftigkeit einer reinen Wiederholung der 1. Instanz in der 2. Instanz: Die wichtigsten Beweismittel in einem Strafverfahren werden nach wie vor vom Zeugenbeweis geliefert. Wegen der begrenzten Fähigkeiten des menschlichen Gedächtnisses wird die Qualität des Zeugenbeweises aber immer schlechter, je länger die Ereignisse zurückliegen, über die der Zeuge aus seiner Erinnerung Angaben machen soll. Jede spätere Instanz verfügt also über schlechtere Garantien für die Zuverlässigkeit der Beweismittel als die frühere Instanz. In Deutschland hat man bei der Diskussion über die Reform der Rechtsmittel, die im 19. Jahrhundert über viele Jahrzehnte hinweg intensiv geführt worden ist und auch einen besonderen Schwerpunkt bei der Schaffung der RStPO gebildet hat,19 für dieses Verhältnis von 1. und 2. Instanz einen sehr instruktiven Vergleich gefunden: Wenn in der 2. Instanz alle Beweise noch einmal erhoben werden sollen, so gleicht die 2. Instanz einem Maler, der in der Abenddämmerung eine Landschaft malt und dabei die Richtigkeit des
17 Siehe dazu die Artikel „Handel mit Verrätern?“, in: Der Spiegel 37/1964, und „Droht ein neuer Ossietzky-Fall?“, in: Der Spiegel 45/1964, sowie die heute wie von einem anderen Stern anmutende Presseschau „Heinrich Jagusch – Ein Opfergang“ in: Der Spiegel 47/1964 wegen dessen zweitägiger Unaufrichtigkeit gegenüber dem BGH-Präsidenten. 18 BGBl. I 1582; s. hierzu auch die Kontroverse zwischen dem BGH-Präsidenten R. Fischer und dem Generalbundesanwalt L. Martin in NJW 1969, 449 ff., 713 ff. 19 Vgl. exemplarisch die eingehenden Überlegungen über die Berufung in der Anlage 1 zu den Motiven (Hahn Die gesamten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, Band III/1, 2. Aufl. 1883, S. 303 ff.), sowie die intensive Debatte im Reichstagsplenum (Hahn III/2, S. 1943 ff.).
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Gemäldes überprüfen will, das während des Tages bei vollem Sonnenschein gemalt worden ist 20. 2. Für die Ausgestaltung der 2. Instanz in Strafsachen lassen sich daraus drei wichtige Folgerungen ableiten: Während die Korrektheit des Verfahrens und der Subsumtion gegenüber dem Zeitablauf unempfindlich und deshalb uneingeschränkt zu überprüfen ist, kann eine vollständige erneute Beweisaufnahme nur in solchen Verfahren bessere Garantien für die Richtigkeit der Wahrheitsfindung schaffen, in denen sich die 1. Instanz auf eine summarische Aufklärung beschränkt hat. Wenn dagegen schon in der 1. Instanz eine tendenziell lückenlose Beweisaufnahme durchgeführt worden ist, sollte keine Wiederholung, sondern nur eine Kontrolle durchgeführt werden; dafür müssen wiederum die Beweisergebnisse einer von der 2. Instanz zu überprüfenden Würdigung unterworfen und unabhängig davon zuverlässig gespeichert werden. 3. Diese Prinzipien sind aus praktisch unbestreitbaren Prämissen abgeleitet und deshalb ebenfalls nicht zu bestreiten. Weniger eindeutig sind die weiteren Folgerungen, die aus diesen Teilergebnissen gezogen werden müssen. In der deutschen Strafverfahrensreform des 19. Jahrhunderts sind nach meiner Überzeugung einige richtige, aber auch einige falsche Folgerungen gezogen worden, während die aktuellen Reformen des deutschen Gesetzgebers überhaupt keinen international empfehlenswerten Beitrag zur Problemlösung darstellen. Auch die im Strafverfahren der USA angebotenen Lösungen verdienen teils Beifall, teils Kritik. Wenn das amerikanische Modell gegenwärtig international am einflussreichsten ist, so verdankt es das in erster Linie der politischen Übermacht der USA; aber es gibt durchaus auch positive Elemente des amerikanischen Strafverfahrens, durch die gewisse Schwächen des klassischen europäischen Modells vermieden werden. Nachfolgend möchte ich deshalb den Versuch unternehmen, die Grundzüge der verschiedenen Modelle miteinander zu vergleichen, einige Vor- und Nachteile herauszuarbeiten und Vorschläge zu einer konstruktiven Synthese zu skizzieren.
III. Die Nachteile des Schwurgerichtsverfahrens für die Überprüfung der Rechtsfrage 1. Es dürfte unmittelbar einleuchten, dass wenigstens die Rechtsanwendung, dh die Subsumtion der Fakten unter das Gesetz, in der 2. Instanz lückenlos überprüfbar sein muss. Von Ausnahmefällen abgesehen, ist auch
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Vgl. Hahn III/1, S. 315 f.
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eine Trennung der Tatsachenfeststellung von der Rechtsanwendung in logisch präziser Form ohne Schwierigkeiten möglich 21. An dieser Stelle zeigen sich die unheilbaren Mängel des Jury-Systems, wie es in den USA heute noch in der Verfassung garantiert 22 und in Deutschland zunächst linksrheinisch eingeführt 23, in die Paulskirchenverfassung aufgenommen24 und auch nach der RStPO bis zu seiner unrühmlichen Abschaffung durch die Emmingersche Notverordnung 25 praktiziert worden ist. Wenn der Spruch (Wahrspruch, verdict) der Geschworenen nur auf „schuldig“ oder „nicht schuldig“ lautet 26, so können Fehler bei der rechtlichen Subsumtion nicht einmal erkannt und deshalb auch in der 2. Instanz nicht überprüft werden. Die für die Überprüfbarkeit der Subsumtion unumgängliche analytische Trennung von Tatfrage und Rechtsfrage wird auch nicht dadurch im Juryverfahren ermöglicht, dass die Berufsrichter (Gerichtshof, bench, trial judge) den Geschworenen nicht nur die Hauptfrage „Schuldig oder nicht schuldig?“, sondern auch Hilfsoder Nebenfragen vorlegen können, weil diese einen anderen Gegenstand betreffen, nämlich rechtliche Abweichungen vom Eröffnungsbeschluss oder Qualifikations-, Privilegierungs- und Strafausschließungsgründe.27 Lediglich nach einigen Partikularrechten vor Schaffung der RStPO hatte der Gerichtshof die Möglichkeit oder sogar die Pflicht, den Geschworenen die Verbrechensdefinitionen des Gesetzes in präzisere und für einen juristischen Laien besser verständliche Ausdrücke zu übersetzen28, aber diese Lösung ist von der RStPO ebenso verworfen worden wie die Zulässigkeit von Teilfragen etwa nach dem Eingreifen eines Rechtfertigungsgrundes.29 Statt dessen wurde – so heute noch in Österreich30 und auch in den USA31 – dem Vorsitzenden ledig21
Dazu Schünemann FS Art. Kaufmann, 1993, S. 299 ff., 314 ff. Im 6. Zusatzartikel. 23 Hierzu Schwinge Der Kampf um die Schwurgerichte, 1926, S. 19; Lilie FS Rieß, 2002, S. 303, 304; Löhr Zur Mitwirkung der Laienrichter im Strafprozess, 2008, S. 64 ff. 24 Art. IV § 143 Abs. 3 für Preßvergehen und Art. 10 § 179 Abs. 2 für schwerere Strafsachen und politische Vergehen. 25 Hierzu Vormbaum Die Lex Emminger vom 4. Januar 1924, 1988. 26 §§ 293, 305 RStPO: Die Hauptfrage beginnt mit den Worten „Ist der Angeklagte schuldig?“ und ist von den Geschworenen „mit Ja oder mit Nein zu beantworten“. Ebenso § 312 öStPO. 27 §§ 294–298 RStPO; in Österreich Zusatz- und Eventualfragen gem. §§ 313, 314 öStPO. 28 Instruktiv Art. 82 des preußischen Gesetzes v. 3.5.1852, § 318 der preuß. StPO v. 1867, § 66 des sächsischen Gesetzes v. 1.10.1868, abgedr. als Anlage 5 zu den Motiven des Entwurfs der RStPO bei Hahn III/1, S. 464 f. 29 Siehe Löwe/Hellweg Die Strafprozeßordnung für das Deutsche Reich, 12. Aufl. 1907, § 293 Anm 12; v. Kries Lehrbuch des Deutschen Strafprozeßrechts, 1892, S. 606 f.; RGSt 9, 105 ff. 30 § 323 öStPO. 31 Zu den „jury instructions“ näher und mzwN Haddad/Meyer/Zagel/Starkmann/ Bauer Criminal Procedure, 5. Aufl. New York 1998, S. 1414 ff. 22
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lich erlaubt und vorgeschrieben, die Geschworenen „über die rechtlichen Gesichtspunkte zu belehren“32, ohne dass aber die Wirkung dieser Belehrung an dem pauschalen Wahrspruch der Jury kontrolliert werden konnte.33 2. Die Schwurgerichtsverfassung versagt deshalb nicht nur, wie ich anderweitig darzulegen versucht habe,34 gegenüber den Anforderungen an die Wahrheitsfindung in der 1. Instanz, sondern gefährdet auch die unverzichtbare Richtigkeitskontrolle der Rechtsfrage durch die 2. Instanz, weil der pauschale Spruch „schuldig“ keine Subsumtion eines spezifizierten Sachverhalts unter das Gesetz enthält.35 Zwar kann zu diesem Zweck auf die (ggf. durch Hilfsfragen modifizierte) Anklageschrift zurückgegriffen werden; aber dadurch kann die präzise Schilderung der festgestellten Tat in Gestalt der „für erwiesen erachteten Tatsachen, in denen die gesetzlichen Merkmale der Straftat gefunden werden“ (§ 275 Abs. 1 S. 1 StPO), nicht ersetzt werden, weil bloße Tatsachenveränderungen bei vorgeblich gleichbleibender rechtlicher Bewertung nicht in die Fragestellung aufgenommen werden dürfen36, obwohl von ihnen durchaus die richtige Subsumtion abhängen kann.
IV. Die Überprüfung der Tatfrage in den verschiedenen Modellen 1. Eine Überprüfung der dem Wahrspruch der Jury zugrunde liegenden tatsächlichen Annahmen ist im strengen Sinne nicht möglich, weil sie nicht niedergelegt werden. Deshalb ist es auf den ersten Blick überraschend, dass nach den Prozessgesetzen der USA regelmäßig auch die Überprüfung der Tatfrage möglich ist. So heißt es etwa in § 470.15 des Strafprozessrechts des 32
§ 300 RStPO. Dass der österreichische Gesetzgeber der Rechtsbelehrung keine ausreichende Wirkung zutraut, zeigt die von ihm zusätzlich vorgeschriebene anschließende Besprechung (§ 323 Abs. 2 und 3 öStPO) und zugelassene „Beiwohnung“ der Berufsrichter bei der Beratung der Geschworenen (§ 324 öStPO), der das Augurenlächeln geradezu ins Gesicht geschrieben sein dürfte, auch ohne den in Deutschland damit verbundenen anzüglichen Doppelsinn: Es darf vermutet werden, dass sich ein solches Schwurgerichtsverfahren im praktischen Effekt nicht mehr viel von einer Entscheidung des Schöffengerichts unterscheidet. 34 Schünemann (Fn 11), S. 555 ff. 35 Darin dürfte übrigens ein wesentlicher Grund für das bescheidene Niveau der Strafrechtsdogmatik in den USA liegen. Denn es sind gerade die Entscheidungen individueller Fälle durch die Gerichte, die der Rechtsdogmatik das Material für eine umfassende Systematisierung und detaillierte Interpretation der Gesetze liefern. Weil der Wahrspruch der Geschworenen aber das Ergebnis ihrer Tatsachenfindung nicht in einer präzisen Beschreibung zusammenfasst, spielt die Auslegung des Gesetzes im Hinblick auf exakt beschriebene Fälle in der Rechtsprechung der Berufungsgerichte und der obersten Gerichte sowie in der Rechtsliteratur der USA eine weitaus geringere Rolle als in Deutschland. 36 Löwe/Hellweg (Fn 29), § 294 Anm 2a, 5. 33
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Staates New York unter Nr. 3, dass die Aufhebung eines Urteils auf eine Entscheidung gegründet sein müsse, die „auf dem Recht oder auf den Fakten“ beruht. Und in Nr. 5 wird hierzu als Beispiel angeführt, dass die erstinstanzliche Verurteilung vollständig oder teilweise dem „Gewicht des Beweises“ widerspricht. In der Rechtsprechung wird das dahin erläutert, dass das Berufungsgericht bei dieser Prüfung die relative Wahrscheinlichkeit widersprechender Zeugenaussagen und die relative Stärke der daraus abzuleitenden Folgerungen gegeneinander abzuwägen habe 37. Dabei wird manchmal von den Gerichten eine völlig neue und selbständige Abwägung vorgenommen, indem verlangt wird, dass das Berufungsgericht die Fakten wie ein weiterer Geschworener beurteilen müsse 38. In manchen Jurisdiktionen muss diese Überprüfung allerdings auch schon auf Antrag der Verteidigung durch den Berufsrichter (trial judge) durchgeführt werden, und für diesen Fall wird von den Berufungsgerichten betont, dass sie nur dessen Ermessensausübung überprüfen würden und dabei zu berücksichtigen hätten, dass Jury und trial judge den unmittelbaren Eindruck von den Zeugenaussagen gehabt hätten, der dem Berufungsgericht fehle 39. 2. Dass das Berufungsgericht solche Überprüfungen überhaupt vornehmen kann, beruht darauf, dass die Beweisaufnahme in der amerikanischen Hauptverhandlung durch wörtliche Mitschriften (verbatim transcripts) festgehalten wird, die die Gerichtsstenographen zeitgleich anfertigen. Diese Dokumentation unterscheidet die amerikanische Hauptverhandlung prinzipiell von der deutschen, bei der eine sei es durch Zeitgleichheit, sei es durch technische Vollständigkeit, sei es durch die Aufsicht der Prozessbeteiligten garantierte Dokumentation der Beweisergebnisse geradezu geflissentlich ausgeschlossen ist: Während auf der Amtsgerichtsebene gemäß § 273 Abs. 2 StPO immerhin noch „die wesentlichen Ergebnisse der Vernehmungen in das Protokoll aufzunehmen sind“, was aber ohne Aufsicht durch die Verfahrensbeteiligten in notorisch unzulänglicher Form durch den Protokollführer geschieht und später vom Gerichtsvorsitzenden nur schlicht abgezeichnet zu werden pflegt, wird in der Hauptverhandlung vor dem Landgericht gemäß § 273 Abs. 1 StPO nur der äußere Gang der Beweisaufnahme festgehalten, so dass im Unterschied zum amerikanischen Modell eine der eingangs beschriebenen Grundvoraussetzungen für die effektive Kontrolle der 1. durch die 2. Instanz, nämlich die zuverlässige Speicherung der Beweisergebnisse der 1. Instanz, in Deutschland nicht erfüllt ist. Bevor ich darauf zurückkomme, ist für den amerikanischen Prozess noch festzustellen, dass das Berufungs37 People v. Bleakley 69 NY2d 490, 515 NYS2d 761; People v. Robinson 139 AD2d 677, 527 NYS2d 307 (2d Dept 1988). 38 Tibbs v. Florida 457 US 31 [1982]. 39 Etwa People v. Bleakley (Fn 37); People v. Crum 272 NY 348 [1936].
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gericht im strengen Sinn keine Überprüfung der von der Jury vorgenommenen Beweiswürdigung auf materielle Folgerichtigkeit hin vornimmt, sondern die schriftlichen Statements der Zeugen direkt selbst abwägt. Die Tätigkeit des Berufungsgerichts in den USA entspricht infolgedessen insoweit dem gemeinrechtlichen Inquisitionsprozess, als die entscheidenden Richter die Zeugen nicht persönlich befragen, sondern die schriftlichen Akten der Beweisaufnahme übersandt erhalten und hierauf ihr Urteil gründen40. Anders als im Inquisitionsprozess werden die Protokolle vom amerikanischen Berufungsgericht aber nicht zur Basis einer Verurteilung, sondern nur zur Kontrolle der Schlüssigkeit eines bereits ausgesprochenen Urteils genommen, wodurch die Bedenken gegenüber einer „Beweiswürdigung nach Lage der Akten“ ganz wesentlich entkräftet werden. Eine durchaus empfindliche Einschränkung der Kontrolltätigkeit des Berufungsgerichts bleibt im Schwurgerichtsverfahren freilich unüberwindlich: Weil die Schlüssigkeit der Bewertung eines im Medium der Umgangssprache produzierten Beweismittels wie desjenigen einer Zeugenaussage von einem alle Aspekte einbeziehenden hermeneutischen Verfahren abhängt, kann die Richtigkeit des Interpretationsgesamtergebnisses der 1. Instanz von der 2. Instanz nur dann beurteilt werden, wenn die jeweiligen Interpretationen explizit gemacht werden, wenn also die 2. Instanz nicht nur den Text der Zeugenaussagen, sondern auch die darüber von der 1. Instanz angestellte Beweiswürdigung kennt. Nach dem amerikanischen Modell kann es deshalb ohne weiteres passieren, dass grobe Beweiswürdigungsfehler des Schwurgerichts von der 2. Instanz nicht beanstandet werden, weil diese die Protokolle in einer ganz anderen, von der 1. Instanz aber gerade nicht zur Grundlage der Entscheidung genommenen Weise würdigt. Hierauf werde ich bei der Suche nach einer konstruktiven Synthese zwischen dem amerikanischen und dem deutschen Modell sogleich zurückkommen. 3. Zuvor möchte ich noch einen kurzen Blick auf zwei extreme Erscheinungen des amerikanischen Strafverfahrens werfen, die sich gegenseitig neutralisieren und schon deshalb als Modell der Zukunft nicht in Betracht kommen, auch wenn ausgerechnet und nur die eine davon gegenwärtig in Deutschland die Rechtspolitik überwältigt hat und auch in der Wissenschaft mehr und mehr Proselyten macht. Das Berufungsverfahren in den USA (appeal) droht in Verbindung mit dem Verbot der double jeopardy im 5. Zusatzartikel der amerikanischen Bundesverfassung 41 zu einer ungerechtfertigten Besserstellung der Freiheitsinteressen des Beschuldigten gegenüber
40
Hierzu Koch FS Rüping, 2008, S. 393, 394 f. Dazu eingehend Whitebread/Slobogin Criminal Procedure, 5. Aufl. New York 2008, S. 942 ff. 41
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den Strafverfolgungsinteressen des Staates zu führen. Danach kann grundsätzlich keine Berufung gegen einen Freispruch seitens der Jury eingelegt werden, so dass also die Aufhebung eines Freispruchs wegen falscher Abwägung der Beweise nicht möglich ist. Auf der anderen Seite hat die wegen „evidentiary insufficiency“41a erfolgende Aufhebung einer Verurteilung die Wirkung eines definitiven Freispruchs, denn die Durchführung einer neuen Hauptverhandlung würde gegen das Verbot der double jeopardy verstoßen. Es ist offensichtlich, dass die Berufung im amerikanischen Strafverfahren auf diese Weise maximal zu Gunsten des Beschuldigten wirkt, der durch zwei völlig unabhängig voneinander arbeitende Systeme geschützt wird: Eine Verurteilung setzt voraus, dass der Beschuldigte erstens von einer Jury einstimmig oder zumindest mit großer Mehrheit für schuldig befunden wird und zweitens, dass das Berufungsgericht aufgrund einer eigenen Würdigung der Akten dieses Ergebnis für vernünftig hält. Das sind wahrhaftig maximale Garantien für den Beschuldigten, die es auf den ersten Blick unerklärlich erscheinen lassen, dass sich fast 21/2 Millionen Bürger der Vereinigten Staaten wegen strafrechtlicher Verurteilungen im Gefängnis befinden. Die Erklärung hierfür liegt darin, dass weit über 90 % aller Strafverfahren in den USA nicht durch eine Hauptverhandlung vor der Jury, sondern im Wege des plea bargaining erledigt werden. Und die Erklärung hierfür liegt wiederum darin, dass erstens die in den amerikanischen Strafgesetzen angedrohten Strafen so extrem streng sind, dass die überwältigende Mehrzahl der Beschuldigten die bei einem plea bargaining erreichbare Strafmilderung als das geringere Übel vorzieht, so dass es gar nicht zu einer Berufung kommt; und zweitens, dass die überwältigende Mehrzahl der Beschuldigten der Unterschicht angehört und sich deshalb keinen kostspieligen Verteidiger leisten kann, der zur Durchführung des langwierigen und aufwändigen Schwurgerichtsverfahrens und einer anschließenden Berufung bereit wäre. Bei der Beantwortung der Frage, ob sich das amerikanische Modell des Schwurgerichtsverfahrens mit anschließender umfassender Berufung zur Übernahme eignet, muss deshalb berücksichtigt werden, dass es nur für einen kleinen Bruchteil der Strafverfahren praktiziert wird und deshalb in gewisser Weise nur ein „symbolisches Strafverfahren“42 darstellt. In prozesstheoretischer Hinsicht ist es bemerkenswert, dass die Berufung nicht eigentlich als ein Überprüfungsverfahren, sondern als ein selbständiges Entscheidungsverfahren ausgestaltet ist, bei dem das Berufungsgericht die Akten als Entscheidungsgrundlage benutzt, ganz so wie dies im alten europäischen Inquisitionsprozess der Fall war. Ohne die gleichzeitige Übernahme des plea bargaining wäre dieses Modell der maximalen Garantien für den Beschuldigten aber offenbar in der Praxis
41a 42
Zu deren Unterscheidung von „falscher Abwägung“ Whitebread/Slobogin, S. 799 ff. Vulgo „Mogelpackung“.
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nicht realisierbar. Unbeschadet dessen bleibt festzuhalten, dass die Verfahrensform des plea bargaining in den USA als Kompensation für ein die Interessen des Beschuldigten maximal schützendes (theoretisches) „Schwurgerichtsnormalverfahren“ mit Parteistruktur, Verbot der double jeopardy und voller Berufung nach Aktenlage dient, während die deutschen Urteilsabsprachen neben einem bereits in sich ausgewogenen Normalverfahren etabliert worden sind. 4. Abschließend möchte ich mich der Frage zuwenden, welche Anregungen das geltende deutsche Modell der 2. Instanz für die Reformdiskussion der Zukunft liefern kann43. Im Vergleich mit dem amerikanischen Modell hat es einige bedeutende Vorzüge, aber auch einige bedeutende Schwächen. a) Die erste Charakteristik des Modells der StPO besteht bekanntlich darin, dass die 2. Instanz in leichten Strafsachen völlig anders ausgestaltet ist als in schweren. In leichten und mittelschweren Strafsachen, die bei dem Amtsgericht angeklagt werden, wird der Fall in der 2. Instanz vollständig neu verhandelt, dh (vorbehaltlich einer abweichenden Einigung der Beteiligten) unter vollständiger Wiederholung der Beweisaufnahme (§ 324 Abs. 2 StPO). Dass es gerade in leichten Strafsachen eine solche vollständige Wiederholung gibt, wirkt auf den ersten Blick überraschend und widersinnig, hat aber in pragmatischer Hinsicht zahlreiche Vorteile. Auf der Stufe des Amtsgerichts wird bekanntlich die riesige Masse der leichten Kriminalität sehr schnell und meistens ohne Mitwirkung eines Verteidigers verhandelt. Es ist nicht ein direkter „speedy trial“, aber es geht doch weitaus schneller im Vergleich zu den Prozessen gegen die schwere Kriminalität. Obwohl das Amtsgericht den Angeklagten zu bis zu vier Jahren Freiheitsstrafe verurteilen kann (§ 24 Abs. 2 GVG), bestehen die Strafen hier zum weitaus größten Teil aus Geldstrafe oder Strafaussetzung zur Bewährung. Deshalb werden auch die meisten Urteile des Amtsgerichts ohne Rechtsmittel rechtskräftig. In den wenigen Fällen, in denen der Angeklagte Berufung einlegt, wird dann in der 2. Instanz vor der Berufungskammer des Landgerichts erstmals (annähernd) so gründlich verhandelt, wie es in der Hauptverhandlung bei der schweren Kriminalität von Anfang an geschieht. Man kann deshalb sagen, dass die Berufungsinstanz bei der leichten Kriminalität nicht nur eine vollständige Wiederholung der 1. Instanz bedeutet, sondern in gewisser Weise sogar überhaupt die erste (gründliche) Instanz repräsentiert. Weil es auf den ersten Blick 43 Zu der seit den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts immer wieder aufgeflammten und immer wieder ad acta gelegten Diskussion einer Rechtsmittelreform vgl. nur KK-Kuckein Rn 8 vor § 333 mzwN; ferner die Beiträge zum Thema auf dem 52. DJT 1978 (Gutachten von Peters, Referate von Rieß und Sarstedt) sowie das Gutachten von Lilie zum 63. DJT 2000; sowie Roxin Strafverfahrensrecht, 25. Aufl. 1998, § 72 Rn 29 mwN.
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unlogisch erscheint, das ausgerechnet in der leichten Kriminalität eine vollständige neue Verhandlung stattfinden kann, ist mehrere Male die Abschaffung dieser Regelung vorgeschlagen worden44. Empirische Untersuchungen haben aber gezeigt, dass diese Regelung zwar nicht ganz logisch, aber äußerst effizient ist und sowohl beim Beschuldigten als auch bei der Bevölkerung eine große Akzeptanz findet 45. Die Gefahr der Verschlechterung der Zeugenaussagen mit wachsendem Zeitablauf ist hier auch weitaus weniger groß als bei der schweren Kriminalität, weil die Prozesse auf der Amtsgerichtsstufe viel schneller durchgeführt werden als auf der Landgerichtsstufe. Man kann das Modell deshalb ungefähr so beschreiben, dass bei der leichten Kriminalität zunächst eine Art „speedy trial“ durchgeführt wird und dass dann nur in verhältnismäßig wenigen Fällen, wenn der Beschuldigte mit einem Verteidiger Berufung einlegt, eine gründliche neue Verhandlung notwendig wird. b) Die 2. Instanz bei den schweren Strafsachen ist demgegenüber nicht nur von Anfang an völlig anders ausgestaltet gewesen, sondern darüber hinaus von der höchstrichterlichen Rechtsprechung (vor allem des BGH) in den vergangenen 130 Jahren tiefgreifend umgestaltet worden. Bei der gegen die erstinstanzlichen Urteile von LG und OLG allein statthaften Revision handelt es sich um ein echtes Überprüfungsverfahren, das von der RStPO „Revision“ genannt worden ist, um es von der aus dem französischen Recht stammenden und seinerzeit schlecht beleumundeten „Kassation“ vor allem terminologisch abzugrenzen. Nach der ursprünglichen Idee des Gesetzgebers sollte allein eine Überprüfung der Rechtsfragen stattfinden, und zwar sowohl des Verfahrensrechts als auch der richtigen Subsumtion des Sachverhalts unter das Strafgesetz (§ 337 StPO). Gegenstand der Kontrolle in der 2. Instanz ist also auf der einen Seite das Verfahren der Hauptverhandlung, ganz ähnlich wie es auch im amerikanischen appeal stattfindet. Auf der anderen Seite kann das Gericht der 2. Instanz auch die Subsumtion der 1. Instanz eingehend prüfen, und zwar anhand der im schriftlichen Urteil gem. § 267 Abs. 1 S. 1 StPO wiederzugebenden Feststellungen zu den die gesetzlichen Merkmale des Straftatbestandes erfüllenden Tatsachen. Es ist nicht der Gesetzgeber, sondern die Rechtsprechung vor allem des BGH gewesen, die zu diesen beiden Überprüfungsformen eine dritte hinzugefügt hat, die die Tatfrage, also die Abwägung der Beweise, betrifft. Im Laufe der Zeit wurden bekanntlich die Anforderungen, die an das schriftliche Urteil gestellt wurden,
44
Vgl. den Diskussionsentwurf der Bund-Länder-Arbeitsgruppe Strafverfahrensreform für ein Gesetz über die Rechtsmittel im Strafverfahren aus dem Jahr 1975; aus der Literatur ua Ranft Strafprozeßrecht, 3. Aufl. 2005, Rn 1991; Geerds FS Peters, 1974, S. 267, 278; Jerouschek GA 1992, 493, 514; Tröndle GA 1967, 161, 171 f. 45 Vgl. Becker/Kinzig (Hrsg.) Rechtsmittel im Strafrecht, 2000, Bd. 2, S. 206 ff.; dies. ZStW 112 (2000), 614, 636.
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immer mehr verschärft, es wurde eine über § 267 Abs. 1 S. 2 StPO weit hinausgehende, eingehende schriftliche Beweiswürdigung verlangt,46 und wenn in dieser Beweiswürdigung Widersprüche oder Gedankensprünge oder sonstige wenig plausible Schlussfolgerungen auftreten, pflegt der BGH die Feststellungen als sachlich-rechtlich fehlerhaft zu qualifizieren und das Urteil aufzuheben,47 ganz ähnlich, wie es beim amerikanischen appeal wegen falscher Abwägung des Beweises geschieht. Der entscheidende Unterschied des deutschen Modells besteht aber darin, dass diese Kontrolle anhand der schriftlichen Urteilsgründe und nicht anhand des Hauptverhandlungsprotokolls stattfindet. Das hat den Vorteil, dass es sich wirklich um eine Kontrolle und nicht, wie im amerikanischen appeal, um eine im Grunde selbständige Entscheidung nach Aktenlage handelt. Aber es hat auch einen fundamentalen Nachteil. Denn der Richter der 1. Instanz kann bei der Abfassung der Urteilsgründe, die oft Wochen oder gar Monate nach der Verurteilung erfolgt, bewusst oder unbewusst die Beweisaufnahme im Urteil falsch darstellen und die in Wahrheit vorhandenen Widersprüche unterdrücken. Und aufgrund des sog. inertia-Effekts, kraft dessen der deutsche Richter infolge seiner Aktenkenntnis und des von ihm gefassten Eröffnungsbeschlusses die zur Anklage konsonanten Beweisergebnisse bevorzugt apperzipiert, speichert und reproduziert sowie in ihrer Bedeutung systematisch überschätzt, ist aus zwingenden informations- und entscheidungspsychologischen Gründen davon auszugehen, dass die Darstellung der Beweisergebnisse in den schriftlichen Gründen einer Verurteilung systematisch in Richtung auf eine Bestärkung der Anklagehypothesen verzerrt dargestellt werden. c) Das deutsche Modell ist deshalb gegenüber dem amerikanischen Modell insoweit vorzugswürdig, als eine ausführliche schriftliche Urteilsbegründung als Kontrollbasis existiert. Umgekehrt ist das amerikanische Modell dadurch im Prinzip vorzugswürdig, dass eine zuverlässige Dokumentation der Hauptverhandlung existiert. Es bietet sich deshalb an, beide Modelle zu kombinieren. Dabei stehen zur Dokumentation der Hauptverhandlung durch wörtliche Mitschriften der Zeugenaussagen (wie in den USA) zwei Alternativen bereit. Anstelle der Stenographen könnte man eine Videoaufzeichnung wählen, wie es gelegentlich auch schon in den USA, nur ganz
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Eingehend Barton und Frisch FS Fezer, 2008, S. 333, 353. Wodurch die Sachrüge zur sog. Darstellungsrüge geworden ist, s. bereits Fezer Die erweiterte Revision – Legitimierung der Rechtswirklichkeit?, 1974; zusammenfassend Nack StV 2002, 510, 558; Loddenkemper Revisibilität tatrichterlicher Zeugenbeurteilung, 2003; zahlreiche weitere Nachweise bei Meyer-Goßner § 337 Rn 26 ff.; KK-Kuckein § 337 Rn 28 ff.; Detter BGH-FS-Praxis, 2000, S. 679; Fezer in: 18. Strafverteidigertag 1994, S. 87; Ranft Strafprozeßrecht, Rn 2193 ff.; zu den verfassungsrechtlichen Problemen dieser Rechtsfortbildung s. Roxin/Schünemann Strafverfahrensrecht, § 5 Rn 32. 47
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selten aber in Deutschland praktiziert wird. Die dritte Möglichkeit zur Dokumentation der Beweisergebnisse in der Hauptverhandlung besteht darin, dass das Gericht den wesentlichen Inhalt der Zeugenaussage zu Protokoll nimmt, wobei es in dieser Konzentration auf den wesentlichen Inhalt von Staatsanwaltschaft und Verteidigung in der Hauptverhandlung kontrolliert wird und der Zeuge selbst die Zusammenfassung genehmigen muss.48 Wenn es hierbei zu keiner Einigkeit zwischen den Verfahrensbeteiligten kommt, müsste dies ebenfalls im Protokoll festgehalten werden, und dann wäre die Videoaufzeichnung der Zeugenvernehmung als Anlage beizufügen, um der 2. Instanz die direkte Überprüfung zu ermöglichen. In den meisten Fällen werden sich Gericht, Staatsanwaltschaft, Verteidigung und Zeuge aber auf die Zusammenfassung einigen können, und dann liegt eine zuverlässige und konzentrierte Dokumentation vor, die eine zusätzliche Beifügung der Videoaufzeichnung entbehrlich macht. 5. Ich persönlich halte dieses Kombinationsmodell nach wie vor für die beste Lösung, um eine effiziente Kontrolle der ersten durch die zweite Instanz sicherzustellen. Dass der Gesetzgeber in der gegenwärtigen Epoche des unleugbaren Niedergangs der deutschen Rechtskultur, in der er die eingangs apostrophierte Übernahme des amerikanischen Modells des plea bargaining, die den seit 200 Jahren tiefgreifendsten Einschnitt in die Verfahrensstruktur überhaupt darstellt, mit einem einzigen Paragraphen vornehmen zu können geglaubt und die vernichtende Kritik der Wissenschaft nicht einmal zur Kenntnis genommen hat, die hierfür maßgeblichen Erwägungen überhaupt nachzuvollziehen bereit ist, soll am Ende dieser dem Jubilar Klaus Geppert in herzlicher kollegialer Verbundenheit gewidmeten Gedanken wenigstens gehofft werden.
48 Diesen Vorschlag habe ich bereits in GA 1978, 161, 179; ZStW 114 (2002), 1, 54 f. unterbreitet. Zwischenzeitlich ist er etwa von König FG Friebertshäuser, 1997, S. 211 aufgegriffen worden.
Konsens der qualifizierten Minderheit Zu den Grundelementen rationaler Rechtsgewinnung Reinhard Singer
Als Präsident der Berliner Juristischen Gesellschaft ist es der Jubilar gewohnt, sich mit der Gedankenwelt von Juristen zu befassen, die nicht „seinem“ Fachgebiet, dem Straf- und Strafprozessrecht angehören. Zu den Themen, die jeden Juristen beschäftigen, gehört die Frage nach der Rationalität juristischer Entscheidungen. Aus erkenntnistheoretischer Sicht ist das Resultat geradezu niederschmetternd: Danach beruht der Glaube an die Objektivität rechtswissenschaftlicher Aussagen auf metaphysischen Prämissen, die sich rationaler Erkenntnis entzögen1. „Wir wissen nicht, sondern wir raten“, schreibt der Philosoph Karl Popper 2. Und: „Unsere Wissenschaft ist kein Wissen: weder Wahrheit noch Wahrscheinlichkeit kann sie erreichen“3. Wenn diese Sätze richtig sind, führen die weiteren Überlegungen zwangsläufig zu der Frage nach dem Wert methodengeleiteter juristischer Subsumtion? Worin besteht überhaupt noch der Sinn einer Diskussion über die Bedeutung von Normen, ihren Zweck, ihre Stellung im System der betreffenden Rechtsordnung und die Absichten des historischen Gesetzgebers? Worin bestünde gar der Sinn einer Juristenausbildung, die auf das Erlernen der Methoden der Gesetzesauslegung und Rechtsfortbildung gerichtet ist? Lernen die Studierenden nur „Leerformeln, Alibis und Tabus“4? Muss „unsere Rechtswissenschaft zwischen alle Stühle, in die Flammen fallen“, wie Klaus Adomeit die aporetische Aufgabe mit bildhafter Poesie umschrieb5? All diese Zweifel stehen in bemerkenswertem Gegensatz zu der allgemeinen Anschauung, die der Jurisprudenz in hohem Maße Rationalität zugebilligt6. Sie stehen insbesondere in bemerkenswertem Gegensatz zu Max Webers entfalteter Typologie und Soziologie des Rationalismus und der Rationalisierung des Rechts, die sich – wie er eingehend beschrieb – von primitiven Formen magischer 1
Säcker, ARSP 1972, 215 f., 217 f. Logik der Forschung, 1. Aufl. 1935, 207; kritisch aus juristischer Sicht Kellmann, Rechtstheorie Nr. 6, 83 (89 ff.). 3 Nachw. Fn. 2. 4 Wiethölter, Rechtswissenschaft 1968, 10. 5 Adomeit, Rechts- und Staatsphilosophie II, 2. Aufl. 2002, S. 96. 6 Zippelius, Gesellschaft und Recht 1980, 68; Stranzinger, Rationalitätskriterien für Gerechtigkeit, ARSP Beiheft Nr. 29, 111 (115). 2
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Rechtsfindung der Frühzeit über theokratisch oder patrimonial bedingte Formen der „Zweckrationalität“ zunehmend zu „fachmäßig juristischer, also logischer Rationalität und Systematik“ entwickelt habe und damit zu einer „zunehmend rationalen Technik des Rechtsgangs“7.
I. Die Begriffe Recht und Rationalität Offensichtlich gibt es unterschiedliche Auffassungen über die Bedeutung des Begriffs „Rationalität“ und damit über die Anforderungen, die an rationales Verhalten des Rechtsanwenders gestellt werden. Bedeutet Rationalität „etwas durch Vernunft (ratio) erkennen“ oder genügt es, dass der Rechtsanwender sich eines „methodischen, regelgeleiteten Vorgehens“ bedient8? Wer Vernunfterkenntnis verlangt, stößt auf die ontologische Aporie, normative Urteile a priori zu begründen. Wer sich mit Verfahrensrationalität begnügt, nimmt zwangsläufig in Kauf, dass die Urteile aus unbewiesenen Prämissen abgeleitet werden und mehr oder weniger willkürlich Recht gesprochen wird. Auch wenn man unterstellt, dass die juristische Subsumtion nach weitgehend anerkannten dogmatischen Regeln und Prinzipien erfolgt, kann man nicht die Augen davor verschließen, dass der Prozess der Subsumtion Werturteile erfordert, die nicht auf logischen Gesetzen beruhen. „Werten“ heißt – nach den Worten von Pawlowski – im vorliegenden Zusammenhang nur „urteilen (d.h. vorziehen)“9. Dürfen wir uns auf der anderen Seite damit begnügen, dass Rechtsfindung in einem sozialen System stattfindet, das durch seine bloße Funktionseffezienz legitimiert wird und – so Luhmann – reine „Systemrationalität“ gewährleistet?10. Oder beruht die Rationalität von Recht auf einem Verfahren, dem aufgrund der unterstellten Zustimmung aller Betroffenen als Teilnehmer eines „praktischen Diskurses“ Legitimität – und damit Rationalität – zugesprochen werden kann11? Die begriffliche Frage nach der Bedeutung von Rationalität des Rechts führt mitten hinein in die grundlegende Diskussion nach der Legitimation von Recht und von juristischen Entscheidungen. Die Formulierung von Begriffen und die Antwort auf sachliche Fragen stehen offensichtlich in einem unauflöslichen Zusammenhang12. 7 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl. 1972, 468 ff. (504 f.); ders., Rechtssoziologie 1960, 178 ff.; dazu eingehend Schluchter, Die Entstehung des modernen Rationalismus 1998, 65. 8 Stranzinger (Fn. 6), 111. 9 Einführung in die juristische Methodenlehre, 2. Aufl. 2000, Rn. 177. 10 Luhmann, Legitimation durch Verfahren (TB), 1983, 38 ff.; zur Aporie der juristischen Argumentation ders., Das Recht der Gesellschaft 1993, 338 ff. 11 Habermas, Faktizität und Geltung, 2. Aufl. 1992, 138 ff. 12 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns 1981, 7.
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Die Diskussion über Rationalität und Rechtsgewinnung findet auf mehreren Ebenen statt: Zum einen geht es um die Urfrage nach der Legitimation der in einer Rechtsordnung geltenden Rechtsregeln, zum anderen um die Rationalität der richterlichen Entscheidung bei der Anwendung dieser Regeln, also vor allem bei der Interpretation der Gesetze. Es versteht sich von selbst, dass eine Erörterung dieser Elementarfragen, die Generationen von Rechtswissenschaftlern und Philosophen beschäftigt haben, hier nur skizzen- und bruchstückhaft erfolgen kann. Dabei ist der Gedanke leitend, dass nicht aus einer der unzähligen Theorien, die mit mehr oder weniger absolutem Anspruch auf Gültigkeit und Wahrheit vertreten werden, die „richtige“ Erkenntnis geschöpft werden kann, sondern dass erst die Kombination verschiedener Elemente eine gewisse Gewähr dafür bietet, Recht als das Ergebnis eines rationalen Erkenntnisprozesses zu begreifen und anzuerkennen. Recht wird dabei – das wird unkritisch vorausgesetzt – verstanden als Gesamtheit von Regeln, deren Beachtung und ggf. zwangsweise Durchsetzung durch staatliche Organe gewährleistet ist13.
II. Rationalität und Vernunftrecht 1. Die Unterscheidung von Sein und Sollen Auf die vernunftrechtliche Aporie, die Richtigkeit von Rechtsnormen a priori zu begründen, wurde einleitend hingewiesen. Die Aporie beruht auf der bekannten, auf Kants Philosophie zurückgehenden Erkenntnis, dass von einem Sein nicht auf ein Sollen geschlossen werden kann. „Denn in Betracht der Natur gibt uns Erfahrung die Regel an die Hand und ist der Quell der Wahrheit; in Ansehung der sittlichen Gesetze aber ist Erfahrung (leider!) die Mutter des Scheins, und es ist höchst verwerflich, die Gesetze über das, was ich tun soll, von demjenigen herzunehmen, oder dadurch einschränken zu wollen, was getan wird“ 14. Diese Erkenntnis hat sich bis heute unumstößlich durchgesetzt und bedeutet die Absage an ein Naturrecht, das die Gültigkeit ethischer und rechtlicher Normen nicht aus Gesetzen ableitet, sondern aus dem Wesen des Menschen und seiner Umwelt, aus Natur und Vernunft15. Andererseits ist es nicht ohne weiteres einsichtig, dass die vom Gesetzgeber erzeugten Normen richtiges Recht produzieren. Nicht erst die national13 Rehbinder, Rechtssoziologie, 7. Aufl. 2009, § 4 Rn. 45 ff.; Zippelius, Rechtsphilosophie, 5. Aufl. 2007, § 5 IV; Th. Raiser, Grundlagen der Rechtssoziologie 4. Aufl. 2007, 179. 14 Kant, Kritik der reinen Vernunft (Hrsg. Weischedel), 2. Aufl. 1787, 375; vgl. auch Kantorowicz, Der Begriff des Rechts 1939, 40 f. 15 Vgl. Max Weber, Rechtsoziologie 1960, 265 ff. (267); A. Kaufmann, in: Kaufmann/ Hassemer/Neumann, Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 7. Aufl. 2004, 59; von Mettenheim, Recht und Rationalität 1984, 32 f.
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sozialistische Erfahrung lehrt, dass auch die Autorität des Gesetzgebers hinterfragt werden kann: auch die Legitimität des Gesetzgebers bedarf der Begründung. „Es kann … eine äußere Gesetzgebung gedacht werden, die lauter positive Gesetze enthielte; alsdann aber müsste doch ein natürliches Gesetz vorausgehen, welches die Autorität des Gesetzgebers (d.i. die Befugnis, durch seine bloße Willkür andere zu verbinden) begründete“16. 2. Rationalität durch Konsens und Diskurs a) Kategorischer Imperativ Kant blieb bei der Einsicht, dass ethische („synthetische“) Regeln nicht durch Erfahrung gewonnen werden können, nicht stehen, sondern entwickelte aufbauend auf der Annahme, dass praktische Gesetze, um als vernünftig anerkannt zu werden, einerseits allgemein gültig, andererseits von einem freien Willen bestimmt sein müssen, das „Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft“, den kategorischen Imperativ: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne“17. Dieser Versuch einer formalen Begründung ethischer Normen ist zwar auf grundsätzliche Ablehnung gestoßen, weil die Formel viel zu allgemein gehalten ist, um als verlässlicher Maßstab für ethisches Handeln zu dienen. So leuchtet zwar ein, dass man mit der Maxime begründen kann, dass man nicht stehlen soll. Würde man wollen, dass alle stehlen dürfen, würde das jeden Besitz, den auch ich anstrebe, unmöglich machen.18 Aber nicht mehr a priori begründbar sind komplexere Fragen wie die nach den Grenzen erlaubter Schwangerschaftsabbrüche19 oder – um ein Bespiel aus dem Zivilrecht zu nennen – den Grenzen der Vertragsfreiheit20. Hier sind differenzierte Antworten möglich, wie die intensiv geführte öffentliche Diskussion und die unterschiedlichen Lösungen in verschiedenen Rechtsordnungen und in verschiedenen Epochen der Rechtsgeschichte zeigen. Kant wird daher zurecht vorgehalten, dass er das Moment der Geschichtlichkeit des Rechts vernachlässigt habe21. Außerdem gelingt die Verbannung materialer Normen und 16 Kant, Die Metaphysik der Sitten, 1. Aufl. 1797, 331; vgl. dazu Kaufmann (Fn. 15), 60; Adomeit (Fn. 5), 101. 17 Kant, Kritik der praktischen Vernunft (Hrsg. Weischedel), 1788, 54 a.E. 18 Ott/Mathis, Die Rechtstheorie von Jürgen Habermas: eine kritische Würdigung, ZSR 121 (2002), 203, 214. 19 Zippelius, Gesellschaft und Recht 1980, 61. 20 Vgl. dazu einerseits BVerfGE 81, 242 (255); 89, 214 (234); Singer JZ 1995, 1133 (1137); Canaris, AcP 200 (2000) 273 (296 ff.) – andererseits Adomeit NJW 1994, 2467; Zöllner AcP 196 (1996) 1 ff.; Medicus, Abschied von der Privatautonomie im Schuldrecht? 1994, 20 f. 21 A. Kaufmann (Fn. 15) 63.
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ethischer Prinzipien aus dem Rechtsbegriff keineswegs vollkommen. Sobald man die Maxime konkretisiert, zeigt sich, dass die Erzeugung von Inhalten aus der Form nur gelingt, weil die Maxime des Willens stillschweigend mit materialen Wertungen angereichert wird 22. Wer das Recht auf Eigentum an Produktionsmitteln als allgemeines Gesetz begründen will, unterstellt als Maxime des Willens, dass Privateigentum als Wert anerkannt wird. Dass dies nicht immer und überall so gesehen wurde, beweist, dass mit der Formulierung allgemeiner Gesetze auch grundlegende Fragen nicht ohne Rückgriff auf seinerseits begründungsbedürftige Prämissen zu beantworten sind. b) Rawls Theorie der Gerechtigkeit Von dem Gedanken, aus formalen Regeln Inhaltsnormen abzuleiten, geht eine bis heute wirksame Faszination aus. Das liegt zum einen daran, dass das zugrunde gelegte – fiktive – Konsensprinzip wegen der immanenten Anerkennung von Freiheit und Gleichheit als Grundprinzipien seinerseits mit breiter Zustimmung rechnen darf, sich also gewissermaßen selbst rechtfertigt. Zu Recht wird darauf hingewiesen, dass Kant mit dem Prinzip der sittlichen Autonomie einen wesentlichen Beitrag zur philosophischen Begründung der Menschenrechte geleistet hat23. Das Konsensprinzip bildet bis heute die Grundlage der Privatautonomie und – in modifizierter Form als Mehrheitsprinzip – der demokratisch verfassten Gesellschaften. Kants Rechtsphilosophie ist denn auch vielfach zum Ausgangspunkt konsensorientierter Rechtstheorien genommen worden. John Rawls hat daraus eine Theorie der Gerechtigkeit entwickelt und angenommen, dass sich die Menschen im „Urzustand“ auf folgende elementare Grundsätze einigen würden24: 1. „Jede Person hat den gleichen unabdingbaren Anspruch auf ein völlig adäquates System gleicher Grundfreiheiten, das mit demselben System von Freiheiten für alle vereinbar ist. 2. Soziale und ökonomische Ungleichheiten müssen zwei Bedingungen erfüllen: erstens müssen sie mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die unter Bedingungen fairer Chancengleichheit allen offen stehen; und zweitens müssen sie den am wenigsten begünstigten Angehörigen der Gesellschaft den größten Vorteil bringen (Differenzprinzip).“
Rawls gelangt zu diesen Grundsätzen, indem er die Parteien des fiktiven (Gesellschafts-)Vertrages in einen Urzustand versetzt, in dem gleiche Machtverhältnisse herrschen, individuelle Freiheit verbürgt ist und sie in Unwissenheit über ihre Eigenschaften und soziale Rolle gehalten werden („Schleier des Nichtwissens“). Aber auch bei dieser kunstvollen Konstruktion eines
22
Ott/Mathis (Fn. 18). Kaufmann (Fn. 15) 61. 24 Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit 1979, 81; ders., Gerechtigkeit als Fairness (Hrsg. Höffe), 1977, 37. 23
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übereinstimmenden „Willens“ bleibt im Dunkeln, wie die Vertragspartner zu diesen Grundsätzen gelangen können25. Die (fiktive) Zustimmung zu dem Vertrag beruht offensichtlich auf Wertungen, denen zwar ein hohes Maß an Plausibilität zukommt, die aber nicht der reinen Form des konsensualen Verfahrens entspringen, sondern mehr oder weniger „vernünftig“ scheinen26. Damit berührt sich der zweite Einwand, der sich gegen die Fiktion der – idealen – Konsensfindung richtet. Es entspricht eben nicht der Realität, dass Menschen gleiche Chancen oder Freiheit besitzen, ebenso wenig wie vorausgesetzt werden kann, dass gleiche Machtverhältnisse herrschen. Wenn aber das Zustandekommen des Konsenses von idealen, normativen Bedingungen abhängen soll, dann ist das Charakteristikum des Konsenses aufgehoben. „Das Resultat ist nicht mehr das Ergebnis eines geschichtlichen Einigungsprozesses konkreter Personen, sondern lediglich Ergebnis abstrakter Kommunikatoren“27. Es handelt sich um eine „Vernunftwahl“.28 c) Die Legitimation von Handlungsnormen durch die Diskurstheorie von Habermas Die Einwände gegen die ideale Konsenstheorie von John Rawls treffen im Prinzip auch auf die Diskurstheorie zu, die von Jürgen Habermas zur Legitimation und Rationalität moralischer Urteile entwickelt hat. Seine zentrale Formel zur Legitimation von Handlungsnormen lautet wie folgt: „Gültig sind genau die Handlungsnormen, denen alle möglicherweise Betroffenen als Teilnehmer an rationalen Diskursen zustimmen können“.29 Im Unterschied zu dem in Form eines monologischen Verfahrens zustande gekommenen – fiktiven – Konsenses über vernünftiges, gerechtes Handeln bei Kant und Rawls knüpft Habermas an den interaktiven Prozess der sprachlichen Verständigung über Geltungsansprüche von Handlungsnormen. Dieser sei insoweit nicht fiktiv, als eine reale Funktionsvoraussetzung der Kommunikation auf der Unterstellung bestimmter – idealer – Kommunikationsvoraussetzungen beruhe. „Mit jeder Sprechhandlung werden kritisierbare Geltungsansprüche erhoben, die auf intersubjektive Anerkennung angelegt sind … Die Idee der Einlösbarkeit kritisierbarer Geltungsansprüche erfordert Idealisierungen, die von den kommunikativ Handelnden selber vorgenommen und damit vom transzendentalen Himmel auf den Boden der 25
Ott/Mathis (Fn. 18) 208. Kaufmann (Fn. 15) 138. 27 Höffe, Zur Theorie der Kommunikation: Wahrheit und Gerechtigkeit durch Konsens finden, Rede vor der Novartisstiftung am 5. Dezember 2008; ders., Rawls Theorie der politisch-sozialen Gerechtigkeit, in: Rawls, Fairness (Fn. 24), 16 ff. (27 f.). 28 Höffe, Rawls (Fn. 27), 28. 29 Habermas (Fn. 11), 138. 26
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Lebenswelt herabgeholt werden“30. Mit dieser Idealisierung verschiebt sich freilich nur die Fiktion des Konsenses auf eine vom Gegenstand der Verständigung noch weiter entfernte Ebene. Sie verlagert sich von der Fiktion eines Konsenses über vernünftiges Handeln (Kant) oder die Fiktion normativer Bedingungen für einen solchen vernünftigen Konsens (Rawls) auf die Funktionsbedingungen vernünftiger Kommunikation, nämlich die ideale Sprechsituation31. Es ist deshalb unvermeidlich, das man auch hier in das Münchhausen-Dilemma gerät, da es auch für die ideale Sprechsituation keine Letztbegründung gibt.32 Außerdem ist keineswegs sichergestellt, dass die vorausgesetzten Ideale – Chancengleichheit für alle Diskursteilnehmer, Redefreiheit, keine Privilegierungen, Wahrhaftigkeit, Freiheit von Zwang 33 – in der Realität eingehalten werden34. Auch Habermas kommt nicht ohne transzendentale Prämissen aus, die das Ergebnis richtigen Handelns präjudizieren. Ungeklärt bleibt auch hier, wie aus der Einhaltung der DiskursBedingungen zwangsläufig Wahrheit und – bezogen auf Rechtsnormen – richtiges Recht entstehen kann. Dies gilt auch für das Demokratieprinzip, das Habermas aus einer Spezifizierung des allgemeinen Diskursprinzips ableitet und das für solche Handlungsnormen gelte, „die in Rechtsform auftreten und mithilfe pragmatischer, ethisch-politischer und moralischer Gründe … gerechtfertigt werden können“35. Es leuchtet zwar ein, den Prozess der Gesetzgebung „im Rechtssystem“ als einen „Ort der sozialen Integration“ zu begreifen, da dieser gewährleiste, „dass sich die einzelnen Adressaten der Rechtsnormen zugleich in ihrer Gesamtheit als vernünftige Urheber dieser Normen verstehen dürfen“36. Aber auch Habermas entgeht nicht dem Dilemma, dass er auf die Vernunft der Teilnehmer an dem Diskurs setzen muss, um das Demokratieprinzip zu legitimieren37. Er unterliegt damit gleichfalls der bei Kant bekämpften „wechselseitigen Erläuterung des Moral- und Demokratieprinzips“. Auch die Diskurstheorie zeigt „unter der Lupe“, dass die Inhalte aus materialen Wertvorstellungen gewonnen werden, deren Geltung mehr oder weniger unterstellt werden muss und offenkundig in der Naturrechtstradition der europäischen Verfassungsrechtsentwicklung wurzeln38.
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Habermas (Fn. 11), 34. Habermas (Fn. 11), 391 f.; ders., Wahrheitstheorien, in: Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, 1984, 174 ff. (180 f.). 32 Vgl. die Kritik von Ott/Mathis (Fn. 18), 208 ff. 33 Wahrheitstheorien (Fn. 31), 178. 34 Ott/Mathis (Fn. 18) 209. 35 (Fn. 11), 139. 36 (Fn. 11) 51 f. 37 Eingehend zur Kritik an der Legitimation des Demokratieprinzips Blanke KJ 1994, 439 (455 f.); Kupka, KJ 1994, 461 (467 f.); vgl. demgegenüber die Verteidigung der Diskurstheorie durch. Günther, KJ 1994, 470 ff. 38 A. Kaufmann (Fn. 15) 141; Kupka, KJ 1994, 468. 31
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III. Legitimität durch Legalität Auch wenn es – wie hier nur exemplarisch dargelegt werden kann – nicht gelingen kann, eine ontologische Begründung für die Geltung von Rechtsnormen zu geben, so steht damit keineswegs fest, dass die Hoffnung auf eine rationale Begründung von Rechtsnormen aufgegeben werden muss und man sich daher – wie Luhmann – mit der bloßen „Legitimation durch Verfahren“ begnügen muss. Legitimität des Rechts ist nicht nur „eine wünschenswerte, praktisch wichtige, aber äußerliche Zutat“39. Es ist ja – wie Luhmann selbst anerkennt – keinesfalls gleichgültig, unter welchen Bedingungen die Verfahren zur Rechtserzeugung- und Rechtsfindung gelangen40. Prozedurale Formen der Rechtsfindung haben zwar die Funktion, die Ungewissheit über das, was als richtiges Recht gelten soll, zu kompensieren. Richter sind gezwungen, die ihnen vorgelegten Fälle zu entscheiden, auch wenn das Urteil schwierig ist. Aber um dieser Funktion gerecht zu werden, bedarf es einer Orientierung der an den Verfahren Beteiligten an solchen Grundsätzen und Regeln, die Aussicht auf möglichst breite Akzeptanz besitzen. Die innere Konsistenz der Rechtsordnung und die juristische Rhetorik der am Verfahren Beteiligten sind wichtige „Momente des Legitimierungsprozesses“41. Insofern kommt es in der juristischen „Lebenswelt“ (Habermas) zu einer Wechselbeziehung zwischen prozeduralen Verfahren der Rechtsfindung und der Verständigung über allgemeine Grundsätze und Regeln im praktischen Diskurs. Diese Verständigung gelingt am ehesten, wenn sie sich auf möglichst allgemeine Grundsätze bezieht, die jeder akzeptieren kann. Dieser Gedanke liegt dem Universalitätsgrundsatz, den Kant im kategorischen Imperativ und seiner Definition des Rechts expliziert hat und den sich die daran anknüpfenden prozeduralen Rechtstheorien von Rawls und Habermas zu Eigen gemacht haben, zugrunde. Auf dieser Grundlage haben sich bestimmte, allen Theorien gemeinsame Grundüberzeugungen gebildet, deren elementarste die Anerkennung des Konsensprinzips als Grundlage gerechter Handlungsnormen darstellt. „Volenti non fit iniuria“ oder in den Worten von Kant: „nur sich selbst kann niemand Unrecht tun“42. Auf der hohen Überzeugungskraft dieser Prämisse basiert zum einen die Privatautonomie als Grundlage der westlich geprägten Wirtschaftsordnungen. Auch wenn diese Prämisse in einem Spannungsverhältnis zu sozialer Gerechtigkeit steht und daher längst anerkannt ist, dass ihr kein absoluter Geltungsanspruch zukommt, weil sich die Selbstbestimmung bei einem entsprechenden Machtgefälle der Kontrahenten 39
Luhmann (Fn. 10) 239. Luhmann (Fn. 10), 27 ff. (36). 41 Luhmann (Fn. 39). 42 Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (Hrsg. Klemme), Berlinische Monatsschrift 1793, 201 (244) = Akademieausgabe 295; s.a. Habermas (Fn. 11), 122 f.; Blanke, KJ 1994, 444. 40
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in Fremdbestimmung verwandeln kann43, besteht nach wie vor kein Zweifel, dass der autonome Konsens die Grundlage für die Gestaltung der privaten Rechts- und Wirtschaftsbeziehungen bildet. Was auf der Ebene der individuellen Beziehungen zwischen Privaten der vertragliche Konsens darstellt, entspricht im Verhältnis zwischen Staat und Staatsbürgern das demokratisch zustande gekommene Gesetz. Das Demokratieprinzip lässt sich zwar nicht vollkommen aus dem Konsensprinzip ableiten, da es utopisch (und unzweckmäßig) ist, die Zustimmung von allen durch das Gesetz Betroffenen zu erlangen. Das hat schon Kant klar gesehen und dementsprechend nicht die Willensübereinstimmung „von einem ganzen Volk“ erwartet, sondern geglaubt, dass „nur eine Mehrheit der Stimmen, und zwar nicht der Stimmenden unmittelbar (in einem großen Volke), sondern nur der dazu Delegierten als Repräsentanten des Volks dasjenige ist, was allein man als erreichbar voraussehen kann; so wird doch selbst der Grundsatz, sich diese Mehrheit genügen zu lassen, als mit allgemeiner Zusammenstimmung, also durch einen Kontrakt, angenommen, der oberste Grund der Errichtung einer bürgerlichen Verfassung sein müssen“44. Die Überzeugungskraft des Demokratieprinzips beruht zum einen darauf, dass das Mehrheitsprinzip dem Konsensprinzip am Nächsten kommt, zum anderen auf dem Verfahren, das der Willensbildung in den Parlamenten vorausgeht und einen praktischen Diskurs über die zu beschließenden Normen ermöglicht bzw. voraussetzt45. Es besteht daher eine Wechselbeziehung zwischen verschiedenen Elementen prozeduraler Rechtsgewinnung: dem Verfahren der Gesetzgebung und dem Konsensprinzip als Prämisse richtigen Rechts. Diskurs ist also nötig, allerdings nicht in Form eines theoretischen, fiktiven Denkmodells, sondern in Form tatsächlich existierender Kommunikation über richtiges Recht46. Die Qualität der Gesetzgebung hängt u.a. von der Transparenz dieses realen öffentlichen Diskurses ab, von der möglichst breiten Beteiligung der betroffenen Staatsbürger und ihrer Repräsentanten, der Diskussion in Parteien und Verbänden, in der Presse und in Expertenkreisen, also insbesondere von Juristen, Wissenschaftlern und Sachverständigen auf den betreffenden Gebieten. Manipulationen der Mehrheitsmeinung durch mächtige und einflussreiche gesellschaftliche Kräfte sind zwar nicht ausgeschlossen und mindern die Legitimationskraft parlamentarischer Beschlüsse. Je transparenter der öffentliche Meinungsbildungs- und Entscheidungspro43 Wegweisend die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, vgl. BVerfGE 81, 242 (255 f. – Handelsvertreter), 89, 214 (232 – Bürgschaft), BVerfGE 103, 89 (102) und BVerfG NJW 2001, 2248 (beide zum Unterhaltsverzicht). 44 Kant, Gemeinspruch (Fn. 42) 248 f. = 296 [Akademieausgabe]; s.a. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation (TB) 1983, 257. 45 Kritisch Luhmann (Fn. 10): Die politische Wahl könne „nicht mehr als konsentiertes Rechtsverhältnis“ angesehen werden (S. 167), sondern leiste lediglich einen „Beitrag zur Ausdifferenzierung des politischen Systems“ (173). 46 A. Kaufmann, Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit 1989, 30.
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zess verläuft, desto höher ist jedoch die praktische Gewähr für die Rationalität 47 der beschlossenen Normen.
IV. Rationalität der Rechtsgewinnung durch Gesetzesvollzug 1. Subsumtion und Werturteil Ausgehend von der Prämisse, dass die Handlungsnormen, die aus parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren hervorgegangen sind, den Maßstab für rechtskonformes Verhalten bilden, stellt sich in einem zweiten Schritt, nämlich bei der Anwendung der Rechtsnormen, erneut die Frage nach dem Zusammenhang von Recht und Rationalität. Damit kommt das weite Feld der juristischen Dogmatik in den Blick, die nichts anderes darstellt als den Versuch, praktische Regeln für den Gesetzesvollzug aufzustellen, „praktische Verhaltensanweisungen an den Richter“.48 Diese sind notwendig, weil die Anwendung des Gesetzes sich nicht nur im Wege einer logischen Deduktion vollzieht, sondern teilweise komplexe Wertungen erfordert, die auch die Rationalität juristischer Entscheidungen beim Gesetzesvollzug in Frage stellen49. Die Anwendung des Gesetzes auf einen juristischen Sachverhalt geschieht nicht allein in Form einer logischen Operation50. Gesetze sind konditionale Sätze nach dem Schema „wenn … dann“ oder in der Sprache der Logik51: für den Tatbestand T gilt die Rechtsfolge R (T → R). Dabei handelt es sich um den Obersatz der Subsumtion. Ob die Rechtsfolge R anzuwenden ist, hängt davon ab, ob der betreffende Tatbestand in dem zu beurteilenden Sachverhalt S erfüllt ist, wenn also der Sachverhalt S ein Fall von T ist (S = T). Ob dieser „Untersatz“ gilt, lässt sich nicht allein mit Hilfe der Logik beurteilen, weil nicht Fakten unter den gesetzlichen Tatbestand subsumiert werden können. Vielmehr geht es um Aussagen über einen Sachverhalt als Lebensvorgang, die mit dem Sachverhalt als Bestandteil des gesetzlichen Tatbestandes verglichen werden. In einfach gelagerten Fällen beruht das Urteil auf der Anwendung von Sprachregeln, also auf Konventionen, die sinnliche Erfahrungen in Begriffe fassen. Wenn etwa das Strafgesetz die Tötung eines Menschen unter Strafe stellt, so ist die Beurteilung, ob in dem konkreten Fall der Täter getötet hat, Ergebnis einer sinnlichen Wahrnehmung, die auf der 47
In diesem Sinne auch Zippelius (Fn. 6), 63: „begrenzte Rationalität“. Wieacker, Zur praktischen Leistung der Rechtsdogmatik, in: Hermeneutik und Dialektik, FS Gadamer 1970, 311. 49 Skeptisch daher Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung (TB), 43 ff.; Rottleuthner, Richterliches Handeln. Zur Kritik der juristischen Dogmatik (TB) 1973, 32 ff. 50 Esser (Fn. 49), 31, 54; Alexy (Fn. 44), 17. 51 Vgl. zum folgenden Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 274. 48
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Grundlage der Sprachregeln und Lebenserfahrung – Esser spricht von „Traditionszusammenhang“ 52 – die Aussage ermöglicht, dass S ein Fall von T ist (S = T). Wenn sich die Frage stellt, ob der Beschuldigte Mörder ist und z.B. heimtückisch getötet hat, kann man nicht mehr aus der Erfahrung urteilen, sondern muss das Mordmerkmal näher definieren. So wird Heimtücke definiert als Ausnutzen der Arg- und Wehrlosigkeit seines Opfers. Und arglos ist, wer sich keines Angriffs von Seiten des Täters versieht. Dieser Prozess der Konkretisierung kann nicht unendlich fortgesetzt werden, sondern erfordert irgendwann ein „Elementarurteil“ dergestalt 53, dass in der konkreten Situation das Vertrauen des Opfers ausgenutzt wurde. Das ist etwa bei der Tötung eines Säuglings nicht der Fall, weil diese von Natur aus „wehrlos“ sind, wohl aber dann, wenn seine natürlichen Abwehrinstinkte gegenüber giftiger Nahrung durch Beigabe von Süßstoffen außer Kraft gesetzt werden. Folgerichtig kommt es bei Kleinkindern darauf an, ob diese schon so alt sind, dass sie potentiell in der Lage sind, den Täter umzustimmen.54 Diese Beurteilung mag im Einzelfall schwierig sein, irrational ist sie nicht. Wenn der Tatbestand des Gesetzes Fachausdrücke oder relativ unbestimmte, wertausfüllungsbedürftige Begriffe enthält, erschließt sich die Bedeutung des Gesetzes regelmäßig nicht mehr allein aufgrund sinnlicher Wahrnehmung, sondern erst nach einer weiteren Konkretisierung des Tatbestandes. So hängt etwa die Frage, ob jemand „Halter“ eines Kraftfahrzeugs ist und demzufolge auch ohne Verschulden für Schäden haftet, die „durch den Betrieb“ veranlasst sind, davon ab, was die Begriffe „Betrieb“ und „Halter“ bedeuten. In der Praxis orientiert sich der Richter an Lehrbüchern und Kommentaren, die diese Begriffe näher erläutern und sich dabei im Wesentlichen an der Rechtsprechung der höherrangigen Gerichte orientieren. Bereits diese „Zurichtung der Begriffe“55 durch Richter und Kommentatoren ist ein wertender Akt, der nicht mehr vollkommen durch die Autorität des Gesetzes gedeckt ist, sondern auf einer mehr oder weniger eigenständigen Entscheidung des Rechtsanwenders beruht. Auf der anderen Seite ist die Entscheidung aber nicht völlig willkürlich, sondern orientiert sich an bestimmten Interpretationsregeln, die den Zweck haben, den Intentionen des Gesetzes möglichst zum Erfolg zu verhelfen. So ergibt sich aus dem Zweck der Gefährdungshaftung, dass derjenige zur Verantwortung gezogen werden soll, der die Herrschaftsgewalt über die Sache hat und von ihr wirtschaftlich profitiert 56. Daraus folgt z.B., dass nicht nur der Eigentümer, sondern auch 52
Esser (Fn. 49), 10. Larenz (Fn. 51). 54 Zum Ganzen vgl. nur Lackner/Kühl, Strafgesetzbuch, 26. Aufl. 2007, § 211 Rn. 6 m.N.; Geppert, Jura 2007, 270, 271 f. (zum Erfordernis des Vertrauensbruchs); BGHSt. 4, 11, 13; 8, 216, 218; BGH NStZ 1995, 230, 231; 2006, 338, 339. 55 Esser (Fn. 49), 54. 56 Larenz/Canaris, Lehrbuch des Schuldrechts II/2, Besonderer Teil, 13. Aufl. 1994, § 84 I 2a, III 1b. 53
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der Leasingnehmer „Halter“ eines Kraftfahrzeugs ist, im Regelfall aber nicht der Mieter, weil (und sofern) dieser nur vorübergehend von dessen Nutzung profitiert und nicht für die Unterhaltung aufkommt57. Die Korrespondenz von Vorteil und Risiko ist keine Frage der Logik, wohl aber der – wertungsmäßigen – Folgerichtigkeit und Konsistenz bei der Beurteilung rechtlich relevanten Verhaltens oder rechtlich relevanter Zustände. Die Konkretisierung des gesetzlichen Tatbestandes folgt also durchaus rationalen Regeln. 2. Rationalität und Rechtsfortbildung Auf richterlichen Wertungen beruht erst recht die Konkretisierung von Generalklauseln und der gesamte Bereich der richterlichen Rechtsfortbildung58. Von großer praktischer Bedeutung ist dabei die Methode der analogen Anwendung von Rechtsnormen und die teleologische Einschränkung von Normen, die gemessen an dem Gesetzeszweck zu weit geraten sind. Hier ist der schöpferische Anteil richterlicher Tätigkeit noch signifikanter, weil beide Verfahren – Analogieschluss wie teleologische Reduktion – einen Vergleich erfordern, und zwar zwischen gesetzlich geregelten und ungeregelten Tatbeständen. Das bei der Analogie zu fällende Urteil, dass beide Tatbestände „gleich“ zu beurteilen sind, also die gleichen Rechtsfolgen haben sollten, kann nicht mit Hilfe der Logik gefällt werden, da sich die Tatbestände voraussetzungsgemäß unterscheiden. Es muss daher unter den unterschiedlichen Merkmalen der zu vergleichenden Tatbestände eine Auswahl solcher – relevanter – Merkmale getroffen werden, die nach dem Urteil des Rechtsanwenders übereinstimmen. Darin liegt der Wertungsspielraum für den Rechtsanwender. Dieser ist allerdings nicht unbegrenzt, da das wichtigste Kriterium, das den Analogieschluss rechtfertigt, der Zweck des Gesetzes ist. Dieser lässt sich anhand der Gesetzesmaterialien, der historischen Entwicklung der Norm und ihres systematischen Zusammenhangs, vor allem jedoch aufgrund einer Analyse der Fälle, die unter die Norm subsumiert werden können und deren allgemeine Merkmale, verhältnismäßig genau bestimmen. Wer z.B. in seinem Recht auf Eigentum verletzt wird, kann gem. § 1004 BGB von dem Störer Beseitigung der Störung und Unterlassung künftiger Störungen verlangen. Der Zweck der Norm, noch vor Eintritt eines Schadens vorbeugend Rechtsschutz zu gewähren59, erfordert eine Regelung nicht nur bei der Beeinträchtigung des Eigentums, sondern auch bei anderen Rechten und Rechtsgütern, die eine dem Eigentum vergleichbare Struktur besitzen und bei denen ein vergleichbares Schutzbedürfnis besteht. Das trifft auf alle Rechte und Rechtsgüter zu, die – wie das Eigentum – ebenfalls deliktischen Schutz gegenüber jedermann genießen, also die in §§ 823 ff. geschützten Rechts57 58 59
Vgl. BGHZ 13, 351, 358 f.; 87, 133, 135 f. Larenz (Fn. 51), 288 ff, 366 ff. MünchKomm./Medicus, § 1004 Rn. 6.
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güter. Es ist daher folgerichtig, dass die Rechtsprechung den Schutz des § 1004 BGB auf andere absolute Rechte und Rechtsgüter ausgedehnt hat, auch auf das Allgemeine Persönlichkeitsrecht, das seinerseits erst im Wege der Rechtsfortbildung als sonstiges Recht im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB anerkannt worden ist. Auch wenn die Rechtsprechung bei dieser Rechtsfortbildung den Rahmen der „natürlichen“ Gesetzesinterpretation überschritten hat und die Analogiebildung nicht nur auf einer logischen Operation beruht, kann ihr doch ein hohes Maß an Rationalität zugebilligt werden. Der Vergleich der Rechtsgüter erfolgt nicht willkürlich oder „eigenverantwortlich“60, sondern anhand charakteristischer Merkmale (absolute Rechte, von §§ 823 ff. geschützte Rechtsgüter), deren Übereinstimmung genau festgestellt werden kann. Auch der Zweck des Gesetzes ist nicht willkürlich bestimmt worden, sondern Ergebnis einer systematischen Interpretation, die Art und Umfang des Rechtsgüterschutzes beim Eigentum und anderen absoluten Rechten wie dem Schutz des Namens ermittelt und mit dem – unvollkommenen – Güterschutz vergleicht, der anderen absoluten Rechten wie z.B. Leben, Körper, Gesundheit nach dem Willen des Gesetzes zukommen soll. Da es keinen sachlichen Grund gibt, warum die Verletzung dieser Rechte nur Schadensersatzansprüche gemäß § 823 BGB auslösen soll und das Gesetz ausdrücklich keinen vorbeugenden Rechtsschutz vorsieht, ist es ein Gebot dogmatischer Konsequenz, den Schutz auf diese Rechtsgüter auszudehnen und eine gesetzliche Lücke zu schließen. Wenn man den Kreis der von § 823 BGB geschützten Rechtsgüter um das Allgemeine Persönlichkeitsrecht erweitert und dieses als sonstiges Recht anerkennt, ist es gleichfalls ein Gebot dogmatischer Folgerichtigkeit, auch insoweit den vorbeugenden Rechtsschutz des § 1004 BGB auszudehnen. Dieses Urteil beruht somit trotz gewisser wertender Elemente bei der Ermittlung des Normzwecks von § 1004 auf gedanklichen Operationen, die in hohem Maße den Anforderungen an eine rationale Begründung des richterlichen Urteils entsprechen.
V. Teleologische Interpretation, Methodenpluralismus und Rationalität der Rechtsgewinnung 1. Rationalität methodengerechter Gesetzesauslegung und -fortbildung Welchen Zweck eine Norm verfolgt, ist nicht durch logische Operationen zu ermitteln61. Daraus folgt aber nicht, dass es sich bei der Ermittlung des Normzwecks nicht auch um einen rationalen Vorgang handelt. Welchen Zweck eine Norm verfolgt, steht zwar nicht im Gesetz, ergibt sich aber häu60 61
Esser (Fn. 49), 133. Esser (Fn. 49), 132; Alexy (Fn. 44) 20 f.
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fig aus den Gesetzesmaterialien. Geben diese keine oder keine eindeutige Auskunft, führt in aller Regel die Frage weiter, welche Interessen durch den Normvollzug gefördert oder geschützt werden. Wenn man unterstellt – dies ist die wesentliche, unter Rechtssoziologen anerkannte Prämisse –, dass Normen im Allgemeinen die Funktion haben, das Verhalten der Personen zu steuern, ihre Konflikte zu bereinigen und die Ordnung einer Gesellschaft zu gewährleisten62, kann aus den Wirkungen der betreffenden Normen im Falle ihrer Anwendung Rückschlüsse auf ihren Zweck gezogen werden. So folgt etwa aus dem Inhalt des erwähnten § 1004 BGB, dass dieser die Funktion hat, das Eigentum zu schützen, da der Störer im Falle einer Beeinträchtigung des Eigentums mit Sanktionen in Form eines Beseitigungs- und Unterlassungsanspruchs rechnen muss. Aus dem Verbot des Insichgeschäfts für Stellvertreter einer Person gem. § 181 BGB folgt, dass der Vertretene vor solchen Geschäften des Vertreters geschützt werden soll, bei denen die offenkundige Gefahr besteht, dass dieser seine eigenen Interessen vor die des Vertretenen stellt. § 181 BGB dient also dem Schutz vor Interessenkonflikten63. Die Beispiele lassen sich beliebig vermehren. Auch von Kritikern der teleologischen Methode wird anerkannt, dass es Fälle gibt, in denen aufgrund der als geltend vorausgesetzten Normen, dogmatischen Regeln oder Präjudizien „kein Zweifel darüber besteht, wie zu entscheiden ist“. Nach Ansicht von Alexy kann „sogar angenommen werden, dass diese Fälle erheblich zahlreicher als die zweifelhaften sind“64. Wenn hingegen Esser einwendet, dass das Werturteil über den Zweck einer Norm nicht „voll aus der Norm zu entnehmen“ ist, da in ihr nur einige Wertungselemente „programmatisch verselbständigt“ seien und jenseits dieser Programmierung „das Feld freier Subjektivität“ beginne, so zielt dieser Einwand zunächst nicht auf das rationale Verfahren, das zur Ermittlung des Normzwecks führt, sondern auf die Kompetenz zur Rechtsfortbildung, die wegen der fehlenden Rückbindung an den gesellschaftlichen Konsens im positiven Recht fehle65. Dieser Einwand lässt sich jedoch überwinden, wenn man akzeptiert, dass eine Rechtsordnung in sich widerspruchsfrei sein und dem Gebot des Gleichheitssatzes gehorchen soll. Dabei handelt es sich zwar um eine nicht ontologisch begründbare Prämisse, doch kann auch diese Lücke bei der Begründung teleologischen Denkens mit Blick auf die Konsensfähigkeit dieser Basiswertung geschlossen werden. Das von Esser kritisierte „Vorverständnis“ des Rechtsanwenders kann jedenfalls bei solchen Subsumtionsprozessen vernachlässigt werden. 62
Raiser (Fn. 13), § 11 IV = S. 185 ff. Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (Studienausgabe), 3. Aufl. 1995, S. 212. 64 (Fn. 44) 25. 65 Esser (Fn. 49), 132. 63
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Seit langem wird indessen auch kritisiert, dass zwischen den verschiedenen Methoden, die bei der Gesetzesinterpretation zur Anwendung kommen, kein festes Rangverhältnis bestehe 66 und es geradezu im Belieben des Rechtsanwenders stehe, ob der maßgebliche „objektivierte Wille des Gesetzgebers“, auf den überwiegend abgestellt wird, aus dem „Wortlaut der Norm, aus ihrem Sinnzusammenhang sowie aus den Gesetzesmaterialien und der Entstehungsgeschichte“67 abgeleitet wird. In der Praxis der Rechtsprechung stößt man daher zwangsläufig auf Fälle, in denen mal die historische Auslegung den Ausschlag gibt, ein anderes Mal der Wortsinn und ein weiteres Mal der Zweck des Gesetzes 68. Angesichts dieses Befundes nimmt es nicht Wunder, dass dem Rechtsanwender bescheinigt wird, „dass er seine Methodenwahl aus einer teleologischen Richtigkeitskontrolle des Ergebnisses unter dem Gesichtspunkt der Akzeptierbarkeit in einer gegebenen Sozialordnung her steuert“69. Die kritisierte Methodenpluralität beruht freilich zunächst einmal darauf, dass bei der Interpretation einer Norm nicht immer alle genannten Kriterien aussagekräftig sind, so dass es zwangsläufig dazu kommt, dass einmal die Entstehungsgeschichte der Norm, ein anderes Mal Bedeutungszusammenhang und Schutzzweck den Ausschlag geben. So leitet etwa das Bundesarbeitsgericht die umstrittene Qualifizierung des Arbeitnehmers als „Verbraucher“ im Sinne des § 13 BGB vor allem aus der Entstehungsgeschichte und dem Bestreben des Gesetzgebers ab, das Schutzniveau der Arbeitsverträge an das des allgemeinen Zivilrechts anzupassen70. Hier war der Wortlaut der Norm mehrdeutig, da die von Arbeitnehmern abgeschlossenen Verträge zwar „weder ihrer gewerblichen noch ihrer selbständigen beruflichen Tätigkeit zugerechnet“ werden können, aber der allgemeine Sprachgebrauch auf Personen verweist, die Waren oder Dienstleistungen beziehen. Die Frage, ob der Arbeitnehmer ein Widerrufsrecht nach § 312 BGB zusteht, verneinte das BAG demgegenüber und stützte sich dabei trotz des scheinbar entgegenstehenden Wortlauts im Wesentlichen auf die Systematik des Gesetzes, seinen Sinn und Zweck sowie die Entstehungsgeschichte71. Die Bestimmung stehe in einem Abschnitt über Vertriebsgeschäfte und solle – wie die Aufzählung der situationsspezifischen Gefährdungslagen zeige – den Verbraucher vor einer „situations- und vertragsspezifischen Gefährdung“ seiner Selbstbestim-
66 Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, entwickelt am Problem der Verfassungsinterpretation 1967, 85 ff.; Esser, Grundsatz und Norm, 4. Aufl. 1990, 117, 121 ff.; ders., Vorverständnis 124 ff. (Methodenpluralismus). 67 Zu diesen Kriterien vgl. BGHZ 49, 221 (223). 68 Esser, (Fn. 49), 126. 69 Esser (Fn. 49), 126. 70 BAG NJW 2005, 3305 (3308 f.). 71 BAG NJW 2004, 2401 (2404).
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mung schützen. Solange es nicht zu einem echten Widerspruch zwischen den verschiedenen Auslegungsinstrumenten kommt, steht die Rationalität dieses Methodenpluralismus nicht in Frage. 2. Das Rangverhältnis zwischen den verschiedenen Auslegungsmethoden Problematisch sind nur die auch absolut gesehen kleinere Zahl der Fälle, in denen die verschiedenen Instrumente zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Insoweit wird nun freilich zunehmend erkannt, dass zwischen den verschiedenen Auslegungscanones durchaus ein Rangverhältnis besteht 72. Der Vorrang der objektiv teleologischen und systematischen Auslegungsmethode vor dem entgegenstehenden Wortlaut folgt schon aus der grundsätzlichen Anerkennung der richterlichen Rechtsfortbildung durch Analogie und teleologische Reduktion. Diese leiten ihre Legitimität aus dem verfassungsrechtlich begründeten Vorrang des allgemeinen Gleichheitssatzes sowie aus der staatsdemokratisch verankerten Funktion der Rechtsprechung ab, den gesetzgeberischen Absichten und Zweckvorstellungen möglichst konsequent Rechnung zu tragen73. Schwieriger zu beurteilen sind jene Fälle, in denen es zu einem Widerspruch zwischen den Absichten des historischen Gesetzgebers und den normativen Wertvorstellungen des heutigen Gesetzgebers kommt. So wollte der historische Gesetzgeber nur einzelne Ausprägungen der Persönlichkeit schützen, Körper, Gesundheit, den Namen, nicht aber die Person in ihrer Gesamtheit 74. Später hat die Rechtsprechung in Deutschland dennoch ein Bedürfnis für einen umfassenden Persönlichkeitsschutz anerkannt und vor allem aufgrund der Wertungen des Grundgesetzes sich über den Willen des historischen Gesetzgebers hinweggesetzt 75. Gegen den Vorrang des Willens des historischen Gesetzgebers 76 spricht, dass nicht nur dessen demokratisch legitimierter Willensbildung Rechnung zu tragen ist, sondern auch den Wertungen der Gesamtrechtsordnung, die nicht minder auf Rechtssätze zurückgeführt werden können, die ebenfalls demokratisch legitimiert sind. Das Grundgesetz verpflichtet die staatliche Gewalt in Art. 2 Abs. 1 GG, die Persönlichkeit des Einzelnen zu schützen. Insofern besteht ein legales Funda72 Neuner, Rechtsfindung contra legem 1992, 112 ff. (mit festen Rangvorstellungen); Alexy (Fn. 47), 302 ff. (mit Argumentationslastregeln); Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995, 166; Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Aufl. 1983, 91 f. mit Fn. 23. 73 Neuner (Fn. 72), 122; Canaris, Systemdenken (Fn. 72). 74 Vgl. RGZ 69, 401, 403 f.; Larenz/Canaris, Lehrbuch des Schuldrechts II/2, 13. Aufl. 1994, § 80 I 1 = S. 491. 75 BGHZ 13, 334, 338 (Schacht-Brief); s. ferner BGHZ 35, 363 (Ginseng-Wurzel). 76 Auch Neuner (Fn. 72), 115 hält im Rahmen der Rechtsfortbildung eine Bindung an den historischen Gesetzgeberwillen nur dann für zwingend, wenn sich nicht objektiv-teleologische Gesichtspunkte dagegen anführen lassen.
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ment für die zivilrechtliche Anerkennung eines Allgemeinen Persönlichkeitsrechts, vor allem wenn man – wie dies heute eigentlich unstreitig ist – den Staat nicht nur für verpflichtet hält, nicht in Grundrechte einzugreifen, sondern auch sie zu schützen 77. Dieser Verpflichtung muss auch die Privatrechtsordnung Rechnung tragen. Es liegt auf der Hand, dass in solchen Grenzbereichen der Rechtsfortbildung ähnlich wie bei der Konkretisierung von Generalklauseln Beurteilungsspielräume bestehen. Diese sind nicht wegzudiskutieren und sprechen gegen die „right-answer-thesis“, die von dem amerikanischen Rechtsphilosophen Ronald Dworkin entwickelt 78 und in der deutschen Methodenlehre insbesondere von Claus-Wilhelm Canaris aufgegriffen und vertieft wurde79. Es ist zwar in der Tat schwer erträglich, dass bei mehreren „vertretbaren“ Lösungen die Rechtsgeltung in Frage gestellt ist, weil ein Rechtsatz nicht zugleich gelten und nicht gelten kann. Dementsprechend muss sich eine Rechtsordnung darum bemühen, die Einheitlichkeit der Rechtsinterpretation bei der faktischen Durchsetzung des Rechts zu gewährleisten, was freilich nicht einmal auf der Ebene der Verfassungsgerichtsbarkeit vollkommen gelingt 80. Aber bis es zu einer verbindlichen Entscheidung der dazu berufenen Organe kommt, führt kein Weg daran vorbei, dass miteinander unvereinbare Rechtssätze – vom Standpunkt des Interpreten aus betrachtet – als geltendes Recht behauptet werden und niemand – auch nicht Herkules 81 – in der Lage ist, mit den dogmatischen Methoden der Gesetzesinterpretation den bestehenden Widerspruch vollends aufzulösen. Der Anspruch auf eine widerspruchsfreie Rechtsordnung ist – so sehr es den nach Wahrheit und Klarheit strebenden Geist widerstrebt – praktisch nicht vollkommen zu verwirklichen. Wie aber kann unter diesen Umständen Rationalität gewährleistet werden?
77 Grundlegend Canaris, AcP 184 (1984) 201; ders., Grundrechte und Privatrecht. Eine Zwischenbilanz 1999, 26, 31 f., 37; BVerfGE 81, 242; 89, 214 haben sich dieser Sichtweise angeschlossen. 78 Bürgerrechte ernstgenommen 1984 (Originalausgabe 1977 „Taking Rights Seriously“), 144 ff. 79 Richtigkeit und Eigenwertung in der richterlichen Rechtsfindung, Grazer Universitätsreden 1993, 23 ff. 80 Exemplarisch der Streit zwischen dem IX. und XI. Zivilsenat des BGH über die Voraussetzungen der Sittenwidrigkeit von Kreditsicherheiten vermögensloser Familienangehöriger (BGH NJW 1999, 58 einerseits; NJW 2002, 2634 andererseits) und die unterschiedliche Position der beiden Senate des BVerfG zur zivilrechtlichen Sanktion einer fehlgeschlagenen Familienplanung („wrongful life“); vgl. einerseits BVerfG NJW 1993, 1751 (1764); NJW 1998, 523 – 2. Senat (Haftung ablehnend); andererseits BVerfG NJW 1998, 519 – 1. Senat (Haftung anerkennend). 81 So nennt Dworkin (Fn. 78) den fiktiven Juristen mit übermenschlichen Fähigkeiten, der in der Lage ist, auch die schwierigen Fälle „richtig“ zu entscheiden (S. 182).
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3. Rationalität durch realen Diskurs, Verfahren und Konsens a) Das Urteil als Konsens einer qualifizierten Minderheit Rationalität wird nicht allein dadurch gewährleistet, dass die Entscheidung schwieriger Fälle (hard cases)82 der Entscheidung dadurch berufener Instanzen überantwortet wird. Dann würde mehr oder weniger Willkür darüber entscheiden, was gelten soll. Neben der Einrichtung eines justizförmigen Verfahrens gehören das Diskursprinzip und das Konsensprinzip zu den Grundelementen rationaler Rechtsgewinnung 83. Über nahezu jede juristische Fragestellung von allgemeiner Bedeutung findet ein sich selbst immer wieder aufs Neue generierender fachlicher Diskurs statt, dessen Teilnehmer sich rationaler Argumente bedienen müssen, um möglichst breite Zustimmung zu erlangen und von den dazu berufenen Instanzen (Gesetzgeber, Richter) anerkannt zu werden. Das Arsenal möglicher Argumente umfasst den gesamten Bereich der juristischen Dogmatik, die sozialen und ökonomischen Wirkungen des Rechts ebenso wie die historischen und rechtsvergleichenden Zusammenhänge sowie Erkenntnisse aus den Natur- und Sozialwissenschaften. In den einschlägigen Fachmedien wird heutzutage nahezu fast jede Rechtsfrage von nennenswertem Allgemeininteresse diskutiert und praktisch jedes Gerichtsurteil kommentiert. In diesem intensiven kommunikativen Prozess besteht zwar nicht die Gewähr, aber doch eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass sich die „Kraft des besseren Arguments“84 durchsetzt. Der Diskurs ermöglicht die Falsifikation unwahrer, unlogischer Urteile und eine Plausibilitätskontrolle von Werturteilen und Argumenten. Über eine Vielzahl von Prämissen und Präjudizien, an denen sich die Teilnehmer an dem juristischen Diskurs orientieren, besteht nahezu vollständig Konsens. Dieser reicht von der grundsätzlichen Zustimmung zum demokratischen Prinzip und grundlegenden Prinzipien der Freiheit und Gleichheit, Verhältnismäßigkeit und Rechtssicherheit bis hin zur Akzeptanz von richterrechtlich geschaffenen Rechtsinstituten wie der culpa in contrahendo oder der positiven Forderungsverletzung, die bis zur Reform des Schuldrechts ebenso gewohnheitsrechtlich anerkannt waren wie die Lehre vom Wegfall der Geschäftsgrundlage. Die Anerkennung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ist trotz anfänglich massiver Bedenken, es handle sich um eine Rechtsfortbildung contra legem, heute unbestrittener Bestandteil der Privatrechtsordnung. In diesem tatsächlich stattfindenden „realen Diskurs“ haben jene Argumente die größere Aussicht auf Akzeptanz, die sich ihrerseits auf anerkannte 82
Dworkin (Fn. 78) 144. Vgl. auch Canaris, der „Konsens und Verfahren als Grundelemente der Rechtsordnung“ begreift und mit einer „transzedentalpragmatischen Rekonstruktion der Anerkennungstheorie“ die Geltung und Verbindlichkeit des Rechts erklärt, JuS 1996, 573 (579 f.). 84 Habermas, Wahrheitstheorien (Fn. 31), 127 ff. (161). 83
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Wertungen stützen können oder bei einem Vergleich mit Präjudizien zu einer Bevorzugung jener Entscheidung führen, bei der die größte Rechtsähnlichkeit zu einem Präjudiz besteht. Der mit den Mitteln der Dogmatik bestrittene Diskurs, das reasoning from case to case zielen auf die Überzeugungskraft des besseren Arguments. Da es illusorisch ist, dass die Zustimmung aller am realen Diskurs Beteiligten (oder gar der Betroffenen selbst) erreicht wird, gibt es keine Alternative zu einem Verfahren, in dem neutrale Richter entscheiden, welches Argument den Vorzug verdient. Das Konsensprinzip ist hier nur noch schwach ausgeprägt, schwächer noch als bei der demokratisch legitimierten Rechtssetzung durch gewählte Repräsentanten, bei der das Mehrheitsprinzip die Zustimmung aller Betroffenen ersetzt, aber immerhin noch wirksam im Streben der Gesprächspartner nach Anerkennung und Zustimmung. Zum Schluss entscheidet der Konsens einer qualifizierten Minderheit, von Richtern, die sich von den anerkannten Regeln der Dogmatik und den Wertungen der Gesamtrechtsordnung leiten lassen und mit ihrer Begründung an dem fortgesetzten Diskurs beteiligen. Maßstab ist die „Kraft des besseren Arguments“. Es wird aber nicht gezählt oder gemessen, sondern entschieden und begründet. Am Ende steht also zwar eine „Legitimation durch Verfahren“, aber dieses Verfahren gewährleistet nicht nur Systemrationalität 85, sondern auch – in eingeschränktem Sinne – Vernunftrationalität. Wesentliche Bedingung für das Funktionieren dieses Verfahrens- und Konsensmodells ist die Unabhängigkeit und Neutralität der zur Entscheidung berufenen Instanzen. Die Urteile der Richter bedürfen daher der Begründung und Publizität, um den Diskurs um das bessere Argument nicht abbrechen zu lassen und eine Revision unrichtiger Urteile zu ermöglichen. b) Beispiele für die Kraft des besseren Arguments Dass die „Kraft des besseren Arguments“ rationalen Ansprüchen genügt, soll anhand zweier Bespiele demonstriert werden, die zu den hard cases 86 der Rechtswissenschaft gerechnet werden können und folgerichtig widersprechende Urteile provoziert haben. Im einen Fall geht es um die Bürgschaftserklärung einer 21-jährigen Frau, die unter dem Druck der familiären Verbundenheit zu ihrem Vater, der zur Fortführung seines Unternehmens dringend Kredit benötigte, dem Drängen eines Sparkassenangestellten nachgegeben hatte, für den Vater bürgte. Dabei hatte sie keine realistische Aussicht, im Falle der Inanspruchnahme aus der Bürgschaft die Schuld je abtragen zu können, weil sie damals weder über eigenes Vermögen noch über
85 Luhmann (Fn. 10); s.a. aus der Perspektive einer transzendentalen Handlungstheorie Kaulbach, FS Senpin 333 (344 f.), der die Richter als „wirkliche Repräsentanten des Rechtswillens“ begreift und in diesem begrenzten Sinne dem Rechtssystem Rationalität zubilligt. 86 Dworkin (Fn. 78), 144.
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ein nennenswertes Einkommen verfügte, sondern überwiegend arbeitslos war und in einer Fischfabrik gerade einmal 1.150 DM monatlich netto verdiente87. Nach dem Grundsatz „pacta sunt servanda“ war die junge Bürgin an ihr Bürgschaftsversprechen über damals 100.000.– DM gebunden. Da sie kein Einkommen hatte, drohte ihr eine lebenslange Verschuldung. Alle Gründe, die nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch die Wirksamkeit ihrer Willenserklärung in Frage stellten, schienen nicht einschlägig. Sie war weder minderjährig, noch erlag sie einem Irrtum; sie wurde nicht getäuscht oder bedroht und hatte die erforderliche Schriftform eingehalten. Der IX. Senat des Bundesgerichtshofs und weite Teile des Schrifttums sahen deshalb keine Veranlassung, sie aus der Bindung zu entlassen88. Dagegen hat das Bundesverfassungsgereicht ihre familiäre Zwangslage berücksichtigt. Privatautonomie beruht nach Ansicht des Gerichts auf dem Prinzip der Selbstbestimmung, setzt also voraus, dass auch die Bedingungen freier Selbstbestimmung tatsächlich gegeben sind. Wenn es an einem „annähernden Kräftegleichgewicht“ der Beteiligten fehle, so dass eine Vertragspartei vertragliche Regelungen faktisch einseitig setzen könne, bewirke dies für den anderen Vertragsteil Fremdbestimmung. Zu seinem Schutz müsse dann der Gesetzgeber eingreifen, und wenn dieser untätig bleibe, die Rechtsprechung89. Wer hat nun Recht im Konflikt zwischen Anerkennung der Selbstbestimmung und Schutz vor Fremdbestimmung? Für beide Positionen gibt es vertretbare Gründe. Die besseren Gründe sprechen aber für das Bundesverfassungsgericht, da es der Sache nach an Wertungen angeknüpft hat, die der Gesetzgeber selbst aufgestellt, aber nur unvollkommen geregelt hat. Wenn nämlich jemand in einer Zwangslage ein Rechtsgeschäft abschließt, bei dem Leistung und Gegenleistung in einem unangemessenen Verhältnis stehen, ist dieses Geschäft gemäß § 138 Abs. 2 BGB sittenwidrig und nichtig. Diesem Fall ähnelt ein einseitiges Rechtsgeschäft, das ebenfalls in einer Zwangslage abgeschlossen wurde und den Verpflichteten ähnlich wie bei einem Missverhältnis von Leistung und Gegenleistung „unangemessen belastet“90. Es ist die Rechtsähnlichkeit mit einer anerkannten Wertung, die den Ausschlag gibt, wobei die Gemeinsamkeit in der Anwendung des Prinzips der Verhältnismäßigkeit besteht. Die Begründung ist nicht im logischen Sinne zwingend. Sie ist aber in dem Sinne rational, als ausschließlich solche Gründe das Urteil 87
BVerfGE 89, 214. BGH NJW 1989, 1605 (1606); Adomeit, NJW 1994, 2467 f.; Medicus, Abschied von der Privatautonomie im Schuldrecht? 1994, 20 f.; Zöllner, AcP 196 (1996) 1 (9 ff.); ders., Privatrechtsgesellschaft (Fn. 2), 36 ff. 89 Vgl. schon BVerfGE 81, 242 (255 f.); zustimmend Wiedemann JZ 1994, 411 (412); H. Honsell, NJW 1994, 565 f.; Staudinger/Singer, BGB, 2004, Vorbem. zu §§ 116 –144 Rn. 11; Canaris, AcP 200 (2000) 273 (296 ff.). 90 Den Modellcharakter von § 138 Abs. 2 BGB betonen neben BVerfGE 89, 214 (234) auch Neuner (Fn. 72) 270; Canaris, AcP 200 (2000) 273 (296). 88
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tragen, die mit den Gesetzen der Dogmatik vereinbar sind: die Rechtsähnlichkeit mit einem gesetzlichen Tatbestand (§ 138), die Beachtung von grundlegenden Prinzipien (Verhältnismäßigkeit, Selbstbestimmung) und das persönliche Schutzbedürfnis der Bürgin, deren Anspruch auf ein menschenwürdiges Leben ohne lebenslange Verschuldung aus Respekt vor ihrer Menschenwürde anerkannt wurde. Als zweites Beispiel soll die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zur Kündigung des Arbeitnehmers bei geringfügigen Pflichtverletzungen dienen. Lange Zeit hat das Bundesarbeitsgericht entschieden, dass ein Arbeitnehmer bei einem Diebstahl und vergleichbaren Delikten gegen den Arbeitgeber auch dann fristlos gekündigt werden kann, wenn es sich um Sachen von geringem Wert handelt 91. Die strenge Sanktion wurde stets damit gerechtfertigt, dass mit dem Delikt das Vertrauensverhältnis zum Arbeitgeber gestört sei. Erstmals im Juni 2010 kam es zu einem Meinungsumschwung. Ausschlaggebend waren die besseren Argumente, die in einem auch in der Öffentlichkeit lebhaft geführten Diskurs sichtbar wurden. Das Vertrauensverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer muss auch unter dem Gesichtspunkt des Verhältnismäßigkeitsprinzips gewichtet werden92. Geschieht dies, kann die fristlose Kündigung wegen eines Maultaschendiebstahls ohne vorherige Abmahnung nicht „rechtens“ sein. c) Realer Diskurs und Diskursregeln Die Überzeugungskraft der Urteile beruht auf der Ausschöpfung und Vertiefung der dogmatischen Argumentation. Wenn man die Metapher von Dworkin aufgreifen will, so entspricht die größere Differenziertheit der jüngeren Urteile eher der Denk- und Argumentationsweise, die von einem Herkules erwartet wird, als die älteren Judikate, die doch recht einseitig von einem einzigen Leitgedanken beherrscht waren. Davon abgesehen stellt sich die Frage, ob es neben der Anwendung der juristischen Argumentationslehren weiterer Regeln bedarf, die von den Teilnehmern des Diskurses beachtet werden müssen. Vor allem Alexy hat im Anschluss an die Diskurstheorie von Habermas in seiner Theorie der juristischen Argumentation solche Regeln aufgestellt. Diese knüpfen an die Grundnorm vernünftiger Rede an, wonach jeder Sprecher mit seinen Äußerungen die Ansprüche auf „Verständlichkeit, Wahrhaftigkeit, Richtigkeit und Wahrheit verbindet“ 93. Daraus folge weiter, dass jeder Sprecher „das, was er be91 BAG EzA BGB n.F. § 626 Nr. 90 (Bienenstich); AP Nr. 80 zu § 626 BGB (KiwiFrüchte); Nr. 18 zu § 626 BGB Verdacht einer strafbaren Handlung (Lippenstift); umfangreiche Dokumentation der Rspr. bei Klueß NZA 2009, 337 ff.; Preis, AuR 2010, 186 ff.; der emotionalisierten Presse Bartels, RdA 2010, 109 Fn. 2. 92 BAG, NZA 2010, 1227 (Emmely); abweichend die Vorinstanz LAG Berlin NZA-RR 2009, 188; ferner Rieble, NJW 2009, 2101; Binkert, NZA 2010, 433. 93 Alexy (Fn. 44), 165 im Anschluss an Habermas, Wahrheitstheorien (Fn. 31), 137 ff.
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hauptet, auf Verlangen begründen muss, es sei denn, er kann Gründe anführen, die es rechtfertigen, eine Begründung zu verweigern“94. Aus dem Wesen der Begründung wird weiter die Notwendigkeit abgeleitet, den anderen als gleichberechtigt anzuerkennen und keinen Zwang auszuüben. Anknüpfend an den Universalitätsgrundsatz, den Kerngedanken der Konsensustheorie, dass nur Normen, die in ihrem Geltungsbereich allgemeine Zustimmung finden können, zugelassen sind 95, verlangt Alexy ferner, dass die „Folgen einer Norm für die Bedürfnisbefriedigung eines jeden Einzelnen … von allen akzeptiert werden müssen“96. Schließlich entwickelt Alexy ein differenziertes, komplexes System von Grundregeln, Vernunftregeln, Argumentationsformen, Argumentationslastregeln und Begründungsregeln für den allgemeinen praktischen Diskurs, aus denen wiederum weitere Regeln und Formen des juristischen Diskurses abgeleitet werden. Die meisten Grund- und Vernunftregeln enthalten in der Tat Mindestvoraussetzungen für einen fairen Diskurs und können – auch wenn man die Ableitung aus dem Wesen der Kommunikation skeptisch beurteilt – als Prämissen für einen rationalen juristischen Diskurs akzeptiert werden. Auch für diese Regeln gilt freilich das, was schon den Anforderungen an die ideale Sprechsituation in der Theorie von Habermas entgegengehalten wurde, dass ihre Einhaltung empirisch nicht überprüfbar und dementsprechend ungewiss ist, ob sie der Realität entsprechen. Selbst wenn man die Regeln als Vernunftideal begreift und ihre Einhaltung fiktiv unterstellt, gelingt es nicht, ohne weitere Idealisierungen aus der reinen Form Inhalte zu produzieren. Sobald man versucht, die Regeln zu konkretisieren, zeigt sich die inhaltliche Offenheit der Prämissen. Wendet man etwa die Regel, dass die Folgen einer Norm für die Bedürfnisbefriedigung eines jeden Einzelnen von allen akzeptiert werden muss, auf konkrete Konflikte im Arbeits-, Miet- oder Verbraucherrecht an, zeigt sich, dass die Anwendung des Universalitätsgrundsatzes nur scheinbar eindeutige Ergebnisse liefert. Was man dem Arbeitnehmer an Schutz gewährt, z.B. Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall oder während einer schwangerschaftsbedingten Arbeitsunfähigkeit, wird der Arbeitgeber nicht genauso als gerechte Bedürfnisbefriedigung ansehen; entsprechendes gilt für das Verhältnis von Vermieter und Mieter, von Unternehmer und Verbraucher und so weiter. Die Interessenkonflikte auf diesen Gebieten spiegeln sich dementsprechend bei Fragen der Interpretation von Rechtsnormen wieder. Als Beispiel mag hier die Auseinandersetzung um die fristlose Kündigung einer Arbeitnehmerin dienen, die Pfandbons unterschlagen hat97. Es ist
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Alexy (Fn. 44), 167. Habermas, Wahrheitstheorien (Fn. 31), 172; ders., Faktizität (Fn. 11) 138. Alexy (Fn. 44), 172. Oben Fn. 92.
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schlechterdings nicht vorstellbar, dass die fristlose Beendigung des Arbeitsverhältnisses ohne Abmahnung die Zustimmung „aller“ findet. Die einzige Forderung, die unter dem Gesichtspunkt der Rationalität unverzichtbar ist, besteht in der Transparenz des Diskurses. Ein vernünftiger Diskurs kann nur geführt werden, wenn jedes Urteil begründet wird. Nur dann ist Rationalität der Rechtsgewinnung gewährleistet. Bestimmungen des Prozessrechts, die es erlauben, dass Richter von einer Begründung absehen können98, sind daher äußerst bedenklich. Selbst wenn kein Rechtsmittel gegen eine Entscheidung möglich ist, wie bei dem Beschluss über die Nichtannahme einer Verfassungsbeschwerde gem. § 93d Abs. 1 S. 3 BVerfGG, gibt es dennoch Gründe, die für die Begründungspflicht sprechen. Wer begründen muss, wird sich aus Rücksicht auf mögliche Kritik eher um überzeugende Argumente bemühen, als derjenige, der sich nicht rechtfertigen muss. Die Begründungspflicht hat bei Verfahren, deren Legitimation vom Stattfinden eines realen Diskurses abhängt, eine unentbehrliche Kontrollfunktion99. Die Qualität der Rechtsgewinnung hängt im Übrigen von Faktoren wie der Qualifikation der beteiligten Juristen ab, von der Kompetenz und Unabhängigkeit der beteiligten Richter, Anwälte und Wissenschaftler, und von der Verfügbarkeit von Foren, auf denen solche realen Diskurse gepflegt werden. Mit diesen trivialen Schlussbetrachtungen schließt sich der Kreis: Wenn rationale Rechtsgewinnung vor allem im „realen Diskurs“ stattfindet, dann leistet der Jubilar, der seit vielen Jahren einmal im Monat die Mitglieder der Juristischen Gesellschaft zu einem solchen Diskurs einlädt, einen wichtigen Beitrag zu ihrer Verwirklichung.
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§ 93d Abs. 1 S. 3 BVerfGG; § 564 ZPO. Dazu Dreier, Irrationalismus in der Rechtswissenschaft, in: Rechtstheorie Beiheft 8, Juristische Logik, Rationalität und Irrationalität im Recht 179 ff. (186). 99
Beweisverwertungsverbote im Spannungsfeld zwischen nemo-tenetur-Grundsatz und fair-trial-Prinzip Christoph Sowada
Im Bereich des Strafprozessrechts, das im Werk meines verehrten akademischen Lehrers einen gleichberechtigten Platz neben dem materiellen Recht einnimmt,1 bilden der Begriff und die Rechtsstellung des Beschuldigten 2 sowie die Reichweite des Grundsatzes der Selbstbelastungsfreiheit (nemo tenetur se ipsum accusare) 3 thematische Schwerpunkte seiner wissenschaftlichen Arbeit. Auf diesem Gebiet ist in den letzten Jahren unter dem Eindruck der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) eine gewisse dogmatische Unsicherheit zu der Frage zu verzeichnen, unter welchen Voraussetzungen sich in Konstellationen täuschungsmotivierter selbstbelastender Äußerungen ein Beweisverwertungsverbot aus dem nemo-tenetur-Grundsatz oder dem fair-trial-Prinzip ergibt. In aktuellen, überwiegend zum Abdruck in der amtlichen Sammlung bestimmten Entscheidungen bemühen sich die Senate des Bundesgerichtshofs um den Anschluss an die dogmatischen Vorgaben der Rechtsprechung des EGMR, ohne die in der „Zweithörer-Entscheidung“ des Großen Senats für Strafsachen4 herausgearbeiteten Grundsätze preiszugeben. Im Folgenden soll zunächst diese Rechtsprechungsentwicklung in chronologischer Abfolge nachgezeichnet und anschließend der Versuch einer Systematisierung unternommen werden.
1 Vgl. nur bezüglich der Veröffentlichungen in der Ausbildungszeitschrift „Jura“ den in dieser Festschrift enthaltenen Beitrag von Satzger; s. ferner die 1979 erschienene Habilitationsschrift „Der Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren“. 2 Hierzu insbesondere Geppert FS Oehler, 1985, S. 323 ff.; ders. GS Kh. Meyer, 1990, S. 93 ff.; ders. FS Schroeder, 2006, S. 675 ff.; ders. FS Rudolphi, 2004, S. 643 ff. 3 Vgl. – insbesondere im straßenverkehrsstrafrechtlichen Kontext – Geppert DAR 1981, 303 ff.; ders. Blutalkohol 28 (1991), 31 ff.; ders. FS Spendel, 1992, S. 655 ff.; ders. Jura 1995, 439 ff.; ders. FS Lampe, 2003, S. 839, 845 f., 851 ff. 4 BGHSt 42, 139 ff.
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I. Einschlägige Entscheidungen des Bundesgerichtshofs und des EGMR 1. BGH(GS)St 42, 139 („Hörfalle“) Den Ausgangspunkt für die Betrachtung bildet der Beschluss des Großen Senats für Strafsachen zur „Zweithörer-Problematik“ aus dem Jahr 1996. Dort wurde die Aussage eines Zeugen über ein Telefongespräch, das eine einer Privatperson auf Veranlassung der Ermittlungsbehörden ohne Aufdeckung der Ermittlungsabsicht mit dem Tatverdächtigen geführt hatte, als jedenfalls dann verwertbar angesehen, wenn es um die Aufklärung einer Straftat von erheblicher Bedeutung geht und die Sachverhaltserforschung mittels anderer Ermittlungsmethoden erheblich weniger erfolgversprechend oder wesentlich erschwert gewesen wäre. Eine tragende Überlegung dieser Entscheidung ist das Bekenntnis zum sog. formellen Vernehmungsbegriff. Hiernach gehört zum Begriff der Vernehmung, dass der Vernehmende der Auskunftsperson in amtlicher Funktion gegenübertritt und in dieser Eigenschaft von ihr eine Aussage verlangt. In Übereinstimmung hiermit wird der Schutzbereich des nemo-tenetur-Grundsatzes auf die Freiheit vom Zwang zur Selbstbelastung zugeschnitten; die Freiheit von Irrtum fällt hingegen nach dieser Konzeption nicht in den Anwendungsbereich dieses Grundsatzes. Diese dogmatische Festlegung impliziert die Ablehnung des von Teilen des Schrifttums vertretenen weitergehenden, alle von einem Strafverfolgungsorgan direkt oder indirekt herbeigeführten Äußerungen umfassenden sog. materiellen bzw. funktionalen Vernehmungsbegriffs, nach welchem sich der Anwendungsbereich des nemo-tenetur-Grundsatzes auch auf den Schutz vor irrtumsbedingter Selbstbelastung erstreckt.5 2. EGMR StV 2003, 257 (Allan v. Großbritannien) Der Beschluss des Großen Strafsenats brachte zwar eine Klärung für die Rechtspraxis, aber kein Ende der Diskussion.6 Die Kritiker des Bundesgerichtshofs sahen sich in ihrem Eintreten für ein weitergehendes Verständ5 Zum Vernehmungsbegriff vgl. BGH(GS)St 42, 139, 145 f.; Beulke Strafprozessrecht, 11. Aufl. 2010, Rn. 115; Eisenberg Beweisrecht der StPO (Spezialkommentar), 6. Aufl. 2008, Rn. 636; Gleß in: Löwe/Rosenberg, Die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, Band 4, 26. Aufl. 2007, § 136 Rn. 12; Meyer-Goßner Strafprozessordnung, 53. Aufl. 2010, § 136a Rn. 4; Rogall in: Wolter (Hrsg.) Systematischer Kommentar zur Strafprozessordnung (mit GVG und EMRK), Band II, 4. Aufl. 2010, § 136 Rn. 13; Roxin NStZ 1995, 465, 466 ff.; Schäfer/Sander in: Heghmanns/Scheffler (Hrsg.), Handbuch zum Strafverfahren, 2008, Kap. II Rn. 68 ff.; Verrel Die Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren, 2001, S. 159 ff.; Weßlau ZStW 110 (1998), 1, 6 ff. (alle m.w.N.). 6 Vgl. nur Eidam Die strafprozessuale Selbstbelastungsfreiheit am Beginn des 21. Jahrhunderts, 2007, S. 59 ff. sowie die bei Meyer-Goßner (Fn. 5), § 136a Rn. 4a angegebenen Nachweise.
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nis des nemo-tenetur-Satzes durch das Urteil des EGMR im Fall Allan v. Großbritannien aus dem Jahr 2002 7 bestätigt. In dieser Entscheidung wurde festgestellt, dass der Anwendungsbereich des Schweigerechts nicht auf Fälle beschränkt sei, in denen der Beschuldigte Zwang widerstehen musste oder sein Wille in irgendeiner Weise direkt überwunden wurde. Vielmehr diene dieses zum Kernbereich eines fairen Verfahrens (Art. 6 Abs. 1 EMRK) gehörende Recht prinzipiell der Freiheit einer verdächtigten Person, zu entscheiden, ob sie in Polizeibefragungen aussagen oder schweigen will. Diese Entscheidungsfreiheit werde „effektiv unterlaufen“, wenn die Behörden gegenüber einem Beschuldigten, der sich in der Vernehmung für das Schweigen entschieden hat, eine Täuschung anwenden, um dem Beschuldigten selbstbelastende Äußerungen zu „entlocken“. Ob die Missachtung des Schweigerechts ein zur Verletzung des Art. 6 EMRK führendes Maß erreiche, hänge von den Umständen des Einzelfalles ab. Unter Hinweis auf Entscheidungen des kanadischen Supreme Courts stellte der EGMR zum einen auf die Beziehung zwischen dem Informanten und dem Staat und zum anderen auf das Verhältnis zwischen dem Informanten und dem Beschuldigten ab. So müsse der den Beschuldigten zur Äußerung veranlassende Informant als „Agent des Staates“ gehandelt haben; hierfür sei maßgeblich, ob der Wortwechsel mit dem Beschuldigten in der gleichen Art und Weise auch erfolgt wäre, wenn die Behörden nicht eingegriffen hätten. Ob die fraglichen Beweise „entlockt“ wurden, hänge von der Art der Beziehung zwischen dem Beschuldigten und dem Informanten sowie davon ab, ob sich das Gespräch zwischen beiden als „funktionales Äquivalent einer staatlichen Vernehmung“ darstelle. Bezüglich des konkret zu entscheidenden Sachverhalts bejahte der EGMR eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK. Er stellte in diesem Zusammenhang darauf ab, dass der unter Mordverdacht stehende und in Untersuchungshaft befindliche, sich durchgängig auf sein Schweigerecht berufende Beschuldigte die ihn belastenden Informationen nicht spontan und ohne äußere Veranlassung, sondern aufgrund der beharrlichen Fragen des von der Polizei instruierten Informanten preisgegeben habe. Der Gerichtshof ging davon aus, dass der unter dem direkten Druck der polizeilichen Vernehmungen zum Mordvorwurf stehende Beschuldigte für die Überzeugungsversuche des Informanten, mit dem er über mehrere Wochen die Gefängniszelle geteilt hatte, besonders empfänglich gewesen sei; deshalb sei trotz fehlender Hinweise auf einen direkten Zwang von einem die Freiwilligkeit der Offenbarungen einschränkenden psychologischen Druck sowie davon auszugehen, dass die für die Verurteilung wesentliche bzw. ent-
7 StV 2003, 257 ff. mit Anm. Gaede = JR 2004, 127 ff. mit Aufs. Esser JR 2004, 98 ff. S. auch zum Schweigerecht rechtsvergleichend sowie im Völkerstrafprozessrecht Safferling/Hartwig ZIS 2009, 784 ff.
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scheidende Information (das vom Beschuldigten freilich bestrittene Eingeständnis der Anwesenheit am Tatort) unter Missachtung des Willens des Beschuldigten erlangt wurde. 3. BGHSt 52, 11 („Mallorca“) Das nächste Glied in der Kette der einschlägigen Judikate bildet die sog. „Mallorca“-Entscheidung des 3. Strafsenats des Bundesgerichtshofs 8 aus dem Jahr 2007. Zur Aufklärung eines Tötungsdelikts war gegen den sich in anderer Sache in Strafhaft befindenden Angeklagten, der sich zu dem neuen Vorwurf auf sein Schweigerecht berufen hatte, der Einsatz eines Verdeckten Ermittlers beschlossen worden. Nach einem im Rahmen eines arrangierten Gefangenentransports hergestellten Kontakt besuchte der Verdeckte Ermittler den Angeklagten dreizehnmal und gewann als seine einzige Kontaktperson außerhalb der Justizvollzugsanstalt dessen Vertrauen. Während eines einwöchigen Hafturlaubs, den der Angeklagte in einer ihm vom Verdeckten Ermittler zur Verfügung gestellten Wohnung verbrachte, bedrängte jener in einem teils erregt geführten, heimlich abgehörten und aufgezeichneten Gespräch den Angeklagten unter Hinweis auf das zwischen ihnen bestehende Vertrauensverhältnis, wahrheitsgemäße Angaben zu machen. Im weiteren Verlauf der Unterredung räumte der Angeklagte, dem an einer Aufrechterhaltung des Kontakts gelegen war, seine Täterschaft ein und schilderte auf zahlreiche Nachfragen Einzelheiten des (allerdings beschönigend dargestellten) Tatgeschehens. Obwohl der Einsatz des Verdeckten Ermittlers grundsätzlich nicht zu beanstanden und mangels einer „Vernehmung“ auch weder gegen §§ 163a, 136 Abs. 1 StPO noch gegen §§ 163a, 136a StPO verstoßen worden sei, gelangt der Senat zur Annahme eines Beweisverwertungsverbots mit der Begründung, dass ein Verdeckter Ermittler einen Beschuldigten, der sich auf sein Schweigerecht berufen hat, nicht unter Ausnutzung eines geschaffenen Vertrauensverhältnisses beharrlich zu einer Aussage drängen und ihm in einer vernehmungsähnlichen Befragung Äußerungen zum Tatgeschehen entlocken dürfe. Dieses Verwertungsverbot sieht der Senat in dem Grundsatz verankert, dass niemand verpflichtet ist, sich selbst zu belasten. In diesem Zusammenhang konstatiert der 3. Strafsenat, dass über den Inhalt und die Reichweite des nemo-tenetur-Prinzips im Einzelnen zwischen Literatur und Rechtsprechung, aber auch innerhalb der Rechtsprechung noch keine Einigkeit bestehe. Unter Hinweis auf die Allan-Entscheidung des EGMR wirft der Senat 8 BGH, Urteil vom 26.7.2007 – 3 StR 104/07 = BGHSt 52, 11 ff. = JR 2008, 160 ff. mit Anm. Renzikowski = JZ 2008, 258 ff. mit Anm. Duttge = NJW 2007, 3138 ff. mit Anm. Meyer-Mews. Vgl. zu dem Urteil ferner Engländer ZIS 2008, 163 ff.; Mitsch Jura 2008, 211 ff.; Rogall NStZ 2008, 110 ff.; Satzger JK 1/08, StPO § 136/17.
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die Frage auf, ob an der anscheinend restriktiveren Reichweitenbestimmung des Großen Senats festgehalten werden könne. Immerhin habe auch der Große Senat aus der Nähe zum nemo-tenetur Prinzip sowie aus dem Rechtsstaatsprinzip, speziell aus dem Grundsatz des fairen Verfahrens, durch Abwägung im Einzelfall zu ermittelnde Grenzen für die vernehmungsähnliche heimliche Befragung von Tatverdächtigen anerkannt. Darüber hinaus sei in verschiedenen Sachverhalten die heimliche Befragung von Tatverdächtigen (auch ohne nähere Abwägung) als rechtsstaatlich von vornherein unzulässig angesehen worden; hierbei verweist der Senat auf Fälle, in denen einem Untersuchungshäftling ein Spitzel in die Zelle gelegt oder das gesprochene Wort verbotswidrig fixiert worden sei, ferner auf die vom Großen Senat angesprochenen Konstellationen der gezielten Anbahnung eines Liebesverhältnisses und der Befragung eines Beschuldigten, der zuvor in einer Vernehmung ausdrücklich erklärt hatte, keine Angaben zur Sache machen zu wollen. Auch für den konkret zu entscheidenden Fall stellt der Senat maßgeblich darauf ab, dass der Angeklagte zuvor gegenüber den ermittelnden Polizeibeamten (wenngleich nicht in einer förmlichen Vernehmung) von seinem Schweigerecht Gebrauch gemacht hatte. Diese Entscheidung sei „massiv verletzt“ worden, indem der Verdeckte Ermittler dem Angeklagten „durch beharrliche Fragen und unter Hinweis auf das vorgetäuschte Vertrauensverhältnis selbstbelastende Äußerungen entlockt“ habe. Angesichts dieser Intensität der Befragung stelle das Gespräch – in der Diktion des EGMR – ein funktionales Äquivalent einer staatlichen Vernehmung dar. Die Missachtung des Schweigerechts werde zudem verstärkt durch die gezielte Ausnutzung der besonderen Belastung der Haftsituation. Wenngleich die maßgebliche Befragung letztlich außerhalb der Justizvollzugsanstalt erfolgt sei, erlange die Beeinträchtigung der Entscheidungsfreiheit ein solches Gewicht, dass sie der Konstellation eines in die Zelle gelegten Polizeispitzels nahe komme. Der gravierende Eingriff in die prozessualen Rechte des Angeklagten habe ein Beweisverwertungsverbot zur Folge, das auch auf die in einer späteren polizeilichen Vernehmung gemachten Angaben fortwirke, da ein Kriminalbeamter dem Angeklagten gegenüber die diesem entlockten Äußerungen als gerichtsverwertbar bezeichnet hatte. 4. BGH NStZ 2009, 343 („Pascal“) In einem vom 4. Strafsenat entschiedenen Fall 9 war die Angeklagte wegen dreifachen Mordes verurteilt worden, weil sie ihre drei Kinder mit einem Kissen erstickt hatte. Auch hier wurde, nachdem sich die Angeklagte auf ihr Schweigerecht berufen hatte, ein Verdeckter Ermittler eingesetzt, der bei ins9 BGH, Beschluss vom 27.1.2009 – 4 StR 296/08 = NStZ 2009, 343 f. = StV 2009, 225 f. mit Anm. Bauer StV 2010, 120 f. Zu dieser Entscheidung auch Mosbacher JuS 2009, 696, 699 f.; vgl. ferner Satzger Jura 2009, 759, 767 f.
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gesamt 28 Treffen (in anderthalb Jahren) ein Vertrauensverhältnis aufbaute. Als es auch nach nahezu einem Jahr keine sich selbst belastenden Angaben der Angeklagten gab, intensivierte der Verdeckte Ermittler in Absprache mit seinem Führungsbeamten die Einwirkung u.a. durch das wahrheitswidrige Bekenntnis, er habe im Alter von ca. 20 Jahren seine Schwester getötet, was niemand sonst wisse. Bei einem späteren, heimlich aufgezeichneten Gespräch vertraute die Angeklagte dem Verdeckten Ermittler an, ihren Sohn Pascal erstickt zu haben. In dieser Beweisgewinnung sah der 4. Strafsenat einen Verstoß gegen den Grundsatz, dass niemand verpflichtet ist, sich selbst zu belasten. Zwar seien die von einem Verdeckten Ermittler gewonnenen Erkenntnisse grundsätzlich verwertbar, doch dürfe er „einen Beschuldigten, der sich auf sein Schweigerecht berufen hat, nicht unter Ausnutzung eines geschaffenen Vertrauensverhältnisses beharrlich zu einer Aussage drängen und ihm in einer vernehmungsähnlichen Befragung Äußerungen zum Tatgeschehen entlocken“. Im Ergebnis blieb die Revision dennoch ohne Erfolg, da das Urteil nicht auf der unzulässigen Verwertung der (in späteren Vernehmungen wiederholten) Angaben beruht habe. 5. EGMR NJW 2010, 213 (Bykov v. Russland) Wenige Wochen später erging ein weiteres einschlägiges Urteil des EGMR. Im Fall Bykov v. Russland10 war der Beschwerdeführer verdächtig, die Tötung seines früheren Geschäftspartners in Auftrag gegeben zu haben. Der Angeworbene hatte die Tat jedoch nicht ausgeführt, sondern sich an den Geheimdienst gewandt. Im Rahmen des daraufhin eingeleiteten Ermittlungsverfahrens erweckte die Polizei u.a. durch Medienberichte über das vermeintliche Auffinden der Leiche des mutmaßlichen Opfers wahrheitswidrig den Eindruck, die in Auftrag gegebene Tötung sei ausgeführt worden. Anschließend suchte der Angeheuerte auf staatliche Veranlassung den Beschwerdeführer in seinem Gästehaus auf, um ihm bei einem aufgezeichneten Gespräch mehrere belastende Gegenstände zum Nachweis der von ihm angeblich ausgeführten Tat zu übergeben. In der Urteilsbegründung weist der EGMR in Abgrenzung zur Allan-Entscheidung darauf hin, dass vorliegend auf den nicht inhaftierten Beschwerdeführer in keiner Weise Druck ausgeübt worden sei, dieser vielmehr das ihn belastende Gespräch freiwillig geführt hatte. Deshalb sei Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht verletzt.
10 NJW 2010, 213 ff. = JR 2009, 514 ff. (mit Grundlinien der Sondervoten); zu diesem Urteil Gaede JR 2009, 493 ff.
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6. BGHSt 55, 138 („Lichtbildvorlage“) Die aktuellste in die Betrachtung einzubeziehende Entscheidung11 stammt vom 5. Strafsenat.12 Dort befand sich der Angeklagte wegen versuchter Anstiftung zur Ermordung seiner Ehefrau in Strafhaft, wo er die Bekanntschaft eines Mitgefangenen machte, der sich ihm gegenüber wahrheitswidrig (u.a.) seiner Mitgliedschaft in einer Rockerbande berühmte. Im Rahmen der Verhandlungen über den Kauf eines Männerwohnheims bot der Mithäftling dem Angeklagten an, gegen einen Preisnachlass von 150.000 € die Ehefrau des Angeklagten durch einen von „seinen Leuten“ außerhalb der Haftanstalt fingierten Autounfall töten zu lassen. Der Angeklagte nahm dieses Angebot an und benannte das Kennzeichen des von seiner Ehefrau gefahrenen Autos, wobei er sich aber bezüglich der Buchstabenkombination nicht sicher war. Nachdem sich der Mitgefangene zur Zusammenarbeit mit der Polizei entschlossen hatte, wurde er am Tag vor der Verlegung des Angeklagten in eine andere Anstalt für einen Hofgang mit einem Aufzeichnungsgerät ausgestattet. Auf die Bemühungen, den Tötungsauftrag bestätigt zu bekommen, reagierte der Angeklagte misstrauisch; er erklärte lediglich, es bleibe alles wie besprochen. Zur Verbesserung der Beweislage arrangierte die Polizei den Besuch eines bislang nicht in die Ermittlungen eingebundenen Polizeibeamten, der aufgrund seines äußeren Erscheinungsbildes glaubhaft als Rocker auftreten konnte und dem Angeklagten im Besucherraum der JVA erklärte, er sei von dem früheren Mithäftling geschickt worden, weil es wegen der Autokennzeichen Probleme mit der Identifizierung der Ehefrau gebe. In diesem 11 Nachfolgend ausgeklammert bleiben soll das Urteil des 1. Strafsenats vom 29.4. 2009 – 1 StR 701/08 = BGHSt 53, 294 ff. = JZ 2009, 1175 ff. mit Anm. Engländer. Zu diesem Urteil vgl. ferner Geppert JK 1/10, StPO § 100f/1a und 1b; Hauck NStZ 2010, 17 ff.; HeintschelHeinegg JA 2009, 742 ff.; Jahn JuS 2009, 861 ff.; Rogall HRRS 2010, 289 ff.; Zuck JR 2010, 17 ff. In jenem Fall ging es um die heimliche Überwachung eines Gesprächs, das der in U-Haft befindliche marokkanische Beschuldigte mit seiner Ehefrau geführt hat, wobei hierfür abweichend von der allgemeinen Praxis stets ein seperater Raum zur Verfügung gestellt wurde und zu keiner Zeit ein Vollzugsbediensteter zur Gesprächsüberwachung anwesend war. Zwar sollte der Beschuldigte durch diese Maßnahmen zu selbstbelastenden Äußerungen gegenüber seiner Ehefrau veranlasst werden (Tatvorwurf war die Tötung einer anderen Frau, zu der der Beschuldigte eine intime Beziehung unterhalten hatte), doch handelt es sich hierbei nicht um einen nemo-tenetur-Fall (ebenso Engländer JZ 2009, 1179; Geppert a.a.O. zu 4b; Hauck a.a.O. S. 22; Jahn a.a.O. S. 862; vgl. auch BVerfGE 109, 279, 324), da die Ermittlungsbehörden auf den Inhalt und Ablauf des Gesprächs keinen steuernden Einfluss nehmen konnten. Der 1. Strafsenat bejaht ein Verwertungsverbot wegen der Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren (a.a.O. Rn. 14, 32 ff., 37, 40); allerdings wird (a.a.O. Rn. 49) die Einwirkung auf das Vorstellungsbild des Angeklagten als vor dem Hintergrund des nemo-tenetur-Grundsatzes „bedenklich“ bezeichnet. Für eine Anbindung an das nemo-tenetur-Prinzip Zuck a.a.O. S. 22. 12 BGH, Beschluss vom 18.5.2010 – 5 StR 51/10 = BGHSt 55, 138 ff. = NStZ 2010, 527 ff. = StV 2010, 465 ff. Zu dieser Entscheidung Jahn JuS 2010, 832 ff.; Kretschmer HRRS 2010, 343 ff.
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Zusammenhang legte der Beamte dem Angeklagten zwei Fotos vor, wobei auf einem die Ehefrau des Angeklagten in ihrem Pkw sitzend und auf dem anderen eine Frau vergleichbaren Alters in einem bauähnlichen Fahrzeug zu sehen war. Als der Angeklagte hierauf erkennbar ausweichend reagierte, erklärte der Polizeibeamte, dass vor den Häusern der beiden abgebildeten Frauen seine Männer ständen. Auf die Aufforderung, seine Frau anhand körperlicher Merkmale wie z.B. der Haarlänge zu beschreiben, zeigte der Angeklagte mit seiner Hand in Schulterhöhe. Als der Beamte erklärte, dass „notfalls“ auch beide Frauen „weggemacht“ werden könnten, sagte der Angeklagte aufgebracht, dass das Ganze abgebrochen würde, wenn Unschuldige reingezogen würden. Auf die Frage, ob es denn richtig sei, dass sie seine Frau „wegmachen“ sollten, nickte der Angeklagte. Bei dem der Identifizierung des Tatopfers dienenden Gespräch handelt es sich nach Ansicht des Senats um ein unter Zwangseinwirkung ablaufendes verdecktes Verhör eines inhaftierten Beschuldigten durch einen als Besucher getarnten nicht öffentlich ermittelnden Polizeibeamten. Diese mit dem Ziel, den noch nicht förmlich vernommenen Beschuldigten zu einer selbstbelastenden Äußerung zu veranlassen, vorgenommene Ermittlungsmaßnahme sei in ihrer konkreten Ausgestaltung rechtswidrig gewesen mit der Folge, dass die diesbezüglich vom Zeugen bekundeten selbstbelastenden Äußerungen nicht hätten verwertet werden dürfen. Zwar machten weder das Fehlen eines Zugangsrechts zu dem Angeklagten noch das als kriminalistische List zu beurteilende Verschweigen des Umstands, dass der Besucher nicht als Privatmann gekommen ist, die Unterredung rechtswidrig. Weil § 136 Abs. 1 S. 2 StPO nur auf „offene“ Vernehmungen anwendbar sei, scheide auch eine direkte oder entsprechende Anwendung dieser Vorschrift aus. Hingegen äußert der Senat Zweifel, ob die Generalklausel aus §§ 161 Abs. 1, 163 Abs. 1 S. 2 StPO eine hinreichende Ermächtigungsgrundlage für ein verdecktes Verhör bietet. Letztlich bedürfe es insoweit aber keiner abschließenden Entscheidung, da selbst einem Verdeckten Ermittler ein verdecktes Verhör in der hier vorliegenden Form nicht gestattet gewesen wäre. Die rechtliche Grundlage des Verwertungsverbots sieht der Senat in ausdrücklicher Anlehnung an Äußerungen des 3. und 4. Strafsenats im „Recht des Angeklagten auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 6 Abs. 1 MRK) unter besonderer Berücksichtigung des Grundsatzes, dass niemand verpflichtet ist, zu seiner eigenen Überführung beizutragen, insbesondere sich selbst zu belasten (nemo tenetur se ipsum accusare)“. Wecke bereits die Ausnutzung der belastenden Haftsituation Bedenken, so führten zusätzliche Umstände zur Bewertung als unfaire Vernachlässigung der zu achtenden Selbstbelastungsfreiheit. Verdeckte Ermittler seien zwar zur Entgegennahme und Weiterleitung selbstbelastender Äußerungen berechtigt, doch erstrecke sich ihre Befugnis nicht darauf, den Beschuldigten zu selbstbelastenden Äußerungen zu drängen. Die Anwendung von Zwang sei im Einklang sowohl mit
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der Auffassung des Großen Senats für Strafsachen als auch der Rechtsprechung des EGMR als Verletzung des Kernbereichs der Selbstbelastungsfreiheit anzusehen. In einen solchen Aussagezwang sei der Angeklagte dadurch versetzt worden, dass ihm durch die Vorlage der Fotos und den Hinweis, „notfalls“ beide Frauen von bereitstehenden Komplizen töten zu lassen, die Benennung des Tatopfers in einer als Nötigung gemäß § 240 Abs. 1 StGB zu qualifizierenden Weise abverlangt wurde. Ein zusätzliches Indiz für polizeiinterne Bedenken sieht der Senat in dem Umstand, dass – anders als beim Hofgang mit dem Mithäftling – eine richterliche Anordnung gemäß § 100f StPO bezüglich der beweissichernden Überwachung des Besuchsgesprächs nicht eingeholt wurde. Der durch den Aussagezwang begründete gravierende Eingriff in den Kernbereich der Selbstbelastungsfreiheit könne nur durch die Nichtverwertung des Beweismittels geheilt werden.
II. Zur Reichweite des nemo-tenetur-Grundsatzes Die vorstehend referierten Entscheidungen des Bundesgerichtshofs stimmen darin überein, dass sie im Ergebnis ein Beweisverwertungsverbot bejahen. Insoweit haben sie im Schrifttum weitgehend Zustimmung erfahren.13 Das mit diesem Beitrag verfolgte Anliegen ist weniger darauf gerichtet, die jeweilige Einzelbeurteilung einer kritischen Überprüfung zu unterziehen. Vielmehr soll aus einer einzelfallübergreifenden Blickrichtung eine Zwischenbilanz der aktuellen höchstrichterlichen Rechtsprechung zur systematischen Einordnung und zur Reichweite des nemo-tenetur-Grundsatzes versucht werden. 1. Die Einbeziehung von Irrtumskonstellationen Die Selbstbelastungsfreiheit ist auf unterschiedlichen Ebenen in die Rechtsordnung eingebunden.14 Abgesehen von der gesetzlichen Normierung in Art. 14 III lit. g) des Internationalen Pakts vom 19.12.1966 über bürgerliche und politische Rechte (IPbürgR) hat der nemo-tenetur-Grundsatz in mehreren Vorschriften der Strafprozessordnung (insbesondere in den §§ 55, 136 Abs. 1 S. 2, 136a Abs. 1 und 3, 163a Abs. 3 und 243 Abs. 4 S. 1 StPO) seinen Niederschlag gefunden. Als Grundprinzip eines rechtsstaatlichen Strafver13
Kritisch zu BGHSt 52, 11 ff. aber Mitsch Jura 2008, 211, 214 f.; s. auch ders. NJW 2008, 2295, 2299 f. 14 Vgl. zum Folgenden BGHSt 52, 11, 17 (Rn. 20); Kühne in: Löwe/Rosenberg, Die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, Band 1, 26. Aufl. 2006, Einl. Abschn. J Rn. 87; Meyer-Goßner (Fn. 5), Einl. Rn. 29a sowie ausführlich Rogall Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst, 1977, S. 104 ff.; ders. in SK-StPO (Fn. 5), vor § 133 Rn. 130 ff.
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fahrens gehört der nemo-tenetur-Grundsatz zum Kernbereich des von Art. 6 EMRK garantierten Rechts auf ein faires Verfahren. Zugleich ist er als Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips im Gefüge des Grundgesetzes verankert; eine weitere verfassungsrechtliche Absicherung wird im Grundrecht auf Achtung der Menschenwürde und der freien Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 1 und 2 Abs. 1 GG) gesehen.15 Die einzelnen normativen Anbindungen unterscheiden sich nicht nur hinsichtlich ihrer normativen Ranghöhe, sondern auch bezüglich des Grades der Bestimmtheit der jeweiligen Regelungen. Methodisch zutreffend prüft der Bundesgerichtshof die Rechtmäßigkeit des Verfahrens zunächst anhand der aus den Normen des einfachen Strafprozessrechts resultierenden Maßstäbe, bevor gegebenenfalls der weitläufigere Fairnessgedanke als Beurteilungsgrundlage herangezogen wird.16 Dieser methodische Vorrang der bestimmteren Verfahrensnorm gilt nicht nur im Hinblick auf die den nemo-tenetur-Grundsatz ausfüllenden Vorschriften.17 Für die hier interessierende, die Einzelentscheidungen übergreifende Fragestellung müssen die jeweils außerhalb des nemo-tenetur-Kontextes stehenden einschlägigen Verfahrensvorschriften jedoch außer Betracht bleiben. Das gilt auch bezüglich der Frage, ob jenseits der §§ 110a ff. StPO eine hinreichende Rechtsgrundlage für die Tätigkeit eines verdeckten Befragers besteht.18 Der unterschiedliche Status der dem Beschuldigten gegenübertretenden Person betrifft die V-Mann-Problematik; für die vorliegende Betrachtung soll davon ausgegangen werden, dass der Einsatz der betreffenden Person als solcher rechtlich einwandfrei ist und dass sich hinsichtlich der Fragen von Belehrungspflichten und Täuschungsverboten keine statusbezogenen Unterschiede ergeben.19
15 Zur verfassungsrechtlichen Ableitung vgl. auch Böse GA 2002, 98 ff. (für eine Anbindung an Art. 103 Abs. 1 GG) sowie Schneider Grund und Grenzen des strafrechtlichen Selbstbegünstigungsprinzips, 1991, S. 37 ff. (hierzu auch Rogall StV 1996, 63, 64). Kritisch gegenüber einer verfassungsrechtlichen Überbetonung Eidam (Fn. 6), S. 366 f.; Verrel NStZ 1997, 361, 364 f. 16 Vgl. LR/Kühne (Fn. 14), Einl. Abschn. I Rn. 114; Meyer-Goßner (Fn. 5), Einl. Rn. 19; Rogall NStZ 2008, 110, 111. 17 So untersucht der 1. Strafsenat in BGHSt 53, 294, 299 ff. zunächst die Vereinbarkeit der akustischen Überwachung des Ehegattengesprächs mit § 100f StPO; hierbei wird in einem obiter dictum auch die Frage der entsprechenden Anwendung der in §§ 100c und 100a StPO enthaltenen Kernbereichsregelungen erörtert (krit. hierzu Rogall HRRS 2010, 289 ff.). 18 Vgl. hierzu bezüglich eines nicht offen ermittelnden Polizeibeamten BGH NStZ 2010, 527, 528 (Rn. 17 ff.); s. auch bereits BGHSt 42, 139, 155 f. Zum Problem einer fehlenden gesetzlichen Regelung des Einsatzes von V-Personen vgl. Duttge JZ 1999, 556 ff.; MeyerGoßner/Cierniak (Fn. 5), § 110a Rn. 4a; Rogall NStZ 2000, 490, 492 f. 19 Vgl. hierzu auch Reiche Das Täuschungsverbot des § 136a StPO – ein objektiv-überindividueller Bestandteil des Beweisrechts, Diss. Kiel 1999, S. 129 f.; Verrel (Fn. 5), S. 165 ff.; s. auch BGHSt 52, 11, 21 (Rn. 31); BGH NStZ 2010, 527, 528 (Rn. 21); Jahn JuS 2010, 832, 833; Kretschmer HRRS 2010, 343, 344; Meyer-Mews NJW 2007, 3142, 3143.
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Auf der Skala möglicher Anknüpfungspunkte verortet die neue Linie der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs die Fälle staatlich veranlasster irrtumsbedingter selbstbelastender Äußerungen beim nemo-tenetur-Prinzip. Hierin liegt durchaus eine dogmatische Neuorientierung, hatte doch der Große Senat in der Hörfallen-Entscheidung noch ausdrücklich festgestellt, dass die Freiheit von Irrtum nicht in den Anwendungsbereich des nemotenetur-Grundsatzes falle.20 Freilich war schon dort ausgesprochen worden, dass bei wertender Betrachtung in Fällen, deren Schwerpunkt nicht in einem Zwang, sondern in der Heimlichkeit der Ausforschung liege, das Vorgehen einem Verstoß gegen den nemo-tenetur-Grundsatz „nahekommen“ könne.21 Über diesen Ausgangspunkt ist zunächst der 3. Strafsenat hinausgegangen, indem er unter den Umständen des konkreten Falles und mit Blick auf die Rechtsprechung des EGMR einen Verstoß gegen den nemo-tenetur-Grundsatz bejaht hat.22 Andere Senate haben diese Ausweitung des Schutzbereichs des nemo-tenetur-Grundsatzes zumindest in der Sache übernommen.23 Damit hat der Bundesgerichtshof eine auf mittlerer Abstraktionshöhe angesiedelte Schnittstelle gewählt. Dies wird deutlich, wenn man bedenkt, dass die hier einbezogenen Irrtumskonstellationen einerseits nicht schon auf der einfachgesetzlichen Ebene der §§ 136 und 136a StPO, andererseits aber auch nicht erst im abstrakteren Kontext des allgemeinen fair-trialPrinzips Bedeutung erlangen. Dabei fehlte es nicht an Stimmen im Schrifttum, die sich als Folge der Allan-Entscheidung des EGMR eine Hinwendung der Rechtsprechung zum funktionellen Vernehmungsbegriff und eine prinzipielle Unzulässigkeit strafprozessualer Hörfallen erhofften.24 Umgekehrt wurde die Erstreckung des nemo-tenetur-Grundsatzes auf Irrtumskonstellationen als „Kotau vor dem EGMR“ kritisiert 25 und damit in der Sache ein Festhalten an einem engen Verständnis von nemo tenetur gefordert.
20 BGHSt 42, 139, 153. Zum Regelungsumfang des nemo-tenetur-Prinzips vgl. auch Groth Unbewusste Äußerungen und das Verbot des Selbstbelastungszwangs, 2003, S. 65 ff.; Schneider (Fn. 15), S. 28 ff.; Verrel (Fn. 5), S. 105 ff., 146 ff. 21 A.a.O. S. 156. 22 BGHSt 52, 11, 16 ff. (Rn. 19, 23, 27 ff.). 23 Vgl. BGH (4. StS) NStZ 2009, 343, 344; ferner (5. StS) BGHSt 55, 138, 144 (Rn. 21); s. auch (1. StS) BGHSt 53, 294, 309 (Rn. 49). 24 Eidam (Fn. 6), S. 65 ff., 71 ff.; Meyer-Mews NJW 2007, 3142 f.; Roxin NStZ-Sonderheft Miebach 2009, 41 ff.; s. auch dens. in dieser Festschrift (zu II.1). Vgl. ferner die Einschätzung von G. Schäfer (FS Widmaier, 2008, S. 15, 28), dass die Entscheidung des Großen Senats zur Hörfalle durch das Allan-Urteil überholt sein dürfte. 25 Rogall NStZ 2008, 110, 112. Vgl. ferner dens. HRRS 2010, 289, 291, 295.
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2. Zweispurigkeit bezüglich der Beweisverbote Die Frage, ob sich aus der Neustrukturierung auch praktische Konsequenzen ergeben, stellt sich vor allem im Hinblick auf die Beweisverwertungsverbote. Seit dem im Jahre 1992 vollzogenen Rechtsprechungswandel 26 ist anerkannt, dass die Verletzung der in § 136 Abs. 1 S. 2 StPO statuierten Belehrungspflicht grundsätzlich ein Verwertungsverbot zur Folge hat, das wegen der grundlegenden Bedeutung dieser Verfahrensvorschrift für die Sicherung der Stellung des Beschuldigten im Strafverfahren nicht von einer einzelfallbezogenen Abwägung abhängt. Einen anderen Weg ist demgegenüber der Große Senat in seiner Hörfallen-Entscheidung gegangen: Das Verhalten der Ermittlungsbehörden verletze zwar nicht den nemo-tenetur-Grundsatz (da dieser nicht die Irrtumsfreiheit umfasse), es komme aber einem Verstoß gegen dieses Prinzip nahe mit der Folge, dass unter Abwägung der sich aus der Nähe zu diesem Grundsatz (einschließlich der Ausstrahlung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, dem Rechtsstaatsprinzip und dem hieraus hervorgehenden Grundsatz des fairen Verfahrens) ergebenden Bedenken mit der ebenfalls verfassungsrechtlich abgesicherten Pflicht zur effektiven Strafverfolgung über das Eingreifen eines Verwertungsverbots zu befinden sei.27 Hierbei sei die heimliche Befragung zu dem Zweck, den Beschuldigten zu selbstbelastenden Äußerungen zu veranlassen, jedenfalls dann zulässig, wenn es sich um eine Straftat von erheblicher Bedeutung handelt und der Einsatz anderer Ermittlungsmethoden erheblich weniger erfolgversprechend oder wesentlich erschwert wäre. Zugespitzt formuliert kann man den nemo-tenetur-Grundsatz (in seiner herkömmlichen, engen Interpretation) als „abwägungsfest“ 28 bezeichnen, während die Ableitung eines Beweisverwertungsverbots aus dem fair-trial-Grundsatz regelmäßig nur unter Berücksichtigung aller fallrelevanten Umstände in Betracht kommen wird. Das folgt bereits daraus, dass die Fairnesserwägungen grundsätzlich vom Gesetzgeber zu berücksichtigen und vom Rechtsanwender vornehmlich bei der Auslegung einschlägiger Verfahrensnormen zur Geltung zu bringen sind. Dass Ermittlungshandlungen, die für sich betrachtet mit den strafprozessualen gesetzlichen Vorgaben in Einklang stehen, gleichwohl zur Unverwertbarkeit der auf diese Weise gewonnenen Beweise führen, stellt deshalb die besonderer Begründung bedürfende Ausnahme dar.29 Überdies bezeichnet der Begriff der „(Un-)Fairness“ das Ergebnis einer Wertung, ohne selbst subsumierbare Maßstäbe zur Verfügung zu stellen. 26
BGHSt 38, 214, 220 ff. BGHSt 42, 139, 152 f., 156 f. 28 Böse GA 2002, 98. S. auch Rogall NStZ 2008, 110, 112. 29 BVerfGE 57, 250, 275 f.; BVerfG (2. Kammer des Zweiten Senats) NJW 2010, 287 f.; vgl. auch BGHSt 40, 211, 217 f.; Geppert Jura 1992, 597, 599; Jahn JuS 2009, 861, 862; Sternberg-Lieben JZ 1995, 844, 848. Kritisch zu einem „richterrechtlichen ‚Durchgriff‘ auf verfassungsrechtliche Generalklauseln“ Duttge JZ 2008, 261, 263. 27
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Gilt einerseits das nemo-tenetur-Prinzip in seinem „traditionellen“ Bereich (Schutz vor Selbstbelastungszwang in offenen Vernehmungen) als abwägungsfest, andererseits das fair-trial-Prinzip im Hinblick auf etwaige Verwertungsverbote als abwägungsoffen, so stellt sich die Frage, welchem Modus der Bereich der staatlich veranlassten irrtumsbedingten Selbstbelastung unterworfen werden soll. In den referierten Entscheidungen wird (erst) durch die Kumulation von Umständen, die dem Fall ein besonderes Gepräge verleihen, die mit Blick auf die Selbstbelastungsfreiheit gezogene Relevanzschwelle als überschritten angesehen.30 Es ist also festzuhalten, dass auch nach der Einbeziehung des Irrtumssektors in den Anwendungsbereich des nemo-tenetur-Grundsatzes keineswegs jede staatlich hervorgerufene oder ausgenutzte Fehlvorstellung des Beschuldigten automatisch ein Beweisverwertungsverbot nach sich zieht. Insofern hat sich gegenüber der früheren Rechtsprechung nichts Grundlegendes geändert:31 Nach wie vor kann das Verhalten Verdeckter Ermittler dann, wenn es die Aussagefreiheit des Beschuldigten in massiver Weise beeinträchtigt, zur Unverwertbarkeit der selbstbelastenden Angaben führen. Man wird ferner annehmen dürfen, dass die neuen Fälle auch mit dem dogmatischen Instrumentarium des Großen Senats genauso entschieden worden wären. Allerdings ist der „Aufhänger“ für dieses Verwertungsverbot nicht mehr das Rechtsstaatsprinzip mit dem Gedanken des fairen Verfahrens, sondern unmittelbar der nemo-tenetur-Grundsatz bzw. das Recht auf ein faires Verfahren unter besonderer Berücksichtigung des Prinzips der Selbstbelastungsfreiheit. Pointiert gesagt: Aus dem „Beinahe-Verstoß“ im Sinne der Hörfallen-Entscheidung ist unter weitgehend gleichen Überlegungen ein „echter“ Verstoß gegen den nemo-tenetur-Grundsatz geworden. Gerade in dieser Beobachtung, dass im Wesentlichen alles beim Alten geblieben ist, liegt möglicherweise die oben (zu II.1 a.E.) konstatierte, aus gegenläufiger Richtung kommende Unzufriedenheit: Manchem erscheint die Umsetzung der mit dem Allan-Urteil angestoßenen Neuorientierung unzureichend; ein anderer mag entgegenhalten, dafür hätte man den hergebrachten Schutzbereich des nemo-tenetur-Grundsatzes nicht sprengen sollen. 3. Zur Vereinbarkeit mit den Straßburger Vorgaben Zwar hätte der Bundesgerichtshof die Allan-Entscheidung des EGMR zum Anlass nehmen können, der Ermittlungstätigkeit von Verdeckten Ermittlern durch eine weitergehende Intensivierung des nemo-tenetur-Grund30 Mitsch Jura 2008, 211, 213 (zu BGHSt 52, 11 ff.); s. auch Mosbacher JuS 2009, 696, 700 (zu BGH NStZ 2009, 343 f.). Auf eine „Gesamtschau der Umstände“ (im Rahmen des Rechts auf ein faires Verfahren) abstellend auch BGHSt 53, 294, 304 (Rn. 32 f.). 31 So mahnt denn auch Renzikowski (JR 2008, 164, 165), zu lauter Jubel auf Verteidigerseite sei verfrüht.
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satzes, insbesondere durch ein Umschwenken auf einen extensiven Vernehmungsbegriff, engere Grenzen zu ziehen, als dies der Große Senat vorgezeichnet hatte. Man wird aber nicht sagen können, dass ein so tiefgreifender Rechtsprechungswandel erzwungen wäre. Hiergegen spricht bereits, dass die Rechtsprechung des EGMR generell die Frage von Verwertungsverboten der Beurteilung durch die nationalen Gerichte überlässt und zudem die Selbstbelastungsfreiheit zwar zum Kernbestand des fair-trial-Grundsatzes zählt, dieses Prinzip aber nur dahingehend kontrolliert, dass das Verfahren in seiner Gesamtheit als fair erscheint.32 Ferner hat der EGMR ausgesprochen, dass das Recht auf ein faires Verfahren nach Art. 6 EMRK zwar keine Ausnahme zulasse, es aber doch von den jeweiligen Umständen des Falles abhänge, ob das Verfahren als fair anzusehen sei. Vor allem macht die Bykov-Entscheidung deutlich, dass es dem EGMR offensichtlich nicht darum geht, jegliche staatlich veranlasste Irreführung als eine das nemo-tenetur-Prinzip verletzende Missachtung einer weit verstandenen Aussagefreiheit anzusehen.33 Die Einbeziehung des Irrtums in den Anwendungsbereich des nemo-tenetur-Grundsatzes gibt die Ausrichtung auf einen besonderen psychischen Zwang oder Druck nicht auf.34 Diesem Maßstab genügen die nach dem Allan-Urteil ergangenen Entscheidungen des Bundesgerichtshofs (dies freilich im Ergebnis schon deshalb, weil sie durchweg zur Bejahung eines Verwertungsverbots gelangten) – ebenso wie umgekehrt die der Allan-Entscheidung zugrunde liegende Konstellation des sog. Kammeragenten vom Bundesgerichtshof 35 ohne Rückgriff auf das nemo-tenetur-Prinzip (durch entsprechende Anwendung des § 136a StPO) mit einem Verwertungsverbot belegt worden war.36 32
EGMR (Schenk v. Schweiz) NJW 1989, 654, 655 f.; Allan v. Großbritannien) StV 2003, 257, 258 (Rn. 42); (Jalloh v. Deutschland) NJW 2006, 3117, 3122; (Bykov v. Russland) NJW 2010, 213, 215; Hauck NStZ 2010, 17, 21 f.; Meyer-Goßner (Fn. 5), Art. 6 MRK Rn. 4; Nack NStZ-Sonderheft Miebach 2009, 46, 50; s. auch krit. Esser Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, 2002, S. 182 ff.; ferner (bezüglich Art. 6 III lit. d EMRK) Dehne-Niemann HRRS 2010, 189, 192 ff. 33 S. oben I.5. Pointiert stellt Hauck (NStZ 2010, 17, 21) fest: „Die Gleichung: Irreführung = Unfreiwilligkeit ist also (vorerst) aufgehoben.“ Vgl. ferner (zum Zwang) EGMR (O’Halloran u. Francis v. Vereinigtes Königreich) NJW 2008, 3549, 3552. 34 Gaede JR 2009, 493, 497; Paeffgen in: Systematischer Kommentar zur StPO, Loseblattausgabe, Stand: 35. Aufbau-Lieferung (Januar 2004), Art 6 EMRK Rn. 85 f. (jeweils a.E.); Rogall NStZ 2008, 110, 112; s. auch Engländer ZIS 2008, 163, 165 (Fn. 16) sowie bedauernd Kretschmer HRRS 2010, 343, 345. 35 BGHSt 34, 362 ff. = JR 1988, 426 f. mit Anm. Seebode = JZ 1987, 936 f. mit Anm. Fezer = NStZ 1989, 33 f. mit Anm. Wagner. Zu dieser Entscheidung auch Geppert JK 87, StPO § 136a/3; Grünwald StV 1987, 470 ff.; Kramer Jura 1988, 520 ff.; Neuhaus NJW 1990, 1221 f.; Schneider NStZ 2001, 8, 9 f. Für eine Verwertbarkeit im angegebenen Fall jedoch Lesch GA 2000, 355 ff. Vgl. ferner als Vorinstanz LG Hannover StV 1986, 521 f. 36 Nach Ansicht von Rogall (HRRS 2010, 289, 291) reicht das Allan-Urteil des EGMR in der Sache über den deutschen Zellengenossen-Fall nicht hinaus. Vgl. auch Esser JR 2004, 98, 107.
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Unterschreitet der neue Kurs des Bundesgerichtshofs nicht die Straßburger Vorgaben, so bringt die Angleichung der Schutzbereiche zwischen dem nationalen und dem europäischen nemo-tenetur-Verständnis gewisse dogmatische Vorteile. Übereinstimmende Grundstrukturen verringern die Gefahr einer kollidierenden Rechtsentwicklung. Zugleich wird die methodisch äußerst zweifelhafte Konstruktion eines „Beinahe-Verstoßes“37 gegen den nemo-tenetur-Grundsatz entbehrlich (oder in ihrer Bedeutung doch stark zurückgedrängt).38 Auch das Nebeneinander von einem abwägungsfesten (bezüglich der Belehrungsverstöße) und einem abwägungsoffenen Bereich (hinsichtlich der verdeckt geführten Ermittlungen) begründet keinen durchschlagenden Einwand gegen die Erstreckung des nemo-tenetur-Grundsatzes auf bestimmte Irrtumskonstellationen. Denn es erscheint durchaus eine Abstufung dahingehend vorstellbar, dass der „traditionelle“, auf den Schutz vor staatlich-autoritativer Selbstbelastung gerichtete Kernbereich stärker im Schutz der Menschenwürde wurzelt 39 und somit zu den unverfügbaren Rechtspositionen des Beschuldigten gehört, während der Schutz vor staatlich veranlasster irrtümlicher Selbstbelastung den Randbereich (oder doch eine zweite eigenständige Wurzel) bildet, dessen Gehalt sich (allein) nach den Maßstäben eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens (insbesondere dem Fairnessgedanken) bemisst und damit Verhältnismäßigkeitserwägungen zugänglich ist.40 Mit dieser divergierenden verfassungsrechtlichen Verortung der beiden Schutzrichtungen des nemo-tenetur-Grundsatzes geht ein unterschiedliches Maß an Bewertungssicherheit einher, die ihren Ausdruck nicht zuletzt darin gefunden hat, dass der Gesetzgeber auf der einfachgesetzlichen Ebene zwar in § 136 Abs. 1 S. 2 StPO eine generelle Belehrungspflicht zur Absicherung des Rechtsstatus des Beschuldigten normiert hat, zu einer entsprechend eindeutigen Vorgabe im Bereich des Schutzes vor irrtümlicher Selbstbe-
37 Zur Kritik vgl. u.a. Eidam (Fn. 6), S. 100 ff.; Engländer ZIS 2008, 163, 164 f; Verrel (Fn. 5), S. 155 ff. 38 Reichlich kryptisch ist die in BGHSt 53, 294, 306 (Rn. 39) anlässlich eines fair-trial-, nicht jedoch eines nemo-tenetur-Falles (s. oben Fn. 11) getroffene Aussage, es seien „gleich mehrere [im Einzelnen nicht genannte, C. S.] unverzichtbare rechtsstaatliche Grundsätze tangiert …, und das nicht nur am Rande“. Zu Recht kritisch insoweit Engländer JZ 2009, 1179 und Roxin in dieser Festschrift (zu II.1). 39 BVerfGE 56, 37, 49; SK-StPO/Rogall (Fn. 5), vor § 133 Rn. 132. 40 Vgl. zu derartigen Abstufungen (bereits vor dem Allan-Urteil des EGMR) Eschelbach StV 2000, 390, 396 (mit Fn. 134); Renzikowski JZ 1997, 710, 714; Schlüchter/Radbruch NStZ 1995, 354, 355; s. auch Kühl StV 1986, 187, 190 f. In diesem Zusammenhang lässt sich auch darauf verweisen, dass ein prozedurales Verständnis der Selbstbelastungsfreiheit als Justizgrundrecht gegenüber einer Ausdehnung auf den Schutz vor Täuschung „tendenziell aufgeschlossener“ ist als eine menschenwürdeorientierte Deutung (so Renzikowski JR 2008, 164, 166 f.). Vgl. ferner Meyer-Goßner (Fn. 5), § 136a Rn. 12; Verrel (Fn. 5), S. 115 f.; ergänzend zum Verhältnis von Täuschungsverbot, Selbstbelastungsfreiheit und Menschenwürdegarantie Reiche (Fn. 19), S. 28 ff., 32 ff.
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lastung hingegen wohl nicht in der Lage war.41 In Situationen fehlender abstrakter Bewertungssicherheit ist der Rückgriff auf allgemeinere (und damit abgestufte Wertungen ermöglichende) Regelungen aber eine durchaus plausible Vorgehensweise.42 4. Zwischenergebnis Als erstes Zwischenergebnis lässt sich somit festhalten: Als Reaktion auf das Allan-Urteil des EGMR hat der Bundesgerichtshof den Anwendungsbereich des nemo-tenetur-Grundsatzes dahingehend erweitert, dass neben dem „klassischen“ Bereich des Schutzes vor staatlich erzwungener Selbstbelastung in offenen Vernehmungen auch Fälle staatlich veranlasster irrtümlicher Selbstbelastung diesem Prinzip unterfallen können. Allerdings führt wegen der Beibehaltung des formellen Vernehmungsbegriffs weiterhin nicht jede dem Staat zuzurechnende heimliche Befragung zu einem Verwertungsverbot. Ein Beweisverwertungsverbot ist vielmehr nur dann anzunehmen, wenn das heimliche Vorgehen der Ermittlungsbehörden unter Berücksichtigung der Gesamtumstände des Falles als schwerwiegende Beeinträchtigung der Aussagefreiheit erscheint und damit den Grundsätzen eines fairen Strafverfahrens widerspricht. Da die Rechtsprechung früher vergleichbare Fallgestaltungen unmittelbar am fair-trial-Grundsatz gemessen (und hierbei auch den Aspekt eines „Beinahe-Verstoßes“ gegen das nemo-tenetur-Prinzip berücksichtigt) hatte, betrifft die Neuorientierung eher die Rubrizierung als die inhaltlichen Maßstäbe.
III. Prüfungsschema für Beweisverbote im Irrtumsbereich Naturgemäß bleibt die Feststellung, dass die staatlich angestoßene irrtumsbedingte Selbstbelastung unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles bei Überschreiten der Fairnessgrenze zur Annahme eines Beweisver-
41 Der erkennbar auf Art. 13 GG zugeschnittenen Regelung in § 110c StPO kann keine generelle Grenzziehung zwischen zulässigen und unzulässigen Täuschungen Verdeckter Ermittler entnommen werden; so aber Duttge JZ 2008, 261, 264. 42 Näherer Überlegung bedarf die Frage nach dem Gegenstand und dem Umfang der Abwägung: Nach einer (wohl vorzugswürdigen) engeren Sichtweise geht es allein darum, durch Einbeziehung der konkreten Gesamtumstände des Falles zu ermitteln, ob es sich um eine unfaire Form der Beweisgewinnung handelt. Wird dies bejaht, sollte auf eine weitergehende Abwägung dergestalt, ob trotz der Unfairness im Interesse einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege die Verwertung zugelassen werden kann (vgl. BGHSt 53, 294, 310 [Rn. 52 ff.]; Satzger Jura 2009, 759, 768), unterbleiben. Vgl. auch die allgemeine Kritik zur Relativierung des Fairnessprinzips durch die Rechtsprechung des BGH (z.B. durch Kompensationslösungen) bei Renzikowski FS Lampe, 2003, S. 791 ff.
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wertungsverbots führt, recht vage und unbestimmt. Um die Beurteilung auch in diesem Bereich handhabbar zu machen, ist nach einem Prüfungsraster Ausschau zu halten. 1. Zurechnung zum Staat Ausgehend vom Allan-Urteil des EGMR lassen sich für eine zur Verletzung des Art. 6 MRK führende Missachtung des Schweigerechts zwei Voraussetzungen angeben: Der Informant muss erstens als ein „Agent des Staates“ gehandelt und zweitens dem Beschuldigten die selbstbelastenden Äußerungen „entlockt“ haben.43 Das erste Merkmal soll gewährleisten, dass das Handeln des Befragenden dem Staat zugerechnet werden kann.44 Bei offenen amtlichen Vernehmungen versteht sich dies von selbst; ebenso verhält es sich, wenn die Ermittlungsbehörden – wie in den eingangs dargestellten Fällen – zur Erlangung der Informationen gezielt Verdeckte Ermittler, nicht offen ermittelnde Polizeibeamte oder V-Leute auf die Auskunftsperson ansetzen. Zurechnungsprobleme ergeben sich hingegen, wenn die zunächst von einem Privaten (zumeist einem Mitgefangenen) aufgrund eigener Initiative begonnene Aushorchung in Kooperation mit den Ermittlungsbehörden fortgeführt wird.45 2. „Entlocken“ einer selbstbelastenden Äußerung Ungleich schwerer zu fassen ist das schillernde Merkmal des „Entlockens“, dessen Verwirklichung nach Ansicht des EGMR von der Art der Beziehung zwischen dem Informanten und dem Beschuldigten sowie davon 43
Soweit das Gericht auf die frühere Berufung auf das Schweigerecht abstellt, handelt es sich um ein Begründungselement, nicht jedoch um die Statuierung einer zusätzlichen dritten Voraussetzung für einen Verstoß gegen das nemo-tenetur-Prinzip; ebenso Engländer ZIS 2008, 163, 166; Esser JR 2004, 98, 106; Gaede StV 2003, 260; Kretschmer HRRS 2010, 343, 347; Renzikowski JR 2008, 164, 165; Roxin NStZ-Sonderheft Miebach 2009, 41, 43. Im Fall des 5. Strafsenats (s. oben I.6) erfolgte die zur Erlangung der unverwertbaren Äußerungen führende verdeckte Befragung vor der förmlichen Vernehmung des Beschuldigten, auch dies zeigt, dass die Ausübung des Schweigerechts keine weitere Voraussetzung bildet. 44 Gaede StV 2003, 260, 261. Diese Bedeutung kommt im Urteil des EGMR freilich nur undeutlich zum Ausdruck, wenn dort (StV 2003, 257, 259 Rn. 51) darauf abgestellt wird, ob der Wortwechsel zwischen dem Angeklagten und dem Informanten auch ohne Eingreifen der Behörde in der gleichen Art und Weise erfolgt wäre. 45 Vgl. BGH NStZ 1989, 32 f. (hierzu Geppert JK 89, StPO § 136a/6); BGHSt 44, 129 ff. (Wahrsagerin-Fall) = JR 1999, 346 ff. mit Anm. Hanack = NStZ 1999, 147 ff. mit Anm. Roxin; zu diesem Urteil auch Jahn JuS 2000, 441 ff.; vgl. ferner Lesch GA 2000, 355, 365 ff.; Reiche (Fn. 19) S. 147; SK-StPO/Rogall (Fn. 5), § 136a Rn. 67; Schneider NStZ 2001, 8, 10 ff.; Wolter in: Systematischer Kommentar zur StPO, Loseblattausgabe, Stand: 11. Aufbau-/Erg.-Lieferung (Juni 1994), vor § 151 Rn. 124, 138 sowie Hilland Das Beweisgewinnungsverbot des § 136a StPO, Diss. Tübingen 1981, S. 16 ff.
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abhängt, ob sich das Gespräch als „funktionales Äquivalent einer staatlichen Vernehmung“ darstellt.46 Auch der Bundesgerichtshof hat diese Formulierungen aufgegriffen 47 und das Gemeinte ergänzend dahingehend umschrieben, dass Verdeckte Ermittler einen (von seinem Schweigerecht Gebrauch machenden) Beschuldigten nicht unter Ausnutzung eines geschaffenen Vertrauensverhältnisses (beharrlich) zu einer Aussage drängen dürfen.48 Es empfiehlt sich, die Prüfung des mit dem Merkmal des „Entlockens“ umschriebenen Bereichs in zwei Schritten vorzunehmen. a) Funktionales Äquivalent zu einer „offenen“ Vernehmung Der erste Teilschritt nimmt das Gespräch als solches in den Blick, das objektiv (wenn auch von der Auskunftsperson unerkannt) einer förmlichen Vernehmung entsprechen muss. Ein „funktionales Äquivalent“ zu einer staatlichen Vernehmung ist gegeben, wenn eine Auskunftsperson durch gezielte Befragung seitens eines amtlich tätigen Strafverfolgungsorgans (oder durch eine diesem zurechenbare Befragung) zur Mitteilung sach- oder prozessrelevanter Informationen veranlasst werden soll.49 Damit scheidet die bloße Entgegennahme spontaner Äußerungen ebenso wie die Wissenserlangung aufgrund einer (verdeckten) informatorischen Befragung 50 aus dem Kreis nemo-tenetur-relevanter Sachverhalte aus.51 Denn in Fallgestaltungen, in denen auch bei grundsätzlich offener Vernehmung eine Belehrungspflicht noch nicht bestünde, kann das verdeckte Agieren keine Beeinträchtigung der Aussagefreiheit darstellen.52 Man wird aber noch einen Schritt weiter gehen und verlangen müssen, dass der Fragende durch Vorgabe des Themas und gegebenenfalls beharrliches Nachfragen einen steuernden Einfluss auf die Gestaltung und den Ablauf des Gesprächs ausübt.53 Angesichts des gravierenden Unterschieds zwischen einem passiven Aushorchen
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EGMR (Allan v. Großbritannien) StV 2003, 257, 259 (Rn. 51). BGHSt 52, 11, 22 (Rn. 34); BGH NStZ 2009, 343, 344. 48 BGHSt 52, 11, 15 (Rn. 15); BGH NStZ 2009, 343, 344. Ohne die Klammerzusätze auch BGHSt 55, 138, 145 (Rn. 23) bezüglich eines nicht offen ermittelnden Polizeibeamten. 49 Vgl. SK-StPO/Rogall (Fn. 5), § 136 Rn. 13; s. auch LR/Gleß (Fn. 5), § 136 Rn. 12; Meyer-Goßner (Fn. 5), § 136a Rn. 4 (alle m.w.N.); aA jedoch Eisenberg (Fn. 5) Rn. 654 f.; Ransiek Die Rechte des Beschuldigten in der Polizeivernehmung, 1990, S. 68; s. auch Lesch ZStW 111 (1999), 624, 643 ff. 50 Ausführlich zur informatorischen Befragung Geppert FS Oehler, 1985, S. 323 ff. 51 Engländer ZIS 2008, 163, 166; Fezer NStZ 1996, 289, 290. 52 Vgl. auch Kühl StV 1986, 187, 188. 53 Vgl. auch Ellbogen Kriminalistik 2006, 544, 546; Renzikowski JZ 1997, 710, 717 (jeweils zur „vernehmungsähnlichen“ Situation); zur Gesprächslenkung durch beharrliche Fragen s. auch EGMR (Allan v. Großbritannien) StV 2003, 257, 260 (Rn. 52). 47
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und einem aktiven Ausforschen54 erscheinen selbstbelastende Äußerungen des Beschuldigten verwertbar, solange der Verdeckte Ermittler ihn zu derartigen Angaben nicht gedrängt oder sie ihm nicht in anderer Weise, insbesondere durch gezielte Befragungen, entlockt hat.55 Auch das bloße Anstoßen der Unterredung („auf den Busch klopfen“) tangiert die Entschließungsfreiheit des Beschuldigten noch nicht in normativ relevanter Weise.56 Die Neugierde ist ein alltägliches Phänomen, das mit den üblichen kommunikativen Mitteln (z.B. mit den Worten „das geht dich nichts an“) abgewehrt werden kann.57 Wer hierauf verzichtet und sich im Vertrauen auf die Verschwiegenheit seines Gesprächspartners zum Reden verleiten lässt, tut dies auf eigene Gefahr. b) Besonderer psychischer Druck Die funktionale Äquivalenz der verdeckten Befragung mit einer offenen Vernehmung thematisiert die Gleichwertigkeit auf der recht allgemeinen Ebene des Handlungsrahmens. Die unter diesem Blickwinkel erfasste Parallelität müsste auch bei einer – vom Bundesgerichtshof und der herrschenden Meinung gerade nicht vollzogenen – Hinwendung zum materiellen Vernehmungsbegriff festgestellt werden.58 Das Festhalten am formellen Vernehmungsbegriff impliziert demgegenüber ein nemo-tenetur-Verständnis, für das die funktionale Äquivalenz nur eine weitere notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung für eine Verletzung der Selbstbelastungsfreiheit darstellt. Schützt dieses Prinzip vorrangig vor staatlich erzwungener Selbstbelastung, so bilden die §§ 136 und 136a StPO Vorkehrungen vor dem besonderen psychischen Druck, der aus dem Auftreten mit staatlicher Autorität resultiert. Verdeckten Befragungen ist ein solcher psychischer Druck zunächst einmal fremd,59 da sich der Beschuldigte hier aufgrund einer freien Entscheidung äußert, wobei er freilich über die Vertrauenswürdigkeit seines Gesprächspartners irrt.60 Die Verschwiegenheit des Gegenübers zutreffend einzuschätzen, fällt in den Verantwortungsbereich jedes Kommunikationspartners; es ist Bestandteil seines allgemeinen Lebensrisikos. Das kann man natürlich auch anders sehen. So gehört es nach Ansicht von Fezer keineswegs (oder doch nur in einem Polizeistaat) zum allgemeinen Lebensrisiko, an einen „Nachbarn oder Freund“ zu geraten, der von der Polizei mit einer ge54 Esser JR 2004, 98, 105 f.; Renzikowski JR 2008, 164, 165; s. auch Roxin NStZ-Sonderheft Miebach 2009, 41, 45. 55 BGHSt 52, 11, 15 (Rn. 14), 22 (Rn. 33 f.); BGH NStZ 2009, 343, 344. 56 Vgl. auch Duttge JZ 2008, 261, 264. 57 Ellbogen Kriminalistik 2006, 544, 547; Engländer ZIS 2008, 163, 165 f.; Pawlik GA 1998, 378, 386. 58 Vgl. Bosch Jura 1998, 236, 238. 59 BGH(GS)St 42, 139, 147. 60 BGH(GS)St 42, 139, 152 f.; Gollwitzer JR 1995, 469, 471 f.; Kudlich JuS 1997, 696, 698.
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zielten Ausforschung beauftragt wurde.61 Diese Sichtweise führt letztlich zum materiellen Vernehmungsbegriff und zur (weitgehenden) Unzulässigkeit verdeckter Ermittlungen überhaupt. Akzeptiert man hingegen, dass verdeckte Ermittlungen nicht nur zum Arsenal des Polizei-, sondern (unter Beachtung rechtlicher Grenzen) auch des Rechtsstaates gehören, dann ist das Verschweigen der staatlichen Anbindung für sich genommen keine hinreichende Enttäuschung eines normativ berechtigten Vertrauens. Die Grenzen des allgemeinen Lebensrisikos werden weitgehend durch normative Aspekte bestimmt;62 hiervon abgesehen wird der Betroffene je nach Milieu und Vorerfahrung auch faktisch durchaus die Möglichkeit in Rechnung stellen, bei seinem Gesprächspartner könne es sich um einen Polizeispitzel handeln. Es kommt hinzu, dass zwar die Ausübung staatlichen Zwanges zur Herbeiführung einer selbstbelastenden Aussage schlechthin unzulässig ist, dass aber – wie die enge Auslegung des Merkmals der „Täuschung“ in § 136a StPO zeigt –63 die Schaffung von Äußerungsmotiven nicht flächendeckend untersagt ist.64 Der Schutz vor erzwungener Selbstbelastung ist also umfassend, der vor irrtümlicher Selbstbelastung hingegen nur eingeschränkt gewährleistet.65 Damit bedarf es eines weiteren Merkmals, um die normative Gleichwertigkeit mit den Fällen des Selbstbelastungszwangs herzustellen. Die bisher erörterten Kriterien der Zurechenbarkeit zum staatlichen Ermittlungshandeln und der funktionalen Äquivalenz mit einer offenen Vernehmung bewirken lediglich, dass der nemo-tenetur-Grundsatz in derartigen Irrtumskonstellationen thematisch einschlägig ist. Um darüber hinaus auch eine Verletzung dieses Prinzips feststellen zu können, muss als zusätzliches qualitatives Moment hinzutreten, dass der Beschuldigte im Zeitpunkt der verdeckten Befragung einem besonderen psychischen Druck ausgesetzt war, der seine Bereitschaft zur Preisgabe selbstbelastender Informationen in rechtlich relevanter Weise erhöht hat. Dieses kumulative Erfordernis trägt dem Umstand Rechnung, dass von einem „Entlocken“ nur bei einer intensiven und nach61
Fezer NStZ 1996, 289, 290; zustimmend Gaede JR 2009, 493, 498 (Fn. 58); Kretschmer HRRS 2010, 343, 346; Roxin NStZ-Sonderheft Miebach 2009, 41, 44. Demgegenüber bezeichnet es Mitsch (Jura 2008, 211, 215) als ein „für einen Tatverdächtigen normales – situationsadäquates – und zudem selbstgeschaffenes Risiko“, von der Polizei eine Falle gestellt zu bekommen. 62 Schneider JR 1996, 401, 407; ders. NStZ 2001, 8, 10; Schumann JZ 1986, 66, 67; Sternberg-Lieben Jura 1995, 299, 308 f.; ders. JZ 1995, 844, 848; s. aber auch Pawlik GA 1998, 378, 387 ff. 63 BGH(GS)St 42, 139, 149; LR/Gleß (Fn. 5), § 136a Rn. 39 ff.; SK-StPO/Rogall (Fn. 5), § 136a Rn. 56 ff. alle m.w.N.; s. auch Geppert JK 89, StPO § 136a/5. 64 Rogall NStZ 2008, 110, 113. Vgl. auch BGHSt 33, 217, 223 f. mit krit. Anm. Kühl StV 1986, 187 ff.; Mitsch NJW 2008, 2295, 2300. 65 Vgl. auch Ellbogen Kriminalistik 2006, 544, 547; Engländer JZ 2009, 1179 f.; Hauck NStZ 2010, 17, 22.
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haltigen Beeinflussung gesprochen werden kann. Zugleich erfolgt hier die Verzahnung mit dem Fairnessgedanken: Die allein durch die Täuschung über den Ermittlungszweck bewirkte Freiheitsbeeinträchtigung rechtfertigt die Annahme eines Verwertungsverbots für sich nicht; erst in Kombination mit den in der verdeckten Befragung wirksamen Momenten psychischen Drucks ist die fairnessspezifische Relevanzschwelle überschritten. Diese Beurteilung steht auch im Einklang mit der Rechtsprechung des EGMR im Fall Bykov. Obwohl die Ermittlungsbehörden dort in massiver Weise (u.a. durch unrichtige Medienberichte)66 auf das Vorstellungsbild des Beschuldigten eingewirkt hatten, lehnte das Gericht (mehrheitlich) eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK ab, weil die Beweise (im Unterschied zum Fall Allan v. Großbritannien) nicht durch Zwang oder Druck erlangt worden seien.67 Das normative Merkmal des besonderen psychischen Drucks hat eine zwischen den Beschuldigten- und den Strafverfolgungsinteressen vermittelnde Funktion. Hierdurch wird für den Bereich irrtumsbedingter Selbstbelastungen ein flexibler Maßstab in das nemo-tenetur-Prinzip implantiert, der verdeckte Ermittlungen weiterhin ermöglicht und ihnen zugleich rechtliche Grenzen setzt.68 Naturgemäß birgt die Ermöglichung einer „Abwägungsdogmatik“ die Gefahr mangelnder Rechtssicherheit in sich, die freilich bei unmittelbarem Rückgriff auf Fairnessgesichtspunkte auch nicht geringer wäre. Solange klare gesetzgeberische Vorgaben fehlen, ermöglicht eine sich herausbildende Kasuistik immerhin eine gewisse Orientierung.69 In der Sache geht es bei dem psychologischen Element um die Herausarbeitung einzelfallspezifischer Umstände, die entweder für sich betrachtet oder kumulativ die Annahme einer normativ relevanten Reduktion von Verhaltensspielräumen des Beschuldigten in der Befragungssituation nachvollziehbar erscheinen lassen.70 Wird hiermit das Erfordernis einer über die Heimlichkeit hinausreichenden Beeinträchtigung der kommunikativen Eigenverantwortlichkeit beibehalten, so ist der (etwas) offenere und „unverbrauchte“ Begriff des „besonderen psychischen Drucks“ zur schlagwortartigen Kennzeichnung des Leitgedankens wohl besser geeignet als der Terminus des „Zwangs“.71 Denn nunmehr lassen sich ungeachtet der gleichen Grund66 Gaede (JR 2009, 493, 497) bezeichnet das Vorgehen als „perfide Vorspiegelung eines Kapitalverbrechens über Massenmedien“. 67 EGMR NJW 2010, 213, 216 (Rn. 101 f.). Kritisch hierzu Gaede JR 2009, 493, 497 f.; Kretschmer HRRS 2010, 343, 345. 68 Vgl. (auch zum Folgenden) Verrel (Fn. 5), S. 278 ff. 69 Allgemein zur Konturierung des Fairnessgebots durch Fallgruppenbildung Geppert Jura 1992, 597, 599. 70 Vgl. auch (zur „Täuschung“ iSd § 136a StPO) Reiche (Fn. 19), S. 72 f.; SKStPO/Rogall (Fn. 5), § 136a Rn. 65; s. auch Eisenberg (Fn. 5), Rn. 674. 71 Der Unterschied zwischen „Druck“ und „Zwang“ klingt auch an bei Kretschmer HRRS 2010, 343, 345. Vgl. auch SK-StPO/Rogall (Fn. 5), § 136a Rn. 65 (nachhaltige Reduktion des Verhaltensspielraums muss nicht einer psychischen Zwangslage entsprechen).
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richtung auch Fallgestaltungen mit überwiegendem Täuschungselement einbeziehen, ohne sie durch das Nadelöhr der „zwangsgleichen“ Wirkung pressen zu müssen.72 Ferner können alle Begleitumstände der Irreführung in die Beurteilung einfließen.73 Die Gesichtspunkte, die eine zulässige verdeckte Befragung zum unzulässigen „Entlocken“ selbstbelastender Auskünfte werden lassen, können persönlicher, situativer oder verhaltensbezogener Art 74 sein; hierbei können sich die Beurteilungsmaßstäbe an § 136a StPO orientieren.75 Der EGMR stellt in diesem Zusammenhang auf die Art der Beziehung zwischen dem Informanten und dem Beschuldigten ab.76 c) Ansätze zur Konturierung des „besonderen psychischen Drucks“ Wenngleich eine umfassende Betrachtung der relevanten Aspekte an dieser Stelle nicht möglich ist, soll doch der Versuch unternommen werden, anhand einiger (insbesondere in der Rechtsprechung genannter) Kriterien die Abwägung zu illustrieren und ansatzweise zu diskutieren. aa) Unverwertbar sind zunächst selbstbelastende Äußerungen, zu denen der Beschuldigte von den Strafverfolgungsbehörden (bzw. einer ihnen zurechenbaren Privatperson) durch Nötigung oder einen nötigungsähnlichen Druck motiviert worden ist.77 Eine normativ relevante Reduktion von Verhaltensspielräumen wird auch in den sog. „Romeo-Fällen“ angenommen, bei denen ein gezielt angebahntes Liebesverhältnis zur Gewinnung von Informa-
72 Zum Begriff des „Zwangs“ vgl. Gollwitzer in: Löwe/Rosenberg, Die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, Band 8, 25. Aufl. 2005, Art. 6 MRK/Art. 14 IPBPR Rn. 253; Rogall NStZ 2008, 110, 113. Kritisch zur Zwangsähnlichkeit der Irrtumserregung Verrel (Fn. 5) S. 117 f., 280 f.; vgl. auch Duttge JZ 2008, 261, 262, 263 f.; Roxin NStZ-Sonderheft Miebach 2009, 41, 45 f. Die Zuordnung zu den Merkmalen „Täuschung“ oder „Zwang“ ist auch für die Konstellation des Kammeragenten (BGHSt 34, 362 ff.; s. oben Fn. 35) diskutiert worden; vgl. hierzu Beulke StV 1990, 180, 183; Fezer JZ 1987, 937 f.; Geppert JK 87, StPO § 136a/3; Grünwald StV 1987, 470 f.; Kramer Jura 1988, 520, 523 f.; Lesch GA 2000, 355, 356 ff. Nach Ansicht von M. Popp (JA 1998, 900, 906) bedeutet die Verursachung von Irrtümern immer auch gleichzeitig die Ausübung von Zwang. 73 Ebenso Verrel (Fn. 5), S. 281. Deutlich kritischer allerdings Duttge JZ 2008, 261, 264; Mitsch NJW 2008, 2295, 2300 (jeweils in Bezug auf BGHSt 52, 11 ff., freilich mit unterschiedlicher Stoßrichtung). 74 In der Kategorie der verhaltensbezogenen Umstände könnte auch von Bedeutung sein, ob die Beeinträchtigung kommunikativer Autonomie staatlicherseits geschaffen oder lediglich ausgenutzt wurde. Vgl. insoweit (zu § 136a StPO) Erb FS Otto, 2007, S. 863 ff. 75 Zur Eignung insbesondere des in § 136a StPO enthaltenen Täuschungsverbots für die Beurteilung verdeckt entlockter Selbstbelastungen vgl. Verrel NStZ 1997, 415, 416; s. auch BGHSt 44, 129, 134; Rogall NStZ 2008, 110, 113. 76 EGMR (Allan v. Großbritannien) StV 2003, 257, 259 f. (Rn. 51 f.). 77 Rogall NStZ 2008, 110, 113.
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tionen ausgenutzt werden soll.78 Maßgeblich ist insoweit, dass derartige Beziehungen gerade durch die Erwartung gegenseitiger Offenheit definiert werden und es dem einen Partner daher auf die Dauer kaum möglich ist, eine Antwort auf die vom anderen als bedeutsam deklarierten Fragen zu verweigern.79 Entsprechend verhält es sich im Fall des Kammeragenten.80 Wird dem Beschuldigten ein Spitzel auf seine Haftzelle gelegt, so bedeutet dies eine vom verfahrenssichernden Zweck der Untersuchungshaft nicht gedeckte permanente Ausforschung durch ein massives Eindringen in die Privatsphäre des in seinen Kommunikations- und Verhaltensspielräumen stark eingeengten Beschuldigten.81 Ebenfalls als Verstoß gegen den nemo-tenetur-Grundsatz (in seiner neuen, partiell auch die irrtumsbedingte Selbstbelastung einbeziehenden Interpretation) lässt sich der Fall beurteilen, dass sich ein Staatsanwalt als Priester verkleidet und dem Beschuldigten auf dessen Bitte hin die Beichte abnimmt.82 Zwar verflüchtigt sich hier die Zwangskomponente, da als Bedrückungsmoment letztlich nur die ausgenutzte Gewissensnot der Auskunftsperson übrig bleibt.83 Dennoch werden durch die Vorspiegelung, dass das Gespräch nicht nur unter einer faktischen Vertraulichkeit, sondern in einem auch rechtlich tabuisierten Rahmen (vgl. § 53 Abs. 1 Nr. 1 StPO) geführt wird, die Grundkoordinaten der Kommunikation nachhaltig verschoben und die Aussagefreiheit damit in rechtlich belangvoller Weise tangiert. Sofern man wegen des fehlenden psychischen Drucks hier (Entsprechendes ließe sich für die „Romeo-Fälle“ erwägen)84 den nemo-teneturGrundsatz nicht für einschlägig erachtet, ergäbe sich das Verwertungsverbot bezüglich der auf diese Weise erlangten Angaben aus der eindeutigen Missachtung des fair-trial-Prinzips.
78 BGH(GS)St 42, 139, 155; 52, 11, 21 (Rn. 30). Vgl. auch (zur Tatprovokation) AG Heidenheim NJW 1981, 1628 f. Soweit der EGMR (Allan v. Großbritannien, StV 2003, 257, 259 [Rn. 51]) auf die „Art der Beziehung zwischen dem Informanten und dem Beschuldigten“ abstellt, dürften nicht zuletzt (auch) solche Fallgestaltungen gemeint sein. 79 Pawlik GA 1998, 378, 387; Reiche (Fn. 19), S. 141 f.; s. auch Roxin NStZ-Sonderheft Miebach 2009, 41, 46. Vgl. ferner S. Götting Beweisverwertungsverbote in Fällen gesetzlich nicht geregelter Ermittlungstätigkeit, 2001, S. 246; M. Popp JA 1998, 900, 908. 80 BGHSt 34, 362 ff. (s. oben Fn. 35); EGMR (Allan v. Großbritannien) StV 2003, 257 ff. 81 Vgl. auch BGHSt 44, 129, 135 sowie zum Verbot einer Totalausforschung BGHSt 44, 138, 143 mit Anm. Geppert JK 99, StPO § 100c/3; BGHSt 48, 4, 13 f.; 53, 294, 307 (Rn. 42) und LR/Hilger (Fn. 5) § 119 Rn. 39. 82 Vgl. hierzu (mit dem Hinweis, dass dieser Fall in der DDR tatsächlich vorgekommen sein soll) Pawlik GA 1998, 378, 385 (m.w.N.). 83 Diesen Umstand betonend und im Ergebnis eine (zumindest analoge) Anwendung des § 136a StPO bejahend Lindner Täuschungen in der Vernehmung des Beschuldigten, Diss. Tübingen 1988, S. 90 f. 84 So könnte man die Verhaltenserwartung der Offenheit mit der Beobachtung in Zweifel ziehen, dass insbesondere schwere Sexual- und Tötungsdelikte vor Ehegatten oder Geliebten regelmäßig verheimlicht werden.
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bb) Die soeben genannten Fallkonstellationen sind (trotz realer Vorkommnisse) äußerst selten und das Ergebnis der Unverwertbarkeit der auf diese Weise erlangten Informationen ist evident. Ungleich schwieriger zu beurteilen sind hingegen die im Ermittlungsalltag lebensnäher erscheinenden Fallgestaltungen, in denen keine ins Auge springende Rechtsverletzung vorliegt und die verdeckt ermittelnden Personen sich zumindest subjektiv im noch legalen Graubereich ihrer Tätigkeit sehen. Letztlich geht es um die schwierige Aufgabe, im Einzelfall zu bestimmen, wann der Bereich des allgemeinen Lebensrisikos des Beschuldigten überschritten ist, sodass das verdeckte Vorgehen ihm gegenüber als unfair erscheint. Als (zumindest im Rahmen einer Gesamtschau) relevanter Umstand wird vielfach der Umstand genannt, dass sich der Beschuldigte im Zeitpunkt der verdeckten Befragung in (Untersuchungs-)Haft befunden hat.85 Das verdient grundsätzlich Zustimmung, da der inhaftierte Beschuldigte seine sozialen Kontakte im Gegensatz zum Leben in Freiheit nicht frei wählen kann und somit einem latenten psychischen Druck ausgesetzt ist.86 Neben solchen situativ geprägten „Bedrückungslagen“ 87 können sich auch aus körperlich-seelischen Dauerdefiziten, dem Fehlen sozialer Fähigkeiten oder auch temporären Behinderungen Grenzen hinsichtlich der verdeckten Ermittlung jedenfalls dann ergeben, wenn diese persönlichen Umstände (gegebenenfalls in ihrem Zusammenwirken) die Intensität einer anhand des § 140 Abs. 2 S. 1 StPO zu bestimmenden besonderen staatlichen Fürsorgepflicht erreichen.88 cc) Ein weiterer in der Allan-Entscheidung genannter und nachfolgend vom Bundesgerichtshof mehrfach aufgegriffener Gesichtspunkt besteht in der vorherigen (gegebenenfalls mehrfachen) Berufung des Beschuldigten
85 Vgl. zu Aushorchungen in der Haft den Beitrag von Roxin sowie Eidam (Fn. 6), S. 76 ff.; S. Götting (Fn. 79), S. 242 ff.; Schneider NStZ 2001, 8 ff. Zum psychischen Druck der Untersuchungshaft s. auch Eidam a.a.O. S. 309 ff.; Verrel (Fn. 5), S. 68 ff. 86 Vgl. BGHSt 44, 129, 136 f.; 53, 294, 307 f. (Rn. 44 f.); Esser JR 2004, 98, 106; Rogall NStZ 2008, 110, 113; Schneider (NStZ 2001, 8, 10) spricht von einem „angeschlagenen“ Beschuldigten (weiterführend ders. JR 1996, 401, 407 f.); vgl. auch Duttge JZ 2008, 261, 263 („Machtbereichsargument“); Seebode JR 1988, 427, 430. Deutlich zurückhaltender insoweit jedoch Grünwald StV 1987, 470, 471; Mitsch Jura 2008, 211, 215; ders. NJW 2008, 2995, 2999 f.; Reiche (Fn. 19), S. 147. Die besonderen Umstände der Haft als Grund für eine erhöhte Schutzwürdigkeit ablehnend Hauck NStZ 2010, 17, 21 f.; im Ergebnis ebenfalls ablehnend (wegen Trennung zwischen JVA und Ermittlungsbehörde) Lesch GA 2000, 355, 358 f. 87 Rogall NStZ 2008, 110, 113. 88 Vgl. Mitsch Jura 2008, 211, 214; s. auch ergänzend LR/Lüderssen/Jahn (Fn. 5), § 140 Rn. 97 ff. Freilich bewirken die Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO nicht schlechthin eine Beschränkung verdeckter Ermittlungstätigkeit. Maßgeblich ist vielmehr, ob ein besonderes Defizit zur rechtserheblichen Beeinträchtigung kommunikativer Autonomie führt.
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auf das ihm zustehende Schweigerecht.89 Nach Ansicht des EGMR wird die freie Entscheidung einer verdächtigen Person darüber, ob sie aussagen oder schweigen wolle, „effektiv unterlaufen“, wenn die Ermittlungsbehörden einem Beschuldigten, der sich für das Schweigen entschieden hat, mittels einer Täuschung belastende Angaben entlockten, die sie in der offenen Vernehmung nicht erlangen konnten. So richtig es ist, in der Ausübung des Schweigerechts keine zusätzliche Voraussetzung für die Annahme eines Verwertungsverbots zu sehen,90 so zweifelhaft bleibt doch der generelle Stellenwert dieses Kriteriums.91 Schon rein tatsächlich ist fraglich, ob der Beschuldigte mit seinem erklärten Schweigen die Vorstellung verbindet, von den Ermittlungsbehörden nicht in der Form verdeckter Ermittlungen behelligt zu werden – ebenso wie umgekehrt auch der den Tatvorwurf bestreitende Beschuldigte faktisch darauf vertrauen kann, die Ermittler würden sich mit seiner Einlassung nur in offener Befragung auseinanderzusetzen. Immerhin geht mit der Kenntnis, ins Visier der Strafverfolgungsbehörden geraten zu sein, eine gewisse Warnfunktion einher, die jedenfalls in bestimmten Kreisen Anlass zu besonderer Vorsicht gerade auch gegenüber eventuellen Verdeckten Ermittlern geben kann. Hinter dem Begründungsansatz wird man freilich weniger eine besondere Schutzbedürftigkeit als vielmehr den Gedanken des Umgehungsverbots vermuten dürfen.92 Wenn die Strafverfolgungsbehörden verpflichtet sind, die Entscheidung des Beschuldigten für das Schweigen zu akzeptieren, dann erscheint es plausibel, ihnen zu untersagen, die Inanspruchnahme des Schweigerechts durch verdeckte Befragungen zu unterminieren.93 Doch auch gegenüber dieser Ableitung bleibt das Bedenken, dass es der Beschuldigte dann in der Hand hätte, gegen seine Person gerichtete verdeckte Ermittlungen auszuschließen. Zugespitzt formuliert könnte ein mit einem Tatvorwurf konfrontierter Beschuldigter (z.B. aus dem Bereich der Organisierten Kriminalität) über seinen Anwalt (gegebenenfalls routinemäßig) erklären lassen, er mache vom Schweigerecht Gebrauch und verbinde hiermit die Erwartung, dass dies von den Ermittlungsbehörden respektiert und daher von jedem Versuch Abstand genommen werde, im Rahmen verdeckter Be-
89 EGMR StV 2003, 257, 259 (auch zum Folgenden); BGHSt 52, 11, 18 ff. (Rn. 26 ff.); BGH NStZ 2009, 343, 344; Meyer-Goßner (Fn. 5), § 136a Rn. 4a. Nach BGHSt 52, 11, 21 (Rn. 33) ist es ohne Bedeutung, dass die Entscheidung für das Schweigen außerhalb einer förmlichen Vernehmung erklärt worden ist. Vgl. auch schon vor der Allan-Entscheidung BGHSt 40, 66, 72 (zur heimlichen Stimmprobe) und BGH(GS)St 42, 139, 155 (zur Hörfalle). 90 Vgl. oben Fn. 43. 91 Vgl. auch – freilich mit der Blickrichtung einer weitergehenden Unzulässigkeit heimlicher Befragungen – Roxin NStZ-Sonderheft Miebach 2009, 41, 43 („kein glücklicher Gedanke“). 92 Vgl. Esser JR 2004, 98, 106; s. auch Duttge JZ 2008, 261, 263. 93 Vgl. BGHSt 52, 11, 19 (Rn. 27).
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fragungen diese Entscheidung effektiv zu unterlaufen. Die Vorstellung, eine derartige Erklärung entzöge jeglicher heimlichen Befragung des Beschuldigten den Boden, wäre kriminalpolitisch wenig überzeugend;94 dies gilt umso mehr, als regelmäßig der Versuch einer offenen Vernehmung vorausgehen muss, um die anschließende verdeckte Befragung als unerlässlich zu erweisen.95 Auch wenn man die verdeckte Befragung vorrangig nicht als Ersatz für eine offene Vernehmung (mit Umgehungstendenz), sondern als ein aliud zu dieser ansieht 96 und damit von der Inanspruchnahme des Schweigerechts abkoppelt, ist freilich andererseits nicht zu leugnen, dass der Staat sich den Beschränkungen der StPO (hier: § 136 Abs. 1 S. 2) nicht durch Zwischenschaltung einer von ihm zu Ermittlungszwecken eingesetzten Privatperson entziehen darf 97 und dass jedenfalls bei besonders massiver Einwirkung das Schweigerecht in einer als unfair zu bewertenden Weise ausgehebelt werden kann. Nur am Rande sei darauf hingewiesen, dass die verdeckte Befragung eines Zeugen, der zuvor von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht hat, unter Fairnessgesichtspunkten anders zu beurteilen sein kann.98 dd) Während die Haftsituation und die vorherige Ausübung des Schweigerechts von der unmittelbaren Kommunikationsbeziehung getrennt sind, gibt es weitere Fragestellungen, die sich direkt auf das Verhältnis zwischen dem Informanten und dem Beschuldigten beziehen. Bei den bisherigen Überlegungen (zu III.2a) wurde das verdeckt geführte Gespräch allein daraufhin untersucht, ob es eine hinreichende Intensität aufweist, um als funktionales Äquivalent einer offenen Vernehmung zu erscheinen. Betrifft diese Perspektive gleichsam die Untergrenze dafür, ein Verwertungsverbot in Betracht zu ziehen, so ist umgekehrt zu fragen, ob es eine Intensitätsobergrenze zulässiger verdeckter Befragungen gibt, bei deren Überschreiten der Beschuldigte (gegebenenfalls auch ohne Hinzutreten weiterer besonderer Umstände) in unerlaubter Weise zu selbstbelastenden Angaben „gedrängt“ wird.99 Da ein derartiges „Stakkato“ durchaus als psychischer Druck erfahr94
So wohl aber Meyer-Mews NJW 2007, 3142. Roxin NStZ-Sonderheft Miebach 2009, 41, 43. 96 Vgl. Jäger Beweisverwertung und Beweisverwertungsverbote im Strafprozess, 2003, S. 163 f. 97 SK-StPO/Rogall (Fn. 5), § 136a Rn. 7; Sternberg-Lieben JZ 1995, 844, 848 (jeweils m.w.N.). 98 Offengelassen in BGHSt 40, 211, 214 (Fall Sedlmayr). Als Anknüpfungspunkt für eine Besserstellung des Zeugen könnte sich (neben einer stabileren faktischen Grundlage für ein Respektieren der Zeugnisverweigerung) die durch § 252 StPO bewirkte Verstärkung seiner Position erweisen; vgl. (bezüglich der informatorischen Befragung) Geppert FS Oehler, 1985, S. 323, 328 ff. 99 Die Konnotation des vom BGH verwendeten Begriffs „drängen“ (vgl. oben Fn. 48) betont den psychischen Druck noch stärker als der (eher auf ein Täuschungsverhalten abzielende) Terminus des „Entlockens“. 95
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bar ist, wird man ein Umschlagen von Quantität in Qualität abstrakt wohl nicht von der Hand weisen können, ohne dass sich freilich allgemeingültige Angaben zu Anzahl, Dauer und Frequenz der verdeckt geführten Gespräche machen ließen.100 ee) Geht es insoweit um die Konstellation des psychischen Drucks ohne zusätzliche (d.h. über die verdeckte Befragung als solche hinausreichende) Täuschung, so bereitet die umgekehrte Konstellation einer Täuschung ohne zusätzlichen psychischen Druck noch größere Probleme, die zunächst das systematische Zusammenspiel von nemo-tenetur-Grundsatz, fair-trial-Prinzip und § 136a StPO betreffen. Schon vor der (vorsichtigen) Erweiterung des nemo-tenetur-Prinzips bestand eine dogmatische Unsicherheit bezüglich der (analogen) Anwendbarkeit des § 136a StPO bei unzulässigen verdeckten Befragungen. Den Ausgangspunkt bildet insoweit die Überlegung, dass sich § 136a StPO ausweislich seiner systematischen Stellung in der StPO nur auf Vernehmungen bezieht.101 Während auf der Grundlage eines weiten materiellen (bzw. funktionellen) Vernehmungsbegriffs im Rahmen verdeckter Ermittlungen vorgenommene Täuschungen gegebenenfalls unmittelbar unter § 136a StPO subsumiert werden können,102 kommt auf dem Boden des überwiegend (u.a. vom Bundesgerichtshof) vertretenen formellen Vernehmungsbegriffs nur (aber immerhin) eine analoge Anwendung dieser Vorschrift in Betracht. Eine solche Analogie ist von der Rechtsprechung teilweise angenommen worden, sofern zu der Heimlichkeit des Vorgehens der Gebrauch unlauterer, von der Rechtsordnung missbilligter Mittel hinzukommt.103 Die einschlägigen Fälle104 sind dadurch gekennzeichnet, dass der (in Untersuchungshaft befindliche) Beschuldigte sich der Befragung nicht ohne Weiteres entziehen kann und die verdeckte Vorgehensweise eine „ordentliche“ Vernehmung rechtsmissbräuchlich ersetzen soll.105 Allerdings erscheint die analoge Erstreckung des § 136a StPO auf sog. vernehmungsähnliche Situationen durchaus fraglich. Die zum Definitionsmerkmal erhobene „rechtsmissbräuch-
100 Nach Reiche ([Fn. 19], S. 142) wird die situative und kommunikative Unterlegenheit der Auskunftsperson durch den Einsatz mehrerer Verdeckter Ermittler verstärkt. Soweit Kretschmer (HRRS 2010, 343, 346) die Dauer des Einsatzes und des vorgetäuschten Vertrauensverhältnisses als nicht entscheidend ansieht, ist zu berücksichtigen, dass er (a.a.O.) generell dafür plädiert, sich vom Postulat einer Drucksituation zu lösen. 101 LR/Gleß (Fn. 5), § 136a Rn. 10, 13; Meyer-Goßner (Fn. 5), § 136a Rn. 4. 102 Vgl. in diesem Sinne Seebode JR 1988, 427, 428 f. 103 BGHSt 39, 335, 347; BGH NStZ 1995, 410, 411. 104 BGHSt 34, 362, 363 f. (Kammeragent; s. oben Fn. 35); BGHSt 44, 129, 134 f. (Wahrsagerin). 105 Reiche (Fn. 19), S. 133 f; SK-StPO/Rogall (Fn. 5), § 136a Rn. 25 ff.; Sternberg-Lieben Jura 1995, 306. Nur auf die rechtsmissbräuchliche Ersetzung abstellend Eisenberg (Fn. 5), Rn. 637.
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liche Ersetzung“ verweist lediglich auf die übrigen Merkmale des § 136a StPO (oder sonstige vorgelagerte Bewertungsmaßstäbe), sodass es allein darum geht, die Enge des formellen Vernehmungsbegriffs zu überspielen. Wenn man es aber als für den Vernehmungsbegriff konstitutiv ansieht, dass der Bürger die staatliche Autorität als Gegenüber erkennt, dann ist nicht recht einzusehen, dass eine hinreichende Rechtsähnlichkeit auch dann bestehen soll, wenn ihm dieser Staatsbezug gerade verborgen bleibt.106 Eine „Flucht aus § 136a StPO“ 107 (sowie Umgehungsversuche allgemein) kann nicht nur durch eine analoge Anwendung der fraglichen Verfahrensnorm, sondern auch – so ein vom Bundesgerichtshof im sog. MedizinalassistentenFall 108 beschrittener Weg – durch den Rückgriff auf den fair-trial-Grundsatz unterbunden werden.109 Immerhin mag es sich angesichts inhaltlich übereinstimmender Maßstäbe möglicherweise nur um ein klassifikatorisches Problem handeln. Dennoch erscheint es auf dem Boden des formellen Vernehmungsbegriffs methodisch folgerichtiger, von einer vernehmungsähnlichen Situation nur dann zu sprechen, wenn sich die Auskunftsperson einem erkennbar mit staatlicher Autorität vorgetragenen Auskunftsbegehren gegenübersieht.110 Die aktuelle Rechtsprechung belebt die Redeweise von der „vernehmungsähnlichen Situation“, ohne dass stets hinreichend scharf unterschieden wird, ob sich die Ähnlichkeit allein auf die Vernehmungssituation (im Sinne eines „funktionalen Äquivalents“) oder auch auf den Einsatz von bestimmten (unzulässigen) Vernehmungsmethoden bezieht.111 Hier steht eine überzeugende dogmatische Klärung (auch seitens der Rechtsprechung) noch aus. Jenseits der systematischen Zuordnung besteht die inhaltliche Grundfrage darin, inwieweit Täuschungen im Rahmen verdeckter Befragungen zur Unverwertbarkeit selbstbelastender Angaben führen. Selbst wenn man auch nach der partiellen Erweiterung des nemo-tenetur-Grundsatzes auf einer engen Deutung des Merkmals „psychischer Druck“ beharrt (und deshalb z.B. den „Romeo-“ und den „Beichtstuhl-Fall“ dem fair-trial-Prinzip zuordnet), sind für sich genommen „druckfreie“ Täuschungen für den nemotenetur-Kontext nicht schlechthin irrelevant. Denn die Druckkomponente
106 Eine Vernehmungsähnlichkeit verdeckter Befragungen ablehnend Kramer Jura 1988, 520, 523; Schneider JR 1996, 401, 406. 107 Vgl. (teilweise für direkte Anwendung des § 136a StPO) Beulke StV 1990, 180, 183 f.; LR/Gleß (Fn. 5), § 136a Rn. 15; Jäger (Fn. 96), S. 178 ff.; Jahn JuS 2000, 441, 443 ff.; Kühl StV 1986, 187, 188 ff.; Sternberg-Lieben Jura 1995, 299, 306 f. 108 BGHSt 24, 125, 131 f. 109 Vgl. auch Geppert Jura 1992, 597, 603 f.; Hanack JR 1999, 348, 349. 110 Vgl. auch BGHSt 36, 384, 389 (zur zeugenschaftlichen Befragung durch einen Sachverständigen in einem Sorgerechtsverfahren). 111 Zur gebotenen Unterscheidung zwischen Vernehmungssituation und Vernehmungsmethode vgl. auch Duttge JZ 2008, 261, 263; s. ferner Sternberg-Lieben JZ 1995, 844, 848.
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kann sich aus anderen Faktoren (z.B. aus der Haftsituation oder der Dauer und Intensität des Einsatzes eines Verdeckten Ermittlers) ergeben. Dann ist der Anwendungsbereich des nemo-tenetur-Grundsatzes eröffnet, und zu den Begleitumständen, anhand derer über das Merkmal des „Entlockens“ zu befinden ist, gehören auch die Art der Beziehung und damit etwa hinzutretende Täuschungen, die den Ausgeforschten in besonderer Weise für Überzeugungsversuche der Kontaktperson „empfänglich“ gemacht haben.112 Als Ausgangspunkt ist festzuhalten, dass das bloße Verschweigen der staatlichen Anbindung und des Überführungswillens keine (oder eine erlaubte) Täuschung darstellt, da dieses Verbergen einer grundsätzlich zulässigen verdeckten Ermittlung immanent ist. Weitgehend ungeklärt ist jedoch, wann eine qualifizierte Täuschung113 vorliegt, die (allein oder im Zusammenwirken mit weiteren Umständen) zur Unverwertbarkeit der selbstbelastenden Äußerungen führt. Im Schrifttum wird teilweise sowohl im Rahmen des § 136a StPO als auch in Bezug auf verdeckte Ermittlungen ein sehr restriktiver Maßstab befürwortet, nach welchen – abgesehen von der in § 110a Abs. 2 StPO normierten Legende – jegliche bewusste Irreführung als unzulässig erscheint.114 Hiernach verbleibt ein recht eng abgestecktes Tätigkeitsfeld für verdeckte Ermittlungen. Ist man hingegen der Auffassung, dass effektive verdeckte Ermittlungen den Aufbau eines Vertrauensverhältnisses bedingen, so wird man möglicherweise gewisse Unehrlichkeiten („ich stehe dir bei“ oder „mir kannst du doch vertrauen“) zu tolerieren bereit sein, weil sie gleichsam als „Annexkompetenz“ von der heimlichen Vorgehensweise mit umfasst seien und noch innerhalb des allgemeinen Lebensrisikos bzw. der Eigenverantwortlichkeit hinsichtlich der Gewährung von Vertrauen lägen.115 Diesbezüglich wird man aber wohl (allenfalls) einen schmalen Sektor unschädlicher „Begleitlügen“ anerkennen können.116 Während der EGMR im Bykov-Urteil 117 insoweit 112
Vgl. EGMR (Allan v. Großbritannien) StV 2003, 257, 260; Gaede StV 2003, 260, 261. Zum Erfordernis einer „qualifizierten“ (d.h. über die Verheimlichung des Vernehmungscharakters hinausgehenden) Täuschung vgl. Roxin NStZ 1997, 18, 20; Verrel (Fn. 5), S. 280; s. auch Bosch Jura 1998, 236, 240; Schumann JZ 1986, 66, 67. Gaede (JR 2009, 493, 497) spricht von einem „Verbot gravierender Täuschungen“. 114 In diesem Sinne z.B. Duttge JZ 2008, 261, 264; Lagodny StV 1996, 167, 168 f., 172; s. auch Jäger (Fn. 96), S. 178 f.; Meyer-Mews NJW 2007, 3142. 115 Eine Täuschung bejaht bezüglich derartiger Äußerungen Ellbogen Kriminalistik 2006, 544, 548. Ähnlich restriktiv auch Meyer-Mews NJW 2007, 3142. In offenen Vernehmungen wird das Vorspiegeln freundlicher Gesinnung überwiegend nicht als durch § 136a StPO verboten angesehen; vgl. LR/Gleß (Fn. 5), § 136a Rn. 40; SK-StPO/Rogall (Fn. 5), § 136a Rn. 65 (beide m.w.N.); Schumann JZ 1986, 66, 67; aA Ransiek (Fn. 49), S. 68, wohl auch Erb FS Otto, 2007, S. 863, 876. Vgl. auch allgemein zur Abgrenzung von (zulässiger) List und (unzulässiger) Täuschung Puppe GA 1978, 289 ff. 116 Vgl. auch allgemein (kritisch) zu einem Interesse an der staatlich arrangierten Lüge Salditt AnwBl 1999, 134 f. sowie zur „Heimlichkeit als System“ (anstelle eines normativen Systems der Heimlichkeit) Zöller StraFo 2008, 15 ff. 117 S. oben I.5. 113
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deutlich großzügiger war und auch bei einer aufwändig inszenierten staatlichen Täuschung einen nemo-tenetur-Verstoß verneinte, hat der Bundesgerichtshof in zwei neueren Entscheidungen zur Begründung des „Entlockens“ (neben konkreten weiteren Umständen) auf beharrliche Fragen unter Hinweis auf das vorgetäuschte Vertrauensverhältnis abgestellt.118 Vor diesem Hintergrund bedarf es einer näheren Auseinandersetzung mit dem Fragenkreis der Wahrheitspflicht bei verdeckten Ermittlungen, die an dieser Stelle jedoch nicht möglich ist.
IV. Beurteilung der aktuellen Judikate des Bundesgerichtshofs Abschließend lassen sich die Konturen der hier vorgestellten Überlegungen noch einmal mit Blick auf die eingangs geschilderten Entscheidungen des Bundesgerichtshofs 119 nachzeichnen. Hierbei ist in allen Fällen die erste Prüfungsstufe – die Zurechenbarkeit der verdeckten Befragung zum Staat (Informant als „Agent des Staates“) – ebenso erfüllt wie das zweite Prüfungskriterium („funktionales Äquivalent“ zur offenen Vernehmung), da jeweils der staatlich angebundene Informant (als Verdeckter Ermittler bzw. als nicht offen ermittelnder Polizeibeamter) einen steuernden Einfluss auf Inhalt und Ablauf des Gesprächs ausübte. Damit hängt die Annahme eines Verwertungsverbots von der Verwirklichung des dritten Prüfungskriteriums ab: Die selbstbelastende Äußerung muss dem Beschuldigten durch die Schaffung oder Ausnutzung eines „psychischen Drucks“ „entlockt“ worden sein.120 Dies entscheidet sich danach, ob die kommunikativen Verhaltensspielräume des Beschuldigten in normativ relevanter Weise eingeengt waren. Diese Frage kann nicht fallübergreifend, sondern nur für den jeweiligen Einzelfall unter Berücksichtigung der Art der Beziehung sowie der situativen und persönlichen Umstände des Beschuldigten beantwortet werden. Fest verankert erscheint insoweit die Bejahung des Verwertungsverbots im sog. „Mallorca-Fall“ 121. Durch die (langwährende) Haftsituation war die kommunikative Freiheit des Beschuldigten generell stark eingeengt. Des 118
BGHSt 52, 11, 22 f. (Rn. 34 f.); BGH NStZ 2009, 343, 344. S. oben zu I.3, 4 und 6. 120 In Anlehnung an das Allan-Urteil des EGMR (s. oben zu I.2) ist das Erfordernis des psychischen Drucks hier als zweiter (kumulativer) Unterpunkt des „Entlockens“ (neben dem „funktionalen Äquivalent“) eingeordnet worden. Andere Systematisierungen sind zumindest möglich, vielleicht sogar vorzugswürdig. So spricht Vieles dafür, das „funktionale Äquivalent“ systematisch mit dem Zurechnungsaspekt („Agent des Staates“) zu verknüpfen und das „Entlocken“ auf den Aspekt der Reduktion von kommunikativen Verhaltensspielräumen zu beschränken. Natürlich können auch alle drei Prüfungspunkte einfach nebeneinander gestellt werden. 121 S. oben I.3. 119
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Weiteren fällt ins Gewicht, dass der Beschuldigte für Vollzugslockerungen auf den Verdeckten Ermittler angewiesen war, der seine einzige Kontaktperson außerhalb der Haftanstalt war und ihm einerseits eine Perspektive für das Leben in Freiheit in Gestalt gemeinsamer Geschäfte in Aussicht stellte, ihn andererseits aber mit der Ankündigung, die für den Beschuldigten so wichtige Beziehung abzubrechen, massiv zu Angaben drängte.122 Demgegenüber ist der Umstand, dass das selbstbelastende Gespräch außerhalb der Strafanstalt während eines Hafturlaubs geführt wurde, ohne nennenswerte Bedeutung, da die insbesondere durch die soziale Abhängigkeit geschaffene Einbuße an kommunikativer Autonomie auch in dieser Zeit fortwirkte. Folglich überzeugt die Annahme eines „Entlockens“ und eines hieraus resultierenden Verwertungsverbots durch den 3. Strafsenat;123 dies gilt unabhängig von der Frage, welchen Stellenwert man der vorherigen Berufung auf das Schweigerecht beimisst. In dem vom 5. Strafsenat entschiedenen Fall der zur Identifizierung des Mordopfers vorgelegten Lichtbilder kommt der Haftsituation eine geringere Bedeutung zu, da sich der Beschuldigte dem Gespräch mit einem Besucher vergleichsweise leicht entziehen konnte; ferner hatte der Beschuldigte mangels Kenntnis von den insoweit gegen ihn geführten Ermittlungen von seinem Schweigerecht noch keinen Gebrauch gemacht. Von ausschlaggebender Bedeutung ist hingegen die mit der Präsentation der Fotos verknüpfte Äußerung, gegebenenfalls beide Frauen zu töten, falls der Beschuldigte nicht das „richtige“ Opfer eindeutig bezeichne. Wenn man mit dem 5. Strafsenat dieses Verhalten als strafbare Nötigung ansieht, dann scheint sich die Annahme eines Verwertungsverbots nahezu von selbst zu verstehen, zumal dann, wenn man die insbesondere von Amelung vertretene Auffassung teilt, dass der Staat bei strafbarer Erlangung eines Beweismittels (insoweit) die Legitimation zum Strafen verliert, sodass der betreffende Beweis einem Verwertungsverbot unterliege.124 Bedenken gegen diese Beurteilung könnten sich aus dem Umstand ergeben, dass sich das in Aussicht gestellte Übel gegen eine unbeteiligte Person richten sollte. Dass die „Übererfüllung“ des Kontrakts als Exzess anzusehen und für den Beschuldigten keine strafbare Anstiftung begründen würde,125 steht der Annahme einer (zumindest versuchten)126 Nötigung nicht 122 BGHSt 52, 11, 22 f. (Rn. 34 f.). Vgl. auch Fischer StGB, 57. Aufl. 2010, § 240 Rn. 32a (zum „empfindlichen“ Übel). 123 Zu demselben Ergebnis gelangt Beulke ([Fn. 5], Rn. 481d) durch eine analoge Anwendung des § 136 StPO. 124 Amelung NJW 1991, 2533, 2534 f.; ders. FS Roxin, 2001, S. 1259, 1262 f. Auch der 5. Strafsenat verweist (BGHSt 55, 138, 146 [Rn. 28]) auf Amelung. 125 Mit diesem Argument kritisiert Kretschmer (HRRS 2010, 343, 344) den Beschluss. 126 Die eigentlich beabsichtigte Identifizierung der Ehefrau scheint nicht erfolgt zu sein. Damit bliebe als Nötigungserfolg nur das Nicken auf die anschließend gestellte Frage, ob es richtig sei, dass sie seine Frau „wegmachen“ sollen.
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entgegen, wie der Fall eines Bankkassierers oder Lebensmittelkonzerns zeigt, der auf die Bedrohung eines Kunden hin die geforderte Geldsumme zahlt.127 Maßgeblich ist vielmehr, dass eine Nötigung (bzw. Erpressung) auch durch die Bedrohung eines (nicht notwendigerweise dem Genötigten nahestehenden) Dritten begangen werden kann, sofern der Erklärungsadressat die Drohung auch für sich selbst als Übel empfindet. Eine solche Betroffenheit gründet hier darauf, dass sich der Beschuldigte für das Schicksal der unbeteiligten Frau moralisch verantwortlich gefühlt hat, da sie gerade wegen seiner unpräzisen Angabe des Autokennzeichens in die Gefahr geraten ist, Opfer eines Anschlags auf ihr Leben zu werden.128 Die gleichen Maßstäbe sollten auch bezüglich des Merkmals der Drohung mit einer strafprozessual unzulässigen Maßnahme (§ 136a Abs. 1 S. 3 StPO) gelten.129 Überdies ist eine Verletzung des nemo-tenetur-Grundsatzes auch ohne eine Strafbarkeit gemäß § 240 StGB und ohne Verwirklichung des § 136a StPO möglich.130 Dementsprechend umfasst der Begriff des unzulässigen „Zwangs“ zur Selbstbelastung im Kontext des insoweit einschlägigen Art. 14 Abs. 3 lit g) IPBPR auch die Androhung von Nachteilen tatsächlicher oder rechtlicher Art für andere.131 Nach alledem ist dem 5. Strafsenat bezüglich der Annahme eines Beweisverwertungsverbots zuzustimmen.132 Die relativ schwächste Basis für ein Verwertungsverbot weist der vom 4. Strafsenat entschiedene „Pascal“-Fall 133 auf. Der psychische Druck, der aus der Dauer der Beziehung und der Anzahl der Gesprächskontakte resultiert, ist vergleichsweise gering. Für ein „Entlocken“ bleibt – abgesehen von
127 BGH NStZ 1987, 222 f.; 1994, 187; Fischer (Fn. 122), § 240 Rn. 37 m.w.N.; Geppert Jura 2006, 31, 32. 128 Zum Verantwortungsgefühl als Grundlage eigener Betroffenheit vgl. Lackner/Kühl StGB, 26. Aufl., 2007, § 240 Rn. 15; Seelmann JuS 1986, 201, 203. Vgl. auch (zur „Täuschung“ iSd § 136a StPO) BGH NStZ 1988, 419 mit Anm. Geppert JK 2/89, StPO § 136a/5 (zur wahrheitswidrigen Vorspiegelung, der geflohene Mittäter habe möglicherweise bei einem Schusswechsel mit der Polizei eine lebensgefährliche Verletzung davongetragen). 129 So auch Eisenberg (Fn. 5), Rn. 682; SK-StPO/Rogall (Fn. 5), § 136a Rn. 72. Für eine Verengung auf dem Beschuldigten nahestehende Personen hingegen LR/Gleß (Fn. 5), § 136a Rn. 56; s. auch Hilland (Fn. 45), S. 141 f. Hiervon abgesehen liegt die vorsätzliche Tötung eines Unbeteiligten wohl schon jenseits des Kreises der nach den Vorschriften des Strafverfahrensrechts (!) „unzulässigen Maßnahmen“. 130 Im hier gemeinten Sinne bezeichnet Rogall (NStZ 2008, 110, 113) auch die „im Umfeld der Nötigung“ liegenden Verhaltensweisen als relevant, wenn sie zur Veranlassung einer verfahrensbezogenen Äußerung bestimmt und geeignet sind und nicht erwartet werden kann, dass das Opfer dem Druck widersteht. S. auch Schneider NStZ 2001, 8, 10. 131 LR/Gollwitzer (Fn. 72), Art. 6 MRK/Art. 14 IPBPR Rn. 253. Vgl. auch für einen Schwerevergleich die von Ellbogen (Kriminalistik 2006, 544, 548) genannten Beispiele. 132 Freilich hat sich der Senat nicht dazu geäußert, ob sich die Unverwertbarkeit auf das gesamte Gespräch (einschließlich der mittels einer Geste angegebenen Haarlänge) oder nur auf die der Nötigung nachfolgenden Angaben erstreckt. 133 S. oben I.4.
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der vorherigen Berufung auf das Schweigerecht, der nach hier vertretener Ansicht jedoch allenfalls ein eingeschränkter Wert beizumessen ist – hiernach vor allem der Umstand, dass der Verdeckte Ermittler die „Seelenverwandtschaft“ nicht zuletzt durch die Lüge hervorgerufen hat, er selbst habe im Alter von 20 Jahren seine Schwester getötet. Ob sich hieraus eine erhebliche Reduktion kommunikativer Verhaltensspielräume ergibt, lässt sich bezweifeln. Damit deutet die Beurteilung des Vorgehens als unfair134 darauf hin, dass der Bundesgerichtshof „vertrauensfördernde Begleitlügen“ allenfalls in einem sehr engen Maße zu akzeptieren bereit ist.135 Einerseits ist dieser Beschluss gerade deshalb besonders wichtig; denn je weiter sich der Bundesgerichtshof von „glasklaren“ Konstellationen in die Grenzbereiche vorwagt, umso deutlicher lassen sich die Konturen der von der höchstrichterlichen Rechtsprechung verfolgten Leitlinie erkennen. Andererseits ist nicht ganz klar, wie „belastbar“ dieser recht knappe Beschluss ist. Zwar war der 4. Strafsenat „mit seiner Entscheidung bisher am mutigsten“, doch hat ihn sein Mut „nichts gekostet“, weil das Urteil nicht auf den unverwertbaren Angaben beruhte.136
V. Fazit Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die vom Allan-Urteil des EGMR angestoßene vorsichtige Erweiterung des nemo-tenetur-Grundsatzes durch den Bundesgerichtshof dogmatisch vertretbar ist und in den bisher entschiedenen Fällen zu überzeugenden Ergebnissen geführt hat. Die neue Linie des Bundesgerichtshofs verstößt auch nicht gegen die Maßstäbe, die der EGMR (insbesondere unter Berücksichtigung der Entscheidung Bykov v. Russland) aus dem nemo-tenetur-Grundsatz entwickelt hat. Zwar wären auch Konzeptionen denkbar gewesen, die den Bereich zulässiger verdeckter Befragungen durch striktere Vorgaben stärker begrenzen, doch macht dies die differenzierende, stark auf die Umstände des Einzelfalls abstellende Herangehensweise des Bundesgerichtshofs nicht unzulässig. Im Interesse einer möglichst großen Stringenz erscheint es empfehlenswert, im neu hinzugekommenen nemo-tenetur-Bereich der staatlich veranlassten irrtümlichen Selbstbelastung die Prüfung in drei Schritte zu untergliedern und danach zu
134 Ebenso Mosbacher JuS 2009, 696, 700; dem BGH zustimmend auch Satzger JK 1/10, StPO § 110a/3. 135 Freilich ist einzuräumen, dass der BGH der vorherigen Berufung auf das Schweigerecht eine größere Bedeutung zumisst. Denkbar wäre ferner, dass die Beschuldigte in einem stärkeren Maße in ihrer kommunikativen Autonomie gegenüber dem Verdeckten Ermittler eingeschränkt war, als sich dies den recht knappen Angaben im mitgeteilten Sachverhalt entnehmen lässt. 136 Kretschmer HRRS 2010, 343, 346.
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fragen, ob erstens das Handeln des Informanten den Ermittlungsbehörden überhaupt zuzurechnen ist („Agent des Staates“), ob zweitens die heimliche Befragung wegen des steuernden staatlichen Einflusses auf den Ablauf und den Inhalt des Gesprächs als „funktionales Äquivalent“ zu einer offenen Vernehmung anzusehen ist und ob schließlich drittens die Äußerungen unter Schaffung oder Ausnutzung eines besonderen psychischen Drucks dem Befragten „entlockt“ wurden. Während die Handhabung der beiden ersten Kriterien keine nennenswerten Schwierigkeiten bereiten wird, besteht bezüglich der Konturierung des hinreichenden psychischen Drucks (insbesondere im Hinblick auf die Relevanz qualifizierter Täuschungen) noch weiterer Klärungsbedarf.
Rationierung in der Medizin und strafrechtliche Haftung des Arztes Detlev Sternberg-Lieben I. Einleitung Der medizinische Fortschritt hat zwangsläufig zu steten Kostensteigerungen im Gesundheitswesen geführt, sieht sich doch die Medizin zu Beginn des 21. Jahrhunderts geradezu in einer „Fortschrittsfalle“ 1 gefangen: Jede medizinische Verbesserung erzeugt eine Nachfrage seitens der Patienten, die nicht bestand, als es die Mittel zu ihrer Befriedigung noch nicht gab.2 Hieraus resultiert eine zunehmende Kluft zwischen medizin(-technischer) Verheißung und ihrer Erfüllung.3 Da das theoretisch Machbare auch zukünftig über das praktisch Finanzierbare weit hinausreichen wird, werden sich auch die Fragen, inwieweit Ressourcenbeschränkungen im Gesundheitswesen den strafrechtlichen Haftungsmaßstab im Medizinrecht beeinflussen, zukünftig verschärft stellen. Dies gilt auch dann, wenn man darauf besteht, den ursprünglich rein naturwissenschaftlich ausgerichteten Krankheitsbegriff nicht durch zunehmende Einbeziehung auch sozialer Komponenten derart „anzureichern“, dass unter Gesundheit dann – so die verfehlte Gesundheitsdefinition der Weltgesundheitsorganisation4 – nicht nur das Fehlen von Krankheit und Gebrechen, sondern ein Zustand vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens zu verstehen wäre. Gesundheit sollte vielmehr – ebenso wie die Antwort auf die Frage, was Gerechtigkeit sei – nicht positiv, sondern von ihrem Gegenpart, also vom Krankheitsbegriff, her definiert werden.5 Aber auch dann werden die Wünsche nach „Krankheitsbehandlung“ aller Voraussicht nach dauerhaft steigen: Die Grenzziehung zwischen der Korrektur eines als anormal definierten körperlichen (bzw. seelischen) 1
Hierzu bereits Krämer Krankheit des Gesundheitswesens, 1989, S. 28 ff. In den Worten eines anonym bleiben wollenden ärztlichen Praktikers: „Früher war der Patient nach einer Woche entweder tot oder gesund; heute lebt er länger, bleibt aber ein multimorbider Kostenfaktor.“ 3 Eingehende Nachw. zur Problematik bei Katzenmeier in Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, 62009, X/21 ff. in Fn. 63 ff., sowie zuletzt Arnade Kostendruck und Standard, 2010, S. 9 ff. in Fn. 1 ff. 4 Text bei Deutsch/Spickhoff Medizinrecht, 62008, Rn. 1731. 5 Vgl. P. Kirchhof ZME 51 (2005), 229, 235. 2
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Zustandes (kurative Medizin) einerseits, körperlicher oder geistiger „Vervollkommnung“ (sog. wunscherfüllende Medizin) andererseits, hat bereits heute den altbekannten Bereich der Schönheitsoperation verlassen, denkt man nur an das sog. neuronale Enhancement.6 Zusätzlich ist der Anstieg der von der gesetzlichen Krankenversicherung zu erstattenden Leistungen durchaus systemimmanent erklärbar, da bislang in der Regel weder das Angebot der Leistungserbringer noch die Nachfrage der Patienten durch Rücksicht auf den Preis der Krankenbehandlung gebremst werden. Verschärft wird dies alles zusätzlich durch eine demographische Entwicklung, durch die die Bevölkerungs-Pyramide zum -Pilz mutiert.7 Da nun aber auch andere gesellschaftliche Bereiche zur Kostenexplosion neigen, wird über allerorts wachsende Ansprüche letztlich politisch zu entscheiden sein, da das erwirtschaftete Bruttosozialprodukt eben nicht ausschließlich für das strukturell „unersättliche“ Gesundheitssystem ausgegeben werden kann.8 Der nachfolgende Beitrag beschränkt sich auf die etwaigen strafrechtlichen Auswirkungen einer Rationierung ärztlicher Leistungen, also auf die Konsequenzen eines bewussten Vorenthaltens an sich notwendiger medizinischer Maßnahmen. Somit bleiben – für die strafrechtliche Haftung ohnehin nicht relevante – Fragen der Ausschöpfung von Wirtschaftlichkeitsreserven (Rationalisierung) ebenso ausgeklammert wie der in letzter Zeit zunehmend in den Mittelpunkt gesundheitspolitischer Diskussionen gerückte Begriff der Priorisierung, also der ausdrücklichen Feststellung einer Vorrangigkeit bestimmter medizinischer Indikationen, Patientengruppen oder medizinischer Verfahren.9 Mit Aspekten dieser Fragestellung hatte ich mich bereits in einem Beitrag zur Festschrift meines wissenschaftlichen Doktor- und Habilitationsvaters Ulrich Weber beschäftigt. Diese Ehrengabe für seinen langjährigen Berliner Freund Klaus Geppert 10, der mir vom Beginn meiner akademischen Tätigkeit an der Freien Universität Berlin noch in allerbester Erinnerung ist, gibt mir Gelegenheit, dieses Thema erneut aufzugreifen. Hierbei sollen – damals ver-
6 Vgl. etwa die Beiträge von Pawelzik, Gesang und Düwel in Kettner (Hrsg.), Wunscherfüllende Medizin, 2009, S. 273 ff., bzw. von Groß in Wienke u.a. (Hrsg.), Die Verbesserung des Menschen, 2009, S. 85 ff., sowie Merkel ZStW 121 (2009), 919 ff. 7 Isensee GS für M. Heinze, 2005, S. 417, 418; s.a. Kluth MedR 2010, 372, 376. 8 Höffe in Katzenmeier/Bergdolt (Hrsg.), Das Bild des Arztes im 21. Jahrhundert, 2009, S. 61, 63, Isensee (Fn. 7), S. 420. 9 Hierzu der interdisziplinäre Sammelband von Wohlgemuth/Freitag (Hrsg.), Priorisierung in der Medizin, 2009; zu den Begrifflichkeiten Fuchs/Nagel/Raspe DÄ 106 (2009), 554 ff. Würde jedoch nicht nur eine Rangstufe der Dringlichkeit abzuarbeitender „Fälle“ aufgestellt, so läge bei einem Leistungsausschluss im Ergebnis dann doch Rationierung unter einem „gefälligeren“ Titel vor (s.a. Welti MedR 2010, 379, 381). 10 Hierzu U. Weber in Hilgendorf (Hrsg.), Die deutschsprachige Strafrechtswissenschaft in Selbstdarstellungen, 2010, S. 633, 652.
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tiefend erörterte11 – Fragen nach der Gebotenheit einer parlamentsgesetzlichen Regelung ausgeklammert bleiben. Statt dessen sollen primär drei Fragen untersucht werden, nämlich die möglichen strafrechtlichen Konsequenzen des sog. Nikolaus-Beschlusses des Bundesverfassungsgerichtes (unter II. 3. c)), die Möglichkeit einer sog. Risiko-Einwilligung des Patienten in eine aus Kostengründen den gebotenen Mindeststandard bewusst unterschreitende ärztliche Maßnahme (unter III.) sowie schließlich ein weiterer Aspekt der Arzthaftung, nämlich ein möglicher Aufklärungsfehler im Zusammenhang mit Rationierungsentscheidungen (unter IV.).
II. Behandlungsfehler infolge Rationierung ärztlicher Leistungen 1. Ein Behandlungsfehler durch Vorenthalten medizinisch gebotener Leistung kann – je nach Erfolgs- und Handlungsunwert – als vorsätzliche bzw. fahrlässige Tötung bzw. Körperverletzung, verübt jeweils durch Unterlassen, in den Blick des Strafrechts geraten.12 Allerdings wird eine strafrechtliche Erfolgshaftung in Bezug auf eine nicht verhinderte Krankheitsverschlechterung bzw. nicht herbeigeführte Verbesserung des Gesundheitszustandes zumeist daran scheitern, dass ein hinreichender Zurechnungszusammenhang zwischen einer etwaigen ärztlichen Pflichtverletzung durch Nichtgewährung des medizinisch Möglichen und dem hierdurch herbeigeführten Erfolg im Sinne der Tötungs- bzw. Körperverletzungstatbestände jedenfalls dann nicht wird festgestellt werden können, wenn man mit Rechtsprechung und herrschender Lehre einen Kausalitäts- bzw. Zurechnungszusammenhang in der Form verlangt, dass ein pflichtgemäßes Verhalten des Arztes den Verletzungserfolg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verhindert hätte.13, 14 11
Sternberg-Lieben Weber-FS, 2004, S. 69, 75 ff. Eine Strafbarkeit wegen unterlassener Hilfeleistung (§ 323c StGB) soll hier nicht weiter behandelt werden, wird es doch insoweit häufig – jedenfalls auf Basis der Rechtsprechung (Nachw. bei Sternberg-Lieben/Hecker in Schönke/Schröder, 282010, § 323c Rn. 6) an einem „Unglücksfall“ fehlen, sofern es sich nicht um eine plötzliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Patienten, sondern um dessen vom – wie auch immer zu bestimmenden – gesundheitlichen Normalzustand abweichenden, konstanten Krankheitsstatus handelt; bei Annahme eines Unglücksfalles würde sich dann die Frage nach der Zumutbarkeit budgetüberschreitender Krankheitsbehandlungspflichten stellen, die spätestens ab einer wirtschaftlichen Existenzgefährdung der ärztlichen Praxis bzw. des Krankenhausbetriebes abzulehnen wäre. 13 Zum Kausalzusammenhang bei den unechten Unterlassungsdelikten s. Stree/Bosch in Schönke/Schröder (Fn. 12), § 13 Rn. 61. – Zu einem anderen Ergebnis wird regelmäßig die sog. Risikoerhöhungslehre führen (hierzu abl. Stree/Bosch ebd., Rn. 63 sowie SternbergLieben in Schönke/Schröder [Fn. 12]), § 15 Rn. 179/179a), doch kann dieser Problematik hier nicht nachgegangen werden. 14 Insoweit sei ergänzend angemerkt, dass der Arzt – sollte der Kausal- und Zurechnungszusammenhang mit hinreichender Sicherheit festgestellt werden können – sich nicht 12
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Anders stellt sich für den nicht gemäß ärztlichem Standard behandelnden Arzt allerdings seine zivilrechtliche Verantwortlichkeit dar, sofern diese (Nicht-)Behandlung als sog. grober Behandlungsfehler einzustufen wäre, da dann – so der Bundesgerichtshof in Zivilsachen in Fortsetzung der Rechtsprechung des Reichsgerichtes – den Arzt die Beweislast für die Nichtursächlichkeit eines von ihm schuldhaft begangenen Fehlers trifft, sofern dieser grobe Behandlungsfehler geeignet ist, einen Schaden der eingetretenen Art herbeizuführen.15 Derartige – auch in der zivilrechtlichen Literatur nicht unumstrittene 16 – Beweislast-Sonderregelungen verbieten sich für den Bereich des Strafrechts von Vornherein. 2. a) Da regelmäßig der Arzt hinsichtlich einer durch sein Verhalten bewirkten Gesundheitsverschlechterung bzw. Todesherbeiführung nicht vorsätzlich handeln dürfte, wird nachfolgend nur die strafrechtliche Fahrlässigkeitshaftung in den Blick genommen (§§ 222, 229, i.V.m. 13 StGB). Die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Arztes insoweit setzt einen Sorgfaltsverstoß, mithin einen Behandlungsfehler, voraus, der dann gegeben ist, wenn der Arzt nicht diejenigen Maßnahmen ergriffen hat, die von einem gewissenhaften und aufmerksamen Arzt aus Sicht seines Fachbereiches erwartet werden können, kürzer: wenn der Arzt den einschlägigen medizinischen Standard verfehlt: Jeder Arzt muss dasjenige beachten, was auf dem betreffenden Fachgebiet dem gesicherten Stand der medizinischen Wissenschaft entspricht und in der medizinischen Praxis zur Behandlung der jeweiligen gesundheitlichen Störung anerkannt ist.17 Vom Ansatz her fallen also der medizinische darauf berufen kann, dass ein infolge seiner Pflichtwidrigkeit nicht eingeschalteter Dritter (also etwa ein medizinischer Spezialist) sich ebenfalls und gleichermaßen pflichtwidrig aus Kostengründen nicht an der gebotenen Behandlung beteiligt hätte. Selbst wenn hierin ein zutreffender Verweis auf entsprechende ärztliche Praxis läge, so kann sich der Arzt, um dessen strafrechtlich relevantes Unterlassen es geht, nicht dadurch entlasten, dass er sich auf eine mögliche zusätzliche Pflichtwidrigkeit eines Dritten beruft: Auch sonst wird ja bei Feststellung der Kausalität des Unterlassens davon ausgegangen, dass der pflichtwidrig nicht eingeschaltete Dritte seine Pflicht – so er denn eingeschaltet worden wäre – erfüllt hätte (Puppe Strafrecht AT im Spiegel der Rechtsprechung, 2002, § 48 Rn. 16, Stree/Bosch in Schönke/Schröder [Fn. 12], § 13 Rn. 62). Der Unterlassenstäter hat aber durch seine eigene Pflichtwidrigkeit dem Dritten gerade keine Gelegenheit zur Pflichterfüllung gegeben; insoweit ist mit Puppe (ebd.) Rn. 17 auch auf die Lederspray-Entscheidung des Bundesgerichtshofs hinzuweisen, in der der Senat im Ergebnis zutreffend auf Grund normativer Wertung zu dem Ergebnis gelangte, dass im Falle der Mehrfachkausalität die Täter sich nicht gegenseitig dadurch entlasten konnten, dass sie sich jeweils auf die Pflichtwidrigkeit des anderen Gremienmitgliedes beriefen (BGHStE 37, 106, 131 f.; s.a. BGHStE 48, 77, 95). 15 Eingehende Nachw. bei Geiß/Greiner Arzthaftpflichtrecht, 62009, B/250 ff. 16 Vgl. nur die differenzierende Kritik von Katzenmeier Arzthaftung, 2002, S. 454 ff. 17 Der einzuhaltende Standard wird also durch den jeweiligen Stand der medizinischen Wissenschaften und der ärztlichen Erfahrung im Zeitpunkt der Behandlung bestimmt (Sternberg-Lieben in Schönke/Schröder [Fn. 12], § 15 Rn. 219).
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und der rechtliche Sorgfaltsmaßstab in eins zusammen, können doch aus (straf-)rechtlicher Sicht keine anderen Anforderungen an sorgfaltsgemäßes ärztliches Handeln gestellt werden als aus Sicht der Medizin. Dieser von der Medizin selbst definierte Standard 18 wird (auch) durch die Leitlinien medizinischer Fachgesellschaften konkretisiert, in denen der Stand der medizinischen Wissenschaft und Praxis jeweils dokumentiert ist. Wie auch sonst bei sog. technischen Normen sind aber die hierin dokumentierten Maßstäbe zwar maßstabsetzend für die Ermittlung der einzuhaltenden Sorgfalt; aus ihrer Verletzung kann aber nicht ohne Weiteres auf einen Sorgfaltsmangel geschlossen werden, da jeweils die Situation im Einzelfall maßgeblich ist, die gegebenenfalls ein Abweichen vom Maßstab, der in den Richtlinien dokumentiert ist, erfordern kann.19 Wenn auch der maßgebende Standard ärztlicher Behandlung in plausibler Rollenaufteilung zwischen der medizinischen und der juristischen Profession nicht von Juristen, sondern zunächst einmal ärztlicherseits festgelegt wird,20 so ist für die Rechtsanwendung dann doch darauf zu bestehen, dass die Entscheidung über ein etwa sorgfaltswidriges ärztliches Verhalten als juristische Annahme vom Rechtsanwender, gegebenenfalls unter zusätzlichen rechtlichen Vorzeichen, zu treffen ist.21 Es kommt mithin zu einer Rollenaufteilung zwischen Gericht und medizinischem Sachverständigen: Während dieser aus fachlicher Sicht den in casu einschlägigen medizinischen Standard darlegt, obliegt dem Gericht die Entscheidung darüber, ob seine Verletzung nach Lage des konkreten Einzelfalles, also unter Heranziehung zusätzlicher Umstände, einen Behandlungsfehler darstellt.22 Bei der Prüfung, ob das Vorgehen des Arztes den einschlägigen medizinischen Standard eingehalten oder verletzt hat, darf der Grundsatz der ärztlichen Therapiefreiheit nicht übersehen werden; der einzuhaltende Qualitätsstandard ist also nicht gleichbedeutend mit einer stets zu verabfolgenden Standardbehandlung.23 Soweit es mehrere medizinisch anerkannte Heilmethoden gibt,24 ist dem Arzt in medizinischen Fragen ein Freiraum einzuräumen. Dem Recht unter Einschluss des Strafrechts obliegt nur eine
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Man kann also zu Recht von einer gewissen Verrechtlichung der Medizin „von Innen her“ sprechen. 19 Umgekehrt kann auch bei einem richtlinienkonformen ärztlichen Handeln ein die Fahrlässigkeitsstrafbarkeit begründender Behandlungsfehler vorliegen, wenn nach den Umständen des Einzelfalls ein Verlassen der Standard-Behandlung geboten gewesen wäre. 20 Katzenmeier (Fn. 3), X/13, G. Müller G. Hirsch-FS, 2008, S. 413, 414; and. noch Giesen Arzthaftungsrecht, 41995, Rn. 108. 21 Katzenmeier (Fn. 16), S. 279 ff. 22 Hierzu G. Müller (Fn. 20), S. 414. 23 G. Müller (Fn. 20), S. 418. 24 Entsprechendes gilt, wenn sich noch keine entsprechenden Standards durchgesetzt haben.
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Grenzkontrolle dahingehend, ob der Arzt von dem ihm eingeräumten Spielraum zum Wohle des Patienten Gebrauch gemacht hat.25 b) Der vom (Straf-)Recht rezipierte medizinische Standard 26 verschließt sich vom Ansatz her keineswegs differenzierenden Überlegungen, bestimmt er sich doch unterschiedlich je danach, welche Kenntnisse, Fertigkeiten und Ressourcen (personeller wie auch apparativer Art) im jeweiligen Verkehrskreis des Arztes vorauszusetzen sind;27 so ist an die apparative Ausstattung eines Universitätskrankenhauses ein höherer Maßstab anzulegen als an diejenige eines Kreiskrankenhauses, ein Allgemeinmediziner muss auch von Rechts wegen nicht über die Fachkenntnisse verfügen, die von einem Spezialisten, etwa in einer Universitätsklinik, zu verlangen sind. Die Anforderungen an sorgfaltsgemäßes ärztliches Verhalten unterscheiden sich mithin je nach Fachausbildung des Arztes sowie den dem Arzt zur Verfügung stehenden personellen und sachlichen Mitteln. Qualitätsunterschiede insoweit sind unschädlich, solange ein zwar nicht optimaler, aber noch ausreichender medizinischer Standard erreicht wird:28 Eine medizinisch mögliche, aber unbezahlbare Maximaldiagnostik und -therapie bildet bereits gegenwärtig nicht den an ärztliches Verhalten anzulegenden Sorgfaltsmaßstab. Es sind demnach gewisse Behandlungsunterschiede auch vom (Straf-)Recht zu tolerieren, solange ein zwar nicht optimaler, aber eben noch ausreichender medizinischer Standard erreicht wird; bei der Feststellung sorgfaltsgemäßen Verhaltens besteht ein „Behandlungskorridor“, innerhalb dessen der Arzt sich straffrei bewegen kann.29 25 Katzenmeier (Fn. 3), X/13 ff., ders. (Fn. 16), S. 282, Sternberg-Lieben in Schönke/ Schröder (Fn. 12), § 15 Rn. 219d; also ähnliche „Ermessenskontrolle“, wie sie auch für die rechtliche Überprüfung der ärztlichen Indikation als Voraussetzung und Grenze medizinischer Tätigkeit zu gelten hat (zu Letzterem Sternberg-Lieben Seebode-FS, 2008, S. 401, 417 ff.). 26 Zum Zusammenspiel zwischen unmittelbarer staatlicher Regulierung und indirekter Steuerung durch Nutzbarmachen gesellschaftlicher Selbststeuerungskräfte Sternberg-Lieben (Fn. 11), S. 82 f. 27 Katzenmeier (Fn. 3), X/17 f., Sternberg-Lieben in Schönke/Schröder (Fn. 12), § 15 Rn. 219g a.E. 28 Die Frage nach diesem noch ausreichenden medizinischen Standard dürfte die Rechtsprechung zukünftig verstärkt beschäftigen. Die gegenwärtige Rechtslage bietet dem Arzt relativ wenig Handlungssicherheit, ein Umstand, der auch aus anderen Bereichen ärztlicher Tätigkeit her bekannt und zu beklagen ist, denkt man etwa nur an die Sorgfaltsmaßstäbe für den rechtlich gebotenen Umfang der Diagnostik (eingehende Nachw. bei Steffen/Pauge Arzthaftungsrecht,102006, Rn. 155); hierzu kritisch bereits Schreiber in Göttinger Universitätsreden (Nr. 71), 1984, S. 29, 45. 29 So kann keineswegs überall und zu jeder Zeit eine optimale Versorgung, die modernste Technik oder die beste Ausstattung erwartet werden; auch darf in einer Übergangszeit aus Kostengründen auf die Anschaffung technischer Neuerungen verzichtet und nach der altbewährten, noch nicht verbesserten Methode vorgegangen werden; für alle: Stöhr MedR 2010, 214, 217 m.w.N.
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Wie soeben angedeutet, hat sich bereits das zivilrechtliche 30 Haftungsrecht bei der Bestimmung des ärztlichen Sorgfaltsmaßstabes wirtschaftlichen Gesichtspunkten keineswegs verschlossen. Dies sei durch einen Blick auf einige wenige Beispiele belegt: Die personelle Ausstattung eines Entbindungsteams in einem Kreiskrankenhaus muss nicht die Qualität aufweisen, die für schwere Fälle bei einem Perinatalzentrum erwartet werden darf.31 Das Fehlen neuester apparativer Ausstattung in einem Krankenhaus für Allgemeinversorgung begründet – ebenfalls nach Auffassung des Bundesgerichtshofs – keine Haftung, da eine dem jeweiligen Stand der Medizin entsprechende Therapie nicht zur Voraussetzung habe, dass jeweils das neueste Therapiekonzept verfolgt werden und die auf den neuesten Stand gebrachte apparative Ausstattung eingesetzt werden müsste; schon aus Kostengründen könne nicht jede technische Neuerung, die den Behandlungsstandard verbessern könne, sofort von allen Kliniken angeschafft werden, so dass es für eine gewisse Übergangszeit gestattet sein müsse, nach älteren, bis dahin bewährten Methoden zu behandeln.32 Ein letztes Beispiel: Im Hinblick auf die Bevorratung mit Medikamenten hat der Bundesgerichtshof 33 durchaus Aspekte der Unwirtschaftlichkeit einer Vorratshaltung vom Ansatz her akzeptiert; das auf Schadensersatz wegen der Herbeiführung einer Hepatitis-Infektion in Anspruch genommene Krankenhaus konnte sich hinsichtlich der Nichtanwendung eines nicht bevorrateten teueren Medikamentes aber hierauf nicht berufen, da das Medikament rechtzeitig hätte beschafft werden können. 30 Sicherlich kann die zivilrechtliche Behandlungsfehlerkasuistik nicht unbesehen auf die strafrechtliche Fahrlässigkeitszurechnung übertragen werden (Sternberg-Lieben in Schönke/Schröder [Fn. 12]), § 15 Rn. 219a); angesichts der unterschiedlichen Zielrichtungen von zivil- und strafrechtlichem Haftungsrecht gibt ein zivilrechtlich festgeschriebener Standard nicht zwingend einen auch strafrechtlich relevanten Sorgfaltsmangel vor; umgekehrt bildet der von der Ziviljustiz festgeschriebene Standard sorgfaltsgemäßen Handelns dann allerdings die Obergrenze möglicher Fahrlässigkeitsstrafbarkeit. 31 BGH VersR 1994, 480, 482, mit der Konsequenz, dass der Krankenhausträger nicht für einen Geburtsschaden des Kindes zu haften hatte, der in einem Perinatalzentrum hätte verhindert werden können, in das die Mutter aber wegen ihres Zustandes nicht mehr hatte verlegt werden können. 32 Hiervon zu trennen wäre allerdings ein in der Übernahme der jeweiligen Krankenbehandlung liegendes Verschulden, vgl. BGHZE 102, 17, 23 ff.: Darmverletzung bei einer laparoskopischen Eileitersterilisation mittels Hitze-Verschweißung durch monopolaren Hochfrequenzstrom; die Klägerin wurde nicht darauf hingewiesen, dass an anderen Kliniken bereits neuartige Geräte mit bipolarem Hochfrequenzstrom und einer hierdurch verringerten Gefahr von Darmverletzungen eingesetzt wurden. – Umgekehrt hat der Bundesgerichtshof (Zivilsachen) mehrfach entschieden, dass die Anwendung neuer Methoden, die für den medizinischen Fortschritt unerlässlich sei, von Rechts wegen voraussetze, dass die Patienten zuvor unmissverständlich darauf hingewiesen werden, dass die neue Methode unbekannte Risiken mit sich bringen könne (BGH NJW 2006, 2477 – Hüftoperation im sogenannten Robodoc-Verfahren), BGH VersR 2007, 995 (Behandlung mit noch nicht zugelassenem Medikament). 33 BGH NJW 1991, 1543 f.
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c) Soweit es in vorliegendem Zusammenhang um die Nichtdurchführung einer ärztlichen Maßnahme geht, ist darauf hinzuweisen, dass eine entsprechende Garantenpflicht des Arztes nur für ärztlich indizierte Maßnahmen gilt. Insoweit habe ich an anderer Stelle34 ausgeführt, dass die – von der jeweiligen Zielstellung abhängige – Indikationsstellung des Arztes schon deshalb vor die Prüffolie rechtlicher Anforderungen zu stellen ist, da ärztlicherseits zunehmend Überlegungen einbezogen werden, die über das Schicksal des betroffenen Patienten hinausgehen und damit eben nicht mehr ausschließlich am Patientenwohl orientiert sind. Dass gerade auch beim Einschluss wirtschaftlicher Überlegungen in ärztliche Therapieentscheidungen – unabhängig davon, ob es sich um eine offene oder verdeckte Rationierung 35 handelt – die Basis eines objektiv-naturwissenschaftlich verstandenen Indikationenbegriffs verlassen und die Kontrollfunktion des Rechts herausgefordert ist, dürfte sich von selbst verstehen. Offen bleiben muss hier allerdings die Beantwortung der Frage, wie auch insoweit angesichts der grundgesetzlichen Schutzgarantie für Leib und Leben (Art. 2 II GG) bindungsloser ärztlicher „Freiheit“ gegengesteuert werden kann, ohne umgekehrt durch eine übermäßige rechtliche Detailsteuerung überzureagieren und ärztlichen Entscheidungsspielraum auch bei der ärztlichen Indikationsstellung als mehrdimensionalem Prozess übermäßig und damit letztlich auch patientenschädlich einzuengen. Es wird Aufgabe der zukünftigen Diskussion sein, gerade auch im Zusammenhang mit Behandlungsbeschränkungen aus wirtschaftlichen Gründen den allein auf Beurteilungsfehler zu überprüfenden, spezifisch ärztlich zu verantwortenden Beurteilungsspielraum festzulegen. 3. Nun zu den Auswirkungen sozialrechtlicher Leistungseinschränkungen auf den strafrechtlichen Sorgfaltsmaßstab bei ärztlicher Tätigkeit: a) Die Auswirkungen sozialrechtlich vorgegebener Leistungseinschränkungen auf den zivil- oder strafrechtlichen Sorgfaltsmaßstab waren offenbar bislang noch nicht Gegenstand von Arzthaftungsprozessen. Ob dies darin begründet liegt, dass entsprechende Defizite von den behandelnden Ärzten oder den im Krankenhaus für die Mittelzuteilung sonst Verantwortlichen auf andere Weise kompensiert werden konnten, kann nur gemutmaßt werden.36 Als Ausgangspunkt ist festzuhalten, dass jedenfalls gegenwärtig kein Spannungsverhältnis zwischen den gesetzlichen Vorgaben des Sozial34
Seebode-FS (Fn. 25), S. 412 ff. Zur Begrifflichkeit sowie zu verschiedenen Erscheinungsformen: Arnade (Fn. 3), S. 38 ff., 44 ff. 36 Möglicherweise wurden haftungsrechtlich relevante sozialrechtliche Leistungseinschränkungen aber auch nur deshalb nicht geltend gemacht, weil sich die verantwortlichen Ärzte hierdurch ohnehin keine Entlastung erhofften (so aus Sicht der Rechtspraxis G. Müller [Fn. 20], S. 420). 35
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rechts (SGB V 37), dem medizinischen (Mindest-)Standard sowie dem an diesen Mindeststandard anknüpfenden (strafrechtlichen) Haftungsrecht bestehen, da sich der Versorgungsauftrag der gesetzlichen Krankenversicherung ungeachtet der erforderlichen Kostendämpfungsmaßnahmen dem medizinisch Notwendigen und Ausreichenden nach wie vor verpflichtet sieht,38 vgl. § 12 SGB V: Nach dem dort statuierten Wirtschaftlichkeitsgebot müssen ärztliche Leistungen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Für die Krankenbehandlung bestimmt § 27 SGB V, dass Versicherte einen Anspruch auf Krankenbehandlung haben, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Auch den Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses (der Kassenärztlichen Bundesvereinigungen, der Deutschen Krankenhausgesellschaft und des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen) zur Sicherung der Gewähr für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche ärztliche Versorgung der Versicherten (§ 92 I 1 SGB V), die im Einzelfall zur Nichterstattung bestimmter Behandlungsmaßnahmen führen können, kommt für die strafrechtliche Verantwortung des Arztes keine spezielle Bedeutung zu: Sie mögen zwar für die Bestimmung des medizinischen Standards eine größere Bedeutung haben als Leitlinien medizinischer Fachgesellschaften, schon allein deshalb, weil das vom Gemeinsamen Bundesausschuss zur Vorbereitung seiner Entscheidungen zu beauftragende Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen auf Basis evidenzbasierter Medizin 39 über die (Un-)Wirksamkeit einer Behandlungsmaßnahme zu befinden hat; aber auch diese Richtlinien sind vor die Prüffolie des Haftungsrechts zu stellen.40 In der alltäglichen Praxis wird den gemäß § 92 I 1 SGB V aufgestellten Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses allerdings eine ganz erhebliche Bedeutung zukommen: Kann nämlich eine Behandlung nach ihnen gar nicht oder nur eingeschränkt abgerechnet werden (vgl. § 92 I SGB V), so wird sie sich nur schwerlich zum Standard entwickeln können.41
37 Vom 20.12.1988 (BGBl. I S. 2477), zuletzt geändert durch Art. 4 SozialversicherungsStabilisierungsgesetz vom 14.4.2010 (BGBl. I S. 410). 38 Stöhr (Fn. 29), 217. 39 Dass die Bewertung von Untersuchungs- und Behandlungsmethoden nach § 135 SGB V primär eine präventive Maßnahme der Qualitätssicherung zum Schutze der Patientensicherheit bildet, betont Buchner in Lilie/Bernat/Rosenau (Hrsg.), Standardisierung in der Medizin als Rechtsproblem, 2009, S. 63, 69. 40 Stöhr (Fn. 29), 215, hält allerdings dafür, dass diese Richtlinien den ärztlichen Standard insoweit festlegen, als eine Unterschreitung unzulässig sei; zumindest sei für eine Abweichung eine besondere medizinische Rechtfertigung zu verlangen; ebenso G. Müller (Fn. 20), S. 420. 41 Geiß/Greiner (Fn. 15), B/9a, G. Müller (Fn. 20), S. 420 f., dies. in Katzenmeier/Bergdolt (Fn. 8), S. 75, 83, Stöhr (Fn. 29), 215.
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b) Durch die sozialversicherungsrechtlichen Vorgaben für eine wirtschaftliche Krankenbehandlung werden strafrechtsrelevante ärztliche Sorgfaltspflichten nicht verschoben.42 Da der Kassenarzt gemäß § 76 IV SGB V bei seiner Krankenbehandlung zur Einhaltung der Sorgfalt nach den Vorschriften des bürgerlichen Vertragsrecht verpflichtet ist, zusätzlich auch gemäß § 2 I 3 SGB V die Qualität kassenärztlicher Leistungen dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Kenntnisse zu entsprechen und den medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen hat, und nicht zuletzt gemäß § 70 I 1 SGB V die Leistungserbringer (Ärzte) eine dem allgemeinen Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechende Versorgung der Versicherten zu gewährleisten haben, besteht gar kein – gegebenenfalls zu Lasten des Arztes zu lösendes – Spannungsverhältnis zwischen dem Sozial- und dem Haftungsrecht:43 Der aus dem medizinischen Standard abgeleitete Sorgfaltsmaßstab der Fahrlässigkeit bildet die Grenze des Wirtschaftlichkeitsgebotes, nicht umgekehrt. Da der an die medizinische Wissenschaft und Praxis anknüpfende, aber eben juristisch zu fixierende Sorgfaltsmaßstab dem Rechtsgüterschutz des Patienten verpflichtet ist, verbietet sich ein Unterschreiten des jeweils anzuwendenden medizinischen Behandlungsstandards („Behandlungskorridor“, s.o.) aus Kostengründen.44 Wie ich an anderer Stelle bereits ausgeführt habe,45 entlastet eine infolge kassenärztlicher Vorgaben ausgeschlossene Honorierung einzelner ärztlicher Tätigkeiten einen an der kassenärztlichen Versorgung teilnehmenden Arzt nicht aus seiner strafrechtlichen Verantwortung, da 42 Sternberg-Lieben (Fn. 11), S. 83 ff., ders. in Schönke/Schröder (Fn. 12), § 15 Rn. 219g m.w.N.; für die zivilrechtliche Arzthaftung vorsichtig einschränkend Katzenmeier (Fn. 16), S. 291 ff., ders. (Fn. 2), X/38 sowie i.E. auch Arnade (Fn. 3), S. 218 ff. 43 Buchner (Fn. 39), S. 65, 75 f., Kohte in Lilie/Bernat/Rosenau (Fn. 39), S. 79, 95, G. Müller (Fn. 20), S. 420, Stöhr (Fn. 29), 216; skept. Katzenmeier (Fn. 3), B/29 ff.; vgl. auch die Nachw. bei Arnade (Fn. 3), S. 193 ff. 44 Ob der Rechtsanwender zukünftig dem ärztlichen Standard die Gefolgschaft zu versagen hätte, sofern Behandlungseinschränkungen aus Kostengründen in die ärztliche Selbstdefinition dieses Standards Eingang fänden (so Sternberg-Lieben [Fn. 11], S. 88), erscheint mir nunmehr nur für den Fall vorgezeichnet, dass bestimmte Behandlungen ausschließlich aus wirtschaftlichen Gründen – ggf. noch unter Heranziehung verfassungsrechtlich höchst zweifelhafter Kriterien wie etwa dem des Lebensalters (abl. Brech Triage und Recht, 2008, S. 280 ff.; diff. aber Huster MedR 2010, 369 ff.; einschr. Isensee [Fn. 7], S. 435) – erfolgen sollten. Da aber die Ärzte „der Gesundheit des einzelnen Menschen und der Bevölkerung (dienen)“ – so der in die die Ausübung des Arztberufs regelnden Berufsordnungen der Länder übernommene § 1 I der ärztlichen Muster-Berufsordnung 2006 (Text bei Laufs/Kern [Hrsg.], Handbuch des Arztrechts, 42010, im Anhang zu Kap. 1) –, wird weiter zu ergründen sein, ob – ähnlich der nur eingeschränkt überprüfbaren ärztlichen Indikation – entsprechende, von der medizinischen Profession entwickelte Vorgaben einer Berücksichtigung wirtschaftlicher Belange jedenfalls dann vom Recht zu akzeptieren sind, wenn sie die Behandlungsentscheidung letztlich einer primär am Wohle des Patienten ausgerichteten ärztlichen Gesamtabwägung überlassen. 45 Weber-FS (Fn. 11), S. 89; ebenso aus zivilrechtlicher Sicht Wagner MüKoBGB 52009, § 823 Rn. 751.
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die hinreichende Kostenerstattung eine Frage der Verteilung knapper Mittel innerhalb der Ärzteschaft darstellt.46 Angesichts der beim (nicht behandelten) Patienten auf dem Spiele stehenden Rechtsgüter der Gesundheit oder gar seines Lebens, die gegenüber den wirtschaftlichen Interessen des Kassenarztes als höherwertig einzustufen sind, vermag das Fehlen sozialversicherungsrechtlicher Kostendeckung auch unter dem Blickwinkel der Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens keine Wirkung als strafbarkeitseinschränkendes Regulativ im Bereich der Fahrlässigkeits- und Unterlassungsstrafbarkeit zu entfalten. c) Auch eine für das Kassenarztrecht unter dem Blickwinkel der Leistungserstattung bedeutsame Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes zwingt nicht dazu, den strafrechtlichen Haftungsmaßstab neu auszurichten. In seinem (am 6. Dezember 2005 ergangenen und deshalb so genannten) Nikolaus-Beschluss hatte das Bundesverfassungsgericht 47 entschieden, dass einem gesetzlich Krankenversicherten, für dessen lebensbedrohliche, regelmäßig tödliche Erkrankung (Duchenne’sche Muskeldystrophie) eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung stand, jede von diesen Patienten gewählte, ärztlich angewandte Behandlungsmethode zu finanzieren sei, sofern diese mit einer nicht ganz fernliegenden Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf verbunden wäre.48 Dieser Entscheidung zwingt jedoch nicht dazu, das einschlägige Medizinstrafrecht neu zu justieren,49 bezieht sich dieses Judikat doch nur auf die Finanzierungsfrage, hin46 Dem Arzt ist also die Mühsal aufzuladen, in eigener Person – und damit auch auf eigenes finanzielles und damit existenzielles Risiko (!) – sozial- und verfassungsrechtlich klären zu lassen, ob die Verteilung ärztlicher Honorare auf die einzelnen Berufsgruppen und Praxen gegen das aus Art. 12 GG i.V.m. Art. 3 GG herzuleitende Gebot der Verteilungsgerechtigkeit verstößt (krit. Isensee [Fn. 7], S. 425 f.); auch bleibt ihm die sicherlich höchst zeitaufwändige und mühselige Möglichkeit, die Notwendigkeit einer Überschreitung seiner Budgetgrenzen im Einzelfall zu belegen. 47 BVerfGE 115, 25; hierzu krit. Heinig Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, 2008, S. 421 ff.: Eine der gravierendsten Fehlentscheidungen des Verfassungsgerichts aus den letzten Jahren (ebd., S. 421). 48 BVerfGE 115, 25, 49. – Das Bundessozialgericht (Nachw. bei Padé NZS 2007, 352, 353) hatte einen sozialrechtlichen Leistungsanspruch nach § 27 I SGB V bis dahin nur dann anerkannt, wenn der Gemeinsame Bundesausschuss diese Behandlungsmethode positiv bewertet und festgestellt hatte, dass sie dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entspricht; Ausnahmen wurden nur für Fälle sog. „Systemversagens“ gemacht, wenn also das Anerkennungsverfahren willkürlich oder aus sachfremden Gründen verzögert wurde und die Methode zusätzlich dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprach. 49 Dannecker/A. F. Streng Szwarc-FS, 2009, S. 453, 460 ff., dies. in Wohlgemuth/Freitag (Fn. 9), S. 158, 180; ebenso aus zivilrechtlicher Sicht Katzenmeier/Schmitz-Luhn in Wohlgemuth/Freitag (Fn. 9), S. 158, 172.
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gegen nicht auf den (medizinstraf-)rechtlichen Haftungsmaßstab:50 Der zivilund strafrechtliche Standard sorgfaltsgemäßer ärztlicher Behandlung darf nicht dergestalt vom medizinischen Standard abgekoppelt werden, dass ein Arzt mehr zu erbringen hätte als dasjenige, was nach den Maßstäben seiner Profession von ihm gefordert wird.51 Da der insoweit maßgebliche Facharztstandard 52 von den berechtigten Erwartungen des Patienten mitbestimmt wird, die dieser an die Qualität und Leistungsfähigkeit des ihn behandelnden Arztes stellt, berührt die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur sozialrechtlichen Kostenerstattung diese Patientenerwartungen nicht. Diese sind im Regelfall auf eine der Schulmedizin entsprechende Behandlung gerichtet.53 Zwar hat die fragliche Entscheidung eine schulmedizinisch nicht anerkannte Methode (Bioresonanztherapie) finanziell verfügbar gemacht. Dies ändert aber nichts an der medizinisch-wissenschaftlichen Beurteilung dieser Außenseitermethode: Das Medizinstrafrecht ist gegenüber dem Sozialversicherungsrecht in seinen Wertungen keineswegs akzessorisch, da beide Rechtsgebiete unterschiedliche Gesetzeszwecke verfolgen und verschiedene Interessen zu wahren haben.54 Im Gefolge des Nikolaus-Beschlusses mögen zukünftig in Grenzfällen Außenseitermethoden zur sozialrechtlichen Kostenerstattung führen. Für die medizinisch-wissenschaftliche Beurteilung dieser Behandlungsmethoden, die für die rechtliche Haftungsfrage vorgreiflich
50 Dahingestellt bleiben muss hier, ob der vom Bundesverfassungsgericht konstituierte verfassungsunmittelbare Leistungsanspruch sich auf die gesetzgeberische Gestaltungsmöglichkeit auswirkt, zukünftig auch bei ernsthafteren Erkrankungen eine Leistungsbegrenzung in verfassungsrechtlich zulässiger Weise vorzusehen (Heinig [Fn. 47], S. 435 ff.; Huster/Penner in Wohlgemuth/Freitag [Fn. 9], S. 158, 166; and. Dannecker/A. F. Streng [Fn. 49], S. 465 f.), da letztlich vom Bundesverfassungsgericht unmittelbar aus der Verfassung ein medizinischer Leistungsanspruch gegenüber der Sozialversicherung konstruiert wurde, der einzig und allein auf den Gesundheitszustand des Betroffenen und eine (überdies dann auch nur potentielle) medizinische Zweckmäßigkeit der Leistung abstellte, ohne noch eine Kosten-Nutzen-Abwägung zuzulassen. 51 Katzenmeier/Schmitz-Luhn (Fn. 49), S. 170. 52 Sternberg-Lieben in Schönke/Schröder (Fn. 12), § 15 Rn. 219. 53 Dannecker/A. F. Streng (Fn. 49), S. 460 bzw. S. 174 und Katzenmeier/Schmitz-Luhn (Fn. 49), S. 170, weisen zutreffend darauf hin, dass ein herkömmlich ausgebildeter Arzt angesichts seines schulmedizinischen Hintergrundes gar nicht in der Lage ist, sämtliche jenseits der Schulmedizin liegenden Außenseitermethoden zur Behandlung von Erkrankungen, die mit Mitteln der Schulmedizin nur noch symptomatisch zu therapieren wären, zu beobachten und ihre Vor- und Nachteile zu erwägen; anders stellt sich die Lage allerdings dann dar, wenn eine derartige (dann nur vormals) Außenseitermethode auch aus Sicht der Schulmedizin zumindest ernsthaft wissenschaftlich diskutiert wird (Katzenmeier/SchmitzLuhn, ebd., S. 171). 54 Dannecker/A. F. Streng (Fn. 49), S. 461 ff. bzw. S. 173 f., die zu Recht darauf aufmerksam machen, dass auch unter dem Blickwinkel der Einheit der Rechtsordnung keine Veranlassung besteht, die vom Bundesverfassungsgericht neu justierten sozialversicherungsrechtlichen Finanzierungsmaßstäbe auf den strafrechtlichen Haftungsmaßstab zu übertragen.
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ist,55 ist dies jedoch ohne Belang. Nun wird im Bereich des Strafrechts die Nichtanwendung einer Außenseitermethode im Regelfall schon deshalb nicht zur strafrechtlichen Haftung wegen einer durch dieses Unterlassen bewirkten Lebensverkürzung (entsprechendes gilt für eine Gesundheitsverschlechterung) führen können, da in der Regel der Nachweis nicht wird geführt werden können, dass eine entsprechende Behandlung das Leben des Patienten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verlängert hätte.56 Möglicherweise wird die Nikolaus-Entscheidung aber unter einem anderen Blickwinkel strafrechtlich relevant, nämlich dem der ärztlichen Aufklärungspflicht, könnte doch die Einwilligung des Patienten infolge fehlender Aufklärung über diese Außenseitermethode unwirksam sein (hierzu noch unter IV. 1.). Nur angedeutet werden kann die Problematik, ob durch die NikolausEntscheidung dem zur Statuierung von Rationierungsvorgaben aufgerufenen Gesetzgeber 57 – im Grunde höchst zweifelhafte58 – Grenzen gezogen worden sind, die sich doch noch mittelbar auf die ärztliche Strafbarkeit auswirken könnten.59 Würden nämlich zukünftig einmal sogar lebens- oder gesundheitserhaltende Leistungen aus dem Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenversicherung gestrichen werden dürfen, so hätte dies ja durchaus Auswirkung60 auf den auch vom Medizinstrafrecht zu fordernden Sorgfaltsmaßstab. Diese gesetzlichen Vorgaben wären nämlich (anders als die gegenwärtigen sozialversicherungsrechtlichen „kostendeckelnden“ 61 Vorgaben der Budgetierung62) auch für die Fahrlässigkeitshaftung des Strafrechts relevant, da dieses schwerlich eine Privatperson zur kostenfreien Vornahme einer „Sozialleistung“ verpflichten kann, welche die Gesellschaft als solche sich nicht (mehr) leisten will.63 Würde das Bundesverfassungsgericht nun auf der Linie des Nikolaus-Beschlusses weiter voranschreiten, so wäre eine mit-
55 Katzenmeier/Schmitz-Luhn (Fn. 49), S. 171, mit dem zusätzlichen Hinweis darauf, dass ein Arzt haftungsrechtlich nicht verpflichtet werden dürfe, eine in seiner eigenen Fachwelt nicht anerkannten Methode zur Anwendung zu bringen und damit seinem Patienten möglicherweise mehr zu schaden als zu nutzen. 56 Dannecker/A. F. Streng (Fn. 49), S. 456 bzw. S. 174 f. 57 Hierzu Sternberg-Lieben (Fn. 11), S. 75 ff. 58 So deutlich Heinig (Fn. 47), S. 442. 59 Nachfolgend im Anschluss an Dannecker/A. F. Streng (Fn. 49), S. 465 f. 60 Und zwar unabhängig von einer hierdurch bewirkten allmählichen Abschleifung des medizinischen Standards infolge zunehmender Nichtpraktizierung. 61 Isensee (Fn. 7), S. 425, weist zu Recht darauf hin, dass es sich bei der Budgetierung und ähnlichen Maßnahmen um die Inpflichtnahme der Ärzteschaft für eine verkappte Rationierungsentscheidung des Gesetzgebers handelt, der seine Hände nicht zuletzt aus wahltaktischen Gründen in sozialpolitischer Unschuld waschen will. 62 Arnade (Fn. 3), S. 209; Kreße MedR 2007, 393, 397 (aber ggf. Behandlungsablehnung möglich); Sternberg-Lieben (Fn. 11), S. 89. 63 Sternberg-Lieben (Fn. 11), S. 85 f.
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telbar zum Ausschluss der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit führende parlamentsgesetzlich verfügte Rationierung 64 aber nur unterhalb65 der Schwelle regelmäßig tödlicher oder lebensbedrohender Erkrankung möglich,66 so dass sich diese angedeutete strafbarkeitsrelevante Anschlussfrage nur eingeschränkt stellen würde. d) Ein Letztes: Aus der Rechtspraxis wird darauf aufmerksam gemacht,67 dass angesichts des stetig steigenden Kostendrucks im Gesundheitswesen eine schleichende Reduzierung des ärztlichen Standards Platz greifen könnte: Mangels eigener Sachkunde werden die erkennenden Richter – sofern sie vom medizinischen Sachverständigen nicht hierüber informiert werden – zumeist gar nicht erkennen können, was im Einzelfall (bislang) medizinisch erforderlich und auch möglich gewesen wäre. Allerdings kann man spekulierend vermuten, dass die medizinischen Sachverständigen die über die Haftungsfrage entscheidenden Richter entsprechend aufklären werden, da sie die Justiz zunehmend als Bundesgenossen zur Aufrechterhaltung des Standards begreifen, der ihnen durch gesundheitsökonomische Vorgaben gefährdet erscheint.68 Allerdings wird man dann umgekehrt darauf zu achten haben, dass nicht – mit den Worten von Hans-Ludwig Schreiber 69 – die „vielzitierten Krähen auf einmal zu hacken beginnen und überall Behandlungsfehler finden“; konkret also: Der Rechtsanwender wird strikt die bislang von der Rechtsprechung ja durchaus auch anerkannten Unterschiede in der differenzierten Qualität ärztlicher Versorgung im Blick zu behalten haben, die häufig genug eine strafrechtliche Verantwortlichkeit nur unter dem Blickwinkel der sog. Übernahmefahrlässigkeit 70 zulassen werden, also dann, wenn ein den gebotenen Standard zwangsläufig unterschreitender Arzt dieses Fehlgehen von vornherein erkennen und – sofern kein Notfall vorliegt – durch Ableh-
64 Beispiele für bereits gegenwärtig im SGB V i.Z.m. kassenärztlicher Versorgung verfügten Rationierungen bei Arnade (Fn. 3), S. 46 ff., sowie Isensee (Fn. 7), S. 422 f. 65 Insoweit trifft den Staat für die in Art. 2 II GG geschützten Güter nur eine recht vage konturierte Schutzpflicht, die dem Gesetzgeber eine weite Gestaltungsfreiheit einräumt; er darf sich nur nicht mit völlig ungeeigneten oder völlig unzulänglichen Schutzvorkehrungen begnügen: BVerfGE 77, 170, 215; 79, 174, 202. 66 So ausdrücklich Heinig (Fn. 47), S. 430 f., der für den Bereich lebensbedrohender Erkrankungen eine höchstrichterlich vorgegebene, nahezu vollständige Entgrenzung derart verfassungsbasierter Leistungsansprüche sieht, da in derartigen Fällen eben nicht auf effektive Bedarfs-, Wirksamkeits- und Nutzenbewertungen zurückgegriffen werden dürfe, sofern keine anderweitigen und allgemein anerkannten Behandlungsmethoden zur Verfügung stehen; zw. Dannecker/A. F. Streng (Fn. 49), S. 466. 67 G. Müller (Fn. 20), S. 422. 68 G. Müller (Fn. 20), S. 422; s.a. Taupitz in: Nagel/Fuchs (Hrsg.), Rationalisierung und Rationierung im deutschen Gesundheitswesen, 1998, S. 86, 108. 69 Göttinger Universitätsreden (Fn. 28), S. 37. 70 Sternberg-Lieben (Fn. 11), S. 89.
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nen der Behandlung bzw. Weiterleiten des Patienten an einen geeigneten Arzt auch hätte verhindern können. 4. Soweit durch Rationierungsentscheidungen auf der oberen Stufe der Mittelzuteilung (Makro-Allokation) 71 dem behandelnden Arzt nur eingeschränkte Mittel zur Verfügung stehen, die den jeweils zu fordernden medizinischen Standard unterschreiten, entfällt mangels Behandlungsmöglichkeit seine Strafbarkeit in Folge einer gegenüber der gebotenen Standardbehandlung schlechteren Behandlung. Hiervon unberührt bleibt aber seine mögliche Fahrlässigkeitsstrafbarkeit, die an die Behandlungsübernahme und Außerachtlassung der beschränkten Behandlungskapazitäten anknüpft (Übernahmefahrlässigkeit).72 5. Nur angedeutet werden soll hier die Problematik, inwieweit diejenigen, die für entsprechende Vorgaben einer Budgetierung bzw. Behandlungslimitierung auf den Verteilungsebenen der Makro-Allokation verantwortlich zeichnen, für etwa hierdurch bewirkte Schäden an Leib und Leben bei unbehandelt bleibenden Patienten strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen sind. Man könnte daran denken, die Überlegungen fruchtbar zu machen, die im Zusammenhang mit sog. technischen Normen (etwa DIN-Vorschriften) hinsichtlich der „Norm“-Aufsteller angestellt worden sind: Insoweit kommt fahrlässiges Handeln dieser Personen immerhin dann in Betracht, sofern sie infolge ihrer fachlichen Autorität und eines geordneten Verfahrensganges bei
71 Also bei der Verteilung der Finanzmittel auf die einzelnen Haushaltsgebiete sowie bei der Festlegung des Anteils der Gesundheitsausgaben am Bruttosozialprodukt und schließlich auch bei der Verteilung der Ressourcen auf die unterschiedlichen Akteure des Gesundheitswesens; vgl. Brech (Fn. 44), S. 80 ff. 72 Sofern durch die bereits erwähnten Richtlinien des Bundesausschusses bestimmte Therapieformen ausgeschlossen sind, so hat dies – jedenfalls vor Übernahme der Behandlung – durchaus Auswirkung auf eine entsprechende Behandlungspflicht des Arztes (Sternberg-Lieben [Fn. 11], S. 85 f.; zuletzt: Arnade [Fn. 3], S. 218 ff.): Da von ihm eine unentgeltliche Durchführung von Behandlungsmaßnahmen, die rechtswirksam aus dem sozialgesetzlichen Leistungskatalog ausgegrenzt worden sind, nicht verlangt werden kann, besteht für ihn keine entsprechende Behandlungspflicht (so auch Dannecker/A. F. Streng [Fn. 49], S. 466); er hat seine Patienten dann aber durch entsprechende Informierung die Gelegenheit zu bieten, diese Leistung ggf. als Selbstzahler in Anspruch zu nehmen (für Kompensation des abgesenkten Sorgfaltsmaßstabs durch zusätzliche Aufklärungslasten auch Arnade (Fn. 3], S. 220 f.; Kreße [Fn. 62], 417; Wagner [Fn. 45] § 823 Rn. 752). Sollte sich ein pflichtversicherter Patient diese Eigenfinanzierung nicht leisten können, so würde sich eine vom Bundesausschuss verfügte Behandlungseinschränkung für ihn als faktische Behandlungsgrenze erweisen. Auch dies würde aber nicht einen Behandlungsanspruch eines bislang noch nicht im Behandlungsprozess stehenden Patienten begründen (anders bei bereits aufgenommener Behandlung, vgl. Kreße ebd.); es wäre vielmehr eine sozialgerichtliche Überprüfung derartiger Richtlinien des Bundesausschusses (Stichwort: Angemessenheit von Leistung und Gegenleistung) geboten.
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der Aufstellung der Regelungen erkennbar die Gewähr für deren inhaltliche Richtigkeit und gefahrlose Anwendbarkeit übernehmen, wie dies etwa in Bezug auf die DIN- oder VDE-Normen der Fall ist.73 Vorliegend geht es aber nicht um Vorgaben für standardgemäßes Vorgehen im Einzelfall. Die Akteure auf der Makro-Allokationsebene üben entweder ihren eigenen politischen Gestaltungsspielraum (Parlament) oder den ihnen (Gemeinsamer Bundesausschuss) gesetzlich übertragenen aus. Da auch der sog. NikolausEntscheidung des Bundesverfassungsgerichtes letztlich trotz Anerkennung eines verfassungsunmittelbaren Leistungsanspruches kein umfassendes Rationierungsverbot zu entnehmen ist,74 dürfte (ungeachtet von Kausalitätsfragen) eine entsprechende strafrechtliche Verantwortlichkeit der für die Rationierung Verantwortlichen also entfallen.
III. Risiko-Einwilligung Sollte (zukünftig) infolge von Rationierungsvorgaben im Einzelfall nicht mehr gewährleistet sein, dass der gebotene medizinische Mindeststandard eingehalten werden kann, so stellt sich die Frage, ob ein Patient nach vollständiger Aufklärung 75 den Arzt durch seine Einwilligung in eine derart risikoträchtige Behandlung von strafrechtlicher Verantwortlichkeit (§§ 229, 222 StGB) entlasten kann.76 Es ist somit die Problematik der sog. Risiko-Einwilligung aufgeworfen und damit ein Thema, mit dem sich Klaus Geppert schon früh beschäftigt hat.77 1. Bei Beantwortung der Frage, wem die unerwünscht eingetretenen Folgen zuzurechnen sind, die aus einer sowohl vom Täter als auch Opfer bewusst eingegangenen Risikosituation resultieren,78 sollte wie folgt verfahren werden:79 Von der Einwilligung als Zustimmung in die Verletzung des geschützten Rechtsgutsobjektes ist die Einwilligung in dessen bloße Gefährdung 73
Sternberg-Lieben in Schönke/Schröder (Fn. 12), § 15 Rn. 135 m.w.N. Dannecker/A. F. Streng (Fn. 49), S. 462 ff. bzw. 179 ff.: keine Anerkennung eines medizinischen Existenzminimums; aA Heinig (Fn. 47), S. 429 ff., Huster JZ 2006, 466, 468 (jeweils krit.). 75 Sowohl über eine dem medizinischen Standard nicht entsprechende Behandlung als auch über Möglichkeiten, eine standardgemäße Behandlung andernorts zu erhalten. 76 Ablehnend etwa Schirmer/Fuchs in Katzenmeier/Bergdolt (Fn. 8), S. 121, 128. 77 Sah der Jubilar in seinem Beitrag in ZStW 83 (1971), 947 ff., angesichts der Erfolgsbezogenheit der erteilten Einwilligung in einer Reduzierung den Täter treffenden Sorgfaltspflichten (ebd., 991 ff.) einen gangbaren Lösungsweg, so führte er in JK 88, StGB § 315b/8, JK 99, StGB § 228 n.F./1 sowie Jura 2001, 490, 493, entsprechende Konstellationen durch Ablehnung der objektiven Zurechnung einer sachgerechten Lösung zu. 78 Jakobs Strafrecht, AT, 21991, 7/126. 79 Lenckner/Sternberg-Lieben in Schönke/Schröder (Fn. 12), Vorbem §§ 32 ff. Rn. 102 ff. m.w.N. 74
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(Risiko-Einwilligung) zu unterscheiden. Bei letzterer ist der Rechtsgutsinhaber in Kenntnis der seinem Rechtsgut möglicherweise erwachsenden Gefahren mit der Vornahme von riskanten Handlungen eines anderen einverstanden, wobei er in der Erwartung handelt, dass diese Gefahr sich schon nicht realisieren werde; auf die Arzt-Patienten-Konstellation bezogen also: Kenntnis des Patienten, dass der Arzt ihm lediglich eine den gebotenen Standard unterschreitende Behandlung angedeihen lassen wird, wobei der Patient allerdings optimistisch davon ausgeht, dass hierdurch sein Gesundheitszustand sich nicht verschlechtern wird bzw. sogar Heilung oder Linderung seines Leidens eintreten werden. Nun hat die Risiko-Einwilligung zwar mit der Einwilligung (als Rechtfertigungs- oder Tatbestandsausschlussgrund 80) gemeinsam, dass in beiden Fällen der Inhaber des betroffenen Rechtsgutes von seinem Selbstbestimmungsrecht Gebrauch macht: Darf er dieses von Dritten verletzen lassen, so ist es ihm auch gestattet, sein Rechtsgut einer bloßen Gefährdung auszusetzen. Diese Gemeinsamkeit rechtfertigt es aber nicht, die Fälle bewusst eingegangener Gefährdungen dem Bereich der Einwilligung zuzuschlagen. Diese Separierung von Einwilligung und Risiko-Einwilligung gründet sich auf folgender Überlegung: Ein Ausschluss des Unrechts bei Erfolgsdelikten setzt voraus, dass neben der Aufhebung des Handlungsunrechts (in der hier in den Blick genommenen Konstellation: infolge Zustimmung des Patienten zur standardunterschreitenden ärztlichen Behandlung) auch das Erfolgsunrecht (hier also: Verschlechterung des Gesundheitszustandes oder gar Tod des Patienten) durch eine hierauf bezogene Einwilligung aufgehoben wird.81 Würde man demgegenüber bei Fahrlässigkeitsdelikten die Einwilligung allein auf die (möglicherweise) sorgfaltswidrige Täterhandlung beziehen und eine Einwilligung in den Erfolg für entbehrlich halten, so liefe das auf eine Übergewichtung des Handlungsunrechts zu Lasten des Erfolgsunrechts hinaus. Ein derartiger Ansatz ließe die Bedeutung außer Acht, die das Strafrecht als Rechtsgüter-Schutzrecht sowohl dem Erfolgseintritt 82 als auch der Schwere des bewirkten Erfolges 83 zumisst. Auch wäre es alles andere als überzeugend, in Fällen, in denen vom Betroffenen für eigene Rechtsgüter bewusst Risiken eingegangen werden, anzunehmen, eine derartige Einwilligung würde sich nicht nur auf die pflichtwidrige Täterhandlung, sondern darüber hinaus auf die dann eingetretene Rechtsgutsverletzung
80 Für die Behandlung der Risiko-Einwilligung ist die dogmatische Lozierung der Einwilligung zu vernachlässigen. 81 Geppert (Fn. 77), 974; Lenckner/Sternberg-Lieben in Schönke/Schröder (Fn. 12), Vorbem §§ 32 ff. Rn. 102 (m.w.N. auch zur Gegenansicht, die den bloßen Ausschluss des Handlungsunwerts infolge Einwilligung in die gefährdende Handlung genügen lässt). 82 Vgl. nur die unterschiedliche Behandlung von vollendetem und nur versuchtem Delikt. 83 Vgl. die Staffelung der Strafrahmen.
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beziehen.84 Dies liefe nämlich auf eine das Opfer strafschutzlos stellende Fiktion hinaus.85 Hierbei würde dem Umstand nicht Rechnung getragen, dass es eben einen ganz wesentlichen Unterschied bei der Disposition über die eigene Güterwelt bildet, ob der Rechtsgutsinhaber nur mit einem der Täterhandlung immanenten Risiko einverstanden ist oder ob er nicht nur das Risiko, sondern auch den damit etwa verbundenen Erfolg in Kauf nimmt. 2. Von einer derart erfolgsbezogenen Einwilligung kann man nur dann sprechen, wenn der Einwilligende bewusst auch mit der Rechtsgutseinbuße einverstanden ist.86 Es ist also spiegelbildlich an die Abgrenzung des dolus eventualis von der bewussten Fahrlässigkeit anzuknüpfen. Hiermit stellen sich dortige Zweifelsfragen auch bei der Feststellung „bedingt vorsätzlicher“ Rechtsgutspreisgabe als Mindestanforderung an die subjektive Seite einer Einwilligung, doch hat sich bislang kein anderer, wenigstens vom Grundsatz her hinlänglich konturierter Abgrenzungsmaßstab angeboten. Auf der Basis der für das Handlungsunrecht beim Vorsatzdelikt vertretenen herrschenden Auffassung kann bei der Einwilligung ein hinreichender Konsens des Rechtsgutsinhabers dann angenommen werden, wenn er den Erfolgseintritt für möglich hielt und ihn billigend in Kauf nahm bzw. ihm der Erfolgseintritt zumindest gleichgültig 87 war. Allerdings – und dies gilt es auch in der hier untersuchten Konstellation im Blick zu behalten – hat der Bundesgerichtshof in Bezug auf die Feststellung eines Tötungsvorsatzes mehrfach betont,88 dass aus der bloßen Kenntnis der Gefährlichkeit der Täterhandlung für fremdes Leben noch nicht ohne Weiteres auf die voluntative Seite des bedingten Vorsatzes geschlossen werden dürfe. Dies führt bei sinngemäßer Übertragung auf die innere Vorstellung des Einwilligenden zu einer ganz erheblichen Einschränkung der Reichweite der Einwilligung, verlangt doch die Gestattung einer mittelbaren Selbstverletzung ebenfalls, dass im Vergleich zum Konsens in eine bloße Fremdgefährdung eine höhere Hemmschwelle (hier des Tatopfers) überwunden werden muss. Angesichts des menschlichen Selbsterhaltungstriebes wird ein derartiger erfolgsbezogener Konsens nur dann anzunehmen sein, wenn dem Opfer die hohe Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts deutlich vor Augen stand und es auch nach seinem Vorstellungsbild nur von einem rettenden Zufall, auf dessen Eintritt es nicht vertrauen konnte, abhing, ob das Risiko sich verwirklicht. Es ist Tatfrage – wird aber im Regelfall anzunehmen sein –, ob das Opfer darauf vertraute, dass die von ihm 84
So etwa Beulke Otto-FS, 2007, S. 207, 215. So aus zivilrechtlicher Sicht bereits 1961 Stoll Das Handeln auf eigene Gefahr, S. 94. 86 Geppert (Fn. 77), 976 ff.; Lenckner/Sternberg-Lieben in Schönke/Schröder (Fn. 12), Vorbem §§ 32 ff. Rn. 103. 87 Sternberg-Lieben in Schönke/Schröder (Fn. 12), § 15 Rn. 82. 88 Sog. Hemmschwellen-„Theorie“: Eser in Schönke/Schröder (Fn. 12), § 212 Rn. 5; Sternberg-Lieben in Schönke/Schröder (Fn. 12), § 15 Rn. 87. 85
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konsentierte Gefährdung für seine Rechtsgüter folgenlos bleiben wird.89 Im Falle einer vom Patienten erklärten Risiko-Einwilligung wird ihm infolge der ärztlicherseits gebotenen deutlichen Aufklärung zwar die Möglichkeit einer Beeinträchtigung seiner Rechtsgüter Gesundheit und Leben vor Augen stehen, doch dürfte er im Regelfall die Realisierung des mit der standardunterschreitenden Behandlung verbundenen Risikos keineswegs für wahrscheinlich, sondern gerade durch ärztliche Kunstfertigkeit beherrschbar halten. 3. Eine etwaige Einwilligung des Patienten stieße nicht auf strafgesetzliche Verfügungsschranken. Sogar eine Einwilligung des Patienten in eine ärztlicherseits vorsätzlich verübte Lebensgefährdung, die dann ausnahmsweise vom Opfer konsentiert zum Tode des Patienten führt, wäre zulässig.90 Der wegen ihres (auch) paternalistischen Gehalts91 keineswegs unproblematischen Vorschrift des § 216 StGB kann keine Einwilligungsschranke entnommen werden, da diese Vorschrift sich ausweislich ihres Wortlauts nur auf die gezielte Tötung eines anderen Menschen bezieht. Würde diese Regelung auch auf Fälle erfolgsbezogener Risiko-Einwilligung angewandt, so würde sie auf einen völlig anders gearteten Lebenssachverhalt übertragen, der überdies auch unter dem Blickwinkel des zu schützenden Rechtsguts Leben nicht vergleichbar ist: Während einer vorsätzlichen Tötung auf Verlangen ein Verfügungscharakter über das Rechtsgut Leben eigen ist, wird bei einer fahrlässigen Tötung der Achtungsanspruch des Rechtsguts Leben angesichts der gesellschaftsüblichen Eingehung von Risiken für Leib, aber auch Leben, nicht entsprechend in Frage gestellt.92 Auch aus § 228 StGB kann keine Einwilligungsbegrenzung hergeleitet werden. Selbst wenn man diese Vorschrift nicht für verfassungswidrig 93 hält, so müsste doch beachtet werden, dass diese Verfügungsschranke in Bezug auf die eigene Körperintegrität sich ausweislich ihrer Stellung im Gesetz auf vorsätzlich beigebrachte Körperverletzungen bezieht. Auch darf nicht durch Anwendung von § 228 StGB die gesetzgeberische Entscheidung, kein allgemeines Körper- und Lebensgefährdungsdelikt zu errichten, überspielt werden.94 4. Es gilt also, nach anderen Lösungsmöglichkeiten für Fälle zu suchen, in denen sich das vom Patienten eingegangene,95 aber eben nicht konsentierte, 89
So auch BGE 134 IV 152. Lenckner/Sternberg-Lieben in Schönke/Schröder (Fn. 12), Vorbem §§ 32 ff. Rn. 104. 91 Krit. hierzu aber F. Müller § 216 StGB als Verbot abstrakter Gefährdung, 2010, S. 79 ff., 101. 92 So auch Duttge Otto-FS, 2007, S. 227, 231. 93 So aber Stree/Sternberg-Lieben in Schönke/Schröder (Fn. 12), § 228 Rn. 2 f. 94 Kühl NJW 2009, 1158, 1159 (Anm. zu BGHStE 53, 55), Niedermair Körperverletzung mit Einwilligung und die guten Sitten, 1999, S. 129. 95 Für die Wirksamkeit einer Einwilligung in riskante Handlungen gelten im Übrigen die gleichen Voraussetzungen wie für die Einwilligung in Vorsatzdelikte (Lenckner/Stern90
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Risiko realisiert hat. Kommt mangels erfolgsbezogener Einwilligung eine Rechtfertigung über dieses Rechtsinstitut nicht in Betracht, so könnte eine Straffreistellung des Täters über eine Reduzierung der ihn treffenden Sorgfaltspflichten – infolge des Opferkonsenses in die Gefahrschaffung – gesucht werden.96 Diesen Weg als allgemein gültige Lösung zu beschreiten, erscheint nicht sonderlich überzeugend, da jedenfalls gesetzlich vorstrukturierte Sorgfaltsanforderungen,97 die ja generell ein drittschädliches Verhalten unterbinden sollen, kaum herabgesetzt oder gar suspendiert werden können, nur weil auch das Opfer „gegen sich selbst fahrlässig“ handelt.98 Auch sonst wird ja im Strafrecht ein (überwiegendes) Mitverschulden des Opfers erst im Rahmen der Strafzumessung berücksichtigt. 5. Es wird somit zur sachgerechten Beantwortung der hier aufgeworfenen Zurechnungsfragen weiterhin über einen Ausschluss der objektiven Zurechnung nachzudenken sein.99 Die entsprechenden Überlegungen könnten an dem ja in anderem Zusammenhang auch nutzbar gemachten Prinzip der Eigenverantwortlichkeit 100 ausgerichtet werden. Unterscheidet man nämlich in diesem Zusammenhang vom Ansatz her zwischen grundsätzlich strafloser
berg-Lieben in Schönke/Schröder [Fn. 12], Vorbem §§ 32 ff. Rn. 105). So muss der Einwilligende in klarer Kenntnis des eingegangenen Risikos handeln. Auch bleibt die Tat dann rechtswidrig, wenn der Täter die Reichweite der Einwilligung dadurch überschreitet, dass er riskante Handlungen vornimmt, die durch die erteilte Einwilligung in das Risiko nicht gedeckt sind, so dass die eingetretene Verletzung dann nicht mehr Folge des eingegangenen Risikos, sondern anderweitiger Sorgfaltspflichtverletzungen ist (so etwa in der Konstellation von BGHStE 53, 55: Die Mitfahrt bei einem privaten Pkw-Wettrennen beinhaltet keinen Konsens in jedes gewagte Verkehrsmanöver). 96 Vgl. die Nachweise bei Lenckner/Sternberg-Lieben in Schönke/Schröder (Fn. 12), Vorbem §§ 32 ff. Rn. 106. 97 Diese bestehen etwa im Bereich des Straßenverkehrs, während dies beim ärztlichen Standard nicht der Fall ist. 98 Lenckner/Sternberg-Lieben in Schönke/Schröder (Fn. 12), Vorbem §§ 32 ff. Rn. 106. Bei fehlender Normierung eines Lebensbereiches vermag die Gestattung einer Gefährdung (z.B. der Partnerin eines Messerwerfers im Zirkus) zwar das Maß der Sorgfaltspflicht (neminem laede) zu beeinflussen. Dies gilt aber dann nicht, wenn der fragliche Lebensbereich „durchnormiert“ und eine Risikoschaffung insoweit abstrakt verboten ist (z.B. im Straßenverkehr durch die StVO): Es sollte also zwischen der „Aufstellung“ von Sorgfaltsanforderungen im Einzelfall (z.B. Messerwerfen durch Zirkusartisten) und der Dispensierung von bereits bestehenden Schutzvorschriften unterschieden werden (insoweit ist „Dispens“ dadurch möglich, dass das Opfer durch Verantwortungsübernahme für den Erfolg – also durch Einwilligung – den Täter von strafrechtlicher Verantwortung freistellt). 99 Geppert (Fn. 77), 493; I. Sternberg-Lieben JuS 1998, 428, 430; weitere Nachweise aus der Lehre bei Lenckner/Sternberg-Lieben in Schönke/Schröder (Fn. 12), Vorbem §§ 32 ff. Rn. 106. 100 Vgl. Lenckner/Eisele in Schönke/Schröder (Fn. 12) Vorbem. §§ 13 ff. Rn. 100 ff.; Sternberg-Lieben in Schönke/Schröder (Fn. 12), § 15 Rn. 165 ff., 171 ff.
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Mitwirkung an fremder Selbstverletzung 101 und gegebenenfalls strafbarer einverständlicher Fremdverletzung, so kann ein Zurechnungsausschluss (nur) dann in Betracht kommen, wenn die zur Verletzung führende einverständliche Fremdgefährdung einer Selbstgefährdung rechtlich gleichgestellt werden kann.102 Hierbei wird insbesondere darauf abzustellen sein, ob Täter und Opfer für das Gefährdungsgeschehen gleichrangig verantwortlich zeichnen. Dies wird vorliegend allerdings angesichts der strukturellen Unterlegenheit des Patienten 103 gegenüber den ihn behandelnden Ärzten im Regelfall nicht der Fall sein, so dass das Mitverschulden des Patienten nur bei der Strafzumessung berücksichtigt werden kann.104
IV. Aufklärungsfehler Da nach ständiger, hier nicht näher zu hinterfragender Rechtsprechung jeder ärztliche Heileingriff eine tatbestandsmäßige Körperverletzung darstellt, die nur bei Vorliegen einer wirksamen Einwilligung (oder eines sonstigen Rechtfertigungsgrundes) straffrei bleibt,105 findet sich im Zusammenhang mit einer rationierungsbedingten Standardunterschreitung ein weiterer Anhaltspunkt für eine mögliche Strafbarkeit des Arztes: Hat nämlich der Arzt seinem Patienten nicht diejenigen Informationen vermittelt, die dieser für seine freiverantwortlich zu treffende Einwilligungsentscheidung benötigt, so kann der auf eine dann ja unwirksame Einwilligung gestützte Eingriff als solcher als vorsätzliche Körperverletzung (§ 223 StGB) geahndet werden,106 101 Vgl. etwa Lenckner/Sternberg-Lieben in Schönke/Schröder (Fn. 12), Vorbem §§ 32 ff. Rn. 107. In vorliegendem Zusammenhang könnte von einer straflosen Selbstgefährdung des Patienten etwa dann gesprochen werden, wenn er – nach vollständiger ärztlicher Aufklärung über ein hiermit verbundenes Risiko – sich einer den medizinischen Standard unterschreitenden Therapie durch Einnahme von Medikamenten unterzieht (s.a. u. in Fn. 106). 102 Nachweise bei Lenckner/Sternberg-Lieben in Schönke/Schröder (Fn. 12), Vorbem §§ 32 ff. Rn. 106. 103 Diese besteht nicht nur infolge seines (in Grenzen ja behebbaren) Informationsdefizits, sondern wegen seines schicksalhaften Ausgeliefertseins an seinen Zustand als Erkrankter. 104 Auf diese Strafzumessungslösung weisen hin: Duttge (Fn. 92), S. 247; Geppert (Fn. 77), 997 ff. 105 Nachweise bei Eser/Sternberg-Lieben in Schönke/Schröder (Fn. 12), § 223 Rn. 29. 106 Offenbleiben soll hier die Frage, wann bei einer medikamentösen Therapie noch von einer strafbarkeitsauslösenden Täterschaft des Arztes, wann vom Regelfall der straffreien bloßen Mitwirkung an einer Selbstgefährdung des Patienten gesprochen werden kann. Insoweit spricht einiges dafür, für eine – zur Straffreiheit des Arztes führende – Freiverantwortlichkeit der Patientenentscheidung nicht nur dessen Kenntnis über Nebenwirkungen und etwaige Risiken des eingenommenen Medikaments zu verlangen, sondern auch etwaige Fehlvorstellungen über anderweitige medikamentöse Therapie-Möglichkeiten für beachtlich zu halten.
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wobei sich die oben unter II. 1. angesprochenen Schwierigkeiten einer Kausalität des Unterlassens nicht stellen. Als unproblematisch zur Seite gerückt bleiben können hier Aufklärungsdefizite, die ärztlicherseits unter dem Aspekt „Zeit ist Geld“ verschuldet werden: Diese Unterschreitung des vom Recht an den Arzt gerichteten Aufklärungsstandards aus Kostengründen ist ebenso wenig tolerabel wie eine bei der Behandlung aus Kostengründen erfolgenden Standardunterschreitung. 1. Es bleibt allerdings zu klären, ob nicht aus dem bereits oben unter II.3.c) angesprochenen sog. Nikolaus-Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes107 Konsequenzen für die Aufklärungspflicht des Arztes zu ziehen sind, die sich dann auch auf seine strafrechtliche Haftung auswirken. Gegen eine medizinstrafrechtliche Auswirkung dieser bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidung spricht allerdings schon der Umstand, dass hierin lediglich ein sozialrechtlicher Leistungs- bzw. Kostenerstattungsanspruch statuiert worden ist. Allein hierdurch besteht keine Notwendigkeit zur Revision des – auch für Aufklärungsfragen relevanten – Facharztstandards: Solange der Arzt eine dem medizinischen Standard entsprechende Methode anwenden will, braucht er seinen Patienten über Behandlungsalternativen (der Schulmedizin) ungefragt keine Erläuterung zu geben, solange nicht mehrere (schul-)medizinisch indizierte Behandlungsmethoden mit unterschiedlichen Risiken und Erfolgschancen zur Verfügung stehen:108 Das die Gesundheit, Körperintegrität sowie das Leben und auch die Selbstbestimmung des Patienten schützende Medizinstrafrecht verfolgt eben andere Zwecke als das Sozialversicherungsrecht.109 Dem kann auch nicht das Postulat der „Einheit der Rechtsordnung“ entgegengehalten werden:110 Die Rechtsordnung ist in einzelne Gebiete ausdifferenziert, die die auftretenden Interessenkonflikte nach den ihnen jeweils zugewiesenen Funktionen und Aufgaben zu lösen haben. Somit ist sachgerechte Unterscheidung geboten; die Einheit der Rechtsordnung bewährt sich gerade auch dadurch, dass den unterschiedlichen Maßstäben und Aufgaben verschiedener Rechtsgebiete durch hinreichende Differenzierung Rechnung getragen wird (Einheit der Rechtsordnung als Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung). Es ist keine sachwidrige Gleichbehandlung der Rechtsfolgen eines Sachverhaltes in verschiedenen, von ihrem Aufgabenbereich her abweichenden Regelungsbereichen geboten.111 Vielmehr ist durch gegenseitige Abstimmung der in Teilrechtsgebieten
107
BVerfGE 115, 25. Geiß/Greiner (Fn. 15), C/22 f.; Katzenmeier (Fn. 16), S. 331 f. 109 So auch Dannecker/A. F. Streng (Fn. 49), S. 454 bzw. S. 173. 110 Lenckner/Sternberg-Lieben in Schönke/Schröder (Fn. 12), Vorbem §§ 32 ff. Rn. 27. 111 Sternberg-Lieben Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, 1997, S. 180 ff. 108
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enthaltenen Aussagen darauf zu achten, dass sie dann innerhalb der Gesamtrechtsordnung folgerichtig und widerspruchsfrei bleiben.112 Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung im Übrigen auch kein medizinisches Existenzminimum anerkannt, welches möglicherweise angesichts des Gebotes, Strafvorschriften verfassungskonform auszulegen, auch für den einzuhaltenden ärztlichen Standard und die den Arzt betreffenden Aufklärungspflichten dann doch von Bedeutung sein könnte.113 Zwar hat sich das Bundesverfassungsgericht im Nikolaus-Beschluss 114 – allerdings eher ergänzend – auch auf Art. 2 II GG gestützt. Sein Judikat beruhte aber primär auf Art. 2 I GG, da der Kostenerstattungsanspruch entscheidend auf Erwägungen zur Angemessenheit des Verhältnisses von Leistung und Gegenleistung in einer gesetzlichen Pflichtversicherung gestützt wurde. Jene Belange spielen für den Umfang der Leistungsansprüche gesetzlich Krankenversicherter eine entscheidende Rolle. Sie sind aber strikt von den Schutzgütern zu trennen, welche für die Lebens- bzw. Gesundheitsschutz-Tatbestände der §§ 222, 229 sowie 223 StGB relevant sind. Würde man aus Gründen des – ja ggf. eher in Art. 14 GG anzusiedelnden115 – Schutzes der vermögensrechtlichen Belange des Krankenversicherten zu einer ausdehnenden Anwendung der Lebensschutz- bzw. Gesundheitsschutz-Tatbestände und damit auch zu einer Erweiterung der – für eine Strafbarkeit nach § 223 StGB relevanten – ärztlichen Aufklärungslast gelangen, so liefe dies letztlich auf eine unzulässige Rechtsgutsvertauschung 116 hinaus. Im Übrigen haben Dannecker/A. F. Streng 117 überzeugend dargelegt, dass sich das Bundesverfassungsgericht im Nikolaus-Beschluss keinesfalls zu einem – wie auch immer zu bestimmenden 118 – verfassungsrechtlich geschützten medizi112 Auch Dannecker/A. F. Streng (Fn. 49), S. 460 ff. bzw. S. 177 f.; Katzenmeier/SchmitzLuhn (Fn. 49), S. 171, sehen keine Veranlassung, ungeachtet der Anknüpfung an den „allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse“ (Sozialrecht) bzw. an die „allgemein anerkannten wissenschaftlichen Erkenntnisse“ (Medizinhaftungsrecht) zu einem insoweit sachwidrigen Gleichklang beider Rechtsgebiete zu gelangen. 113 Nachfolgendes im Anschluss an Dannecker/A. F. Streng (Fn. 49), S. 456, 462 ff. bzw. S. 175, 178 ff. 114 Anders aber dann in einer nachfolgenden Kammerentscheidung (NZS 2008, 365), in dem es einen Finanzierungsanspruch im Hinblick auf vom Bundesausschuss noch nicht anerkannte Behandlungsmethoden lediglich auf die allgemeine Handlungsfreiheit i.Z.m. dem Sozialstaatsprinzip stützte und das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit gänzlich unerwähnt ließ. 115 Abl. Isensee (Fn. 7), S. 429. 116 Hierzu Sternberg-Lieben Dias-FS, 2009, Bd. 2, S. 1039 ff., im Zusammenhang mit Einwilligungsschranken beim Fremddoping im Sport. 117 (Fn. 49), S. 462 ff. bzw. S. 178 ff. 118 S. nur Heinig (Fn. 47), S. 433: Nur das evident Erforderliche und Sinnvolle gehört hierzu; zwischen notwendigen, wünschenswerten, hilfreichen und überflüssigen Leistungen differenziert (letztlich im Sinne einer Priorisierung) P. Kirchhof (Fn. 5), der darauf hinweist, dass ein Recht auf Gesundheit überdies nur als Teilhaberecht an Vorhandenem und nicht als Leistungsrecht zu begreifen ist (ebd., S. 239); so auch Isensee (Fn. 7), S. 428.
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nischen Existenzminimum verhalten hat: Dieses wäre ja auf die Sicherstellung evident erforderlicher medizinischer Leistungen (vgl. auch § 2 I 3 SGB V) zu beziehen, während das Bundesverfassungsgericht weit darüber hinaus eine sozialrechtliche Kostenübernahme für medizinische Leistungen vorgab, die lediglich nicht evident ungeeignet waren.119 2. Die Einwilligung des Patienten ist jedenfalls dann unwirksam, wenn ihn sein behandelnder Arzt nicht darüber aufklärt, dass er aus Kostengründen eine „eigentlich“ medizinisch indizierte Therapie nicht anzuwenden gedenkt.120 Das Verabfolgen einer die Körperintegrität tangierenden, standardunterscheidenden Therapie 121 führt mangels wirksamer Einwilligung des Patienten auch dann zur Strafbarkeit wegen vorsätzlicher Körperverletzung, wenn die Behandlung als solche (noch) nicht zu einer weiteren Gesundheitsverschlechterung geführt hat. Den Arzt trifft also zum Schutze des Selbstbestimmungsrechts des Patienten eine Aufklärungslast 122 darüber, dass der Patient eine bessere als die für ihn vorgesehene Behandlung dadurch zu erlangen vermag, dass er einen anderen Arzt aufsuchen oder sich entsprechende, zu einer standardgemäßen Behandlung führenden „Zusatzleistungen“ des Arztes durch Eigenbeteiligung zukaufen kann.123 3. Abschließend bleibt festzuhalten, dass den Arzt keine wirtschaftliche Aufklärungslast trifft.124 Zwar mag in mangelnder Kostenaufklärung oder unzureichender Information über sonstige wirtschaftliche Aspekte der Behandlung eine zivilrechtliche Vertragsverletzung liegen;125 dies begründet 119 So dezidiert Heinig (Fn. 47), S. 433, im Rahmen seiner fundierten Kritik dieser Entscheidung (ebd., S. 421 ff.). 120 Hieran könnte ja unmittelbar eine Unterlassungsstrafbarkeit anknüpfen, die aber zumeist am fehlenden Nachweis der Kausalität des Unterlassens scheitern wird. 121 Würde der Arzt hingegen noch innerhalb des ihm eröffneten „Behandlungskorridors“ sachgerechter Behandlung agieren wollen, so träfe ihn keine Aufklärungspflicht dahingehend, dass andernorts eine noch bessere Behandlung verfügbar sei (vgl. BGHZE 102, 17, 25). 122 Bislang werden allerdings nur die Risiken als für die Selbstbestimmungsaufklärung relevant eingestuft, die sich aus einem ordnungsgemäßen ärztlichen Vorgehen ergeben können (BGH[Z] NJW 2005, 888, 890; Geiß/Greiner [Fn. 15], C/12). Während aber Behandlungsfehler bei im Übrigen lege artis erfolgender Behandlung ohnehin vermieden werden müssen (deshalb keine spezielle Aufklärungslast insoweit), geht es vorliegend um eine Behandlung, die von Beginn an als solche unter dem gebotenen Standard liegen soll, so dass zum Schutze der Selbstbestimmung des Patienten über seine Körperintegrität die ärztliche Aufklärungspflicht vorsichtig erweitert werden sollte. 123 Vgl. Stöhr (Fn. 29), 217; zw. G. Müller (Fn. 20), S. 419; Steffen/Pauge (Fn. 28), B/328b. 124 Vgl. Sternberg-Lieben in Götting/Sternberg-Lieben (Hrsg.), Der Mensch als Ware, 2010, S. 11, 18. 125 S. BGH(Z) NJW 1986, 2630, 2631.
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aber keinen körperverletzungsrelevanten Mangel der ärztlichen Aufklärung. Die Einwilligung in den konsentierten ärztlichen Eingriff ist nicht deshalb unwirksam, weil der Arzt vor Behandlungsbeginn seinen Patienten nicht darüber informiert hat, dass seine (gesetzliche) Krankenkasse die anfallenden Kosten nicht übernehmen wird – ein angesichts von unerlässlichen Leistungseinschnitten im Leistungssystem der Krankenkassen zunehmend bedeutsamer werdender Umstand. Den Arzt trifft nur eine rechtsgutsbezogene Aufklärungslast; er hat unter dem Blickwinkel der strafrechtlichen Körperverletzungstatbestände seinem Patienten lediglich das für eine sachgerechte Entscheidung über das Rechtsgut Körperintegrität erforderliche Wissen zu vermitteln.126
126 Vgl. Eser/Sternberg-Lieben in Schönke/Schröder (Fn. 12), § 223 Rn. 39, sowie allgemein Lenckner/Sternberg-Lieben in Schönke/Schröder (Fn. 12), Vorbem §§ 32 ff. Rn. 46 m.w.N. auch zur Gegenauffassung.
Der zivilrechtliche Besitzschutz als Grundlage des Hausrechts Ulrich Weber I. Klaus Geppert hat sich in den gemeinsamen, hochschulpolitisch nicht ganz einfachen Jahren an der Freien Universität Berlin (1976–1980) und danach, bis heute, als absolut verlässlicher und sehr anregender und liebenswürdiger Kollege und Freund bewährt, zu dessen Festschrift ich gern einen Artikel beisteuere. Ich kann dabei an einen Beitrag Gepperts in der von ihm jahrzehntelang mitbetreuten Ausbildungszeitschrift „Jura“ anknüpfen: „Zu einigen immer wiederkehrenden Streitfragen im Rahmen des Hausfriedenbruches (§ 123 StGB)“1. Den seinerzeit von Geppert gewonnenen Ergebnissen kann ich fast durchweg zustimmen; einzige Ausnahme: Im Gegensatz zu Klaus Geppert 2 ist m.E. auch bei Vereitelung eines individuellen Hausverbots durch Täuschung ein wirksames Einverständnis (oder eine wirksame Einwilligung) des Hausrechtsinhabers anzunehmen, mithin ein Eindringen und damit ein tatbestandsmäßiger (oder ein rechtswidriger) Hausfriedensbruch abzulehnen 3. Dieser bis heute umstrittenen Frage soll hier nicht weiter nachgegangen werden. Die folgenden Überlegungen haben zwar ebenfalls mit dem rechtswidrigen Eindringen – und dem Dableiben trotz Aufforderung zum Gehen (2. Alt. des § 123 Abs. 1 StGB) – zu tun, gelten jedoch nicht der Täuschungsproblematik, sondern der Bedeutung der zivilrechtlichen Vorschriften über den Besitzschutz (§§ 858 ff. BGB) für die strafrechtliche Beurteilung des in fremde Räume Eindringenden oder sich daraus nicht Entfernenden (nach § 123 StGB) einerseits und des Inhabers des Hausrechts (z.B. nach § 240 StGB) andererseits.
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Jura 1989, 378. Jura 1989, 380 l. Sp. S. Arzt/Weber/Hilgendorf Strafrecht BT, 2. Aufl. 2009, § 8 Rn. 12.
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II. In der strafrechtlichen Judikatur und Literatur zum Hausfriedensbruch wird die Bedeutung der §§ 858 ff. BGB für die Anwendung des § 123 StGB teilweise gar nicht gesehen, jedenfalls nicht erwähnt, teilweise bagatellisiert und teilweise ganz bewusst vollständig geleugnet. – Beispiele für die unterbliebene Erwähnung der naheliegenden in § 858 ff. BGB bilden die vorinstanzlichen Entscheidungen des Beschlusses OLG Schleswig vom 26.8.19864. Hellmann bemerkt in seiner Besprechung dieser Entscheidung 5 zu Recht ganz allgemein, § 859 BGB werde als für das Strafrecht bedeutsamer Rechtfertigungsgrund selten herangezogen. – Auf eine gewisse Geringschätzung der Bedeutung der Besitzschutzvorschriften für das Strafrecht deutet die Bemerkung Gepperts zum Rechtsgut des § 123 StGB hin, geschützt werde das Hausrecht, „was freilich etwas anderes ist als z.B. der zivilrechtliche Besitz“6. Allerdings geht Geppert auf den § 859 BGB als Rechtfertigungsnorm zugunsten des Hausrechtsinhabers nicht ein, so dass der vorstehend erwähnte Eindruck möglicherweise im Ergebnis doch nicht zutrifft. – Uwe Hellmann setzt sich in seiner Osnabrücker Dissertation7 zwar eingehend und sehr sachkundig mit der Selbsthilfe des Besitzers gegen Akte verbotener Eigenmacht nach § 859 BGB auseinander, lehnt jedoch die Anwendbarkeit dieser Vorschrift im Strafrecht ab8. Er gelangt zu diesem Ergebnis aufgrund der These einer relativen Geschlossenheit des Strafrechts gegenüber dem Zivilrecht, und zwar auch im Bereich der Rechtfertigungsgründe9. Dazu führt Hellmann u.a. aus: Vollziehe sich die Strafrechtsbegründung aufgrund der Strafnormen und – jedenfalls in aller Regel – unter Zugrundelegung spezifisch strafrechtlicher Begriffe, könne für den Strafunrechtsausschluss grundsätzlich nichts anderes gelten 10. Aus der Anerkennung eines im Prinzip geschlossenen Strafrechtssystems in der Begründung und im Ausschluss des Strafunrechts folge der Vorrang strafrechtlicher Rechtfertigungsgründe bei der Prüfung der Rechtswidrigkeit eines tatbestandsmäßigen Verhaltens 11. – Außer §§ 859 ff. BGB, die von der Notwehr (§ 32 StGB) überlagert würden, verneint Hellmann aufgrund dieser Argumentation z.B. auch die Anwendbarkeit der rechtfertigenden zivilrechtlichen Notstände der §§ 904 und 228 BGB; Überlagerung von § 34 StGB12. 4
NStZ 1987, 75. NStZ 1987, 455. 6 Jura 1989, 378. 7 Die Anwendbarkeit der zivilrechtlichen Rechtfertigungsgründe im Strafrecht (Osnabrücker Rechtswissenschaftliche Abhandlungen, Bd. 8), 1987, S. 134–150. 8 AaO (Fn. 7), Wiedergabe des gewonnenen Ergebnisses auf S. 150. 9 AaO (Fn. 7), z.B. S. 95. 10 AaO (Fn. 7), S. 101. 11 AaO (Fn. 7), S. 106. 12 AaO (Fn. 7), S. 157–164 und S. 164–171. 5
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III. 1. Ganz anders als im Strafrecht, wo die §§ 858 ff. BGB mitunter ein Schattendasein fristen, wird im Zivilrecht die wichtige Rolle der Besitzschutzvorschriften hervorgehoben, und zwar gerade auch im Hinblick auf das Hausrecht, also das von § 123 StGB geschützte Rechtsgut 13. So wird in einem neueren Urteil des BGH vom 20.1.2006 14 zum Erlass eines Hausverbots gesagt, die Befugnis dazu folge aus dem Hausrecht. „Dieses beruht auf dem Grundstückseigentum oder -besitz (§§ 858 ff., 903, 1004 BGB) und ermöglicht seinem Inhaber, grundsätzlich frei darüber zu entscheiden, wem er den Zutritt zu der Örtlichkeit gestattet und wem er ihn verwehrt“. Auch in der zivilrechtlichen Literatur wird hervorgehoben, der Besitzschutz enthalte in seinen Ansprüchen (§§ 861, 862 BGB) eine Parallele zum Eigentum (§§ 985, 1004 BGB), und beide zusammen bildeten bei Immobilien die Grundlage für das Hausrecht 15. In der strafrechtlichen Literatur wird der Besitzschutz als Grundlage des Hausrechts vorbildlich von Rudolphi und Stein dargestellt16: „der für § 123 relevante Ausschnitt des Hausrechts [beruht] auf den Besitzschutzrechten der §§ 859 ff. BGB“. Beide Regelungen stimmen auch darin überein, dass sowohl § 123 StGB als auch §§ 859 ff. BGB (nur) den unmittelbaren Besitz schützen17, also z.B. den unmittelbaren Besitz des Mieters auch gegen Eingriffe des Vermieters (mittelbarer Besitzer). Um fehlerhaften Vorstellungen vorzubeugen, sei noch darauf hingewiesen, dass das Hausrecht und der Besitzschutz weiter reichen als der Tatbestand des § 123 StGB, der nur einen Ausschnitt aus den vielfältig möglichen Beeinträchtigungen des Hausfriedens und des unmittelbaren Besitzes mit Strafe bedroht, nämlich das Eindringen in geschützte Räume und das unbefugte Verweilen in diesen. – Außer dem von § 123 StGB erfassten Eindringen und dem vom Berechtigten ungewollten Verweilen in geschützten Räumen werden z.B. als verbotene Eigenmacht i.S. der §§ 858, 859 BGB und damit als Störungen des Hausrechts angesehen das Anbringen eines Werbeschildes an der Gebäudeaußenwand18, die Zuführung unwägbarer Stoffe (§ 906 BGB) auf das Grundstück, ja sogar ideelle Einwirkungen, etwa die unzulässige Videoüberwachung. In Fällen wie dem letztgenannten kommt § 859 I BGB
13 S. zu dem durch den Hausfriedensbruch verletzten Rechtsgut (i.S. der ganz h.M.) z.B. Geppert Jura 1989, 378 mit Nachw. der Rspr. und Lit. in Fn. 3 und 4. 14 NJW 2006, 1054. 15 So z.B. Prütting/Wegen/Weinreich BGB, Kommentar, 5. Aufl. 2010, § 858 Rn. 1. 16 Im SK (7. Aufl., Stand Sept. 2004) § 123 Rn. 13a m.w.Nachw. S. in diesem Sinne z.B. auch Arzt/Weber/Hilgendorf aaO (Fn. 3) § 8 Rn. 10. 17 S. z.B. SK-Rudolphi/Stein aaO (Fn. 16), § 123 Rn. 13a (m.w.Nachw.), 16, 25. 18 BGH NJW 1967, 46.
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als Rechtfertigungsgrund für die gewaltsame Abwehr von Bildaufnahmen i.S. des § 201a StGB in Betracht. 2. Wie Münzberg 19 unter penibler Auswertung der Gesetzesmaterialien überzeugend dargelegt hat, soll mit den §§ 858, 859 BGB einer Gefährdung der Friedensordnung entgegengewirkt werden, die bei Bestehen eines unmittelbaren Sachherrschaftsverhältnisses sehr naheliegt, weil Interessen des Gewahrsamsinhabers und eines Dritten, der ein (besseres) Recht auf die Sache hat oder zu haben glaubt und nicht auf dessen gerichtliche Durchsetzung warten möchte, aufeinandertreffen. „Wer soll das Recht zur Notwehr haben, wenn der Dritte die Sache rasch in seine tatsächliche Gewalt gebracht hat; wer greift dann rechtswidrig an, derjenige, welcher zuerst tätlich wird, oder derjenige, der dem besser Berechtigten den Zugriff auf die Sache gewaltsam verweigert“ 20? Diese Fragen stellten sich zur Zeit der Entstehung des BGB umsomehr, als damals der Begriff der Rechtswidrigkeit verhältnismäßig neu und noch weitgehend ungeklärt war 21. Überdies waren (und sind teilweise bis heute) die Grenzen des Notwehrrechts keineswegs eindeutig geklärt 22. „Um diese Gefahr der Friedensstörung einzudämmen, gab es wohl nur einen vernünftigen Weg: dass der Gesetzgeber es verbietet, aufgrund der besseren Berechtigung zur Sachherrschaft gem. § 227 BGB Notwehr zu üben“23. Es wird also derjenige Gegner des Streits um den Besitz an der Sache bevorzugt, der im kritischen Zeitpunkt der Sache tatsächlich nähersteht, also bereits die Sachherrschaft inne hat. „Der andere darf sich, selbst wenn er das bessere Recht haben sollte, trotzdem nicht der Sache bemächtigen, es sei denn, der Besitzer gestattet es ihm ausdrücklich. Die wahre Berechtigung muss bis zur Klärung im Rechtsstreit zurückstehen, sie genießt nicht den Schutz des § 227 BGB, obwohl der Besitzer unter Umständen rechtswidrig handelt“24. Hält man sich diese Rigidität des zivilrechtlichen Besitzschutzes vor Augen, so leuchtet das bekannte Wort von Friedrich Schiller 25 unmittelbar ein: „Sei im Besitze und Du wohnst im Recht, und heilig wird’s die Menge Dir bewahren“.
19 Wolfgang Münzberg Verhalten und Erfolg als Grundlagen der Rechtswidrigkeit und Haftung, 1966, S. 426 ff. 20 Münzberg aaO (Fn. 19), S. 429. 21 Münzberg aaO (Fn. 19), S. 428/429. 22 S. zur durchaus wechselvollen Entwicklung der Notwehr Hartmut Suppert Studien zur Notwehr und „notwehrähnlichen Lage“, 1973, S. 43 ff. 23 Münzberg aaO (Fn. 19), S. 430. 24 Münzberg aaO (Fn. 19), S. 430. 25 Wallensteins Tod, I, 4.
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3. Überzeugend stellt Münzberg 26 fest, als programmatisches Verbot jeglichen zur Besitzentziehung und Besitzstörung geeigneten Verhaltens sei in § 858 Abs. 1 BGB eine für alle Rechtsgebiete – einschließlich des zivil- und strafrechtlichen Deliktsrechts – maßgebende Vorschrift enthalten. Damit ist zugleich eine Absage erteilt an die oben II. skizzierte Theorie Hellmanns von einem auch hinsichtlich der Rechtfertigungsgründe geschlossenen Strafrechtssystem. Eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit dieser Position ist an dieser Stelle naturgemäß nicht möglich. Meine eigene Auffassung – einheitliche Beurteilung der Rechtswidrigkeit für alle Rechtsgebiete unter Heranziehung aller Rechtfertigungsgründe, gleichgültig, in welchem Rechtsgebiet sie geregelt sind – habe ich in der Rezension der Habilitationsschrift von Hans-Ludwig Günther dargelegt 27. Da die Konzeption Hellmanns auch ansonsten, soweit ersichtlich, keine Anhänger gefunden hat, bleibt es bei der h. M., wie sie prägnant namentlich von Hans Joachim Hirsch im Leipziger Kommentar 28 formuliert ist: „Die Rechtswidrigkeit drückt den Widerspruch zur Rechtsordnung im ganzen aus, so dass ihre Feststellung allgemein und schlechthin gilt … Deshalb finden die Rechtfertigungsgründe unabhängig davon Anwendung, an welcher Stelle der Rechtsordnung sie geregelt sind …“. – Auch Günther 29 anerkennt die Anwendbarkeit u.a. zivilrechtlicher Rechtfertigungsgründe im Strafrecht. Greifen sie ein, so fehlt es bereits an der (allgemeinen) Rechtswidrigkeit des tatbestandsmäßigen Verhaltens und damit erst recht am gesteigerten Strafunrecht. 4. Nach der Anerkennung der Geltung der §§ 858 ff. BGB für die Feststellung der Rechtswidrigkeit bzw. Rechtfertigung auch im Strafrecht stellt sich noch die Frage des Verhältnisses der Besitzschutzansprüche zur Notwehr (§ 32 StGB, § 227 BGB). Denn die h.M. hält sowohl den (rechtmäßigen) Besitz als auch das Hausrecht für notwehrfähig 30. Wenn der Besitz tatbestandsmäßig nach § 123 StGB beeinträchtigt wird, dürfte es richtig sein, Spezialität des § 859 StGB gegenüber der Notwehr anzunehmen31. Sehr wohl diskutabel ist auch die von Felber 32 vertretene 26
AaO (Fn. 19), S. 434. JZ 1984, 276. – Besprechung von Hans-Ludwig Günther, Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluss, 1983. 28 LK-H. J. Hirsch 11. Aufl. 2003, Vor § 32 Rn. 10. 29 AaO (Fn. 27), S. 362 ff. 30 S. zur Notwehrfähigkeit des Besitzes z.B. RGSt 60, 276 (278); BGH NStZ-RR 2004, 10; S/S/Lenckner/Perron StGB, 28. Aufl. 2010, § 32 Rn. 5a m.w.Nachw. – Zum Hausrecht s. z.B. S/S/Lenckner/Perron, aaO, m.w.Nachw. A.A. (ohne Begründung) OLG Frankfurt a.M., NJW 1994, 946 (947) mit zutreffend ablehnender Besprechung von Löwisch und Rieble NJW 1994, 2596. 31 So z.B. Suppert aaO (Fn. 22), S. 268. In diese Richtung z.B. auch Baumann/Weber Strafrecht AT, 9. Aufl. 1985, S. 339. 32 Roland Felber Die Rechtswidrigkeit des Angriffs in den Notwehrbestimmungen, 1979, S. 188. 27
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Auffassung, der Besitz als solcher sei nicht notwehrfähig, so dass zu seinem Schutz von vornherein nur die §§ 859, 860 BGB in Betracht kämen. In Schwierigkeiten gerät diese Ansicht allerdings dann, wenn ein Dritter dem angegriffenen Besitzer bei der Abwehr zu Hilfe kommt. Denn § 859 BGB gilt – abgesehen von der Erstreckung der Vorschrift auf den Besitzdiener in § 860 BGB – nur zugunsten des Besitzers, sodass für das Abwehrverhalten Dritter auf die Notwehr (§ 32 StGB, § 227 BGB) zurückgegriffen werden muss 33. Wehrt sich der Besitzer (oder Besitzdiener) nach § 859 (§ 860 BGB), so schließen diese Rechtfertigungsnormen einen Rückgriff auf die Notwehr auch in dem Sinne aus, dass nicht auf §§ 32 StGB, 227 BGB rekurriert werden darf, wenn die Grenzen der Selbsthilfe überschritten werden, etwa die zeitlichen Grenzen der Besitzkehr oder des Entsetzens (§ 859 Abs. 2 und 3 BGB) nicht eingehalten werden, z.B. wenn dem Täter die mitgenommene Sache erst am übernächsten Tag wieder abgenommen werden soll. Mit einem Rückgriff auf die Notwehrbestimmungen würde die von § 859 BGB angestrebte Friedenssicherung unzulässig unterlaufen.
IV. Abschließend soll die Funktion der §§ 858, 859 BGB noch anhand typischer Fälle im Bereich des § 123 StGB verdeutlicht werden. 1. Hat der Hausrechtsinhaber (= unmittelbare Besitzer) eines Grundstücks oder Gebäudes dem Einlass Begehrenden den Zutritt nicht gestattet, so darf er ihm das Hineingehen untersagen. Wer sich darüber hinwegsetzt, dringt tatbestandsmäßig und rechtswidrig ein (§ 123 Abs. 1, 1. Alt. StGB), und der Besitzer darf ihn notfalls mit Gewalt abwehren, § 859 Abs. 1 BGB. Auf das Motiv der Versagung des Zutritts kommt es nicht an. Dies gilt nicht nur im Hinblick auf die Wohnung, sondern auch für Geschäftsräume 34, jedenfalls solcher, für die keine generelle Zutrittserlaubnis erteilt wurde, also z.B. den von Sickor 35 behandelten Fall des Türstehers einer Diskothek. Entgegen Sickor ist ein auf Zutritt gerichtetes Notwehrrecht des Disco-Fans abzulehnen, weil ein solches nach dem oben III.2. Gesagten durch § 859 Abs. 1 BGB gerade ausgeschlossen wird, und zwar ohne Rücksicht darauf, welche Motive der Besitzer mit der Zurückweisung verfolgt, sei es Aus33
So verfährt denn auch das Reichsgericht in RGSt 60, 278. Auf die Rechtslage bei Räumen, die zum öffentlichen Dienst bestimmt sind, z.B. Behörden- oder Gerichtsgebäude, kann hier aus Raumgründen nicht eingegangen werden. 35 Sickor Die Notwehrfähigkeit einer Zutrittsverweigerung durch Türsteher, Jura 2008, 14. 34
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länderfeindlichkeit oder Gegnerschaft zu NPD-Mitgliedern. Auch Sickor möchte dem Zutrittswilligen letztlich nicht die gewaltsame Durchsetzung seines Anliegens gestatten, sondern versagt ihm den Zutritt mit der Begründung, wenn er sein Notwehrrecht ausübe, handle er nicht mehr im Rahmen des zur Voraussetzung der generellen Zutrittserlaubnis erkorenen „kundentypischen Verhaltens“36. Diese Argumentation wirkt doch recht gezwungen gegenüber dem hier vertretenen Ausschluss des Notwehrrechts durch § 859 Abs. 1 BGB. Das Bestehen eines obligatorischen Anspruchs auf Besuch einer Veranstaltung ändert an der Anwendbarkeit des § 859 BGB nichts, ganz angesehen davon, dass schuldrechtliche Ansprüche von vornherein nicht notwehrfähig sind 37. In diesen Fällen ist der Gläubiger auf die gerichtliche Durchsetzung seiner Forderung angewiesen. – Bereits keinen Erfüllungsanspruch gewährt das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG), etwa dessen § 19 Abs. 1 Nr. 1; denn § 21 AGG will die Vertragsfreiheit unberührt lassen 38. Auch wenn für die Räume, etwa einen Supermarkt, eine generelle Zutrittserlaubnis erteilt wurde, verzichtet der Berechtigte nicht vollständig auf die Geltendmachung von Besitzschutzansprüchen nach § 859 BGB. Vielmehr ist es dem Inhaber des Hausrechts bei auffälligem Verhalten des Eintrittswilligen gestattet, diesem den Zutritt zu verwehren und notfalls Gewalt anzuwenden 39. § 859 Abs. 1 BGB setzt sich auch durch, wenn der von einem Hausverbot Betroffene verfassungsrechtlich garantierte Rechte, etwa die Demonstrationsfreiheit oder die Meinungsfreiheit ausüben will 40. 2. Die zweite von § 123 Abs. 1 StGB erfasste Begehungsform des Hausfriedensbruchs, das Sich-nicht-Entfernen trotz Aufforderung des Berechtigten zum Gehen, ist gegenüber der ersten Begehungsform, dem Eindringen, von untergeordneter Bedeutung. Sie ist ein subsidiärer Tatbestand, dem selbständige Bedeutung nur zukommt, wenn die erste Alternative nicht vorliegt 41. Deren Verwirklichung dauert bei einem rechtswidrigen Eindringen fort (Dauerdelikt), solange sich der Täter in dem fraglichen Raum aufhält, und § 859 Abs. 1 BGB ist anwendbar, ohne dass es einer Aufforderung zum
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AaO (Fn. 35), S. 20 f. H.M., s. z.B. SK-Günther 7. Aufl. 1999, § 32 Rn. 48; LK-Spendel 11. Aufl. 2003, § 32 Rn. 190 f. m.w.Nachw. 38 S. Palandt/Grüneberg BGB, 68. Aufl. 2009, AGG § 21 Rn. 7. 39 S. z.B. SK-Rudolphi/Stein 7. Aufl. (Stand Sept. 2004), § 123 Rn. 26a. Zurückhaltend gegenüber dem Verzicht auf den Besitzschutz auch Baur/Stürner/Baur Sachenrecht, 18. Aufl. 2009, § 9 Rn. 14. 40 So richtig BGH NJW 2006, 1054 für den Protest gegen die Abschiebung von Ausländern in der Abflughalle des Frankfurter Flughafens. 41 BGHSt 21, 224 (225). 37
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Weggehen bedürfte 42. Ist der in dem geschützten Raum sich Aufhaltende, z.B. der Gast in einem Restaurant oder der Kunde in einem Supermarkt, nicht eingedrungen, so verweilt er in der Regel nicht ohne Befugnis. Entgegen der Abwehr des noch draußen Befindlichen (dazu vorstehend 1.) kann ihn also der Hausrechtsinhaber, z.B. der Gastwirt, nicht deshalb hinausweisen, weil er ihm, z.B. weil er NPD-Mitglied ist, nicht behagt. Vielmehr wird der Aufenthalt erst dann unbefugt, wenn sich der Gast ungehörig aufführt, z.B. mit dem Gastwirt grundlos Streit anfängt oder der Kunde im Supermarkt verärgert Waren auf den Boden wirft. So kann zur 2. Alt. des § 123 Abs. 1 StGB abschließend gesagt werden: Wer schon drin ist, ist in einer besseren Position als der noch draußen vor der Tür Stehende.
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S. z.B. S/S/Lenckner/Sternberg-Lieben StGB, 28. Aufl. 2010, § 123 Rn. 27.
Die Tötungen an der deutsch-deutschen Grenze – Verbrechen gegen die Menschlichkeit? Gerhard Werle / Boris Burghardt
Waren die Tötungen an der deutsch-deutschen Grenze ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit? Mehr als zwanzig Jahre nach dem Mauerfall, zwei Jahrzehnte nach dem Ende der DDR scheint die Frage von der Zeit überholt. Warum sollte uns die Antwort interessieren, wenn doch die strafrechtliche Aufarbeitung des DDR-Unrechts1 längst abgeschlossen ist? Zwei Gründe, ein rechtsdogmatischer und ein rechtshistorischer, lassen sich anführen, um das Erkenntnisinteresse dieses Beitrags zu erklären: In rechtsdogmatischer Hinsicht ist zunächst festzustellen, dass die deutsche Strafjustiz die Tötungen an der innerdeutschen Grenze allein unter dem Gesichtspunkt der allgemeinen Tötungsdelikte gewürdigt hat. Eine völkerstrafrechtliche Bewertung spielte hingegen keine Rolle, weil es seinerzeit noch an der Implementierung des möglicherweise einschlägigen Tatbestands der Verbrechen gegen die Menschlichkeit in das Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland fehlte.2 Im Schrifttum wurde die Einordnung der Tötungen an der innerdeutschen Grenze als Menschlickeitsverbrechen bislang eher am Rande behandelt und dabei überwiegend verneint.3
1 Siehe dazu Marxen/Werle Die strafrechtliche Aufarbeitung von DDR-Unrecht, Eine Bilanz (1999) sowie dies. Strafjustiz und DDR-Unrecht, Dokumentation, Bde. 1–7 (2000–2009). 2 Dagegen fand sich in § 91 StGB-DDR von 1968 der Tatbestand des Verbrechens gegen die Menschlichkeit. Siehe dazu sogleich unter II.1. Eine Bestrafung nach § 91 StGB-DDR war indes nach Art. 315 Abs. 1 EStGB, § 2 Abs. 3 StGB ausgeschlossen. 3 Verneinend etwa Ambos Nuremberg revisited, Das Bundesverfassungsgericht, das Völkerstrafrecht und das Rückwirkungsverbot, StV 1997, 39 (42); Biermann Gesetzliches Unrecht in der DDR und Rückwirkungsverbot am Beispiel von § 27 des DDR-Grenzgesetzes (1998), 140 f.; Classen Artikel 103 Abs. 2 GG – ein Grundrecht unter Vorbehalt?, GA 1998, 215 (222); Ebert Völkerstrafrecht und Gesetzlichkeitsprinzip, in: Britz u.a. (Hrsg.) Grundfragen staatlichen Strafens, Festschrift für Heinz Müller-Dietz zum 70. Geburtstag (2001), 171 (178); Jähnke Zur Erosion des Verfassungssatzes „Keine Strafe ohne Gesetz“, ZIS 2010, 463 (467); Kreicker Art. 7 EMRK und die Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze (2002), 81 ff.; Laskowski Unrecht – Strafe – Gerechtigkeit, Die Probleme des Rechtsstaats mit dem DDR-Unrecht, JA 1994, 151 (161); Merkel Politik und Kriminalität, Über einige vernachlässigte Probleme der deutsch-deutschen Vergangenheitsbewältigung durch Strafrecht, in Unseld (Hrsg.), Politik ohne Recht (1993), 298 (317 f.); Nolte in
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Gerhard Werle/Boris Burghardt
In rechtshistorischer Perspektive verliert die Frage nach der „richtigen“ normativen Bewertung der Tötungen an der deutsch-deutschen Grenze nicht dadurch an Interesse, dass diese Bewertung nicht mehr im Rahmen eines strafjustiziellen Verfahrens erfolgt. Das Grenzregime und die diskriminierende Politik der DDR gegenüber ihren ausreisewilligen Bürgern sind wesentliche Kennzeichen dieses Staates. Zu einer vollständigen Beurteilung der DDR gehört auch eine Bewertung anhand völker(straf)rechtlicher Maßstäbe. Lassen sich die Tötungen an der deutsch-deutschen Grenze als schwerstes völkerrechtliches Unrecht qualifizieren, kann dies für die Bewertung der DDR insgesamt nicht unberücksichtigt bleiben. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass eine Reihe von Staaten des ehemaligen Ostblocks, insbesondere die Tschechoslowakei, Ungarn, Bulgarien und Rumänien, über ähnliche Grenzsicherungsmaßnahmen verfügten. Eine strafrechtliche Aufarbeitung der dort verübten Tötungen steht noch aus. Die Ausführungen zum Grenzregime der DDR haben insoweit eine exemplarische Funktion und bieten Hinweise auf die mögliche Bedeutung der völkerstrafrechtlichen Kategorie der Verbrechen gegen die Menschlichkeit für die strafrechtliche Aufarbeitung kommunistischen Staatsunrechts in Mittel- und Osteuropa.
I. Das Grenzregime der DDR – ein Überblick Die tatsächlichen Grundlagen der rechtlichen Bewertung lassen sich wie folgt zusammenzufassen: 4 Noch vor Gründung der DDR im Jahre 1949 setzt v. Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar I, 5. Aufl. (2005), Art. 103 Rn. 134; Ott Die Staatspraxis an der DDR-Grenze und das Völkerrecht, Zugleich Anmerkung zum Urteil des BGH vom 3.11.1992 – 5 StR 370/92, NJ 1993, 337 (339 f.); Pieroth Der Rechtsstaat und die Aufarbeitung der vor-rechtsstaatlichen Vergangenheit, VVDStRL 1992, 91 (99); Polakiewicz Verfassungs- und völkerrechtliche Aspekte der strafrechtlichen Ahndung des Schußwaffeneinsatzes an der innerdeutschen Grenze, EuGRZ 1992, 177 (181); Vest Gerechtigkeit für Humanitätsverbrechen? (2006), 152 ff.; bejahend Blumenwitz Zur strafrechtlichen Verfolgung Erich Honeckers, Staats- und völkerrechtliche Fragen, DA 1992, 567 (575); ders. Die Grenzsicherungsanlagen der DDR im Lichte des Staats- und Völkerrechts, in: Ziemske u.a. (Hrsg.) Festschrift für Martin Kriele (1997), 713 (725); Buchner, Die Rechtswidrigkeit der Taten von „Mauerschützen“ im Lichte von Art. 103 Abs. 2 GG unter besonderer Berücksichtigung des Völkerrechts (1996), 237 ff.; Ott Rechtswidrigkeit der Taten von Mauerschützen?, Zum Beschluss des deutschen Bundesverfassungsgerichts vom 24. Oktober 1996 (BVerfGE 95, S. 96–143), Zeitschrift für Schweizerisches Recht 2000, 139 (150); Werle Rückwirkungsverbot und Staatskriminalität, NJW 2001, 3001 (3005); siehe auch Sondervotum Richter Loucaides EGMR, Urt. v. 22. März 2001 (Streletz, Kessler und Krenz gegen Deutschland), abgedruckt in: Marxen/Werle (Hrsg.) Strafjustiz und DDRUnrecht, Band 2/2, Teilband: Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze (2002), Lfd. Nr. 16-4, 929 ff. 4 Siehe dazu ausführlich Rummler Die Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze vor Gericht (2000), 68 ff.; Schultke „Keiner kommt durch“, Die Geschichte der innerdeut-
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eine Fluchtbewegung von der sowjetischen in die britische und amerikanische Besatzungszone sowie in die Westsektoren Berlins ein, der durch zunehmende Überwachung der Demarkationslinie und Regulierung des Interzonenverkehrs entgegen gewirkt wird. Bereits in dieser Zeit kommt es zu tödlichen Schüssen auf Personen, welche die Demarkationslinie unerlaubt überschreiten.5 Mit der Staatsgründung der DDR nehmen die Sicherungsmaßnahmen erheblich zu: Das Grenzgebiet erhält – mit Ausnahme der innerstädtischen Grenze in Berlin – den Charakter eines Sperrgebiets.6 Entlang der Grenzlinie werden Kontrollstreifen errichtet, an die sich Schutzstreifen und eine etwa fünf Kilometer tiefe Sperrzone anschließen. Die für die Grenzsicherung zuständige Deutsche Grenzpolizei nimmt in den 50er Jahren zunehmend militärische Strukturen an, die Angehörigen werden kaserniert und einer besonderen Befehlskette unterstellt.7 Auch in dieser Zeit kommt es wiederholt zur Erschießung von illegal die Grenze übertretenden Personen, zugleich entwickelt sich aber unter stillschweigender Duldung der Grenzpolizei ein reger Schmuggelverkehr. Politische und wirtschaftliche Unzufriedenheit weiter Teile der DDR-Bevölkerung führt in den Folgejahren zu einer immer stärkeren Fluchtbewegung nach Westen. Zwischen 1949 und 1961 setzen sich etwa 2,7 Millionen Deutsche in die Bundesrepublik oder nach West-Berlin ab. Dabei handelt es sich zumeist um Personen im arbeitsfähigen Alter und mit einer qualifizierten Berufsausbildung.8 Im Sommer 1961 fasst die Staatsspitze der DDR unter Walter Ulbricht im Einvernehmen mit Vertretern der UdSSR den Beschluss, die Grenze alsbald so abzuriegeln, dass sie nur noch über Kontrollpunkte passierbar ist. In den Morgenstunden des 13. August 1961 beginnt die Volkspolizei, die westlichen Sektoren Berlins durch Stacheldraht und Barrikaden abzuschließen, die in
schen Grenze 1945–1990, 2. Aufl. (2000). Wichtige zeitgeschichtliche Feststellungen finden sich insbesondere in folgenden Urteilen: BGHSt 39, 1 (19 ff.); 40, 218 (219); 41, 101 (108); LG Berlin, NStZ 1992, 492 (495); LG Berlin, Urt. v. 16.9.1993 – (527) 2 Js 26/90 Ks (10/92); LG Potsdam, Urt. v. 22.4.1996 – 22 Ks 38/95; LG Berlin, Urt. v. 25.8.1997 – (527) 25/2 Js 20/92 Ks (1/95); LG Potsdam, Urt. v. 16.12.1997 – 21 Ks 17/95. 5 Vgl. Rummler Die Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze vor Gericht (2000), 74; Schultke „Keiner kommt durch“, Die Geschichte der innerdeutschen Grenze 1945– 1990, 2. Aufl. (2000), 16 ff. 6 Vgl. Rummler Die Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze vor Gericht (2000), 68 f.; Schultke „Keiner kommt durch“, Die Geschichte der innerdeutschen Grenze 1945– 1990, 2. Aufl. (2000), 31 ff.; Taylor Die Mauer (2009), 109. 7 Vgl. Rummler Die Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze vor Gericht (2000), 92 ff.; Schultke „Keiner kommt durch“, Die Geschichte der innerdeutschen Grenze 1945– 1990, 2. Aufl. (2000), 40 ff. 8 Zum Ganzen zusf. Mählert Kleine Geschichte der DDR (1998), 95; Weber Geschichte der DDR (1999), 295 f.; Weber Die DDR 1945–1990, 4. Aufl. (2006), 43, 57 f.; ausführlich Heidemeyer Flucht und Zuwanderung aus der SBZ/DDR 1945/1949–1961 (1994), 37 ff.
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der Folgezeit durch eine Mauer ersetzt werden. Auch an der übrigen Grenze zur Bundesrepublik findet noch einmal eine erhebliche Verstärkung der Sicherungsanlagen statt.9 Abschnittsweise wird die Grenze mit Erdminen unpassierbar gemacht. Es ergehen interne Anweisungen an die nunmehr dem Ministerium für Staatssicherheit unterstellten Grenztruppen, Versuche von DDR-Bürgern, die Grenze zu überwinden, durch Einsatz der Schutzwaffe systematisch zu unterbinden.10 Ab 1970 werden an einigen Abschnitten der Grenze Selbstschussanlagen montiert.11 Erst 1982 erfolgt eine gesetzliche Regelung des Schusswaffengebrauchs an der deutsch-deutschen Grenze durch §§ 26, 27 DDR-GrenzG.12 Nicht zuletzt aufgrund internationalen Drucks beschließt der Nationale Verteidigungsrat im Juli 1983, die Grenzsicherungsanlagen so zu verändern, dass ab 1985 auf Selbstschussanlagen und Minen verzichtet werden kann.13 Mit der Abriegelung der Grenze reduziert die Regierung der DDR auch drastisch die Möglichkeiten einer legalen Ausreise von DDR-Bürgern in den Westen. Bis zum 1. Januar 1989 lässt sich „für nicht politisch privilegierte Bürger unterhalb des Rentenalters, abgesehen von einzelnen dringenden Familienangelegenheiten“ von einer faktischen Unmöglichkeit sprechen, legal eine Ausreiseerlaubnis zu erhalten.14 Die Antragstellung wird systematisch 9 Eine nähere Beschreibung der Sicherungsanlagen findet sich z.B. bei Biermann Gesetzliches Unrecht in der DDR und Rückwirkungsverbot am Beispiel von § 27 des DDR-Grenzgesetzes (1998), 43 ff.; Rummler Die Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze vor Gericht (2000), 78 ff.; Schultke „Keiner kommt durch“, Die Geschichte der innerdeutschen Grenze 1945–1990, 2. Aufl. (2000), 62 ff. 10 Siehe zu diesen internen Anordnungen Bath Es wird weitergeschossen, Zur Normgenese des „Schießbefehls“, DA 1985, 959; Buchner Die Rechtswidrigkeit der Taten von „Mauerschützen“ im Lichte von Art. 103 Abs. 2 GG unter besonderer Berücksichtigung des Völkerrechts (1996), 67 ff.; Rosenau Tödliche Schüsse im staatlichen Auftrag, Die strafrechtliche Verantwortung von Grenzsoldaten für den Schusswaffengebrauch an der deutsch-deutschen Grenze (1996), 35 ff.; Rummler Die Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze vor Gericht (2000), 159 ff. Zur Geschichte der Grenztruppen der DDR siehe Lapp Zur Geschichte der ehemaligen DDR-Grenztruppen, in: Filmer/Schwan (Hrsg.), Opfer der Mauer. Die geheimen Protokolle des Todes (1991), 347 ff. Zu der vor 1961 geltenden Befehlslage siehe Biermann Gesetzliches Unrecht in der DDR und Rückwirkungsverbot am Beispiel von § 27 des DDR-Grenzgesetzes (1998), 33 ff.; Herzog (Hrsg.) Die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Todesschützen an der innerdeutschen Grenze (1993), 4 ff. 11 Siehe dazu z.B. Blumenwitz Die Grenzsicherungsanlagen der DDR im Lichte des Staats- und Völkerrechts, in: Zieger (Hrsg.) Festschrift für Siegfried Mampel (1983), 93 ff. 12 DDR-GBl. 1982 I, 197 ff. Dazu z.B. Brunner Neue Grenzregelungen der DDR, NJW 1982, 2479 ff. 13 Vgl. dazu Schultke „Keiner kommt durch“, Die Geschichte der innerdeutschen Grenze 1945–1990, 2. Aufl. (2000), 84 ff. 14 Vgl. BGHSt 39, 1 (19). Bis zum 1. Januar 1989 bedurften Entscheidungen über Ausreiseanträge keiner Begründung und konnten nicht angefochten werden, vgl. insbesondere § 17 der Pass- und Visaverordnung der DDR vom 28. Juni 1979. Vgl. dazu näher Blumen-
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erschwert und zieht für den Antragsteller und seine Angehörigen als Konsequenz Disziplinierungs- und Diskriminierungsmaßnahmen nach sich, die den Verlust von Arbeitsstelle, Ausbildungs- oder Studienplatz sowie strafrechtliche Verfolgungsmaßnahmen umfassen können. Der illegale Versuch, die Grenze zu überschreiten, ist zunächst in § 8 des DDR-Passgesetzes vom 15. September 1954,15 später gemäß § 213 StGB-DDR16 kriminalisiert. Zahlenangaben über das Fluchtgeschehen und die an der deutsch-deutschen Grenze getöteten oder verletzten Personen liegen nur teilweise vor und schwanken stark. Nach Berichten der Nationalen Volksarmee wurden für das Jahr 1972 insgesamt 2.474, für das folgende Jahr 3.004 und für den Zeitraum zwischen Ende 1974 und Ende 1979 4.965 Personen erfasst, die versucht hatten, die Grenze der DDR zu überwinden. Etwa 7 % dieser Versuche, die ganz überwiegend bereits vor Erreichen der Grenzsperranlagen durch Festnahme vereitelt wurden, waren erfolgreich.17 Nach staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen kamen zwischen 1946 und 1989 mindestens 264 Personen durch Minen, Selbstschussanlagen oder Schusswaffengebrauch ums Leben; der mit Abstand größte Teil wurde durch Grenzsicherungskräfte erschossen. Andere Schätzungen sprechen von bis zu 1.000 Toten im Zusammenhang mit Fluchtversuchen im besagten Zeitraum.18 Verlässliche Daten zu der Anzahl verletzter Personen fehlen.
II. Die völkerstrafrechtliche Bewertung Die völkerstrafrechtliche Analyse des Grenzregimes lässt sich in drei Schritte untergliedern. Zunächst ist zu fragen, ob die Verbrechen gegen die Menschlichkeit zum Tatzeitpunkt bindendes Völkerrecht waren. Sodann ist witz Die Grenzsicherungsanlagen der DDR im Lichte des Staats- und Völkerrechts, in: Ziemske u.a. (Hrsg.) Festschrift für Martin Kriele (1997), 713 (724). Siehe zu der Zahl legaler Ausreisen aus der DDR seit 1961 z.B. Hofmann Die Ausreisefreiheit nach Völkerrecht und staatlichem Recht (1988), 249 ff. 15 DDR-GBl. 1954 I, 786. Siehe zu § 8 DDR-Passgesetz z.B. Biermann Gesetzliches Unrecht in der DDR und Rückwirkungsverbot am Beispiel von § 27 des DDR-Grenzgesetzes (1998), 30 f.; Herzog (Hrsg.) Die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Todesschützen an der innerdeutschen Grenze (1993), 1. 16 DDR-GBl. 1968 I, 1. Siehe zu § 213 DDR-StGB näher Biermann Gesetzliches Unrecht in der DDR und Rückwirkungsverbot am Beispiel von § 27 des DDR-Grenzgesetzes (1998), 31 ff. Zu dem in der Praxis ebenfalls häufig verwirklichten § 101 StGB-DDR vgl. Herzog (Hrsg.) Die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Todesschützen an der innerdeutschen Grenze (1993), 2 f. 17 Angaben nach Rummler Die Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze vor Gericht (2000), 76. 18 Vgl. z.B. Mählert Kleine Geschichte der DDR (1998), 100; Marxen/Werle Die strafrechtliche Aufarbeitung von DDR-Unrecht, Eine Bilanz (1999), 8 ff.; Rummler Die Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze vor Gericht (2000), 73; Schultke „Keiner kommt durch“, Die Geschichte der innerdeutschen Grenze 1945–1990, 2. Aufl. (2000), 194.
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zu klären, ob die Tötungen von Flüchtenden Einzeltaten im Sinne des Tatbestands darstellten. Schließlich müssen diese Einzeltaten im Rahmen der für die Verbrechen gegen die Menschlichkeit charakteristischen Gesamttat begangen worden sein. 1. Verbrechen gegen die Menschlichkeit als anwendbarer Tatbestand? Eine Bewertung der Tötungen an der deutsch-deutschen Grenze als Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist rechtlich dann möglich, wenn der Tatbestand zum Tatzeitpunkt als unmittelbar bindendes Völkerrecht galt.19 Für die heutige Zeit besteht daran kein Zweifel.20 Ob dagegen den Verbrechen gegen die Menschlichkeit bereits im Zeitraum zwischen 1946 und 1989 völkergewohnheitsrechtliche Geltung zukam, ist weniger eindeutig, im Ergebnis aber zu bejahen. Für die völkergewohnheitsrechtliche Geltung spricht zunächst, dass die Verbrechen gegen die Menschlichkeit und der Grundsatz der unmittelbaren individuellen Strafbarkeit nach Völkerrecht in Art. 6c) IMG-Statut anerkannt werden. In der unmittelbaren Nachkriegszeit fand diese Regelung durch Art. 5c) des Statuts für den Internationalen Militärgerichtshof in Tokio (IMGFO-Statut) und Art. II(c) des Gesetzes Nr. 10 des Alliierten Kontrollrats sowie durch die von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedeten Nürnberger Prinzipien in Prinzip VI(c) Bestätigung.21 Auch die von der Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen 1951 und 1954 ausgearbeiteten Entwürfe eines Code of Crimes against Peace and Security of Mankind (im Folgenden: Draft Code) führen die Verbrechen gegen die Menschlichkeit als Völkerrechtsverbrechen auf.22 Praktische Anwendung fand der Tatbestand nicht nur in der unmittelbaren Nachkriegszeit, sondern
19 Vgl. zur völkerrechtlichen Geltung des Grundsatzes nullum crimen sine lege Werle Principles of International Criminal Law, 2. Aufl. (2009), Rn. 103 ff m.w.N. Freilich gilt im völkerrechtlichen Zusammenhang nicht das Gebot der lex scripta. Es reicht daher, wenn die Strafbarkeit zum Tatzeitpunkt völkergewohnheitsrechtlich bestimmt war, vgl. a.a.O., Rn. 104. 20 Vgl. nur Art. 7 IStGH-Statut; Art. 5 JStGH-Statut; Art. 3 RStGH-Statut. Siehe auch den Bericht des Generalsekretärs der Vereinten Nationen vom 3. Mai 1993 zum JStGHStatut, vgl. UN Doc. S/25704 (1993), para. 29, in dem er betont, dass nur solche Regeln in das JStGH-Statut aufgenommen worden seien, die bereits zuvor unzweifelhaft als Völkergewohnheitsrecht gegolten hätten. 21 Vgl. zu diesen Regelungen und ihren Abweichungen von Art. 6c) IMG-Statut im Einzelnen Meseke Der Tatbestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach dem Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofes (2004), 22, 25, 74 f. 22 Vgl. Art. 2 (10) Draft Code 1951 und Art. 2 (11) Draft Code 1954. Siehe dazu Meseke Der Tatbestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach dem Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofes (2004), 75 ff.; Tomuschat in: Hankel/Stuby (Hrsg.) Strafgerichte gegen Menschheitsverbrechen (1995), 270 (271 f.).
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auch in einigen später durchgeführten Verfahren, etwa gegen Adolf Eichmann,23 und gegen Klaus Barbie 24. Implizite Bestätigungen durch Bezugnahme und Anknüpfung an das Recht von Nürnberg und Tokio finden sich zudem in der Internationalen Flüchtlingskonvention vom 28. Juli 195125 und der Konvention über die Nichtanwendung von Verjährungsvorschriften auf Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vom 26. November 1968 26. Dem wird entgegengehalten, dass sich das Nürnberger und Tokioter Recht zu den Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Zeit des „Kalten Krieges“ gerade nicht als Völkergewohnheitsrecht habe etablieren und verfestigen können. Es sei bis zu seiner Reaktivierung durch die ad-hoc-Tribunale für das ehemalige Jugoslawien und für Ruanda ein Sonderrecht für die Aburteilung der deutschen und japanischen Verlierer des 2. Weltkrieges geblieben. Nur der Völkermord habe als in einer eigenständigen Konvention geregelter völkerrechtlicher Verbrechenstatbestand weit verbreitete Anerkennung gefunden. Hinsichtlich eines darüber hinausgehenden Konzepts der Verbrechen gegen die Menschlichkeit sei hingegen bereits der Nachweis einer entsprechenden opinio iuris zweifelhaft, weil weder die Nürnberger Prinzipien noch der Draft Code als Völkerrechtsverträge Bindungswirkung entfaltet hätten; die Internationale Flüchtlingskonvention vom 28. Juli 1951 und die Konvention über die Nichtanwendung von Verjährungsvorschriften auf Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vom 26. November 1968 hätten hingegen bis zum Ende des Kalten Krieges nicht die erforderliche Zahl von Ratifikationen durch Einzelstaaten erhalten, um als Nachweis einer völkergewohnheitsrechtlichen Rechtsüberzeugung gelten zu können. Schließlich habe es in der Zeit von 1949 bis 1989 jedenfalls an der erforderlichen Rechtspraxis gefehlt. Die genannten Verfahren gegen Eichmann, Barbie und einige andere bildeten als lediglich vereinzelte Fälle keine hinreichend gefestigte Übung.27 23 Eichmann, Israel, District Court of Jerusalem, Urt. v. 12. Dezember 1961, ILR 36 (1968), 1 ff., Supreme Court of Israel, Urt. v. 29. Mai 1962, ILR 36 (1968), 277 ff. Vgl. dazu z.B. Große Der Eichmann-Prozess zwischen Recht und Politik (1995); Less (Hrsg.) Der Staat Israel gegen Adolf Eichmann (1995). 24 Barbie, Frankreich, Cour de Cassation, Urt. v. 6. Oktober 1983, 26. Januar 1984, 20. Dezember 1985, ILR 78 (1988), 125 ff., Cour de Cassation, Urt. v. 3. Juni 1988, ILR 100 (1995), 330 ff. Zu weiteren Verfahren siehe Werle Völkerstrafrecht, 2. Aufl. (2007), Rn. 168, 284, 749. 25 Vgl. Art. 1 F. der Konvention, abgedruckt in BGBl. 1953 II, 559; UNTS Bd. 189, 150. 26 Abgedruckt in Vereinte Nationen 1969, 28; UNTS Bd. 754, 73. 27 Vgl. zu den genannten Einwänden etwa Alexy Mauerschützen: zum Verhältnis von Recht, Moral und Strafbarkeit (1993), 20; Ebert Völkerstrafrecht und Gesetzlichkeitsprinzip, in: Britz u.a. (Hrsg.) Grundfragen staatlichen Strafens, Festschrift für Heinz Müller-Dietz zum 70. Geburtstag (2001), 171 (178); Gornig Die Verantwortlichkeit politischer Funktionsträger nach völkerrechtlichem Strafrecht, NJ 1992, 4 (8); Laskowski Unrecht –
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Diese Einwände verkennen indes die Entwicklung des modernen Völkerrechts. Spätestens seit dem 2. Weltkrieg ist anerkannt, dass die Staatensouveränität durch einen völkerrechtlichen ordre public begrenzt wird, dessen Kern die elementaren Menschenrechte und das Aggressionsverbot bilden.28 Das Völkerrecht stellt seither in zunehmendem Maß die „substanzielle Legitimationsgrundlage des staatlichen Verfassungsrechts“ dar.29 In einer von dieser Grundüberzeugung getragenen Rechtsordnung begründen gravierende Verletzungen grundlegender Menschenrechte in systematischer oder ausgedehnter Weise schwerstes völkerrechtliches Unrecht, das – so die bleibende Lehre aus Nürnberg und Tokio – unmittelbar nach Völkerrecht und ungeachtet der innerstaatlichen Rechtslage individuelle Strafbarkeit bedingt.30 Diese normativen Wertentscheidungen sind auch während des Kalten Krieges nicht revidiert worden. Die Selbstverständlichkeit, mit welcher der VN-Sicherheitsrat bei der Einsetzung der ad hoc-Strafgerichtshöfe für das ehemalige Jugoslawien und für Ruanda an das Recht von Nürnberg und Tokio angeknüpft hat, verdeutlicht dies eindrucksvoll. Es mag über Jahrzehnte der politische Wille gefehlt haben, den Wertentscheidungen unter Preisgabe eigener machtpolitischer Interessen zur praktischen Durchsetzung zu verhelfen. An der normativen Validität der Entscheidungen änderte sich in dieser Zeit aber nichts.31 Die Gegenansicht fällt in einen überholten Rechtsrealismus zurück, der eine widersprechende politische Praxis mit der Rechtsausübung verwechselt und aus dem Sein umstandslos Rückschlüsse auf das Sollen zieht.32
Strafrecht – Gerechtigkeit, Die Probleme des Rechtsstaats mit dem DDR-Unrecht, JA 1994, 151 (161); Ott Die Staatspraxis an der DDR-Grenze und das Völkerrecht, Zugleich Anmerkung zum Urteil des BGH vom 3.11.1992 – 5 StR 370/92, NJ 1993, 337 (339); Polakiewicz Verfassungs- und völkerrechtliche Aspekte der strafrechtlichen Ahndung des Schußwaffeneinsatzes an der innerdeutschen Grenze, EuGRZ 1992, 177 (182). Die Zahl der nationalen Strafverfahren, die auf der Grundlage des „Nürnberger Rechts“ durchgeführt wurden, wird dabei regelmäßig unterschätzt, vgl. Meseke Der Tatbestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach dem Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofes (2004), 44 ff. 28 Vgl. Dahm/Delbrück/Wolfrum Völkerrecht, Bd. I/1, 2. Aufl. (1989), 217; Heintschel von Heinegg in: Ipsen Völkerrecht, 5. Aufl. (2004), § 15 Rn. 59 m.w.N.; Jescheck Die Verantwortlichkeit der Staatsorgane nach Völkerstrafrecht (1952), 184. 29 Vgl. Thürer Kosmopolitisches Staatsrecht, Bd. 1: Grundidee Gerechtigkeit (2005), 6. 30 Eine zeitgenössische Einschätzung in diesem Sinne findet sich z.B. bei Jescheck Strafrecht im Dienste der Gemeinschaft (1980), 582 (587). 31 Ähnlich Merkel Politik und Kriminalität, Über einige vernachlässigte Probleme der deutsch-deutschen Vergangenheitsbewältigung durch Strafrecht, in: Unseld (Hrsg.) Politik ohne Recht (1993), 298 (300 f.), nach dessen Ansicht die Zeit des Kalten Krieges davon gekennzeichnet war, dass „das machtpolitische Credo […] den Vorrang seiner Wirksamkeit vor der Brüchigkeit seiner normativen Geltung“ habe etablieren können. 32 Im Ergebnis ebenso Sondervotum Richter Loucaides, EGMR, Urt. v. 22. März 2001 (Streletz, Kessler und Krenz gegen Deutschland), abgedruckt in: Marxen/Werle (Hrsg.) Strafjustiz und DDR-Unrecht, Band 2/2, Teilband: Gewalttaten an der deutsch-deutschen
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Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass die DDR die Nürnberger Prinzipien, insbesondere den Grundsatz unmittelbarer völkerrechtlicher Strafbarkeit für schwerstes völkerrechtliches Unrecht und den Tatbestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, anders als die Bundesrepublik, stets anerkannt hat.33 Art. 91 der Verfassung der DDR vom 6. April 1968 bestimmte: „Die allgemein anerkannten Normen des Völkerrechts über die Bestrafung von Verbrechen gegen den Frieden, gegen die Menschlichkeit und von Kriegsverbrechen sind unmittelbar geltendes Recht. Verbrechen dieser Art unterliegen nicht der Verjährung.“ Zudem fand sich im 1968 neu geschaffenen Strafgesetzbuch der DDR in § 91 ein eigener Straftatbestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit.34 Unter Berufung auf das Nürnberger Recht führte die DDR auch einige Verfahren gegen Funktionsträger des NS-Regimes durch.35 Diese Überlegungen haben indes lediglich flankierende Bedeutung. Wie ausgeführt galten die Verbrechen gegen die Menschlichkeit im gesamten Tatzeitraum als Völkergewohnheitsrecht.
Grenze (2002), Lfd. Nr. 16-4, 929 ff.; Blumenwitz Zur strafrechtlichen Verfolgung Erich Honeckers, Staats- und völkerrechtliche Fragen, DA 1992, 567 (575); Brownlie Principles of Public International Law, 7. Aufl. (2008), 510 (der die Verbrechen gegen die Menschlichkeit ausdrücklich als ius cogens bezeichnet); Classen Artikel 103 Abs. 2 GG – ein Grundrecht unter Vorbehalt?, GA 1998, 215 (221), Stahn Zwischen Weltfrieden und materieller Gerechtigkeit: Die Gerichtsbarkeit des Ständigen Internationalen Strafgerichtshofs, EuGRZ 1998, 577 (580). 33 Vgl. auch Blumenwitz Zur strafrechtlichen Verfolgung Erich Honeckers, Staats- und völkerrechtliche Fragen, DA 1992, 567 (576); Eser/Kreicker (Hrsg.) Nationale Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen, Bd. 1: Deutschland (2003), 90 f.; Marxen Die Bestrafung von NS-Unrecht in Ostdeutschland, in: Marxen/Miyazawa/Werle (Hrsg.) Der Umgang mit Kriegs- und Besatzungsunrecht in Japan und Deutschland (2001), 159 (162 ff.) 34 § 91 StGB-DDR entspricht allerdings nicht der völkerrechtlichen Definition der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, sondern enthält einen Tatbestand sui generis, der von der DDR als Weiterentwicklung des im IMG-Statut enthaltenen Tatbestands betrachtet wurde. Ähnlich Blumenwitz Die Grenzsicherungsanlagen der DDR im Lichte des Staats- und Völkerrechts, in: Ziemske u.a. (Hrsg.) Festschrift für Martin Kriele (1997), 713 (726 f.); Kreicker Art. 7 EMRK und die Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze (2002), 81 Fn. 300. 35 Zur Verfolgung von NS-Verbrechen in der DDR vgl. die Dokumentation von Rüter DDR-Justiz und NS-Verbrechen – Sammlung ostdeutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen; der aktuelle Stand des Forschungsprojekts – mit ost- und westdeutschen Verfahren – findet sich unter (Stand: Juli 2010); zusf. Marxen Die Bestrafung von NS-Unrecht in Ostdeutschland, in: Marxen/Miyazawa/Werle (Hrsg.) Der Umgang mit Kriegs- und Besatzungsunrecht in Japan und Deutschland (2001), 159 (171 ff.). Zur Verfolgungspraxis in der Bundesrepublik und der DDR im Vergleich Weinke Die Verfolgung von NS-Tätern im geteilten Deutschland (2002).
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2. Die Einzeltaten: Vorsätzliche Tötungen In einem zweiten Prüfungsschritt ist der Frage nachzugehen, ob die Tötungen an der deutsch-deutschen Grenze als tatbestandsmäßige Einzeltaten eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit zu qualifizieren sind. Sämtliche Kodifikationen des Verbrechenstatbestands seit Art. 6c) IMGStatut nennen als eine Tatvariante die vorsätzliche Tötung (murder). a) Äußere Tatseite Die äußere Tatseite des Einzelverbrechenstatbestands liegt vor. Durch die Schüsse von Grenzposten, die Aktivierung von Selbstschussanlagen und die Explosion von auf dem Grenzstreifen verlegten Erd- und Splitterminen kamen zwischen 1946 und 1989 mindestens 264 Menschen ums Leben. b) Innere Tatseite Die innere Tatseite verlangt Vorsatz hinsichtlich der Herbeiführung des Todeserfolgs. Zwar ist für das IStGH-Statut umstritten, ob es ausreicht, dass der Täter den Eintritt des tatbestandlichen Erfolges aufgrund seines Handelns lediglich für möglich hält.36 Es besteht aber kein Zweifel daran, dass zumindest nach Völkergewohnheitsrecht und damit nach der zum Tatzeitpunkt geltenden Rechtslage dolus eventualis hinsichtlich der Herbeiführung des Tötungserfolgs genügt.37 Dies ergibt sich bereits aus der Rechtsprechung zu Art. 6 c) IMG-Statut, Art. 5c) IMGFO-Statut und Art. II(c) KRG Nr. 10.38 Die bundesdeutsche Rechtsprechung hat sowohl für die unmittelbar handelnden Grenzsoldaten und ihre direkten Vorgesetzten als auch für die auf politischer Leitungsebene für das Grenzregime Verantwortlichen zumindest bedingt vorsätzliches Handeln bejaht.39
36 Bejahend IStGH, Beschl. v. 29. Januar 2007 (Lubanga, PTC), para. 352 ff., verneinend IStGH, Beschl. v. 15. Juni 2009 (Bemba Gombo, PTC), para. 357 ff. Vgl. ferner Werle/Jeßberger ,Unless Otherwise Provided‘: Article 30 of the ICC Statute and the Mental Element of Crimes under International Criminal Law, Journal of International Criminal Justice 3 (2005), 35 ff. 37 Vgl. dazu zusammenfassend Werle Principles of International Criminal Law, 2. Aufl. (2009), Rn. 408. 38 Siehe dazu Ambos Der Allgemeine Teil des Völkerstrafrechts (2002), 107 ff., 128, 134, 160, 171. Die Anforderungen und Begriffe, mit denen die verschiedenen Gerichte gearbeitet haben, unterscheiden sich dabei durchaus. Gemeinsam ist der einschlägigen Rechtsprechung nach dem 2. Weltkrieg aber, dass der Täter nicht schon deswegen von strafrechtlicher Verantwortlichkeit freigestellt wurde, weil ihm nicht nachgewiesen werden konnte, dass er keine positive Kenntnis hinsichtlich der Erfolgsherbeiführung hatte. 39 Vgl. BGHSt 39, 1 (30); 39, 168 (180); 40, 218 (232, 237); 41, 10 (12); 41, 101 (103); 42, 356 (360). BGH NStZ-RR 1996, 323 (324).
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c) Die Völkerrechtswidrigkeit der Tötungen (1) Ausgangspunkt Die Verbrechen gegen die Menschlichkeit dienen der völkerstrafrechtlichen Flankierung des völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes.40 Einzeltat im Sinne der Verbrechen gegen die Menschlichkeit kann daher nur eine völkerrechtswidrige Menschenrechtsverletzung sein. Lässt sich das Verhalten völkerrechtlich rechtfertigen, kann es auch nicht zur Begründung eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit herangezogen werden.41 Die Bezugnahme auf das sonstige Völkerrecht erfolgt in zahlreichen Einzeltatbeständen des Völkerrechts ausdrücklich. So ist der Freiheitsentzug gem. Art. 7 Abs. 1e) IStGH-Statut nur dann tatbestandsmäßig, wenn er „unter Verstoß gegen die Grundregeln des Völkerrechts“ erfolgt. Auch für die Einzeltatbestände der Vertreibung oder zwangsweisen Überführung der Bevölkerung gem. Art. 7 Abs. 1d), Abs. 2d) IStGH-Statut, der Folter gem. Art. 7 Abs. 1f), Abs. 2e) IStGH-Statut, der erzwungenen Schwangerschaft gem. Art. 7 Abs. 1g), Abs. 2f) IStGH-Statut und der Verfolgung gem. Art. 7 Abs. 1h), Abs. 2g) IStGH-Statut wird durch unterschiedliche Formulierungen die Unvereinbarkeit des Verhaltens mit dem Völkerrecht als Voraussetzung definiert. Für den Einzeltatbestand der vorsätzlichen Tötung eines anderen Menschen gilt im Ergebnis nichts anderes: Auch das völkerrechtliche Recht auf Leben unterliegt Einschränkungen. Ist die Tötung ausnahmsweise völkerrechtlich zulässig, scheidet eine Strafbarkeit aus. (2) Das Recht auf Leben als völkerrechtliches ius cogens Das Recht auf Leben genießt heute nach allgemeiner Ansicht völkergewohnheitsrechtliche Anerkennung.42 Ausformulierungen in internationalen Menschenrechtskonventionen finden sich z.B. in Art. 6 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR) von 16. De40 Siehe dazu Werle Die Zukunft des Völkerstrafrechts, in: Grundmann u.a. (Hrsg.) 200 Jahre Juristische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin (im Erscheinen). 41 Diskutiert wurde diese Konkordanz zwischen den völkerstrafrechtlichen Wertungen mit anderen Teilgebieten des Völkerrechts bislang vor allem für das Verhältnis zwischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und humanitärem Völkerrecht, vgl. Akhavan Reconciling Crimes Against Humanity with the Laws of War, Human Rights, Armed Conflict, and the Limits of Progressive Jurisprudence, Journal of International Criminal Justice 6 (2008), 21; Burghardt/Geneuss Der Präsident und sein Gericht, Die Entscheidung des Internationalen Strafgerichtshofs über den Erlass eines Haftbefehls gegen Al Bashir, ZIS 2009, 126 (130 f.); Fenrick Crimes in Combat: The Relationship Between Crimes Against Humanity and War Crimes, 11 ff., abrufbar unter http://www.docin.com/p-35409797.html (Stand: Juli 2010). 42 Vgl. Dahm/Delbrück/Wolfrum Völkerrecht, Bd. I/1, 2. Aufl. (1989), 217 m.w.N.
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zember 1966,43 in Art. 2 Abs. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) vom 4. Mai 1950 44, in Art. 4 der Amerikanischen Menschenrechtskonvention (AMRK) vom 22. November 1969 45, in Art. 4 der Afrikanischen Charta der Menschenrechte und der Rechte der Völker (AfChRMV) vom 26. Juni 198146 sowie in Art. 5 der Arabischen Menschenrechtscharta vom 15. September 1994 47. Als schwieriger erweist es sich erneut, die völkerrechtliche Annerkennung des Rechts auf Leben für den Tatzeitraum zu begründen. Die genannten Menschenrechtskonventionen haben erst während oder sogar nach dem hier interessierenden Zeitraum Geltung als Völkervertragsrecht erlangt. Zu berücksichtigen ist aber erneut der konstitutionelle Charakter des modernen Völkerrechts: Als unverzichtbare Voraussetzung für die Ausübung aller weiteren Menschenrechte bildet das Recht des Lebens den Grundstein und Ausgangspunkt der Neuordnung des Völkerrechts nach dem 2. Weltkrieg. Deutlich wird dies in der Anerkennung des Rechts auf Leben in Art. 3 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR), die am 10. Dezember 1948 durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet wurde. Die Erklärung, mag ihr auch keine unmittelbare Bindungswirkung als Völkervertragsrecht zukommen, will als normatives Grundbekenntnis für eine neue Weltordnung verstanden werden. Zugleich werden die in der Erklärung aufgeführten Menschenrechte keineswegs als Neuentdeckungen des Völkerrechts, sondern als jeder (staatlichen und völkerrechtlichen) Rechtsordnung vorgängige Rechte verstanden. Art. 3 AEMR kann daher als Nachweis für eine Völkergewohnheitsrecht begründende Rechtsüberzeugung herangezogen werden.48 Auch eine entsprechende rechtliche Übung ist zu bejahen. Zu verweisen ist zunächst auf die bereits damals weit verbreitete innerstaatliche Anerken-
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BGBl. 1973 II 1533. Der Pakt ist am 23. März 1976 in Kraft getreten. Neubekanntmachung in BGBl. 1952 II, 685, 953; UNTS Bd. 213, 221. Die Konvention ist am 3. September 1953 in Kraft getreten. 45 OAS, Official Records OEA/Ser. K/XVI/I.I, Document 65, Rev. 1, Corr. 2, deutsche Übersetzung in Europäische Grundrechte-Zeitschrift 1980, 435. Die Konvention ist am 18. Juli 1978 in Kraft getreten. 46 Human Rights Law Journal 1986, 403. Die Charta ist am 21. Oktober 1986 in Kraft getreten. 47 Deutsche Übersetzung abrufbar unter http://www.humanrights.ch/home/upload/ pdf/061015_arabische_charta.pdf (Stand: Juli 2010). Die Charta ist in der überarbeiteten Fassung vom 15. Januar 2004 am 15. März 2008 in Kraft getreten. 48 Vgl. BGHSt 40, 241 (246); 41, 101 (105); Cassese International Law, 2. Aufl. (2005), 380 f.; Hailbronner in: Graf Vizthum (Hrsg.), Völkerrecht, 4. Aufl. (2008), 3. Abschnitt Rn. 217; Ipsen in: Ipsen Völkerrecht, 5. Aufl. (2004), § 48 Rn. 36; Meron Human Rights and Humanitarian Norms as Customary Law (1989), 82 ff.; Partsch in Simma (Hrsg.) Charta der Vereinten Nationen (1991), Art. 55 (c) Rn. 23 ff.; Verdross/Simma Universelles Völkerrecht, 3. Aufl. (1984), 822. 44
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nung des Rechts auf Leben in Verfassungen mit Grundrechtsteil und Menschenrechtscharten.49 Implizit kam sie zu allen Zeiten in der universellen Kriminalisierung der vorsätzlichen Tötung eines anderen Menschen zum Ausdruck.50 Auf völkerrechtlicher Ebene lässt sich die Nürnberger und Tokioter Rechtsprechung zu den Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht ohne die Anerkennung des Rechts auf Leben und eines engen Kernbereichs von Menschenrechten erklären. Sie liegt auch dem primär um die Schonung des Lebens der Nicht-Kombattanten bemühten Genfer Recht der bewaffneten Konflikte und den an das Genfer Recht anknüpfenden Kriegsverbrechenstatbeständen zugrunde.51 Schließlich ist dem Recht auf Leben auch zwingender Charakter zuzusprechen. Das Recht auf Leben wird in den völkerstrafrechtlichen Verbrechenstatbeständen ebenso vorausgesetzt wie etwa beim menschenrechtlichen Folter- und Sklavereiverbot, völkerrechtlichen Rechtsgrundsätzen also, denen ihrerseits Geltung als ius cogens zukommt. Damit ist nicht gesagt, dass das völkerrechtliche Recht auf Leben nicht auch Einschränkungen unterliegen kann. Zwingender Mindestgehalt des völkerrechtlichen Rechts auf Leben ist aber, dass wer in das Recht auf Leben eingreift, Gründe geltend machen muss, die völkerrechtlich haltbar sind.52 Im Ergebnis ist daher eine völkergewohnheitsrechtliche Geltung des Rechts auf Leben als ius cogens im gesamten Tatzeitraum zu bejahen.53
49 Im Jahr 1983 hatten 87 von damals 168 Staaten das Recht auf Leben in ihren nationalen Verfassungen anerkannt, vgl. Desch The Concept and Dimensions of the Right to Life (as defined in International Standards and in International and Comparative Jurisprudence), ÖZöRV 26 (1985), 77 (83); Hobe/Tietje Schießbefehl an der DDR-Grenze und ius cogens, AVR 32 (1994), 130 (140). 50 Vgl. International Law Commission (ILC), Report on the work of its forty-eighth session; General Assembly Official Records, 51st Session, Supp. No. 10 (A/51/10), Rn. 7. 51 Vgl. den gemeinsamen Artikel 3 der Genfer Abkommen von 1949. Ebenso Hobe/ Tietje Schießbefehl an der DDR-Grenze und ius cogens, AVR 32 (1994), 130 (141); Kadelbach Zwingendes Völkerrecht (1992), 286. 52 Ganz ähnlich Kokott Der Schutz der Menschenrechte im Völkerrecht, in: Brunkhorst/Köhler/Lutz-Bachmann (Hrsg.) Recht auf Menschenrechte (1999), 176 (182). 53 Vgl. EGMR, Urt. v. 22. März 2001 (Streletz, Kessler und Krenz gegen Deutschland), para. 94, abgedruckt in: Marxen/Werle (Hrsg.) Strafjustiz und DDR-Unrecht, Band 2/2. Teilband: Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze (2002), Lfd. Nr. 16-4, 914 (926); Buchner Die Rechtswidrigkeit der Taten von „Mauerschützen“ im Lichte von Art. 103 Abs. 2 GG unter besonderer Berücksichtigung des Völkerrechts (1996), 204 ff.; Hannikainen Peremptory Norms (Jus Cogens) in International Law (1988), 517; Hobe/Tietje Schießbefehl an der DDR-Grenze und ius cogens, AVR 32 (1994), 130 (142) m.w.N.; Kokott Der Schutz der Menschenrechte im Völkerrecht, in: Brunkhorst/Köhler/Lutz-Bachmann (Hrsg.) Recht auf Menschenrechte (1999), 176 (179, 182). Kadelbach Zwingendes Völkerrecht (1992), 290 bejaht die Geltung als ius cogens zumindest auf europäischer und amerikanischer Ebene.
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Die DDR hat im Übrigen dieser völkerrechtlichen Rechtüberzeugung und -praxis nicht widersprochen, sondern das Recht auf Leben ausdrücklich und mittelbar in innerstaatlichen und völkerrechtlichen Dokumenten anerkannt.54 So hat auch das Strafgesetzbuch der DDR die vorsätzliche Tötung eines anderen Menschen selbstverständlich als Verbrechen kriminalisiert.55 Zudem hat sich die DDR stets zu den Grundsätzen des Nürnberger und Tokioter Rechts sowie den Grundsätzen des Völkerrechts allgemein bekannt.56 Schließlich trat die DDR am 18. September 1973 den Vereinten Nationen bei,57 am 8. November 1973 ratifizierte sie den IPbpR.58 Das Recht auf Leben band die DDR nach dem hier vertretenen Ansatz als zwingendes Völkerrecht aber ohnehin unabhängig von Anerkennung und Umsetzung ins innerstaatliche Recht. (3) Ausnahmsweise völkerrechtliche Zulässigkeit der vorsätzlichen Tötung? Das Völkerrecht lässt in engen Ausnahmefällen eine Rechtfertigung vorsätzlicher Tötungen nach staatlichem Recht zu. Die willkürliche (arbitrary) Tötung ist aber jedenfalls völkerrechtswidrig. Das ergibt sich ausdrücklich aus Art. 6 Abs. 1 S. 3 IPbpR. Konkretisierungen, in welchen Fällen die Tötung nicht als willkürlich eingestuft werden kann, finden sich z.B. in Art. 6 Abs. 2 IPbpR, Art. 2 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 EMRK, Art. 15 Abs. 2 EMRK.59 So kommt eine nicht-willkürliche vorsätzliche Tötung gem. Art. 2 Abs. 2b) EMRK in Betracht, wenn sie „durch eine Gewaltanwendung verursacht wird, die unbedingt erforderlich ist, um […] jemanden rechtmäßig festzunehmen oder jemanden, dem die Freiheit rechtmäßig entzogen ist, an der Flucht zu hindern“. Der Ausnahmetatbestand verweist also zunächst wieder in das staatliche Recht.
54 Vgl. zum Selbstverständnis der DDR im Hinblick auf den völkerrechtlichen Menschenrechtsschutz Beil Sozialistische Grundrechte und demokratisches Völkerrecht, in: Poppe (Hrsg.) Grundrechte des Bürgers in der sozialistischen Gesellschaft (1980), 264 ff. 55 Vgl. §§ 112 f. StGB-DDR vom 12. Januar 1968. Siehe dazu Buchholz Strafrecht im Osten (2008), 404 ff. 56 Vgl. z.B. Art. 5 I Verfassung 1949, Art. 8 I Verfassung 1968, auch in der revidierten Fassung von 1974, § 258 StGB-DDR 1968, auch in der revidierten Fassung von 1974. 57 Vgl. dazu Weber Geschichte der DDR (1999), 395. 58 GBl. II 1974, 57. Zu der hier nebensächlichen Frage, ab welchem Zeitpunkt der IPbpR Geltung als innerstaatliches Recht erlangte, siehe einerseits Mampel Die sozialistische Verfassung der DDR (1982), Art. 51 Rn. 2 ff., 16, andererseits Roellecke NJW 1991, 657 (661). 59 Zum Teil wird dagegen davon ausgegangen, dass dem IPbpR und der EMRK unterschiedliche Einschränkungen des Tötungsverbots zu entnehmen sein. Vgl. z.B. Kreicker Art. 7 EMRK und die Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze (2002), 72; Ott Die Staatspraxis an der DDR-Grenze und das Völkerrecht, Zugleich Anmerkung zum Urteil des BGH vom 3.11.1992 – 5 StR 370/92, NJ 1993, 337 (342).
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Das Recht der DDR kriminalisierte den „ungesetzlichen Grenzübertritt“ seit 1954, zunächst durch § 8 des DDR-Passgesetzes vom 15. September 1954, ab 1968 in § 213 StGB-DDR.60 Daran anknüpfend legalisierten die internen Bestimmungen der Grenzpolizei bzw. ab 1982 die §§ 26, 27 GrenzG nicht nur die Festnahme, sondern auch die Tötung von sog. „Grenzverletzern“, um einen erfolgreichen Grenzübertritt zu verhindern.61 Der völkerrechtliche Ausnahmetatbestand beschränkt sich freilich nicht auf die Übernahme der Wertungen der innerstaatlichen Rechtsordnung. Die Rechtfertigung der Tötung nach dem Recht der DDR ist nur notwendige, nicht hinreichende Voraussetzung für die Feststellung, dass die Tötung nicht willkürlich war. Denn entscheidend bleiben die Maßstäbe des Völkerrechts und damit insbesondere des internationalen Menschenrechtsschutzes.62 Das die Tötung legalisierende staatliche Recht muss sich daher seinerseits als völkerrechtskonform erweisen. Die den illegalen Grenzübertritt kriminalisierenden und den tödlichen Schusswaffeneinsatz legalisierenden Vorschriften der DDR verstießen indes gegen Völkerrecht. Als Menschenrecht ist völkergewohnheitsrechtlich nämlich auch die Ausreisefreiheit anerkannt, die sowohl die zeitweilige Ausreise
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Siehe zu diesen Vorschriften bereits Fn. 15 und 16 m.w.N. Siehe dazu im Einzelnen BGHSt 39, 1 (9 ff.); 40, 241 (242 f.); Werle Rückwirkungsverbot und Staatskriminalität, NJW 2001, 3001 (3004). Soweit argumentiert wird, dass bereits das Recht der DDR selbst, d.h. ohne Bezugnahme auf die DDR bindende völkerrechtliche Standards und eine damit angeblich gebotene „menschenrechtsfreundliche Auslegung“ des DDR-Rechts, die Tötungen nicht gedeckt habe, steht damit zugleich fest, dass die Tötung völkerrechtlich als willkürlich zu bewerten ist. Dies betrifft zum einen Exzesstaten, zum anderen Tötungen in dem Zeitraum, in dem der Schusswaffengebrauch noch nicht gesetzlich geregelt war, die Einschränkung des Lebens also u.U. gegen Art. 30 Abs. 2 S. 1 DDR-Verfassung 1968 widersprach. Schließlich wird vertreten, dass auch die Tötungen durch Minen und Selbstschussanlagen bereits nach dem Recht der DDR rechtswidrig waren. Vgl. zur systemimmanenten Rechtswidrigkeit der Tötungen z.B. EGMR, Urt. v. 22. März 2001 (Streletz, Kessler und Krenz gegen Deutschland), para. 73, abgedruckt in: Marxen/Werle (Hrsg.) Strafjustiz und DDR-Unrecht, Band 2/2. Teilband: Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze (2002), Lfd. Nr. 16-4, 914 (922); Dreier Gesetzliches Unrecht im SED-Staat? Am Beispiel des DDR-Grenzgesetzes, in: Haft u.a. (Hrsg.) Strafgerechtigkeit, Festschrift für Arthur Kaufmann (1993), 57 (67); Herzog (Hrsg.) Die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Todesschützen an der innerdeutschen Grenze (1993), 6 ff.; Lüderssen Der Staat geht unter – das Unrecht bleibt?, Regierungskriminalität in der ehemaligen DDR (1992), 93 f.; Mampel Die sozialistische Verfassung der DDR, Kommentar, 2. Aufl. (1982), Art. 30 Rn. 4; Merkel Politik und Kriminalität, Über einige vernachlässigte Probleme der deutsch-deutschen Vergangenheitsbewältigung durch Strafrecht, in Unseld (Hrsg.) Politik ohne Recht (1993), 298 (325 f.). 62 Vgl. insbesondere die Entscheidung des UN-Menschenrechtsausschusses im Fall Suárez de Guerrero, auszugsweise abgedruckt in EuGRZ 1992, 340 ff. Ebenso Hobe/Tietje Schießbefehl an der DDR-Grenze und ius cogens, AVR 32 (1994), 130 (145). 61
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aus einem Staat als auch die endgültige Auswanderung umfasst.63 Das ergibt sich beispielsweise aus Art. 13 Abs. 2 AEMR, Art. 12 Abs. 2 IPbpR, Art. 2 Abs. 2 des 4. Zusatzprotokolls zur EMRK, Art. 22 Abs. 2 AMRK, Art. 12 AfChRMV.64 Die DDR hat dieser völkerrechtlichen Rechtsüberzeugung im Prinzip auch zu keinem Zeitpunkt widersprochen.65 Allerdings wird geltend gemacht, dass die DDR das Recht auf Ausreise wie auch das Recht auf Leben auf der Grundlage eines sozialistischen Menschenrechtsverständnisses anerkannt habe. Sie sei daher an die Menschenrechte auch nur in diesem Sinne gebunden gewesen. Die Ausreisefreiheit habe aber unter Berücksichtigung eines sozialistischen Menschenrechtsverständnisses gerade nicht das Recht bezeichnet, das eigene Land nach Belieben zu verlassen, wenn dies auf eine „Freiheit des Verrats am sozialistischen Vaterland“ hinauslaufe.66 Diese Argumentation überzeugt nicht. Kern eines sozialistischen Menschenrechtsverständnisses ist die Ablehnung der Idee, dass die Menschenrechte einen universellen Schutzgehalt aufweisen. Vielmehr sollen der Gehalt und die Interpretation der Menschenrechte von den politischen und sozio-ökonomischen Verhältnissen abhängen. Im Ergebnis
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Ebenso Buchner Die Rechtswidrigkeit der Taten von „Mauerschützen“ im Lichte von Art. 103 Abs. 2 GG unter besonderer Berücksichtigung des Völkerrechts (1996), 206 ff.; Hofmann Die Ausreisefreiheit nach Völkerrecht und staatlichem Recht (1988), 80, 176 f.; Kunig in v. Münch/Kunig Grundgesetz-Kommentar I, 4. Aufl. (1992), Art. 11 Rn. 2; Uerpmann Die Ausreise von DDR-Bürgern aus völkerrechtlicher Sicht, Jura 1990, 12 (14). Zweifel an der völkergewohnheitsrechtlichen Geltung der Ausreisefreiheit zum Tatzeitpunkt äußern hingegen Laskowski Unrecht – Strafe – Gerechtigkeit, Die Probleme des Rechtsstaats mit dem DDR-Unrecht, JA 1994, 151 (159); Ott Die Staatspraxis an der DDRGrenze und das Völkerrecht, Zugleich Anmerkung zum Urteil des BGH vom 3.11.1992 – 5 StR 370/92, NJ 1993, 337 (342); Polakiewicz Verfassungs- und völkerrechtliche Aspekte der strafrechtlichen Ahndung des Schußwaffeneinsatzes an der innerdeutschen Grenze, EuGRZ 1992, 177 (186). 64 Zu älteren Begründungen siehe Herzog (Hrsg.) Die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Todesschützen an der innerdeutschen Grenze (1993), 38 ff. 65 Vielmehr erkannte die Verfassung der DDR von 1949 die Ausreisefreiheit in Art. 10 Abs. 3 noch ausdrücklich als Bürgerrecht an. Zwar fehlte in der Verfassung von 1968 eine entsprechende Bestimmung. Die DDR hat indes am 1.8.1975 die KSZE-Schlussakte in Helsinki unterzeichnet, in der die wesentlichen Aspekte der Ausreisefreiheit anerkannt werden. Vgl. zur Anerkennung der Ausreisefreiheit in der KSZE-Schlussakte Hofmann, Die Ausreisefreiheit nach Völkerrecht und staatlichem Recht (1988), 46 ff. Siehe auch die Stellungnahme der DDR vor dem UN-Menschenrechtsausschuss, UN Doc. CCPR/C/28 Add. 2 vom 3. November 1983, Rn. 74; Yearbook of the Human Rights Committee 1983–1984, Volume II, 405 (411). Die Argumentation der DDR zeigt, dass sie die Ausreisefreiheit als vorgängiges Recht, die Verhinderung der Ausreise als begründungsbedürftige Ausnahme verstanden hat. 66 Vgl. Riege Gesellschaft und Persönlichkeit, in: Poppe (Hrsg.) Grundrechte des Bürgers in der sozialistischen Gesellschaft (1980), 20. Siehe zum sozialistischen Verständnis der Ausreisefreiheit auch Klenner Freiheit, Gleichheit und so weiter (1978), 99 ff.
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soll daher jeder Staat selbst, also ohne Einmischung von außen, über den Schutzgehalt der Menschenrechte gegenüber den eigenen Bürgern entscheiden können.67 Ein solches Menschenrechtsverständnis mündet erkennbar in einen performativen Selbstwiderspruch; für die völkerrechtliche Auslegung der Menschenrechte kann es daher – auch und gerade bei einer konsensorientierten Geltungsbegründung des Völkerrechts – keine Verbindlichkeit haben.68 Indes ist die Ausreisefreiheit auch nach dem herkömmlichen Verständnis nicht vorbehaltlos geschützt. Zulässig ist eine Regelung und Begrenzung der Ausreisefreiheit durch staatliche Vorschriften. Beispielhaft kann auf Art. 12 Abs. 3 IPbpR verwiesen werden, der eine Einschränkung auf der Grundlage eines Gesetzes und „zum Schutz der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung (ordre public), der Volksgesundheit, der öffentlichen Sittlichkeit oder der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist und die Einschränkungen mit den übrigen in diesem Pakt anerkannten Rechten vereinbar sind“. Auch ein solcher Vorbehalt, der dem Staat eine weite Einschätzungsprärogative einräumt, kann aber nicht den Totalentzug des völkerrechtlichen Menschenrechts durch staatliche Regelungen legitimieren. Auf einen solchen Totalentzug der Ausreisefreiheit liefen die Regelungen der DDR aber hinaus. Für weiteste Bevölkerungsschichten war es faktisch unmöglich, eine Ausreiseerlaubnis zu erlangen, um die DDR auf legalem Wege zu verlassen. Die weitgehende Vereitelung legaler Ausreisemöglichkeiten wurde flankiert durch faktische und rechtliche Diskriminierung Ausreisewilliger, Kriminalisierung des illegalen Grenzübertritts und seine Unterbindung mit äußerster Gewaltanwendung. Im Ergebnis ist eine vollständige Aushöhlung der Ausreisefreiheit durch die innerstaatlichen Regelungen der DDR zu konstatie-
67 In diesem Sinne – allerdings als Selbstbeschreibung – auch Klenner Menschenrechte und Völkerrecht (1978), 1109, zitiert nach Laskowski Unrecht – Strafe – Gerechtigkeit, Die Probleme des Rechtsstaats mit dem DDR-Unrecht, JA 1994, 151 (160). 68 Ebenso Hobe/Tietje Schießbefehl an der DDR-Grenze und ius cogens, AVR 32 (1994), 130 (146); Kreicker Art. 7 EMRK und die Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze (2002), 74 Fn. 272; Polakiewicz Verfassungs- und völkerrechtliche Aspekte der strafrechtlichen Ahndung des Schußwaffeneinsatzes an der innerdeutschen Grenze, EuGRZ 1992, 177 (181). Es greift daher zu kurz, dem sozialistischen Menschenrechtsverständnis, nur weil es politische Realität war, Einfluss auf die Art und Weise zuzugestehen, in der die Menschenrechte für die DDR verbindlich waren. So aber Alexy Mauerschützen: zum Verhältnis von Recht, Moral und Strafbarkeit (1993), 19; Krajewski Mauerschützen und Menschenrechte JZ 1997, 1054 (1055); Laskowski Unrecht – Strafe – Gerechtigkeit, Die Probleme des Rechtsstaats mit dem DDR-Unrecht, JA 1994, 151 (161); Rosenau Tödliche Schüsse im staatlichen Auftrag, Die strafrechtliche Verantwortung von Grenzsoldaten für den Schusswaffengebrauch an der deutsch-deutschen Grenze (1996), 155 f. Bindend kann dieses Verständnis nur für die Auslegung der Gesetze der DDR sein, nicht aber für das Völkerrecht.
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ren. Ein solcher Zustand kann nach dem Völkerrecht allenfalls zeitweise und unter Berücksichtigung besonderer Umstände zulässig sein. Das Grenzregime der DDR dauerte hingegen über Jahrzehnte an.69 Die Beschränkung der Ausreisefreiheit, wie sie in der Rechtslage der DDR und der strikten praktischen Handhabung der Vorschriften ab 1961 zum Ausdruck kam, war daher jedenfalls unverhältnismäßig und widersprach dem Völkerrecht.70 Völkerrechtswidrig sind daher auch die den illegalen Grenzübertritt als Straftat ausgestaltenden §§ 8 DDR-Passgesetz, 213 StGB-DDR und die daran anknüpfenden Regelungen zum Schusswaffengebrauch der Grenzpolizei. Aus völkerrechtlicher Perspektive hätte die DDR, gerade weil sie die Ausreisefreiheit in unverhältnismäßiger Weise beschränkte, den illegalen Grenzübertritt nicht kriminalisieren und mit äußersten Mitteln zu verhindern dürfen. Denn der Versuch, das Land illegal zu verlassen, stellt sich unter Berücksichtigung der faktischen Unmöglichkeit, eine legale Ausreiseerlaubnis zu erlangen, lediglich als mit den völkerrechtlichen Wertungen im Einklang stehende Reaktion auf ein völkerrechtswidriges Verhalten der DDR dar.71 In diesem seinerseits menschenrechtswidrigen normativen Kontext liegt auch der für die völkerrechtliche Bewertung ausschlaggebende Unterschied zwischen den Schusswaffengebrauchsbestimmungen der DDR-Grenztruppen und solchen Vorschriften, die den tödlichen Einsatz von Gewalt durch Sicherheitskräfte in einem Rechtsstaat regeln. Formal mögen etwa die
69 Diesen Aspekt übersehen solche Stimmen in der Literatur, welche die Ausreiseregelungen der DDR mit der völkerrechtlich u.U. zeitweise zulässigen Aufhebung im Kriegsfall oder anderen Ausnahmesituationen parallelisieren. Vgl. z.B. Merkel Politik und Kriminalität, Über einige vernachlässigte Probleme der deutsch-deutschen Vergangenheitsbewältigung durch Strafrecht, in Unseld (Hrsg.) Politik ohne Recht (1993), 298 (320 f.). 70 Vgl. EGMR, Urt. v. 22. März 2001 (Streletz, Kessler und Krenz gegen Deutschland), para. 100, abgedruckt in: Marxen/Werle (Hrsg.) Strafjustiz und DDR-Unrecht, Band 2/ 2. Teilband: Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze (2002), Lfd. Nr. 16-4, 914 (926 f.); BGHSt 39, 1 (17 ff.); Amelung Strafbarkeit von „Mauerschützen“, JuS 1993, 637 (640); Blumenwitz Zur strafrechtlichen Verfolgung Erich Honeckers, Staats- und völkerrechtliche Fragen, DA 1992, 567 (575 f.); Buchner Die Rechtswidrigkeit der Taten von „Mauerschützen“ im Lichte von Art. 103 Abs. 2 GG unter besonderer Berücksichtigung des Völkerrechts (1996), 209 ff., 225; Heimeshoff Der Streit um die kommerzielle Fluchthilfe, ZRP 1978, 97 (99); Herzog (Hrsg.) Die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Todesschützen an der innerdeutschen Grenze (1993), 31; Kreicker Art. 7 EMRK und die Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze (2002), 73 f.; Polakiewicz Verfassungs- und völkerrechtliche Aspekte der strafrechtlichen Ahndung des Schußwaffeneinsatzes an der innerdeutschen Grenze, EuGRZ 1992, 177 (186); Rosenau Tödliche Schüsse im staatlichen Auftrag, Die strafrechtliche Verantwortung von Grenzsoldaten für den Schusswaffengebrauch an der deutsch-deutschen Grenze (1996), 139 f.; Schroeder Notwehr bei der Flucht aus der DDR, NJW 1978, 2577; Vest Gerechtigkeit für Humanitätsverbrechen? (2006), 152. 71 Vgl. BGH, NJ 1992, 418; Schroeder Notwehr bei der Flucht aus der DDR, NJW 1978, 2577; Vest Gerechtigkeit für Humanitätsverbrechen? (2006), 156.
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Bundes- und Landesgesetze über den unmittelbaren Zwang bei Ausübung öffentlicher Gewalt durch Vollzugsbeamte (UZwG) ähnliche Anforderungen an den tödlichen Schusswaffengebrauch stellen wie §§ 26, 27 DDR-Grenzgesetz. Zu einer Gleichstellung mit den genannten Vorschriften der DDR72 gelangt man indes nur bei Verzicht auf eine völkerrechtliche Evaluation des normativen und faktischen Umfeldes. Es geht also nicht etwa darum, wie polemisch behauptet worden ist, „das Schießen in einer Demokratie grundsätzlich anderen Maßstäben als das Schießen in einem ‚Unrechtsregime‘“ 73 zu unterwerfen. Vielmehr verbietet gerade der einheitliche Bewertungsmaßstab des völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes eine sektorale Betrachtung einzelner Rechtsvorschriften und fordert, den Kontext (hier: die Gestaltung der Ausreisefreiheit) im Blick zu behalten.74 Damit war der DDR völkerrechtlich keineswegs jegliche Sicherung der Grenze gegen illegale Grenzübertritte mit Waffengewalt untersagt. In Anbetracht ihrer völkerrechtswidrigen Beschränkungen der Ausreisefreiheit hatte sie aber dafür Sorge zu tragen, die Regelungen zum Schusswaffengebrauch an der Staatsgrenze eng zu fassen.75 Gegen diese Überlegungen wird zum Teil geltend gemacht, dass aus der Völkerrechtswidrigkeit der Ausreiseregelungen der DDR kein innerstaatliches Recht der Ausreisewilligen auf Duldung der Ausreise folge.76 In eine ähnliche Richtung weist die Überlegung, dass „Existenz, körperliche Integrität und Bewegungsfreiheit innerhalb der DDR grundsätzlich nicht bedroht“ gewesen seien, so dass die Flucht aus der DDR trotz Völkerrechts-
72 So z.B. Grünwald Ist der Schusswaffengebrauch an der Zonengrenze strafbar?, JZ 1966, 633 (638); ders. Die strafrechtliche Bewertung in der DDR begangener Handlungen, StV 1991, 31 (37); Krey Deutsch-deutsche Kollisionen im Strafrecht, in: Zieger (Hrsg.) Die strafrechtliche Entwicklung in Deutschland – Divergenz und Konvergenz (1988), 199 (222 f.). 73 Polakiewicz Verfassungs- und völkerrechtliche Aspekte der strafrechtlichen Ahndung des Schußwaffeneinsatzes an der innerdeutschen Grenze, EuGRZ 1992, 177 (185). 74 Ähnlich Blumenwitz Die Grenzsicherungsanlagen der DDR im Lichte des Staatsund Völkerrechts, in: Ziemske u.a. (Hrsg.) Festschrift für Martin Kriele (1997), 713 (724); Rosenau Tödliche Schüsse im staatlichen Auftrag, Die strafrechtliche Verantwortung von Grenzsoldaten für den Schusswaffengebrauch an der deutsch-deutschen Grenze (1996), 139 f. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Begründung zudem zutreffend darauf abgestellt, dass „die Gesetzeslage von Befehlen überlagert war, die für eine Eingrenzung des Schusswaffengebrauchs nach den Maßstäben des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes keinerlei Raum ließen und den Angehörigen der Grenztruppen vor Ort die Auffassung […] vermittelten, Grenzverletzer seien zu ‚vernichten‘, wenn der Grenzübertritt mit anderen Mitteln nicht verhindert werden könne“, vgl. BVerfGE 95, 96 (136). 75 In diesem Sine auch Schroeder Notwehr bei der Flucht aus der DDR, NJW 1978, 2577 f. 76 Vgl. z.B. Polakiewicz Verfassungs- und völkerrechtliche Aspekte der strafrechtlichen Ahndung des Schußwaffeneinsatzes an der innerdeutschen Grenze, EuGRZ 1992, 177 (187).
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widrigkeit der Ausreiseregelungen „unter Notstandsgesichtspunkten nicht geboten“ gewesen sei.77 Diese Erwägungen sind verfehlt. Ob sich aus der völkerrechtlichen Bewertung der Ausreiseregelungen innerstaatliche Notstands- oder Ausreiserechte ableiten lassen, ist nebensächlich. Entscheidend ist, dass innerstaatliche Regelungen, die das völkerrechtliche Recht auf Ausreise verletzen, den Eingriff in das völkerrechtlich geschützte Recht auf Leben nicht legitimieren können.78 Die Tötungen an der deutsch-deutschen Grenze waren völkerrechtswidrige Verletzungen des Rechts auf Leben.79 d) Zwischenergebnis Die Tötungen von Grenzflüchtlingen an der deutsch-deutschen Grenze sind als Einzeltaten im Sinne des Verbrechens gegen die Menschlichkeit zu qualifizieren.
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So Vest Gerechtigkeit für Humanitätsverbrechen? (2006), 155. Unzutreffend ist es, in diesem Zusammenhang von einer „eigenverantwortlichen Selbstgefährdung“ der Flüchtenden zu sprechen. So aber Lüderssen Der Staat geht unter – das Unrecht bleibt? Regierungskriminalität in der ehemaligen DDR (1992), 93 f.; Merkel Politik und Kriminalität, Über einige vernachlässigte Probleme der deutsch-deutschen Vergangenheitsbewältigung durch Strafrecht, in Unseld (Hrsg.) Politik ohne Recht (1993), 298 (327); Vest Gerechtigkeit für Humanitätsverbrechen? (2006), 156. Selbstverständlich wussten die Flüchtenden, dass sie sich dem Risiko aussetzten, beim Fluchtversuch getötet zu werden. Aber unter welchem Gesichtspunkt soll dieser Umstand rechtlich relevant sein? Soll bestritten werden, dass die an der Errichtung und Erhaltung des Grenzsicherungsregimes Beteiligten mit Tötungsvorsatz gehandelt haben? Soll die Zurechenbarkeit des Todes entfallen? Soll ein Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgrund vorliegen? Das Stichwort von der „eigenverantwortlichen Selbstgefährdung“ führt im vorliegenden Zusammenhang in die Irre und verkennt Ursache und Wirkung. Der in völkerrechtswidriger Weise in seinen Rechten Beschränkte gefährdet sich eben nicht in rechtsrelevanter Eigenverantwortlichkeit, wenn er von seinen Rechten Gebrauch macht. Wer hätte je dem Notwehr gegen einen rechtswidrigen Angriff Übenden entgegengehalten, er habe sich mit seiner Notwehrhandlung eigenverantwortlich selbst gefährdet? 79 So im Ergebnis auch BGHSt 39, 168 (184); 40, 241 (249); 41, 101 (106); 42, 356 (361); BGH NStZ 1993, 486 (488); NStZ-RR 1996, 323 (324); EGMR, Urt. v. 22. März 2001 (Streletz, Kessler und Krenz gegen Deutschland), para. 73, 97, abgedruckt in: Marxen/Werle (Hrsg.) Strafjustiz und DDR-Unrecht, Band 2/2. Teilband: Gewalttaten an der deutschdeutschen Grenze (2002), Lfd. Nr. 16-4, 914 (922, 926); Buchner Die Rechtswidrigkeit der Taten von „Mauerschützen“ im Lichte von Art. 103 Abs. 2 GG unter besonderer Berücksichtigung des Völkerrechts (1996), 225 ff.; Kreicker Art. 7 EMRK und die Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze (2002), 72. Zweifelnd Polakiewicz Verfassungs- und völkerrechtliche Aspekte der strafrechtlichen Ahndung des Schußwaffeneinsatzes an der innerdeutschen Grenze, EuGRZ 1992, 177 (182 ff). 78
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3. Die Gesamttat: Der systematische oder ausgedehnte Angriff gegen eine Zivilbevölkerung Die Tötungen an der deutsch-deutschen Grenze müssten im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen eine Zivilbevölkerung begangen worden sein. Ein Zusammenhang der Taten mit einem bewaffneten Konflikt war auch nach dem im Tatzeitraum geltenden Völkerrecht nicht erforderlich.80 Zwar enthielten Art. 6c) IMG-Statut und Art. 5c) IMGFOStatut ebenso wie Grundsatz Nr. VIc) der Nürnberger Prinzipien von 1950 ein solches Erfordernis. Es ist aber anerkannt, dass damit nicht ein das spezifische Unrecht bestimmendes Tatbestandsmerkmal formuliert werden sollte, sondern lediglich eine die Jurisdiktion der Militärgerichtshöfe beschränkende Voraussetzung.81 Bereits das KRG Nr. 10 verzichtete auf einen Zusammenhang der Verbrechen gegen die Menschlichkeit mit einer kriegerischen Auseinandersetzung. Die auf dieser Rechtsgrundlage beruhende Rechtsprechung forderte stattdessen, das Einzelverbrechen müsse „im Zusammenhang mit dem System von Willkür und Gewalt (stehen), wie es in nationalsozialistischer Zeit bestanden hat“.82 Dementsprechend bewertete der Oberste Gerichtshof der Britischen Zone auch Verfolgungsmaßnahmen gegen Juden, Regimekritiker und Oppositionelle zwischen 1933 und 1939 als Verbrechen gegen die Menschlichkeit.83 Damit wurde klargestellt, dass es in der Sache um den systematischen Begehungszusammenhang und den Ausschluss isolierter Einzeltaten ging. Allein diese Ausdeutung ist mit dem Verständnis der Verbrechen gegen die Menschlichkeit als strafrechtliche Flankierung des völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes vereinbar. Sie wurde bereits in den Draft Codes der Völkerrechtskommission von 1951 und 195484 sowie in der Konvention über die Nichtanwendung von Verjährungsvorschriften auf Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vom 26. November 1968 85 bestätigt. 80 Vgl. dazu zusammenfassend Ambos Internationales Strafrecht, 2. Aufl. (2008), § 7 Rn. 174 ff.; Werle Völkerstrafrecht, 2. Aufl. (2007), Rn. 744 ff. 81 Vgl. z.B. JStGH, Urt. v. 15. Juli 1999 (Tadic´, AC), para. 249; Ambos Internationales Strafrecht, 2. Aufl. (2008), § 7 Rn. 174 ff.; Mettraux International Crimes and the ad hoc Tribunals (2005), 148 ff. 82 OGHSt 1, 229 (231). In der Sache ebenso z.B. OGHSt 1, 11 (15); 1, 152 (156); 1, 198 (199); 1, 203 (206). 83 Vgl. z.B. OGHSt 1, 1; 1, 43; 1, 53; 1, 152; 1, 198; 1, 229; 2, 67; 2, 229. Siehe auch LG Waldshut, Urt. v. 16. Februar 1949 StS 15/48), abgedruckt in: Rüter/de Mildt (Hrsg.) Sammlung deutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen 1945–1999, Bd. 4, 143. 84 Vgl. Art. 2 (10) Draft Code 1951 und Art. 2 (11) Draft Code 1954. Näher dazu Meseke Der Tatbestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach dem Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofes (2004), 75 ff. 85 Art. 1(b) der Konvention spricht von „Verbrechen gegen die Menschlichkeit, gleich ob im Kriege oder in Friedenszeiten begangen“.
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a) Angriff gegen eine Zivilbevölkerung Eine Zivilbevölkerung ist jede in ihrer Gesamtheit nicht-militärische Personenmehrheit, die durch gemeinsame Merkmale verbunden ist, welche sie zum Ziel eines Angriffs machen.86 Als Angriff wird ein Gesamtvorgang bezeichnet, der mit der mehrfachen Begehung von tatbestandsmäßigen Einzeltaten verbunden ist.87 Ob der Angriff in Ausführung oder zur Unterstützung der Politik eines Staates oder einer Organisation (so genanntes PolitikElement) erfolgen muss, ist umstritten.88 Nicht erforderlich ist es, dass der Gesamtvorgang einen gewalttätigen Charakter aufweist oder gar die Qualität eines bewaffneten Konflikts erreicht.89 Treffend hat dies der Ruanda-Strafgerichtshof zum Ausdruck gebracht: „An attack may also be non-violent in nature, like imposing a system of apartheid, […] or exerting pressure on the population to act in a particular manner […] if orchestrated on a massive scale or in a systematic manner.“90 Das den Angriff bildende Verhalten erschöpft sich demnach nicht in der Begehung tatbestandsmäßiger Einzelverbrechen.91 Als Gesamtvorgang kommen nicht allein die tödlichen Schüsse in Betracht, sondern die jahrzehnte86 Vgl. Mettraux International Crimes and the ad hoc Tribunals (2005), 165 f.; Werle Völkerstrafrecht, 2. Aufl. (2007), Rn. 756. 87 Vgl. Art. 7 Abs. 2a) IStGH-Statut; Verbrechenselemente, Einleitung zu Art. 7 IStGHStatut, para. 3. 88 Siehe dazu Ambos Internationales Strafrecht, 2. Aufl. (2008), § 7 Rn. 185 ff.; Werle Völkerstrafrecht, 2. Aufl. (2007), Rn. 770 ff. 89 Ebenso Ambos Internationales Strafrecht, 2. Aufl. (2008), § 7 Rn. 182; Meseke Der Tatbestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach dem Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofes (2004), 131; Vest Gerechtigkeit für Humanitätsverbrechen? (2006), 157; Werle Völkerstrafrecht, 2. Aufl. (2007), Rn. 764. Zu eng dagegen Biermann Gesetzliches Unrecht in der DDR und Rückwirkungsverbot am Beispiel von § 27 des DDR-Grenzgesetzes (1998), 140 f.; Merkel Politik und Kriminalität, Über einige vernachlässigte Probleme der deutsch-deutschen Vergangenheitsbewältigung durch Strafrecht, in Unseld (Hrsg.) Politik ohne Recht (1993), 298 (317 f., 321), die eine Vergleichbarkeit des makrokriminellen Geschehens mit den nationalsozialistischen Massenverbrechen fordern. In ähnlicher Weise argumentiert Nolte, der „ein Mindestmaß an aktiver Verfolgung“ voraussetzt, dies aber nicht gegeben sieht bei „Einwirkungen, die sich auf die systematische Verhinderung bestimmter Verhaltensweisen beschränken, seien diese auch menschenrechtlich geschützt“, vgl. Nolte in v. Münch/Kunig Grundgesetz-Kommentar I, 5. Aufl. (2005), Art. 103 Rn. 134. 90 RStGH, Urt. v. 2. September 1998 (Akayesu, TC), para. 581. Vgl. auch IStGH, Beschluss v. 31. März 2010 (Kenia Situation, PTC), para. 80; JStGH, Urt. v. 12. Juni 2002 (Kunarac et al., AC), para. 86; Urt. v. 29. November 2002 (Vasiljevic´, TC), para. 29; RStGH, Urt. v. 6. Dezember 1999 (Rutaganda, TC), para. 70; RStGH, Urt. v. 21. Januar 2000 (Musema, TC), para. 205; RStGH, Urt. v. 16. Mai 2003 (Semanza, TC), para. 327. 91 Ebenso Mettraux International Crimes and the ad hoc Tribunals (2005), 156. Anderer Ansicht aber Ambos Internationales Strafrecht, 2. Aufl. (2008), § 7 Rn. 182. Siehe dazu auch sogleich.
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lange diskriminierende Politik der DDR gegenüber ausreisewilligen Bürgern insgesamt.92 Diese Politik zielte unmittelbar auf die Verletzung von Menschenrechten einer Zivilbevölkerung ab, nämlich darauf, die Ausreise von Bürgern der DDR in völkerrechtswidriger Weise zu verhindern, weil die Staatsführung fürchten musste, dass die Ausreise genutzt werden würde, um dem Land endgültig den Rücken zu kehren. Als Mittel dieser Politik bediente sich die DDR zahlreicher Maßnahmen, mit denen weitere Menschenrechtsverletzungen einhergingen, die zwar nicht unmittelbares Ziel, aber doch notwendige Folge dieser Politik waren. So sahen restriktive Gesetzgebung und Verwaltungspraxis zahlreiche diskriminierende Maßnahmen wie etwa den Verlust von Arbeits- und Ausbildungsplätzen vor, wenn Bürger ihre Ausreisebewilligung beantragten.93 Zudem umfasste die Politik die Kriminalisierung und strafrechtliche Verfolgung von Personen, die ihren Ausreisewillen öffentlich zum Ausdruck brachten oder illegal versuchten, die Grenze zu überqueren. Schließlich gehörte zu dieser Politik das Grenzregime im engeren Sinn, das umfängliche Sicherungsmaßnahmen an der innerdeutschen Grenze umfasste, die eine Grenzüberquerung erheblich erschwerten, und das zur Verhinderung des illegalen Grenzübertritts in letzter Konsequenz die staatlich befohlene Tötung vorsah. Dass Tötungen einen Bestandteil dieser Politik bildeten, wird durch den Umstand verdeutlicht, dass das Recht der DDR in §§ 26, 27 GrenzG spezifische Rechtfertigungstatbestände für die Tötungshandlungen vorsah. Allenfalls lässt sich fragen, ob auch die Exzesstaten noch als Teil dieser Politik gelten können. Das ist zu bejahen, wenn die Grenzsoldaten in vorhersehbarer Weise annahmen, ihr Handeln habe dem Recht der DDR und insbesondere dem Willen der Staatsführung entsprochen.94 Im Schrifttum wird das Vorliegen eines Angriffs gegen die Zivilbevölkerung zum Teil verneint. Ein Angriff liege nur vor, wenn das Gesamtverhalten direkt auf die Begehung von tatbestandsmäßigen Einzeltaten abziele und ihre Verwirklichung unbedingt gewollt sei. Die Politik der DDR gegenüber Ausreisewilligen sei kein Angriff gegen eine Zivilbevölkerung gewesen, weil die Tötung nicht unbedingt intendiert, sondern nur „notfalls“ in Kauf genommen worden sei.95 92
Vgl. Werle Rückwirkungsverbot und Staatskriminalität, NJW 2001, 3001 (3005). Siehe zum System der Diskriminierung Ausreisewilliger Lochen/Meyer-Seitz (Hrsg.) Die geheimen Anweisungen zur Diskriminierung Ausreisewilliger (1992). 94 Ob und ggf. in welcher Weise solche Exzesstaten den Mitgliedern der staatlichen Führungsebene zuzurechenen waren, ist dagegen eine andere Frage, vgl. dazu bejahend Lüderssen Der Staat geht unter – das Unrecht bleibt?, Regierungskriminalität in der ehemaligen DDR (1992), 92; verneinend Merkel Politik und Kriminalität, Über einige vernachlässigte Probleme der deutsch-deutschen Vergangenheitsbewältigung durch Strafrecht, in Unseld (Hrsg.) Politik ohne Recht (1993), 298 (327). 95 Vgl. Kreicker Art. 7 EMRK und die Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze (2002), 87 f. Dort heißt es: „Ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit liegt nicht schon vor, 93
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Diese Argumentation ist abzulehnen. Zunächst ist klarzustellen, dass die für die Einrichtung und Aufrechterhaltung des Grenzregimes politisch Verantwortlichen im Bewusstsein handelten, dass es immer wieder und unvermeidlich zu Tötungen kommen würde. Die Tötung von Grenzflüchtlingen wurde also nicht nur als mögliche, sondern vielmehr als sichere Folge in Kauf genommen.96 Im Hinblick auf tatsächlich eingetretene Folgen (hier: die vorsätzlichen Tötungen an der deutsch-deutschen Grenze) macht es für den Unrechtsgehalt und die individuelle Vorwerfbarkeit aber keinen Unterschied, ob der Eintritt des Erfolges unbedingt gewollt oder als sichere Folge des Verhaltens erkannt wird.97 Es überzeugt daher auch nicht, die rechtliche Einordnung eines menschenrechtswidrigen, die mehrfache Begehung von Einzeltaten umfassenden Gesamtvorgangs als Angriff davon abhängig zu machen. Eine solche Differenzierung öffnete scheinheiligen Rechtfertigungsversuchen Tür und Tor.98 Im Übrigen findet die behauptete restriktive Definition des Angriffsmerkmals weder im Völkervertragsrecht noch in der internationalen Rechtsprewenn eine Vielzahl der genannten Einzeltaten begangen wird, auch nicht, dass (sic) wenn es anlässlich oder gelegentlich der Umsetzung irgendeiner für die Zivilbevölkerung nachteiligen organisierten oder systematisch betriebenen (staatlichen) Politik zu einer Begehung mehrerer solcher Taten kommt, die möglicherweise sogar vom Staat als für die Politik verantwortliche Organisation geduldet bzw. als unvermeidbar hingenommen werden oder deren Folgen sogar heimlich begrüßt werden.“ Ähnlich Classen Artikel 103 Abs. 2 GG – ein Grundrecht unter Vorbehalt?, GA 1998, 215 (221); Vest Gerechtigkeit für Humanitätsverbrechen? (2006), 157, der allerdings Kontextelement und Einzelverbrechenstatbestand nicht in gebotener Weise unterscheidet. 96 Vgl. die Feststellungen in LG Berlin, Urt. v. 16. September 1993, Az. (527) 2 Js 26/90 Ks (10/92), 144 ff., abgedruckt in: Marxen/Werle (Hrsg.) Strafjustiz und DDR-Unrecht, Band 2/2. Teilband: Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze (2002), Lfd. Nr. 15-1, 501 (553 f.). Das vernachlässigt auch Vest Gerechtigkeit für Humanitätsverbrechen? (2006), 157, der insoweit allein auf die unmittelbar handelnden Grenzsoldaten schaut, was gerade bei der Prüfung des Kontextmerkmals nicht überzeugt. Im Folgenden spricht selbst Vest aber von einem „nahezu zwangsläufigen und tödlichen Schusswaffeneinsatz“ (a.a.O., 158). Hinsichtlich der Minen und Selbstschussanlagen meint auch Vest, von einem direkten Tötungsvorsatz der Führungsebene sprechen zu können (a.a.O., 159). 97 Vgl. allgemein hierzu Jescheck/Weigend Lehrbuch des Strafrechts, 5. Aufl. (1996), 298; Schönke/Schröder-Cramer/Sternberg-Lieben Strafgesetzbuch Kommentar, 27. Aufl. (2006), § 15 Rn. 68. 98 Wenn etwa Kreicker Art. 7 EMRK und die Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze (2002), 89, im Hinblick auf das Grenzregime der DDR ausführt, „[d]er DDRFührung wäre es angesichts der nationalen und internationalen Kritik am Grenzregime am liebsten gewesen, es wäre nicht zu Todesfällen gekommen“, so zeigt sich, dass die von ihm vorgeschlagene Differenzierung allzu viel Empathie für die Logik menschenrechtswidriger Politik erfordert, um im Lichte des Völkerrechts überzeugen zu können. Welches repressive Regime ließe sich wohl nicht dahingehend ein, dass das unbedingt beabsichtigte Ziel der Politik nur die Ruhigstellung und Ausschaltung der politischen Opposition gewesen sei, die Entführung, Folter und Ermordung dieser Personen dagegen lediglich unvermeidbare Begleiterscheinungen dieser Zielverfolgung, die „lieber“ vermieden worden wäre?
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chung eine Stütze.99 Vielmehr unterscheidet insbesondere Art. 7 Abs. 2(a) IStGH-Statut in exemplarischer Deutlichkeit den Gesamtvorgang (a course of conduct) einerseits und die mehrfache Begehung von Einzeltaten im Rahmen dieses Gesamtvorgangs andererseits.100 Zu einem tatbestandsrelevanten Gesamtvorgang wird ein Geschehen also durch einen rechtlichen Gesichtspunkt, welcher der mehrfachen Begehung von Einzeltaten zumindest gedanklich vorgelagert ist. Unter Berücksichtigung des Schutzzwecks und des Charakters der Verbrechen gegen die Menschlichkeit als völkerstrafrechtliche Flankierung des Menschenrechtsschutzes ist dieser die Einheitlichkeit eines Vorgangs begründende Gesichtspunkt die Menschenrechtswidrigkeit eines Geschehens. Unter Angriff, so lässt sich die zuvor gegebene Definition ergänzen und präzisieren, ist also ein Gesamtvorgang zu verstehen, der auf die Verletzung von Menschenrechten einer Zivilbevölkerung abzielt und der die mehrfache Begehung von tatbestandsmäßigen Einzeltaten einschließt. Nur eine solche Auslegung lässt sich im Übrigen mit der internationalen Rechtsprechung zur Einzeltat der Verfolgung vereinbaren. Als Verfolgung sind danach völkerrechtswidrige, vorsätzliche und schwerwiegende Verletzungen grundlegender Menschenrechte aus nach Völkerrecht unzulässigen Beweggründen erfasst.101 Als solche grundlegenden Menschenrechte bezeichnet die internationale Rechtsprechung nicht nur Menschenrechte der „ersten Generation“, sondern auch das Recht auf Rechtsschutz und ein faires Verfahren, ja sogar das Recht auf gleichen Zugang zu öffentlichen Einrichtungen und Leistungen und das Recht auf Arbeit und Beschäftigung, wenn diese Rechte neben den in den weiteren Einzeltatbeständen spezifisch geschützten Rechten (z.B. Leben, körperliche Unversehrtheit, sexuelle Selbstbestimmung, körperliche Bewegungsfreiheit und Freizügigkeit) beeinträchtigt werden.102 Gegenüber diesen Rechten ist das Recht auf Ausreise in seiner völkerrechtlichen Verankerung und in seiner Bedeutung für die Entfaltung der Persönlichkeit mindestens gleichrangig. Wenn für das Einzelverbrechen der Verfolgung der Angriff auf „grundlegende Menschenrechte“ genügt, kann für das Kontextmerkmal aber nichts anderes gelten.
99 Anderer Ansicht Kreicker der sich bei seiner außerordentlich restriktiven Auslegung des Angriffsmerkmals auf den Wortlaut von Art. 7 Abs. 2 a) IStGH-Statut beruft. 100 Ebenso die Verbrechenselemente zu Art. 7 IStGH-Statut. Einleitung 3. Vgl. aus der Rspr. z.B. JStGH, Urt. v. 29. November 2002 (Vasiljevic´, TC), para. 29; Urt. v. 1. September 2004 (Brd¯anin, TC), para. 131; RStGH, Urt. v. 21. Mai 1999 (Kayishema und Ruzindana, TC), para. 122. Restriktiver Ambos Internationales Strafrecht, 2. Aufl. (2008), § 7 Rn. 182. 101 Vgl. Art. 7 Abs. 2 g) IStGH-Statut. Aus der internationalen Rechtsprechung vgl. z.B. JStGH, Urt. v. 17. September 2003 (Krnojelac, AC), para. 185; Urt. v. 29. November 2002 (Vasiljevic´, TC), para. 244; Urt. v. 1. September 2004 (Brd¯anin, TC), para. 734; Urt. v. 1. September 2004 (Brd¯anin, TC), para. 992. 102 Vgl. z.B. JStGH, Urt. v. 7. Mai 1997 (Tadic´, TC), para. 710; Urt. v. 1. September 2004 (Brd¯anin, TC), para. 1029 ff.; Urt. v. 27. September 2006 (Krajisˇnik, TC), para. 736 ff.
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Im Ergebnis ist daher festzuhalten: Die diskriminierende Politik der DDR gegenüber ausreisewilligen Bürgern, die als äußerste Konsequenz die wiederholte vorsätzliche Tötung umfasste, stellt einen Angriff gegen eine Zivilbevölkerung dar.103 b) Systematischer oder ausgedehnter Charakter des Angriffs Ohne Probleme lässt sich zunächst die systematische Natur des Angriffs begründen: Die diskriminierende Ausreisepolitik der DDR in ihren verschiedenen Facetten beruhte auf einem detailliert geregelten Zusammenspiel von staatlichen Maßnahmen auf verschiedenen Ebenen von Gesetzgebung, Verwaltung und Justiz. Weder bei den aus dieser Politik resultierenden Menschenrechtsverletzungen allgemein noch bei den Tötungen an der deutschdeutschen Grenze handelt es sich daher um isolierte und sporadische Einzelfälle.104 Auch der ausgedehnte Charakter des Angriffs ist im Ergebnis zu bejahen. Für diese Einordnung ist nicht allein auf die Zahl der tatsächlich nachweisbaren Todesfälle abzustellen, die sich nach den Feststellungen der Justiz auf 264 Tötungen belaufen. Zu dieser Mindestzahl kommen ungezählte versuchte Tötungen und Körperverletzungen hinzu, welche von der strafrechtlichen Ahndung praktisch ausgenommen worden sind.105 Zu berücksichtigen sind ferner die Diskriminierungsmaßnahmen gegenüber Ausreisewilligen, insbesondere auch ihre völkerrechtswidrige strafrechtliche Verfolgung. Jedenfalls in der Gesamtschau ist damit die Ausgedehntheit des Angriffs zweifelsfrei zu bejahen.106
103 Gegen dieses Ergebnis spricht auch nicht der Einwand, den Jähnke Zur Erosion des Verfassungssatzes „Keine Strafe ohne Gesetz“, ZIS 2010, 463 (467), jüngst formuliert hat. Er betont die Notwendigkeit einer restriktiven Definition des Begriffs „Angriff“. Das Grenzregime der DDR bzw. die diskriminierende Politik gegen Ausreisewillige könne nicht als „Angriff“ im Sinne des Tatbestands erfasst werden, weil andernfalls der einfache Grenzsoldat für die Tötung eines Flüchtlings nach § 7 Abs. 1 Nr. 1 VStGB mit lebenslanger Freiheitsstrafe ohne Milderungsmöglichkeit hätte belegt werden müssen. Das Argument ist gewichtig. Es spricht aber sicher nicht gegen die Anwendung des völkergewohnheitsrechtlichen Tatbestandes, der keine absolute Strafdrohung vorsieht, eher schon gegen die vom deutschen Gesetzgeber gewählte Sanktionsnorm, die, ebenso wenig wie beim Mord, eine Milderungsmöglichkeit für außergewöhnlich gelagerte Fälle eröffnet. 104 In diesem Sinne auch Kreicker Art. 7 EMRK und die Gewalttaten an der deutschdeutschen Grenze (2002), 87; Vest Gerechtigkeit für Humanitätsverbrechen? (2006), 156; Werle Rückwirkungsverbot und Staatskriminalität, NJW 2001, 3001 (3005). 105 Vgl. BGHSt 39, 168 (194 f.); Marxen/Werle Die strafrechtliche Aufarbeitung von DDR-Unrecht, Eine Bilanz (1999), 224; Rummler Die Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze vor Gericht (2000), 29, 32. 106 Blumenwitz spricht von 23.000 Verurteilungen wegen „Republikflucht“, vgl. Blumenwitz Zur strafrechtlichen Verfolgung Erich Honeckers, Staats- und völkerrechtliche Fragen, DA 1992, 567 (577). Im Ergebnis ebenso Ott Rechtswidrigkeit der Taten von
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III. Fazit Drei Schlussfolgerungen lassen sich aus den vorstehenden Überlegungen ziehen: 1. Die im Zusammenhang mit dem Grenzregime der DDR erfolgten vorsätzlichen Tötungen an der deutsch-deutschen Grenze waren Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die Tötungen sind als nicht gerechtfertigte Verletzungen des völkerrechtlichen Rechts auf Leben zu bewerten, die im Rahmen eines systematischen und ausgedehnten Angriffs auf eine Zivilbevölkerung erfolgten. Ein solcher Angriff ist in der jahrzehntelangen diskriminierenden Politik der DDR gegenüber ausreisewilligen Bürgern zu sehen, die in letzter Konsequenz die Tötung von Grenzflüchtlingen einschloss. 2. Aus heutiger Sicht steht die völkergewohnheitsrechtliche Geltung des Tatbestands der Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie der Menschenrechte auf Leben und auf Ausreisefreiheit außer Frage. Für den hier relevanten Begehungszeitraum, die Zeit zwischen 1949 und 1989, bedarf die Völkerrechtslage allerdings näherer Prüfung. Diese führt jedoch zum selben Ergebnis: So beeindruckend der Zuwachs an völkerstrafrechtlicher und menschenrechtlicher Positivierung und Praxis in den letzten Jahrzehnten auch ist, die normativen Grundentscheidungen sind bereits mit den Kriegsverbrecherprozessen nach dem 2. Weltkrieg und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte gefallen. Diese Grundentscheidungen werden auch während des „Kalten Krieges“ nicht revidiert, wenngleich es aus machtpolitischem Kalkül zu einem Stillstand der normativen Entwicklung und zur lediglich sporadischen Anwendung des Völkerstrafrechts kommt. 3. Der von der deutschen Rechtsprechung beschrittene Weg, die Taten ausschließlich nach nationalem Strafrecht zu bewerten, erweist sich auch aus völkerrechtlicher Perspektive als gangbar, weil menschenrechtswidrigen Rechtfertigungsgründen unter Berufung auf das Völkerrecht die Anerkennung versagt wurde. Der Rückgriff auf das Völkerstrafrecht ist aber aus zwei Gründen vorzugswürdig: Erstens bietet nur das Völkerstrafrecht die adäquaten normativen Kategorien zum Umgang mit Systemunrecht. Das klassische Individualstrafrecht bringt die makrokriminelle Dimension der völkerrechtlichen Verbrechen nicht zum Ausdruck. Zweitens stellt sich die Rechtsprechung mit der Anwendung von Völkerstrafrecht unmittelbar in einen internationalen Diskussionszusammenhang und steigert so ihre Anknüpfungsfähigkeit. Jeder Fall, in dem das Völkerstrafrecht in legitimer Weise und im Rahmen eines rechtstaatlichen Verfahrens zur Anwendung gebracht wird, Mauerschützen?, Zum Beschluss des deutschen Bundesverfassungsgerichts vom 24. Oktober 1996 (BVerfGE 95, S. 96–143), Zeitschrift für Schweizerisches Recht 2000, 139 (150); Werle Rückwirkungsverbot und Staatskriminalität, NJW 2001, 3001 (3005). Zweifelnd Vest Gerechtigkeit für Humanitätsverbrechen? (2006), 157.
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vermehrt das Material, auf das sich zukünftig derjenige berufen kann, der in anderem Kontext Menschenrechten und Völkerstrafrecht zur Durchsetzung verhelfen will. Entschließen sich Staaten zu einer strafrechtlichen Aufarbeitung systematischen Unrechts, sollten sie daher, soweit möglich, auf das Völkerstrafrecht zurückgreifen.
Wiederaufnahme zu Ungunsten des Angeklagten Ein Plädoyer für die Einzelfallgerechtigkeit Klaus Letzgus
I. Tatsächliche und rechtliche Ausgangslage 1. Die seit vielen Jahren zwar nicht heftig, aber doch kontinuierlich geführte Diskussion über die rechtsstaatliche Zulässigkeit der Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen Strafverfahrens zu Ungunsten des Angeklagten schien seit über einem Jahrzehnt im Wesentlichen beendet gewesen zu sein, zumal die ganz überwiegende Meinung in der Literatur die geltende Regelung des § 362 StPO mit unterschiedlicher Begründung verfassungsrechtlich für gerade noch vertretbar und mit dem Grundsatz „ne bis in idem“ des Art. 103 Abs. 3 GG vereinbar hielt 1. Die angebliche Ausnahme vom Verbot der Doppelbestrafung nach Art. 103 Abs. 3 GG wird vom BVerfG im Wesentlichen mit dem Stand von Gesetzgebung und Rechtsprechung zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Grundgesetzes begründet 2. Eine wie auch immer geartete Erweiterung der Möglichkeiten einer Wiederaufnahme zu Ungunsten des Angeklagten wurde und wird von Wissenschaft und Anwaltschaft ganz überwiegend abgelehnt 3. Diskutiert wird fast nur noch die Frage, ob die Vorschriften der Verjährung bei einer Wiederaufnahme zu Ungunsten des Angeklagten uneingeschränkt Anwendung finden oder die Verjährungsfrist mit Rechtskraftdurchbrechung neu zu laufen beginnt 4. Die Wiederaufnahme zu Ungunsten des Angeklagten spielt in der gerichtlichen Praxis im Gegensatz zur Wiederaufnahme zu Gunsten des Verurteilten mit 8 % aller Wiederaufnahmeverfahren eine nur geringe Rolle, zumal inso-
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Meyer-Goßner § 362 Rn 1; KK-Schmidt § 362 Rn 1. BVerfGE 3, 252; 12, 62, 66; 56, 54 ebenso BGHSt 5, 329, 331. Kritisch gegenüber der geltenden Regelung insbesondere Dünnebier, Festgabe für Karl-Peters, 1984, S. 345 ff.; Maier, Gedächtnisschrift A. Kaufmann, S. 789; Neumann, FS Jung, S. 655. 3 Vgl. insbesondere Scherzberg/Thiée ZRP 2008, 80; KK-Schmidt, § 362 Rn 3. 4 So BGH GA 1974, 154; OLG Düsseldorf StraFo 2001, 102; Gössel NStZ 1988, 537 entgegen der wohl h.M. OLG Nürnberg NStZ 1988, 555; Fischer, StGB, § 78b Rn 11a; KKSchmidt § 362 Rn 7; SK-Frister § 362 Rn 20/21. 2
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weit nach h.M. nicht das Legalitätsprinzip gilt, sondern ein Wiederaufnahmeantrag im Ermessen der Staatsanwaltschaft liegt5. 2. Aufgrund neuer kriminaltechnischer Untersuchungsmethoden, wie vor allem dem genetischen Fingerabdruck durch DNA-Analyse, ist es inzwischen möglich geworden, auch bei unaufgeklärten Kapitalverbrechen eine Überführung und Verurteilung des Täters noch nach vielen Jahren zu erreichen 6, wie mehrere spektakuläre Fälle in den vergangenen Jahren gezeigt haben7. Solche Erkenntnisse können nach der bisherigen Gesetzeslage für eine Wiederaufnahme zu Ungunsten des Angeklagten nicht verwandt werden, da § 362 StPO – im Gegensatz zur Wiederaufnahme zu Gunsten des Verurteilten – neue Tatsachen und Beweismittel als Wiederaufnahmegrund nicht vorsieht. Eine Wiederaufnahme zu Ungunsten eines rechtskräftig Freigesprochenen ist nach § 362 StPO – neben den in den Nummern 1 bis 3 geregelten Manipulationen und Amtspflichtverletzungen – nur dann möglich, wenn dieser nach § 362 Nr. 4 StPO vor Gericht oder außergerichtlich ein glaubhaftes Geständnis ablegt. Dieser Wiederaufnahmegrund bildet die einzige Möglichkeit, neue Tatsachen und Beweismittel zum Nachteil des Freigesprochenen zu verwerten. Diese unbefriedigende Situation hat die Länder Nordrhein-Westfalen und Hamburg – letztlich wohl auch auf Drängen der Opferverbände – dazu bewogen, am 25.09.2007 einen entsprechenden Gesetzesantrag zur Reform des strafrechtlichen Wiederaufnahmerechts einzubringen8. Danach soll dem § 362 StPO eine Nr. 5 mit folgendem Wortlaut angefügt werden: „5. wenn auf der Grundlage neuer, wissenschaftlich anerkannter technischer Untersuchungsmethoden, die bei Erlass des Urteils, in dem die dem Urteil zu Grunde liegenden Feststellungen letztmalig geprüft werden konnten, nicht zur Verfügung standen, neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden, die allein oder in Verbindung mit den früher erhobenen Beweisen zur Überführung des Freigesprochenen geeignet sind. Satz 1 Nr. 5 gilt nur in Fällen des vollendeten Mordes (§ 211 StGB), Völkermordes (§ 6 Abs. 1 Völkerstrafgesetzbuch), Verbrechen gegen die Menschlichkeit (§ 7 Abs. 1 Nr. 1 Völkerstrafgesetzbuch) oder Kriegsverbrechen gegen eine Person (§ 8 Abs. 1 Nr. 1 Völkerstrafgesetzbuch) oder wegen der mit lebenslanger Freiheitsstrafe zu ahndenden vollendeten Anstiftung zu einer dieser Taten“. 5 So Graf-StPO/Hoffmann-Holland § 362 Rn 3; Marxen/Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, 2. Auflage, Rn 293; Meyer-Goßner § 362 Rn 1; a.A. KK-Schmidt § 362 Rn 4. 6 Vgl. BR-Drs. 655/07, wie mehrere spektakuläre Fälle in den vergangenen Jahren gezeigt haben. 7 Einen dieser Fälle schildert Scherzberg/Thiée ZRP 2008, 81. 8 BR-Drs. 655/07.
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Dieser Gesetzesantrag stieß auf heftigen Widerstand in Wissenschaft und Praxis9. Dennoch wurde er als Prüfauftrag in den Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und FDP vom 24.10.2009 (Seite 108) aufgenommen. Dieser Prüfauftrag scheint allerdings zumindest zunächst negativ ausgefallen zu sein, wie einem Schreiben des Bundesministeriums der Justiz (BMJ) auf eine Anfrage einer interessierten Bürgerin zu entnehmen ist. In diesem Schreiben vom 13.08.2010 heißt es, dass die im Koalitionsvertrag vorgesehene Prüfung bislang nicht zu dem Ergebnis geführt hat, dass in den dort genannten Fällen eine Wiederaufnahme verfassungsgemäß geregelt werden könne10. Damit scheint die Gesetzesinitiative zumindest für diese Legislaturperiode gestorben zu sein, so dass jede weitere Diskussion über dieses Thema überflüssig und wenig aussichtsreich erscheint. Dennoch soll im Folgenden versucht werden, einige Gesichtspunkte aufzuzeigen, die in bestimmten Fällen eben doch – mit oder ohne Verfassungsänderung – für eine Erweiterung der Wiederaufnahme zu Ungunsten des Angeklagten sprechen. Während Scherzberg/Thiée ihren Beitrag im Untertitel als „ein Plädoyer für die Rechtssicherheit“ verstehen11, soll hier gewissermaßen „ein Plädoyer für die Einzelfallgerechtigkeit“ gehalten werden. 3. Nach der geltenden Regelung des Rechts der Wiederaufnahme ist zunächst festzustellen, dass die Wiederaufnahmegründe in § 359 Nrn. 1 bis 3 StPO zu Gunsten des Verurteilten und die in § 362 Nrn. 1 bis 3 StPO zu Ungunsten des Angeklagten nahezu identisch sind. Diese mehr oder weniger absoluten Wiederaufnahmegründe wegen gefälschter Urkunden, falscher Aussagen von Zeugen oder Sachverständigen zu Gunsten des Angeklagten oder Amtspflichtverletzungen von bei dem Urteil mitwirkenden Richtern spielen in der Praxis nahezu keine Rolle, weshalb auf sie auch verzichtet werden kann, zumal bei diesen Wiederaufnahmegründen regelmäßig zusätzlich neue Tatsachen oder Beweismittel i.S.v. § 359 Nr. 5 StPO vorliegen. Ein solcher Verzicht hätte allerdings zur Voraussetzung, dass § 362 Nr. 4 StPO über das glaubwürdige Geständnis hinaus unter engen Voraussetzungen auch auf neue Tatsachen und Beweismittel ausgedehnt wird. Diesen Gedanken griff der Entwurf eines Gesetzes zur Reform des strafrechtlichen Wiederaufnahmerechts der SPD-Fraktion vom 29.01.199612 auf und beschränkte sowohl die Wiederaufnahme zu Gunsten als auch zu Ungunsten des Verurteilten bzw. Angeklagten – von einer Ausnahme abge-
9 Vgl. insbesondere Scherzberg/Thiée ZRP 2008, 84 ff.; Graf-StPO/Hoffmann-Holland § 362 Rn 11. 10 Schreiben des Bundesministeriums der Justiz vom 13.08.2010 Referat RB 2, bearbeitet von Müller-Lang. 11 ZRP 2008, 84 ff. 12 BT-Drs. 13/3594.
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sehen – auf das Beibringen neuer Tatsachen und Beweismittel, da allein dieser Wiederaufnahmegrund schon bisher in der Praxis von Bedeutung war und ist. Der Rechtsausschuss des deutschen Bundestages konnte diesem Gesetzentwurf jedoch nicht folgen und hat ihn mehrheitlich abgelehnt. Übrig geblieben ist lediglich die heutige Nr. 6 des § 359 StPO zur Wiederaufnahme zu Gunsten des Verurteilten nach einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte13. 4. Die jetzige Beschränkung der Wiederaufnahme zu Ungunsten des Angeklagten auf ein gerichtliches oder außergerichtliches glaubwürdiges Geständnis des Freigesprochenen als einziger bedeutender Wiederaufnahmegrund ist zu eng. Es ist auch nicht ersichtlich, warum der reuige Täter, der ein Geständnis ablegt, schlechter gestellt sein soll als der raffinierte Täter, der erst viele Jahre nach dem Freispruch durch einen genetischen Fingerabdruck überführt werden kann. Das immer wieder vorgebrachte Argument, die Nr. 4 des § 362 StPO sei vor allem deshalb gerechtfertigt, weil es nicht hinnehmbar sei, dass ein freigesprochener Täter sich ungestraft seines Verbrechens bezichtigt oder gar rühmt14, ist nicht überzeugend. Eine solche Konstellation mag zwar ab und zu vorliegen, der Regelfall ist es indessen nicht, vielmehr liegt einem Geständnis, häufig viele Jahre nach dem Urteil, aufgrund eines Reifeprozesses des Freigesprochenen echte Reue zu Grunde. Eine solche Haltung müsste eigentlich eher belohnt werden gegenüber dem skrupellosen Serientäter, der nur durch eine DNA-Analyse überführt werden konnte. Dass neue Tatsachen und Beweismittel bei der Wiederaufnahme zu Gunsten im Gegensatz zur Wiederaufnahme zu Ungunsten des Angeklagten einen gesetzlich geregelten Grund darstellen, wird herkömmlicherweise u.a. mit der Überlegung begründet, dass ein zu Unrecht erfolgter Freispruch das Rechtsempfinden der Allgemeinheit in der Regel weniger verletzt als eine ungerechtfertigte Verurteilung15. Dies ist zunächst nichts anderes als eine Vermutung oder Behauptung, die durch Tatsachen oder Umfragen keineswegs bewiesen ist. So mag der Freispruch eines mehrfachen Mörders genauso gegen das Rechtsempfinden der Allgemeinheit verstoßen, wie die Verurteilung eines tatsächlich Unschuldigen wegen Mordes.
13 14 15
Vgl. BT-Drs. 13/10333 vom 01.04.1998. Scherzberg/Thiée ZRP 2008, 80. So z.B. BT-Drs. 13/3594 S. 7.
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II. Durchbrechung der Rechtskraft 1. Der Frage, inwieweit eine Wiederaufnahme zu Ungunsten des Angeklagten überhaupt zulässig ist oder gar erweitert werden kann, liegt das uralte, die gesamte Rechtsordnung beherrschende Problem der Spannung zwischen materieller Gerechtigkeit einerseits und Rechtssicherheit andererseits zu Grunde, das für den vorliegenden Fall angeblich durch das Doppelbestrafungsverbot in Art. 103 Abs. 3 GG grundsätzlich abschließend zu Gunsten der Rechtssicherheit und der Rechtskraft entschieden sein soll 16; § 362 StPO stellt demnach nach h.M. lediglich eine Ausnahme vom Verbot der Doppelbestrafung dar 17. Das Wiederaufnahmeverfahren im Strafrecht hat die Funktion, den Konflikt zwischen den Grundsätzen der Rechtssicherheit und der materiellen Gerechtigkeit, die sich beide gleichermaßen vom Rechtsstaatsprinzip ableiten, dadurch zu lösen, dass es um der materiellen Gerechtigkeit willen gestattet, das Prinzip der Rechtssicherheit ausnahmsweise zu durchbrechen18. 2. Ein Blick in das Gesetz zeigt jedoch, dass es gerade im Strafrecht mehrere Durchbrechungen der Rechtskraft auch über die Wiederaufnahmegründe der §§ 359 und 362 StPO hinaus gibt, ohne dass sich bisher jemand daran gestört bzw. den Grundsatz „ne bis in idem“ des Art. 103 Abs. 3 GG dagegen ins Feld geführt hat. Die Rechtskraft ist – entgegen namhaften Äußerungen in Praxis und Wissenschaft – keineswegs die „heilige Kuh“ des deutschen Rechts und schon gar nicht der Strafprozessordnung, die mit allen Mitteln vor blasphemistischen Angriffen geschützt werden muss. a) Zunächst ist dabei auf § 79 Abs. 1 BVerfGG hinzuweisen, wonach eine Wiederaufnahme des Verfahrens nach den Vorschriften der StPO zulässig ist, sofern ein rechtskräftiges Strafurteil auf einer Norm beruht, die vom BVerfG für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt worden ist. Diese gesetzliche Ausnahme, die sogar bei nachträglich erkannten Rechtsanwendungsfehlern eine Wiederaufnahme zulässt, gilt sowohl für die Wiederaufnahme zu Gunsten des Verurteilten als auch zu Ungunsten des Angeklagten. Bei diesem zusätzlichen Wiederaufnahmegrund ist darüber hinaus zu beachten, dass es sich hierbei um Rechtsanwendungsfehler des Gerichts handelt, während – abgesehen von den §§ 359 Nr. 3, 362 Nr. 3 StPO – eine Wiederaufnahme nur dann möglich ist, wenn sich nachträglich herausstellt, dass die dem Urteil zu Grunde liegenden Tatsachenfeststellungen unzutreffend waren19. 16 Sehr eingehend unter beachtlicher Begründung hierzu Neumann, FS Jung, 2007, S. 655. 17 Meyer-Goßner § 362 Rn 1; Pfeiffer, StPO, § 362 Rn 1. 18 Vgl. BVerfGE 22, 322, 328 f. 19 Vgl. BR-Drs. 13/3594.
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b) Erwähnt werden muss in diesem Zusammenhang ferner § 85 Abs. 3 S. 2 OWiG, wonach eine Wiederaufnahme des Verfahrens zu Ungunsten des Betroffenen auch dann zulässig ist, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden, die allein oder in Verbindung mit den vorher erhobenen Beweisen geeignet sind, die Verurteilung des Betroffenen wegen eines Verbrechens zu begründen. Diese über § 362 StPO hinausgehende Sonderregelung entnimmt die Formulierung der im Einzelnen funktional präzisierten „neuen Tatsachen und Beweismittel“ wörtlich dem § 359 Nr. 5 StPO. Ein Verstoß dieser Norm gegen Art. 103 Abs. 3 GG kann formal freilich damit verneint werden, dass eine rechtskräftige Bußgeldentscheidung nicht mit einer strafrechtlichen Verurteilung gleichgestellt werden kann. Dies ist allerdings eine rein formale Betrachtungsweise, da für den Betroffenen bzw. den Angeklagten kein substanzieller Unterschied zwischen einem Bußgeldverfahren und einem Strafverfahren besteht. So ist die herrschende Meinung der Ansicht, dass § 79 Abs. 1 BVerfGG der ratio legis nach auch auf Bußgeldentscheidungen auszudehnen ist, obwohl die Bestimmung selbst nur von einem „Strafurteil“ spricht 20. Schon aus der generellen Verweisung in § 85 Abs. 1 OWiG auf die Vorschriften über die Wiederaufnahme des Verfahrens in Strafsachen für rechtskräftige Bußgeldentscheidungen ist ersichtlich, dass das Wiederaufnahmerecht insgesamt nicht nur für strafrechtliche, sondern auch für strafrechtsähnliche Sanktionen gelten soll. c) Gesetzlich geregelt ist die Wiederaufnahme eines durch rechtskräftigen Strafbefehl abgeschlossenen Verfahrens zu Ungunsten des Verurteilten in § 373a StPO. Sie ist zulässig, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden, die allein oder in Verbindung mit den früheren Beweisen geeignet sind, die Verurteilung wegen eines Verbrechens zu begründen. Die Voraussetzungen einer neuen Verfolgung nach beendetem Strafbefehlsverfahren entsprechen wörtlich der Regelung in § 85 Abs. 3 S. 2 OWiG. Gegen diese Regelung sind verfassungsrechtliche Bedenken aus Art. 103 Abs. 3 GG nicht erhoben worden. Das BVerfG hat es vielmehr als unbedenklich bezeichnet, die Rechtskraft von Strafbefehlen einzuschränken, weil dem Strafbefehlsverfahren im Gegensatz zum Urteilsverfahren möglicherweise Unzulänglichkeiten anhaften, weshalb im Interesse materieller Gerechtigkeit die Möglichkeit einer Korrektur notwendig erscheint 21. Die Wiederaufnahmemöglichkeit nach § 373a Abs. 1 StPO liegt einmal dann vor, wenn sich die Tat nachträglich als Verbrechen herausstellt, also z.B. eine Verurteilung wegen fahrlässiger Körperverletzung erfolgt ist, tatsächlich aber eine vorsätzliche Tötung nach §§ 211 oder 212 StGB vorlag. Zum ande-
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Göhler, OWiG, § 85 Rn 15; ders. wistra 1984, 89; Sommerlad NJW 1984, 1489. BVerfG NStZ 1984, 325.
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ren ist eine Wiederaufnahme aber auch dann möglich, wenn Umstände nach Erlass des Strafbefehls eingetreten sind, welche die Tat zu einem Verbrechen aufwerten, wenn also z.B. der wegen gefährlicher Körperverletzung nach § 224 StGB durch Strafbefehl Verurteilte später an den Verletzungen stirbt, so dass anstelle des § 224 StGB im Strafbefehl nunmehr eine Bestrafung wegen Körperverletzung mit Todesfolge nach § 227 StGB in Betracht kommt 22. Letzterer Fall kann nach derzeitiger Rechtslage bei einem rechtskräftigen Strafurteil nicht berücksichtigt werden, da Spätfolgen noch zur Tat im prozessualen Sinne gehören, weshalb sich die Rechtskraft auch auf sie bezieht 23. Vereinzelt wird für diesen Fall die Möglichkeit einer Ergänzungsklage vorgeschlagen24, was jedoch nicht der herrschenden Meinung entspricht. d) Die in § 357 StPO geregelte Revisionserstreckung auf Mitverurteilte, die keine Revision eingelegt haben, bedeutet der Sache nach ebenfalls eine Durchbrechung der Rechtskraft, wenn auch in diesem Fall ausschließlich zu Gunsten eines rechtskräftig verurteilten Angeklagten. Diese Ausnahmeregelung dient allerdings weniger dem Interesse des Nichtrevidenten als vielmehr der Idee der materiellen Gerechtigkeit 25. e) In allen zuvor geschilderten Fällen liegt jedoch streng genommen keine „mehrfache Bestrafung wegen derselben Tat“ vor, vielmehr wird wegen derselben Tat lediglich ein zweites Verfahren zu Ungunsten des Angeklagten durchgeführt. Die Auslegung der herrschenden Meinung, dass gerade auch die Durchführung eines weiteren Strafverfahrens ohne weiteres unter Art. 103 Abs. 3 GG fällt 26, ist jedoch bei Licht besehen keineswegs zwingend, da in all diesen Fällen zwar zugegebenermaßen eine Rechtskraftdurchbrechung vorliegt, jedoch keine Doppelbestrafung im eigentlichen Sinne, die verfassungsrechtlich gerade und zu Recht verhindert werden soll, sondern lediglich ein „Doppelverfahren“, das eben in eng begrenzten Fällen toleriert werden muss. Der im ersten Verfahren freigesprochene Täter, der im Wiederaufnahmeverfahren aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel verurteilt wird, erleidet keine doppelte Bestrafung, er wird vielmehr in einem zweiten Strafverfahren erstmalig verurteilt. In den Fällen des § 85 Abs. 3 S. 2 OWiG und § 373a StPO ist die Ausgangslage allerdings insofern etwas anders, als im ersten Verfahren, das mit einer Bußgeldentscheidung bzw. einem Strafbefehl beendet worden ist, immerhin eine Sanktion verhängt wurde, die dann im Wiederaufnahmeverfahren aufgehoben wird, nachdem sich aufgrund neuer 22 23 24 25 26
KK-Schmidt § 373a Rn 5; Meyer-Goßner § 373a Rn 2. Beulke, Strafprozessrecht, 11. Auflage, Rn 509. Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 50 Rn 17. KK-Kuckein § 357 Rn 1; BGHSt 12, 335. H.M. BVerfGE 3, 258; BGHSt 5, 328; Meyer-Goßner Einleitung Rn 26.
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Tatsachen und Beweismittel herausgestellt hat, dass tatsächlich ein Verbrechen vorliegt. Gerade diese beiden Fälle werden jedoch von Rechtsprechung und Wissenschaft auch unter dem Gesichtspunkt der Doppelbestrafung verfassungsrechtlich als völlig unproblematisch angesehen. 3. Das sich auf Art. 103 GG stützende Verbot der Doppelbestrafung gilt grundsätzlich nur im Verhältnis zwischen deutschen Gerichten, sofern nicht eine abweichende internationale Vereinbarung besteht. Die Auslieferung eines Verfolgten ist deshalb grundsätzlich zulässig, auch wenn dieser wegen der gleichen Tat bereits durch einen Drittstaat verurteilt worden ist 27. Ein Grundsatz „ne bis in idem“ mit zwischenstaatlicher Geltung als allgemeine Regel des Völkerrechts besteht nicht 28. Inzwischen ist ein solcher Grundsatz allerdings teilweise durch zwei- oder mehrseitige zwischenstaatliche Vereinbarungen, aber auch supranational vereinbart worden. So darf insbesondere nach Art. 54 des Übereinkommens zur Durchführung des Schengen-Vertrags (SDÜ) eine andere Vertragspartei nicht „wegen derselben Tat“ eine Straftat nochmals verfolgen. Dieselbe Tat liegt vor, wenn sie einen Komplex von Tatsachen darstellt, die in zeitlicher und räumlicher Hinsicht sowie nach ihrem Zweck unlösbar miteinander verbunden sind 29. Unabhängig von diesen zwischenstaatlichen oder supranationalen Vereinbarungen bestehen jedoch in Praxis und Wissenschaft keinerlei Bedenken gegen eine mehrfache Bestrafung derselben Tat durch ein Gericht der Bundesrepublik Deutschland sowie durch ein ausländisches Gericht. Nach § 153c Abs. 2 StPO kann die Staatsanwaltschaft unter bestimmten Voraussetzungen von der Verfolgung einer Tat absehen, wenn wegen der Tat im Ausland schon eine Strafe gegen den Beschuldigten vollstreckt worden ist und die im Inland zu erwartende Strafe nach Anrechnung der ausländischen Strafe nicht ins Gewicht fällt oder der Beschuldigte wegen der Tat im Ausland rechtskräftig freigesprochen worden ist. Hierbei handelt es sich jedoch nur um eine Ermessensregelung. Der rechtskräftige ausländische Freispruch stellt grundsätzlich kein Verfahrenshindernis dar 30. § 51 Abs. 3 StGB regelt lediglich die Anrechnung von im Ausland vollstreckter Strafe, geht aber wie selbstverständlich davon aus, dass trotz des Verbots der Doppelbestrafung wegen derselben Tat ein zweites Verfahren gegen den Angeklagten vor deutschen Gerichten durchgeführt werden kann. Es bleibt festzuhalten, dass grundsätzlich trotz eines rechtskräftigen ausländischen Strafurteils ein Gericht der Bundesrepublik Deutschland wegen 27
OLG Frankfurt NJW 1997, 1937. BVerfG StraFo 2008, 153. 29 EuGH NJW 2006, 1781 mit zustimmender Anm. Radtke NStZ 2008, 162; EuGH NJW 2007, 3412. 30 Meyer-Goßner § 153c Rn 12. 28
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desselben Sachverhalts ein zweites Strafverfahren gegen denselben Täter durchführen darf, ohne dass dies gegen den Grundsatz „ne bis in idem“ in Art. 103 Abs. 3 GG verstößt 31. 4. All diese Rechtskraftdurchbrechungen machen deutlich, dass es entgegen der herrschenden Meinung keineswegs von vornherein verfassungswidrig ist, die Wiederaufnahme zu Ungunsten des Angeklagten für bestimmte Fälle zu erweitern. Die gesetzlich bereits zulässige Durchbrechung in § 362 StPO kann freilich nicht mit dem angeblichen Willen des Verfassungsgesetzgebers begründet werden. Dieses Argument geht davon aus, die Väter des Grundgesetzes hätten den Grundsatz „ne bis in idem“ nicht generell, sondern nur mit den damals schon bekannten Durchbrechungen verfassungsrechtlich festschreiben wollen, die dem Stand von Gesetzgebung und Rechtsprechung zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Grundgesetzes entsprachen32. Neumann hat überzeugend nachgewiesen, dass dieses Argument gerade auch bei einer historischen Auslegung des Art. 103 Abs. 3 GG nicht überzeugend ist 33.
III. Lösungsansätze 1. Entscheidend für die im Gesetzesantrag der Länder Nordrhein-Westfalen und Hamburg vorgeschlagene Erweiterung des § 362 StPO auf das Vorbringen neuer Tatsachen und Beweismittel ist das Prinzip der materiellen Gerechtigkeit, das sich ebenso wie der Grundsatz der Rechtssicherheit letztlich aus dem Rechtsstaatsgedanken ableitet. Insoweit hat auch der Gedanke der materiellen Gerechtigkeit verfassungsrechtlichen Rang, so dass insoweit kollidierendes Verfassungsrecht vorliegt 34. Eine kategorische Fassung des Grundsatzes „ne bis in idem“ verletzt deshalb den Grundsatz der materiellen Gerechtigkeit, dem als gleichberechtigtes Element des Rechtsstaatsprinzips ebenso Verfassungsrang zukommt wie dem Prinzip der Rechtssicherheit 35. Art. 103 Abs. 3 GG orientiert sich zwar vorwiegend an den Interessen der Rechtssicherheit und beschränkt die Wiederaufnahme zu Ungunsten des Angeklagten auf wenige Fälle, andererseits muss diese Vorschrift gerade wegen der Verfassungskollision zweier Grundsätze eng ausgelegt werden. Das BVerfG versteht das Rechtsstaatsprinzip als Grundentscheidung, die über die Gebote der Voraussehbarkeit, der Rechtssicherheit und der mate31 32 33 34 35
BVerfGE 12, 62; KK-Pfeiffer/Hannich Einleitung Rn 170. BVerfGE 3, 248, 252; 56, 24. Neumann, FS Jung, S. 657 ff.; ebenso AK/StPO-Loos § 362 Rn 1. Siekmann/Duttge, Staatsrecht 1, 3. Auflage, Rn 758. BK-Rüping Art. 103, Rn 19; als mögliche Auslegung auch Neumann, FS Jung, S. 660.
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riellen Gerechtigkeit hinaus in allen Einzelheiten eindeutig bestimmte Gebote oder Verbote von Verfassungsrang enthält 36. Das BVerfG hat ausdrücklich darauf hingewiesen, Art. 103 Abs. 3 GG stehe einer Weiterentwicklung offen, zumal der Rechtssatz „ne bis in idem“ nicht für jede auftauchende Zweifelsfrage bereits eine verbindliche Auslegung durch die Rechtsprechung bereit hält. Insbesondere sei für neu auftauchende Gesichtspunkte, die sich der Prozessrechtswissenschaft und der Rechtsprechung bisher noch nicht gestellt hatten, in Art. 103 Abs. 3 GG keine verfassungsrechtliche Festlegung getroffen worden. Art. 103 Abs. 3 GG stehe Gesetzeskorrekturen nicht entgegen, er garantiere lediglich den Kern dessen, was als Inhalt des Satzes „ne bis in idem“ in der Rechtsprechung ausgearbeitet worden ist 37. Eine einseitige „täterfreundliche“ Ausgestaltung oder Anwendung ist deshalb verfassungsrechtlich nicht nur nicht geboten, sondern kann angesichts der unterschiedlichen Anforderungen des Rechtsstaatsprinzips auch unzulässig sein. Die „Austarierung“ der verfassungsrechtlich vorgegebenen Bestimmungselemente muss in einer Abwägung erfolgen 38. Aus alledem folgt, dass bei einer richtigen Abwägung eine vorsichtige Erweiterung der Wiederaufnahmegründe zu Ungunsten des Angeklagten mit der Verfassung grundsätzlich vereinbar ist. Selbst Neumann, ein „Gralshüter“ der Rechtskraft, kommt zu dem Schluss, dass unter diesem Gesichtspunkt das „Gerechtigkeitsargument“ durchaus überzeugend erscheint, da der Verbrecher, der sich nach einem rechtskräftigen Freispruch ohne die Drohung eines Wiederaufnahmeverfahrens straflos seiner Mordtaten rühmen könne, eine abschreckende Gestalt darstelle 39. 2. Vor diesem Hintergrund ist es wenig verständlich, wenn der Rechtsstaat dem Vertrauen des freigesprochenen Mörders in den Bestand des Urteils selbst dann Vorrang vor der Gerechtigkeit im Einzelfall einräumt, wenn kriminaltechnische Neuerungen, die im Urteil noch gar nicht berücksichtigt werden konnten, später die Täterschaft des Freigesprochenen eindeutig belegen. Der Rechtsfrieden in der Bevölkerung wird durch einen erwiesenermaßen ungerechtfertigten Freispruch, z.B. wegen Mordes, in mindestens ebenso starkem Maße beeinträchtigt, wie durch die Verurteilung eines unschuldigen Angeklagten. Schon der Freispruch in einem einzigen Verfahren, z.B. wegen mehrfacher Vergewaltigung, der sich nachträglich aufgrund neuer technischer Ermittlungsmethoden als falsch erweist, kann den Rechtsfrieden nach-
36 37 38 39
So BR-Drs. 655/07 S. 3. BVerfGE 56, 22, 34; in dieselbe Richtung BK-Rüping Art. 103 Abs. 3 Rn 21, 22. So zu Recht BR-Drs. 655/07 S. 4. Neumann, FS Jung, S. 661.
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haltig stören. Die derzeitige Regelung des § 362 Nr. 4 StPO, nach der als einziges Novum das Geständnis des Freigesprochenen gilt, ist wenig überzeugend. 3. Sowohl der Gesetzesantrag der Länder Nordrhein-Westfalen und Hamburg 40 wie auch der Antrag der SPD-Fraktion aus dem Jahre 199641 beschränken die Wiederaufnahme zu Ungunsten des Angeklagten wegen neuer Tatsachen und Beweismittel auf Mord, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach dem Völkerstrafgesetzbuch, da die Legitimation einer Rechtskraftdurchbrechung einen Bezug zur Schwere des vom Täter verwirklichten Unrechts haben muss. Ein zu Unrecht erfolgter Freispruch im Bereich der unteren und mittleren Kriminalität könne als Preis des Rechtsstaats noch weitgehend hingenommen werden, während er bei Straftaten wie Mord und Völkermord schlechthin unerträglich sei, da der Schutz eines Menschenlebens in unserer Rechtsordnung den höchsten Rang einnehme 42. Begründet wird diese Beschränkung auf Mord und Völkermord ferner damit, dass allein diese gegen das Leben gerichteten Verbrechen wegen ihrer besonderen Verwerflichkeit mit absoluter Strafe bedroht seien und nach § 78 Abs. 2 StGB und § 5 VStGB keiner Verjährung unterliegen. Dies sei ein Beweis für den absoluten Sanktionswillen des Gesetzgebers. Auch Neumann macht darauf aufmerksam, dass der Gesichtspunkt der Schwere des Delikts, der bei der Begründung eines unerträglichen Gerechtigkeitsverstoßes eine zentrale Rolle zu spielen habe, bei der derzeitigen Regelung des § 362 StPO nicht berücksichtigt sei. Der Taschendiebstahl unterliegt bei einem Geständnis des Freigesprochenen der Wiederaufnahme in gleicher Weise wie der Raubmord 43. Die Beschränkung auf Mord, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist indessen keineswegs überzeugend, da diese Tatbestände nach der Wertskala des StGB und des VStGB zwar schon wegen der fehlenden Verjährung zweifellos an oberster Stelle stehen, ein ungerechtfertigter Freispruch wegen Totschlag, Vergewaltigung oder Raub aber ebenso wenig hinzunehmen ist. Im Übrigen gab es nach der Strafverfolgungsstatistik bundesweit im Jahr 2004 nur 17 Strafverfahren, in denen von einer Mordanklage freigesprochen wurde. Hinzu kommt, dass die Abgrenzung zwischen Mord und Totschlag im Einzelfall häufig schwierig ist und deshalb erst im Wiederaufnahmeverfahren aufgrund einer erneuten Beweisaufnahme und nicht schon im Verfahren über die Zulässigkeit festgestellt werden kann, ob tatsächlich ein Mordmerkmal 40 41 42 43
BR-Drs. 655/07. BT-Drs. 13/3594. BR-Drs. 655/07. Neumann, FS Jung, S. 661.
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vorliegt. Eine Beschränkung auf Verbrechen ist allerdings bei einer Neuregelung in jedem Fall geboten und würde insoweit den Anwendungsbereich der jetzigen Regelung in § 362 StPO sogar einschränken. Eine Wiederaufnahme zu Ungunsten des Angeklagten sollte deshalb den Regelungen in § 85 Abs. 3 S. 2 OWiG und § 373a StPO angepasst und auf alle Verbrechen ausgedehnt werden, sofern auf der Grundlage wissenschaftlich anerkannter Untersuchungsmethoden, die bei Erlass des Urteils nicht zur Verfügung standen, neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden, die allein oder in Verbindung mit den früher erhobenen Beweisen zur Überführung des Freigesprochenen geeignet sind. Der Weiße Ring schlägt in Nr. 11 seiner Strafrechtspolitischen Forderungen vor, die Wiederaufnahme zu Ungunsten des Angeklagten auf alle in die Zuständigkeit des Schwurgerichts fallenden Delikte nach § 74 Abs. 2 GVG, also auf alle vorsätzlichen Verbrechen mit Todesfolge, zu erstrecken. Dieser durchaus sachgerechte und erwägenswerte Vorschlag erfasst zwar die überwiegende Mehrzahl der strafwürdigen Fälle, nicht aber z.B. eine Wiederaufnahme bei Vergewaltigung, Raub oder Brandstiftung, jeweils auch in der qualifizierten Form, aber ohne Todesfolge, jedoch mit Androhung von Freiheitsstrafe von mindestens zwei, drei oder sogar fünf Jahren. Ferner geht bei diesem Vorschlag des Weißen Rings der strafrechtssystematische Zusammenhang mit den § 85 Abs. 3 S. 2 OWiG und § 373a StPO verloren, obwohl dies kein entscheidender Gesichtspunkt ist. 4. Man könnte freilich auch daran denken, noch einen Schritt weiter zu gehen und auf die Voraussetzung neuer wissenschaftlich anerkannter Untersuchungsmethoden zu verzichten, zumal der BGH in mehreren Entscheidungen darauf hingewiesen hat, dass eine DNA-Analyse lediglich eine statistische Aussage enthält, die keineswegs eine Gesamtwürdigung aller beweiserheblichen Umstände überflüssig mache44. Das positive Ergebnis einer DNA-Analyse liefert zwar ein wichtiges Indiz für die Tatbegehung, ist aber für sich genommen nicht geeignet, einen unzweifelhaften Nachweis der Schuld des Angeklagten und schon gar keinen Beweis z.B. für das Vorliegen eines Mordmerkmals zu erbringen 45. Im Übrigen ist bereits lange vor Entwicklung des DNA-Beweises mit dem Fingerabdruckverfahren eine ebenfalls als kriminalistisch revolutionär empfundene Ermittlungsmethode eingeführt worden, mit der schwere Verbrechen aufgeklärt werden konnten, ohne dass dies in § 362 StPO seinen Niederschlag gefunden hat 46.
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BGH NStZ 1994, 554 f. BGHSt 38, 320, 322 ff.; Graf-StPO/Hoffmann-Holland § 362 Rn 12. Vgl. Scherzberg/Thiée ZRP 2008, 82.
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5. Nach dem Gesetzesantrag der Länder Nordrhein-Westfalen und Hamburg soll in § 370 Abs. 1 StPO geregelt werden, dass der Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens als unbegründet zu verwerfen ist, wenn im Falle des § 362 S. 1 Nr. 5 StPO nicht dringende Gründe für die Annahme vorhanden sind, dass der Freigesprochene verurteilt wird. Diese dringenden Gründe, die dem dringenden Tatverdacht als Voraussetzung für den Erlass eines Haftbefehls in § 112 StPO entsprechen, sind eine zu niedrige Hürde, zumal in der Begründung des Gesetzesantrags der Länder Nordrhein-Westfalen und Hamburg darauf abgestellt wird, dass die Wiederaufnahme zu Ungunsten des Angeklagten nur dann angeordnet werden darf, falls sich Beweise finden, „die die Täterschaft des Freigesprochenen zweifelsfrei belegen“ 47. Im Hinblick auf die zugegebenermaßen große Belastung für den freigesprochenen Angeklagten muss die Hürde bei Vorliegen neuer Tatsachen und Beweismittel hoch angesetzt werden, so dass ein Wiederaufnahmeantrag nur zugelassen werden sollte, wenn die neuen Tatsachen und Beweise die Täterschaft des Freigesprochenen „zweifelsfrei“ belegen, was über das bloße Vorhandensein von „dringenden Gründen“ deutlich hinausgeht. 6. Entsprechend dem Antrag der SPD-Fraktion48 sollte zur Rechtsvereinfachung die Wiederaufnahme sowohl zu Gunsten als auch zu Ungunsten des Angeklagten auf neue Tatsachen und Beweismittel beschränkt werden, zumal allein diese in der Praxis eine erkennbare Rolle spielen und bei den Wiederaufnahmegründen der Nrn. 1 bis 3 § 362 StPO regelmäßig auch neue Tatsachen oder Beweismittel vorliegen. Eine Wiederaufnahme zu Ungunsten des Angeklagten sollte – entsprechend der Regelung in § 362 Nr. 4 StPO – nur bei einem Freispruch im ersten Verfahren möglich sein. Eine Wiederaufnahme wegen einer erheblich schwereren Tat als der abgeurteilten, z.B. vorsätzliche statt fahrlässige Tötung, muss ausgeschlossen werden, weil sonst auch die Grenzen der Wiederaufnahme unklar und verschwommen werden 49. Eine fehlerhafte Verurteilung wegen einer minderschweren Tat beeinträchtigt das Rechtsempfinden nicht so sehr wie das völlige Ausbleiben jeglicher Sanktion 50. Würde man auf den Freispruch im ersten Verfahren als Voraussetzung für eine Wiederaufnahme zu Ungunsten des Angeklagten verzichten, wäre in der Tat die Gefahr einer echten Doppelbestrafung i.S. von Art. 103 Abs. 3 GG gegeben, vor allem in dem Fall, dass die erste, wenn auch in der Regel wesentlich mildere Verurteilung bereits vollstreckt und eine Anrechnung nicht möglich ist.
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BR-Drs. 655/07 S. 5. BT-Drs. 13/3594. 49 Vgl. Roxin, Strafverfahrensrecht § 55B III, Rn 2a. 50 So zu Recht der Antrag der Länder Nordrhein-Westfalen und Hamburg, BR-Drs. 655/07 S. 7. 48
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Ferner sollte die Regelung in § 362 Nr. 4 StPO ersatzlos entfallen, da ein Geständnis immer eine neue Tatsache oder ein neues Beweismittel darstellt und nur bei Glaubwürdigkeit des Geständnisses die Täterschaft des Freigesprochenen zweifelsfrei belegt werden kann. 7. Bei einer möglichen gesetzlichen Neuregelung sollte auch die strittige Frage, ob die Wiederaufnahme zu Ungunsten des Verurteilten an die Verjährungsfrist gebunden ist, entschieden werden. Die heute überwiegende Meinung ist der Ansicht, dass die strafrechtliche Verjährung der Tat einer Wiederaufnahme zu Ungunsten des Angeklagten entgegensteht, da der rechtskräftig Freigesprochene nicht schlechter gestellt werden darf als ein niemals verfolgter Täter 51. Nach der gegenteiligen Ansicht führt die Rechtskraft des ersten Urteils zur Beendigung der Verfolgungsverjährung mit der Folge, dass mit der Durchbrechung der Rechtskraft durch die Wiederaufnahme zu Ungunsten des Freigesprochenen eine neue Strafverfolgung und damit auch eine neue Frist für die Strafverfolgung zu laufen beginnt 52. Eine dritte Meinung geht davon aus, dass nach dem rechtskräftigen Abschluss des Strafverfahrens die Verjährung ruht oder gehemmt ist (§ 78b Abs. 1, 3 StGB) mit der Folge, dass mit der Wiederaufnahme die frühere Verjährungsfrist fortgesetzt wird. Eine solche Auslegung kann dazu führen, dass ein Wiederaufnahmeverfahren durch Eintritt der absoluten Verjährung bald beendet wird. Richtigerweise ist bei einer Wiederaufnahme zu Ungunsten des Angeklagten die Verjährungsfrist so zu bemessen, als ob keine Hemmung nach § 78 b Abs. 3 StGB eingetreten wäre 53. Die Gegenmeinung würde dazu führen, dass nach geltender Rechtslage jedes Delikt – sei es noch so gering – noch nach Jahrzehnten verfolgt werden kann. Die der Verjährung zu Grunde liegenden Erwägungen, wie insbesondere schwindender Strafanspruch und Rechtsfriede, verlieren durch einen zwischenzeitlichen Freispruch nichts von ihrer Bedeutung und Berechtigung 54. Die Strafverfolgungsverjährung steht deshalb einer Wiederaufnahme zu Ungunsten des Angeklagten entgegen, was bei Mord, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit freilich keine Rolle spielt, da es bei diesen Delikten überhaupt keine Verjährungsfrist gibt. Entscheidender Zeitpunkt für die Frage, ob die Verjährungsfrist bereits abgelaufen ist oder nach einem Ruhen evtl. weiterläuft, ist der Beschluss nach § 370 Abs. 2 StPO über die Anordnung einer Wiederaufnahme des Verfahrens. 51 KK-Schmidt § 362 Rn 7; Meyer-Goßner § 362 Rn 1; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 55 B III 2; Fischer § 78b Rn 11a; Schönke/Schröder/Stree/Sternberg-Lieben § 78a Rn 15. 52 BGH, GA 1974, 149; LR-Gössel § 362 Rn 3; ders. NStZ 1988, 532; LK-Jähnke 10. Auflage, § 78 Rn 11. 53 OLG Nürnberg NStZ 1988, 555; Fischer § 78 Rn 11a. 54 KK-Schmidt § 362 Rn 7.
Wiederaufnahme zu Ungunsten des Angeklagten
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8. Nach alledem könnte ein neu gefasster § 362 StPO etwa wie folgt lauten: (1) Die Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenen Verfahrens zu Ungunsten des freigesprochenen Angeklagten ist zulässig, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden, die allein oder in Verbindung mit früher erhobenen Beweisen zweifelsfrei die Verurteilung wegen eines Verbrechens begründen. (2) Die Verjährungsfrist wird durch das rechtskräftige Urteil weder unterbrochen noch gehemmt. Ihr Ablauf schließt eine Wiederaufnahme zu Ungunsten des Angeklagten aus. Falls trotz der hier zur Diskussion gestellten Argumente für eine restriktive Auslegung des Art. 103 Abs. 3 GG dennoch Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit der vorgeschlagenen differenzierten Erweiterung der Wiederaufnahme zu Ungunsten des Angeklagten bestehen, müsste Art. 103 Abs. 3 GG geändert bzw. ergänzt werden, um der Forderung nach Einzelfallgerechtigkeit gegenüber dem Grundsatz der Rechtssicherheit Genüge zu tun 55.
55 Sogar Neumann, FS Jung, S. 667, weist abschließend darauf hin, dass es letztlich Aufgabe des zu Verfassungsänderungen legitimierenden Gesetzgebers ist, den Art. 103 Abs. 3 GG ggf. zu ändern.
Schriftenverzeichnis I. Selbstständige Veröffentlichungen 1. Die Bemessung der Sperrfrist bei der strafgerichtlichen Entziehung der Fahrerlaubnis. Strafrechtliche Abhandlungen; n.F., Band 3, Berlin 1968 (= zugleich Diss. jur. Freiburg i.Br.) 2. Freiheit und Zwang im Strafvollzug. Gedanken zur ärztlichen Zwangsbehandlung von Strafgefangenen. Recht und Staat in Geschichte und Gegenwart: Heft 462/463, Tübingen 1976 3. Der Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren. Berlin 1979 (zugleich Habil.-Schrift Freiburg i.Br.) 4. Die ärztliche Schweigepflicht im Strafvollzug. Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft zu Berlin: Heft 81, Berlin 1983
II. Kommentare 1. Kommentierung von § 44 StGB (Fahrverbot); in: „Leipziger Kommentar“, Großkommentar StGB (11. Auflage 1995), herausgegeben von Burkhard Jähnke, Heinrich Wilhelm Laufhütte, Walter Odersky; Verlag Walter de Gruyter, S. 1–66 2. Kommentierung von §§ 69, 69a und 69b StGB (Entziehung der Fahrerlaubnis, Sperre für die Erteilung der Fahrerlaubnis, Internationaler Kraftverkehr); in: „Leipziger Kommentar“, Großkommentar StG (11. Auflage 1996), herausgegeben von Burkhard Jähnke, Heinrich Wilhelm Laufhütte, Walter Odersky; Verlag Walter de Gruyter, S. 1–211 3. Kommentierung von § 142 StGB (Unerlaubtes Entfernen vom Unfallort); in: „Leipziger Kommentar“, Großkommentar StGB (11. Auflage 2001); herausgegeben von Burkhard Jähnke, Heinrich Wilhelm Laufhütte und Walter Odersky; Verlag Walter de Gruyter, S. 1–147 4. Kommentierung von § 44 StGB (Fahrverbot); in: „Leipziger Kommentar“, Großkommentar StGB (12., neu bearbeitete Auflage 2006), herausgegeben von Heinrich Wilhelm Laufhütte, Ruth Rissing-van Saan und Klaus Tiedemann: Zweiter Band (§§ 32 bis 55); de Gruyter Recht, Berlin, S. 953–1032
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5. Kommentierung von §§ 69 (Entziehung der Fahrerlaubnis) und § 69a StGB (Sperre für die Erteilung der Fahrerlaubnis); in: „Leipziger Kommentar“, Großkommentar StGB (12. Auflage 2008), herausgegeben von Heinrich Wilhelm Laufhütte, Ruth Rissing-van Saan und Klaus Tiedemann: Dritter Band (§§ 56 bis 79b); de Gruyter Recht, Berlin, S. 910–1168 6. Kommentierung von § 142 (unerlaubtes Entfernen vom Unfallort); in: „Leipziger Kommentar“, Großkommentar StGB (12. Auflage 2009), herausgegeben von Heinrich Wilhelm Laufhütte, Ruth Rissing-van Saan und Klaus Tiedemann: Fünfter Band (§§ 110 bis 145d); de Gruyter Recht, Berlin, S. 712–889 III. Beiträge in Zeitschriften und Festschriften 1. Zur Frage der Verkehrsunfallflucht bei vorsätzlich herbeigeführtem Verkehrsunfall; in: GA 1970, S. 1–18 2. Zur Problematik des § 50 Abs. 2 StGB im Rahmen der Teilnahme am unechten Unterlassungsdelikt; in: ZStW 82 (1970), S. 40–73 3. Rechtfertigende „Einwilligung“ des verletzten Mitfahrers bei Fahrlässigkeitstaten im Straßenverkehr ? Ein Beitrag zur dogmatischen Struktur der Einwilligung; in: ZStW 83 (1971), S. 947–1001 4. Totale und teilweise Entziehung der Fahrerlaubnis; in: NJW 1971, S. 2154–2157 5. Auswirkungen einer früheren strafgerichtlichen Entziehung der Fahrerlaubnis und der dort festgesetzten Sperrfrist auf die Bemessung einer neuen Sperrfrist; in: MDR 1972, S. 280–287 6. Gedanken zur Rechtskraft und Beseitigung strafprozessualer Beschlüsse; in: GA 1972, S. 165–183 7. Zur Abgrenzung von Betrug und Diebstahl, insbesondere in den Fällen des sog. „Dreiecks-Betruges“; in: JuS 1977 S. 69–75 8. Die Ahndung von Verkehrsverstößen durchreisender ausländischer Kraftfahrer; in: GA 1979, S. 281–310 9. MAK-Werte: Staub am Arbeitsplatz; in: Bundesarbeitsblatt 1980, S. 31– 36 10. Sachliche Begünstigung (§ 257 StGB); in: Jura 1980, S. 269–267 und S. 327–334 11. Die Stellung des medizinischen Sachverständigen im Verkehrsstrafprozeß; in: DAR 1980, S. 315–323
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12. Zur Stellung des ärztlichen Sachverständigen im Spannungsverhältnis zwischen Strafgericht und Proband. Rollenprobleme beim strafgerichtlichen Sachverständigenbeweis; in: De institia et iure (Festgabe für Ulrich von Lübtow zum 80. Geburtstag), herausgegeben von Manfred Harder und Georg Thielmann, Berlin 1981, S. 773–796 13. Amtsdelikte (§§ 331 ff StGB); in: Jura 1981, S. 42–51 und S. 78–86 14. Schwierigkeiten der Sperrfristbemessung bei vorläufiger Entziehung der Fahrerlaubnis; in: ZRP 1981, S. 85–91 15. Beschlagnahme von Schadensakten privater (Kraftfahrzeug-)Haftpflichtversicherer im (Verkehrs-)Strafprozeß; in: DAR 1981, S. 303–307 16. Die gegenwärtige gesetzliche Rechtslage der Zwangsernährung und Zwangsbehandlung von Gefangenen (§ 101 StVollzG); in: Zwangsernährung und Zwangsbehandlung von Gefangenen, herausgegeben von Wilhelm Heim. Sechstes Symposium der Kaiserin-Friedrich-Stiftung für Juristen und Ärzte. Deutscher Ärzte-Verlag, Köln 1983, S. 55–76. – Veröffentlicht auch in: Jura 1982, S. 177–191 17. Das Legalitätsprinzip; in: Jura 1982, S. 139–151 18. Grundzüge der Konkurrenzlehre (§§ 52 bis 55 StGB); in: Jura 1982, S. 358–371 und S. 418–429 19. Zur Bindungs- und Sperrwirkung nach § 153a StGB – insbesondere, wenn die Geldbuße mit Hilfe Dritter erfüllt wird; in: Festschrift zum 25-jährigen Bestehen des Bundes gegen Alkohol im Straßenverkehr e.V. – Landessektion Berlin, herausgegeben von Dietrich Schultz und Günther H. Schlecht, Berlin 1982, S. 29–47 20. Straftaten gegen die Ehre (§§ 185 ff StGB); in: Jura 1983, S. 530–544 und S. 580–592 21. Nachschulung alkoholauffälliger Ersttäter; in: BA 21 (1984), S. 55–64 22. Zum Einsichtsrecht des Strafgefangenen in die anstaltsärztlichen Krankenunterlagen; in: Festschrift zum 125-jährigen Bestehen der Juristischen Gesellschaft zu Berlin, herausgegeben von Dieter Wilke, Berlin 1984, S. 151–175 23. Zusammen mit Raimund Bartl, Das Problem der „kleinen“ bzw. „großen“ berichtigenden Auslegung in § 246 StGB; in: Jura 1984, S. 615–616 24. Wahrnehmung berechtigter Interessen (§ 193 StGB); in: Jura 1985, S. 25–33
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25. Notwendigkeit und rechtliche Grenzen der „informatorischen Befragung“ im Strafverfahren; in: Festschrift für Dietrich Oehler zum 70. Geburtstag, herausgegeben von Rolf Dietrich Herzberg, Köln 1985, S. 323–344 26. Zusammen mit Christoph Sowada, Gerichtsaufbau, Zuständigkeit und strafgerichtlicher Instanzenzug; in: Jura 1985, S. 106–108 27. Zusammen mit Raimund Bartl, Probleme der Freiheitsberaubung, insbesondere zum Schutzgut des § 239 StGB; in: Jura 1985, S. 221–223 28. Zusammen mit Peter Kubitza, Zur Abgrenzung von Raub (§ 249 StGB) und räuberischer Erpressung (§§ 253 und 255 StGB); in: Jura 1985, S. 276–278 29. Zusammen mit Matthias Bath, Tagessatz-Geldstrafe gegenüber der sog. „Nur“-Hausfrau; in: Jura 1985, S. 497–500 30. Das Opportunitätsprinzip; in: Jura 1986, S. 309–319 31. „Unerlaubtes Entfernen vom Unfallort“ (§ 142 StGB): Wie können die Rechte der Geschädigten verbessert werden; in: BA 23 (1986), S. 157–170 32. Zur strafbaren Kindesentziehung (§ 235 StGB) beim „Kampf um das gemeinsame Kind“; in: Gedächtnisschrift für Hilde Kaufmann, herausgegeben von Hans Joachim Hirsch, Günther Kaiser und Helmut Marquardt, Berlin 1986, S. 759–789 33. Materiellrechtliche und strafprozessuale Grundfragen zum Thema „Alkohol und Straßenverkehr“ (OLG Köln, Urt. v. 17.12.1985 – 1 Ss 318/85: NStZ 1986, 234); in: Jura 1986, S. 532–539 34. Ausgewählte Delikte gegen die „öffentliche Ordnung“, insbesondere Amtsanmaßung (§ 132 StGB) und Verwahrungsbruch (§ 133 StGB); in: Jura 1986, S. 590–598 35. Zur Abgrenzung von bedingtem Vorsatz und bewußter Fahrlässigkeit; in: Jura 1986, S. 610–613 36. Geisel, Geiselnahme; in: Staatslexikon, herausgegeben von der GörresGesellschaft, 7. Auflage, Band 2/1986, Sp. 796–799 37. Zusammen mit Hartmut Schneider, Mordmerkmale und Akzessorietät der Teilnahme (§ 28 StGB); in: Jura 1986, S. 106–109 38. Verstrickungsbruch (§ 136 Abs. 1 StGB) und Siegelbruch (§ 136 Abs. 2 StGB); in: Jura 1987, S. 35–44 39. Ein heikles Problem zum neuen § 266b StGB (Mißbrauch von Scheckoder Kreditkarten); in: Jura 1987, S. 162–166 40. Trunkenheit im Schiffsverkehr (§ 316 StGB); in: BA 24 (1987), S. 262–274
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41. Vollstreckungsvereitelung (§ 288 StGB) und Pfandkehr (§ 289 StGB); in: Jura 1987, S. 427–434 42. Strafbares Verhalten durch – mögliche – Aids-Übertragung? in: Jura 1987, S. 668–672 43. Polizeiliche Sicherstellung von Kraftfahrzeugen im Rahmen der Verkehrsüberwachung? in: DAR 1988, S. 12–18 44. Zum Verhältnis der Urkundendelikte untereinander, insbesondere zur Abgrenzung von Urkundenfälschung und Urkundenunterdrückung (§§ 267 und 274 I Nr. 1 StGB); in: Jura 1988, S. 158–163 45. Zum Geltungsbereich des § 170b StGB bei Unterhaltspflichtverletzungen zum Nachteil von DDR-Bürgern; in: JR 1988, S. 221–226 46. Das Beweisverbot des § 252 StPO; in: Jura 1988, S. 305–314 und 363–371 47. Welche Bedeutung hat die Nichtbeachtung strafprozessualer Vorschriften für die Strafbarkeit nach den §§ 153 ff StGB? in: Jura 1988, S. 496–499 48. Sexualdelikte; in: Staatslexikon, herausgegeben von der Görres-Gesellschaft, 7. Auflage, Band 4/1988, Sp. 1170–1171 49. Zum strafrechtlichen „Rechtmäßigkeits“-Begriff (§ 113 StGB) und zur strafprozessualen Gegenüberstellung; in: Jura 1989, S. 274–279 50. Zu einigen immer wiederkehrenden Streitfragen im Rahmen des Hausfriedensbruches (§ 123 StGB); in: Jura 1989, S. 378–383 51. Die schwere Brandstiftung (§ 306 StGB); in: Jura 1989, S. 417–426 52. Die restlichen Brandstiftungsdelikte (§§ 307 bis 310a StGB); in: Jura 1989, S. 473–482 53. Reicht das gesetzliche Instrumentarium zur Verbesserung der Verkehrssicherheit aus?; in: BA 27 (1990), S. 23–39 54. Unerlaubtes Entfernen vom Unfallort; in: Jura 1990, S. 78–86 55. Zur Urkundsqualität von Durchschriften, Abschriften und insbesondere Fotokopien; in: Jura 1990, S. 271–275 56. Zu einigen immer wiederkehrenden Streitfragen im Rahmen des räuberischen Diebstahls (§ 252 StGB); in: Jura 1990, S. 554–559 57. Die „qualifizierte“ Belehrung; in: Gedächtnisschrift für Karlheinz Meyer, herausgegeben von Klaus Geppert und Diether Dehnicke, Berlin 1990, S. 93–120
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58. Unfallflucht (§ 142 StGB) in strafrechtlicher Sicht und vor dem Hintergrund des „nemo-tenetur-Satzes“; in: BA 28 (1991), S. 31–45. – Zugleich veröffentlicht in: Viertes deutsch-polnisches Kolloquium über Strafrecht und Kriminologie (Strafrechtsreform in Polen und Deutschland, Untersuchungshaft, Hilfeleistungspflicht und Unfallflucht), herausgegeben von Albin Eser, Günther Kaiser und Ewa Weigend, 1991, S. 341–360 59. Der Zeugenbeweis; in: Jura 1991, S. 80–88 und S. 132–141 60. Vorläufige Festnahme, Verhaftung, Vorführung und andere Festnahmearten; in: Jura 1991, S. 269–276 61. Der Zeuge vom Hörensagen; in: Jura 1991, S. 538–545 62. Probleme der Strafrechtsanwendung im Zeichen der deutschen Einheit; in: Jura 1991, S. 610–615 63. Zum „error in persona vel obiecto“ und zur „aberratio ictus“, insbesondere vor dem Hintergrund der neuen „Rose-Rosahl-Entscheidung“ (= BGHSt. 37, 214 ff); in: Jura 1992, S. 163–168 64. Zur „einfachen“ Brandstiftung (§ 308 StGB); in: Festschrift für Rudolf Schmitt zum 70. Geburtstag, herausgegeben von Klaus Geppert, Joachim Bohnert und Rudolf Rengier, Tübingen 1992, S. 187–204 65. Die höchstrichterliche Rechtsprechung zu beweisrechtlichen Fragen bei behördlich geheimgehaltenem V-Mann; in: Jura 1992, S. 244–253 66. Zur „Scheinwaffe“ und anderen Streitfragen zum „Bei-Sich-Führen“ einer Waffe im Rahmen der §§ 244 und 250 StGB; in: Jura 1992, S. 496–501 67. Zur Einführung verdachtsfreier Atemalkoholkontrollen aus rechtlicher Sicht; in: Festschrift für Günter Spendel zum 70. Geburtstag, herausgegeben von Manfred Seebode, Berlin 1992, S. 655–677 68. Verdachtsfreie Atemalkoholkontrollen? Bemerkungen zu den Entschließungen des 30. Deutschen Verkehrsgerichtstages (29. bis 31. Januar 1992 in Goslar); in: Blutalkohol 29 (1992), S. 289–301 69. Zum „fair-trial-Prinzip“ nach Art. 6 Abs. 1 Satz 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention; in: Jura 1992, S. 597–604 70. Kontroll- und Förderungspflicht des Ermittlungsrichters in: DRiZ 1992, S. 405–414 71. Grundlegendes und Aktuelles zur Unschuldsvermutung des Art. 6 Abs. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention; in: Jura 1993, S. 60–165
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72. Der Sachverständigenbeweis; in: Jura 1993, S. 249–256 73. Strafprozessuale und gerichtsverfassungsrechtliche Änderungen durch das „Rechtspflegeentlastungsgesetz“ vom 11. Januar 1993; in: Jura 1993, S. 498–502 74. Die „fortgesetzte Tat“ im Spiegel jüngerer Rechtsprechung und neuerer Literatur; in: Jura 1993, S. 649–656 75. Zum Verhältnis von Täterschaft/Teilnahme an der Vortat und sich anschließender Hehlerei; in: Jura 1994, S. 100–106 76. Zum Verhältnis von Täterschaft/Teilnahme an der Vortat und anschließender sachlicher Begünstigung; in: Jura 1994, S. 441–446 77. Die subjektiven Rechtfertigungselemente; in: Jura 1995, S. 103–107 78. Räuberischer Angriff auf Kraftfahrer (§ 316a StGB); in: Jura 1995, S. 310– 316 79. Zur Verwertung selbstbelastender Angaben eines Versicherungsnehmers und späteren Beschuldigten im nachfolgenden Strafverfahren; in: Jura 1995, S. 439–442 80. Zu examensrelevanten Fragen im Rahmen alkoholbedingter Straßenverkehrsgefährdung durch Gefährdung von Mitfahrern; in: Jura 1996, S. 47–52 81. Zur straf- und strafverfahrensrechtlichen Bewältigung von Serienstraftaten nach Wegfall der Rechtsfigur der „fortgesetzten Handlung“; in: NStZ 1996, S. 57–63 und S. 118–120 82. Der Augenscheinsbeweis; in: Jura 1996, S. 307–313 83. Zur straf- und strafverfahrensrechtlichen Bewältigung von Serienstraftaten nach Wegfall der Rechtsfigur der „fortgesetzten Handlung“; in: Neue Erscheinungsformen der Kriminalität in ihrer Auswirkung auf das Straf- und Strafprozeßrecht (deutsch-polnisches Strafrechtkolloquium Bialystok/Raigrod 12.–17. September 1995), herausgegeben von Hans Joachim Hirsch, Piotr Hofmanski, Emil Plywaczewski und Claus Roxin; Bialystok 1996, S. 55–75 (= Kurzfassung in Vortragsform des in der laufenden Nummer 81 genannten Beitrages) 84. AIDS und Strafvollzug; in: AIDS und Strafrecht, herausgegeben von Andrzej J. Szwarc, Schriften zum Strafrecht Heft 107, Verlag Duncker & Humblot, Berlin 1996, S. 235–263 85. Die Vernehmung kindlicher Zeugen mittels Videotechnologie; in: Jura 1996, S. 550–555
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86. Der gefährliche Eingriff in den Straßenverkehr (§ 315b StGB); in: Jura 1996, S. 639–648 87. Zur Rechtsfigur der „Tateinheit durch Verklammerung“; in: Jura 1997, S. 214–217 88. Die Anstiftung (§ 26 StGB); in: Jura 1997, S. 299–305 und S. 358–366 89. Das ordnungsrechtliche Fahrverbot, §§ 25 StVG und 2 BKatV: Einzelfallprüfung oder schematisierende Anwendung?; in: Deutsches Autorecht 1997, S. 260–267 = Kurzfassung davon in: 35. Deutscher Verkehrsgerichtstag 1997, herausgegeben von der Deutschen Akademie für Verkehrswissenschaft, Hamburg 1997, S. 220–238 90. Die versuchte Anstiftung (§ 30 Abs. 1 StGB); in: Jura 1997, S. 546–553 91. Versicherungsmißbrauch (§ 265 StGB neue Fassung); in: Jura 1998, S. 382–386 92. Die Brandstiftungsdelikte nach dem Sechsten Strafrechtsreformgesetz; in: Jura 1998, S. 597–606 93. Neue Perspektiven für ein altes Thema: Muß die Einheitsstrafe kommen?; in: Zur Rechtswirklichkeit nach Wegfall der „fortgesetzten Tat“, herausgegeben von Claudius Geisler. Schriftenreihe der Kriminologischen Zentralstelle e.V., Band 25, Wiesbaden 1998, S. 117–137 94. Zur Strafbarkeit des Anstellungsbetruges, insbesondere bei Erschleichung einer Amtsstellung; in: Festschrift für Hans Joachim Hirsch zum 70. Geburtstag am 11. April 1999, herausgegeben von Thomas Weigend und Georg Küpper, Berlin 1999, S. 525–542 95. Die Beihilfe (§ 27 StGB); in: Jura 1999, S. 266–274 96. Zum „Waffen“-Begriff, zum Begriff des „gefährlichen Werkzeugs“, zur „Scheinwaffe“ und zu anderen Problemen im Rahmen der neuen §§ 250 und 244 StGB; in: Jura 1999, S. 599–605 97. Zusammen mit Tyson Weaver: Die Auswirkungen zivilprozessualer Vollstreckungsfehler bei Sachpfändungen auf die Strafbarkeit nach § 136 StGB; in: Jura 2000, S. 46–49 98. Fälschung technischer Aufzeichnungen durch Gegenblitzanlage?; in: DAR 2000, S. 106–108 99. Zu einigen immer wiederkehrenden Streitfragen im Rahmen des Vortäuschens einer Straftat (§ 145d StGB); in: Jura 2000, S. 383–389
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100. Grundzüge der Konkurrenzlehre (§§ 52 bis 55 StGB). Erster Teil: Allgemeine Grundlagen; in: Jura 2000, S. 598–603 101. Grundzüge der Konkurrenzlehre (§§ 52 bis 55 StGB). Zweiter und letzter Teil: Ideal-, Real- und Gesetzeskonkurrenz; in: Jura 2000, S. 651–657 102. Zur Abgrenzung von Vorsatz und Fahrlässigkeit, insbesondere bei Tötungsdelikten; in: Jura 2001, S. 55–59 103. Vorverlagerung der Strafbarkeit in den Bereich von Vorbereitung und Versuch unter besonderer Berücksichtigung moderner Gefährdungstatbestände; in: Einflüsse deutschen Strafrechts auf Polen und Japan (zweites deutsch-polnisch-japanisches Strafrechtskolloquium 1999 in Osaka), herausgegeben von Albin Eser und Keiichi Yamanaka, Baden-Baden 2001, S. 65–73 104. Zur Unterbrechung des strafrechtlichen Zurechnungszusammenhanges bei Eigenschädigung/-gefährdung des Opfers oder bei Fehlverhalten Dritter; in: Jura 2001, S. 490–495 105. Gefährdung des Straßenverkehrs (§ 315c StGB) und Trunkenheit im Straßenverkehr (§ 316 StGB); in: Jura 2001, S. 559–567 106. Rechtliche Aspekte bei der Beurteilung der Fahreignung nach Hirnschädigung, in: Neurologie und Rehabilitation 7 (2001), S. 244–245 107. Vierzig Jahre Deutscher Verkehrsgerichtstag – Rückblick und Ausblick aus strafrechtlicher Sicht; in: DAR 2002, S. 11–15 108. Grundfragen der Aussagedelikte (§§ 153 ff StGB); in: Jura 2002, S. 173– 181 109. Strafrechtliche Gedanken zum Kosovo-Krieg; in: Gedächtnisschrift für Dieter Meurer, herausgegeben von Eva Graul und Gerhard Wolf, Berlin 2002, S. 315–331 110. Wechselwirkungen zwischen materiellem Strafrecht und Strafprozessrecht; in: Gedächtnisschrift für Ellen Schlüchter, herausgegeben von Gunnar Duttge, Gerd Geilen, Lutz Meyer-Goßner und Günther Warda, Köln/Berlin/Bonn/München 2002, S. 43–64 111. Rechtliche Überlegungen zur Fahreignung bei neurologischen und neuropsychologischen Erkrankungen. Zur ärztlichen Schweigepflicht und Verkehrssicherheit; in: Festschrift für Karl Heinz Gössel, herausgegeben von Dieter Dölling und Volker Erb, Heidelberg 2002, S. 303–316
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112. Zur Systematik der Beleidigungsdelikte und zur Bedeutung des Wahrheitsbeweises im Rahmen der §§ 185 ff StGB; in: Jura 2002, S. 820–825 113. Amtsaufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) und Aufklärungsrüge im Strafprozess, in: Jura 2003, S. 255–262 114. Neuere Rechtsprechung des BGH zur Entziehung der Fahrerlaubnis bei Nicht-Katalogtaten – zugleich Besprechung von BGH, Beschluss v. 5.11.2002 – 4 StR 406/02; in: NStZ 2003, S. 288–290 115. Rechtliche und rechtspolitische Überlegungen zum Unfalldatenschreiber, in: Jus humanum: Grundlagen des Rechts und des Strafrechts (Festschrift für Ernst-Joachim Lampe zum 70. Geburtstag), herausgegeben von Dieter Dölling, Berlin 2003, S. 839–855 116. Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung (§ 261 StPO); in: Jura 2004, S. 105–113 117. Zum Begriff der „Verdeckungsabsicht“ in § 211 StGB; in: Jura 2004, S. 242–247 118. Objektive Zurechnung und Zurechenbarkeit im modernen Strafrecht, in: Comparative Law (Nihon University Tokyo) Vol. 20 (2003), S. 71–86 119. Rechtliche Aspekte bei der Beurteilung der Fahreignung nach Hirnschädigung; in: Fahreignung bei neurologischen Erkrankungen. Herausgegeben von Christian Dettmers, Cornelius Weiller und D. Steube, Hippocampus-Verlag Bad Honnef (2004), S. 8–11 120. Schriftliche oder mündliche Erklärungen des Verteidigers als Einlassung des Angeklagten selbst? in: Festschrift für Hans-Joachim Rudolphi, herausgegeben von Klaus Rogall, Ingeborg Puppe, Ulrich Stein und Jürgen Wolter, Neuwied 2004, S. 643–659 121. Teleologische Reduzierung des Tatbestandes auch im Rahmen der neugefassten schweren Brandstiftung (§ 306a StGB n.F.)? in: Festschrift für Ulrich Weber, herausgegeben von Bernd Heinrich, Eric Hilgendorf, Wolfgang Mitsch und Detlev Sternberg-Lieben, Bielefeld 2004, S. 427– 440 122. Die unterlassene Hilfeleistung (§ 323c StGB), in: Jura 2005, S. 39–48 123. Zur passiven Beleidigungsfähigkeit von Personengemeinschaften und von Einzelpersonen unter einer Kollektivbezeichnung, in: Jura 2005, S. 244–247 124. Jüdische Richter und Staatsanwälte am Kammergericht nach 1933, in: Jura 2005, S. 234–236
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125. Die CAROLINA, der Beweis vom Hörensagen und der Bundesgerichtshof, in: „Juristen werdent herren uf erden“: Recht-Geschichte-Philologie (Kolloquium zum 60. Geburtstag von Friedrich Ebel), herausgegeben von Andreas Fijal, Hans-Jörg Leuchte und Hans-Jochen Schiewer, Göttingen 2006, S. 27–47 126. Die Nötigung (§ 240 StGB); in: Jura 2006, S. 31–41 127. Nochmals, doch immer wieder: Zum Beginn der „Beschuldigten“Eigenschaft, in: Festschrift für Friedrich-Christian Schroeder zum 70. Geburtstag, herausgegeben von Andreas Hoyer u.a., Heidelberg 2006, S. 675–690 128. Rechtsdogmatische und rechtspolitische Überlegungen zum strafrechtlichen Betrug im Allgemeinen und zu betrugsrechtlichen Sondertatbeständen im Speziellen, in: Deutschland und Japan im rechtswissenschaftlichen Dialog, herausgegeben von Philip Kunig und Makoto Nagata, Köln/Berlin/München 2006, S. 273–296 129. Notwehr und Irrtum. Putativnotwehr, intensiver und extensiver Notwehrexzess, Putativnotwehrexzess; in: Jura 2007, 33–40 130. Zum Begriff der „heimtückischen“ Tötung in § 211 StGB, vornehmlich an Hand neuerer höchstrichterlicher Rechtsprechung; in: Jura 2007, 270–276 131. Zur Belehrung eines Beschuldigten über sein Recht zur Konsultation eines Verteidigers; in: Festschrift für Harro Otto zum 70. Geburtstag am 1. April 2007, herausgegeben von Gerhard Dannecker u.a., Köln/Berlin/München 2007, S. 913–932 132. Zur Erstreckung der Strafbarkeit nach § 142 Abs. 2 Nr. 2 StGB auf Fälle unvorsätzlichen Sichentfernens vom Unfallort: Anmerkung zum Beschluss des BVerfG vom 19.3.2007 (DAR 2007, 258); in: DAR 2007, 380–382 133. Zum Begriff der „Hilfeleistung“ im Rahmen von Beihilfe (§ 27 StGB) und sachlicher Begünstigung (§ 257 StGB); in: Jura 2007, 589–594 134. Die Akzessorietät der Teilnahme (§ 28 StGB) und die Mordmerkmale; in: Jura 2008, 34–40 135. Zu den Schwierigkeiten der strafrechtlichen Praxis mit § 24a Abs. 2 StVG; in: DAR 2008, S. 125–130 136. Straf- und zivilrechtliche Fragen zur Jagdwilderei (§ 292 StGB); in: Jura 2008, 599–604 137. Die Volltrunkenheit (§ 323a StGB); in: Jura 2009, 40–49
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138. Zur teleologischen Reduzierung des Tatbestandes im Rahmen von § 142 Abs. 1 StGB; in: Festschrift für Ulrich Eisenberg zum 70. Geburtstag, herausgegeben von Henning Ernst Müller u.a., München 2009, S. 287– 300 139. Diskussionsbericht zu den strafrechtlichen und strafverfahrensrechtlichen Vorträgen beim Symposion „Persönlichkeitsschutz und Eigentumsfreiheit in Japan und Deutschland“, herausgegeben von Philip Kunig und Makoto Nagata, Heymanns Verlag 2009, S. 201–207 140. Die Mittäterschaft (§ 25 Abs. 2 StGB); in: Jura 2011, S. 30–38
IV. Entscheidungsanmerkungen 1. Anmerkung zum Beschluss des LG Heilbronn vom 10.10.1983 – 1 StVK 604/83 = NStZ 1984, 263; (Berechnung der „isolierten“ Sperrfrist); in: NStZ 1984, S. 264–265 2. Anmerkung zum Urteil des BGH vom 25.10.1984 – 4 StR 567/84 = NStZ 1985, 263 (konkrete Gefahr bei Eingriff in den Straßenverkehr); in: NStZ 1985, S. 264–267 3. Anmerkung zum Urteil des HansOLG Hamburg vom 19.1.1985 – 1 Ss 168/84 = JR 1985, 429 (Beleidigung eines Menschen durch satirische Darstellung als Schwein); in: JR 1985, S. 430–433 4. Anmerkung zum Urteil des BGH vom 19.11.1985 – 1 StR 489/85 = BGHSt. 33, 378 (tatbestandlicher Anwendungsbereich des räuberischen Angriffs auf Kraftfahrer); in: NStZ 1986, S. 552–554 5. Anmerkung zum Beschluss des BGH vom 25.3.1988 – 2 StR 93/88 = JZ 1988, 1021 (mutmaßliche Einwilligung in Operationserweiterung, hier: Sterilisation einer Frau); in: JZ 1988, S. 1024–1029 6. Anmerkung zum Urteil des BGH vom 9.7.1987 – 4 StR 223/87 = BGHSt. 34, 397 (Verwertbarkeit von tagebuchartigen Aufzeichnungen des Angeklagten); in: JR 1988, S. 471–475 7. Anmerkung zum Urteil des BGH vom 20.10.1988 – 4 StR 335/88 = NStZ 1989, 73 (Tatbestandsverwirklichung bei Gefährdung mehrerer Personen); in: NStZ 1989, S. 320–323 8. Anmerkung zum Beschluss des OLG Stuttgart vom 25.4.1990 – 2 Ws 2/90 = NStZ 1990, 542 (Parteiverrat bei Mitbeschuldigten derselben Straftat); in: NStZ 1990, S. 542–545
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9. Anmerkung zum Urteil des BGH vom 21.1.1993 – 4 StR 638/92 = BGHSt. 39, 128 (zum Anwendungsbereich tätiger Reue nach § 310 StGB); in: JR 1994, S. 72–75 10. Anmerkung zum Beschluss des BGH vom 14.10.97 – 1 StR 635/96 = NStZ 1998, 189 (zu den Konkurrenzen bei fehlgeschlagenem Versuch einer Anstiftung); in: NStZ 1998, 190–191 11. Anmerkung zum Beschluss des BGH vom 18.2.1999 – 5 StR 193/98 = NStZ 1999, 302 (Anstellungsbetrug durch früheren MfS-Mitarbeiter); in: NStZ 1999, 305–306 12. Anmerkung zum Beschluss des BGH vom 15.5.2001 – 4 StR 306/00 = JR 2002, 113 (Beschränkung der Berufung auf die Entziehung der Fahrerlaubnis bei gleichzeitiger Ablehnung der Strafaussetzung zur Bewährung); in: JR 2002, 114–116
V. Jura-Kartei Seit 1979 bis zum 31. März 2011 alljährlich 24 (= insgesamt 762) didaktisch aufbereitete Anmerkungen zu neueren Entscheidungen in der wissenschaftlichen Ausbildungszeitschrift „JURA. Juristische Ausbildung“
VI. Fall-Lösungen 1. Der praktische Strafrechtsfall: „Nach dem Batzenberg-Weinfest“; in: JuS 1972, S. 271–275 2. Der praktische Strafrechtsfall: „Eine missglückte Bierreise“; in: JuS 1975, S. 384–390 3. Examensklausur Strafrecht: „Ein Verfahren aus dem Verkehrsstrafrecht“; in: Jura 1980, S. 204–213 4. Examensklausur Strafrecht: „Die Doktorprüfung“; in: Jura 1983, S. 660– 670 5. Examensklausur Strafrecht: „Die Buddha-Statue“; in: Jura 1985, S. 542– 549 6. Übungsklausur Strafrecht: „Verstrickungen um eine Strickmaschine“; in: Jura 1987, S. 102–109 7. Zwischenprüfungsklausur Strafrecht: „Fahrradhändler Roger Bertin“; in: Jura 1987, S. 543– 547
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8. Abschlussklausur im Strafrecht (mit dem Fall: „Eine diebische Elster“); in: Jura 2002, 278–282 9. Semesterabschluss- und Zwischenprüfungsklausur, in: Zwischenprüfung. Zivilrecht, Strafrecht, Öffentliches Recht, herausgegeben von Dagmar Coester-Waltjen, Dirk Ehlers, Klaus Geppert u.a., Berlin 2004, S. 41–48
VII. Mitwirkung an Gemeinschaftsarbeiten 1. Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuches: Besonderer Teil (Straftaten gegen die Person/zweiter Halbband). Tübingen 1971 2. Alternativ-Entwurf eines Strafvollzugsgesetzes. Tübingen 1973
VIII. Rezensionen 1. Strafgesetzbuch und Nebengesetze: Erläutert von Eduard Dreher, fortgeführt von Herbert Tröndle (42. Auflage 1985); in: NJW 1985, S. 1947–1948 2. Klaus Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis. Praxis der Strafverteidigung Band 7 (1988); in: StV 1990, S. 186–188 3. Horst Janiszewski, Verkehrsstrafrecht. Vierte, neubearbeitete Auflage – München, C. H. Beck 1994 (Juristische Kurzlehrbücher für Studium und Praxis); in: NZV 1996, S. 226–227
IX. Sonstiges 1. In memoriam Ernst Heinitz; in: JR 1998, S. 322–323 2. „150 Jahre Juristische Gesellschaft zu Berlin“ (Begrüßungsansprache anlässlich des Festaktes zum 150. Geburtstag der Juristischen Gesellschaft zu Berlin am 9. Mai 2009); in: Berliner Anwaltsblatt 2009, S. 207–210 3. Einmal mehr und immer wieder: Zur Reform der Juristenausbildung – Gedanken eines jungen Emeritus zu einem alten Thema; in: Grundfragen des Strafrechts, Rechtsphilosophie und die Reform der Juristenausbildung (Kolloquium zum 70. Geburtstag von Fritz Loos), herausgegeben von Heinz Koriath, Ralf Krack, Henning Radtke und Jörg-Martin Jehle, Göttinger Studien zu den Kriminalwissenschaften, Band 12, Göttingen 2010, S. 55–67
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X. Herausgebertätigkeit 1. Mit-Herausgeber der Zeitschrift „JURA. Juristische Ausbildung“. Verlag Walter de Gruyter, Berlin (seit 1979) 2. Gedächtnisschrift für Karlheinz Meyer. Herausgegeben von Klaus Geppert und Diether Dehnicke. Verlag Walter de Gruyter, Berlin 1990, 847 Seiten 3. Festschrift für Rudolf Schmitt zum 70. Geburtstag. Herausgegeben von Klaus Geppert, Joachim Bohnert und Rudolf Rengier. Verlag J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) Tübingen (1992), 421 Seiten 4. Mit-Herausgeber der Buchreihe „JURA-Extra“. Verlag Walter de Gruyter, Berlin 5. Mitherausgeber von „JURA-Sonderheft: Examensklausurenkurs“. Verlag Walter de Gruyter, Berlin 2000, 128 Seiten 6. Mitherausgeber von „JURA-Spezial: Orientierungshilfe für Abiturienten/ Studienanfänger“. Verlag Walter de Gruyter, Berlin 2000, 37 Seiten 7. Mitherausgeber von „JURA-Sonderheft: Zwischenprüfung. Zivilrecht, Strafrecht, Öffentliches Recht“. Verlag de Gruyter Recht, Berlin 2004, 94 Seiten 8. Mitherausgeber von „JURA-Sonderheft: Examensklausurenkurs“. Verlag de Gruyter Recht, 2. Auflage 2004, 104 Seiten 9. Mitherausgeber von „JURA-Sonderheft: Examensklausurenkurs“. Verlag de Gruyter Recht, 3. Auflage 2008, 107 Seiten
Abgeschlossene Habilitationsund Promotionsverfahren I. Abgeschlossene Habilitationsverfahren 1. Sowada, Christoph Der gesetzliche Richter im Strafverfahren (FU Berlin 2000) Veröffentlicht im Verlag Walter de Gruyter, Berlin 2002 2. Kretschmer, Joachim Der strafrechtliche Parteiverrat (§ 356 StGB) – Eine Analyse der Norm im individualrechtlichen Verständnis (FU Berlin 2004) Veröffentlicht in: Schriftenreihe Deutsche Strafverteidiger e.V., Band 29, Nomos-Verlag, Baden-Baden 2005 3. Kraatz, Erik Der Einfluss der Erfahrung auf die tatrichterliche Sachverhaltsfeststellung. Zum „strafprozessualen“ Anscheinsbeweis (FU Berlin 2010) Veröffentlicht demnächst im Verlag Walter de Gruyter, Berlin 2011 II. Abgeschlossene Promotionsverfahren 1. Moojer, Donald Die Diskrepanz zwischen Risikovorstellung und Risikoverwirklichung. Ein Beitrag zur Diskussion über Kausalabweichung und aberratio ictus (FU Berlin 1985) 2. Penners, Bernd-Michael Zum Begriff der „Aussichtslosigkeit“ einer Entziehungskur in § 64 II StGB. Zugleich ein Beitrag zur Effizienzkontrolle der strafgerichtlichen Unterbringung in einer Entziehungsanstalt entlassener „Maßregelpatienten“ (FU Berlin 1985) 3. Holz, Jürgen Der Beweiserhebungsumfang im gerichtlichen Bußgeldverfahren (§ 77 OWiG) (FU Berlin 1987) 4. Rüster, Susanne Der Steuerpflichtige im Grenzbereich zwischen Besteuerungsverfahren und Strafverfahren (FU Berlin 1988)
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Abgeschlossene Habilitations- und Promotionsverfahren von Klaus Geppert
Veröffentlicht in: Abhandlungen zum nationalen und internationalen Steuerrecht, Band 5, WiRe-Verlag, Göttingen 1989 5. Bath, Matthias Notwehr und Notstand bei der Flucht aus der DDR (FU Berlin 1988) 6. Fuchs, Matthias Gesetzeskonkurrenz und mitbestrafte Vortaten (FU Berlin 1989) 7. Schneider, Hartmut Grund und Grenzen des strafrechtlichen Selbstbegünstigungsprinzips auf der Basis eines generalpräventiv-funktionalen Schuldmodells (FU Berlin 1990) Veröffentlicht in: Strafrechtliche Abhandlungen; N.F., Band 72, Verlag Duncker und Humblot, Berlin 1991 8. Sowada, Christoph Die notwendige Teilnahme als funktionales Privilegierungsmodell im Strafrecht (FU Berlin 1991) Veröffentlicht in: Strafrechtliche Abhandlungen; N.F., Band 74, Verlag Duncker und Humblot, Berlin 1992 9. Dithmar, Ulrike Der Grundsatz „ne bis in idem“ und das fortgesetzte Delikt (FU Berlin 1994) Veröffentlicht in: Berichte aus der Rechtswissenschaft, Shaker-Verlag, Aachen 1995 10. Wolff-Reske, Monika Berufsbedingtes Verhalten als Problem mittelbarer Erfolgsverursachung. Ein Beitrag zu den Grenzen der Beihilfestrafbarkeit (FU Berlin 1995) Veröffentlicht in: Nomos-Universitätsschriften – Recht, Band 190, Nomos-Verlag, Baden-Baden 1995 11. Geisler, Claudius Zur Vereinbarkeit objektiver Bedingungen der Strafbarkeit mit dem Schuldprinzip. Zugleich ein Beitrag zum Freiheitsbegriff des modernen Schuldstrafrechts (FU Berlin 1997) Veröffentlicht in: Strafrechtliche Abhandlungen; N.F., Band 109, Verlag Duncker und Humblot, Berlin 1998 12. Müller-Magdeburg, Cornelia Die Abgrenzung von Tatbestands- und Verbotsirrtum bei Blankettnormen (FU Berlin 1998) 13. Kretschmer, Joachim Das strafprozessuale Verbot der „reformatio in peius“ und die Maßregeln der Besserung und Sicherung des § 61 StGB (FU Berlin 1998)
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Veröffentlicht in: Strafrechtliche Abhandlungen; N.F., Band 122, Verlag Duncker & Humblot, Berlin 1999 14. Bornemann, Wolfram Das Zusammentreffen vertatbestandlichter Strafmilderungs- und Strafschärfungsgründe als Grundlagenproblem einer Sperrwirkung der Privilegierung im Strafrecht (FU Berlin 2000) Veröffentlicht in: Nomos-Universitätsschriften – Recht, Band 370, Nomos-Verlag, Baden-Baden 2002 15. Römer, Nicole Verbreitungs- und Äußerungsdelikte im Internet: Eine Untersuchung zur strafrechtlichen Bewältigung von Normanwendungsproblemen eines neuen Kriminalitätsfeldes (FU Berlin 2000) Veröffentlicht in: Europäische Hochschulschriften Reihe II, Rechtswissenschaft, Band 2946, Verlag Peter Lang, Frankfurt am Main 2000 16. Olizeg, Robert Hausrecht und Hausfriedensbruch (§ 123 StGB) in Gerichtsgebäuden (FU Berlin 2000) Veröffentlicht in: Europäische Hochschulschriften Reihe II, Rechtswissenschaft, Band 3117, Verlag Peter Lang, Frankfurt am Main 2001 17. Loddenkemper, Florian Die Glaubhaftigkeitsbeurteilung von Zeugenaussagen in der neueren Rechtsprechung der Strafsenate des Bundesgerichtshofes: Wie weit geht die „erweiterte Revision“? (FU Berlin 2002) Veröffentlicht unter dem Titel „Revisibilität tatrichterlicher Zeugenbeurteilung. Eine Auseinandersetzung mit der neueren Rechtsprechung der Strafsenate des BGH“ in: Nomos-Universitätsschriften – Recht, Band 393, Nomos-Verlag, Baden-Baden 2003 18. Dietrich, Bernhard Notwendigkeit und Grenzen des § 46 Abs. 1 OWiG. Die Struktur der Quellen des Bußgeldverfahrensrechts, mit exemplarischer Vertiefung anhand der Aussagefreiheit des Betroffenen (FU Berlin 2002) Veröffentlicht unter dem Titel „Die Bindung des Bußgeldverfahrens an das Strafverfahrensrecht. Eine Studie zu Notwendigkeit und Grenzen des § 46 Abs. 1 OWiG – zugleich ein Beitrag zum Schweigerecht des Betroffenen“ in: Nomos-Universitätsschriften – Recht, Band 392, Nomos-Verlag, Baden-Baden 2003 19. Vath, Andreas Der genetische Fingerabdruck zum Zwecke der Identitätsfeststellung in künftigen Strafverfahren (§§ 81g StPO und 2 DNA-IFG) (FU Berlin 2003)
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Veröffentlicht unter dem Titel „Der genetische Fingerabdruck zur Identitätsfeststellung in künftigen Strafverfahren“ in: Nomos-Universitätsschriften – Recht, Band 400, Nomos-Verlag, Baden-Baden 2003 20. Gabriel, Marc Strafrechtliche Verantwortlichkeit für fremde Texte: eine Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung der Sonderhaftung nach den Landespressegesetzen und der Verantwortlichkeit im Recht der neuen Medien wegen der Verwirklichung von Äußerungsdelikten (FU Berlin 2003) Veröffentlicht in: Europäische Hochschulschriften Reihe II, Rechtswissenschaft, Band 3774, Verlag Peter Lang, Frankfurt am Main 2003 21. Albrecht, Frank Die Abgrenzung von Tateinheit und Tatmehrheit bei Straßenverkehrsordnungswidrigkeiten. Eine Empfehlung für Bußgeldbehörden und Gerichte (FU Berlin 2003) Veröffentlicht im Verkehrsverlag J. Fischer, Düsseldorf 2004 22. Moseschus, Alexander Marcus Produkterpressung. Ein Kriminalphänomen unter kriminologischer, strafund haftungsrechtlicher sowie taktischer Betrachtungsweise (FU Berlin 2004) Veröffentlicht im Cuvillier Verlag, Göttingen 2004 23. Kraatz, Erik Die fahrlässige Mittäterschaft. Ein Beitrag zur strafrechtlichen Zurechnungslehre auf der Grundlage eines finalen Handlungsbegriffs (FU Berlin 2005) Veröffentlicht in Strafrechtliche Abhandlungen; N.F., Band 175, Verlag Duncker & Humblot, Berlin 2006 24. Huber-Lotterschmid, Sandra Verschwiegenheitspflichten, strafprozessuale Zeugnisverweigerungsrechte und Beschlagnahmeverbote bei rechts- und wirtschaftsberatenden Mandatsverhältnissen mit juristischen Personen (FU Berlin 2006) Veröffentlicht unter dem Titel „Verschwiegenheitspflichten, strafprozessuale Zeugnisverweigerungsrechte und Beschlagnahmeverbote zugunsten juristischer Personen“ in: Schriftenreihe Deutsche Strafverteidiger e.V., Band 32, Nomos-Verlag, Baden-Baden 2006 25. Milde, Oliver Die Entwicklung der Normen zur Anordnung der Sicherungsverwahrung in den Jahren von 1998 bis 2004 (FU Berlin 2006) Veröffentlicht in: Strafrecht in Forschung und Praxis, Band 75, Verlag Dr. Kovacˇ, Hamburg 2006
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26. Huhn, Andreas Nötigende Gewalt mit und gegen Sachen (FU Berlin 2006) Veröffentlicht in: Nomos-Universitätsschriften – Recht, Band 525, Nomos-Verlag, Baden-Baden 2007 27. Kraenz, Nadja Auswirkungen von §§ 201a und 238 StGB auf die journalistische Tätigkeit (FU Berlin 2007) Veröffentlicht unter dem Titel „Der strafrechtliche Schutz des Persönlichkeitsrechts: zu den Auswirkungen der §§ 201a (unbefugte Bildaufnahmen) und 238 StGB (Stalking) auf die journalistische Tätigkeit“ in: Nomos-Universitätsschriften – Recht, Band 564, Nomos-Verlag, BadenBaden 2008 28. Tumanishvili, Giorgi Erweiterung der strafprozessualen Rechtsstellung des Verletzten? Eine rechtsvergleichende Untersuchung am Beispiel des deutschen und georgischen Rechts (FU Berlin 2007) Veröffentlicht in: Strafrecht in Forschung und Praxis, Band 120, Verlag Dr. Kovacˇ, Hamburg 2008 29. Farivar Meemar, Andrea Die Strafanpassung im Rahmen der Tagessatzgeldstrafe. Der Versuch eines Ausgleichs zwischen Verfahrensökonomie und Opfergleichheit unter Berücksichtigung des Steuerrechts (FU Berlin 2008) Veröffentlicht in: Schriften zum Strafrecht, Band 201, Verlag Duncker & Humblot, Berlin 2009 30. Schubert, Daniel Legal privilege und Nemo tenetur im reformierten europäischen Kartellermittlungsverfahren der VO 1/2003. Eine Untersuchung der Rechtslage im Gemeinschaftsrecht unter Berücksichtigung der Maßgaben von EMRK, IPBPR und Grundrechtscharta sowie der aktuellen Rechtsprechung von EuGH, EuG und EGMR (FU Berlin 2008) Veröffentlicht in: Beiträge zum Europäischen Wirtschaftsrecht, Band 54, Verlag Duncker & Humblot, Berlin 2009 31. Bejarano Alomia, Pedro Paul Kindstötung. Kriminologische, rechtsgeschichtliche und rechtsvergleichende Überlegungen nach Abschaffung des § 217 StGB a.F. (FU Berlin 2009) Online-Publikation (http://www.diss.fu-berlin.de) 32. Rohde, Norman Die Rechte und Befugnisse des Verletzten im Strafverfahren gegen Jugendliche unter besonderer Berücksichtigung der opferschutzrecht-
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Abgeschlossene Habilitations- und Promotionsverfahren von Klaus Geppert
lichen Änderungen durch das 2. Justizmodernisierungsgesetz (FU Berlin 2009) Veröffentlicht im WiKu-Verlag Dr. Stein, Köln 2009 33. Hantschel, Ulrike Der Untreuevorsatz. Eine Untersuchung zu Begriff und Beweis des Vorsatzes bei § 266 StGB (FU Berlin 2009) Veröffentlicht in: Schriften zum Strafrecht, Band 212, Verlag Duncker & Humblot, Berlin 2010 34. Engel, geb. Kotkowiak, Rabea Doping in der DDR. Eine rechtshistorische und strafrechtliche Aufarbeitung (FU Berlin 2009) Veröffentlicht in: Strafrecht in Forschung und Praxis, Band 174, Verlag Dr. Kovacˇ, Hamburg 2010 35. Welz, Markus Zum Verhältnis von Anstiftung und Beihilfe. Überlegungen insbesondere zur Abgrenzung von Anstiftung und psychischer Beihilfe sowie zur Durchführung einer Wahlfeststellung zwischen den Teilnahmeformen (FU Berlin 2009) Veröffentlicht in: Strafrecht und Rechtsphilosophie in Geschichte und Gegenwart, Band 6, Verlag Peter Lang, Frankfurt am Main 2010
Autorenverzeichnis Arzt, Gunther, Prof. em. Dr., Universität Bern, Schweiz Beulke, Werner, Prof. Dr., Universität Passau Burghardt, Boris, Dr., Humboldt-Universität zu Berlin Dencker, Friedrich, Prof. em. Dr., Westfälische Wilhelms-Universität Münster Dölling, Dieter, Prof. Dr., Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Duttge, Gunnar, Prof. Dr., Georg-August-Universität Göttingen Eisenberg, Ulrich, Prof. em. Dr., Freie Universität Berlin Erb, Volker, Prof. Dr., Johannes Gutenberg-Universität Mainz Geisler, Claudius, Prof. Dr., Generalsekretär der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Johannes Gutenberg-Universität Mainz Gössel, Karl Heinz, Prof. em. Dr. Dr. h.c., Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Richter am Bayerischen Obersten Landesgericht a.D., München Halecker, Dela-Madeleine, Dr., Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) Heger, Martin, Prof. Dr., Humboldt-Universität zu Berlin Heinrich, Bernd, Prof. Dr., Humboldt-Universität zu Berlin Heinz, Wolfgang, Prof. em. Dr., Universität Konstanz Hirsch, Hans Joachim, Prof. em. Dr. Dr. h.c. mult., Universität zu Köln Hoffmann-Holland, Klaus, Prof. Dr., Freie Universität Berlin König, Peter, Prof. Dr., Richter am Bundesgerichtshof, Leipzig/ Ludwig-Maximilians-Universität München Kraatz, Erik, Privatdozent Dr., Freie Universität Berlin Kretschmer, Joachim, Privatdozent Dr., Rechtsanwalt, Köln/Freie Universität Berlin Kühl, Kristian, Prof. Dr. Dr. Dr. h.c., Eberhard Karls Universität Tübingen Letzgus, Klaus, Prof. Dr., Staatssekretär a.D., Rechtsanwalt, München/Universität Rostock Meinen, Gero, Dr., Senatsdirigent, Senatsverwaltung für Justiz, Berlin Mitsch, Wolfgang, Prof. Dr., Universität Potsdam Mitgutsch, Ingrid, Prof. Mag. Dr., Johannes-Kepler-Universität Linz, Österreich Montenbruck, Axel, Prof. em. Dr., Freie Universität Berlin Müller, Henning Ernst, Prof. Dr., Universität Regensburg Müller-Dietz, Heinz, Prof. em. Dr. Dr. h.c., Universität des Saarlandes Otto, Harro, Prof. em. Dr. Dr. h.c., Universität Bayreuth Radtke, Henning, Prof. Dr., Leibniz Universität Hannover Rengier, Rudolf, Prof. Dr., Universität Konstanz Rissing-van Saan, Ruth, Prof. Dr., Vors. Richterin am Bundesgerichtshof a.D., Karlsruhe/Ruhr-Universität Bochum Rogall, Klaus, Prof. Dr., Freie Universität Berlin Roxin, Claus, Prof. em. Dr. Dr. h.c. mult., Ludwig-Maximilians-Universität München Satzger, Helmut, Prof. Dr., Ludwig-Maximilians-Universität München Scheffler, Uwe, Prof. Dr. Dr., Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder)
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Autorenverzeichnis
Schneider, Hartmut, Prof. Dr., Bundesanwalt beim Bundesgerichtshof, Leipzig/ Freie Universität Berlin Schröder, Christian, Prof. Dr., Martin-Luther-Universität Halle Wittenberg Schroeder, Friedrich-Christian, Prof. em. Dr. Dres. h.c., Universität Regensburg Schünemann, Bernd, Prof. Dr. Dr. h.c. mult., Ludwig-Maximilians-Universität München Singer, Reinhard, Prof. Dr., Humboldt-Universität zu Berlin Sowada, Christoph, Prof. Dr., Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald Sternberg-Lieben, Detlev, Prof. Dr., Technische Universität Dresden Weber, Ulrich, Prof. em. Dr., Eberhard Karls Universität Tübingen Werle, Gerhard, Prof. Dr. Dr. h.c., Humboldt-Universität zu Berlin